Auch im beginnenden 21. Jahrhundert bleiben der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartslit
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German Pages 352 [337] Year 2014
Table of contents :
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Inhalt
Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Literatur des ersten Jahrzehnts. Zur Einführung
"Was ist wahr? Woher haben Sie
denn Ihre Bilder?" Shoah-Erinnerungen in neueren Theater-Texten
(Robert Menasse, Werner Fritsch, Robert Schindel, Mieczysław
Weinberg)
Simulierte Partizipation und gefühlte Geschichte.
Überlegungen zu aktuellen literarischen Formaten der
Geschichtsdarstellung am Beispiel von Filmen und Texten über
den 20. Juli 1944
Auschwitz in Reisebeschreibungen
von Maxim Biller, Iris Hanika und Stephan Wackwitz
Alternative Gründungserzählungen
und andere Legitimationsmuster. Zum Status von Shoah und
Nationalsozialismus in der Konstruktion von Erinnerung
an 'deutsche' Kriegserfahrungen
"Ich bin, woran ich mich erinnere."
Benjamin Steins Die Leinwand und der Fall Wilkomirski
Ohnehin Gebürtig Andernorts. Zur Diversität
von Erinnerung und Identität bei Doron Rabinovici
und Robert Schindel
Verstörende Erinnerung. Überlieferung und
Traditionsbruch in der österreichisch-jüdischen und deutsch-jüdischen
Literatur (Vladimir Vertlib und Esther Dischereit)
Die Inszenierung von Zeugenschaft
im Roman Nahe Jedenew (2005) von Kevin Vennemann
Auschwitz im Pop-Roman. Thomas
Meineckes Hellblau
Ästhetische Reflexion von Exil und Krieg im Werk Norbert Gstreins
Sekundäre Zeugenschaft in postmemorialer
Literatur. Katharina Hackers Eine Art Liebe
Vergangenheit im Konjunktiv:
Erinnerung und Geschichte in Marcel Beyers Kaltenburg
"Ich lasse am liebsten Tote sprechen".
Elfriede Jelineks postmortales Theater
Von Auschwitz nach Srebrenica und
zurück – Jonathan Littell und Peter Handke
Kältezonen aus nächster Nähe. Alexander
Kluges neue Erzählungen über Nationalsozialismus und Krieg
Nationalsozialismus und Shoah in
Thomas Harlans literarischem Spätwerk
Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa 2000–2012. Eine Auswahlbibliografie
Die Autorinnen und Autoren
Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
84
Die 1972 gegründete Reihe wurde bis Band 84/2014 – ab 1999 zusammen mit Kollegen – herausgegeben von Gerd Labroisse.
Herausgegeben von
William Collins Donahue Norbert Otto Eke Martha B. Helfer Gerd Labroisse
2014
Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik
Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Herausgegeben von Torben Fischer, Philipp Hammermeister und Sven Kramer
Amsterdam - New York, NY 2014
Die 1972 gegründete Reihe erscheint seit 1977 in zwangloser Folge in der Form von Thema-Bänden mit jeweils verantwortlichem Herausgeber. Reihen-Herausgeber: Prof. William Collins Donahue Chair & Director of Graduate Studies Department of Germanic Languages & Literature Duke University - 116D Old Chemistry - Box 90256 Durham, NC 27708, USA, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Norbert Otto Eke Universität Paderborn Fakultät für Kulturwissenschaften, Warburger Str. 100, D - 33098 Paderborn, Deutschland, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Martha B. Helfer Rutgers University 172 College Avenue, New Brunswick, NJ 08901 Tel.: (732) 932-7201, Fax: (732) 932-1111, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Gerd Labroisse Sylter Str. 13A, 14199 Berlin, Deutschland Tel.: (49)30 89724235 E-Mail: [email protected]
Cover Image: Detail von Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, Deutschland. The paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence”. ISBN: 978-90-420-3850-9 E-Book ISBN: 978-94-012-1093-5 ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam – New York, NY 2014 Printed in The Netherlands
Ein Abschied Mit diesem Band 84 beende ich meine gut vierzigjährige Tätigkeit als Herausgeber. Für meine Universitätsarbeit in den Niederlanden war es ein glücklicher Umstand, dass mir der Verlag Rodopi 1972 die Möglichkeit bot, die “Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik” [ABnG] zu beginnen und mit der Zeit auszubauen zu einer international beachteten ReihenPublikation. Dass das gelang, ist in hohem Maße der Zusammenarbeit mit dem Verlagsleiter Fred van der Zee zu verdanken. Er hat die Entwicklung der ABnG verlegerisch unterstützt, auch mitgeholfen, manche herausgeberischen Schwierigkeiten zu bewältigen. Hilfreich waren die verlegerischen Bemühungen um drucktechnische Modernisierungen, die die Publikation der thematischen Bände erheblich erleichterte. Den Mitherausgeber-Kollegen Martha B. Helfer, Norbert Otto Eke und William Collins Donahue sei gedankt für ihren Arbeitsanteil bei der Überprüfung von Editions-Vorhaben und bei der Begleitung einer BandHerstellung. Ich wünsche ihnen und dem hinzutretenden Kollegen Sven Kramer eine fruchtbare Weiterführung der Reihe. Rückschauend danke ich den Herausgebern der einzelnen Bände, da ihre ganz unterschiedlichen Themenstellungen, Behandlungsweisen und oft neuartigen Orientierungsversuche die Reihe breit und vielfältig machte. Ein besonderer Dank gilt meiner Frau Dorothea für ihre Hilfen bei der Arbeit am PC, ihre Stützung in gesundheitlich schwierigen Abschnitten, jetzt bei der Bewältigung des Abschiednehmens von einer langen HerausgeberTätigkeit. Gerd Labroisse
Inhalt Torben Fischer, Philipp Hammermeister, Sven Kramer: Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Literatur des ersten Jahrzehnts. Zur Einführung
9
Norbert Otto Eke: “Was ist wahr? Woher haben Sie denn Ihre Bilder?” Shoah-Erinnerungen in neueren Theater-Texten (Robert Menasse, Werner Fritsch, Robert Schindel, Mieczysław Weinberg)
27
Cornelia Blasberg: Simulierte Partizipation und gefühlte Geschichte. Überlegungen zu aktuellen literarischen Formaten der Geschichtsdarstellung am Beispiel von Filmen und Texten über den 20. Juli 1944
51
Helmut Peitsch: Auschwitz in Reisebeschreibungen von Maxim Biller, Iris Hanika und Stephan Wackwitz
73
Helmut Schmitz: Alternative Gründungserzählungen und andere Legitimationsmuster. Zum Status von Shoah und Nationalsozialismus in der Konstruktion von Erinnerung an ‘deutsche’ Kriegserfahrungen
95
Silke Horstkotte: “Ich bin, woran ich mich erinnere.” Benjamin Steins Die Leinwand und der Fall Wilkomirski
115
Iris Hermann: Ohnehin Gebürtig Andernorts. Zur Diversität von Erinnerung und Identität bei Doron Rabinovici und Robert Schindel
133
Barbara Breysach: Verstörende Erinnerung. Überlieferung und Traditionsbruch in der österreichisch-jüdischen und deutsch-jüdischen Literatur (Vladimir Vertlib und Esther Dischereit)
149
Carola Hähnel-Mesnard: Die Inszenierung von Zeugenschaft im Roman Nahe Jedenew (2005) von Kevin Vennemann
167
Axel Dunker: Auschwitz im Pop-Roman. Thomas Meineckes Hellblau
187
Susanne Düwell: Ästhetische Reflexion von Exil und Krieg im Werk Norbert Gstreins
197
Katja Stopka: Sekundäre Zeugenschaft in postmemorialer Literatur. Katharina Hackers Eine Art Liebe
219
Philipp Hammermeister: Vergangenheit im Konjunktiv: Erinnerung und Geschichte in Marcel Beyers Kaltenburg
237
Bastian Reinert: “Ich lasse am liebsten Tote sprechen”. Elfriede Jelineks postmortales Theater
259
Martin Sexl: Von Auschwitz nach Srebrenica und zurück – Jonathan Littell und Peter Handke
273
Jens Birkmeyer: Kältezonen aus nächster Nähe. Alexander Kluges neue Erzählungen über Nationalsozialismus und Krieg
293
Sven Kramer: Nationalsozialismus und Shoah in Thomas Harlans literarischem Spätwerk
313
Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa 2000–2012. Eine Auswahlbibliografie
335
Die Autorinnen und Autoren
339
Torben Fischer, Philipp Hammermeister, Sven Kramer
Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Literatur des ersten Jahrzehnts. Zur Einführung Die Themen Nationalsozialismus und Shoah begleiten die deutschsprachige Literatur auch im 21. Jahrhundert in großer Vielfalt. Damit partizipiert diese Literatur weiterhin an einem Phänomen, an das sich Historiker und Literaturwissenschaftler in den 1980er und 1990er Jahren erst gewöhnen mussten, das aber mittlerweile bekannt, beschrieben und geradezu vertraut ist: Die Ereignisse zwischen 1933 und 1945 scheinen uns, den Zeitgenossen in den deutschsprachigen Ländern, näher zu kommen, sie scheinen uns unmittelbarer anzugehen, je größer die zeitliche Entfernung zu ihnen wird. Wenn also der vorliegende Band danach fragt, wie der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Literatur des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts thematisiert und dargestellt wurden, dann mangelt es nicht an Material. Diese Fülle an Texten macht es der Literaturwissenschaft schwer, einen Überblick zu gewinnen und klare Befunde zu formulieren. Dennoch können einige Tendenzen, die in dieser Dekade wirksam waren, identifiziert werden. Zum Teil handelt es sich um Entwicklungen längerer Dauer, die in das 21. Jahrhundert hineinreichen. Ob es darüber hinaus Tendenzen gibt, die erst in den letzten Jahren markant hervortraten, bildet eine wiederkehrende Fragestellung in den Beiträgen dieses Bandes. Die Jahrtausendwende, mit der der Untersuchungszeitraum dieses Bandes beginnt, bildet zunächst einen numerischen Punkt des Umschlags. Als Grund für ein verändertes Verhältnis gegenüber dem Nationalsozialismus und der Shoah – etwa im Sinne des Schwellenbewusstseins, das die vorangegangene Jahrhundertwende mit dem fin de siècle ausgelöst hatte – fällt sie dagegen nicht ins Gewicht; hier zählen andere Faktoren, von denen drei genannt seien. Erstens markiert das schon häufig benannte Verschwinden der Zeitzeugen nach wie vor eine der wichtigsten Veränderungen. Es handelt sich um einen graduell verlaufenden Prozess, der zu einer stetigen Wandlung des Diskurses beigetragen hat. Veränderte Erzählweisen werden deshalb in der Literatur zum Teil unter den Stichworten der Generationenfolge und des postmemory diskutiert.1 1
Marianne Hirsch hat den Begriff der Nacherinnerung (postmemory) seit den 1990er Jahren ausgearbeitet. In einer jüngeren Publikation definiert sie ihn folgendermaßen: “‘Postmemory’ describes the relationship that the ‘generation after’
10 Ebenfalls ohne eine eindeutig zu benennende Zäsur findet – zweitens – eine Transformation der Öffentlichkeit durch die technischen Innovationen, insbesondere im Internet, statt. Bedenkt man, dass die Suchmaschine Google erst seit 1998 in Gebrauch ist, so wird deutlich, dass diese Veränderung der medialen Rahmenbedingungen verstärkt in das erste Jahrzehnt fällt. Seither verbreiten sich Informationen und Meinungen mit größerer Geschwindigkeit und mit höherer Intensität in einer tendenziell globalen Öffentlichkeit. Diese technische Globalisierung hat die Diskurse über den Nationalsozialismus und die Shoah verändert und mitunter auch in der diesbezüglichen Literatur Spuren hinterlassen. Neben diesen eher graduellen Wandlungen gibt es – drittens – mit dem Fall der Berliner Mauer und der Implosion des Warschauer Pakts benennbare Daten, die einen politischen Rahmen vorgeben, in dem auch das erste Jahrzehnt noch befangen ist. Nach dem Ende des Kalten Krieges können der Nationalsozialismus und die Shoah anders thematisiert werden; vor allem kommen die osteuropäischen Erfahrungen nun zur Sprache und auch der antikommunistische Reflex verliert sich langsam. Diese allgemeinen Rahmenbedingungen wirken auf die Literatur selbst und darüber hinaus auch auf deren Erforschung ein. Der mächtigste und geradezu bestimmende Diskurs, in dem die Erforschung der Literatur über den Nationalsozialismus und die Shoah in den letzten Jahrzehnten stattfand, ist der weit verzweigte über Gedächtnis und Erinnerung. Bei der Feststellung, dass in der Gegenwartsliteratur ‘so viel Erinnerung sei’ wie kaum jemals zuvor, handelt es sich um einen Gemeinplatz, der längst Eingang in die einschlägigen Einführungen und Überblicksdarstellungen gefunden hat.2 Jenseits des schon seit etwa zwanzig Jahren anhaltenden Staunens über die Präsenz von Nationalsozialismus und Shoah in der Gegenwartskultur werden allerdings allenthalben Brüche und Differenzen erkennbar. So überschneiden sich bei der Analyse erinnerungsliterarischer Texte zum Nationalsozialismus und der Shoah eine ganze Reihe komplexer Problemkreise, die nicht selten in den literarischen Texten selbst angesprochen werden: Zu denken wäre hier etwa an die vielbeschriebene Problematik bzw. den Wandel einer bears to the personal, collective, and cultural trauma of those who came before – to experiences they ‘remember’ only by means of the stories, images, and behaviors among which they grew up. But these experiences were transmitted to them so deeply and affectively as to seem to constitute memories in their own right. Postmemory’s connection to the past is thus actually mediated not by recall but by imaginative investment, projection, and creation” (Hirsch 5). 2 Die italienische Germanistin Elena Agazzi ging so weit, bei den Schriftstellern der vielzitierten ‘dritten Generation’ eine “Geschichtsbesessenheit” zu konstatieren (Agazzi 134); Agazzi lehnt sich dabei u.a. an das von Assmann und Frevert geprägte Schlagwort an (vgl. Assmann/Frevert).
11 Erinnerungskultur, die ausschließlich auf mediale Formen der Überlieferung gestützt ist; an die Möglichkeiten und Formen einer Poetik nach dem Holocaust überhaupt; an die spezifische Problematik von Zeugnis und sekundärer Zeugenschaft in und durch die Literatur; an die Bedeutung generationeller Zugehörigkeiten und Prägungen; an die Komplexität mehrfachen Gedenkens in einer Erinnerungskultur mit sich überlagernden Erinnerungsfeldern, die zudem eine mehr und mehr transnationale Ausprägung erfährt; an die Disparität von Täter- und Opfergedächtnis sowie -erinnerung, mithin an die nur scheinbare Selbstverständlichkeit der im Titel aufgerufenen Doppelfigur einer Erinnerung an die Shoah und den Nationalsozialismus sowie schließlich an den Charakter und Wandel historischer Narration in der Literatur. Auch wenn der pauschale Befund eines ‘Erinnerungszuwachses’ in der Gegenwartsliteratur kaum einen nennenswerten Erkenntnisgewinn verspricht, wird man die Bedeutung des spezifischen Erinnerungsfeldes des Nationalsozialismus und der Shoah für die Gegenwartsliteratur nicht ernsthaft in Abrede stellen können: in quantitativer Hinsicht, was die Zahl der Texte betrifft, für die es von konstitutiver Bedeutung war, vor allem aber auch hinsichtlich der neuartigen literarischen Formen, die diese Texte erschlossen haben. Gerade der Blick dieses Bandes auf einen zeitlich begrenzten Ausschnitt der literarischen Nachgeschichte von Nationalsozialismus und Shoah vermag, so glauben wir, genauer zu bezeichnen, was einerseits den spezifischen Charakter dieses Textkorpus ausmacht – und ob und inwiefern sich die literarischen Texte der letzten zehn Jahre andererseits formal und inhaltlich von denen der Jahrzehnte zuvor unterscheiden. Dabei sollten die allgemeinen Entwicklungstendenzen der Nachgeschichte des Nationalsozialismus als Hintergrundfolie mit bedacht werden. Diese “zweite Geschichte des Nationalsozialismus” (Reichel/Schmid/Steinbach 8) wurde je nach Perspektive der Autoren sowohl als Prozess der sukzessiven Durchsetzung bestimmter übergeordneter Muster oder aber als wechselhafte, von thematischen Konjunkturen und Zäsuren gekennzeichnete Debattengeschichte beschrieben. So haben Reichel, Schmid und Steinbach etwa festgehalten, dass es sich bei dieser Nachgeschichte des Nationalsozialismus um “dauerhafte Anstrengungen und Aktivitäten” gehandelt habe, “die nicht etwa nacheinander, auch nicht kumulativ und zielgerichtet, einem Plan, einer inneren Logik” folgend stattgefunden hätten. Sie betonen die Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit der Entwicklungen ebenso wie ihre Zufälligkeit (Reichel/Schmid/Steinbach 8f.).3 Einer solchen Perspektive verpflichtet, hat 3
Dieser Perspektive sind die früheren Arbeiten Peter Reichels ebenso verpflichtet wie das Lexikon der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, dessen Herausgeber 2007 festhielten, die Geschichte der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik sei “keineswegs linear” verlaufen und habe keinen “kohärenten thematischen ‘Kern’ ” besessen, “der ihre Dynamik dominiert hätte” (Fischer/ Lorenz 13).
12 sich die jüngere Forschung zumeist von teleologischen Deutungen – etwa in der Verengung der Geschehnisse auf kollektive Lernprozesse – gelöst und die Mehrdimensionalität des Prozesses betont, was sich nicht zuletzt in Begriffsausdifferenzierungen wie Vergangenheits- oder Geschichtspolitik manifestierte und in eine zunehmende interdisziplinäre Verschränkung der Forschungen mündete.4 Eine solche Betonung von Transformationen und Brüchen in der Erinnerungskultur der letzten zwanzig Jahre steht allerdings potenziell quer zu der These Ulrike Jureits und Christian Schneiders, mit der geliehenen Identität des “gefühlten Opfers” habe sich spätestens seit den 1980er Jahren ein weitgehend stabiles Muster kathartisch aufgeladenen Gedenkens herausgebildet, das andere Formen immer stärker in den Hintergrund gedrängt habe und “mittlerweile zur erinnerungspolitischen Norm” geworden sei (Jureit/Schneider 10). Mit anderer Akzentuierung, aber vergleichbaren Folgen für die Perspektive auf die Nachgeschichte ist von anderen Autoren die fortschreitende Medialisierung des Holocaustgedenkens als so dominante Entwicklungslinie angesehen worden, dass sich die Veränderungen im öffentlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit in den vergangenen dreißig Jahren mit der griffigen Formel “Vom Beschweigen zur Medialisierung” bilanzieren ließen (Paul). Solche bedenkenswerten Syntheseversuche machen Tendenzen sichtbar, setzen sich aber zugleich der Gefahr aus, gegenläufige Entwicklungen zu unterschätzen und zu nivellieren. Blickt man auf das erste Jahrzehnt der 2000er Jahre, so wird deutlich, dass die prägenden Debatten der 1990er Jahre – wie die Kontroversen um die Wehrmachtsausstellungen, um das zentrale Holocaust-Denkmal in Berlin, um die Thesen Daniel J. Goldhagens, um Martin Walsers Paulskirchen-Rede –, die von ihrer Bedeutung für die erinnerungskulturelle Selbstverständigung der jungen Berliner Republik, ihrer gesellschaftlichen Reichweite und öffentlichen Wahrnehmung kaum zu überschätzen sind, in den Folgejahren keine bruchlose Fortsetzung fanden. Insofern erscheint es durchaus plausibel, hier eine weitere Transformation in der Art der öffentlichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zu unterstellen. Dafür könnte auch sprechen, dass sich in den gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Debatten um die NS-Vergangenheit der 1990er Jahre Tendenzen eines neuen, kritischeren Blicks auf den Nationalsozialismus, seine Kontinuität und Nicht-Aufarbeitung verdichteten: in der wissenschaftlich allerdings unbefriedigenden Fokussierung auf 4
Vgl. etwa den mit dem einflussreichen Schlagwort der “Public History” bezeichneten Forschungsstrang, in dem sich die Geschichtswissenschaft dezidiert den Darstellungen des Nationalsozialismus zuwendet, die außerhalb ihrer eigenen unmittelbaren Disziplingrenzen beheimatet sind (vgl. Bösch/Goschler).
13 deutsche Täter und ihre Motive bei Goldhagen, in der Erinnerung an die tiefgreifende Verstrickung deutscher Soldaten in die Vernichtungspolitik in den Wehrmachtsausstellungen und in der Durchsetzung der Shoah als Erinnerungsrahmen in den Debatten um das zentrale Holocaust-Denkmal. Parallel hierzu kündigte sich gleichwohl die vielfach beschriebene Tendenz einer verstärkten Rückkehr zu einer Thematisierung deutscher Opfernarrative an, die in ihren Ausläufern – ebenso wie gegenläufige Entwicklungen – bis in die unmittelbare Gegenwart fortwirkt. Weiterhin bleibt die politische Kultur der Bundesrepublik von der Nachgeschichte des Nationalsozialismus bestimmt – man denke hier nur an das Geständnis der Waffen-SSMitgliedschaft von Günter Grass, an die breite Rezeption einer historischen Studie wie Das Amt und die Vergangenheit (vgl. Conze et al.), an die Debatten um die Rolle von Wirtschaftsunternehmen im Nationalsozialismus, an die nicht verebbende Flut von mehr oder minder gelungenen Filmen und Fernsehserien zum Nationalsozialismus, oder aber an die verstörende Mordserie des durch seinen Namen unmittelbar auf den Nationalsozialismus verweisenden NSU. In verschiedenen Beiträgen dieses Bandes wird deutlich, wie sehr literarische Texte Teil dieser Entwicklungen waren, sie wesentlich mit bestimmten oder aber reflektierten. So zeigt Silke Horstkotte, wie Benjamin Steins Roman Die Leinwand sich mit dem Literaturskandal um Binjamin Wilkomirski einer der großen Debatten der 1990er Jahre widmet, um Konzepte von Zeugenschaft sowie neue Formen des literarischen Umgangs mit ihnen zu diskutieren. Steins Roman gelingt es dabei – so Horstkotte – über den Umweg eines Erzählkonzeptes, das sich konsequent von der Idee einer Authentizität verbürgenden Zeugenschaft löst, auch die Fragen der Wilkomirski-Debatte in einem veränderten Licht erscheinen zu lassen. Am Beginn der Überlegungen Cornelia Blasbergs steht demgegenüber der bemerkenswerte Befund, dass das Thema des deutschen Offizierswiderstandes in der Literatur bis in die 1990er Jahre hinein kaum aufgegriffen wurde. Blasberg diskutiert in ihrem Beitrag zum einen die Gründe für diese staunenswerte Abstinenz und vermag zudem zu zeigen, warum das Thema erst in der Literatur nach 2000 – in spezifischen, veränderten Modi der Darstellung – eine neue Virulenz erhält. Susanne Düwell spürt unter anderem der Frage nach, wie Norbert Gstrein in seinen literarischen und poetologischen Texten Positionierungen vornimmt und Verfahren erprobt, die unmittelbar auf politische und epistemologische Fragen des Erinnerungsdiskurses reagieren. Helmut Schmitz schließlich arbeitet im ersten Teil seines Beitrages heraus, wie, vermittelt durch den Begriff des Traumas, bei W. G. Sebald und Jörg Friedrich Analogien zur Shoah in die Texte eingehen, wenn über ‘deutsches Leiden’ verhandelt wird.
14 Verbunden mit dem Erinnerungsparadigma ist eine Tendenz in der literaturwissenschaftlichen Forschung, die erst in den 1990er Jahren hervortrat und bis heute weiterentwickelt und diskutiert5 wird: die Frage nach der Differenz jüdischer und nichtjüdischer Erfahrung. Neben Untersuchungen zum Werk einzelner Autoren entstanden hier impulsgebende Monografien wie die von Amir Eshel (1999) und Stephan Braese (2001) sowie Sammelpublikationen von Braese et al. (1998) und Sander L. Gilman und Hartmut Steinecke (2002). Im vorliegenden Band setzen sich mehrere Beiträgerinnen mit der aktuellen literarischen Erinnerungsarbeit jüdischer Autorinnen und Autoren auseinander. Neben Benjamin Stein, dem sich Silke Horstkotte widmet, werden Werke von Vladimir Vertlib und Esther Dischereit sowie Doron Rabinovici und Robert Schindel näher erörtert. Barbara Breysach liest Vertlib und Dischereit im Kontext der Debatten um das generationenbezogene und das postmemoriale Erinnern. Dabei verortet sie ihre Texte und Installationen in unterschiedlichen Zwischenwelten: Während Österreich für Vertlib eine solche nicht nur im geokulturellen, sondern auch in einem transgenerationellen Sinn darstelle, überschreite Dischereit in der Figur der intellektuellen, stellvertretenden Zeugin noch den intergenerationellen Diskurs. Iris Hermann betrachtet die neue Prosa Schindels und Rabinovicis hinsichtlich des von diesen Autoren empfundenen Dilemmas, dass sie einerseits Teil der gegenwärtigen modernen Welt seien, andererseits zurückschauen müssten auf die Gräber der Ermordeten. Jüdische Identität imaginierten sie in den Romanen in dem Zwiespalt zwischen Erinnerung und gesellschaftlichem Engagement. Jenseits der erinnerungstheoretischen Fokussierung der Erforschung der Shoah sind in den letzten Jahren im deutschsprachigen Bereich verhältnismäßig wenige literaturwissenschaftliche Arbeiten entstanden. 1999 formulierte Marcel Beyer: “Der Holocaust als Motiv, als Beschriebenes, als Hintergrund einer literarischen Arbeit erscheint als eine Frage der Form” (Beyer 22), die “eine umfassende, detaillierte Spracharbeit” (Beyer 23) erfordere. Einem Selbstverständnis, das dergestalt die Sprache und die Form in den Vordergrund rückt, ging Axel Dunker in einer Studie von 2003 nach. Er fragte nach den Veränderungen, die die Literatur nach Auschwitz mit Blick auf die ästhetische Moderne hervorgebracht hat und suchte diese Effekte auch in Texten auf, die die Lager nicht explizit thematisieren. Seit den 1970er Jahren sei die Verdrängung der Verbrechen des Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit in die Werke mimetisch und reflexiv eingegangen. Dergestalt hätte die Shoah in ihnen eine Spur hinterlassen, die sich zwar von direkten Bezugnahmen unterscheide, aber auf die indirekte Art “eines mimetischen Nachvollzugs der Verdrängung” (Dunker 17) dennoch zur Geltung gebracht werde. Welche 5
Vgl. die kritische Position von Peitsch.
15 Konsequenzen die Shoah in dieser Hinsicht für die ästhetische Moderne – bzw. Postmoderne – hat, wurde seither kaum mehr gefragt. Jens Birkmeyers Beitrag zu Alexander Kluge allerdings geht von der Beobachtung aus, dass dessen thematisch einschlägigen Klein- und Kleinsterzählungen der letzten zehn Jahre dezidiert nicht von einer Perspektive aus verfasst sind, die ästhetische Darstellungsprobleme der Shoah ins Zentrum rücken würde. Birkmeyer zeigt, wie Kluges Mikroanalysen in durchaus aufklärerischer Weise der Frage nachspüren, welche emotionalen Konstellationen den je konkreten Situationen in Krieg und Nationalsozialismus zugrunde lagen. Kluges episodenartiges Erzählverfahren versuche die Zusammenhänge zwischen großer Ereignis- und kleiner Erlebnisgeschichte exemplarisch herauszuarbeiten und historischer Erkenntnis zugänglich zu machen. In Marcel Beyers Zoologen-Roman Kaltenburg wird die Shoah ebenfalls nicht explizit thematisiert, doch auch das Sprechen von Vögeln und Hamstern verliert hier vor der Geschichte des Nationalsozialismus seine Unschuld. Philipp Hammermeister zeigt, wie sich bei Beyer das Fortwirken von Faschismus und Gewaltgeschichte gerade in den Beiläufigkeiten äußert, etwa in einem vermeintlich objektiv-wissenschaftlichen Duktus, der sich mit seiner Vermischung von Tier- und Menschenbeobachtung selbst entlarvt. Die meisten Beiträge des vorliegenden Bandes setzen an thematischen und diskursiven Phänomenen der neuesten Werke an. Er steht damit in der Tradition anderer Arbeiten, zu denen, neben den schon erwähnten, auch etwa diejenigen von Sigrid Lange (1999), Barbara Beßlich et al. (2006), Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke (2006), Inge Stephan und Alexandra Tacke (2007), Carsten Gansel und Pawel Zimniak (2010) sowie Meike Herrmann (2010) zählen. Im Sinne einer thematischen Auswahl möchte auch die Liste deutschsprachiger Texte seit dem Jahre 2000 im Anhang verstanden werden, die als Orientierungshilfe gedacht ist und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Das Missverhältnis der dort aufgeführten Texte zu den in diesem Band ausführlicher gewürdigten zeigt indessen, dass nur ein Ausschnitt aus den zahlreichen und vielgestaltigen literarischen Texten, die im vergangenen Jahrzehnt die Themen Nationalsozialismus und Shoah aufgegriffen haben, näher berücksichtigt werden konnte. Die versammelten Analysen – sowie die Diskussionen auf der Lüneburger Tagung, aus der der Band hervorgegangen ist – lassen es jedoch zu, zentrale Problemkreise und Verfahrensweisen des Korpus zu benennen und in ihrer Bedeutung zu evaluieren, um so das Phänomen der anhaltenden Präsenz der Thematik in der Gegenwartsliteratur besser zu verstehen. Blickt man auf die erzählerische Gestalt, auf die thematischen Konjunkturen und die spezifischen Verfahrensweisen der Rekonstruktion der Geschichte, so sind es zumindest die folgenden fünf Punkte, die für das Textkorpus von besonderer Bedeutung sind.
16 Rekonstruktion versus Reflexion: Zum Formenwandel historischer Narration Mit der Rekonstruktion von Vergangenem sowie der Reflexion von Erinnerungsprozessen sind zwei der grundsätzlichen Leistungspotenziale von Literatur als Erinnerungsmedium bezeichnet: ihre Fähigkeit zur Formung, Verdichtung und Tradierung vergangenheitsbezogenen Wissens einerseits und ihre Möglichkeiten, den Prozess der Erinnerung selbst literarisch auszugestalten und zu reflektieren andererseits. Würde man diese beiden Dimensionen von Erinnerungsliteratur idealtypisch differenzieren, stünde am einen Ende der Skala der klassische historische Roman, während am anderen Ende Texte aufzufinden wären, die nicht Vergangenes literarisch vergegenwärtigen, sondern sich mit der Geschichte und Historizität bestehender Rekonstruktionen auseinandersetzen. Ansgar Nünning hat für die englischsprachige Literatur bereits Mitte der neunziger Jahre eine Verschiebung historischen Erzählens von der ersten zur zweiten Form als Teil eines übergreifenden Prozesses der fortschreitenden Hybridisierung erkannt (vgl. Nünning). Ein Blick auf die diesem Band zugrunde liegenden Texte zeigt, dass dies auch auf die hier vorliegenden Formen historischer Narration zutrifft. Die meisten Texte sind durch ein mehr oder weniger komplexes Ineinander von rekonstruktiven und reflexiven Momenten geprägt, wobei die Reflexion von Erinnerungsprozessen in vielen Fällen – prominent etwa in den Texten Norbert Gstreins, aber auch W. G. Sebalds – dazu tendiert, den Kern der historischen Rekonstruktion zu verunsichern. Romane Iris Hanikas (Das Eigentliche) oder auch Doron Rabinovicis (Andernorts) sind nahezu vollständig Erscheinungsformen der erinnerungskulturellen Nachgeschichte des Nationalsozialismus gewidmet und lösen sich von historischer Narration im engeren Sinne. An dieser Gruppe von Texten ist zweifellos eine Ausdifferenzierung der Erinnerungsliteratur hin zu Formen metahistoriographischen und metafiktionalen, vielleicht sogar ‘meta-erinnerungskulturellen’ Erzählens zu beobachten. Norbert Otto Eke thematisiert diese Tendenz an neuen Dramen. So richte Robert Menasse sein Augenmerk in dem Stück Doktor Hoechst satirischkritisch auf die Redekonventionen, die das Aushandeln der ‘richtigen’ Erinnerung steuerten und damit auf Auschwitz als Diskurskonfiguration und Signifikationsmaschine. Die Mechanismen der Repräsentation würden auch in den Stücken von Werner Fritsch und Robert Schindel ausgestellt und befragt werden, während in der Oper Die Passagierin ältere Repräsentationsmechanismen weiterwirkten, die ganz auf die emotionale Erschütterung der Zuschauer setzten. In die Richtung des sprachexperimentellen, obgleich weniger metahistoriographischen Schreibens orientiert sich schon seit Jahren Elfriede Jelinek. Bastian Reinert untersucht an zwei neueren Stücken, wie die Autorin den
17 besonders in Österreich nach wie vor anhaltenden Verleugnungs- und Relativierungsdiskurs sowie die Dialogverweigerung in Bezug auf Auschwitz aufgreift und ihr poetologisches Konzept der Sprachflächen mit Hilfe eines literarischen Rückgriffs auf die Rede der Toten ins Werk setzt. Die Toten, so Reinert, seien nicht nur Träger des Gedächtnisses, sondern geradezu das personifizierte, ewige Gedächtnis selbst und so Ausdruck eines Gedächtniszwanges, der dem Verdrängen und Vergessen sein Gegenteil vorhalte. Carola Hähnel-Mesnard schließlich liest den bislang von der Forschung wenig beachteten Roman Nahe Jedenew von Kevin Vennemann als Beispiel einer metafiktionalen Erinnerungsprosa, die den Ort, vom dem aus die Rekonstruktion im Roman geschieht, in der Erzählanlage und der ästhetischen Form des Textes mit reflektiert. Hähnel-Mesnard zeigt in ihrer Lektüre des Romans, wie produktiv der Text des 1977 geborenen Autors auf die Situation des postmemory reagiert, in der Ereignisse zum Gegenstand werden, die überhaupt nur im Modus der fiktionalen Annäherung und in experimenteller Form zugänglich werden.
Familiengedächtnis und Generationenroman “Mit dem Familienroman ist es seit geraumer Zeit vorbei – er will es nur nicht wahrhaben”, schrieb Sigrid Löffler im Jahre 2005, nur um anschließend genau das Gegenteil zu beweisen. Mit dem Familienroman ist es eben noch lange nicht vorbei. Die Gegenwartsliteratur hat sich spätestens seit den frühen 2000er Jahren in auffälliger Zahl wieder diesem “vernutzten Genre” (Löffler) zugewandt und die Familie als Erinnerungsort neu entdeckt. Diese Tendenz, der Situation der sekundären Zeugenschaft durch eine verstärkte Hinwendung zur eigenen Familiengeschichte und zur generationellen Tradierung von Erinnerung zu begegnen, steht in mancherlei Hinsicht ergänzend zum bereits beschriebenen Dualismus von Rekonstruktion und Reflexion von Geschichte. In dem Maße, wie das seit den frühen 1980er Jahren diskutierte Phänomen des Verschwindens primärer Zeugenschaft selbstverständliche Realität wird, geraten die Tradierung von Erinnerung und damit die Möglichkeiten und Grenzen des kommunikativen Gedächtnisses stärker in den Fokus. Die Familie wird deshalb ganz folgerichtig zum bevorzugten Handlungsrahmen erinnernder Literatur, denn der ‘Erinnerungs-’ bzw. ‘Gedächtnisort’ Familie ist durch insbesondere zwei Merkmale gekennzeichnet: Privatheit der Erinnerung und Engführung mehrerer Generationen. Der offiziellen Geschichtsschreibung wird im Familienroman eine private Erinnerung gegenübergestellt, die mangels entsprechender sozialer Rahmen bislang keinen Eingang in öffentliche Diskurse finden konnte. Anders als etwa noch in den Väterromanen der siebziger und achtziger Jahre wird die Familie bei Marcel Beyer (Spione), Tanja Dückers (Himmelskörper), Arno Geiger (Es geht uns
18 gut) oder Eva Menasse (Vienna) nicht mehr nur als intergenerationelles Konfliktfeld betrachtet, sondern auch als für die Selbstvergewisserung produktiv zu machendes Reservoir von Geschichten und Erinnerungen begriffen. Einem Streben nach ungebundener Individualität stellen diese und weitere Romane die unabweisbare Determination der Protagonisten durch vorgängige Geschichte und Geschichten entgegen. Kinder und mittlerweile vor allem Enkel versuchen, über die Hinwendung zur Familie ihre Herkunft zu rekonstruieren. Sie begreifen die brüchige Familienhistorie mitsamt verdrängter Schuld und unbewältigtem Leid als untrennbaren Teil der eigenen Biographie und die “Familienbande” (Weigel) als präfigurierenden Teil der eigenen Identität. “Die Familie ist eine Kontaktzone in der Zeit” (Assmann: Unbewältigte Erbschaften 56) und der Familienroman, indem er die kleine Geschichte der Familie vor die große Geschichte des Zweiten Weltkriegs stellt, die paradigmatische Gattung für das Verhandeln unterschiedlicher generationeller Positionen. Neben diesem rein fiktionalen Zugriff auf Familie und Generation finden sich zahlreiche Texte, die aus autobiographischer Perspektive erzählt sind und neben der Tradierung von Erinnerung die Unterscheidbarkeit von Fakt und Fiktion thematisieren. Die Familienerkundungen von Uwe Timm (Am Beispiel meines Bruders), Dagmar Leupold (Nach den Kriegen) oder Stephan Wackwitz (Ein unsichtbares Land) wollen nicht nur das erzählende Ich vor dem Hintergrund der Familie verorten, sondern immer auch die Möglichkeiten der Erzählbarkeit der eigenen Geschichte reflektieren. Die in den letzten Jahren in großer Anzahl und mit oft vergleichsweise hoher Auflagenzahl erschienenen Familienbiographien von Wissenschaftlern und Journalisten wie beispielsweise Christina von Braun (Stille Post), Thomas Medicus (In den Augen meines Großvaters) oder Wibke Bruns (Meines Vaters Land) stellen schließlich das faktuale Gegenstück zur fiktionalen Erkundung der Familie dar. Dabei ist die Bewertung dieser anhaltenden Konjunktur fiktionaler oder biographisch geprägter Familienerkundungen in der Forschung durchaus umstritten. Handelt es sich – so die These Harald Welzers – in der Tendenz um einen exkulpierenden literarischen Diskurs über “schuldlose Schuld” (Welzer 59), in dem es darum geht, literarisch ein bequemeres Verhältnis der nachwachsenden zur Tätergeneration zu etablieren? Ist die Fokussierung auf die Familienerinnerung vielleicht sogar Ausdruck einer “kollektiven Fixierung”, die sich in der Generationenabfolge zunehmend verstärkt und die mit verantwortlich ist für die – so Welzer – “allenthalben zu beobachtende Blockierung von Zukunftsentwürfen” (Welzer 64)? Oder müssen nicht vielleicht gerade neuere Texte (mit Friederike Eigler) als Beispiele kritischer Erinnerungsarbeit gelesen werden – nicht zuletzt, weil das Genre des Familien- und Generationenromans metafiktionale und selbstreferenzielle Textdimensionen in besonderem Maße privilegiert (vgl. u.a. Eigler 53–62)?
19 Helmut Schmitz spürt in seinem Beitrag u.a. dem Verhältnis zur Erlebnisgeneration in aktuellen Familienromanen nach und stellt fest, dass insbesondere den Kindern eine Annäherung an die Eltern nur durch eine kritische Hinterfragung des eigenen moralischen Überlegenheitsgefühls möglich wird. Erst wenn die ‘zweite Generation’ ihre Position als selbstgerechte Hüterin der Geschichtsdeutung aufgibt, kann eine Selbstverortung in der eigenen Familienbiographie erfolgen. Katja Stopka hingegen widmet sich mit Katharina Hackers Eine Art Liebe einem Roman, der das aus dem Familienroman bekannte Muster des intergenerationellen Gespräches noch um eine ethische Dimension erweitert. Stopka sieht in der Freundschaft einer deutschen Studentin zu einem jüdischen Überlebenden ein Beispiel für sekundäre Zeugenschaft, da jener erst in dieser therapeutisch anmutenden Beziehung seine Erinnerungen zu artikulieren vermag. Gleichzeitig wirft der Roman damit aber die Frage auf, wie ein Verstehen gelingen kann, das nicht auf eigene Erinnerungen zurückgreifen kann und um die Lückenhaftigkeit und Unzuverlässigkeit des Berichteten weiß. Einer speziellen Form der Familienerinnerung geht Sven Kramer anhand von Thomas Harlans später Prosa nach. Harlans Werk speist sich wesentlich aus dem ambivalenten Verhältnis zu seinem Vater, Veit Harlan, dem Regisseur von JUD SÜß. In seiner mäanderndern, tendenziell unendlichen Prosa thematisiert Harlan immer wieder das Problem der Täterschaft und verschränkt dabei erzählerisch Vergangenheit und Gegenwart, Fakt und Fiktion ineinander.
Fakten, Fiktionen und die Materialität von Erinnerung “Familienroman” oder “Roman eines Lebens” – schon solche paratextuellen Festlegungen, wie sie sich in den bereits genannten Romanen von Dagmar Leupold und Stephan Wackwitz finden, verweisen auf das Ineinandergreifen von faktualen und fiktionalen Erzählelementen nicht nur in den Familien- und Generationenromanen. So unterschiedliche Texte wie Grass’ Im Krebsgang, Gstreins Die englischen Jahre oder Sebalds Austerlitz eint die Fiktionalisierung von verbürgtem historischen Geschehen in einem Modus der Recherche, der die Historizität dieser Ereignisse mit sichtbar werden lässt. Diese Experimente an den Grenzen der Fiktionalität sind in unmittelbarem Zusammenhang mit dem geschärften Bewusstsein für die Materialität der Erinnerung in der Gegenwartsliteratur insgesamt zu sehen. Nicht nur die selbstreferentielle Erkundung der Rolle von Literatur in erinnerungskulturellen Zusammenhängen ist zum Thema der literarischen Texte geworden, auch die Bedeutung speichernder Erinnerungsmedien insgesamt – Tagebücher, Aufzeichnungen, Familienchroniken, aber auch Archive, Erinnerungsorte etc. – gerät in den Fokus. Dass der Reflexion und Aufnahme von Fotografien als Materialisierungen von Erinnerungspuren in der Gegenwartsliteratur
20 eine herausgehobene Bedeutung zukommt, hat Silke Horstkotte in ihrer Studie Nachbilder aus dem Jahr 2009 eindringlich herausgearbeitet (vgl. Horstkotte). Entscheidend scheint in diesem Kontext zu sein, dass insbesondere die Interdependenz und Abhängigkeit des literarischen Textes von und mit anderen Formen medialer Speicherung Beachtung findet. Literarisch aufgegriffene Erinnerungsmedien werden – etwa bei Stephan Wackwitz oder Uwe Timm – nicht als Quellen verstanden, die unverstellte Zugänge zur Vergangenheit bieten könnten, sondern vielmehr als Gegenstände, die imaginativ und interpretativ in einer narrativen Erinnerungsarbeit erschlossen werden müssen. Literatur wird dabei als eine von mehreren Formen historischer Narration erkennbar, durch die Geschichte und Geschichten Kohärenz verliehen wird. Diese gewachsene reflexive Sensibilität passt auch zu der in den vergangenen zwei Jahrzehnten vielfach diskutierten Bedeutung von Fiktionalität und Narration für alle Formen historischer Rekonstruktion, nicht zuletzt der der Geschichtswissenschaft.
Neue Globalisierungseffekte Die Internationalisierung des Diskurses um den Nationalsozialismus begann schon mit dem Machtantritt Hitlers, und mit der Befreiung der Lager wurden die deutschen Folter- und Mordstätten weltweit bekannt gemacht. Seither weisen die entsprechenden Diskurse nationale und internationale Linien auf, die mitunter stark aufeinander bezogen sind; beizeiten setzt sich aber auch die nationale Linie vollständig durch. Dies gilt für die politischen Debatten ebenso wie für die Produkte der Kulturindustrie oder für Kunstwerke. So fand zum Beispiel das aus dem Niederländischen übersetzte Tagebuch der Anne Frank in den fünfziger Jahren auch in der Bundesrepublik ein Massenpublikum, insbesondere, nachdem in den USA ein Bühnenstück und ein Film über den Stoff angefertigt worden waren. Der internationale Rahmen, in dem der Nationalsozialismus und die Shoah aufgerufen werden, wandelte sich in den neunziger Jahren signifikant, als das Ende des Kalten Krieges die politische Landschaft veränderte und das Internet die mediale Umgebung revolutionierte. Den neuen politischen Rahmen der Erinnerung an die Shoah bestimmten Daniel Levy und Natan Sznaider schon 2001 als einen der Kosmopolisierung, wobei eine “Begegnung zwischen globalen Interpretationsschemata und lokalen Gegebenheiten” (Levy/Sznaider 22) stattfinde, die in ihren je neuen Hybridbildungen als Glokalisierung bezeichnet werden könne (vgl. Levy/ Sznaider 28). In diesem politischen Diskursumfeld rückten die Staaten und Literaturen Osteuropas verstärkt in den Blick. Literaturwissenschaftliche Arbeiten mit einem transnationalen Fragehorizont, wie die von Barbara Breysach, entstanden. Autoren wie Imre Kertész, die neben dem Nationalsozialismus auch
21 den Stalinismus thematisierten, wurden entdeckt. Ein Roman wie Jan Faktors Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen HodensackBimbams von Prag spricht aus der Erfahrung des Nachlebens der Shoah in der Tschechoslowakei heraus. Der grenzüberschreitende Charakter der Verfolgung wie die über die ganze Welt verstreuten Exilorte wirken noch heute in der Internationalität mancher Romanhandlungen nach, etwa bei Doron Rabinovici oder Ursula Krechel (Shanghai fern von wo und Landgericht). Helmut Peitsch analysiert einen weiteren Effekt der Internationalisierung, indem er drei literarische Spiegelungen von Reisen nach Auschwitz untersucht: Maxim Billers Auschwitz sehen und sterben, Iris Hanikas Reise an den Ort in Polen und schließlich Stephan Wackwitz’ Familienroman Ein unsichtbares Land. Peitsch zeigt in seinen vergleichenden Lektüren dieser Texte, wie unmittelbar die Konstruktion des Erinnerungsortes Auschwitz, zu der sie beitrugen, mit den zeitgenössischen Diskussionen der öffentlichen Erinnerung verwoben war. Einige Schriftsteller führen neue politische Ereignisse mit jenen aus dem Nationalsozialismus eng, indem sie diesen zum Beispiel im Subtext oder als historischen Referenzpunkt aktueller Konflikte mit anklingen lassen. Martin Sexl zeigt anhand der Rezeption von Jonathan Littells Les Bienveillantes und Peter Handkes Texten über den Jugoslawienkrieg, dass jede Darstellung genozidaler Prozesse zumindest implizit vor dem Hintergrund von und mit dem Wissen über Auschwitz wahrgenommen wird. Die Omnipräsenz der Shoah im kollektiven Bewusstsein lässt ganz unwillkürlich Verbindungen zwischen ursprünglich disparaten Ereignissen entstehen. Die Erforschung der neuesten deutschsprachigen Literatur wird auch im englischsprachigen Raum intensiv betrieben. Besonders zu den Themen Nationalsozialismus und Shoah erschienen mehrere einschlägige Bände, unter anderen von Helmut Schmitz (2004), Laurel Cohen-Pfister und Dagmar Wienroeder-Skinner (2006), Caroline Schaumann (2008), Erin McGlothlin (2006) sowie Laurel Cohen-Pfister und Susanne Vees-Gulani (2010). Auch wurde in der englischsprachigen Forschung – zum Beispiel in Publikationen von Stuart Taberner und Karina Berger (2009), Bill Niven (2006) und Helmut Schmitz (2007) – die Frage intensiv aufgegriffen, ob sich im Anschluss an W.G. Sebalds Buch über den Luftkrieg und Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang ein neues Opfernarrativ in der deutschsprachigen Literatur durchgesetzt habe. So setzte die Rezeption der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in den englischsprachigen Ländern in den vergangenen Jahren immer wieder eigene Akzente. Durch die Weiterentwicklung der Medien von den Printerzeugnissen zum Fernsehen und zum Internet erlangte die Internationalisierung im Rahmen der Globalisierung größere Reichweiten und einen höheren Durchdringungsgrad. Levi und Sznaider sprechen von einer neuen globalen Kommunikation, die sich in “Medienereignissen” (Levy/Sznaider 54) niederschlage, die
22 tendenziell global wahrgenommen werden würden. Nationalsozialismus und Shoah sind heute weltweit bekannte Vorgänge, die international zu Referenzgrößen wurden. Diese Medialisierung der Erinnerung an Nationalsozialismus und Shoah wurde auch von der Literatur aufgegriffen, etwa bei Elfriede Jelinek, Iris Hanika oder Thomas Meinecke. Letzterem, und damit einer Spielart der Pop-Literatur, widmet sich Axel Dunker. Er liest Meineckes Roman Hellblau (2001) als einen Diskursroman, der die dekonstruktivistische These von der Identität als einer Konstruktion voraussetze und in dem sich der Diskurs als Rhizom entfalte. Nationalsozialismus, Antisemitismus und Holocaust erschienen als einer der Wurzelstränge dieses Gebildes, sie würden als Textoberfläche integriert und auf politisch produktive Weise umgearbeitet werden. Meineckes poetisches Verfahren orientiere sich durchaus an Judith Butlers Empfehlung, die besagt, wir seien darauf verwiesen, die uns umgebenden diskursiven Gepflogenheiten performativ durchzuarbeiten.
Normierung Ein Thema, das in diesem Zusammenhang immer wieder vorkommt, ist die Normierung der offiziellen Erinnerung, die in europäischer und in globaler Perspektive betrachtet werden kann. Timothy Garton Ash sprach von einer “DIN-Norm” der Erinnerung (Ash, zit. n. Hammerstein/Trappe 10), die sich inzwischen etabliert habe. Katrin Hammerstein und Julie Trappe fragten kritisch, ob es inzwischen ein “Diktat der Aufarbeitung” gäbe. Die Berliner Republik werde im politischen Diskurs zum Vorbild für andere Länder erklärt, wenn es um die Aufarbeitung von Diktaturen gehe, also etwa für osteuropäische Staaten oder für die Türkei in Bezug auf den Genozid an den Armeniern. Diese Normierung und – einhergehend – die neue Moralisierung des europäisierten und globalisierten Diskurses über den Nationalsozialismus und die Shoah greifen mehrere literarische Texte kritisch auf. Gerade die Pluralität der Aneignungsweisen scheint in der Literatur immer stärker thematisiert zu werden. Ist also die Literatur der Ort, an dem die Normierung, die der politische Diskurs eingeleitet hat, zurückgenommen und konterkariert wird? Die Liste dieser Punkte ließe sich erweitern. Bezogen auf die deutschsprachige Literatur des letzten Jahrzehnts lässt sich empirisch festhalten, dass der Nationalsozialismus und die Shoah weiterhin einen thematischen Fokus dargestellt haben, und zwar nicht nur in der Schriftstellergeneration der Kriegsteilnehmer, sondern auch in der Kinder- und Enkelgeneration. Dabei hat die Literatur, so unsere These, gerade in den letzten Jahren noch einmal Zugänge eröffnet, die sich von jenen der siebziger und achtziger, aber zum Teil auch von denen der neunziger Jahre unterscheiden. Wäre ein Roman wie Das Eigentliche von Iris Hanika möglich gewesen, als in Berlin über den Entwurf für das Denkmal für die ermordeten Juden Europas diskutiert wurde? Als im
23 Nachgang der Wiedervereinigung die politisch korrekten Sprachregelungen für den Umgang mit der Shoah ausgehandelt wurden? Ein Sammelband, der sich der unmittelbaren Gegenwartsliteratur annimmt, steht in Zeitgenossenschaft zu ihr und teilt viele ihrer Fragestellungen, während er andere aus wissenschaftlicher Sicht akzentuiert. Setzen sich die untersuchten Dramen, Romane und Erzählungen mit der eigenen Position im Danach auseinander, treibt die Literaturwissenschaft die Frage um, wie das, was in den neuesten Werken in Bezug auf den Nationalsozialismus und die Shoah verhandelt und gestaltet wird, die Überlieferung und Wahrnehmung dieser Ereignisse modifiziert. Wenn es richtig ist, dass sich bestimmte Elemente in der untersuchten Literatur erst vor den soziokulturellen Hintergründen der ersten Dekade seit 2000 haben herausbilden können, dann geben diese Veränderungen einen Wink, um die eigene Zeitgenossenschaft neu zu verstehen. Gerade in Bezug auf den Nationalsozialismus und die Shoah liegt darin eine besondere – durchaus auch ethisch aufzufassende – Aufgabe. In diesem Sinne versteht sich der Band als Versuch, wichtige Tendenzen in diesem weiten Feld genauer als bislang zu beleuchten und dessen Konturen zu schärfen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Literatur Elena Agazzi: Erinnerte und rekonstruierte Geschichte. Drei Generationen deutscher Schriftsteller und Fragen der Vergangenheit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. Aleida Assmann: Unbewältigte Erbschaften. Fakten und Fiktionen im zeitgenössischen Familienroman. In: Generationen: Erfahrung – Erzählung – Identität. Hg. von Andreas Kraft/Mark Weißhaupt. Konstanz: UVK 2009. S. 49–69. Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: DVA 1999. Barbara Beßlich/Katharina Grätz/Olaf Hildebrand (Hg.): Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Berlin: E. Schmidt 2006. Marcel Beyer: “Holocaust: Sprechen”. In: Literatur und Holocaust. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: Edition Text + Kritik 1999. S. 18–24. Frank Bösch/Constantin Goschler: Der Nationalsozialismus und die deutsche Public History. In: Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft. Hg. von dens. Frankfurt a.M.-New York: Campus 2009. S. 7–23. Stephan Braese: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Berlin: Philo 2001. (Nachdruck München: Text + Kritik 2010). Stephan Braese/Hanno Loewy/Doron Kiesel/Holger Gehle (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Frankfurt a.M.-New York: Campus 1998. Barbara Breysach: Schauplatz und Gedächtnisraum Polen. Die Vernichtung der Juden in der deutschen und polnischen Literatur. Göttingen: Wallstein 2005.
24 Laurel Cohen-Pfister/Dagmar Wienröder-Skinner (Hg.): Victims and perpetrators, 1933–1945. (Re)presenting the past in post-unification culture. Berlin: de Gruyter 2006. Laurel Cohen-Pfister/Susanne Vees-Gulani (Hg.): Generational shifts in contemporary German culture. Rochester, NY: Camden House [u.a.] 2010. Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München: Blessing 2010. Simone Costagli/Matteo Galli (Hg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext. München: Fink 2010. Axel Dunker: Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz. München: Fink 2003. Ariane Eichenberg: Familie – Ich – Nation: Narrative Analysen zeitgenössischer Generationenromane. Göttingen: V&R unipress 2009. Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin: E. Schmidt 2005. Norbert Otto Eke/Hartmut Steinecke (Hg.): Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Berlin: E. Schmidt 2006. Amir Eshel: Zeit der Zäsur. Jüdische Dichter im Angesicht der Shoah. Heidelberg: Winter 1999. Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der ‘Vergangenheitsbewältigung’ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld: transcript 2007. Carsten Gansel/Pawel Zimniak (Hg.): Das “Prinzip Erinnerung” in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2010. Sander L. Gilman/Hartmut Steinecke (Hg.): Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Berlin: E. Schmidt 2002. Katrin Hammerstein/Julie Trappe: Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? In: Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit. Hg. von dens. et al. Göttingen: Wallstein 2009. S. 9–13. Meike Herrmann: Vergangenwart. Erzählen vom Nationalsozialismus in der deutschen Literatur seit den neunziger Jahren. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. Marianne Hirsch: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust. New York: Columbia University Press 2012. Silke Horstkotte: Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2009. Ulrike Jureit/Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart: Klett-Cotta 2010. Sigrid Lange: Authentisches Medium. Faschismus und Holocaust in ästhetischen Darstellungen der Gegenwart. Bielefeld: Aisthesis 1999. Daniel Levy/Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, aktualisierte Neuausg. 2007 [2001]. Sigrid Löffler: Geschrumpft und gestückelt, aber heilig. In: Literaturen 6 (2005). S. 18–26.
25 Erin Heather McGlothlin: Second-generation Holocaust literature. Legacies of survival and perpetration. Rochester, NY: Camden House 2006. Bill Niven (Hg.): Germans as Victims. Basingstoke, GB-New York, NY: Palgrave Macmillan 2006. Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis: die Gedächtnisorte. In: ders.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin: Wagenbach 1990. S. 11–33. Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Band 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans. Trier: WVT 1995. Gerhard Paul: Holocaust – Vom Beschweigen zur Medialisierung. Über Veränderungen im Umgang mit Holocaust und Nationalsozialismus in der Mediengesellschaft. In: Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre. Hg. von dems./Bernhard Schoßig. Göttingen: Wallstein 2010. S. 15–38. Helmut Peitsch: Revision der Nachkriegsliteraturgeschichte. In: Das Argument 48 (2006). Nr. 265. S. 253–265. Peter Reichel/Harald Schmid/Peter Steinbach: Die “zweite Geschichte“ der HitlerDiktatur. In: Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung. Hg. von dens. München: Beck 2009. S. 7–21. Caroline Schaumann: Memory matters. Generational responses to Germany’s Nazi past in recent women’s literature. Berlin: de Gruyter 2008. Helmut Schmitz: On their own terms. The legacy of national socialism in post-1990 German fiction. Birmingham: Birmingham University Press 2004. ——— (Hg.): A Nation of Victims? Representation of German Wartime Suffering from 1945 to the Present. Amsterdam-New York, NY: Rodopi 2007. Inge Stephan, Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder des Holocaust. Köln [u.a.]: Böhlau 2007. Stuart Taberner; Karina Berger (Hg.): Germans as Victims in the Literary Fiction of the Berlin Republic. Rochester, NY-Woodbridge, GB: Camden House 2009. Sigrid Weigel: Familienbande, Phantome und die Vergangenheitspolitik des Generationendiskurses. In: Generationen: Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hg. von Ulrike Jureit/Michael Wildt. Hamburg: Hamburger Edition 2005. S. 108–126. Harald Welzer: Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane. In: Mittelweg 36, 13.1 (2004). S. 53–64.
Norbert Otto Eke
“Was ist wahr? Woher haben Sie denn Ihre Bilder?” Shoah-Erinnerungen in neueren Theater-Texten (Robert Menasse, Werner Fritsch, Robert Schindel, Mieczysław Weinberg) How to render visible is one of the most intricate questions within the performing arts (film and theatre) relating to the theme of the Shoah. Giving attention to Robert Menasse’s Goethe-paraphrase Doktor Hoechst – Ein Faust-Spiel, this article first sketches the main features of this highly controversial issue. It then discusses two recent examples of a theatre of memory: Werner Fritsch’s theatre of imagining the past (Chroma. Farbenlehre für Chamäleons, Bach, Das Rad des Glücks), and Robert Schindel’s theatre of non-illusionistic memories (Dunkelstein. Eine Realfarce). These are examples of theatre works that do not turn away from the terrors of history but experiment with new aesthetic forms and dramaturgical practices in the depiction of the Shoah on stage, while at the same time maintaining the idea of redemption.
“Es wird Sie erschüttern. Es wird Sie erleichtern. Es wird Sie reinigen.” – Signifikationen der Shoah Die strukturgebende und -stabilisierende Bedeutung der Medien für die Konstitution des kollektiven Gedächtnisses steht außer Frage. Was erinnert wird, hängt stets auch “davon ab, wie es erinnert wird” (Young 13) – auf diese lakonische Formel lässt sich mit James Edward Young die mediale Bedingtheit noch jeder Form des Erinnerns und Gedenkens bringen; jede Gegenwart schafft sich ihre Vergangenheit in Form einer Konstruktion von Erinnerung und Gedächtnis, an der die Medien der Repräsentation (Historiographie, Literatur, Film, Denkmäler, Gedenktage usw.) mit ihren je spezifischen Ausdruckweisen ‘mitschreiben’. Nicht allein, dass in den und durch die Medien produzierte Bilder Evidenzen erzeugen, die zu hinterfragen in dem Maße schwieriger wird, als sie von standardisierten Narrationen gestützt und durch diskursive Praktiken stabilisiert werden, macht das Erinnern der Shoah als solches prekär. Die Einschleifung von Wahrnehmungs- und Rederoutinen zu Selbstverständlichkeiten einer gleichsam automatisierten Wirklichkeitsproduktion, die Heterogenes und Fremdes (Befremdliches) tendenziell ausschließt, wird um so problematischer, je mehr sich Zeitgenossen- und vor allem Zeitzeugenschaft auf die mediale Überlieferung hin verlagert, das Gedächtnis der Shoah mithin an die Medien delegiert wird – und zugleich damit die Shoah selbst zum ‘Material’ geworden ist, vielfach (re-)konstruiert und (re-)inszeniert in den unterschiedlichsten Kunstformen, begleitet von
28 Prozessen der Trivialisierung, die vor allem eines unter Beweis stellen: in welchem Maße sich in den zurückliegenden Jahren auf der Rückseite einer scheinbar rückhaltlosen Erinnerungskultur, die alles zur Sprache zu bringen und noch die letzten Winkel auszuleuchten den Anspruch erhebt, die Freigabe der Bilder nicht allein für die populäre Kultur (vgl. Seeßlen 43) beschleunigt hat. Darüber hinaus will es scheinen, als hätten sich all die Diskussionen um die ‘Erzählbarkeit’ der Shoah – und zwar sowohl, was die “Aussagbarkeit und Tradierbarkeit der Shoah” als auch was die “Darstellungsformen und ihre Voraussetzungen und Konsequenzen” (Berg et al. 7) angeht – erledigt; als seien diese selbst Teil einer nur noch leerlaufenden Diskursmaschine, die zwar das Faktische der Shoah in Erinnerung hält, der gleichwohl aber die “innere[n] Wahrheit des erlebten Entsetzens” (Paech 14) entglitten ist im (ironischen) Umgang mit den Zeichen,1 der die Erinnerung einerseits von der die Erinnerungspolitiken nach 1945 regulierenden “Moralität des Guten” (Schindel: Erfinden, was vorhanden ist 199) befreit, sie gleichermaßen aber auch entsubstantialisiert. Robert Menasses “Faust-Spiel” Doktor Hoechst (UA 2009, Staatstheater Darmstadt) spiegelt diese Entwicklung in einem Spiel mit den Grenzen des Geschmacks und den die Aushandlung der ‘richtigen’ Erinnerung steuernden Rede-Konventionen, das Auschwitz als Diskurskonfiguration und Signifikationsmaschine zur Diskussion stellt. Goethe hatte seine Figur des Doktors Faust noch als das Subjekt einer menschlichen Welterfahrung konzipiert, die über die Zwänge und Grenzen von Zeit und Körperlichkeit hinaus will. Geleitet auf seinem Kursus durch die Welt zwar vom Teufel, mit dem er eine Wette auf die Erfüllung seines Sehnens eingeht (und von diesem dafür mit der Welt als Genuss abgespeist wird), handelt Faust als autonomes Individuum, scheitert als autonomes Individuum – und wird am Ende auch ungeachtet der Schuld, die er auf sich geladen hat, als autonomes Individuum gerettet, nachdem sich sein gigantisches Landgewinnungsprojekt mitsamt dem Traum vom freien Volk auf “freiem Grund” (Goethe 470, V 11580) als Chimäre erwiesen hat. Menasses Doktor Hoechst ist im Vergleich dazu als Repräsentant der globalisierten Wirtschaft in einer Welt weitreichender Um- und Abbrüche, in der der Teufel buchstäblich ausgespielt hat (im Stück ist er nur noch ein mechanischer Spielzeughund, der anders als Goethes Pudel keinen teuflischen Kern mehr enthüllt), aus anderem Holz geschnitzt. Dieser in die Gegenwart versetzte ‘Faust’ schließt die Wette auf die Erfüllung seines Sehnens gleich mit Gott selbst bzw. dem ab, was vom göttlichen Prinzip übrig geblieben ist,
1
Man denke hier allein an Filme wie Inglourious Basterds von Quentin Tarantino (2009) oder Iron Sky von Timo Vuorensola (2012).
29 nachdem ihn das moderne Denken aus der Welt verbannt und der Mensch sich selbst an die Stelle des Schöpfergottes gesetzt hat.2 Das faustische Streben in der durchökonomisierten Gegenwart besteht darin, die Grenzen des Wachstums “in einer Welt, deren Ressourcen endlich sind” (Menasse: Doktor Hoechst 40), zu überwinden, denn die Idee des Verweilens im Augenblick ist das Ende des Wachstums. Gottgleich wird der Mensch vor diesem Hintergrund allein noch durch das Eingeständnis seiner Fehlerhaftigkeit, kurz: der Reue darüber, im Zuge der Durchsetzung seiner Größenphantasien und Absolutheitsträume (Gottgleichheit, Autonomie, Ganzheit) die Unmenschlichkeit in die Welt gebracht zu haben. Die Reue ist der Einsatz in der Wette, die Doktor Hoechst mit sich/Gott eingeht – und die er mit der zur Gräten verwandelten Margarete der alten Tragödie in Form eines hypothetischen Gedankenspiels durchexerziert: GRÄTEN [als Gott]: [. . .] ich habe auch einen Fehler gemacht! [. . .] Dass ich dein Streben nach Unendlichkeit als menschliches Abbild meiner eigenen Unendlichkeit anerkannt habe. Dich als mein – also Gottes! – Ebenbild! Ist das nicht komisch? [. . .] Wenn du, Doktor Faust, glaubst, dass du als Mensch, nach meinem Ebenbild erschaffen, auch dort auf meinem Grund gehst, wo du mich verlässt, dann verlange ich von dir diesen Nachweis: dass auch du bereust. HOECHST: Bereust? GRÄTEN: Ich will dir dieses Wunder, dieses Glück schenken, dass die Welt, die ich begrenzt erschaffen habe, für dich unendlich wächst, – wenn du bereust. HOECHST: Aber was? Was soll ich bereuen?
2
Vgl. dazu Menasse: Doktor Hoechst 40f.: “Gräten: Gott war tot, aber er wurde wiederbelebt, und ist wieder da, so machtvoll, wie kaum jemals zuvor. Was passiert denn auf der Welt, was beschäftigt uns heute? Alles geschieht in seinem Namen. Die Kriege und die Friedensprojekte. Der Terror und der Kampf gegen den Terror. Die Eroberung von Märkten und der Widerstand dagegen. Präsidenten und Regierungschefs beraten sich mit ihm, und noch der letzte Sprengstoffattentäter beruft sich auf ihn. Wenn Gott wegschaut, fragen die Menschen: Wo ist Gott? Und wenn Gott nicht antwortet, geben die Menschen die Antwort – in Gottes Namen. Aber kennst Du einen, der sich auf den Teufel beruft? Ist da einer, der auch nur davon träumt, mit einem Mephisto einen Pakt zu schließen, um die Welt zu beherrschen, oder auch nur sein Glück zu finden? Kennst Du einen, einen einzigen, der heute seine Seele dem Teufel verschreiben würde, um ein Glück zu erobern, das er als Gotteskrieger haben kann? Und wie praktisch Gott ist! Das Böse wird gut in seinem Namen, und: Gott hat es nicht nötig, eine Seele zu kaufen. Die Seelen fliegen ihm zu! Der Teufel ist tot, er ist es, der verschwunden ist aus der Geschichte, die damit begann, dass Gott totgesagt wurde. Gott lebt, und Gott ist der Satan jedes anderen Gottes. Gottesglaube allein genügt heute für eine manichäische Welt.”
30 GRÄTEN: [. . .] Die Unmenschlichkeit! Die du in die Welt gesetzt hast, um Mensch zu sein. Ich schenke dir das Wunder der Unendlichkeit, wenn du bereust. Nur dann weiß ich, dass du als GANZER Mensch in meinem Wunder lebst. Wenn du ein einziges Mal, so, dass ein Gott dir glauben kann, sagst: Ich bereue! – – dann ist deine Welt unendlich und alles möglich. Sogar das Glück. (Menasse: Doktor Hoechst 42f.)
Überall auf der Welt verfolgt Doktor Hoechst im Weiteren seine Geschäftsinteressen, bis ihn zuletzt ironischerweise die Finanzkrise stoppt; Hoechst stirbt am Ende einen banal-profanen Tod (er öffnet sich die Adern und verblutet unerlöst in seiner Badewanne). Im zweiten Akt hatte Menasse seinen Titelhelden zuvor entlang des “alten” Musters der Weltaneignung durch das rastlos-tätige Subjekt seinerseits auf einen Kursus durch Zeit und Raum geschickt, der Hoechst von Auschwitz über Hiroshima und Nagasaki bis in das Folterstadion des Diktators Pinochet in Santiago de Chile führt. Die Schreckensorte der an Finsternissen reichen Geschichte des 20. Jahrhunderts erscheinen auf diesem Weg des “faustischen” Menschen durch die Welt als Teile eines Systems funktionaler Rationalität, in denen sich das “ökonomische Prinzip” der durchgeplanten Gesellschaft abbildet. Sein Aufenthalt in Auschwitz macht Doktor Hoechst dabei bekannt mit der Einpassung noch des Widersinns in eine durch marktbezogene Imperative und Appelle beherrschte Welt der Ökonomie, die selbst aus dem inkommensurablen Menschheitsverbrechen der Shoah Profit schlägt, indem sie es als negative Referenzfolie rhetorisch den eigenen Selbstlegitimierungsstrategien zu unterwerfen versteht: Von Auschwitz aus erscheint jedwede Praxis politischen, ökonomischen, militärischen etc. Handelns in der globalisierten Welt weit weniger ‘grausam’. Als Hoechst das Konzentrationslager betritt, wird er mit einem Gruß willkommen geheißen, der quer steht zu allen standardisierten Kognitionsroutinen und den Besucher in seinem – Weltbewältigung und Positionssicherung ermöglichenden – Orientierungswissen regelrecht düpiert: Willkommen im Synonym-KZ! Auschwitz ist bekanntlich Synonym für alle Vernichtungslager, das KZ buchstäblich schlechthin, und hat zugleich doch eine eigene Qualität, es ist das Besondere im Allgemeinen, das Einzigartige, das für alle steht. Im Forbes-Ranking der grauenhaftesten Menschheitsverbrechen unangefochten auf Platz Eins, uneinholbar vor dem schlimmsten Gulag. Auch wenn immer wieder Stimmen laut werden, Sibirien als Synonym für die Gulags und wegen seiner unermesslichen Größe ex aequo mit Auschwitz auf Platz Eins zu setzen – diese Stimmen werden zu Recht zum Schweigen gebracht. [. . .] Wir sind die Nummer Eins! Und jeder andere Massenmord und jeder andre Schreckensort bis heute ist nur halb so schlimm! Und jedes andere Verbrechen nicht so unerklärlich. Wär‘ alles eins, dann müsste ja alles, worin die Weltmächte sich so machtvoll zeigen, verhindert, dürfte ja gar nichts wiederholt werden! Die Welt stünde still! (Menasse: Doktor Hoechst 52f.)
31 Diese Düpierung des Besuchers setzt sich fort in dem Angebot eines buchbaren Selbsterfahrungspaketes zum kathartischen Nachvollzug des Schreckens: DER KZLER: [. . .] Haben Sie Interesse an einer Führung? . . . Wir bieten die BasisFührung, mit Teilnahme an einer Selektion, Apell-Stehen [!], sowie Besuch eines Blocks mit Übernachtungsmöglichkeit, oder die Führung Aktiv, da bekommen Sie die Aufgabe, eine Mütze zu stehlen oder ohne Mütze beim Apell [!] zu erscheinen, mit der Möglichkeit, sich in der Latrine ein Versteck zu suchen, und schließlich die Erlebnis Führung kulminierend im Besuch einer Gaskammer – erleben Sie, wie aus den Duschköpfen aber nicht Gas kommt, sondern Wasser! Es wird Sie erschüttern. Es wird Sie erleichtern. Es wird Sie reinigen. HOECHST: Das ist nicht wahr! Ich, ich träume schlecht! DER KZLER MIT DEM HUND: Was ist wahr? Woher haben Sie denn Ihre Bilder? Erleben Sie die Todesangst! Und als Bonus erhalten Sie ein kleines Leinen-Säckchen gefüllt mit Asche, bestickt von unseren Zivildienern mit den Worten “Erinnerung an Auschwitz – Schutzengel der EU”. (Menasse: Doktor Hoechst 53)
Zwar versucht Hoechst, der Zumutung dieser ihm aufgedrängten “anderen” Auschwitz-Erfahrung mit dem evidenzbildenden, obendrein appellativ zur Handlungsanweisung (“Nie wieder Auschwitz”) zugespitzten Argument der völligen Sinnlosigkeit der Shoah zu begegnen, entkommt aber auch mit dieser “negativen Sakralisierung” von Auschwitz nicht dem Zirkel sinnstiftender Signifikationen: DER KZLER MIT DEM HUND: [. . .] Ab jetzt kann man morden, und sagen: ist ja nicht Auschwitz. Vernichten – ist ja nicht gleich Auschwitz! Die Menschenrechte brechen – kann man doch nicht gleichsetzen mit Auschwitz! Wenn sie einen Sinn haben . . . dann sind Massenmorde nicht vergleichbar mit Auschwitz! “Nie wieder Auschwitz!” heißt: “Nie wieder SINNLOS morden!” (Menasse: Doktor Hoechst 54)
Der beißende Spott dieser Satire auf die Shoah-Rhetoriken entfaltet seine Dynamik entlang einer Strategie der Tabu- und Schamverletzung, deren Ziel es ist, durch Rekursionen und Routinisierungen eingeschliffene Rede- und Diskursordnungen in Frage zu stellen, die Dinge der Gewohnheit zu entreißen, sie befremdlich zu machen und sie dem Rezipienten von der Seite der Fremdheit (der Sprache, der Bilder, der Verknüpfungen) her wieder entgegen zu bringen. Menasse folgt damit der Einsicht, dass das, was routinisiert und eingeordnet ist, gleichzeitig auch handhabbar, beherrschbar und “gezähmt” wird. Diese Auseinandersetzung mit der durch Konventionalisierungen “gezähmten” Erinnerung ist das Eine. Auf der anderen Seite aber überschreibt Menasse seinerseits hier die Shoah-Erinnerung, indem er ein zeitdiagnostischwirtschaftsökonomisches Thema von der Shoah her mit Bedeutung auflädt: Das “Faust-Spiel” kritisiert die Signifikationsrhetoriken der Shoah-Erinnerung
32 und hat gleichzeitig selbst Teil am Prozess der Signifikationen. Auschwitz erscheint in der Fluchtlinie dieser Überschreibung, mit der Menasse zentrale Aussagen seiner Poetikvorlesungen Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung nun in ein dramatisches Modell ‘übersetzt’, so als ein Schreckensort der globalisierten Ökonomie unter anderen, deren Siegeszug begleitet wird von einer Entkoppelung wirtschaftlicher und politischer (Menschenrechte) bzw. kultureller Prozesse. Die Konsequenzen dieser Ökonomisierung beschreibt Menasse in seinen Poetikvorlesungen eingehend.3 Nicht nur, heißt es hier, gingen in der Praxis der internationalen Arbeitsteilung die regulierenden Instrumentarien nationaler sozialstaatlicher Einrichtungen sowie demokratischer Kontrollmechanismen verloren, sondern rücke auch die Zivilisierung der Weltpolitik und damit das große Ziel der Aufklärung, die Weltbürgergesellschaft selbsttätiger Subjekte, in weite Ferne. Mit der Globalisierung habe so die weltweite Mobilität von Waren und Dienstleitungen die Machbarkeit der Einrichtung einer nach dem wohlverstandenen Nutzen der Menschen eingerichteten freien und befriedeten Welt als Modernitätserfahrung abgelöst und damit die utopische Spur der Aufklärung im kulturellen Gedächtnis verschüttet. Für Menasse hat sich im Zuge des Zusammenwachsens der Märkte nicht allein die Emphase des Aufbruchs erschöpft, mit der die Aufklärung im Vertrauen auf die befreiende Kraft des Verstandes das Schicksal entmachtet, die traditionelle Heilsgeschichte des Christentums und seiner Moral zu einer Heilsgeschichte in dieser und für diese Welt verweltlicht und das kulturelle Ordnungssystem gleichsam mit einem Zeitkoeffizienten versehen hat. Auf der Rückseite der Internationalisierung der Handelsmöglichkeiten seien auch die Handlungsmöglichkeiten des Subjekts in allen gesellschaftlichen Bereichen, mit anderen Worten Autonomie und Selbstbestimmungsaussichten des Individuums geschwunden, sei letztlich damit das Schicksal in Gestalt der Systemlogik und von Systemzwängen zurückgekehrt.
“Foregrounding the mechanisms and politics of representation” Mit der ‘Umschrift’ bzw. ‘Metaphorisierung’ der Shoah weist Menasses “Faust-Spiel” – die fragwürdige Beziehung der Shoah auf den Paradigmenwechsel gesellschaftlicher Formierungstendenzen unter den Bedingungen des postfordischen Kapitalismus und die schwankende Selbstpositionierung im intrikaten Feld der Repräsentationskritik einmal beiseite – implizit auf die funktionale Bedeutung der Theater-Kunst im Rahmen der Konstituierung und Stabilisierung von Erinnerungsgemeinschaften. Als Medium sowohl der Repräsentation (Darstellung) als auch der Transzendierung (Vorstellung) und 3
Vgl. dazu Eke: Nichts, was einen Anfang hatte, ist unendlich.
33 Illusionierung (Verzauberung/Täuschung) der Welt ist Theater Schau-Raum (das Theatron als Raum zum Schauen), der sich durch die Herstellung theatraler Situationen zwischen Spielern und Zuschauern als Gegenwartsraum konstituiert. In der Fluchtlinie des für die Formierung des kulturellen Gedächtnisses grundlegenden Prozesses der Umschrift von Zeit (Vergangenheit und Gegenwart) in Erinnerung kommt dem Theater als öffentlichem Raum einerseits die Bedeutung einer Projektionsfläche standardisierter Vorstellungen und damit ‘nützlicher’ Bilder zu; im Schauraum Theater gelangen sie zur Aufführung. Auf der anderen Seite agiert das Theater als Maschine zur Erzeugung anderer (fremder, neuer) ‘Bilder’ und damit als Akteur einer erkenntniskritischen Entautomatisierung von Wahrnehmungen und Strukturen der Wissensrepräsentation und Informationsverarbeitung. Die Frage “How to render visible? How to invite to responsibility and ethical accountability then?”, die sich Frederik Le Roy, Christel Stalpaert und Sofie Verdoodt in der Einleitung des Themenheftes “Performing Cultural Trauma in Theatre and Film” der Zeitschrift Arcadia erst vor kurzem noch einmal gestellt haben, erfährt von dieser Eigenschaft des Theaters als Feld der Erfahrungsproduktion (Imagination) und -reproduktion (Repräsentation) ihre Schärfung. Le Roy, Stalpaert und Verdoodt haben sich selbst folgende Antwort auf diese Frage gegeben: “Certainly not by creating new morality plays, in the sense of didactic renderings of an historical traumatic event, giving clear-cut answers to complex questions, but with works of art entailing a certain ambivalence, foregrounding the mechanisms and politics of representation” (Le Roy et al. 261). Die dramatischen Shoah-Erinnerungen Werner Fritschs und Robert Schindels, die im Folgenden als Fallbeispiele näher betrachtet werden sollen, lassen sich als Probe aufs Exempel dieser Forderung lesen. Mit unterschiedlicher Konsequenz, in der Zielrichtung durchaus aber vergleichbar, enthalten sich sowohl Fritsch als auch Schindel des Versuchs (und der Versuchung) einer mimetischen Darstellung der Shoah; der Bezug zur Shoah als einem sich der Erfahrung entziehenden Geschehen ergibt sich in ihren Dramen vielmehr gleichsam durch den Entzug, die Verrückung und Entfernung. Von verschiedenen Seiten her versuchen Fritsch und Schindel mit ihren Dramen so, den medial vermittelten Gedächtnisraum zu öffnen durch ästhetische Verfahren der Enttheatralisierung (Überführung des Spiels in erzählend-erinnernde Sprechakte, mediale Rahmungen), die nicht einfach eingeführte ShoahKonfigurationen ab- und aufrufen, die nicht darstellen, sondern der Vorstellung aufhelfen wollen. Auch sie kommen freilich nicht ohne den Appell an standardisierte Vorstellungsbilder aus (dahinter zurück kann die Erinnerung nicht gehen), stellen den Stellenwert der Bilder aber grundsätzlich zur Diskussion. Sie positionieren sich damit in einem Feld heterogener Formengebungsversuche und ästhetischer Praktiken, in dem Stile und Strategien sich nicht immer trennscharf voneinander abgrenzen lassen, ‘alte’ Traditionen wie beispielsweise
34 die dokumentarische Form teilweise weiterlaufen oder in veränderten historischen Konstellationen wieder aufgegriffen werden und neue ästhetische Suchbewegungen hinzukommen, wie dies bei den Auseinandersetzungen Elfriede Jelineks mit der deutschen Geschichte oder den Installationen und performancehaften Aufführungen der Gruppe “Hotel Modern” (vgl. dazu Bleeker) der Fall ist.
Anwesenheit in der Abwesenheit. Werner Fritschs Theater der Imaginationen In immer neuen Variationen entfaltet der Dramatiker und Regisseur Werner Fritsch in verschiedenen Medien – Theater/Drama, Hörspiel, Film – die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah von der Grenze zwischen Leben und Tod her in der Form erzählter Erinnerungen und kommemorativer Vergegenwärtigungen. Das kann eher beiläufig geschehen wie in dem Traumspiel Chroma. Farbenlehre für Chamäleons (UA 2001, Staatstheater Darmstadt) – auch in diesem Stück spielt der Faust-Stoff eine tragende Rolle – oder ganz dezidiert die Erinnerungstextur rahmen wie in Bach (UA 2004, Staatstheater Darmstadt), dem meditativen Schlussstück der “deutschen” Erinnerungstrilogie Wondreber Totentanz (UA 1998, Staatstheater Darmstadt), Aller Seelen (UA 2000, Thalia Theater Hamburg) und Bach. In Chroma, einem Stück, das vom Ende des ebenso “großen” wie aufgrund seiner undurchsichtigen Rolle im “Dritten Reich” umstrittenen MephistoDarstellers Gustaf Gründgens in einem Hotelzimmer in Manila erzählt und die aufflackernden letzten Erinnerungsbilder des Sterbenden in Gestalt eines Todesreigens auf die Bühne projiziert, berichtet eine Wiedergängerin von Goethes Gretchen von den Qualen ihrer Verhöre, was am Ende nicht nur mit einem Zitat aus Schumanns Vertonung von Eichendorffs Mondnacht kontrastiert wird, sondern über diesen Verweis auf die Trostlosigkeit des Schönen hinaus auch auf die jüdische Erfahrung der Shoah gespannt wird. Fritsch suspendiert damit nicht allein die illusionistische und illustrative Abbildung; der Erinnerungstext des gemarterten Gretchens spricht zunächst von etwas ganz anderem – gedacht werden kann an die von Goethe nicht gestaltete ‘peinliche’ Befragung der Kindsmörderin zu ihrer Tat – und legt über diese ‘konkrete’ und gleichsam alltägliche Erfahrung der Folter dann unvermittelt die ‘andere’ Erfahrung der Shoah (“Judenliebchen, Rassenschande”): Eine primäre Erinnerung wird so schockartig durch eine sekundäre überschrieben. Dieses Überschreibungsverfahren erlaubt es einerseits, über das NichtErzählbare, Nicht-Diskursivierbare, mithin Unerklärbare zu sprechen, weist gleichzeitig aber auch zurück auf die Verwendung letztlich konventionalisierter, ‘alter’ Vorstellungsbilder und damit den Appell an das erprobte Wahrnehmungswissen als Hilfsmittel zur Vergegenwärtigung eines nicht
35 kommensurablen Geschehens wie der Shoah. Der Text transportiert damit beides: das brutum factum des Geschehens und das Wissen darum, dieses Wissen nur durch den Rückgriff auf einen Fundus von Vorstellungen und Bildern, die ihm letztlich nicht gerecht werden, transportieren (d.h. kommunikabel) machen zu können. LICHT: GEGENLICHT Auf der Bühne leibhaftig zugegen, kopfunter und geschändet: GRETCHEN Die erste Stufe bestand darin, daß meine Hände auf den Rücken gefesselt wurden. Dann wurde über beide Hände eine Vorrichtung geschoben, die alle zehn Finger einzeln umfaßte. An der Innenseite dieser Vorrichtung waren eiserne Dornen angebracht, die auf die Fingerwurzeln einwirkten. Mittels einer Schraube wurde die gesamte Maschinerie zusammengepreßt, so daß sich die Dornen in die Finger einbohrten. Die zweite Stufe bestand darin, daß ich auf eine Vorrichtung gebunden wurde, die einem Bettgestell glich, und zwar mit dem Kopf nach unten. Eine Decke wurde mir über den Kopf gelegt. Dann wurde über jedes der bloßen Beine eine Art Ofenrohr gestülpt. Auf der Innenseite dieser beiden Röhren waren Nägel befestigt. Wiederum war es durch eine Schraubvorrichtung möglich, die Wände der Röhren zusammenzupressen, so daß sich die Nägel in die Ober- und Unterschenkel einbohrten. Für die dritte Stufe diente als Hauptvorrichtung weiterhin das Bettgestell. Wie vorher gefesselt, war mein Kopf dieses Mal mit einer Decke zugedeckt. Dann wurde das Gestell durch eine Vorrichtung entweder ruckartig oder langsam auseinandergezogen, so daß der gefesselte Körper gezwungen war, jede Bewegung mitzumachen. In der vierten Stufe wurde ich kraft einer besonderen Fesselung krumm zusammengebunden und zwar so, daß der Körper sich weder rückwärts noch seitwärts bewegen konnte. Dann schlugen der Kriminalassistent und der Wachtmeister mit dicken Knüppeln von rückwärts auf mich ein, so daß ich bei jedem Schlag nach vorne überfiel und infolge der auf den Rücken gefesselten Hände mit aller Gewalt auf Gesicht und Kopf schlug: Judenliebchen, Rassenschande: Jetzt tu noch mal die Bein ausnander! Die Faust – erlebte ich nicht mehr bei vollem Bewußtsein. Sie singt unter Tränen das Schumann-Lied: “Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküßt, daß sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müßt . . .” Dunkel. (Fritsch: Chroma 59f.)
Einen im Vergleich zu diesem selbstreflexiven Verfahren der Shoah-Erinnerung, mit dem der Text seine eigene Medialität ausstellt, etwas anders gelagerten Ansatz verfolgt Fritsch in Bach. In diesem Stück ziehen die Toten als Erinnerungsfigurationen einer weitgespannten, vom deutsch-französischen Krieg 1870/71 bis in die Gegenwart reichenden Familiengeschichte vorbei am
36 Bett des sterbenden Bauern Heiner, der als Kind hatte mit ansehen müssen, wie seine Eltern nach der Befreiung der Lager von ehemaligen KZ-Häftlingen bei einem Plünderungszug getötet wurden. Spiegelbildlich in Bilder und Gegenbilder/Umkehrungen angeordnete Szenen, die die Shoah zum Gegenstand haben, kontrapunktieren diese ‘private’ Geschichte, die als den standardisierten narrativen Konstruktionen der Shoah buchstäblich ‘fremde’, weil ‘nicht ins Bild passende’ Erfahrung wie in Chroma allein erzählt ‘zur Sprache kommt’, nicht etwa aber ausgespielt wird. Der Bauer kann nicht sterben, d.h. die (seine) ‘Geschichte’ ist nicht zu Ende, solange er diese nicht wirklich als Ganze angenommen, solange er sich nicht mit den Mördern, die ihrerseits Opfer waren, versöhnt hat, solange tanzen die Toten, solange schließt sich die “Wunde des deutschen Wir-Bewußtseins” nicht und bleibt “das Problem des Makels und der Schuldgefühle, die der Nationalsozialismus den nachfolgenden Generationen Deutschlands” (Elias 547) vermacht hat. CHOR/STIMMEN: Du hast einem der Mörder deiner Eltern Nicht vergeben HEINER: Der hat mir das Leben gerettet! Muß ich wirklich durch alles durch? (Fritsch: Bach 27)
Wie die Shoah selbst so ist auch das den jungen Heiner verstörende Geschehen im Schatten der deutschen Schuld unerklärlich. In Bach sind es die am Bett ihres sterbenden Sohnes erscheinenden Toten, die dieses Unerklärliche, nicht zu Verstehende (Inkommensurable), das die Lebenden aus ihrer Alltagserfahrung ausgeschlossen und in Trauerroutinen eingehegt haben, zur Sprache bringen: JOHANN Ich versteh das nicht. Ich versteh das nicht. Ich versteh das nicht. Hab ich den Janusz nicht, in KZ-Montur noch, aufgenommen bei mir? Hab ich ihm nicht zu essen gegeben und zu trinken? Und hat er nicht ein Quartier gekriegt auf der Hechtmühl? Meinen Kindern hat der Janusz Pfeiferl geschnitzt – und Lieder gespielt auf der Geigen für sie. Ja, der hat meinem kleinen Heiner sogar das Leben gerettet. 45. Im August. Wie ihn, beim Steinblock unter der Blutbuche, die Kreuzotter gebissen hat! Ich versteh das nicht! Ich versteh das nicht! Ich versteh das nicht! Das Loch im Kopf. Und das Loch im Herz. Granateinschlag. Mehl stäubt herab. Elisabeth steht, zur Gänze voller Mehl, im Licht: Ein Schußloch im Kopf und eines auf Herzhöhe. [. . .] ELISABETH Ich versteh das nicht: Das Loch im Kopf und das Loch im Herz. Dunkel. (Fritsch: Bach 17)
37 In Bach bleibt das traumatische Ereignis des Raubmords ebenso Leerstelle im Spiel wie die Tortur des geschändeten “Judenliebchens” Margarete in Chroma: Das Undarstellbare wird nicht dargestellt. Nur noch als GedankenSpiel wird es durch den undramatischen Rahmen der erzählten Erinnerung ausgestellt: im Vorstellungsmedium der Sprache und des sprechend konstituierten, performativen Vergegenwärtigungsraums. Dieses Verfahren der Enttheatralisierung steht in der Fluchtlinie von Fritschs poetologischer Grundforderung zur Verwandlung der Bühne von einer Instanz der Repräsentation von Wirklichkeit zu einer ihrer Produktion.4 Fritsch pocht nicht nur auf den Primat der Sprache gegenüber dem szenischen Geschehen, wenn er in der Vorbemerkung zu seinem 1998 am Staatstheater Darmstadt uraufgeführten Traumspiel Wondreber Totentanz davon spricht, das Geschehen finde im “Kopf des Zuschauers” statt, was dem Theater “im Zeitalter des Alleszeigens in Film und Fernsehen” (Fritsch: Wondreber Totentanz 141) gut anstehe. Er fordert ganz dezidiert auch dazu auf, die Sprache im Theater wieder mehr als “Katalysator für Phantasie” (Fritsch: Hieroglyphen des Jetzt 230) zu nutzen. Jeder müsse “im Kino seines Kopfes seine Vorstellung realisieren”; ein Text müsse “so gut sein, daß, wenn ein guter Schauspieler den Mund aufmacht, die Bühne voll ist. Dann wird die Bühne transzendiert zu einem Ort, der sich im Bewußtsein des Zuschauers lokalisiert” (Fritsch: Die Alchemie der Utopie 123). Nicht im Realismus der Darstellung sieht Fritsch von hier aus die Herausforderung für das Theater der Gegenwart, sondern in der Öffnung standardisierter und konventionalisierter, ‘voreingestellter’ oder durch die Medien besetzter Wahrnehmungsweisen. Angesichts einer technologischen Entwicklung, die nicht nur die Voraussetzung bietet für multimediale (Verbindung von Text, Grafik, Ton, Fest- und Bewegtbild, Animation etc.) Informationsstrukturen, sondern zugleich auch die ‘Wahrheit’ und ‘Beweiskraft’ der visuellen Speichermedien als solche wieder in Frage gestellt und das Bild als kulturelles Leitmedium in die Krise getrieben hat, gewinnt die Sprache, so Fritschs Überlegung, wieder Bedeutung als Vorstellungs-Medium im buchstäblichen Sinn. Das wäre die Utopie: Ich drücke dir nicht meinen Schmarrn ins Gehirn, um Geld zu machen, um Erfolg zu haben, sondern mein Theater ist ein Ort wie ein Naturraum: Die Zeichen sind nicht auf Eindeutigkeit ausgerichtet, sondern auf Vieldeutigkeit. Es sollte im Idealfall das Friedliche des Spazierengehens haben, daß man sich frei ergehen kann und sich seinen eigenen Gedanken und Gefühlen, angeregt durch die Umgebung, hingeben kann. Das wäre für mich eine Utopie von Kommunikation, von Kunst. Daß man solch einen metaphysischen Naturraum schafft in der Arbeit. (Matthaei 179)
4
Grundlegend dazu Eke: Werner Fritsch: “Theater gegen alles Theater”.
38 “Un far wus epes sait ir arois a lebediker?” – Robert Schindels Spiel mit dem Spielen Vom Ansatz her vergleichbar mit Werner Fritschs Zurücknahme der ‘einfachen’ Erinnerung durch Formen der ästhetischen Verrückung entwickelt auch der als Lyriker und Erzähler bekannt gewordene österreichische Autor Robert Schindel in seinem 2009 am Wiener Volkstheater uraufgeführten Stück Dunkelstein die Auseinandersetzung mit der Shoah im Horizont einer Ästhetik, die sich von den Formen eines illusionistischen und illustrativen Realismus abwendet und den Zuschauer zu einer kritischen Medienreflexion anhält. Auch für Schindel führt der Weg in die Zukunft über die Toten, durch die Erinnerung aus dem Hintennach ins Vorhinein. ‘Hintennach’ ist ein Schlüsselbegriff Schindels, den der Titel eines seiner programmatischen, zugleich auch bekanntesten Gedichte (Ein Feuerchen im Hintennach) unmittelbar ausstellt. Als landschaftlicher, vor allem österreichischer Ausdruck für ‘hinterher’, im Nachhinein, bezeichnet er den Modus der Nach-Schrift, die immer auch Spurensuche ist. “Immer den Leuten hintennachschreiben” fordert Danny Demant im Prolog von Schindels Roman Gebürtig (1992), der Rahmen und Konstitutionsbedingungen von ‘Normalität’ im Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden beschreibt und dabei in seiner formalen Gestaltung (Multiperspektivität, Fragmentierung der Narration zu einem komplexen Spiegelspiel mit Vergangenheiten und der Gegenwart etc.) die Unmöglichkeit reflektiert, ein Ganzes (von Juden und Nicht-Juden) erzählen zu können: “Hauptsache, du schreibst hintennach auf, hurtig und präzise, denn Spuren müssen her” (Schindel: Gebürtig 17). Früh schon hat Schindel sich für einen “poietischen Realismus” (Schindel: Engagierte Literatur 9) als drittem Weg zwischen heteronomer und autonomer Literatur ausgesprochen, für das produktive Spiel mit Wirklichkeit(en) im richtigen “Mischungsverhältnis zwischen wirklicher Spracharbeit und Anteilnahme unter Hereinnehmen von Welt in die Sprache” (Haring 89). In der Fluchtlinie dieser Überlegungen hat er eine Poetik des Gegen-Sprechens, eines Gegen-Sprechens zum Schweigen und zum ‘Geplapper’ gleichermaßen entwickelt, die darauf angelegt ist, den Text gegenüber der Zeit und den Erfahrungen der Rezipienten zu öffnen.5 Selten allerdings nur macht Schindel dabei die Shoah direkt zum Gegenstand. Stattdessen setzt er in seinen Gedichten über weite Strecken auf Verfahren der Aussparung, der Lücke und des Indirekten. “Ich sage bloß”, so Schindel in dem Essay Schreibtechniken, Aussparung, indirektes Schreiben, Verfahrensweisen also, in denen aufgeschrieben wird, wovon das Aufgeschriebene eben nicht handelt. Kein Lichtzwang. 5
Zu Schindels Poetik des Gegen-Sprechens vgl. Eke: Ich hab mich schon in der Erd.
39 Eine rätselhafte Formel hat der Erfinder des Begriffs “Weltliteratur”, Johann Wolfgang Goethe, angeboten: “Die Form, ein Geheimnis den meisten.” In diesem Sinn lasst uns das Lichte eindunkeln, damit Dunkles sich erhellt. Etwas wird sichtbar. (Schindel: Schreibtechniken 103)
Das ist an dieser Stelle zwar bezogen auf das Schreiben von Liebesgedichten, darf als Prämisse aber von Schindels Poetologie als solcher gelten. Die von hier aus in die Form insbesondere der lyrischen Texte eingesenkte strukturelle Dunkelheit ist Regulativ einer im “Lichtzwang” geblendeten Aufklärung; sie soll diejenigen Realitätsausschnitte produktiv machen, die in den ideologisch ausgetrockneten, von Schindel selbst unter Ideologieverdacht gestellten,6 realistischen Ästhetiken ausgespart bleiben, und solcherart ein Text-Leser-Verhältnis vermitteln helfen, das den Denkprozess eröffnet, indem sie – wie es in dem Gedicht Vor und fort aus dem Band Wundwurzel heißt – den “Gegenwartsmund” (Schindel: Wundwurzel 74) zertrümmert. Stringent in die ästhetische Praxis überführt, finden sich diese Überlegungen zwar nur in Schindels Gedichten; leitend sind sie aber auch für die “Realfarce” Dunkelstein (UA 2009, Volkstheater Wien). Führt Fritsch der Versuch, die Erinnerungsbilder aus der Repräsentationslogik des theatralen Spiels zu befreien, in der Konsequenz vom Dialog zum Monolog und von hier aus in die entdramatisierte Form gleichsam erzählender Theater-Texte, so greift Schindel in seiner dramatischen Auseinandersetzung mit der Shoah auf eine konventionalisierte Form der Metareflexivität zurück. Im Rekurs auf seinen Roman Gebürtig rahmt er die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit durch eine Spiel-im-Spiel-Konstruktion, die die kontemplative Einsenkung ins Objekt verhindert und seinerseits damit die eigene Medialität ausstellt. Wie in Gebürtig arbeitet Schindel auch in Dunkelstein mit dem Motiv eines Filmdrehs, das hier nun allerdings konsequent als Mise en abyme zur Rahmung der Vergangenheitshandlung eingesetzt wird (in Gebürtig ist dieser Filmdreh lediglich Gegenstand eines Epilogs). Inszeniert und medial rekonstruiert wird auf dieser Ebene der Handlung die Shoah unter dem plakativen Titel “Und Gott schaut weg” durch eine amerikanische Produktionsgesellschaft, zum Teil unter der Beteiligung jüdischer Komparsen, darunter auch einiger überlebender Zeitzeugen. Die Gespräche zwischen den Komparsen bilden den Rahmen für die zweite, um den Rabbiner Saul Dunkelstein angelagerte, historische Handlungsebene, auf der Schindel die Judenräte als “Instanzen der Ohnmacht” ins Blickfeld rückt, deren Rolle bei der Vernichtung “an das jüdische Selbstverständnis nach 1945” (Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht 9) rührt. 6
“Die Ideologieinfizierung, eine Plage dieses Jahrhunderts”, so Schindel, “gedeiht am besten in klaren Räumen mit festen Begrenzungen, guter Beleuchtung” (Schindel: Die zwei Leben des Paul Celan 133).
40 Die Brechung des Geschehens durch die Spiel-im-Spiel-Konstruktion verkünstlicht von vornherein die dargestellte Welt und weist zurück auf das ästhetisch intrikate Verhältnis zwischen der Shoah und ihren künstlerischen Repräsentationen. Deportation, Selektion, das Konzentrationslager – all dies erscheint in einer Kulissenhaftigkeit, mit der das Drama sich in selbstreflexiver Weise als Medium der Repräsentation ausstellt. Wie Fritsch unterwirft auch Schindel damit die Erinnerung nicht der Narrativik des Mediums, sondern reflektiert vielmehr auf diese Narrativik. Allerdings verfährt Schindel dabei weniger konsequent, schwankt vielmehr beständig zwischen der Dekonstruktion mimetischer Konventionen und dem Wunsch, das Medium zu bedienen, d.h. ein Drama zu schaffen und Geschichte zu bebildern, zumal er die Auseinandersetzung mit der kontrovers diskutierten, häufig genug in die Anonymität abgedrängten und schamhaft beschwiegenen Zusammenarbeit jüdischer Repräsentanten mit den Verfolgern im Horizont der klassischidealistischen Dramaturgie sucht, die das in sittlicher Freiheit und Verantwortlichkeit sich selbst bestimmende Individuum zum Ausgangspunkt und Ziel hat. So personalisiert Schindel in Dunkelstein den Konflikt zwischen Macht und Ohnmacht, Schuld und Moral und stellt die Verhaltensweise einzelner, in einer konkreten historischen Situation innerhalb dieser Systeme agierender Personen zur Diskussion. Am Beispiel des Wiener Rabbiners Saul Dunkelstein, für den der Wiener Rabbiner Benjamin Murmelstein (1905–1989), Mitglied des Judenrats in der Wiener Gemeindeleitung und letzter Judenältester in Theresienstadt, Pate gestanden hat, dekliniert Schindel in seinem Drama das Gesetz des Terrors durch, das in perfider Weise noch die Verfolgten zu Kombattanten der eigenen Vernichtung macht.7 Saul Dunkelstein verzichtet nach dem sogenannten Anschluss Österreichs auf die ihm mögliche Emigration in die Schweiz und arbeitet in der Hoffnung, so aus der “Vertreibung eine geregelte Auswanderung zu machen” (Schindel: Dunkelstein 46), in der Wiener Gemeinde als Leiter der Auswanderungsbehörde mit den Nazis zusammen; mit dem Beginn der Deportationen sorgt er für einen reibungslosen Abtransport der proskribierten Juden in die Lager im Osten. Dunkelstein ist eine ambivalente, vor allem auch eine zutiefst tragische Figur, zumal Schindel ihn im Unterschied zu seinem historischen Vorbild mit dem Wissen um die Wahrheit der Vernichtungslager ausgestattet hat, was vor allem eins vor Augen führt: “Selbst aus der gesicherten Position der Nachgeborenen eröffnet sich keine Handlungsalternative” (Rabinovici: Ein Stück
7
Zu dieser Strategie, mit der die Verantwortung für die Vernichtung noch im Nachhinein auf das ‘Schuldkonto’ der Opfer gebucht wurde vgl. Rabinovici: Ein Stück über die Vernichtung 119.
41 über die Vernichtung 116). Das gilt auch für den jüdisch-kommunistischen Widerstand, mit dessen Darstellung Schindel vorderhand ein Gegengewicht zu Dunkelsteins Politik der Kooperation geschaffen hat. Auch dieser Widerstand scheitert. Gerechtfertigt wird am Ende der vermeintliche Kollaborateur, der angesichts des moralischen Dilemmas, Leben opfern zu müssen, wenn Leben gerettet werden sollen, in seinem Handeln einerseits der Maxime “Wer ein Leben zerstört, zerstört die Welt. Wer ein Leben rettet, rettet die Welt”, andererseits aber auch der Einsicht folgt, “gegenwärtig” bräuchten “die Juden ein paar Teufel, um zu überleben” (Schindel: Dunkelstein 72): Viele jetzt, manche später, und einer, ein paar, eine Handvoll oder noch ein bisschen mehr entgehen dem Nichtsein durch unser Verzögern, Versuchen, Lavieren. So muss es sein. (Zornig.) Oder wir hauen alle, wie wir stehen und liegen und wies grad kommt, hinein in den Feuerkessel dort im Osten. Und wir voran, hurra, und sind wir tot, kann keiner uns was vorwerfen. (Leise.) Mit den wenigen, die nicht erfasst werden von der großen braunen Egge Nichtsein, überlebt doch unser Volk. (Schindel: Dunkelstein 98f.)
Zuletzt selbst nach Theresienstadt deportiert und dort in das Amt des Judenältesten genötigt, gelingt es Dunkelstein, ein in Wien lange vor dem Zugriff verstecktes Kind einer im Untergrund kämpfenden Jüdin vor dem Tod zu retten. Mit dieser märchenhaften Rettung, die das Stück zunächst als Szene der Hollywoodproduktion vorstellt, um von hier aus die Grenze zwischen Vergangenheitshandlung und Gegenwartshandlung (Rahmung) zu öffnen, wendet sich die Darstellung der Vernichtung in ein Bild des Überlebens jenseits der sentimentalen (und konventionalisierten) Bilder des Neuanfangs. “Schon wieder typisch Hollywood”, kommentiert einer der Komparsen den Dreh der Rettungsszene, sieht sich dann aber mit der überraschenden Authentizität des Geschehens konfrontiert: WILLY KLANG: Nein, mein Lieber. Diese Sache stimmt ausnahmsweise. Er hat dem kleinen Peter Winter tatsächlich das Leben gerettet. Der Peter lebt heute in Wien. RAFFI: Ein Wunder. JUNGER HÄFTLING: Siehst du. Ganz ohne Kugel. (Zu Willy Klang:) Tja, dieser Peter Winter. Das bin halt ich. (Schindel: Dunkelstein 110)
Schindel schreibt mit diesem Schluss, in dem sich unschwer eine Reminiszenz auf sein Überleben als jüdisches Kleinkind in den Wirren der letzten Kriegsmonate erkennen lässt, das Narrativ der Rettung – in der Regel eines jüdischen Kindes – fort, das in der Literatur der 1950er und der 1960er Jahre wiederholt im Kontext der literarischen Auseinandersetzung mit der Shoah begegnet (seine bekannteste und wirkungsgeschichtlich folgenreichste Ausformung erfährt es in Bruno Apitz’ Roman Nackt unter
42 Wölfen8). Rettungsgeschichten konstruieren eine metaphorische Kontinuität. Als Versuch, der Geschichte Bedeutung zuzuschreiben, vor allem auch ihr Lehre und Anweisung abzugewinnen, behaupten sie die Aufhebung des Zivilisationsbruchs von Auschwitz im Modell einer geglückten Geschichte. Schindel allerdings verweigert die diesem Modell zugrundeliegende und es erst beglaubigende Gewissheit: Am Schluss bleiben offene Fragen an den Sinn des Überlebens: Befreiungsdreh Theresienstadt. Etliche Komparsen liegen als Tote auf dem Boden. Einige schleifen sich nach hinten, einige sitzen, als Rotarmisten von hinten kommen. Ebenfalls im Freien ein Schreibtisch, hinter ihm sitzt Dunkelstein mit Schleife Judenältester und Stern und erwartet die Rotarmisten. Die pflanzen sich vor ihm auf. Dann schauen die Rotarmisten auf einen von ihnen. Der tritt vor, reißt dem Dunkelstein die Schleife vom Arm und die Kappe vom Kopf. ROTARMIST: Un far wus epes sait ir arois a lebediker? LAUTSPRECHER: Und wieso haben Sie überlebt? DUNKELSTEIN: Un far wus ir? LAUTSPRECHER: Und wieso Sie? Willy Klang, der als Toter neben Raffi und dem jungen Häftling liegt, steht auf, putzt sich ab. WILLY KLANG: Tja. Warum? (Schindel: Dunkelstein 110)
Das Überleben muss sich erst über seine bloße Faktizität hinaus in seiner Potentialität beweisen als Neuanfang mit einer Zukunft, die sich als offener Horizont von Möglichkeiten darstellt, wenn die Erfahrung der Ohnmacht beigelegt werden können soll. Gleichwohl beharrt Schindel auf eben dieser Potentialität. Das verbindet sein Stück wiederum mit Werner Fritschs Monolog Das Rad des Glücks (UA 2005, Bayerisches Staatsschauspiel München), der ebenso wie Schindels Drama Dunkelstein die Möglichkeit eines neuen Anfangs als Denkbares zulässt und sich damit öffnet gegenüber utopischen Vorstellungsbildern einer Anfänglichkeit, deren Voraussetzung in der bereits zitierten Frage des sterbenden Bauern Heiner im Traumspiel Bach “Muß ich wirklich durch das alles durch” (Fritsch: Bach 27) indirekt benannt ist: Erst eine Erinnerung, die buchstäblich nichts auslässt, auch nicht die Tragik einer Konstellation, in der Opfer schuldig werden, kann zur Freiheitserfahrung werden. In Das Rad des Glücks redet die alte Roma Courasch im Heiliggeistspital von Waldsassen auf ihre stumme Enkelin Mira ein, die sich in Erwartung der Geburt ihres Kindes zu ihrer Großmutter ins Altenheim geflüchtet hat.9 Während Mira stumm bleibt und auch die Identität des Kindsvaters 8 9
Vgl. zu diesem Narrativ Eke: Konfigurationen der Shoah in der Literatur der DDR. Ausführlich zu diesem Stück Eke: Einsenkungen in Finsternisse.
43 hartnäckig verschweigt, durchwandert die Alte, die die Konzentrationslager von Auschwitz und Ravensbrück überlebt, dort aber ihre Kinder und fast alle Verwandten verloren hat, redend das Unglücksgelände ihrer traumatischen Erinnerungen. Mit Gewitztheit und Klugheit ist die Courasch einst ihren Henkern entkommen, mit List und einer gehörigen Portion Skrupellosigkeit hat sie sich durch die Anarchie der unmittelbaren Nachkriegszeit gerettet. Für sie ist die bevorstehende Geburt ihres Urenkels der letzte Triumph des Lebens über den Tod: des eigenen, vor allem aber auch desjenigen der von innen (Zerfall der Familien- und Clanstrukturen) und außen (soziale Ausgrenzung) gleichermaßen bedrohten Roma-Kultur, in deren allmählichem Verschwinden in der deutschen Wohlstandsgesellschaft sich das Vernichtungswerk der Nationalsozialisten mit historischer Verzögerung vollendet. Mit der Geburt von Miras Kind stellt das Stück den nur noch bruchstückhaften Erinnerungen Couraschs, deren Gedächtnis seit einem Schlaganfall vom Vergessen bedroht ist, eine szenische Metapher an die Seite, die Erinnerung und Neuanfang, Memoria und Natalität/Gebürtigkeit unmittelbar ineinander verschränkt: Die Geburt ist Anfang und Wiederbelebung (Verleiblichung) der Toten. Mit Miras Kind wird so am Ende das in den Abortgruben von Auschwitz ertrunkene Kind der Courasch, die verlorene Tochter Puppa, wiedergeboren. Puppa! Meine Puppa! Meine Puppa! Ausgerutscht und untergetaucht. Und ich hab sie können nicht mehr ausherholen. Nicht mehr dürfen ausherholen! Da war die Schlangen zu lang bei der Abortgruben. Die ist ist direkt ersoffen in Auschwitz, meine Puppa! Du guter Gott! In der Scheiße! Wenns ein Mäderl wird, mußt du sie taufen auf Puppa! Meine Puppa! Regentropfen . . . Regentropfen. . . Wunder-, wunderschön! Drucken! Drucken! Drucken mußt, Mira! Drucken! Der Kopf! Der Kopf kommt. Tausend Rosen, das wird ein Mädl! Der Kopf ist schon da! Drucken! Drucken! Ja! Ja! Ja! Babygeschrei. Und jetzt die Brust! STILLE (Fritsch: Das Rad des Glücks 27)
Die Öffnung des Fragehorizonts in Schindels Dunkelstein und das Bild der Stille in Fritschs Das Rad des Glücks schließen das Theater der Erinnerung gleichermaßen in einer Hoffnung ein, die über alle Finsternisse hinweg den Glauben nicht aufgibt – nicht an den Menschen, nicht an die von ihm gemachte und in Freiheit der sittlich-moralischen Entscheidung zu verantwortende Geschichte. Fritsch hat sich dafür dezidiert – für Schindel gilt
44 dies implizit – auf Hannah Arendts politische Philosophie berufen, in deren Mittelpunkt der Begriff der ‘Natalität’, der Gebürtigkeit als Freiheit begründender Modus menschlicher Existenz in der Welt steht (vgl. Fritsch: Natalität versus Fatalität). Solange es Menschen gibt, gibt es auch eine Kontinuität, d.h.: die Möglichkeit des Anfangs als Gegenentwurf zu der “kontinuierlichen Katastrophe” (Benjamin 683), als die sich Geschichte darstellt – in Arendts Worten: “Dieses Anfang-Sein bestätigt sich in der menschlichen Existenz, insofern jeder Mensch wieder durch Geburt als etwas je ganz und gar Neues in die Welt kommt, die vor ihm war und nach ihm sein wird” (Arendt 220). Der Gedanke, dass mit den immer neuen Geburten immer wieder auch neues Denken, neuer Eigensinn in die Welt kommt, hat eine eminent politische und auch eine geschichtsphilosophische Bedeutung, insofern durch das Bewegungsprinzip der Natalität sich auch die Fähigkeit individuellen Handelns beständig erneuert.
Noch einmal: “Es wird Sie erschüttern”. Alte Formgebungsversuche Mit ihren dramatischen Shoah-Erinnerungen weisen Werner Fritsch und Robert Schindel auf die ungelöste Frage nach dem Stellenwert der Bilder und Erinnerungen, statt sie als Problem zum Verschwinden zu bringen. Dabei setzen sie auf eine neue, performative Form von Zeugenschaft: als berichtendes oder erzählendes Spiel vor Zuschauern, das Denk-Räume wieder öffnet und nicht durch die Reproduktion standardisierte Bilder von vornherein verschließt. Zwar geht dies im Vergleich etwa mit den Dramen Elfriede Jelineks, die Theatralität auf ungleich radikalere Art und Weise in die Bewegungen der Sprache hinein verlagern,10 nicht immer ohne Konzessionen an die Spielbarkeit der Texte ab. Wie weit aber auch Fritsch und Schindel sich mit ihrem Erinnerungs-Theater von den eingeführten Dispositiven eines kathartischen Eingedenkens entfernt haben, mag ein abschließender Blick auf die 2010 mit großem Erfolg in Bregenz uraufgeführte Oper Die Passagierin von Mieczysław Weinberg (Musik) und Alexander Medwedew (Libretto, nach der gleichnamigen Erzählung von Zofia Posmysz)11 zeigen, die die Wendung zum Leben mit Schindels und Fritschs Dramen teilt.
10
Vgl. dazu im Hinblick auf das hier verhandelte Shoah-Thema insbesondere das Stück Rechnitz (Der Würgeengel). 11 Posmysz, selbst Überlebende von Auschwitz und Ravensbrück, hatte die Geschichte zunächst in einem Hörspiel verarbeitet (Pasaz˙erka z kabiny 45 [Die Passagierin aus der Kabine 45]), die Prosafassung Pasaz˙erka erschien 1962. 1961 hatte der polnische Regisseur Andrzej Munk an einer filmischen Umsetzung des Stoffs gearbeitet, die heute als Meilenstein der Shoah-Darstellung im Film gilt. Sie blieb
45 Mit der Passagierin reüssiert auf der Opernbühne ein ‘altes’ Modell. Bereits das Libretto ist durchzogen von einem Netz trivialer Muster, schreibt ohne jede Brechung das bei Schindel in seiner Fragilität vor Augen geführte Narrativ der Widerstandsgeschichte aus und macht die Juden als Opfergruppe obendrein nahezu unsichtbar, was die spezifisch jüdische Erfahrung der Shoah gleichsam eliminiert: Sieht man von der Nebenfigur der Hannah ab, treten Juden nicht weiter in Erscheinung. Die Oper spielt an einem symbolischen Ort: auf einem Ozeandampfer während der Überfahrt von Europa nach Südamerika. Das Schiff ist ein transitorischer Zeit-Raum, seine Passagiere sind Personen im Übergang: aus der Vergangenheit in die Zukunft. In diesem Raum des Passageren kommt es zur Begegnung zweier Frauen, der ehemaligen KZ-Aufseherin Lisa, die sich in der Nachkriegszeit eine neue Existenz an der Seite eines deutschen Diplomaten aufgebaut hat, und einer geheimnisvollen Fremden, in der Lisa eines ihrer Opfer, die Polin Marta, wiederzuerkennen (und sich von dieser wiedererkannt) glaubt. Mit Marta hatte sie in Auschwitz einen zähen Kampf um Vertrauen und Unterwerfung ausgefochten, ohne dass die Gefangene der Versuchung, ihre Situation durch Kollaboration mit ihrer Peinigerin zu verbessern, nachgegeben hätte. Der Versuch, solcherart die Differenz zwischen Opfern und Tätern aufzuheben und damit den Opfern ihr Opfersein abzupressen (im Grunde genommen handelt es sich hier um eine ähnliche Grundthematik wie in Dunkelstein), war gescheitert, Marta von Lisa in den Todesblock geschickt worden. Die Rückkehr der Vergangenheit in Gestalt der Toten (oder Totgeglaubten) bringt die verdrängte Schuld der Täterin ans Licht. Durch die stumme Passagierin, der sie auf dem Schiff nicht entgehen kann, sieht Lisa sich wieder mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Ihre Panzerung zerbricht, der cordon sanitaire der Lebenslüge, durch den sie sich geschützt glaubt, bröckelt. In der Folge sieht die Täterin sich genötigt, sich ihrem Mann gegenüber zu offenbaren. Dabei erweckt sie zunächst den Eindruck, lediglich aus falschem Glauben an den Führer in die Todesmühlen der Konzentrationslager geraten, dort aber persönlich nicht schuldig geworden zu sein. Dieser Versuch der Selbstexkulpation scheitert im weiteren Verlauf der Handlung. Innerlich
Fragment, da Munk noch vor Abschluss der Dreharbeiten bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Munks langjähriger Mitarbeiter Witold Lesiewicz hat 1963 die bis dahin abgedrehten Szenen mit den Standphotos bereits geprobter Takes montiert und mit einem Prolog und Epilog versehen. Weinbergs Opernfassung entstand bereits 1967/68, konnte seinerzeit aber aus politischen Gründen nicht aufgeführt werden und geriet in Vergessenheit. Erst 2006 fand in Moskau eine erste konzertante Aufführung statt; die 2010 im Rahmen der Bregenzer Festspiele gezeigte Inszenierung gilt als Uraufführung.
46 zunehmend zermürbt durch weitere Begegnungen mit der Fremden und die Ungewissheit, ob es sich bei dieser wirklich um die totgeglaubte Marta handelt, sieht Lisa sich gezwungen, nach und nach immer mehr von ihrer Mitschuld an der Shoah preiszugeben. Das Libretto verteilt den schmerzhaften Prozess des Wiedererinnerns und der Lager-Vergangenheit auf zwei Zeithandlungsebenen. Neben die auf dem Ozeandampfer spielende Handlung treten in Auschwitz spielende Erinnerungsszenen, was die Bregenzer Uraufführungsinszenierung der Oper von David Pountney im Bühnenbild von Johann Engels in der vertikalen Zweiteilung des Schauplatzes fortführt: Oben der helle, sonnendurchflutete Raum des Schiffsdecks, unten, im Keller der Geschichte, d.h. im Untergrund (auch im Unterbewusstsein) der äußerlich wohlgeordneten, schmucken Gesellschaft und ihrer Wirklichkeit, findet sich die verdrängte, unerledigte Geschichte von Auschwitz: die nicht ausgeräumten Keller, bei deren Darstellung Regie und Ausstattung auf den Fundus der standardisierten Shoah-Ikonographie zurückgreifen. Anders als die zuvor diskutierten Beispiele dramatisierter Shoah-Erinnerungen ‘spielt’ die Oper in den der Vergegenwärtigung der Vergangenheit dienenden Auschwitz-Szenen dezidiert KZ. Sie sentimentalisiert und trivialisiert dabei das Vernichtungsgeschehen mit dem Höhepunkt einer hochdramatischen Konzertszene, in welcher der zum Vorspiel vor dem Lagerkommandanten gezwungene Verlobte Martas sich in einem letzten, heroischen Akt des Widerstands seine Würde als Mensch und seine Integrität als Künstler bewahrt – und in der sich obendrein der Zweikampf zwischen Lisa und Marta entscheidet: Statt den Lieblingswalzer des Lagerkommandanten zu spielen, bringt er die Chaconne von Bach zur Aufführung (mit der Musik Bachs siegt das höhere Prinzip). Überdies schafft die Oper dem Zuschauer Identifikationsangebote und am Ende auch Erleichterung mit einem aus der Jetztzeit heraus gesungenen Epilog, der die Toten in der Erinnerung ‘birgt’. Epilog “Am Fluss” Morgen. Ufer an einem großen Fluss. Auf einem Stein am Wasser sitzt Marta. MARTHA: Wie ruhig ringsumehr. Wie ist die Welt so friedlich und still. Oh, du mein Fluss, endlich wieder bei dir. Und ihr, meine Freunde, seid auch bei mir. In mir sind eure Herzen, eure Tränen und euer Lächeln, in mir ist eure Liebe. Ich weiß ja, weiß es: Wenn eines Tages eure . . . Stimmen verhallt sind, die Stimmen verhallt sind, dann gehen wir zugrunde. Ich hör‘s noch: “Keine Vergebung – niemals.” Katja, Katjuscha . . . und du Vlsta . . . Hannah . . . Ivetta . . . Und du, mein Tadeusz. Ich werde euch, werde euch nie und nimmer vergessen . . . (Weinberg 38)
Mit dem Schlussgesang der Geretteten (Überlebenden) springt das Libretto aus der Geschichte (dem Schrecken totaler Vernichtung) in die Metaphysik (der Rettung) – und schreibt zugleich damit das Paradigma sinnstiftender
47 Signifikation fort (die Opfer als dauernde Mahnung), gegen das Robert Menasse in Doktor Hoechst angegangen war. Während Fritsch und Schindel durch das Spiel von Anwesenheit und Abwesenheit hindurch das Theater zur Quelle von Erfahrung zu machen und es gleichzeitig in ein Experimentierfeld der Erkenntnis zu verwandeln suchen, regiert in Die Passagierin der Appell ans Gefühl. Andererseits: “Damit das Äußerste für immer zuende und unwiederholbar sein soll”, darauf hat Burkhardt Lindner hingewiesen, “darf es gerade nie zuende sein, sondern muß, damit sich nicht Ähnliches wieder ereignet, als jederzeit möglich erinnert und abgewehrt werden. Es muß also in den Ritualen und Codes des Gedenkens als Gegenwärtiges hergestellt werden, also in Formen kollektiver Gedächtnisbildung” (Lindner 29). Genau darauf aber zielt der Epilog der Oper, der sich als solcher in tiefer Solidarität vor den Toten verbeugt. Adorno hat von dieser Solidarität mit den Toten her den “neuen kategorischen Imperativ” formuliert, das “Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe” (Adorno 358). Von hier aus gelesen mag auch die ‘alte’ Form, wie sie mit Die Passagierin im Theater der Gegenwart aktuell wieder Erfolge feiert, Berechtigung haben als ein Versuch unter anderen, das Theater als kommunikativem zugleich zum anthropologischen Raum zu machen – zum Raum der Begegnung, in dem der erschütterte Zuschauer sich wiederfindet im Ganzen einer Erinnerungsgemeinschaft.
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48 ———: “Ich hab mich schon in der Erd”. Robert Schindels Gegen-Sprechen. In: Fährmann sein. Robert Schindels Poetik des Übersetzens. Hg. von Iris Hermann. Göttingen: Wallstein 2012. S. 64–84. ———: Konfigurationen der Shoah in der Literatur der DDR. In: Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Norbert Otto Eke/Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2006. S. 85–106. ———: “Nichts, was einen Anfang hatte, ist unendlich.” Robert Menasses Arbeit an der Differenz – Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung. Frankfurter Poetikvorlesungen. In: Was einmal wirklich war. Zum Werk Robert Menasses. Hg. von Eva Schörkhuber. Wien: Sonderzahl 2007. S. 237–250. Norbert Elias: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989. Werner Fritsch: Chroma. Farbenlehre für Chamäleons. In: Ders.: Chroma. Farbenlehre für Chamäleons. – Eulen:Spiegel. Deutsche Geschichte. Stücke und Materialien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. S. 7–77. ———: Das Rad des Glücks. Monolog. Münchner Fassung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Theatertext 2005 (Bühnenmanuskript). ———: Hieroglyphen des Jetzt – Theater. Sprache. Hörspiel. Film. In: Werner Fritsch. Hieroglyphen des Jetzt. Materialien und Werkstattberichte. Hg. von HansJürgen Drescher/Bert Scharpenberg. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. S. 227–235. ———: Natalität versus Fatalität. Einige Gedanken zum THEATER DES JETZT im Kontext der Inszenierung von DAS RAD DES GLÜCKS. In: Programmheft zur Uraufführung von „Das Rad des Glücks“ am Bayerischen Staatsschauspiel München, 12.5.2005. Programmheft Nr. 64. Hg. vom Bayerischen Staatsschauspiel München. Redaktion: Werner Fritsch/Georg Holzer. München 2005. S. 8–15. ———: Wondreber Totentanz. Traumspiel. In: Ders.: Es gibt keine Sünde im Süden des Herzens. Stücke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999. S. 139–213. ———: Bach. Traumspiel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Theatertext 2004 (Bühnenmanuskript). ———: Die Alchemie der Utopie. Frankfurter Poetikvorlesungen 2009. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009. Johann Wolfgang von Goethe: Faust-Dichtungen. Bd. 1: Texte. Hg. von Ulrich Gaier. Stuttgart: Reclam 1999. Ekkehard W. Haring: “. . . die Generalpause meines Lebens”. Ein Gespräch mit Robert Schindel über Literatur, Shoah und jüdische Gebürtigkeiten. In: Modern Austrian Literature 38.3/4 (2005). S. 85–98. Frederik Le Roy/Christel Stalpaert/Sofie Verdoodt: Introduction: Performing Cultural Trauma in Theatre and Film between Representation and Experience. In: Arcadia 45.2 (2010). S. 249–264. Burkhardt Lindner: Was heißt: Nach Auschwitz? Adornos Datum. In: Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Hg. von Stephan Braese et al. Frankfurt a. M.New York: Campus 1998. S. 283–300. Jörg Lukas Matthaei: Das Theater ist der letzte Ort für Metaphysik. Gespräch mit Werner Fritsch über sein Schreiben fürs Theater und die beiden Lustspiele Die lustigen Weiber von Wiesau und Es gibt keine Sünde im Süden des Herzens.
49 In: Werner Fritsch: Die Lustigen Weiber von Wiesau. Stück und Materialien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. S. 166–182. Robert Menasse: Doktor Hoechst. Ein Faust-Spiel. Wien: Thomas Sessler Verlag, Bühnen- und Musikverlag o.J. (Bühnenmanuskript). Joachim Paech: Entsetzte Erinnerung. In: Die Shoah im Bild. Hg. von Sven Kramer. München: Text + Kritik 2003. S. 13–30. Doron Rabinovici: Ein Stück über die Vernichtung, ein Stück für die Ohnmächtigen und ein Stück vom Überleben [Nachwort]. In: Robert Schindel: Dunkelstein. Eine Realfarce. Innsbruck-Wien: Haymon 2010. S. 115–123. ———: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 2000. Robert Schindel: Die zwei Leben des Paul Celan. In: Ders.: Mein liebster Feind. Essays, Reden, Miniaturen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. S. 118–136. ———: “Engagierte Literatur – was hams gsagt?”. In: Wespennest 3 (1970). S. 7–9. ———: Erfinden, was vorhanden ist. In: Provinz, sozusagen. Österreichische Literaturgeschichten. Hg. von Ernst Grohotolsky. Graz-Wien: Droschl 1995. S. 199–209. ———: Schreibtechniken: Über das Geheimnis, über Aussparung. Eine Aussparung. In: Ders.: Mein liebster Feind. Essays, Reden, Miniaturen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. S. 97–103. ———: Gebürtig. Roman. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992. ———: Wundwurzel. Gedichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. Georg Seeßlen: Jakob und seine Brüder. Neue Spielfirm-Bilder von Faschismus und Holocaust. In: Die Zeit 54.46 (11.11.1999). Mieczysław Weinberg: Die Passagierin. Oper in zwei Akten, acht Bildern und einem Epilog. Libretto von Alexander Medwedew nach der gleichnamigen Novelle von Zofia Posmysz. Deutsche Adaption: Ulrike Patow. In: Mieczysław Weinberg: The Passenger. Blu-ray Production. Neos Music 2010. Booklet. S. 12–38. James Edward Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992.
Cornelia Blasberg
Simulierte Partizipation und gefühlte Geschichte. Überlegungen zu aktuellen literarischen Formaten der Geschichtsdarstellung am Beispiel von Filmen und Texten über den 20. Juli 1944 With regard to the depiction of and reflection on the assassination plot against Hitler on July 20, 1944, literature has exerted a remarkable reserve. Until the 1990s, there existed only a few plays and films in addition to the official commemoration ceremonies, works of historians and memoirs of family members. What changes in cultural memory can be observed with the emergence of new media? How have literary texts been inspired to use new means of depiction after the devaluation of the paradigm of memory? Will Stauffenberg’s assassination plot be seen differently? This article tries to answer these questions by referring to selected generational stories and counterfactual novels about the 20th of July, 1944.
Jedes Jahr finden am 20. Juli offizielle Veranstaltungen zum Gedenken an jenes letzte Attentat auf Adolf Hitler statt, mit dem die Wehrmachtsoffiziere um Claus Graf von Stauffenberg das Sterben an den Kriegsfronten und in den bombardierten Städten zu beenden hofften. Zu den Jubiläumsdaten nehmen besonders viele Erinnerungsbände, Zeitzeugenberichte und Studien renommierter Historiker Kurs auf den Buchmarkt, es werden Hörfunkbeiträge gesendet und Filme über das Attentat gedreht. 2004 beispielsweise bot das Fernsehen gleich drei Produktionen auf: Hans Erich Viets historisch argumentierendes Doku-Drama Die Stunde der Offiziere konkurrierte mit Jo Baiers Biopic Stauffenberg, das mit dem Charisma von Sebastian Koch in der Hauptrolle und der Überzeugungskraft einer pathetischen, symbolträchtigen Bildersprache zu punkten versuchte. Beide Projekte definierten sich durch ihre – jeweils unterschiedlich akzentuierte – Distanzierung von Guido Knopps ZDF-Produktionen über den Nationalsozialismus, die seit 1984 eine stark fiktionsdurchsetzte Form des Geschichtsfilms etabliert und damit Wahrnehmungsroutinen der Fernsehzuschauer ausgebildet und verfestigt haben. Mit Sie wollten Hitler töten war Knopp natürlich auch im Gedenkjahr 2004 präsent. Zur Halbzeit der folgenden Dekade, 2009, eroberte der Hollywood-Thriller Operation Walküre – Das StauffenbergAttentat von Bryan Singer mit Tom Cruise in der Hauptrolle die Kinos der Welt.1 1
Vgl. auch die Überblicke bei Görner und Tschirbs.
52 Wie mit den jährlich wiederkehrenden Gedenkveranstaltungen zur Bücherverbrennung, zur Bombardierung Dresdens, zum Kriegsende und zur Befreiung der Konzentrationslager hält sich die deutsche Gesellschaft mit den Feierlichkeiten zum 20. Juli einen Spiegel vor, auf dessen Fläche ablesbar ist, welche Bedeutung den historischen Ereignissen aktuell zugemessen wird, welche Medien an ihrer Vergegenwärtigung jeweils beteiligt, welche Diskurse und Darstellungstechniken dabei federführend sind und wie viel Resonanz diese Aktionen in der deutschen Öffentlichkeit finden. Angesichts der vergleichsweise hohen Frequenz dieser Gedenkfeiern muss das Ergebnis der Allensbach-Umfrage zum 60. Jahrestag des Stauffenberg-Attentats 2004 erstaunen, dem zufolge nur jeder vierte Deutsche zwischen 16 und 29 Jahren (27,9% der Bevölkerung) wusste, “woran der 20. Juli erinnern soll” (Heinemann 207). Der kritische Historiker muss sich fragen, woran das liegen mag und untersuchen, ob und inwiefern die politischen Gedenkroutinen die Ambivalenz des Stauffenberg-Attentates museal neutralisiert haben. Und warum begegnet uns dieser Stoff, sollte der Literaturwissenschaftler nachhaken, so gut wie gar nicht in der ernsthaften Literatur, sondern führt eine Randexistenz in verschiedenen Unterhaltungsformaten? In einem knappen Rückblick möchte ich versuchen, Gründe für die Abstinenz der Literatur gegenüber dem Widerstand der Offiziere bis in die 1990er Jahre zu benennen, um dann, gestützt auf Beobachtungen zu medialen Veränderungen in der aktuellen Geschichtskultur, ein neues Interesse am Thema in der Literatur nach 2000 aufzuweisen und gleichzeitig deutlich zu machen, welche Rolle dabei der Abschied vom Gedächtnis-Paradigma und das Experimentieren mit Darstellungsverfahren im Dienst einer ‘gefühlten Geschichte’ spielen.
I. Nach dem Krieg entstanden in rascher Folge vier dramatische Texte über Stauffenberg: Karl Michels Stauffenberg (1947), Walter Erich Schäfers Die Verschwörung (1949/50), Walter Löwens Stauffenberg. Tragödie (1949–52) und das Hörspiel des Schweizer Autors Peter Lotar Das Bild des Menschen. Eine Geschichte unserer Zeit, das in der Bühnenfassung 1954 uraufgeführt wurde. Ob existenzialistisch oder religiös perspektiviert, ob ideologisch imprägniert oder nicht – keines dieser Dramen konnte ästhetisch überzeugen. Mitte der 1960er Jahre, im Kielwasser der Dokumentardramen von Rolf Hochhuth und Peter Weiss, kamen drei weitere Stauffenberg-Dramen hinzu, die diesen Makel nicht auslöschten: Wolfgang Graetz’ Die Verschwörer (1965; UA Ludwigshafen 1968), Hans Hellmut Kirsts Aufstand der Offiziere (1966) und Günther Weisenborns Walküre 1944 (1966). Obwohl die Gattung Drama durchaus geeignet gewesen wäre, die tiefgründigen Ambivalenzen aufzuspüren, die nicht nur in den Motiven und Handlungen
53 der Attentäter lagen und durch Befehlsstrukturen und Kommunikationsformen gegeben waren, sondern die auch im fatalen Scheitern aller Attentate auf Hitler seit 1938 sichtbar wurden – als Kontingenz, Verhängnis, Versagen –, wurde durch die genannten Stücke keine fortführungswerte literarische Tradition begründet. Ihre diagnostischen Potenziale verlor die Literatur recht bald an die Historiker, die sich mit recherchierten Fakten gegen fiktionale Szenarien ins Recht setzten; die Choreographie der Bühnenhandlung mutete im Vergleich zur Bilddynamik der filmischen Repräsentation spröde und abstrakt an, so dass sich die Literatur nach 1955 dem Druck der Film- und Fernsehindustrie beugte und den Stoff abgab. Während die historische Forschung über das Stauffenberg-Attentat kontinuierlich an Umfang zunahm, schwieg sich die seit den 1970er Jahren immer intensiver mit Vergangenheitsbewältigung beschäftigte Literatur über das Thema des Widerstandes aus. Geht man – grob vereinfacht – davon aus, dass sich die westdeutsche Literatur über Nationalsozialismus, Weltkrieg und Holocaust bis in die 1970er Jahre auf das Zeugen-Dispositiv (vgl. Blasberg: Zeugenschaft) gründete und im Zuge der 1980er Jahre das in den Kulturwissenschaften aufkommende Gedächtnis- und Generationenparadigma übernahm (vgl. Blasberg: Geschichte als Palimpsest), dann wird dieses Schweigen verständlich: Zeugenfunktion übernahmen von Anfang an die Biographien der Attentäter aus dem engsten Freundesund Familienkreis, und diese sicherten sich auch das subjektiv-private Erinnerungsprivileg. Die Aneignung der Widerstandsgeschichte im Medium des Gedächtnis- und Generationendiskurses, wie sie im Hinblick auf die nationalsozialistische Vergangenheit seit den Vaterbüchern der 1970er und 1980er Jahre literarisch prägend geworden ist, scheiterte an der Unzugänglichkeit des Themas für andere Erinnerungskollektive. Die Reserviertheit der Literatur gegenüber dem Stauffenberg-Attentat hat indes noch andere Gründe, die im Bereich der politischen Kultur zu suchen sind: Der erfolglose Widerstand der Offiziere war, wenn er überhaupt zur Sprache kam, ein in der westdeutschen Öffentlichkeit missbilligtes Thema. Nach dem Krieg wurde er von den Besatzungsmächten strikt tabuiert (vgl. Kettenacker), und als man Anfang der 1950er Jahre in den Westzonen langsam damit begann, den Widerstand der Offiziere zugunsten einer antikommunistischen Ausrichtung der Politik zu rehabilitieren, stellte sich heraus, dass die Bevölkerung weiterhin an Hitlers Denunziation der Attentäter als feige Vaterlandsverrätern festhielt, ja, dass noch 1951 30% der Deutschen die Ereignisse des 20. Juli verurteilten (vgl. Überschär). Eine Anerkennung des Widerstandes hätte ja auch darauf aufmerksam gemacht, dass der größte Teil der Deutschen die Diktatur unterstützt oder als ‘Mitläufer’ toleriert hatte (vgl. Reichel 61). Zur ‘Lebenslüge’ der Weltkriegsgeneration gehörte es, die Vergangenheit aus dem selbsterlebten Erinnerungszusammenhang der Opfer von Krieg und Bombenterror zu deuten (vgl. Steinbach: Widerstand 295).
54 Veränderungen traten erstmals nach dem Braunschweiger Remer-Prozess von 1952 zutage. Dem Generalstaatsanwalt Fritz Bauer gelang es in diesem Prozess gegen den früheren Leiter des Berliner Wachbataillons Otto Ernst Remer (der die “Operation Walküre” scheitern ließ), den Gründer der Sozialistischen Reichspartei und notorischen Holocaustleugner, die Widerständler vom Stigma des Verrats zu befreien, indem er argumentierte, dass das von Hitler bereits verratene Volk nicht mehr Gegenstand eines Landesverrats gewesen sein konnte. Nur ein Jahr später, 1953, wurden im Bundesentschädigungsprozess neue Definitionen von Verfolgung durch den Nationalsozialismus und von aktiver Gegnerschaft zu ihm festgelegt, die zwar ein problematisches “Erfolgskriterium” (Steinbach: Widerstand 107) formulierten, im Grunde aber einen großen Schritt auf die Verankerung des Widerstandsrechts im Rahmen einer demokratischen Verfassung hin taten. Besondere politische Brisanz erhielten diese von der Publizistik vehement unterstützten, von der Bevölkerung eher skeptisch betrachteten Reformen durch die Interpretation der Unruhen in der DDR am 17. Juni 1953 als eines antitotalitären Aufstandes (vgl. Reichel 63) – eine Interpretation, die Widerstand zur ethischen Tat stilisierte und nun, in antikommunistischer Absicht, als Aufbegehren des Gewissens zugunsten politischer Freiheit verstanden wissen wollte. Veröffentlichungen des Historikers Hans Rothfels wie Die Deutsche Opposition gegen Hitler (1949, 1958), Das Gewissen steht auf (1954) und Das Gewissen entscheidet (1957) gaben Formeln an die Hand, dank derer sich idealisierende, aber auch ideologische Verbindungen zwischen dem 20. Juli 1944 und dem 17. Juni 1953 herstellen ließen. Diese Tendenz der Enthistorisierung kam mit dem Protest der jungen Generation gegen die am 30. Mai 1968 erlassenen Notstandsgesetze an ihr Ende (vgl. Holler 6). Die ‘zweite Generation’ nach Weltkrieg und Holocaust (vgl. Rosenthal) warf der durchaus wieder regimekonform lebenden Elterngeneration massive Verleugnung und Delegation der nicht bewältigten Schuld vor und entlarvte deren Idealisierung der Männer um Stauffenberg als Abwehrzauber und Projektion. Die Repolitisierung des Widerstandskonzeptes, das sie forderte, verband zwei unterschiedliche Erkenntnisse: Auf der einen Seite war Historikern und Politikern bereits seit den späten 1950er Jahren klar, dass die Anerkennung des Vermächtnisses vom 20. Juli eine Auseinandersetzung mit den politischen Ideen der Widerständler für die Zeit nach Hitler (vgl. Steinbach: Widerstandsdiskussion 321) nach sich ziehen, das heißt, dass man sich zu ihren durchaus antidemokratischen und illiberalen Vorstellungen ins Verhältnis setzen musste. Studien von Hans Mommsen und Hermann Graml machten deutlich, dass die Staatstheorien und Rechtsauffassungen der Verschwörer sie partout nicht zu Ahnherren des Grundgesetzes qualifizierten. Die junge 68er-Generation wandte sich umso vehementer von
55 den konservativen Offizieren um Stauffenberg ab, je programmatischer diese zum Kultobjekt einer etablierten Gedenkpraxis geworden waren und je offensichtlicher auf der anderen Seite wurde, dass Widerstand gegen das ‘Dritte Reich’ nicht die Sache adliger Einzelkämpfer, sondern historische Erfahrung und politische Anstrengung von Sozialisten, Kommunisten und aufrechten Christen, von vielfältigen Untergrundbewegungen und -organisationen gewesen war. In dem Maße, wie die Geschichtsforschung der DDR ins Blickfeld trat, wie sich die westdeutschen Historiker dem Bereich der Alltagsgeschichte und oral history zuwandten, veränderte sich das Profil des Widerstandsbegriffes. Statt Widerstand als herausragende, erfolgreiche oder dramatisch scheiternde Aktion Einzelner zu definieren, lenkte man den Blick auf verstecktere Formen zivilen Ungehorsams, auf regionale, guerillaartige Sabotageversuche, auf Hilfeleistungen der Kirchen, auf Einstellungen und Motive Andersdenkender, wie sie nicht nur retrospektiv in historischen Diktaturen zu entdecken, sondern ebenso in der Gegenwart einer demokratischen Gesellschaft zu erfahren waren: etwa bei Demonstrationen gegen Wiederbewaffnung und atomare Aufrüstung (vgl. Steinbach: Widerstand 117). Als 1984 die ständige Ausstellung Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Berliner BendlerBlock eröffnet wurde, trug sie diesen Forderungen nach kritischer Differenzierung zwar Rechnung, wurde aber trotzdem von der Geschichte überholt: Zehn Jahre später, nach der Wiedervereinigung, brandeten alte, parteipolitisch motivierte Konflikte um Fragen der Zugehörigkeit zum Widerstand kurzfristig wieder auf. Während das Stauffenberg-Attentat in Deutschland abseits der Gedenkroutinen vergessen wurde, bildeten sich gleichzeitig neue europäische Diskussionsforen heraus. 1995 fand in Paris die Ausstellung Des Allemands contre le nazisme 1933–1945 statt, 2004 ehrte die damalige französische Europaministerin Noëlle Lenoir Philipp von Boeselager, den letzten Überlebenden der Offiziersgruppe (vgl. Pfeil). Weil sich die Historiker der ehemals besetzten Länder mittlerweile mit der eigenen Kollaborationsvergangenheit auseinandersetzen, also ihre Verstrickung in den europaweit agierenden Nationalsozialismus zu reflektieren beginnen, erwacht umgekehrt ein europäisches Interesse am Widerstand in Deutschland (vgl. PrettenthalerZiegerhofer). In diesem Prozess vermischen sich Täter- und Opfernarrative, Geschichten von Widerstand, Duldung und Akzeptanz. Sie lagern nicht einfach nur in einem virtuellen europäischen Archiv beieinander, sie verändern sich durch diese Nachbarschaft, indem sie von sporadisch aktiven, jeweils sehr instabilen Erinnerungskollektiven zu unterschiedlichen, für Revisionsprozesse offenen Geschichtscollagen zusammengefügt werden. In solch museale und intermediale Wechselrahmen gerückt, wird das Attentat vom 20. Juli deutungsoffener, als es in seinem nationalen Kontext jemals war. Wird es demnach auch für die Literatur attraktiver?
56 II. Wer nach Begründungen für ein mögliches neues Interesse der Literatur am Widerstandsthema sucht, muss sein Augenmerk nicht nur auf den aktuellen europäischen Rahmen der Vergangenheitsbewältigung richten, sondern ebenso die sich durch die neuen Medien rapide verändernde Geschichtskultur in Rechnung stellen. Mit ihrer empirischen Studie zur Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust (2001) gaben die Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider den Startschuss zu einer Debatte über das Schicksal der kollektiven Erinnerung angesichts der universalisierenden und relativierenden Kraft globaler Medienkommunikation. Dabei stellten sie die These auf, dass man die umfangreiche kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit der kollektiven Erinnerung bereits als Reflex auf die Dynamik der Globalisierung und, damit einhergehend, auf die Diskreditierung der Gedächtnisgemeinschaft ‘Nation’ betrachten könne (vgl. Levy/Sznaider 19). Das Gedächtnisparadigma fängt gewissermaßen den Zerfall der ehemals geschichtsbildenden Zentralinstanz, des nationalen Akteurs und Händlers mit national relevanten ‘erfundenen Traditionen’, auf und ersetzt ihn durch heterogene, je individuell geprägte Kollektive spätmoderner Identitätssucher, die ihre Lebensgeschichte in einer allerdings immer noch ‘großen’ Vergangenheits-Erzählung verwurzeln wollen. Obwohl das Internet, geben Medientheoretiker zu bedenken, “Formen kollektiver Erinnerungskulturen” kopiere und alles andere als eine “Maschine des Vergessens” (Dornick 86) sei, müsse doch angezweifelt werden, ob die qualitativen Veränderungen im Geschichtsdiskurs noch im Namen des Gedächtnisparadigmas verhandelt werden könnten. Schließlich unterliegen Speicherung und Interpretation von Daten im Internet einer starken Instabilität: Informationen sind fluktuativ, werden dezentral verwaltet und übermittelt sowie durch verschiedene menschliche und technische Teilnehmer abgerufen und interpretiert; [. . .] können jederzeit kopiert, gelöscht und verändert werden. (Dornick 85)
Definiert sich der Akt kollektiver Erinnerungskonstruktion, der für das Gedächtnisparadigma zentral ist, zwingend durch die Referenz auf ein historisches Ereignis, so verliert sich im Zusammenhang medialer Kommunikation die Fokussierung auf vorgängige Erfahrungstatbestände (vgl. Paul 29). Der Interaktionsprozess, dem das Medium seine Gesetze eingeschrieben hat, gewinnt stattdessen irreversibel an Selbstbezüglichkeit: Der bloße Kontakt entscheidet (vgl. Keilbach 239). Da historische Ereignisse “als Erfahrung nicht wiederholbar sind”, besetzen mediale Repräsentationen die entstandene Leerstelle mit “stets vorhandenen Images, losgelöst von Zeit und Raum, in immerwährender Gegenwart, abrufbar durch Knopfdruck und Fernbedienung” (Paul 29). Entsprechend der Relevanz historischer Themen für
57 Identifizierungs- und Kommunikationsprozesse wechselnder User-Gruppen bildet sich eine Referenzdimension heraus, die man “historicity” (Keilbach 249) – Historizität – nennen könnte. Das Fernsehen, aber auch die Videospielkultur haben visuelle Formate ausgebildet, dank derer solche Historizität eine maximale, dem Buchmedium weit überlegene Anschaulichkeit gewinnt; ja, Geschichte wird geradezu und nur dann als solche wahrgenommen, wenn sie über entsprechende Standards der Visibilität verfügt. Dabei herrscht ein uneingestandener Konsens darüber, dass ein nie vorher dagewesener Realismus der Bilder (vgl. Kansteiner 37) mit dem Bewusstsein ihrer Simuliertheit einhergeht. Galt im Zeitalter nationaler und kosmopolitischer Gedächtniskultur, dass kollektive Erinnerungen in “linear mediatisierter Kommunikation” (Kansteiner 30) gebildet, der persönlichen Kontrolle also nach einer gewissen Zeit entzogen wurden, so bietet im Gegenzug das Internet die Möglichkeit, das interaktiv aufgerufene Kulturprodukt “während seiner Rezeption zu verändern” (Kansteiner 37). Zwar verstand sich auch das Mitglied eines Gedächtniskollektivs bereits als Konstrukteur des Erinnerten, aber es war dabei an die gesamtgesellschaftlichen Rahmenvorgaben im Hinblick auf den Realitätsstatus der Geschichte gebunden. Für Mediennutzer, Filmkonsumenten und Videospieler erschließt sich Historizität durch die Illusion unmittelbarer Präsenz und Partizipation an Vorgängen, die so oder anders hätten geschehen können. Sich mit Geschichte zu beschäftigen, heißt nichts anderes, als “mit alternativen Universen zu interagieren” (Kansteiner 37). Weil sich derartige Sehgewohnheiten längst etabliert haben, gelingt es auch Jo Baiers Fernsehfilm Stauffenberg durch eine gar nicht spektakuläre Kameraführung, den Zuschauer mitten in den dramatischen Machtkampf zwischen Stauffenberg und Hitler (als Gegnern auf Augenhöhe) hineinzuziehen. Frei erfundene Monolog- und Dialogszenen (wie zum Beispiel der von der Kritik als unrühmliche Zutat diffamierte Streit zwischen Claus und Nina von Stauffenberg vor dem Attentat) dienen dazu, den psychologischen Erwartungen historicity-gläubiger Zuschauer zu entsprechen. Es geht um nicht weniger als um Visualisierung und Übertragung angenommener Seelenzustände: Baier lässt den Zuschauer regelrecht Teil der Befangenheit seines Protagonisten in der nationalsozialistischen Ideologie werden und versucht plausibel zu machen, dass Stauffenbergs Attentat auf den ‘Führer’ die Schauseite eines anderen Tötungsaktes war, mit dem der Offizier die Hitler-Anteile in sich selbst zerstören wollte. Viele Indizien weisen darauf hin, dass der populäre Geschichtsroman mit dem Film um Strategien der Historizitäts-Erzeugung konkurriert. Der ebenfalls 2004 veröffentlichte Roman Der Adjutant des Journalisten und Schriftstellers Wolfgang Brenner ‘visualisiert’ das Attentat des 20. Juli aus der mit einem Maximum an Realitätseffekten ausgestatteten Perspektive des StauffenbergAdjutanten Werner von Haeften. Vor den Augen des Protagonisten (und damit
58 des Lesers) rollen die zum Attentat führenden Ereignisse ab wie ein Film, der den Zuschauer vollständig in den Bann seiner kunstvoll dramatisierten, mal atemberaubend beschleunigten, dann wieder quälend verzögerten Zeitregie schlägt. Von Haeften ist eine Randfigur, die immer mehr ins Zentrum des Geschehens vorrückt; seine langsam wachsende Vertrautheit mit den extrem schwierigen Kommunikations- und Entscheidungssituationen vor dem Attentat ebnet den Weg für die zunehmende Involviertheit des Lesers. Dabei dienen die Schilderungen fiktiver Szenarien im zerbombten Berlin und im Gesellschaftskreis einer leichtlebigen, realitätsflüchtigen jeunesse dorée, zudem all jene plot-Elemente, die von Haeften als leidenschaftlichen Liebhaber zeigen, der zwischen zwei in ihrer Unterschiedlichkeit völlig überzeichneten Frauen zerrissen wird, dazu, den Leser zum Teilnehmer und Akteur einer in die Gegenwart geholten Vergangenheit zu verwandeln. Dass die politischhistorische Vergangenheit sich im Roman Der Adjutant so umstandslos in ein Arrangement für ein mediales Interaktionsspiel mit alternativen Universen verwandeln lässt, zeigt auf der einen Seite, wie populäre Literatur am Möglichkeitspotenzial der neuen Medien teilhat, wenn auch nur auf sparsamste, nämlich konsum- und unterhaltungsorientierte Weise. Auf der anderen Seite wird deutlich, dass sich für eine reflektierte Wort- und Filmkunst genau an diesem Punkt ein innovatives Arbeitsgebiet auftut. Drängt sich doch die Frage auf, was geschähe, wenn dem Trend zu restloser Auflösung von Geschichte in historicity stattgegeben würde? Entstünde nicht ein Mangel, geradezu ein “Trauma des Geschichtsverlust[s]” (Keilbach 249)? Welche Schreibstrategien müssen aktiviert werden, um diesem Trauma ebenso Ausdruck zu verleihen wie der Erkenntnis, dass Geschichte aus ‘Geschichten’ besteht? Das neue literarische und filmische Interesse am Widerstand der Offiziere um Stauffenberg, das nach der Jahrtausendwende zu beobachten ist, erwächst, so meine These, aus den widerstreitenden Optionen einer Geschichtskultur im Zeichen der neuen Medien. Diese Konstellation begünstigt zwei Genres, die sich des Themas annehmen, nämlich die genealogische Erzählung, die das Erbe des Gedächtnis- und Generationendiskurses diskutiert, und den kontrafaktischen Geschichtsroman. Überraschend ist dieser Befund nicht – bestätigt er doch die Diagnosen der Kulturwissenschaftler über den gesellschaftlichen Umgang mit Nationalsozialismus, Weltkrieg und Holocaust, der sich im Zeichen von Globalisierung und Medialisierung zugleich subjektiviert und fiktionalisiert. Beide Tendenzen sind im Grunde nicht neu, entfalten im Kontext des aktuellen Geschichtsdiskurses aber ein neues Bedeutungspotenzial.
III. Mit den Vater-Büchern der 1970er Jahre etablierte sich ein Erzählmuster, das in den genealogischen, über drei Generationen berichtenden Romanen
59 seit den 1990er Jahren eine konsequente Fortsetzung fand. In den Täterund Opfernarrativen sind Nationalsozialismus und Holocaust als “dunkle Spur” (Rüsen) in der Seele der Nachgeborenen zugleich unsichtbar und präsent: Erinnerungskonzept und Gedächtnisparadigma binden das sich immer weiter in die Vergangenheit zurückziehende Geschichtsereignis an intersubjektive Reflexe und opake Wiederholungsszenarien in der Gegenwart. Im Archiv der Literatur lagern viele Modelle, um die von Psychologen als transgenerationelle Traumatisierung beschriebenen innerpsychischen Prozesse wahrnehmbar zu machen, Familienromane und Detektivgeschichten sind zwei besonders bekannte Erzählmuster aus diesem Arsenal. Die literarische Gestaltung reflektiert die ihr eigene Fiktionalität, indem sie sich Diskurse über das notwendig hypothetisch-imaginative und phantasmatische Potenzial von Vergangenheitskonstruktion, Erinnerungssuche und Identitätsentwurf einverleibt. “Als Kind habe ich mit meinen Stofftieren im Dunkeln oft Flucht aus dem Konzentrationslager gespielt”, so lautet der erste Satz der Studie von Felicitas von Aretin, Enkelin des Verschwörers Henning von Tresckow, über Die Enkel des 20. Juli 1944. Damit offenbart der Text, dass der wissenschaftlichen Recherche über die politische Rezeption des deutschen Widerstandes, der historischen Darstellung des Hilfswerks 20. Juli 1944 und den Interviews mit Enkeln von Widerstandskämpfern gegen Hitler eine subjektivprivate Dimension eingeschrieben ist, der vor allem dadurch Rechnung getragen wird, dass die persönlichen Gespräche der Autorin mit Nachgeborenen der Widerstandsfamilien den Fokus auf die Bedeutung der Vergangenheit in der Gegenwart legen. Werden das “Gespenstische” und “[I]rreal[e]” (Aretin 8) einer Vergangenheit, die von den Eltern verschwiegen wird, in der Kindheit der Enkel – das stellen auch die Romane Spione von Marcel Beyer und Himmelskörper von Tanja Dückers dar – theatral verdoppelt und spielerisch zu bewältigen versucht, so zeichnen sich Geschichten über das Erwachsenwerden dadurch aus, dass das Fiktionspotenzial kontrolliert und in eine wissenschaftliche Erforschung der verstörenden Kommunikationsstrukturen der Familie einerseits, der historischen Aufdeckung des die Eltern traumatisierenden Ereignisses andererseits überführt wird. Aufschlussreich ist, dass sogar explizit geschichtswissenschaftliche Studien wie die von Felicitas von Aretin oder Katrin Himmler den magischen Erklärungsansätzen verunsicherter Kinder und Jugendlicher – “Insgeheim fragte ich mich, ob ein Fluch auf diesen Familien lag” (Aretin 9) – und ihren derealisierenden Fiktionen – “Lange Jahre verortete ich Potsdam, vor allem aber Wartenberg im Osten kurz vor Moskau. In meiner Vorstellung existierten diese Orte nur als Seelenlandschaften im Nirgendwo” (Aretin 9) – eine wichtige Aussagefunktion für die Texte zuweisen. Die akribische historische Recherche und die Konsultation der inzwischen umfangreichen psychologischen Literatur über die Kinder von Überlebenden (vgl. Epstein, Kestenberg) und Tätern (vgl. Westernhagen)
60 dienen der Rationalisierung einer fundamentalen seelischen Irritation, einer Rationalisierung, die in ihren Erfolgen, aber auch in ihrer Ersatzfunktion und Begrenztheit sichtbar wird. Offenbar gilt die Suche einem Genre, das sich mit intensiven, gegenwartsrelevanten Fragen an die Vergangenheit wendet, ohne Antworten durch die Geschichtswissenschaft zu erhoffen und ohne gleichzeitig auf Kultur- und Geschichtswissenschaft verzichten zu können. Dabei ist die Tatsache, dass sprachlich-rhetorische Konstruiertheit und Narrativität immer auch das Einfallstor für Fiktionalität sind, stets mitbedacht. Experimentiert wird mit Schreibweisen einer “gefühlten Geschichte” (Aretin 15), die das Recht auf einen subjektiven Zugang zu historischen und politischen Tatbeständen einklagen und den Text zum Ort eines Verhandlungsgeschehens machen. Die Interviews mit Nachgeborenen ganz unterschiedlich positionierter Widerstandskämpfer dokumentieren die Pluralität der aktuellen Sichtweisen und die Heterogenität von politischen Einschätzungen im Kreis der befragten Enkel: Von ihnen hängt ab, ob das überwiegend militärische Zeremoniell und die offiziellen Gedenkveranstaltungen zu Ehren des 20. Juli akzeptiert oder aber missbilligt, ob Kontakte zu anderen Betroffenen hergestellt und wie Attentat und politische Pläne der Widerständler interpretiert und bewertet werden. Die Interviews präsentieren mehr als alles andere das Kaleidoskop an menschlichen Verhaltensweisen angesichts einer Katastrophe. So entsteht ein dicht gewobenes Netz aus Selbstdeutungen der historischen Akteure und aus Reflexionen der davon betroffenen Nachgeborenen. Gleichsam nachträglich müssen sich Entschlüsse, das eigene Leben zu opfern, um Hitler zu beseitigen, vor der Verzweiflung von Kindern rechtfertigen, die sich von ihren Vätern im Stich gelassen und hinter ein zweifelhaftes politisches Ziel zurückgesetzt fühlen. Im Medium solcherart nachgeholter transgenerationeller Kommunikation behauptet sich das historische Geschehen ebenso als Referenzpunkt, wie sich die Gegenwart der Enkel in den Fokus schiebt. Die unwiederholbare Erfahrung hinterlässt zwar eine Lücke, die sich nicht füllen lässt, aber sie begegnet anderen, über die Zeit gestreuten Erfahrungen, die sich unbewusst und bewusst auf sie beziehen. Ebenfalls 2004 erschien mit Meines Vaters Land. Geschichte einer deutschen Familie ein Text der 1938 geborenen Journalistin Wibke Bruhns, der auf der Grundlage einer vergleichbar akribisch recherchierten Generationserzählung gegen den Medientrend zu historicity und kalkuliertem Geschichtsverlust arbeitet. Damit, dass gleich das erste Wort des Buches “Ich” lautet und der letzte Satz “Ich danke Dir” im Präsens steht, setzt Bruhns ein deutliches Signal: Die Subjektivität der Autorin und die Gegenwart der Schreibtätigkeit bilden den Ausgangspunkt einer spätmodernen Selbsterzählung, in deren Zentrum der alte Topos der Vatersuche und damit der Wunsch nach Verortung in der mit dem Namen des Vaters verbundenen Ordnung stehen. Auf die Ambivalenz dieses Unternehmens macht der Titel aufmerksam: Genannt wird nicht
61 der Vater, sondern sein Bezug zu einem Land, mit dem er sich – im Unterschied zur Tochter – identifiziert. Der Untertitel Geschichte einer deutschen Familie verstärkt durch generalisierende Unbestimmtheit die Botschaft, dass der Text Individuelles und Objektiv-Allgemeines in ein streitbares Verhältnis setzt: Die Vatersuche hat Distanzen zu überwinden, die im Vergangensein von Geschichte und Familie und im Verlust des Vaters an Deutschland begründet sind. Wibke Bruhns greift noch weit vor die Geschichte des deutschen Kaiserreichs zurück, um die historischen und politischen Prägungen ihres Vaters Hans Georg Klamroth, der als Mitwisser seines in das Stauffenberg-Attentat verwickelten Schwiegersohns Bernhard Klamroth (1910-1944) am 26. August 1944 hingerichtet wurde (vgl. Steinbach/Tuchel: Lexikon 104). “Verstehen will ich”, zitiert der Klappentext die Autorin, “was meine, die Generation der Nachgeborenen so beschädigt hat.” Die Leser des Buches werden dadurch zu Zeugen dieses mühsam erkämpften Verstehensprozesses, in dessen Verlauf der Text den historischen Bericht immer wieder unterbricht und direkte Einblicke in die Werkstatt erlaubt. “Es kostet mich Anstrengung, dies aufzuschreiben. Ich möchte beide schütteln, sie anschreien: ‘Großer Gott, ihr habt nicht mehr viel Zeit!’ ” (Bruhns 333) heißt es angesichts des Ehezerwürfnisses 1943, anlässlich eines Tagebucheintrags ihres Vaters am 3. April 1933: “Ich schleiche um meinen Computer herum seit Tagen. Ich kann nicht weiterschreiben. Ich fürchte mich. Ich fürchte mich vor den nächsten Eintragungen in HGs Tagebuch” (Bruhns 245). Es ist die Zeit der Gleichschaltungen und die eingeblendeten Kommentare der Tochter verraten, wie schwer es ihr fällt, über den zeitbedingten Nationalismus und Militarismus der Familie hinaus die Begeisterung ihres Vaters für die Ideologie des Nationalsozialismus und sein Engagement für Hitlers Staat zu akzeptieren. Die auf reichem Datenmaterial, einer schier unendlichen Fülle an Briefen, Dokumenten und Tagebüchern ruhende Familiengeschichte möchte explizit “nicht die Verschwörung des 20. Juli beschreiben, nicht ihre militärischen und ihre zivilen Aspekte, nicht die Planungen und die Versäumnisse, die das Scheitern bewirkten.” (Bruhns 355). Das ist eine überaus diskrete Formulierung für die entschiedene Opposition des Buches zum offiziell-zeremoniellen und geschichtswissenschaftlichen Umgang mit dem Attentat und seinen Versuch, das hinter die Memorialgesten zurückgedrängte, explosive emotionale Potenzial eines subjektiven Widerstreits mit der Geschichte zu befreien. Gründe für diesen Widerstreit werden konkret benannt: Zu ihnen gehört der fundamentale Widerspruch zwischen den Instanzen des kulturellen Gedächtnisses – die, wie das Lexikon des Widerstandes, Hans-Georg Klamroth zum Kreis der Attentäter zählen – und den Agenten des kommunikativen Familiengedächtnisses, das den Vater mit verstörenden Schweigezonen umgab, in deren Machtbereich die Widerstandsaktion ebenso dethematisiert wurde wie deren andere Seite, die frühe und auch nach 1945 andauernde
62 Verstrickung der Familie in den Nationalsozialismus. Im Gegensatz zu historischen Studien, die trotz aller Wachsamkeit für die Ambivalenz eines Attentats von Offizieren, die Hitlers Eroberungskrieg gebilligt und so lange unterstützt hatten, wie es Siegeschancen gab, die politischen Zukunftsoptionen der Attentäter zu einer utopiegeleiteten Befreiungstat abstrahieren, zeichnet Wibke Bruhns das Porträt eines Mannes, der überzeugter Nationalsozialist war und nur durch das äußerst ungenaue Kriterium der ‘Sippenhaft’ als Widerstandskämpfer identifiziert und hingerichtet wurde. Ungeschminkt gibt das Buch Auskunft über die persönlichen Ängste und für Mitmenschen wie Nachgeborene verletzenden Schwächen des äußerlich erfolgreich agierenden Geschäftsmanns und Familienvaters Hans-Georg Klamroth. Die weit in das 19. Jahrhundert zurückgreifende Generationenbiographie, die nicht umhin kann, im tief verwurzelten Nationalismus die mentale Konstante der Familie zu diagnostizieren, lässt keinen Zweifel daran, dass ein solcher Nationalismus auch die Politik der Attentäter regiert hätte, wäre der Anschlag gelungen. Der geradezu dramatisch inszenierte Perspektivenwechsel der Narration zeigt, dass die so anschaulich vergegenwärtigte, imaginativ ins Jetzt geholte (historische) Lebensrealität des Vaters partout nicht mit aktuellen Sichtweisen einer überzeugten Demokratin und kritischen Journalistin zu vereinbaren ist. Während Felicitas von Aretin ein vielschichtiges, nuancenreiches Bild des ‘Erbes’ von Widerstand und Attentat zeichnet – ein Bild, in dem sich idealisierende Perspektiven auf die Großväter mit hohem ethischen Anspruch an die Nachgeborenen mischen, aber auch ein Bild, das die schmerzhaften Folgen transgenerationeller Traumatisierung offenlegt – zieht Wibke Bruhns’ Schreibprojekt negativere Bilanz: Sie, die “[v]erstehen” wollte, “was [. . .] die Generation der Nachgeborenen so beschädigt hat” (Bruhns Klappentext), hat verstanden: auf der einen Seite, wie verletzlich die Trauer um einen im Leben vermissten Vater macht, auf der anderen, wie wenig man die Männer des 20. Juli heute ‘verstehen’ kann, weil sich die in der Nachkriegsdemokratie heimisch gewordenen Deutschen unendlich weit von deren Ethos und Handlungsmaximen entfernt haben.
IV. Familienromane und Generationentexte haben die Funktion, die entgleitende Vergangenheit imaginativ mit der Gegenwart zu verknüpfen; insofern stärken sie die These, dass die Gegenwart eine Konsequenz der Vergangenheit ist, dass Geschichte aktuelle Lebenseinstellungen generiert und determiniert. Gleichwohl ist zu vermuten, dass diese Determinationshypothese mehr über den Wunsch der Gegenwart nach Begründung, Legitimation, Sinn- und Identitätsstiftung durch die Vergangenheit aussagt als über Dynamik und Wirkung von Geschichte (vgl. Blasberg: Erinnern). Im Medium von Generationstexten,
63 in die auch ein so kritischer Text wie der von Wibke Bruhns eingeschlossen ist, erhält das Attentat vom 20. Juli einen unumstößlichen Platz in einer grundsätzlich bejahten, individuell allerdings hochgradig differenzierten Kultur des Erinnerns und Gedenkens. Das ist im Rahmen kontrafaktischer Geschichtsromane, die das Sujet eines Attentats auf Hitler seit Ralph Milne Farleys I killed Hitler von 1941 immer wieder aufgegriffen haben, grundsätzlich anders: Von Determination ist definitiv nicht die Rede, und auch der Gedächtnisdiskurs wird entschieden zurückgewiesen. Vermutungen über alternative Geschichtsverläufe im Zeichen der Frage “Was wäre gewesen, wenn . . .?” begleiten die offizielle Geschichtsschreibung von Anfang an. Demandt begründet das spannende Forschungsthema mit Hinweis auf die “Trichterstruktur” (Demandt 28) realhistorischer Prozesse, an deren Anfängen jeweils ein weites Spielfeld voller Möglichkeiten stehe, das sich durch notwendig getroffene Entscheidungen immer weiter verenge. “In manchen Fällen”, so Demandt, “ist das wirkliche Geschehen selbst nur die weniger wahrscheinliche Alternative zu dem, womit zu rechnen war” (Demandt 28). In seiner Studie wird auf die Frage: “Was wäre gewesen, wenn die Verschwörung gegen Hitler am 20. Juli 1944 gelungen wäre?” (Demandt 87f.) mit dem Entwurf eines differenzierten Szenarios geantwortet: Göring hätte die Macht übernommen, der Zusammenbruch Deutschlands wäre beschleunigt worden (und damit wäre zumindest das Ziel der Attentäter, das Blutvergießen an der Ostfront zu beenden, erreicht gewesen), Beck hätte als deutscher Badoglio eine Art Bürgerkrieg herausgefordert, und als Konsequenz all dessen wäre die Abwehrkraft gegen die Sowjetunion gefährlich geschwächt worden. In den Augen von Literaturwissenschaftlern, die sich wie Christoph Rodiek, Gavriel Rosenfeld und Andreas Widmann mit kontrafaktischer Geschichtsschreibung beschäftigen und Beziehungen zu Genres herstellen, die mit Utopie, Parodie und Dystopie arbeiten, ist Demandts Ansatz zu substantialistisch. Uchrone Literatur, so urteilen sie, hat weniger etwas mit dem Unabgegoltenen ‘der Geschichte’ zu tun als mit den Mechanismen jeweils aktueller Gedächtnispraxis (vgl. Rodiek 14). Sie reagiert kreativ auf Unzufriedenheit mit zeitgenössischer Politik und Geschichtsdarstellung (vgl. Rosenfeld: Why Do We 90) und lenkt den Blick darauf, dass die Vielfalt der Perspektiven, die aktuelle ‘Wirklichkeit’ nach differenten Gesetzen konstruieren, auch für die Betrachtung der Geschichte akzeptiert werden muss (vgl. Rosenfeld: Why Do We 103). Im Zusammenhang mit postmoderner, multimedial vernetzter Ästhetik werden Referenzebenen der Darstellung prinzipiell verhandelbar. Das betrifft auch den Referenzbereich von Nationalsozialismus, Weltkrieg und Holocaust, dessen Bedeutung für ‘westliches’ Geschichtsdenken, so Rosenfeld, uneingeschränkt hoch ist. Gleichwohl sei in dieser Hinsicht ein globaler Trend zu “Normalisierung” (Rosenfeld: The World 18) und Entmoralisierung, ja
64 Entdämonisierung zu beobachten. Im Zuge dieser Entwicklung wird deutlich, wie einseitig (im Sinne einer in den 1960er Jahren festgelegten Deutung) das Hitler-Attentat vom 20. Juli – trotz der inzwischen vorhandenen Heterogenität geschichtswissenschaftlicher Forschungsergebnisse – in der deutschen Öffentlichkeit verhandelt wird. Vor allem in den USA gibt es seit Kriegsbeginn eine Fülle an literarischen, oft durchaus science-fictionhaft und unterhaltungsliterarisch gestalteten Texten, die unterschiedliche Ausgangssituationen entwerfen (die Nationalsozialisten gewinnen den Krieg, okkupieren sogar die USA, Hitler überlebt den Krieg im Versteck, Hitler wird vor 1933 oder eben 1944 getötet) und jeweils ‘positive’ und ‘negative’ Folgen für den Fortgang der Geschichte imaginieren. Norman Spinrads The Iron Dream (1972) lässt Hitler statt einer Politiker- eine nicht minder fatale Schriftstellerkarriere in den USA durchleben, Barbara Delaplace beschreibt in Painted Bridges (1994) Umstände, unter denen das bildkünstlerische Werk eines internierten Psychopathen entsteht, dessen Bilder auf die fiktiven Betrachter ähnlich mörderische (und zuletzt unkontrollierbar werdende) Wirkungen ausüben wie Hitlers Reden auf die Deutschen. Jerry Yulsmans Roman Elleander Morning von 1984 – ein Text über eine turbulente Zeitreise, die vergangene und aktuelle Referenzebenen, konkret die Themen der Ermordung Hitlers 1913 durch eine junge Frau und der Recherchen ihrer Enkelin 1983 im Raum einer alternativen Geschichte, immer wieder übereinander blendet – ist ein weiterer Beleg dafür, dass kontrafaktische Romane die – wann auch immer erfolgte – Ermordung Hitlers nicht als Befreiungsschlag deuten. Im Gegenteil: Im Einverständnis mit einer strukturell (statt intentionalistisch) argumentierenden Geschichtswissenschaft führen die Romane aus, dass die Ausschaltung des ‘Führers’ die verheerende Zerstörungskraft eines von Deutschland und Europa ausgehenden Nationalismus nicht hätte bremsen können. So sehr werden auch die Verschwörer des 20. Juli mit dieser totalitären Disposition identifiziert, dass Visionen über die Nachkriegssituation in Deutschland unter ihrer Führung wie eine Fortsetzung des Nationalsozialismus mit anderen Mitteln wirken. In Gavriel Rosenfelds Studie ist der (ungemein zynisch klingende) Ausspruch des britischen Offiziers und späteren Historikers John Wheeler-Bennett überliefert, der 1944 mit Zufriedenheit konstatierte, dass das Scheitern des Attentats und die Hinrichtung der Verschwörer den Alliierten die sicher schwierigen Verhandlungen mit einer als die “guten Deutschen” (Rosenfeld: The World 325) figurierenden, aber extrem nationalistisch orientierten Machtelite erspart hätten. Aus dem Ensemble der deutschsprachigen uchronen Romane zum Nationalsozialismus greife ich zwei Veröffentlichungen heraus, die das Attentat vom 20. Juli zum Thema haben: Christian von Ditfurths Der 21. Juli (2001) und Dieter Kühns Erzählband Ich war Hitlers Schutzengel. Fiktionen (2010). So unterschiedlich beide auch sind, eint sie gegenüber den amerikanischen
65 Romanen die Verankerung in der deutschen Geschichtspolitik. Aufschlussreich sind sie allerdings nicht nur, weil sie zu einem Genre gehören, das gegen das in der deutschen Kulturwissenschaft dominante Gedächtnisparadigma einen neuen Diskurs über die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust einfordert, sondern weil sie in ihrer Art, Literarizität zur Disposition zu stellen, deutlich machen, dass Literatur auf der Suche nach einem neuen Format der Geschichtserzählung ist. Der Historiker Christian von Ditfurth stellt sich in seinem Roman Der 21. Juli, der 1953 spielt und im Mittelteil eine Rückblende in das Jahr 1944 enthält, in die Tradition der amerikanischen Uchronien im populären Stil von The Iron Dream und Elleander Morning. Das ‘große’ Thema des deutschen Widerstands gegen Hitler wird auf diese Weise herabgestuft und im ästhetischen Niemandsland zwischen Politthriller und Science-Fiction-Roman situiert. Im Interview mit der Zeitung Facts zeigte sich Ditfurth 2001 regelrecht erstaunt, dass niemand daran und an der Tatsache, dass er Stauffenberg und Carl Friedrich Goerdeler gemeinsame Sache mit Heinrich Himmler machen lässt, Anstoß genommen hat. Im Buch wird der fiktive SS-Sturmbannführer Knut Werdin von Himmler beauftragt, Kontakte zum Widerstandskreis von Stauffenberg herzustellen und Unterstützung bei der Ermordung Hitlers anzubieten, wenn die SS nach dem projektierten Verständigungsfrieden mit den Alliierten bestehen bleiben dürfe. Trotz aller denkbaren Verwicklungen (Werdin ist eigentlich ein russischer Spion und gerät zwischen die Interessenfronten, verliebt sich in eine jüdische Frau, die ihrerseits einen deutschen Luftwaffenoffizier liebt, und dergleichen mehr) gelingt das Attentat. Goerdeler als Reichspräsident teilt die politische Macht mit Himmler, der sich nicht mehr an das Versprechen von Kapitulation und Friedensschluss hält und so erfolgreich am deutschen Atomwaffenprogramm weiterarbeiten lässt, so dass am 7. Mai 1945 eine Atombombe auf Minsk abgeworfen werden kann und die Westmächte resignieren. Den Hauptteil des Textes nehmen allerdings die komplexen Ereignisse des Jahres 1953 ein: Deutschland ist ein autokratischer Ständestaat, der seine Berufung auf eine rassistische und antisemitische Ideologie gut verbirgt, zumal man Hitler die Schuld am Holocaust zugeschoben hat. Das Reichsgebiet erstreckt sich innerhalb der Grenzen von 1940, Frankreich, Belgien, Holland, Italien, Spanien und die skandinavischen Länder arbeiten eng mit Deutschland zusammen, Ungarn und Rumänien sind sogar Satellitenstaaten. Die Großmacht Deutschland präsentiert sich unter Wirtschaftsminister Erhard als aufstrebendes Wirtschaftsland, das im Bereich der Raketen- und Flugzeugtechnik international führend ist. Dank verschlungener Entwicklungen, an denen der ehemalige Spion Werdin wiederum beteiligt ist, weil er einen Freundschaftspakt mit Russland vorbereiten soll, kommt es letztlich zur Ermordung Himmlers – wie es indes mit Deutschland unter Goerdelers Führung weitergeht, bleibt unausgesprochen.
66 Im deutschen Widerstandsdiskurs um die Jahrtausendwende will der Roman mit skandalisierenden Plot-Elementen Unruhe stiften: Der Attentäter Stauffenberg wird seiner Sonderstellung beraubt und zur Randfigur in einem Szenario degradiert, das von Spionen und anderen Ränkeschmieden beherrscht wird. In einer extrem gegenstrebigen, letztlich unbeherrschbaren Interessenkoalition, die im Grunde durch Zufall zu Hitlers Ermordung führt, werden alle hehren Intentionen der Verschwörer vom 20. Juli zerrieben. Ditfurth hebt heraus, wie illusorisch die Annahme war, Hitlers Tod wäre ein Befreiungsschlag gewesen und hätte eine Wende zum Besseren gebracht. Hinzu kommt, dass Ditfurth einmal mehr – polemisch verstärkt – das antidemokratische Politikverständnis im Widerstandskreis der Offiziere und überhaupt die Persistenz alter Eliten und ihres Gedankengutes in Nachkriegsdeutschland aufweist. Das ständestaatlich-militaristische Deutschland im Zeichen des ‘21. Juli’ steckt als eine fiktional ausgereizte Gefahr im Deutschland der Gegenwart, dem das Buch einen unfreundlichen Zerrspiegel vorhält. Um 2001 wirklich eine öffentliche Debatte über den 20. Juli, über sein Andenken in der Gesellschaft, über problematische Geschichtspolitik und Erbschaftsverhältnisse in einer 1945 verordneten Demokratie anzuregen, war es indes ästhetisch nicht avanciert genug. Mit anderem Anspruch treten Dieter Kühns Fiktionen auf. Sie versammeln vier thematisch und stilistisch heterogene, teils asketisch auf historische Quellen orientierte, teils als Monologe fiktiver Figuren (“Schutzengel”) gestaltete Erzählungen. Auf diese Weise treten verschiedene Widerstandsaktionen gegen Hitler gemeinsam in den Fokus: Das Stauffenberg-Attentat ist eines von vielen. Statt der einen (‘großen’) Widerstands-‘Geschichte’ wird ein heterogenes Ensemble von jeweils anders perspektivierten und erzählten Geschichten präsentiert. Obwohl das uchrone Setting gelingender Attentate auf Hitler immer gleich bleibt, variieren die Texte – je nachdem, ob Georg Elser oder Henning von Tresckow erfolgreich ist – die Entwürfe von Nachkriegsdeutschland. Kontrafaktische Geschichtserzählung profiliert sich bei Kühn nicht in Form eines umfangreichen und komplexen Romanprogramms, sondern in der variablen, kombinationsfähigen Kurzform der historischen Skizze, des Genrebildes, des Monologs. Kühn legt es darauf an, verschiedene literarische Formate in eine spannungsreiche Konstellation zu bringen und auf diese Weise die Bandbreite aktuellen historischen Erzählens sichtbar zu machen. Der Widerstand gegen Hitler präsentiert sich in einem postmodernen Schreibprojekt, das der “radikalen Pluralität” von Leben und Kultur (vgl. Welsch) zutiefst verpflichtet und in dieser Gestalt mit der aktuellen Geschichtspolitik partout nicht kompatibel ist. Gleichzeitig stellen die Fiktionen das Vermögen der Literatur, deutsche Geschichte zu verhandeln, im Rahmen der unterschiedlichen Formate zur Disposition. Literatur bewegt sich zwischen dem dezidiert geschichtswissenschaftlichen Gestus der
67 Erzählungen Elser jagt Hitler in die Luft und Auf Hitler folgt Rommel und lustvollem Fabulieren in Ich war Hitlers Schutzengel und Gitler kaput? hin und her. Beide Erzählformen haben indes einen gemeinsamen Gegner: den Verlust des Fremden, Widerständigen und Unzugänglichen in der Geschichte, über deren Funktion und Bedeutung im gegenwärtigen Denken man sich keine Gedanken mehr macht, wenn man Geschichte im Stil von historicity konsumiert. In der Elser-Erzählung werden nicht nur Georg Elsers Vorbereitungen des Attentats im Münchner Hofbräuhaus minutiös geschildert (auf der Basis von Steinbach/Tuchel: Georg Elser), der Text skizziert darüber hinaus die konservativ-autoritäre deutsche Politik nach dem Friedensschluss 1940, die durch ein Zusammenwirken von Göring – als Hitlers erstaunlich populärem Nachfolger – und ehemaligen Widerstandskämpfern wie Ludwig Beck und Carl Friedrich Goerdeler gekennzeichnet ist. Da die Verschwörung vom 20. Juli auf diese Weise gar nicht stattfinden musste, treten die Attentäter übergangslos als Partner in einer antidemokratischen, zwar nicht dezidiert rassistischen, aber doch erkennbar nationalsozialistisch gefärbten Regierung auf: Sie mussten ihre in der Kaiserzeit (vgl. Kühn 54) geprägte und in den Anfangsjahren der Diktatur hitlerfreundliche Grundhaltung für diese neuen Aufgaben nicht revolutionieren. Auch wer die politische Geschichte der 1930er und 1940er Jahre sowie ihre Protagonisten gut kennt, wird angesichts von Kühns subtil arrangierten Collagen historischer ‘Fakten’ (die durchaus dem fiktiven Plot entstammen könnten) und literarischer ‘Fiktionen’ (die, im selben Stil wie die ‘Fakten’ präsentiert, überaus wahrscheinlich wirken) immer unsicherer über den Status einzelner Erzählpassagen: Manchmal betont der Text die Bruch- und Nahtstellen zwischen den ästhetischen ‘Materialien’, dann übertüncht er sie wieder virtuos. Auch in der Erzählung Auf Hitler folgt Rommel (das TresckowAttentat von 1943 glückt) verfährt Kühn ähnlich. Unter Reichspräsident Rommel amtiert Carl Friedrich Goerdeler als Reichskanzler zugunsten einer “Restauration des konservativen Europa” (Kühn 156). In beiden Fällen entwerfen die Texte Szenarien stabiler, von den erfolgreichen Attentätern ideologisch und politisch mitgetragener und -bewirkter Kontinuitäten zwischen Hitler- und Nachkriegsdeutschland. Das ist die eine, auch von Christian von Ditfurth hervorgehobene Seite. Bei Kühn gilt es jedoch noch eine zweite zu entdecken. Dadurch, dass die Alternativgeschichten ein derartiges Einvernehmen zwischen Nationalsozialisten und Verschwörern im Hinblick auf die erschreckend antidemokratische Gestaltung der deutschen Nachkriegspolitik behaupten, favorisieren sie so entschieden eine strukturale Geschichtsdeutung, dass das Ausblenden jeglicher subjektiver Intentionen eine Verlusterfahrung auslösen kann. Auf diese Weise wird bewusst, dass der Mythos vom Tyrannenmord und den edlen Widerstandskämpfern, deren Namen seit den 1960er Jahren
68 für Schulen, Plätze und Straßen benutzt wurden, trotz allem eine wichtige Bildungsfunktion in der demokratischen bundesrepublikanischen Gesellschaft besaß, und mehr noch: Im Rahmen all der Kontinuitätsphantasien wird sichtbar, welch ungeheuren Bruch die Ausführung des Attentates für den Einzelnen bedeutet haben muss. Gleichsam ex negativo wird die Aufmerksamkeit auf den individuellen Widerstandsakt als ungeheure Mordtat, die mit dem Gewissen vereinbart und deren Risiko für Familie und Freunde abgeschätzt werden musste, gelenkt. Es zeichnet Kühns Protokoll- und Exzerptstil aus, dass er Lücken produziert, die sich gleichsam im Rücken der jeweiligen Skizze durch zwei weitere Texte schließen. Abgesehen davon nämlich, dass man sich bewusst macht, was man als ‘Realgeschichte’ kennt und in welchem Verhältnis diese zur erzählten Konjekturalhistorie (‘Fiktion’) steht, bricht die Frage auf, was die Attentäter persönlich erhofften und wie sie ihre Tat ethisch rechtfertigten. Es kann daher kein Zufall sein, dass genau zwischen die beiden Erzählungen Elser jagt Hitler in die Luft und Auf Hitler folgt Rommel eine weitere geschoben ist, deren Titel auch dem Gesamtbuch gegeben ist: Ich war Hitlers Schutzengel. Damit ist weder Vorrangstellung noch Deutungsdominanz markiert, sondern einmal mehr der Montagecharakter des Erzählprojekts und seine Verpflichtung auf Heterogenität, Brüchigkeit und Differenz hervorgehoben. Seine grotesken Verfremdungseffekte erreicht der Text dadurch, dass die verschiedenen Attentate aus der imaginären Perspektive von Hitlers Schutzengel (der ihr Gelingen jeweils erfolgreich verhindert) erzählt werden. So steht zwar der Aspekt intentionaler Handlung eines Einzelnen im Fokus, wird aber an einem fiktiven Gegenspieler der historischen (in historischen Bedingungsstrukturen agierenden) Protagonisten abgehandelt. Im Zerrspiegel dieser Figur, die zu Beginn der Erzählung wie die rauchgeschwärzte Engelsstatue des Dresdner Rathauses auf das kriegsverwüstete Deutschland blickt und sich zur Rechenschaft für ihr Tun herausgefordert sieht, werden gleichsam seitenverkehrt die Skrupel, Gewissensnöte und Ängste der Attentäter zur Sprache gebracht. Im Engel materialisieren sich Energien, die Hitler und der Volksmund als glückliche Vorsehung und Schutzmacht des ‘Führers’ gepriesen, die Verschwörer als Serie fataler Zufälle wahrgenommen haben, kurzum jene unsichtbaren Gelenkstellen zwischen Ereignissen, die durch nachträgliche Interpretation profiliert werden und die feinen Grenzmarkierungen zwischen Geschichte und Alternativgeschichte ausmachen. Kühns Montagebuch verweist im Medium der ihm eingezeichneten Bruchlinien auf seinen unfertigen, ergänzungsbedürftigen Status und damit auf seine prinzipielle Offenheit gegenüber deutscher Geschichtspolitik und Gedenkkultur. Im selben Maße, wie die Geschichten einander intern spiegeln, wirkt dieser Spiegeleffekt nach außen. Da die kontrafaktische Geschichtserzählung verglichen mit dem Generationen- und Gedächtnisroman potenziell innovativere Schreibstrategien nutzt, weil sie offensiver mit den Fiktionseffekten
69 historischer Konstruktion umgeht und sich zur ironischen Reflexion von historicity bestens eignet, könnte sie im Formenensemble literarischer Gegenwartsbewältigung mehr Gewicht und Aufmerksamkeit erhalten. Uchronien greifen den medial derzeit favorisierten Gestus einer spielerischen Interaktion mit alternativen Universen (zu denen Geschichte gerechnet wird) bewusst auf, setzen ihn erzählend um und machen dieses Verfahren selbstreflexiv sinnfällig. Da sie von ganz anderen Energien gespeist werden als von denen des Erinnerns und Gedenkens, bieten sie neue Möglichkeiten der literarischen Dokumentation und Verhandlung von Nationalsozialismus, Weltkrieg und Holocaust für kommende, aus festen nationalen Erinnerungskollektiven herausgewachsene und in medialen Netzwerken über Geschichte kommunizierende Generationen. Deshalb nehmen sie sich auch des Widerstandsthemas an und profilieren es kritisch gegenüber einer kulturellen Öffentlichkeit, die sich den Gedenkroutinen durch Desinteresse entzieht. Kontrafaktische Geschichtserzählungen fabulieren aus, was nach einem erfolgreichen Attentat auf Hitler hätte geschehen können, und sie tun dies im Einverständnis mit strukturaler Geschichtsdeutung. Dadurch leuchten sie grell die Versäumnisse und Fehler der deutschen Geschichtspolitik aus, die ohne angemessene Sorgfalt und Differenzierung das Stauffenberg-Attentat als eine von heroischen Intentionen und Taten getragene Tragödie gedeutet und dieses Aktionsmuster letztlich zum Mythos verabsolutiert hat. Solchen ‘Helden’ konnte und kann eine demokratische Gesellschaft nur mit Reserviertheit begegnen, diese Begegnung wird sie jedoch umso häufiger suchen, je ambiguitätstoleranter und deutungsoffensiver die Geschichtskultur wird.
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Helmut Peitsch
Auschwitz in Reisebeschreibungen von Maxim Biller, Iris Hanika und Stephan Wackwitz Between 1987 and 2003, Maxim Biller, Iris Hanika and Stephan Wackwitz published travelogues about their journeys to Auschwitz. This reading of these texts aims at determining their contribution to the public construction of a ‘site of memory’. By analysing the role of Auschwitz in the plots of the travelogues, the perspectives of the narrators, the relation to the addressees and the references to private, public and official memories, this paper attempts to question views on the critical function of the three texts in public memory.
In “der deutschsprachigen nichtjüdischen Literatur [wird] das Vernichtungslager nicht betreten” (Ibsch 123), heißt es zusammenfassend in der Monographie von Elrud Ibsch Die Shoah erzählt. Beschreibungen von Reisen in das Gedenkstätte gewordene Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz werden ausgeschlossen aus einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung, die sich auf einen als international begriffenen Kanon von Texten beschränkt, der als Holocaust-Literatur gilt und meist die Erlebnisberichte von Primo Levi, Jean Améry und Ruth Klüger umfasst (vgl. Feuchert; Hofmann; Levi/Rothberg). Aber Reisen nach Auschwitz sind auch von der Forschung zur Reisebeschreibung in der Nachkriegsliteratur ausgeblendet worden, wo die bisher umfassendste Studie erst in dem Kapitel über die neunziger Jahre das Reisen zu “Gedächtnisstätten” erwähnt, “die an Krieg, Genozid und Zerstörung erinnern”, um, ohne Orte und Titel zu nennen, von einer angeblich neuen “Semantisierung des Raumes als Erlebniswelt” (Biernat 177) zu sprechen. Eine deutlich früher endende ‘Leerstelle’ machen Spezialuntersuchungen zu Reisebeschreibungen über Polen aus (vgl. Jäckel 140; Bulmahn 20; Breysach: Schauplatz Polen; Jung 34f.), und in der einzigen Untersuchung zu Reisebeschreibungen der fünfziger und frühen sechziger Jahre nennt Markus Krzoska immerhin zwei Besuche von Auschwitz im Jahre 1962, wobei er zu dem Reisenden aus der DDR anmerkt: Das “Schicksal der Juden wird recht deutlich erwähnt” (Krzoska 372). Hier scheinen mir Gründe für das Desinteresse der Reisebeschreibungsforschung anzuklingen: Sie liegen in zwei Annahmen, die heute weithin geteilt werden. Zur DDR wurde die herrschende Meinung in einem Bericht der Frankfurter Rundschau über eine Tagung des Fritz Bauer Instituts zur Nachgeschichte des ‘Holocaust’ formuliert: “Die Verdrängung der jüdischen Opfer korrespondierte mit der Kontinuität des Antisemitismus.” Von Auschwitz sei
74 nur “Ende der fünfziger Jahre [. . .] kurzzeitig die Rede [gewesen], aber nur [. . .] als Ort der kapitalistischen Ausbeutung, die der andere deutsche Staat fortsetzte” (Speck). Über die BRD heißt es im selben Jahr in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung anlässlich einer Tagung des Hamburger Instituts für Sozialforschung zu ‘Deutschem Erinnern’: Das Bild der Judenverfolgung und -ermordung, das in vielen Variationen seit über zwei Jahrzehnten den Weg der Republik säumt [. . .], hat der neuen Staatsräson der Bundesrepublik [. . .] moralischen Halt gegeben [. . .]. (Jeismann)
Die beiden Annahmen, Auschwitz sei in der DDR verdrängt und in der BRD ins Zentrum politischer Moral gerückt worden, scheinen die Aufmerksamkeit von literarhistorischem Material ferngehalten zu haben, das diesen nach 1989/90 für die Legitimation des ‘vereinten’ Deutschlands funktionalen ‘Prämissen’ widersprach. “Seit der Einigung der beiden deutschen Teilstaaten zu einem Nationalstaat”, schrieb Aleida Assmann 1998, “ist ein nationaler Diskurs, der die gemeinsame Annahme einer schuldhaften Vergangenheit thematisiert [. . .], nicht zuletzt im Sinne eines klaren Außenprofils ein dringendes Desiderat” (Assmann: Gleichzeitigkeit 398). Ein Jahrzehnt später resümierte der literaturwissenschaftliche Beitrag zu Peter Reichels Sammelband zur Zweiten Geschichte des Nationalsozialismus, dass erst “die politischen und mentalen Umbrüche de[s] Epochenjahre[s] 1989” die Shoah zum “integrale[n] Bestandteil literarischer Erinnerungskultur” gemacht hätten (Lühe 259); nach Irmela von der Lühe “entdeckt die deutschsprachige Literatur den Judenmord erst nach und mit der Wende 1989” (250). Aber bereits seit 1948 hatten Autoren aus der DDR und seit 1956 aus der Bundesrepublik die Gedenkstätte in der Volksrepublik Polen regelmäßig besucht und mit Reisebeschreibungen zum öffentlichen Bild von Auschwitz beigetragen: Aus dem Osten waren dies Hans Mayer (1948), Arnold Zweig (1949), Kurt Barthel (1950), Armin Müller (1953), Peter Nell (1955), Ben Budar (1962), Rolf Schneider (1974) und Peter Edel (1979), aus dem Westen Hermann Pörzgen (1956), Klara Maria Faßbinder (1960), August Scholtis (1962), Arnulf Baring, Bernd Naumann und Peter Weiss (1964/65) sowie Horst Krüger, Günther Anders und Erich Fried (1967). Alle Autoren publizierten Beschreibungen eines Ausflugs ins Museum – so der Titel eines 1959 zuerst auf polnisch erschienenen Textes von Tadeusz Rózewicz‚ der zwar in der DDR, aber nicht in der BRD gedruckt wurde. Die Fragen, die Rózewicz aufwirft, stellen sich auch in den anderen Texten. Denn ein unpersönlicher Erzähler beobachtet, wie sich Ausflügler und Museumspersonal verhalten, primär im Dialog angesichts der Objekte ihrer unterschiedlichen Aufmerksamkeit. Als Leitmotive erweisen sich einerseits das Verhältnis von “Sehen, Erzählen und Erklären” (Rózewicz 81), andererseits das Verhältnis des im Museum Sichtbaren zu dem aus anderen Medien – Lektüre (79), Fotos
75 (85) und Film (80) – Bekannten. Wenn Rózewicz’ Text auch die Rede problematisiert, etwas sei “nur ein Symbol” (81), verzichtet er doch nicht auf ein abschließendes Bild: “Auf dem Nachbargleis rollte ein Güterzug vorbei” (89), um, wie der DDR-Herausgeber interpretiert, seinen Adressaten “Unruhe” über die “Frage” zu vermitteln, “wie Auschwitz den Nachgeborenen [. . .] vermittelt werden solle” (Olschowsky 204). Obwohl Rózewicz vor allem auf die Schwierigkeiten der Vermittlung aufmerksam macht, entspricht das Insistieren auf dem Sprechen über die Bedeutung des am Ort der Vernichtung Sichtbaren einer Verallgemeinerung, die James E. Young präzise bezeichnet hat, und zwar nicht nur für Auschwitz: For their memory, these memorials depend completely on the visitor. Only we can [. . .] fill the empty spaces of the memorial, and only then can monuments be said to remember anything at all. In this way, we recognize the essentially dialogical character of Holocaust memorials, the changing faces of memory different visitors bring to them. (Young 37)
Von einer solchen Dialogisierung der von der Gedenkstätte vermittelten Erinnerung sieht Ruth Klüger ab, wenn sie auf der ‘Irrelevanz des Ortes’ besteht: “No landscape [. . .] can recall what happened, for the stones don’t cry out?” (K. Angress 250). Deshalb “verkennt” für Klüger der Besuch einer Gedenkstätte, auch der von Auschwitz, “die Beliebigkeit der Orte, die als Schauplätze nur die Kulisse eines Verbrechens darstellen” (Breysach: Schauplatz Polen 175): “What was done there could be repeated elsewhere, [. . .] somewhere on earth, the place irrelevant, so why single out the sites that now look like so many others?” (K. Angress 250). Gegen eine solche Verabsolutierung liefern Reisebeschreibungen nicht nur den Nachweis, welchen Dialog Besucher in dem zum Museum gewordenen Konzentrations- und Vernichtungslager geführt haben, sondern vor allem, wie der Ort Auschwitz durch die in der Reisebeschreibung dargestellte Bewegung der Reise mit anderen Orten verbunden worden ist – nicht nur flächenhaft zu einer Karte, zweidimensional zu einer Topographie, sondern über die räumliche Perspektivierung hinaus in der Dimension der Zeit verortet: einer Gegenwart mit Vergangenheit und Zukunft. Die Konsequenzen dieser Mehrdimensionalität des Genres Reisebeschreibung für die Analyse der Texte betont Ottmar Ette in seiner Studie Literatur in Bewegung, nämlich “danach [zu] fragen, innerhalb welcher Dynamik und Bewegung sich diese Orte ansiedeln und welche Bewegung ihre eigene Modellierung wiederum auslöst” (Ette 63). Die Fragestellungen, unter denen drei zwischen 1987 und 2003 in der Bundesrepublik publizierte Reisen nach Auschwitz analysiert werden sollen, ergeben sich aus dem Wunsch, ihren Beitrag zur öffentlichen Konstruktion eines ‘Erinnerungsorts’ konkret-historisch zu bestimmen: Wie perspektiviert der Reisende-Erzähler den topographischen Ort Auschwitz im
76 Raummodell seiner Reise in welcher Beziehung zum Adressaten? Welche Gegenstände der Wahrnehmung in der Gedenkstätte werden wie mit eigenen Erinnerungen und den Erinnerungen anderer verbunden, einerseits auf der Ebene des Reisens, andererseits auf der Ebene des Erzählens über die Reise? Maxim Billers Beschreibung “[u]nsere[r] zehntägige[n] Exkursion in die Vergangenheit, die uns einiges über die Gegenwart und wohl auch die Zukunft lehren sollte” (Biller 128), setzt mit Krakau ein, wo der Erzähler erstmals vom KZ träumt – im Gegensatz zu seiner Mutter, die in Frankfurt am Main gerade nicht mehr wie noch in Moskau und Prag von der Verfolgung träumt. Das den Text bestimmende Wir präsentiert sich als fünfzig junge Juden, deren Eltern so verrückt gewesen waren, nach dieser ganzen Holocaust-Scheiße aus Rußland, Polen, Rumänien, Israel, Südamerika oder Frankreich gerade nach Deutschland zu gehen, um uns dort zu zeugen und großzuziehen [. . .]. (116)
Unter Aussparung der nur benannten Stationen Łód´z und Wrocław werden nacheinander die Besuche von Auschwitz I, Birkenau und Majdanek berichtet, wobei ausdrücklich vergleichende Vorausdeutungen eine “emotional[e]” (126) Steigerung betonen. Von Warschau, wo die Gruppe weder an der “offiziellen polnischen” noch an der Solidarno´s´c-“Veranstaltung” (129) zum 45. Jahrestag des Ghetto-Aufstands teilnimmt, erfolgt die Rückreise mit der Bahn nach Frankfurt: “Wir waren wieder zu Hause” (130), ist der letzte Satz. Iris Hanikas dreitägige Reise an den Ort in Polen (1998) führt mit der Bahn von Berlin-Lichtenberg nach O´swie˛cim, wo sie am ersten Abend die von Aktion Sühnezeichen initiierte Jugendbegegnungsstätte, am Vormittag des zweiten Tages das Stammlager und am Nachmittag Birkenau besucht, und anschließend am dritten Tag von O´swie˛cim über Katowice und Wrocław, wo sie jeweils kurz aussteigt, nach Berlin zurück. Entsprechend lauten die beiden letzten Sätze: “Zwei Minuten vor Mitternacht bin ich wieder in Berlin. Ich war keine drei Tage fort” (48). In die im Präsens gehaltenen Notizen von allen Stationen der Reise ist vor der Besichtigung des Stammlagers eine Vorausdeutung auf die Rückfahrt – über das Verhalten der Lehrer einer Jugendgruppe (38) – eingefügt und zweimal gibt es einen Rückgriff auf den ersten Satz des Textes, der im Anschluss an die Fahrplanzeitangaben lautet: “denn unsereins fährt freiwillig hin und wird nicht dortbleiben, sondern wieder zurückkehren, das unterscheidet unsereins von den Opfern und verbindet unsereins mit den Mördern” (27, vgl. 33, 41). Der Satz belegt, dass von allen früheren Reisebeschreibungen über die Gedenkstätte Auschwitz nur Peter Weiss’ Meine Ortschaft als Prätext für die Autoren und Autorinnen seit den achtziger Jahren fungiert: “Ich bin hierher gekommen aus freiem Willen. Ich bin aus keinem Zug geladen worden. Ich bin nicht mit Knüppeln in dieses Gelände getrieben worden. Ich komme
77 zwanzig Jahre zu spät hierher” (Weiss 116). Wie Barbara Breysach Hanikas Entgegnung auf Weiss als “Anspielung auf den Gedenkstätten-Tourismus” deutet (Breysach: Schauplatz und Gedächtnisraum Polen 333), könnte auch der Titel von Billers Reisebeschreibung als eine solche verstanden werden. Biller gibt im Titel Auschwitz sehen und sterben ein Beispiel für die während der Führung durch Auschwitz I von der Gruppe gezeigte „Despektierlichkeit und Lästerei, welche [. . .] dem Selbstschutz gedient hatte“ (Biller 122): Harry erzählte zum fünften Mal lachend von seinem Freund Yoram, der vor vier Jahren schon einmal in Auschwitz gewesen war und dem seine fürsorglichen Eltern verboten hatten, hierher wiederzukommen, denn sie meinten, einmal Auschwitz genüge vollkommen. Auf Harrys Geschichte reagierte Leo mit der humorvollen Bemerkung ‘Auschwitz sehen und sterben’. (122f.)
Die Gemeinsamkeit von Biller und Hanika in der über den Tourismus erfolgenden Abgrenzung von Weiss ist die Verbindung der Reisenden mit Mördern einerseits, des Reisenden mit Eltern, die nicht in Auschwitz starben, andererseits. Für Weiss, der sich als für diesen Ort “bestimmt” und ihm “entkommen” (Weiss 114) darstellt, wird Meine Ortschaft Auschwitz zum möglichen festen Punkt in der Topographie des Lebens dadurch, dass es als ‘Bestimmungsort’ von den sich ständig verändernden “Durchgangsstellen” (114) dieses Lebens unterschieden wird. Der reisende Erzähler benutzt für das “Grundmuster meines Umherwanderns” (114) das Bild der Bahnstrecke, wobei auffällt, dass aus dem fahrenden Zug gerade auch der Geburtsort Nowawes erscheint. Stephan Wackwitz reist im Jahr 2000 mit seinem Vater in dessen Geburtsort “Anhalt, ein [. . .] Dorf knapp zehn Kilometer von Auschwitz” (Wackwitz 8): “Heute steht das Pfarrhaus von Anhalt an einer viel befahrenen Zubringerstraße von der Autobahn Teschen-Kattowitz zu den Auschwitzer Gedenkstätten.” (9) Der Ortsname Auschwitz fällt schon im ersten Satz des ersten Kapitels (7), aber so, wie hier die Zeit des Vernichtungslagers ausgeschlossen wird, wenn es wenig später heißt: “Noch in den dreißiger Jahren hat man sich [. . .] erzählt” (7), so schließt der “Familienroman” insgesamt den Ort von der Darstellung aus. Auschwitz ist nur ein Punkt der Durchfahrt auf einer Strecke nach Anhalt, deren Ausgangspunkt und Etappenziel ungenannt bleiben: Woher Vater und Sohn mit dem Auto zum ehemaligen Pfarrhaus des Großvaters fahren, wird nicht erzählt. Auschwitz wird auf der Histoire-Ebene des Textes noch ein zweites Mal genannt, wiederum als Durchgangs- von einem ungenannten Ausgangsort zum Ziel Anhalt, damit der Erzähler einem Polen das Wort geben kann, dem Hausmeister der Evangelischen Kirche Anhalt/Holdunów, der mir an einem Frühlingstag des Jahres 1999 das Anhalter Pfarrhaus gezeigt hat und danach in meinem Auto nach Pless und dann die paar Kilometer nach Auschwitz mitgefahren ist. (10)
78 Der Erzähler schweigt über seine Reaktion auf die Erzählung des Polen, wenn er mitteilt: “der alte Mann auf dem Beifahrersitz [. . .] beobachtete meine Reaktion aus den Augenwinkeln” (10). Von dem Polen aber erwartet der Erzähler, was er dem Leser verweigert: Als Kinder seien sie auf eine nahe Anhöhe gestiegen und hätten den Rauch in der Entfernung aufsteigen sehen. Ich fragte ihn, was sie sich damals dabei gedacht hätten. ‘No, dass da wern Menschen verbrannt’. (10)
Je knapper der Ort Auschwitz auf der Handlungsebene erscheint, umso ausgreifender wird er auf der Discours-Ebene gedeutet. Im ersten Kapitel führt ein Erzählerkommentar einen radikalen Unterschied ein: zwischen der “Gegend”, durch die “meine Großeltern, meine Tanten, meine Onkel und mein Vater” “gegangen” seien, und einer Gegend, die “fast jedem Menschen auf der Welt etwas ganz anderes bedeutet als ihnen” (10). Das ‘ganz andere’ bezieht sich nicht nur auf den Wegzug der Familie im Jahre 1933, sondern vor allem auf die Nachkriegszeit: Sie kamen hin, als dort noch nichts Bemerkenswertes passiert war. Als sich das Herz der Finsternis auftat, waren sie schon wieder weg. Sie haben nie darüber gesprochen, dass der Schauplatz ihrer Kindheit und der Ort des Jahrhundertverbrechens einen längeren Spaziergang und ein knappes Jahrzehnt voneinander entfernt sind. Vielleicht haben sie nicht darüber nachdenken wollen. Jeder Mensch hat ein Recht auf eine geschichtslose Kindheit. (10f.)
Der behaupteten ‘ganz anderen’ familiären Bedeutung der ‘Gegend’ entsprechend, begründet der Erzähler in dem Kapitel, das den Titel Ein unsichtbares Land trägt, warum für ihn als Protagonisten eine Reise zur Gedenkstätte Auschwitz ausgeschlossen ist. Das Kapitel setzt die autobiographischen Aufzeichnungen des Großvaters und den Frankfurter Auschwitz-Prozess gegeneinander, um das Buch über die Reise mit dem Vater zum Pfarrhaus des Großvaters als die Beendigung des vom gesellschaftlichen Reden herbeigeführten familiären Schweigens zu motivieren. Im Rückblick auf die eigene Kindheit in den sechziger Jahren schreibt der Enkel dem Großvater “mit seinen Anhalter Erinnerungen ein literarisches Gegenbild zu jenen entsetzlichen Frankfurter Augenzeugenberichten” zu: “Fritz Bauer zum Trotz, seine eigene Erinnerung” (144). Wenn der Erzähler erklärt, weshalb die Geburtsgegend des Vaters ihm zu “einem unsichtbaren Land” (148) wurde, bringt er die einander entgegengesetzten familiären und gesellschaftlichen Bedeutungen miteinander in Beziehung; für letztere benutzt er eine Metapher, für die er etwas kühn, aber für den Duktus des Textes kennzeichnend Allgemeingültigkeit beansprucht: ‘Auschwitz’ ist heute für alle Menschen überall auf der Welt das Wort für eine historische Antimaterie, die im zwanzigsten Jahrhundert zum ersten Mal erschienen
79 und auf die Menschen losgelassen worden ist. Der Name dieses österreichischen Landstädtchens bezeichnet uns ein schwarzes Loch in der Historie der modernen Welt, in das alles hineinstürzt, was in seine Nähe kommt. (138)
In einem Kapitel, das vorherrschend in der Vater und Sohn einschließenden ersten Person Plural – “mein Vater und ich” (148) – über den Besuch in Anhalt berichtet, beschreibt der Erzähler die Wirkung des auf den “Beginn der sechziger Jahre” datierten Aufreißens des ‘schwarzen Lochs’ auf die Familie: zugleich [mit dem ‘schwarzen Loch’, H.P.] war in die Gespräche unserer Familie ein kleines, bedeutsames Schweigen eingeschleppt worden. Je deutlicher der Gesellschaft um uns wurde, auf welches Ereignis sich dieses Schweigen bezog, desto umfassender hat es sich unter uns ausgebreitet, desto mehr Themen und Gegenstände, Personen und Orte wurden von ihm erfasst – bis wir offenbar nur noch unter Einhaltung strenger Regeln, Sicherheitsabstände und Rituale überhaupt über etwas reden konnten. (148)
Dagegen setzt der Besuch in Anhalt im Juli 2000 die Gespräche von Vater und Sohn, etwa über “deutsche Inschriften” auf dem Friedhof, insbesondere auf dem Kriegerdenkmal, das “Andreas Wackwitz noch gesehen hat”: “Dem Andenken unserer Gefallenen 1914–1918” (149). Das Gespräch der drei ausschließlich männlich vertretenen Wackwitz-Generationen beendet das familiäre Schweigen, indem die ‘Nähe’ des ‘schwarzen Lochs’ der ‘Historie’ vermieden wird, denn so schließt sich das “diachrone Generationenmodell” zum “biologische[n] Kontinuitätsmodell” (Jahn 596). Im Unterschied zu Wackwitz, dessen Text von der strikten Entgegensetzung von Familie und gesellschaftlichem Reden bestimmt wird, beziehen sich sowohl Biller als auch Hanika explizit auf gesellschaftliche Erinnerungsgruppen und -träger in der Bundesrepublik, aber auch in Polen. “[M]einen ganz privaten Beitrag” zum Historikerstreit (Biller 127) nennt Biller die “Erkenntnis” (128), die er seinem Besuch des Krematoriums in Majdanek zuschreibt und auf die er im Bericht über Birkenau vorausdeutet: Ich könnte [. . .] einiges tun, um [. . .] etwas von den Gefühlen, die uns im AprilPolen bewegten, zu vermitteln. Aber ich will woanders hin, ich will weiter, ich will bis zu der Rationalität und Willkür und Metaphysik hinter den Gefühlen vordringen, und der Weg dahin führt mich [. . .] direkt nach Majdanek. (124)
Im Blick auf einen “Glasbehälter, dessen Inhalt aus Menschenknochen und Menschenschädeln bestand”, einem Blick, der “all diese Knochen solange zu fixieren” sucht, “bis ich sie mir alle, jeden einzelnen, für immer gemerkt hätte”, erweist sich dem Besucher Majdaneks, “was die Einzigartigkeit des Nazi-Verbrechens ausmacht” (127). Billers Erklärung des “Judenmord[s]” zum “rituelle[n] Verbrechen, das immer möglich ist” (128), rekurriert auf
80 den Menschen als “ein denkendes Tier”, dem auch in der Moderne, unter den Bedingungen von Aufklärung, Humanismus und Vernunft, “eine quasi-religiöse Handlung” aus “längst verloren geglaubtem irrationalen Blut-Atavismus” (128) möglich sei. Billers Betonung der ‘Privatheit’ seines ‘Beitrags zum Historikerstreit’, der den umstrittenen Begriff der ‘Einzigartigkeit’ übernimmt, entspricht seiner negativen Bewertung des Streits insgesamt, ohne dass Positionen unterschieden würden, als “niederträchtig” (127). Ähnlich pauschale Bewertungen bestimmen die Beziehung zum Adressaten des Textes, in deren Gebrauch von Ironie Unterschiede aufgehoben werden: “Es ist hier nicht der Ort, um noch einmal vor den Augen der Unwissenden, der Gutwilligen oder Bösartigen die Schrecken der Judenverfolgung aufzurollen.” (124). Gleichermaßen wird ihnen vor dem Bericht über Auschwitz I unterstellt: “viele werden sich schon seit längerem gefragt haben: Und wie gefiel es den jungen Juden in den KZs?” (120). Insbesondere gegen die ‘Gutwilligen’ richten sich Verallgemeinerungen über gesellschaftliche Erinnerung in der Bundesrepublik, so wenn der Erzähler seiner Mutter das Wissen zuschreibt: Deutschland ist der Ort des Vergessens, und in Deutschland kleistern sie dir mit ihrer falschen Reue und Anteilnahme, mit ihren krankhaften Philosemitismus und ihrer verfickten ‘Trauerarbeit’ das Hirn zu. (116)
Die Ironie richtet sich aber auch gegen die Position, die der Erzähler mit der Gruppe zunächst im Wir einzunehmen scheint: “Wir ringen, noch ohne es zu wissen, nach einer glasklaren jüdischen Selbstdefinition” (117). Gerade die Antwort auf die dem Adressaten unterstellte Frage, wie es ‘den jungen Juden’ in Auschwitz ‘gefallen habe’, wird mit einem Vorbehalt gegeben: In Auschwitz I gefiel es uns nicht besonders, denn [. . .] die meisten Auschwitz I-Opfer [waren] keine Juden gewesen, und wir waren ja gekommen, um den jüdischen Tod zu suchen, was auch richtig so war und grenzenlos legitim. (120f.)
‘Grenzen der Legitimität’ werden durch die Darstellung der Reaktionen der Reisegruppe auf Antisemitismus in Polen gezogen. Während “unser erstes authentisches antisemitisches Erlebnis” (118) als eines, “das im schamhaftverklemmten Post-Holocaust-Deutschland absolut undenkbar gewesen wäre”, vorausdeutend dahin verallgemeinert wird, dass sich in uns für ein paar Tage das Feindbild verschob: Die Polen waren es nun, für eine Weile, denen unser ganzer alttestamentarischer Zorn galt, und wir versäumten es nicht, von jetzt an, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, auf sie zu schimpfen [,] (119)
lässt Biller seine Reisegruppe im Rückblick auf der Rückfahrt ihre Einstellung zu Polen kritisch reflektieren:
81 es war irgendwo zwischen Breslau und Görlitz, als unter einigen von uns die längst fällige Diskussion darüber entbrannte, ob es richtig gewesen war, die ganze Zeit über nur auf die Schweine-Polen zu schimpfen, die uns ja in der Tat mit einem frischen, authentischen Antisemitismus beschenkt hatten, während es so aussah, als hätten wir vergessen, wer die KZs erfunden und den Holocaust angezettelt hatte. Jetzt also endlich, nach einigem polemischen Hin und Her, erinnerten wir uns in einem kameradschaftlichen Konsens, daß es die Deutschen gewesen waren: allein die Deutschen. Und wir begriffen nun auch, weshalb wir ihre Schuld in den letzten zehn Tagen so kunstvoll verdrängt hatten: Wir lebten, wieder, in ihrem Land. (130)
Die Entgegensetzung von ‘wir’ und ‘sie’ hindert letztlich auch den Erzähler daran, das – nicht nur im durchgängigen Gebrauch von ‘Polacken’ bewiesene – ‘Deutsche’ der kritisierten Einstellung zu reflektieren. Seine Teilhabe am offiziellen Reden von der deutschen Nation belegt ein für das Raummodell der Beschreibung einer Reise im April 1987 von Frankfurt nach Polen und zurück aufschlussreiches Detail im Schlussabsatz: “Gegen Mitternacht dann passierten wir die Grenze zwischen Polen und der DDR. Es wurde schon hell, als wir deutsches Gebiet erreichten” (131). Billers Deutschland war die Bundesrepublik. Auch in Hanikas Reisebeschreibung beschränkt sich – wie bei Biller – der autobiographische Bezug zur Familie auf die Mutter; er umfasst nur einen Satz. “Immer muß ich daran denken, daß meine Mutter in diesem selben Frühjahr 1944 ein neugeborenes Baby war” (Hanika 46), fügt die Erzählerin in Klammern den Notizen über ihren Gang durch Birkenau hinzu, der von vornherein in Gegensatz zu dem durch das Stammlager gesetzt wird: Hier [. . .] bin ich alleine. Ganz alleine gehe ich in die Baracken hinein. Ganz alleine wird mir übel von dem Mief, den über 50 Jahre Lüften nicht beseitigen konnten. Ganz alleine sehe ich, wovon ich bislang nur gelesen habe: wie eng es ist und wie dunkel; wie nackt. Während ich in einer der Baracken stehe, kommt doch noch jemand anderes herein, und ich kriege sofort wieder Angst und stürze hinaus. (45)
Die Wiederholung bezieht sich auf die “Flucht” aus der “ständige[n] Ausstellung” im Stammlager, in deren Beschreibung die “Haufen” von Ausstellungsgegenständen und die “Massen” von “immer mehr Menschen” syntaktisch gleichgeordnet werden: “ich will hinaus, hinaus! [. . .] Hier ist eine Stätte des Tourismus.” (40) Die Abgrenzung vom Tourismus begründet den Versuch, “abweichende [. . .] Wege [. . .] [zu] gehen” (46), etwa dadurch, dass die Reisende um 9.30 Uhr das Stammlager besucht: “Noch bin ich alleine hier, noch ist alles leer.” (39) Das Verhältnis der Reisenden zum Tourismus bestimmt auch die Bezugnahme auf gesellschaftliche Erinnerungsgruppen und -träger in ihrer Beschreibung – einerseits nimmt sie die Hilfe eines “Mann[s] vom Aktiven Museum” (30) in Anspruch, indem sie sich über die Anreise beraten lässt,
82 andererseits wendet sie die Äußerung einer “Mitarbeiterin der Aktion Sühnezeichen” über ein “Workcamp” im “Oswiecimer Güterbahnhof” als Mittel, um wenigstens einen “Hinweis” auf die “sogenannte ‘alte Judenrampe’” außerhalb des Lagers zu erreichen, ins Prinzipielle: “Vom Arbeitslager zum Workcamp – das wäre doch ein hübscher Titel für die entsprechende Presseerklärung, denke ich mir, oder sollte es heißen: Vom Ort des Grauens zum Museumsdorf – Auschwitz im Wandel der Zeiten?” (46). Insbesondere die Darstellung der “von der Aktion Sühnezeichen erbaute[n] Jugendbegegnungsstätte” (35) wird von dem Widerspruch durchzogen, der von einer ironisierenden und einer starke Gefühle undistanziert mitteilenden Schreibweise hervorgebracht wird. Ironisiert, zum Teil ausdrücklich (“Das sage ich jetzt ironisch”, 42), wird von der Erzählerin ihr Reden von Scham und Entschuldigung (28, 30), etwa wenn sie sich für den Gebrauch des Wortes Schrecken ohne drei zu Formeln gewordene Adjektive entschuldigt: “unvorstellbar”, “unaussprechlich”, “unbeschreiblich” (44). Auf der anderen Seite stellt sie ihre eigenen Gefühle heraus: das Sich-Grauen vor der Reise (28), ihr Herzklopfen und Herzrasen (29f.), Zittern und Hämmern im Herzen (39, 42), ihre Angst (31, 45) und ihr Nervenflattern (33), ihr Weinen (36) und ihre Hochspannung (38). Schon die Ankunft in O´swie˛cim/ Auschwitz wird auf ein Einerseits/Andererseits gebracht, indem die Metapher des “schwarze[n] Loch[s]” (33) eingeführt wird, die in der Beschreibung der Jugendbegegnungsstätte wiederholt aufgenommen wird (und die Stephan Wackwitz von Iris Hanika übernommen haben könnte): Einerseits gibt es diesen Ort tatsächlich, andererseits ist er ein schwarzes Loch auf der Erde. Einerseits kann man hier ankommen, andererseits wird man von diesem Ort eingesogen (er ist das Staubsaugerloch der westlichen Welt). Einerseits habe ich mir eine Rückfahrkarte Berlin-Oswiecim gekauft, andererseits flattern mir die Nerven im blanken Hans. Einerseits ist es pervers, andererseits ist jetzt alles normal. (33)
Auffällig ist, dass mit der letzten Entgegensetzung ‘Normalität’ in eine Reihe mit dem Bild des schwarzen Lochs gerät, während ‘Perversität’ der Hin- und Rückfahrt zum tatsächlichen Ort zugeordnet wird. Im Bericht über Gespräche in der Jugendbegegnungsstätte wird diese als “eine Stätte des Tourismus” dargestellt, in der über “das Loch, das ich mit Reden nicht füllen kann”, “gerne Worte gebreitet wurden” (34): Und nun sind die jungen Menschen hier und stellen um das riesengroße Loch herum die Stühle immer an der Wand lang zum Kreise auf, um dem ‘Zeitzeugen’, der sie am Tage schon durchs Lager führte, noch Fragen stellen zu können, bevor sie sich dann dem Tischtennisspiel, dem Abhören der mitgebrachten Musikkassetten, dem Zigarettenrauchen sowie dem Biertrinken widmen. (35)
83 Die Erzählerin gesteht ihre Aggressivität gegenüber diesen Touristen auf eine Weise ein, die nicht nur an Billers Charakterisierung des Adressaten seiner Reisebeschreibung erinnert: unwissend, gut- oder böswillig, sondern auch die Übereinstimmung der Reisenden mit der Funktionsbestimmung des Gedenkstätten-Tourismus zeigt. “Nie war ich aggressiver gegenüber anderen Deutschen” (34), kommentiert sie ihre ironisch-satirische Beschreibung der Jugendlichen: Angekommen sind gutwillige junge Menschen, die bereit sind, sich mit ihrer Volkszugehörigkeit zwecks Bewältigung derselben auseinanderzusetzen. Vielleicht sind sie auch nicht dazu bereit, und es denken nur ihre Jugendgruppenleiter, daß sie zubereitet werden müßten, um zum Nationalkuchen etwas unbekümmerte Vollwertigkeit beizusteuern, denn nicht allein durch radikale Umstellung auf Vollwertkost [. . .] wird deutsche Vollwertigkeit erreicht, vielmehr muß sie ergänzt werden durch die allerdemütigste Erinnerungsarbeit. (34f.)
Während die Erzählerin an zwei Studenten hervorhebt, dass sie “im Gegensatz zu mir genau den Unterschied zwischen sich und der Jugendgruppe ausmachen” könnten (33), der sie sich angeschlossen und wie diese den Zeitzeugen nicht nach seinem Namen gefragt (34) haben, betont sie zum Abschluss des Berichts über das Gespräch mit Kazimierz Smolen: “Daß ich mit dieser Jugend nicht verbunden bin, wird dem ‘Zeitzeugen’ erst klar, als ich ihn nach seinem Namen frage” (37). Die bis zur “Bezeichnung ‘das Neuschwanstein der guten Menschen’” (39) zugespitzte Abgrenzung der Reisenden von deutschen Auschwitz-Touristen, die sich “die Augen [. . .] mit der Kamera zuhalten” (41f.) und “sich blind reden” durchs Vorlesen von Zitaten aus dem offiziellen Führer der Gedenkstätte, dem “Informator” (42), profiliert sich ex negativo aus dem Kommentar zur letzten Notiz über das Gespräch der Jugendlichen mit dem Zeitzeugen: Am Ende fragt er, wie nach allen seinen Antworten: ‘Verstanden oder nicht verstanden?’, und wie nach allen seinen Antworten habe ich die Befürchtung, sie wäre nicht verstanden worden. (Man sieht nur, was man weiß, und man kann nur nach dem fragen, was man gesehen hat.) (37)
Hanikas Beschreibung betont das eigene Wissen, Sehen und Fragen, aber auf den bereits zitierten Satz zur Rückfahrt folgt einer, der das den Gedenkstätten-Touristen vorgeworfene Verhalten übernimmt: “Nachdem ich in Auschwitz war, darf ich mir Polen nunmehr touristisch erschließen. Heute habe ich frei von Volkszugehörigkeitsabarbeitung!” (46). Hanika kommentiert diesen Ausrufesatz allerdings mit einer Frage an den Adressaten: “(Ist das die Antwort?)” (46). Die Frage entspricht der einzigen Leseranrede in der Höflichkeitsform: “Sie können alles prüfen” (29).
84 In einem abschließenden Schritt möchte ich über den in den Texten von Biller, Hanika und Wackwitz explizit aufgegriffenen erinnerungskulturellen Kontext hinausgehen und für den Zeitraum des Erscheinens der drei Texte zwischen 1987 und 2003 Positionen von Erinnerungsgruppen und -trägern zum Vergleich heranziehen, um Forschungsmeinungen zur Positionierung der drei Reisenden in der Öffentlichkeit zu überprüfen. Zwei Monate vor Billers Polenreise fand in Frankfurt am Main am 31. Januar des Jahres 1987 ein Symposium der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten) zur ‘Historikerdebatte’ statt: “Auschwitz-Buchenwald-Dachau – bewältigen oder verdrängen?” Vertreten waren Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und der Aktion Sühnezeichen (AS) sowie einzelne Sozialdemokraten, insbesondere IG Metall-Funktionäre. Auf dem Symposium kam es zu einer Kontroverse über die Begriffe einer nationalen, antifaschistischen Identität und eines linken Patriotismus. Die Vorsitzende des Internationalen Auschwitzkomitees Esther Bejarano hatte in ihrem Eröffnungsbeitrag Vergangenheitsbewältigung definiert: “die gesellschaftlichen Bedingungen zu bewältigen, die zum Faschismus, Krieg und Auschwitz führten. Erst wenn dies zur Vergangenheit gehört, wird die Vergangenheit ruhen” (Bejarano). Im Unterschied zu diesem auf gesellschaftliche Veränderung zielenden, kritischen Begriff von Vergangenheitsbewältigung hatte die Mitarbeiterin von AS in der 1986 eröffneten Internationalen Jugendbegegnungsstätte in O´swie˛cim (gefördert vom Bundes- und den Länderjugendministerien, vgl. August 78) den Akzent auf ein, wie der Hauptreferent Micha Brumlik in der Diskussion kritisierte, “positive[s] Leitbild” (Brumlik) gelegt. Susanne Willems bestimmte die Funktion von “Gedenkstättenfahrten” nach Auschwitz als Beitrag zur Schaffung “antifaschistischer Identität” (Willems). Über das “Nachdenken am Tatort Auschwitz” sagte sie: Wenn ich nicht dort bin, befasse ich mich mit dem Ergebnis des millionenfaches Völkermordes, und diese Zahlen sind unfaßbar. Aber am Ort Auschwitz frage ich: Wie sind die Schritte dorthin verlaufen. Und wenn ich sie nachvollziehe, kann ich sie auch als solche erkennen, die hätten verhindert werden können. (Willems)
Weil Willems im Begriff der ‘Begegnung’ in der Gedenkstätte nicht nur das ‘Nachvollziehen’ der Vergangenheit betonte, sondern auch die “Möglichkeit, die vielen Stereotypen des Antikommunismus, mit dem hierzulande die Hochrüstung legitimiert wird, aufzubrechen durch konkrete Erfahrungen in der Begegnung mit den Menschen” (Willems), ging ihr Beitrag nicht im Plädoyer für eine “familiengebundene [. . .] Identität” (Willems) auf. Aber die Kritik von Brumlik und Arno Klönne hob auf das Problematische ihrer identitätspolitischen Bestimmung der Funktion von Reisen nach Auschwitz ab: “Ich
85 habe [. . .] selbst erlebt, daß dieser Ort Auschwitz mich zurückverweist [. . .] an die eigene Familie. [...] Das ist also der Ort, von dem die Generation der Großeltern behauptet, sie hätte davon nichts gewußt.” (Willems) Während Brumlik die nationale, antifaschistische Identität von der implizierten Kontinuität eines ‘anderen Deutschland’ her in Frage stellte, verwies Klönne auf den ‘gefährlich’ unklaren “Rahmen” des Begriffs Nation, d.h. die Infragestellung eines “friedliche[n] Nebeneinander[s] von DDR und Bundesrepublik” (Klönne). Brumlik folgerte aus dem Hinweis, “das Verhältnis von verfolgten Juden und Kommunisten ist keineswegs so ungebrochen gewesen”: die Aufgabe der Linken ist es nach wie vor, zersetzend, und das heißt analytisch, aufklärerisch zu wirken, dabei soziale Konflikte zu artikulieren, die Vergangenheit festzuhalten. [. . .] Ich glaube, daß das beste Mittel zur Immunisierung gegen Faschismus aller Art aufgeklärtes, skeptisches, selbstkritisches Denken ist. (Brumlik)
Vom 7. bis 9. November 1987 veranstaltete die Westberliner SPD eine Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz – fast dreißig Jahre, nachdem ihre Jugendorganisation, die Falken, 1959 die erste Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz (vgl. Assmuss 140) unternommen hatte, und mehr als zwanzig Jahre, nachdem die ersten Gruppen, 1965 aus der DDR, 1967 aus der BRD, der Aktion Sühnezeichen nach Auschwitz gereist waren, bei deren Gründung der Vorsitzende des Rats der (damals noch nicht geteilten) Evangelischen Kirche in Deutschland, der spätere Westberliner Bischof Kurt Scharf, die ‘Einsicht’, die bei den ‘jungen’ Reisenden ‘durchbreche’, so beschrieb: “Wir gehören in die Solidarität, in die Einheit des Volkes, das dieses Ungeheuerliche verbrach. Wir gehören unter seine metaphysische einmalige Schuld. [. . .] Hier kann ein neuer Anfang werden nur durch Vergebung . . .” (Skriver 30). Der Landesvorsitzende und spätere Regierende Bürgermeister Walter Momper erklärte 1987 in seiner Rede in der Gedenkstätte Auschwitz: “Jeder berliner schüler von der 9. klasse an soll einmal in seiner schulzeit ein konzentrationslager besucht haben” (Momper 18). Momper begründete diese Forderung als Teil des sozialdemokratischen Wahlprogramms: “die antifaschistische erziehung unserer kinder ist uns ein zentrales anliegen. Sie ist die allererste lehre, die wir aus den verbrechen des Dritten Reiches zu ziehen haben. Damit so etwas nie wieder geschehen möge” (18). Die Reise in ein Museum gewordenes Lager wurde als wichtiger Teil der durch Erziehung staatlich zu vermittelnden Lehre aus der deutschen Geschichte angesehen: “Wir können heute nur dann politisch richtig handeln, [. . .] wenn wir uns der geschichte unseres volkes stellen” (18). Auf Mompers Forderung berief sich die Zeitschrift der Westberliner GEW, als sie die Reisebeschreibung eines Hauptschullehrers, der mit einer Klasse nach Auschwitz gefahren war, und den Bericht eines Gymnasiallehrers über
86 das Scheitern einer Reise nach Auschwitz abdruckte. Josef Maria Metzkes tagebuch einer fahrt nach Auschwitz/Polen ist bestimmt durch den Blick auf die Kinder: “Was geht in einem 15jährigen vor”, zum Beispiel angesichts der Berge von Schuhen? (Metzke 14). Es ist ein Blick, der von solchen Widerständen weiß, wie sie sich in der anfänglichen Übernahme einer Parole zeigten, die ein – im Einvernehmen mit den Eltern von vornherein die Reise ablehnender – Schüler ausgegeben hatte: “gräber putzen in Auschwitz” (13). Die Verhinderung der Reise der Gymnasiasten lag in einem anderen Widerstand begründet, in der vorherrschenden “reaktion”: “Alles, was zum osten gehört, finde ich bescheuert” (Böing 10). Im selben Jahr 1987 wählte in seiner Polenreisebeschreibung in Ach, Europa! Hans Magnus Enzensberger das Verfahren, wegzusehen, indem Auschwitz zu einem polnischen Problem gemacht wurde. Auf welcher Seite Enzensberger im ‘Historikerstreit’ Stellung nimmt, geht schon daraus hervor, dass in seinem Buch niemals von der Nazi-Vergangenheit die Rede sein kann, ohne dass im selben Satz oder zumindest Absatz der ‘Stalinismus’ erwähnt wird. Die durchgängige Gleichsetzung von rechtem und linkem Wahn erlaubt es dem Autor, auch Auschwitz touristisch zu normalisieren; die Beschreibung einer polnischen Kleinstadt verschweigt dem Leser bis zum Schluss ihren Namen, aber die Pointe macht noch einmal deutlich, dass der Reisende entgegen seinem Anspruch sich keineswegs auf die Perspektive der anderen einlässt. Stattdessen macht er Auschwitz zu einem polnischen Problem und normalisiert so die deutsche Geschichte; der letzte Absatz gilt dem Zentralen Pfadfinder Magazin und lautet: Da können die hiesigen Pfadfinder auch ein Schild mit dem Namen ihrer Heimatstadt kaufen. Aber wer wird sich diese acht Buchstaben aus roter Gummimasse, auf grünen filz geschweißt, freiwillig an den Ärmel nähen? Die kleine Stadt, die wir besucht haben, heißt OSWIECIM, zu deutsch: Auschwitz. (Enzensberger 364)
Kapitalisiert ist der polnische, nicht der deutsche Ortsname. In einem “Rückblick” auf den Historikerstreit deutete Peter Schneider 1987 die ‘Väter-Welle’ als Selbstkritik seiner Generation, um den “Anti-Faschismus der Studentenbewegung” als “von unbewußten Entlastungswünschen gelenkt” zu entlarven: Die Rebellen von 68 interessierten sich [. . .] nicht für die ‘Singularität’ der Naziverbrechen, sondern deren ‘Vergleichbarkeit’. [. . .] die Reduzierung der historischen Gestalt des Nazi-Faschismus auf allgemeine und übertragbare Strukturmerkmale [. . .] ersparte es uns, uns mit dem jeweils konkreten und persönlichen Schuldanteil der Väter auseinanderzusetzen und folglich mit unserer Verstrickung als deren Söhne und Töchter. (Schneider)
Schneider schloss die Väter und die wegen ihres “stalinistischen AntiFaschismus” im Terrorismus schuldig gewordenen Söhne nach dem Muster der
87 Totalitarismustheorie zusammen Im Todeskreis der Schuld, in dem „sich die Schuld der Väter gleichsam biologisch auf die Söhne und Enkel weitervererbt“. Aus der Ethnisierung durch einen ‘biologisch’ begründeten Zusammenhang der Generationen ergab sich eine Stellungnahme zum Historikerstreit, die ‘Einzigartigkeit’ und Normalisierung in der Annahme der Schuld am Mord an den europäischen Juden und die Forderung einer “Unbefangenheit” der Deutschen als Nation miteinander verband: “Es muß, trotz und mit Franz Josef Strauß, endlich ein Ende haben mit dem gekrümmten Gang.” Ulrich Greiner zitierte 1988 in der Zeit nicht nur Schneiders, sondern auch Karl Heinz Bohrers Artikel Die Kinder Hitlers aus dem Jahr 1977: Die emotionale Reaktion gegen Auschwitz führt, wird sie neurotisch – und das ist sie offenbar bei Kindern der ‘Auschwitz’-Generation – zum gleichen Ende. [. . .] Noch in der linksradikalen Rebellion gegen den völkisch gesinnten Vater steckt etwas von diesem Dunstkreis, von gefährlicher Schwärmerei für das Authentische, das Wahre, das Anti-Zivilisatorische. (Bohrer)
Greiner folgerte zur Generationenfolge: “In dieser Perspektive verkleinert sich der Graben zwischen den Söhnen und den Vätern aus dem Geschlecht der Täter erheblich.” (Greiner) Dass ‘die Deutschen’ ein ‘Geschlecht der Täter’ seien, entsprach in der Ethnisierung der Rede vom ‘Tätervolk’ und der ‘Tätersprache’, die seit dem Historikerstreit geläufig wurde. Zwei Jahre, bevor Iris Hanika an den Ort in Polen reiste, wurde der 27. Januar zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erklärt. Zum 27. Januar des Jahres 1998 fragte Salomon Korn als Präsidiumsmitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland nach der Funktion der “Stärkung des nationalen Gemeinschaftsgefühls” durch den “vom Staat verbindlich eingerichteten Gedenktag”: “Wie aber können die Nachkommen der Opfer und Täter mit ihrer jeweils unterschiedlichen Zielrichtung und Einfärbung des Erinnerns in ein die Gemeinschaft unterschiedslos vereinendes Nationalgefühl eingebunden werden?” (Korn). Korns Antwort unterschied innerhalb der Bevölkerung der Bundesrepublik zwischen “Täternachkommen” und “Überlebenden der Vernichtungslager und deren Nachkommen”. Ersteren ordnete er den Volkstrauertag als das “im öffentlichen Raum seit 1945 gepflegte [. . .] ‘opferzentrierte [. . .]’ Gedenken” zu, dessen “staatlich sanktionierte Funktion” es sei, der Auseinandersetzung mit den “Verbrechen des eigenen Volkes sowie Fragen nach deren Ursachen und Folgen [. . .] auszuweichen”. Dagegen stellte er zu den Überlebenden und den “Nachfahren der Opfer” fest: “Dieser Tag der Befreiung von Auschwitz gehört sicherlich zuerst” ihnen. “Zwei unterschiedliche Gedenktage sind in unserer Generation dem Gedenken in Deutschland angemessen, weil sie gleichzeitig zweigeteiltes Erinnern ermöglichen, ohne gemeinsames Erinnern zu unterbinden.” (Korn). Dem entsprechen die beiden in Berlin-Mitte eingerichteten Mahnmale, die Neue Wache und das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. Die von Bundeskanzlern und Bundespräsidenten benutzte Formel
88 vom Holocaust als Teil der deutschen Identität ethnisiert die Entgegensetzung von Opfern und Tätern als homogenen, nämlich ausschließlich jüdischen im Gegensatz zu nicht-jüdisch-deutschen Kollektiven über die Generationenfolge auf eine Weise, die mit der ‘Gleichheit’ in der Schuld auch die im Leiden ‘vererbt’; die über die deutsche Abstammung erfolgende Zentralisierung des ‘Holocaust’ ermöglicht die Gleichsetzung von Opfern beider ‘Totalitarismen’ unter Einhaltung der in der Enquete-Kommission des Bundestags als Konsens festgelegten Faulenbachschen Formel: “Die NS-Verbrechen dürfen nicht unter Rekurs auf die Nachkriegsverbrechen relativiert, aber umgekehrt darf auch nicht das Nachkriegsunrecht unter Bezug auf die NS-Verbrechen bagatellisiert werden.” (Faulenbach 109). So schrieb Aleida Assmann in der Frankfurter Rundschau im Jahr nach dem Erscheinen von Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land: “Leid und Schuld sind in der deutschen Erinnerung keineswegs so unvereinbar wie es scheint” (Assmann: Funke), denn ihr Begriff von Generation ‘naturalisiert’ das Verhältnis von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis identitätspolitisch. Ihre Mitautorin Ute Frevert leitete in Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit revisited 2003 betont “unverkrampft” (Frevert 11) eine ‘revitalisierte deutsche Opfererinnerung’ ab, die sowohl zeitliche Folge als auch Konsequenz einer in den achtziger Jahren enstandenen ‘neuen’ Empathie mit den Opfern des Holocaust und einer in den neunziger Jahren gestellten ‘neuen’ Frage nach den Tätern in der eigenen Familie sei (7). Als intendierte Wirkung der ersten Wehrmachtsausstellung nannten Hannes Heer und Jan Philipp Reemtsma eine “‘Individualisierung’ und ‘Privatisierung’ der Verbrechens- und Schuldfrage” (Hamburger Institut 254), die sie so beschrieben: „sich dem ‘Erkenntnisrisiko’ aus[zu] setzen, auf den schrecklichen Bildern von völkerrechtswidrigen Gewalttaten den ‘eigenen Großvater, Vater und Onkel (oder die Tante und die Mutter) zu erkennen’” (254). Heer, der seine Zeit in der DKP mit der seines Vaters beim Volkssturm (vgl. Klundt 83) gleichsetzte, pries auch nach Reemtsmas Bruch mit ihm die Bundestagsdebatte von 1998 über die Wehrmachtausstellung, wo “Redner aller Parteien nur noch über die Geschichte ihrer Familien sprachen” (Heer 35), als Erfolg der beabsichtigten Intimisierung der Auseinandersetzung in einem Dialog der Generationen, der den genealogischen Zusammenhang mit den Tätern akzeptiere (33). In der Debatte über das – zunächst so genannte – Holocaust-Mahnmal fanden die wenigen Stimmen keine Resonanz, die sich gegen “die Verengung des Blicks auf den subjektiven Faktor und auf eine einzige Opfergruppe” als “politisch gefährlich” (Mittig 280) wandten. So kritisierte Hans-Ernst Mittig die schuldübertragende Rede vom “Tätervolk” (285) als Ersatz für den fehlenden “Gedanke[n] an zukünftige Gefahren” (289): Stattdessen löse man “einen – wenn auch zentralen – Sektor des NS-Verbrechens aus seinem Systemzusammenhang”, “weil [. . .] ein [. . .] zur Schau gestellter Philosemitismus
89 schon als Absage an [. . .] Kontinuität und als Schutz vor Wiederholung zu genügen scheint” (290). Ein anderer Kunsthistoriker, Detlef Hoffmann, setzte der Rede von der nationalen Identität die Vorstellung eines Besuchs in Birkenau entgegen, um die Irritation “zum Thema unseres Diskurses [zu] machen” (Hoffmann): Es ist möglich, solche Orte [der “symbolischen Ordnung der Erinnerungsorte”] zu besuchen, zu betreten, sich ihnen auszusetzen, zu befragen. Dann überlagern sich symbolische Bedeutung und historische Information. Auch die Irritation ist eine Form des Umgangs. [. . .] Besucher und Besucherinnen würden auf dem Gelände in Auschwitz-Birkenau etwa zu der Gaskammer II und dem See, in den die Asche der Ermordeten mit einer Schmalspurbahn transportiert wurde, gelangen – Reste des Stegs, auf dem die Bahn endete, sind noch zu sehen. Geht man, kriecht man in die Gaskammer, unter die eingestürzte Betondecke, so wird man dort Kerzen (mit hebräischer Beschriftung) finden. Dieser Platz in den Trümmern wurde auch von dem Revisionisten Leuchter betreten, hier sammelte er Proben (vor laufender Videokamera), in denen er kein Zyklon-B nachweisen konnte (und wollte). In dem Maße, in dem wir, argumentierend und sprachlos, dieses Gelände zum Thema unseres Diskurses machen, arbeiten wir an einem nationalen Gedächtnis. (Hoffmann)
1997 erschien ein Foto-Text-Band von Henry Riess Auschwitz Prüfstein des deutschen Gewissens, in dem unter den von Riess interviewten Besuchern der Gedenkstätte auch drei als Leiter von Reisegruppen in der Gedenkstätte tätige Deutsche unterschiedlichen Alters waren. Nach ihrem Motiv befragt, antworten der 1971 geborene Student, der Lehrer vom Jahrgang 1949 und der 1935 geborene Emeritus mit dem Begriff der Scham: “ein Gefühl der Scham und der Pein [. . .], besonders deshalb, weil ich Deutscher bin” (12), sagt der Student; der Lehrer nennt als Grund, daß ich Deutscher bin. Es ist kein Gefühl persönlicher Schuld, aber sehr wohl ein Gefühl von Scham und Demut, denn ich bin ein Nachkomme der Tätergeneration. [. . .] Eben weil wir wissen, daß wir die Nachkommen der Täter und Tatbeteiligten sind, haben viele Deutsche meiner Generation ähnliche Probleme mit ihrer Familie wie ich [. . .], denn sie [Großvater und Vater, die NSDAP-Mitglieder waren, HP] haben mein Heranwachsen [. . .] dadurch beeinflußt, daß sie beide [. . .] über ihre Nazi-Vergangenheit geschwiegen haben. Ich denke, daß dies das Schlimmste war, was sie hätten tun können. [. . .] Daß sie uns einen Teil ihrer Identität verschweigen wollten, das ist der Vorwurf, den ich ihnen mache. (26)
Der Theologieprofessor bezieht sich auf sein eigenes Verhalten als Kind: “Ich schäme mich für all die flehentlichen Gebete, Gott möge doch den tapferen deutschen Soldaten den Sieg schenken” (38). In den Reisebeschreibungen, die überregionale Tageszeitungen wie die Frankfurter Rundschau und die Süddeutsche Zeitung zu den runden Jahrestagen der Befreiung von Auschwitz nach der Vereinigung druckten, lässt sich dagegen eine die deutsche Annahme der Schuld voraussetzende
90 Normalisierung von Auschwitz zu einem polnisch-jüdischen Problem verfolgen, die Deutsche, wie der polnische Publizist Adam Krzeminski formuliert, sich “zu Schiedsrichtern eines makabren polnisch-jüdischen Wettlaufs des Leidens” aufwerfen lässt (Kobylinska/Lawaty 92). “Der Generation der jungen Polen [. . .] erscheint der Holocaust so entfernt wie ein Stern”, heißt es 1995 in der Beschreibung Heiko Flottaus, der eine als allgemein bekannt vorausgesetzte Erklärung hinzufügt: Sowohl der Kommunismus als auch die katholische Kirche verdrängten in Polen den Mord an den Juden (vgl. Flottau). Fünf Jahre später zitiert Katharina Sperber zwar ihren polnischen Führer, wiederum den langjährigen Direktor Kasimierz Smolen, mit der Warnung, “Opfergruppen [. . .] gegeneinander instrumentalisieren” (Sperber), aber in der Beschreibung Christian Fuhrhops aus dem Jahre 2005 rahmt die gemeinsame Rückreise mit einem israelischen Ehepaar die Darstellung des “polnische[n] KZ” (Fuhrhop), dessen Kritik an der Gedenkstätte sich der Journalist zu eigen macht: Der Besucher von Auschwitz erfährt nichts über die Toten von Birkenau [. . .]. Die Ausstellung [. . .] im Stammlager [. . .] wurde von polnischen, von politischen Häftlingen des Lagers entworfen und gestaltet. Ihr Blick auf die Vernichtung ist es, der Blick von Auschwitz I auf Birkenau, den der Besucher nachempfinden kann [. . .] Welten [. . .], die miteinander nichts mehr zu tun hatten, [. . .] Welt der “Politischen” und der “rassisch Verfolgten”. (Loewy 2)
Dass Auschwitz nur noch als polnisches Problem erscheinen kann, belegt auch Jochen Spielmanns kulturwissenschaftlicher Aufsatz in James E. Youngs Sammelband The Art of Memory (1994), der ausschließlich polnische Konflikte darstellt; aber er übersetzt den Titel “In Oswiecim wird um Auschwitz gestritten” in eine sehr richtige Frage: “In Oswiecim stellt sich die Frage, wer wessen mit welchen Interessen und welchen Mitteln gedenken will.” (Spielmann 147).
Literatur Ruth K. Angress: Lanzmann’s Shoah and Its Audience. In: Simon Wiesenthal Center Annual 3 (1986). S. 249–260. Aleida Assmann: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Nationale Diskurse zwischen Ethnisierung und Universalisierung. In: Bilder der Nation. Hg. von Ulrich Bielefeld/Gisela Engel. Hamburg: Hamburger Edition 1998. S. 379–400. ———: Funke einer gesamtgesellschaftlichen Erregung. Die Frage der Hierarchie: Leid und Schuld sind in der deutschen Erinnerung keineswegs so unvereinbar wie es scheint. In: Frankfurter Rundschau 3.2.2004. Burkhard Assmuss et al. (Hg.): Der Krieg und seine Folgen 1945. Kriegsende und Erinnerungspolitik in Deutschland. Berlin: Deutsches Historisches Museum 2005. Jochen August: „Auschwitz verändert den Menschen“. Die Internationale Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim. In: Dachauer Hefte 6 (1994). S. 73–85.
91 Esther Bejarano: Die Mauer des Schweigens ist durchbrochen. In: Deutsche Volkszeitung/ die tat 13.2.1987. Ulla Biernat: „Ich bin nicht der erste Fremde hier“. Zur deutschsprachigen Reiseliteratur nach 1945. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. Maxim Biller: Auschwitz sehen und sterben. In: ders.: Die Tempojahre. München: dtv 1991. S. 115–131. Axel Böing: die ratlosigkeit der selbstgerechten. verhinderung einer klassenfahrt nach Auschwitz. In: berliner lehrerzeitung 42.3 (1988). S. 10/11. Karl Heinz Bohrer: Die Kinder Hitlers? Eine englische Version der Baader-MeinhofGeschichte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 6.9. 1977. Barbara Breysach: „Schauplatz Polen“. Polenbilder und Polenmetaphern in der deutschsprachigen Holocaust-Prosa. In: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen (1999). S. 163–186. ———: Schauplatz und Gedächtnisraum Polen. Die Vernichtung der Juden in der deutschen und polnischen Literatur. Göttingen: Wallstein 2005. Micha Brumlik: Gegen den ‘linken Patriotismus’. In: Deutsche Volkszeitung/die tat 13.2.1987. Heinz Bulmahn: GDR ‘Reisebilder’ of Poland: A Matter of Guilt, Reconciliation and Understanding. In: GDR Monitor 12 (1984/85). S. 18–28. Hans Magnus Enzensberger: Polnische Zufälle. In: ders.: Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989 [zuerst: 1987]. S. 315–380. Ottmar Ette: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001. Bernd Faulenbach: Vergangenheitsaufarbeitung und Erinnerungskultur nach 1989 im europäischen Kontext. Ein Gespräch. In: Abgrenzung und Verflechtung. Das geteilte Deutschland in der zeithistorischen Debatte. Hg. von Frank Möller/Ulrich Mählert. Berlin: Metropol 2008. S. 107–119. Sascha Feuchert (Hg.): Holocaust-Literatur. Auschwitz. Stuttgart: Reclam 2000 (= Arbeitstexte für den Unterricht). Heiko Flottau: Wie gedenken? Fünfzig Jahre nach der Befreiung: Auschwitz ist unfaßbar. In: Süddeutsche Zeitung 21./22.1.1995. Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit revisited. Der jüngste Erinnerungsboom in der Kritik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 40/41 (2003). S. 6–13. Christian Fuhrhop: Unendlichkeit des Leids. Junge Studenten aus Deutschland erleben in Auschwitz die Machtlosigkeit vor der Geschichte – und den Sinn des Gedenkens am Ort. In: Frankfurter Rundschau 27.1.2005. Ulrich Greiner: Söhne und ihre Väter. Über die Studentenbewegung als Konflikt der Generationen. In: Die Zeit 29.4.1988. Iris Hanika: Reise an den Ort in Polen. In: Freibeuter 77 (1998). S. 27–48. Hannes Heer: Vom Verschwinden der Täter. Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei. Berlin: Aufbau 2004. Detlef Hoffmann: Nationale Identität – was könnte das sein? In: Frankfurter Rundschau 5.8.2000. Michael Hofmann: Literaturgeschichte der Shoah. Münster: Aschendorff 2003.
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93 Tadeusz Rózewicz: Ausflug ins Museum. In: ders.: Versuch einer Rekonstruktion. Erzählungen. Leipzig: Reclam 1976. S. 79–89. Peter Schneider: Im Todeskreis der Schuld. In: Die Zeit 27.3.1987. Ansgar Skriver: Aktion Sühnezeichen. Brücken über Blut und Asche. Stuttgart: Kreuz 1962. Ulrich Speck: Die Konkurrenz der Opfer. Die ‘Nachgeschichte’ des Holocaust. Eine Frankfurter Tagung. In: Frankfurter Rundschau 28.6.2004. Katharina Sperber: Die Enkel in Auschwitz. Deutschlands NS-Vergangenheit geht auch die heutige Jugend an, aber es braucht neue Wege der Vermittlung. In: Frankfurter Rundschau 9.9.2000. Jochen Spielmann: Auschwitz is Debated in O´swie˛cim. The Topography of Remembrance. In: The Art of Memory: Holocaust Memorials in History. Hg. von James E. Young. New York, München: Prestel 1994. S. 169–173. Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land. Familienroman. Frankfurt a.M.: Fischer 2003. Peter Weiss: Meine Ortschaft. In: ders.: Rapporte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968 [zuerst in: Der Monat 17 (1965). H. 200. S. 42–46]. S. 113–124. Susanne Willems: Nachdenken am Tatort Auschwitz. In: Deutsche Volkszeitung/die tat 13.2.1987. S. 19. James E. Young: The Art of Memory. Holocaust Memorials in History. In: The Art of Memory: Holocaust Memorials in History. Hg. von dems. New York-München: Prestel 1994. S. 18–38.
Helmut Schmitz
Alternative Gründungserzählungen und andere Legitimationsmuster. Zum Status von Shoah und Nationalsozialismus in der Konstruktion von Erinnerung an ‘deutsche’ Kriegserfahrungen1 The recent ‘return’ of images of ‘German’ wartime suffering to the public sphere was accompanied by frequent implicit and explicit analogies with the Shoah. After the end of the discourse of attrition and the inscription of the memory of the Shoah into the heart of the Berlin Republic, a focus on ‘German’ wartime experiences has been frequently legitimised by an employment of rhetorical tropes otherwise known from Shoah discourse, such as the idea of Auschwitz as traumatic rupture. This chapter explores the construction of German wartime experience in a number of recent fictional and non-fictional texts in relation to the images of National Socialism and the Shoah employed by these texts. The first section focuses on W.G. Sebald’s and Jörg Friedrich’s representations of the bombing campaign as traumatic rupture in Germany’s history while the second section looks at the status of the Shoah and of National Socialism in recent inter-generational literature.
Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass die Trope von ‘Auschwitz als Zivilisationsbruch’ ein mythisches Moment im Sinne dessen einschließt, was Jan Assmann als Ursprungs- oder Gründungsnarrativ bezeichnet hat: Man könnte auch sagen, daß im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird. Mythos ist eine fundierende Geschichte, eine Geschichte, die erzählt wird, um eine Gegenwart vom Ursprung her zu erzählen. (Assmann 52)
Der Begriff des Zivilisationsbruches in Auschwitz impliziert notwendig die Vorstellung eines Neubeginns unter anderen Vorzeichen, selbst wenn dieser mit Adorno “nach Weltuntergang” heißt (Adorno: Minima Moralia 61). Laut Adorno hat Auschwitz “den Menschen [. . .] einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass
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Die Anführungszeichen bei den ‘deutschen’ Kriegserfahrungen stehen eingedenk des Problems, dass in der Konstruktion von Kriegserinnerungen als ‘deutsch’ diese Erinnerungen eine Ethnisierung erfahren, die einerseits, was das erinnerte Leiden betrifft, die Ausschlüsse des völkischen NS-Kollektivs zu replizieren droht und andererseits, was die Gegenwart der Erinnerung angeht, dieses Erinnern nationalethnisch zu instrumentalisieren geeignet ist. Siehe dazu auch den Beitrag von Helmut Peitsch in diesem Band.
96 Auschwitz nicht sich wiederhole” (Adorno: Negative Dialektik 358). Adornos Forderung wohnt ein fundierender ethischer Aspekt inne, analog zu Kants kategorischem Imperativ als Gründungsmoment bürgerlichen Selbstbewusstseins. Die Trope der fundierenden Ruptur von Auschwitz schreibt sich in der Folgezeit in die Diskurse von Philosophie, Sozialgeschichte und NS-Geschichtsschreibung ein, z.B. bei Jean-Francois Lyotard, Zygmunt Bauman und Dan Diner.2 Avishai Margalit und Gabriel Motzkin haben das Sich-Einschreiben der Dimensionen der Shoah ins öffentliche Bewusstsein seit den sechziger Jahren als Prozess beschrieben, in dem die Shoah zum “negativen Ursprungsmythos” der westlichen Welt wird (Margalit/Motzkin 27). Für die Überlebendenliteratur ist dieser Aspekt von Beginn an konstitutiv, als Beispiele seien hier Primo Levi und Paul Celan genannt.3 In Teilen des Diskurses um das ‘deutsche’ Leiden im Zweiten Weltkrieg lässt sich ein vergleichbares Ursprungsnarrativ finden, das sich ebenfalls aus der fundierenden Gewalt des Traumas legitimiert. Die öffentliche Debatte über deutsches Leiden im Krieg wurde begleitet von impliziten und expliziten Vergleichen mit der Shoah, sowohl was Bilder als auch was Rhetorik angeht (vgl. Schmitz 2006, Preußer). Selbst in Werken, die keine offen revisionistische Absicht haben, lassen sich implizite Vergleiche oder rhetorische Formen finden, die einen “commonality of victim status” (Niven 13) zwischen Deutschen und Juden implizieren. Besonders Argumente über die Intensität der Erfahrungen des Luftkriegs oder der Flucht aus den deutschen Ostgebieten
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Sowohl Lyotard als auch Bauman folgen Adorno in der Stipulierung von Auschwitz als eines Grenzereignisses, das die Überdenkung der Methodiken ihrer respektiven Disziplinen erfordert. Für Lyotard zerteilt Auschwitz den universellen Menschheitsbegriff in die Kollektive Opfer und Täter. Die Undurchlässigkeit dieser Kategorien haben ihren Ursprung im NS-Rassendenken und der totalen Heteronomie der Opfer (vgl. Bennington 150ff.). Für Bauman macht der Holocaust die Revision soziologischer Methoden notwendig, da er die westliche Zivilisation mit ihrer Selbsttäuschung bezüglich des eigenen barbarischen Potentials konfrontiert: “The Holocaust says more about the condition of Sociology than Sociology in its current state can say about the Holocaust” (Bauman 3). Diner insistiert darauf, bezeichnenderweise unter Bezugnahme auf den Begriff der Arbeitsteilung in den Todeslagern, dass “der in Auschwitz verwirklichte Zivilisationsbruch zum eigentlichen universalistischen Ausgangspunkt [werde], von dem aus die weltgeschichtliche Bedeutung des Nationalsozialismus zu ermessen wäre” (Diner 71f.). 3 In Ist das ein Mensch? bezeichnet Levi die Geschichten seiner Mithäftlinge als “Geschichten einer neuen Bibel” (Levi 72). Celan bezeichnet in seiner BüchnerPreis-Rede von 1960 den 20. Januar (1942) als Ursprungsdatum nicht nur der Dichtung nach Auschwitz: “Vielleicht darf man sagen, dass jedem Gedicht sein ‘20. Jänner’ eingeschrieben bleibt. [. . .] Aber schreiben wir uns nicht alle von solchen Daten her?” (Celan 96).
97 beinhalten offene oder verdeckte Vergleiche mit den Todeslagern und suchen ihre rhetorische Legitimierung über diese Implikationen zu erreichen. Dabei ist mit diesen Vergleichen nicht zwangsläufig eine Erinnerungskonkurrenz impliziert; vielmehr stellen sie das ‘deutsche’ Kriegsleiden neben die Shoah und weisen ihnen einen vergleichbaren Status der traumatischen Ruptur zu. Anders formuliert: Im Gegensatz zum Abwehrverhalten des Aufrechnungsdiskurses, das sich in der Geschichte der BRD besonders dann beobachten lässt, wenn der Fokus des öffentlichen Diskurses sich auf die Shoah und damit verbundene Fragen nach Schuld und Verantwortung richtet,4 geht es in der Darstellung ‘deutschen’ Leidens nach der Institutionalisierung der Shoah im Herzen der Berliner Republik häufig darum, Legitimation über rhetorische Anleihen bei der Shoah herzustellen. Das tertium comparationis, das die Shoah mit deutscher Kriegserfahrung vergleichbar macht, ist dabei der Begriff des Traumas. Konstruktionen des traumatischen Kriegserlebnisses als fundierendes Moment der Gegenwart finden sich z.B. bei Hanns-Josef Ortheil (Hecke, 1983; Abschied von den Kriegsteilnehmern, 1992) und bei Günter Grass (Im Krebsgang, 2002), wo die Ich-Erzähler jeweils durch das Begreifen des eigenen und damit symbolisch des kollektiven Ursprungs aus der traumatischen Erfahrung der Eltern im Kriege zu einer Akzeptanz der vorher verleugneten NS-Geschichte finden.5 Auch bei W.G. Sebald und Jörg Friedrich, wo jeweils die Stadtarchitektur des Wiederaufbaus und ihr emphatisches Überlebensnarrativ als Signatur eines nicht-begriffenen Traumas bzw. der Verdrängung desselben gelesen werden, ist dies zu beobachten. Der erste Teil dieses Aufsatzes konzentriert sich auf Sebald und Friedrich, wo die Analogie zu Auschwitz jeweils explizit mitgedacht wird. In einem zweiten Schritt wird kurz der Status von Nationalsozialismus und Shoah in jüngsten Generationentexten beleuchtet, in denen die Ruptur von Auschwitz und die von ihr ausgehende moralische Absolutheit einen Wiederanschluss an die Erfahrungen der Generation der Kriegsteilnehmer bedroht. Die disruptive Gewalt der Trope vom Zivilisationsbruch Auschwitz, so meine These, wird dabei als Austreibung aus der Familiengenealogie erfahren und verlangt nach einer Bearbeitung. Diese Bearbeitung erfolgt in Form einer Historisierung und Relativierung der als moralisierend empfundenen Position der sogenannten ‘zweiten Generation’, die im Diskurs als Träger einer Kultur der einseitigen Fokussierung auf NS-Verbrechen fungiert.
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Marcel Atze hat z.B. aufgezeigt, dass die öffentliche Debatte um den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–65 von expliziten Vergleichen zwischen Auschwitz und Dresden begleitet wurde (vgl. Atze 105–115). 5 Zu Ortheil und Grass siehe die Kapitel in Schmitz 2004.
98 Auf die Kritik des in diesem Diskurs virulenten Traumabegriffes und seiner Hypervalidierung der ‘sekundären Zeugenschaft’ des Zuhörers sowie der Avancierung zum ‘kulturellen Deutungsmuster’ wird hier nicht weiter eingegangen (vgl. hierzu Weigel).
Der Luftkrieg als traumatische Ruptur: W.G. Sebald und Jörg Friedrich Sebalds und Friedrichs Texte sind weitläufig kommentiert und kritisiert worden, Sebald vor allem wegen seiner These, es mangele an angemessener literarischer Darstellung des Luftkrieges und Friedrich wegen seiner Wortwahl, die die Bombenkriegsopfer implizit in die Nähe der Shoah rückt.6 Sowohl Sebald als auch Friedrich operieren mit einem Begriff des Luftkrieges, der in expliziter Analogie zum Einzigartigkeits- und Superlativtopos der Shoah und zur Trope des Zivilisationsbruches gedacht wird. Bei Sebald geschieht dies durch die Beschreibung des Luftkriegs als eine “in der Geschichte bis dahin einzigartige Vernichtungsaktion” (Sebald: Luftkrieg 11; vgl. hierzu Seidel Arpacı) bei Friedrich durch die Bezeichnung des Luftkrieges als “Zivilisationsbruch” (Friedrich: Brand 169) und durch die Behauptung eines Ausrottungswillens auf Seiten der Alliierten: “Deutschland wird verwüstet, wie noch keine Zivilisation zuvor” (Friedrich: Brand 120). Beide argumentieren mit einem Begriff des Luftkrieges als Signatur einer technisierten Moderne, der sich letztendlich aus der Frankfurter Schule speist. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden, so wird sich zeigen, liegt im Begriff des Traumas. Der Luftkrieg ist für Sebald Teil einer katastrophalen Moderne, die sich durch die Zerstörung der Erfahrung im Schockerlebnis auszeichnet. Diese Zerstörung ist endgültig und der Erfahrungsverlust nicht restituierbar. Die exzessive und abrupte Natur der Gewalt des Luftkrieges zerstört die sinnliche Erfahrung des Ereignisses: “Offenbar hatte unter dem Schock des Erlebten die Erinnerungsfähigkeit teilweise ausgesetzt” (Sebald: Luftkrieg 31). Das Ergebnis ist, dass der Gehalt des Erlebnisses dem Bewusstsein der Überlebenden nicht verfügbar ist. Sebalds Traumabegriff ist nur scheinbar identisch mit dem klinischen Traumabegriff, mit dem Cathy Caruth arbeitet, und ihrer Beschreibung des Traumas als breach in the mind’s experience of time, self, and the world [and as] experienced too soon, too unexpectedly, to be fully known and therefore not available to consciousness [. . .]. (Caruth 4)
Caruth operiert mit einem klinischen Begriff des Traumas, der nicht nur die Authentizität des Erlebten im wiederholten Ausagieren von DisplacementSymptomen lokalisiert, sondern von einer Ethik des Zuhörens ausgeht, die, 6
Zu Sebalds Thesen siehe Hage, Vees-Gulani und Wilms. Zu Friedrich siehe Moeller.
99 zumindest teilweise, die Überwindung des Traumas im Erzählen ermöglicht (vgl. Caruth 8f. und Vees-Gulani 30ff.). Nichts davon ist von Interesse für Sebald. Für ihn sind die Überlebenden “unzuverlässige, mit halber Blindheit geschlagene Zeugen” (Sebald: Luftkrieg 31), die Berichte der Überlebenden von “inhärente[m] Ungenügen” und “notorische[r] Unzuverlässigkeit” (Sebald: Luftkrieg 86). Der Grund hierfür ist der widersprüchliche, von Sebald nicht aufgelöste Nexus zwischen kollektiver Verdrängung der Shoah und Zerstörung der Erfahrung im Bombenkrieg. Sebalds wiederholter Gebrauch des Begriffes der Katastrophe (sechs Mal im Text), und der “Erfahrungsblindheit”, sowie sein Fokus auf den Körper suggerieren einen an Benjamin und Adorno gemahnenden Interpretationsrahmen, der den modernen, technisierten Krieg als Erfahrungszerstörung liest, aufgrund der auf den Körper einwirkenden exzessiven Gewalt: Konnte man damals nicht die Feststellung machen: die Leute kamen verstummt aus dem Felde? Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Erfahrung. [. . .] Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper. (Benjamin: Erfahrung und Armut 214)
Für Benjamin bedeuten die wiederholten Schockerfahrungen in der technisierten Moderne die Zerstörung kommunizierbarer Erfahrung: “Je größer der Anteil des Chokmomentes an einzelnen Eindrücken ist [. . .] desto weniger gehen sie in die Erfahrung ein” (Benjamin: Baudelaire 515). Diese Zerstörung ist absolut und kann, außer durch hochartifizielle Mittel der Konzentration und Erinnerungsarbeit, nicht bewusst gemacht werden. Adorno unterschreibt Benjamins Theorie der Erfahrungszerstörung mit Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg, der “in jeder Phase von vorn” beginnt: Überall, mit jeder Explosion hat er [der Krieg, HS] den Reizschutz durchbrochen, unter dem Erfahrung, die Dauer zwischen heilsamem Vergessen und heilsamem Erinnern sich bildet. Das Leben hat sich in eine zeitlose Folge von Schocks verwandelt. (Adorno: Minima Moralia 60)
Wenn die Shoah das Wesen der Moderne bezüglich des rationalistischen und verwaltungsmäßig organisierten Massenmordes enthält, so markiert der Luftkrieg für Sebald das Wesen der Moderne als technisierte Kriegskatastrophe. In dem Essay Zwischen Geschichte und Naturgeschichte von 1982, der Vorstudie zu Luftkrieg und Literatur, schreibt Sebald, “daß Erfahrung im realen Sinn aufgrund der überwältigenden Rapidität und Totalität der Zerstörung schlechterdings nicht möglich war” (Sebald: Naturgeschichte 90). Sebald weist damit dem Luftkrieg eine Form traumatischer Überforderung zu, die analog, aber nicht identisch mit einem Verständnis der Shoah als barbarische
100 Signatur einer technisierten Moderne ist. Sebald folgt darin Benjamins und Adornos Verständnis des destruktiven Potenzials der Moderne als etwas, das ihrer Logik inhärent ist: “die Konsequenz der übergeordneten Produktionszwänge [. . .] ist die ruinierte Stadt” (Sebald: Luftkrieg 72).7 Geht man davon aus, dass der technisierte Krieg für Sebald genauso Signatur der Moderne ist wie die Shoah, erhält seine Kritik des literarischen und historiographischen Materials eine andere Dimension, besonders, wenn man sie parallel zu seinen Aussagen zu Jean Améry und Peter Weiss liest. Sebald operiert mit einer klaren und kategorischen Unterscheidung zwischen Überlebenden der Shoah und Überlebenden des Luftkrieges, was deren Status als Zeugen angeht. Ein zentraler Topos in der Rezeption von Überlebendenzeugnissen der Shoah ist die moralische Autorität bezüglich der traumatischen Erfahrung, trotz der vielfach dokumentierten und beschriebenen Probleme, diese in Sprache zu übersetzen.8 Sebald unterschreibt diesen Topos in seiner Beschreibung Jean Amérys und weist darauf hin, dass Überlebende der Shoah von “Hypermnesie” geplagt sind und so “offensichtlich nicht mehr über zuverlässige Mechanismen der Verdrängung” verfügen, die in seinen Augen die Mentalität Nachkriegsdeutschlands auszeichneten (Sebald: Nachtvogel 153). Im Gegensatz zu Überlebenden der Shoah, denen Sebald ein absolut präzises Erinnerungsvermögen attestiert, das die Basis für eine Ethik des Schreibens nach Auschwitz bilde, bleiben die Erzählungen der Überlebenden des Luftkrieges prinzipiell misstrauenswürdig. Was Sebald an der deutschen Literatur vermisst, ist eine literarische Darstellung des Luftkrieges, die die disruptive und katastrophische Natur des Luftkrieges auf einem der Überlebendenliteratur analogen sprachlichen, stilistischen und intellektuellen Niveau kommuniziert. Sebalds Kritik an der deutschen Nachkriegskultur bezieht sich vor allem auf das Einschreiben der Schrecken des Luftkrieges in eine sinnhafte Erzählung des Neuanfangs: “Nicht als das grauenvolle Ende einer kollektiven Aberration erscheint also diese totale Zerstörung, sondern, sozusagen, als die erste Stufe des Wiederaufbaus” (Sebald: Luftkrieg 14). Im Gegensatz dazu wird Amérys entschiedene Zurückweisung eines Kompromisses mit der vergehenden Zeit als “ein unabdingbares Element einer wahrhaft kritischen Perspektive auf die
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Dies ist wörtlich übernommen aus dem Essay von 1982, dort: S. 97. Siehe z.B. Wilms, der seinen Aufsatz zu Luftkrieg und Literatur mit Elie Wiesels Festellung eröffnet, es gäbe eine Lücke zwischen traumatischer Gewalt und “the transformation, and ultimately transfer of that violence into readily communicable forms of expression”. Dennoch argumentiert auch er, dass “unmediated knowledge [. . .] can only come from the victim, [the] ruler in the kingdom of memory” (Wilms 175). 8
101 Vergangenheit” (Sebald: Nachtvogel 160) apostrophiert, “eine Dimension, die der deutschen Nachkriegsliteratur so auffallenderweise mangelte” (Sebald: Nachtvogel 159). Sebald misst die ethische Dimension einer Literatur über den Luftkrieg an der seines (engen) Kanons der Shoah-Literatur, erkennbar an den stilistischen Urteilen, die er über beide fällt. Für Sebald ermangeln sowohl nicht-jüdisch deutsche Versuche, über die Shoah zu schreiben, als auch die Literatur über den Luftkrieg der “sprachliche[n] Präzision” (Sebald: Nachtvogel 165), “Sachlichkeit” (156) und der “dem Gegenstand angemessene[n] Ernsthaftigkeit der Sprache” eines Améry oder Peter Weiss (150). Die einzige Form der Erzählung, die der Katastrophe angemessen erscheint, ist eine Form dokumentarischen Schreibens, und es sind genau die Textstellen bei Hans-Erich Nossack und Hermann Kasack, die sich dem Versuch entziehen, die “alle künstlerische Imagination übersteigende Erfahrung” zu transfigurieren und anstatt dessen sich einer “leidenschaftslose[n] Art der Rede” befleißigen (Sebald: Naturgeschichte 80, 86). Nahezu der einzige Text, der Sebalds uneingeschränktes Lob findet, ist Alexander Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt, welcher in seiner distanzierten Präzision den “entsetzensstarre[n] [Blick] des Engels der Geschichte” aus Benjamins Über den Begriff der Geschichte reproduziert. Während Kluge die “für jede Erkenntnis unabdingbare[] Distanz” (Sebald: Luftkrieg 73) einhalte, dokumentiere sein Selbstzweifel den Zusammenbruch des epistemologischen Rahmens angesichts der “auf keinen Begriff mehr zu bringenden Welt” (Sebald: Luftkrieg 17).9 Kluge unterlasse sowohl die Mythisierung des Sinnlosen als auch die unvermittelte Darstellung des Grauens, etwas das Sebald als voyeuristisch und pornographisch beschreibt (Sebald: Luftkrieg 104). Die Zürcher Poetik-Vorlesungen enden mit einem Zitat der neunten These aus Benjamins Über den Begriff der Geschichte, die den “Sturm” technischen Fortschritts als “eine einzige Katastrophe” benennt, “die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft” (Benjamin: Geschichte 697).10
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In diesem Kontext wäre an Sebalds emphatische Befürwortung von Amerys Stil zu erinnern, der “eher den monumentalen Irrsinn der an ihm vorgenommenen Prozedur als das Pathos des Leidens” betone (Sebald: Nachtvogel 155), sowie an Peter Weiss’ distanzierten Blick auf die Todeslager, der von Sebald als “angemessene Darstellung” (Sebald: Nachtvogel 150) apostrophiert wird, während Kluges “Bericht” von Sebald als “Ermittlung” bezeichnet wird (Sebald: Naturgeschichte 90). 10 Sowohl der Verweis auf Benjamins Engel, als auch auf Kluges epistemologische Skepsis fehlen noch im Essay von 1982, der sich von Luftkrieg und Literatur durch sein weitaus weniger katastrophisches Vokabular unterscheidet.
102 Was Sebald demnach an den Luftkriegsdarstellungen vermisst, ist die dezidierte Schaffung einer Schreibform, die in direkter Auseinandersetzung mit dem Sehen des Grauens entsteht, analog zur deutschsprachigen Überlebendenliteratur eines Améry oder Weiss. Sebald beklagt die Abwesenheit einer Darstellung des Luftkrieges als “lesbare Chiffre” (Sebald: Luftkrieg 12), bzw. attestiert ein Gründungsmoment ohne adäquates Narrativ. Jörg Friedrichs Der Brand (2002) lässt sich als genau dieser Versuch lesen, den Luftkrieg in den Dimensionen zu erfassen, die für Sebald unwiederbringlich verloren sind, und damit das fehlende Gründungsnarrativ zu erstellen. Auch Friedrich arbeitet mit einem Frankfurter-Schule-Vokabular, das ein Verständnis des Luftkriegs als Kulmination einer rationalistischen Techno-Logik nahelegt. Die Bombardierungen werden als “Neo-Barbarei der Moderne” apostrophiert (Friedrich: Brand 277). Friedrich konzentriert sich detailliert auf die wissenschaftlichen Aspekte der Entwicklung des Feuersturms als erste “ganz und gar von Wissenschaftlern gelenkte Waffe”, die ein “erdachtes Konzept der Vernichtung” erzwingt (Friedrich: Brand 25, Hervorhebung HS). Signifikant ist für Friedrich, – neben der Suggerierung, die Alliierten hätten mit einem totalisierten Vernichtungsbegriff operiert – dass der Luftkrieg der erste Krieg ist, der vollständig von Technokraten konzeptualisiert und ausgeführt wird. Der Luftkrieg ist damit eine “Konsequenz des Industriezeitalters” (Friedrich: Brand 76), ein “Zweckmäßigkeiten” folgendes “Verhängnis” (Friedrich: Brand 124), in dem persönliche Skrupel im bomber command oder unter den Wissenschaftlern keine ethischen Konsequenzen haben (vgl. Friedrich Brand 58). Dies ist daran zu sehen, dass die alliierte Vernichtungslogik, einmal losgelassen, auch verbündete Städte wie LeHavre, Rouen oder Caen ergreift. Damit ist die Analogie zur Shoah als industrialisierte Form des Massenmordes quasi eine Frage rhetorischer Logik. Das Opfer des Bombenkrieges ist so de-subjektiviert, wie das Opfer in den Gaskammern, es “stirbt nicht seinen Tod, denn es hat keinen” (Friedrich: Brand 84). Friedrichs Insistieren auf die totale Gleichmachung aller Opfer in einem Bombardement, das nicht zwischen Schuldigen und Unschuldigen unterscheidet, ist nicht weit entfernt von Horkheimers und Adornos Beobachtung in Dialektik der Aufklärung, dass der Nationalsozialismus und die industrialisierte Ausrottung die “totale Integration” des Individuums unter eine präformierte Kategorie darstellen (Horkheimer/Adorno 10). Friedrich folgt Sebald in der Attestierung einer kollektiven “Emotionslähmung” als Folge des Luftkriegs und der Bewertung des Wiederaufbaus als Form der Verdrängung (Friedrich: Brand 505), jedoch impliziert seine Bewertung des Luftkriegs als “nichtangeeignete Geschichte” die Aufgabe der Aneignung. Eine Aufgabe, die der Text selbst durch Nacherzählen der Schrecken in ihrer “Leideform” (Friedrich: Brand 543) zu lösen sucht. Im Gegensatz zu Sebald bezieht er sich auf die Erinnerung der “Erlebensgeneration”
103 (A. Assmann 191) in der Metapher des Behälters, in dem die Erfahrungen aufgrund ihrer Bewahrung durch den traumatischen Schock quasi unberührt “aufbewahrt” liegen (Friedrich: Brand 542). Dies geht Hand in Hand mit einem Begriff des Traumas als therapierbar, in dem die Erzählung des Traumas die Erfahrung in ihrer authentischen Form hervorholt: “Die erinnerten Szenen überliefern eine Folter, die nicht auf immer unaussprechlich sein wird” (Friedrich: Brand 505). Man kann Friedrichs Bemühen um eine plastische und einfühlsame Darstellung des Schreckens als Versuch beschreiben, dieses “Aussprechen” selbst bereitzustellen. Friedrichs Versuch, den grauenvollen Exzess der traumatischen Erfahrung zu schildern, verwischt den Unterschied zwischen Autor, Erzähler und Bombenopfer in einem signifikanten Wechsel vom Imperfekt zum Präsens und zur ersten Person Singular: “Nur in Realzeit kann ich reagieren. [. . .] Das Erforderliche verbringe ich wie außerhalb meiner selbst” (Friedrich: Brand 500ff.). Über seine ganze Länge hinweg suggeriert der Text eine ungebrochene historische Kontinuität, die den Luftkrieg zu einem beispiellosen Verlust an geschichtlicher Substanz macht. Die “Einheit von Raum und Geschichte” (Friedrich: Brand 519) markiert den Luftkrieg als traumatischen Identitätsverlust. Friedrichs Beschreibung der verlorenen Schönheit deutscher Städte lässt sich in ihrer litaneihaften Wiederholung als Versuch lesen, die verlorene Bausubstanz affektiv wiederzubesetzen. Brandstätten (2003), Friedrichs Buch mit Fotografien des Luftkrieges, wiederholt diese Struktur. Der Band beginnt mit einem mit “Früher” überschriebenen Teil, der die ‘heilen’ deutschen Städte mit ihren alten Zentren abbildet. Dieser ist kontrastiert mit einem “Heute” überschriebenen Teil, der dieselben Stadtzentren in ihrer heutigen baulichen Substanz als identitätslose ‘Nicht-Orte’ zeigt. Die Gegenüberstellung von mittelalterlicher, barocker oder Renaissanceschönheit mit den post-modernen Nicht-Orten der Gegenwart verwischt die Geschichte der Stadtplanung zwischen den 1950er und 1990er Jahren und inszeniert den Luftkrieg als ausschließlichen Ursprung des Mangels an räumlicher Identität in der Gegenwart. Die rhetorische Funktion dieser Gegenüberstellung ist wiederum, das tröstende Narrativ des Wiederaufbaus zu umgehen. Die hässlichen Innenstädte des gegenwärtigen Deutschlands werden zu Ausdrücken des betongewordenen kollektiven Geistes, Zeugnisse anhaltender Traumatisierung: “Das Narbengewebe, das die Brache des Luftkriegs bedeckt, ist auch der Überzug der deutschen Seelenlandschaft” (Friedrich: Brandstätten 225). Zwischen den Teilen “Früher” und “Heute” befindet sich im Zentrum des Bandes der Teil “Bergung” mit seinen schauerlichen und schmerzvoll anzusehenden Bildern verkohlter Leichen, aufgereihten toten Körpern und Massengräbern. Es sind diese Fotos, durch die Brandstätten seine schockierende Wirkung und seine Schlagkraft erhält. Im Gegensatz zur Geschichte
104 der Bilder von der Shoah (vgl. Knoch) gibt es meines Wissens noch keine Geschichte der historischen und gesellschaftlichen Rolle des Bildmaterials des Bombenkrieges. Dennoch kann man davon ausgehen, dass in der öffentlichen Erinnerung an den Luftkrieg Bilder von Ruinen dominieren, im Gegensatz zur visuellen Erinnerung an die Shoah, die von stereotypen Bildern von Massengräbern, menschlichen Überbleibseln und abgemagerten Körpern Überlebender bestimmt ist. Das Außerordentliche an Brandstätten ist demnach Friedrichs Versuch einer affektiven Neubesetzung der verbrannten und toten Körper und deren Implementierung ins kollektive Gedächtnis. Obwohl einige der Fotos verfügbar waren und vorher veröffentlicht wurden, war dieses häufig auf kleine oder obskure Publikationen reduziert.11 Das Neue an den Fotos in Brandstätten ist deren visuelle Wieder- bzw. Neubesetzung als Teil eines Narrativs traumatischen Exzesses, begleitet von einer nahezu völligen Abwesenheit eines dieses Trauma ‘eingrenzenden’ Rahmens. Im Gegensatz zu den Abbildungen bei Brunswig, Groehler u.a., die entweder von einer einordnenden Erzählung oder durch ihr kleines Format gerahmt sind, nehmen Friedrichs Bilder häufig die halbe oder ganze Seite ein, ohne Rahmung durch einen einordnenden Kommentar. Friedrichs Bilder suchen demnach den cordon sanitaire zu durchbrechen, der laut Sebald um den Schrecken des Luftkrieges gebildet wurde (vgl. Sebald: Luftkrieg 103), und den jede Gemeinschaft um die toten Körper ihrer Mitglieder errichtet. Der schlussendliche Referent dieser Fotos ist, so Preußer, die Shoah; ihre Funktion ist, einen ähnlichen Stillstand der Zeit im Betrachter auszulösen, wie er Fotografien der Shoah attestiert wird (vgl. Preußer 146). Brad Prager kommentiert, dass die Schreckensfotos den Zuschauer in die Position des “Zeugen”, wiederum analog zur Shoah, versetzen sollen (Prager 317). Die Bilder sind so unverzichtbarer Teil von Friedrichs Argument eines anhaltenden Traumas in Deutschland. Shoshana Felman und Dori Laub haben den Zuhörer eines traumatischen Zeugnisses als Teilhaber am Trauma beschrieben: Der Zuhörer “becomes a participant and co-owner of the traumatic event [. . .] by extension, [. . .] through his very listening, he comes to partially experience trauma himself” (Felman/Laub 57). Diese Gleichsetzung von Opfer und Zuhörer ist berechtigterweise kritisiert worden.12 Es ist genau diese bizarre und, wie Sebald 11
Groehler zeigt sowohl Bilder von verkohlten und entstellten Leichen nach dem Hamburger Feuersturm als auch die Scheiterhaufen in Dresden im Gegensatz zu Friedrich mit einem Verweis auf die SS-Einheit aus Treblinka, die die Scheiterhaufen errichtete (Groehler 111–117, 412f.). Friedrich benutzt Fotos aus Groehler, S. 111, 412 (Brandstätten 126, 134) und von Brunswig, S. 236, 278 (Brandstätten 119, 124) und Sollbach, S. 179 (Brandstätten 133). 12 Siehe zum Beispiel Vees-Gulani, S. 18ff. und Katja Stopkas Beitrag in diesem Band.
105 feststellt, voyeuristische Vorstellung der Teilhabe am Trauma, die Friedrichs Narrativ und seiner Darstellung des Exzesses zugrunde liegt. Bei Friedrich wie Sebald fungiert der Luftkrieg als negativer Ursprungsmythos, bei Friedrich als unvollständig realisiertes Trauma, das aber durch zeugnishaftes Erzählen vergegenwärtigt werden kann, und bei Sebald als unlesbare Abwesenheit aufgrund des Versagens der Schriftsteller.
Unbehagen. Anmerkungen zur Trope des Zivilisationsbruches in rezenten Generationstexten Seit etwa Mitte der neunziger Jahre sind eine Reihe von Texten fiktionaler und auto- bzw. heterobiographischer Natur erschienen, die das Problem der Familienerinnerung an Krieg und Nationalsozialismus und die Frage des Erbens dieser Erinnerungen aus der Perspektive der sogenannten ‘zweiten’ bzw. ‘dritten’ Generation zum Thema haben.13 Diese Texte sind vor allem unter dem Begriff des transgenerationellen Traumas, der in diesen Texten virulenten Gespenstermetapher und dem, was Marianne Hirsch als postmemory beschrieben hat, breit rezipiert und kommentiert worden.14 Hier soll abschließend kurz auf einen Aspekt im Zusammenhang mit der Frage nach dem Erinnerungsverhältnis der Nachkommen zur sogenannten ‘Erlebnisgeneration’ eingegangen werden, den sowohl Texte aus der ‘zweiten’ Generation als auch der ‘dritten’ Generation gemeinsam haben, und der im Verhältnis der Nachkommen zum tradierten, in der öffentlichen Erinnerung festgeschriebenen Verhältnis zur Shoah bzw. zu den Verbrechen des Nationalsozialismus liegt. In der Darstellung deutschen Leidens in der Gegenwartskultur stellen die Verbrechen des NS wohl das größte Hindernis auf dem Weg einer emotionalen Annäherung an die Generation der Kriegsteilnehmer und der Legitimation ihrer Leidensperspektive dar (vgl. Schmitz 2006): Ich selbst sollte ein Sohn, ein Enkel dieses mordenden Geschlechts sein? Ich sollte diese Soldaten, als meine Vorfahren, diese Marschierer als meine Vorläufer erkennen [. . .] Nein, ich wollte mit dieser Geschichte nichts zu tun haben. (Ortheil: Hecke 38) 13
Ulla Hahns Unscharfe Bilder, Günter Grass’ Im Krebsgang, Tania Dückers’ Himmelskörper und Marcel Beyers Spione sind die wohl bekanntesten Romantexte. Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders, Dagmar Leupolds Nach den Kriegen, Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land, Thomas Medicus’ In den Augen menes Großvaters, Wibke Bruns’ Meines Vaters Land sind wohl die am meisten kommentierten auto- bzw. heterobiographischen Texte. 14 Zum Thema der transgenerationellen Erinnerung, bzw. Traumatisierung siehe die Beiträge in Rüsen und Straub. Zum Thema Familienerinnerungen in der Literatur siehe v.a. Weigel, Eigler und Fuchs. Zum Thema postmemory siehe Hirsch, wie auch das 3. Kapitel in Fuchs, S. 45–76. Siehe auch die Beiträge von Katja Stopka und Silke Horstkotte in diesem Band.
106 So beginnt Hanns-Josef Ortheils Ich-Erzähler in Hecke von 1983 seine Erkundungen in die Familiengeschichte unterm Nationalsozialismus. Diese Textstelle markiert, zwanzig Jahre vor den rezenten Familientexten paradigmatisch den Zusammenhang zwischen dem Erbe der Shoah in den Nachkriegsgenerationen und der innerfamiliären Genealogie. Die von der Shoah ausgehende und der Trope vom Zivilisationsbruch Auschwitz eingeschriebene disruptive Gewalt wird, kulturell und innerfamiliär, erfahren als Austreibung aus Genealogie und Topographie. Mit dieser Geschichte, der Geschichte der Vorfahren als Täter, hat der Erzähler von Ortheils Hecke jedoch auch nach der 300-seitigen detektivischen Spurensuche in der Familiengeschichte nicht wirklich etwas zu tun. Stattdessen entdeckt er den Ursprung der eigenen Existenz in einer traumatischen Geschichte der Familie als Opfer von Gewalt und Verstrickung. Die Einstellung von Ortheils Ich-Erzähler am Beginn des Romans markiert selbstreflexiv sowohl das Modell der sogenannten Vater-Romane der 70er und 80er Jahre, als auch den Beginn des Umschlags in eine versuchte Rückkehr in die Genealogie, die 20 Jahre später die Welle der Familienerzählungen auszeichnet (vgl. Schmitz 2010). Lassen sich die Vätertexte der 70er und 80er Jahre als ein Abdruck der in der Studentenbewegung virulenten Fantasie eines a-genealogischen Ursprungs lesen (vgl. hierzu Weigel), als Austritt aus der Familiengeschichte, dessen Auslöser die schamerfüllte Begegnung mit der disruptiven Gewalt der Shoah in der Generation danach ist, so geht es in vielen rezenten Familientexten um eine Bearbeitung genau dieses Problems: von der Shoah her fällt ein Schatten des Generalverdachts auf die Vorfahren, der einem affirmativen Verhältnis zur Familiengeschichte, einem Wiedereintritt in die Genealogie im Wege steht. In nahezu allen Generationentexten, sei es aus der ‘zweiten’ oder ‘dritten’ Generation, gibt es den Moment, in dem die Begegnung mit den Naziverbrechen die Genealogie unterhöhlt: “Das Erbe dieser Väter war auszuschlagen”, heißt es in Wibke Bruhns Meines Vaters Land (2004) zu Beginn (Bruhns 19). Thomas Medicus denkt bei seinen ersten Besuchen in Ostpreußen, dem Land seiner Vorfahren, an das Bildgedächtnis des Zweiten Weltkrieges, an “umkämpfte Oderstädte, verdreckte Soldaten”, eine “Tabugrenze” (Medicus 21). Die Beschäftigung mit seinem Großvater, dem Wehrmachtsgeneral Crisolli, der verdächtigt wird, für Partisanenerschießungen in Oberitalien verantwortlich zu sein, begleitet ein Gefühl der “Obszönität” (Medicus 39). Die Erzählerin aus Tanja Dückers’ Himmelskörper (2002), selbst Angehörige der ‘dritten Generation’ wird in den frühen siebziger Jahren in der Schule mit Bildern aus den Todeslagern konfrontiert, Bilder “aus einer anderen Welt”, inkompatibel mit den Erzählungen der Großeltern aus dem Krieg: “Es gab keinen Ort mehr, der nicht an diese Filme erinnerte” (Dückers 92).
107 Was in den Familientexten bearbeitet wird, ist der Konflikt zwischen zwei inkompatiblen Erinnerungsreservoirs, die Harald Welzer, Sabine Moller und Caroline Tschuggnall in ihrer Studie Opa war kein Nazi (2002) als ‘Lexikon’ und als ‘Album’ bezeichnet haben. Während das öffentliche Reservoir des Lexikons mit Bildern von Naziopfern und -tätern bestückt ist, bevölkern das innerfamiliäre Album Erzählungen des Leidens, der Opferbereitschaft und des Heroismus (vgl. Welzer/Moller/Tschuggnall 10). Der Konflikt zwischen dem Album familiärer Erzählungen und dem Lexikon der öffentlichen Erinnerung an die Shoah markiert das Zentrum der Familientexte (vgl. Schmitz 2010). In einem bemerkenswerten Teil dieser Texte, sowohl fiktionaler als auch autobiographischer Natur, wird dieser Konflikt durch eine historisierende Reflexion auf die identitätsstiftende Bedeutung der Trope des Zivilisationsbruches in der sogenannten ‘zweiten Generation’ bearbeitet. Die ‘zweite Generation’ wird als Kinder einer nur auf die eigene Traumatisierung fokussierenden ‘Erlebnisgeneration’ inszeniert. Diese ‘zweite Generation’ definiert sich, im Gegensatz zu den Eltern, ausschließlich über das Erbe der Shoah, von dem sie einen historischen Auftrag empfängt, der sie als Hüter eines geschichtsphilosophischen Paradigmas inthronisiert. Als Beispiel ließen sich Ortheils Abschied von den Kriegsteilnehmern, Wackwitz’ Ein unsichtbares Land (2003), Bruhns’ Meines Vaters Land und Grass’ Im Krebsgang, Tanja Dückers’ Himmelskörper und Ulla Hahns Unscharfe Bilder (2003) anführen. Alle oben genannten Texte unterschreiben mit unterschiedlicher Akzentuierung Christian Schneiders Beschreibung der Trope des Zivilisationsbruches als von der zweiten Generation “kanonisiert[e] und monopolisiert[e] Deutungsform [. . .] des Indexverbrechens der Moderne” (Schneider 234), deren Ursprung in der Beziehung der zweiten Generation zur Frankfurter Schule liege. Diese Beziehung besäße, so Schneider, den Charakter eines Freudschen Familienromans, da die zweite Generation in den Denkern der Frankfurter Schule ihre Wunscheltern erblickt habe, die sie von der Scham, von Tätern abzustammen, erlöst habe (vgl. Schneider 234). Die 68er Generation habe sich über die Identifikation mit den Opfern die “doppelte Rolle des Wächters und Anklägers gesichert” (Schneider 245). Das Insistieren auf der Einzigartigkeit der Shoah, die “Rede vom Zivilisationsbruch” sei unverzichtbarer Teil eines Selbstverortungsprogrammes, mit dem die zweite Generation versucht habe, sich aus der Geschlechterfolge zu lösen und sich autopoietisch als neue erste Generation zu konstruieren. (Schneider 248)
Diese Lesart der seelischen Verwicklung der ‘zweiten Generation’ in die Geschichte der Eltern, aus der sie sich durch Identifizierung mit den Opfern
108 zu lösen sucht, hat sich mittlerweile breitflächig durchgesetzt.15 In den oben genannten Generationstexten verläuft die Wiederannäherung an die Vorgänger über die Historisierung der Trope des Zivilisationsbruches bzw. die Historisierung der Position der ‘zweiten Generation’ als Geschichtsdeuter. Durch diese Historisierung, durch die Shoah und NS-Verbrechen ihren Status als Zivilisationsbruch samt der damit empfundenen Stillstellung der Zeitrechnung verlieren, wird eine Rückkehr in die Gegenwart möglich, eine Gegenwart, in der die Vergangenheit als abgeschlossen, d.h. nicht mehr die Gegenwart belastend erfahren wird. Sowohl bei Stephan Wackwitz als auch bei Hanns-Josef Ortheil wird die Trope von Auschwitz als dem “schwarze[n] Loch in der Historie der modernen Welt, in das alles hineinstürzt, was in seine Nähe kommt” (Wackwitz 138) explizit als den Wiedereintritt in die Genealogie versperrend markiert: [. . .] ich hatte mich, seit ich von diesen Verfolgungen gehört hatte, darüber nie beruhigen können, ja, in schlimmen Augenblicken war es mir sogar vorgekommen, als sei die menschliche Geschichte mit diesen Verfolgungen an ein Ende gelangt. (Ortheil: Abschied 107)
Der Anschluss an die Familientradition geschieht sowohl bei Ortheil als auch bei Wackwitz über die Historisierung dieses Markers: “Aber das war nicht immer so und es ist erst in den letzten Jahrzehnten so geworden” (Wackwitz, 138). Ulla Hahns Unscharfe Bilder inszeniert ein Verhör zwischen einem Vater und seiner Tochter, die ihn auf einem Foto der Wehrmachtsausstellung erkannt haben will. Die Tochter will nicht glauben, dass der Vater, der an vorderster Front am Überfall auf Polen und die Sowjetunion beteiligt war, nichts von den Gräueln an der Bevölkerung gesehen hat: “Und auf dem ganzen Weg, auf dieser ganzen langen Strecke, [. . .] da habt ihr nichts von diesen schändlichen Morden gesehen?” (Hahn 48). Die gleiche Konstellation weist auch Ortheils Abschied von den Kriegsteilnehmern auf, wo sich Sohn und Vater, der in Kattowitz stationiert gewesen war, wie “Richter und Angeklagter” gegenübersitzen: “Es war aber doch ganz unmöglich gewesen, dass man von diesen Pogromen und der Vertreibung der Juden nichts erfahren hatte 15
Wie breitflächig zeigt ein Kommentar von Götz Aly im Kölner Stadt-Anzeiger vom 29. Februar 2012 zur Aufstellung von Beate Klarsfeld als Gegenkandidatin zu Joachim Gauck zur Wahl des Bundespräsidenten. Aly beschreibt die Ohrfeige, die Klarsfeld dem damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger 1968 wegen seiner NS-Vergangenheit verabreicht als “Dokument verzweifelter Schuldabwehr”, eine Geste, die vorbildlich auf die Studentenbewegung gewirkt habe: “[s]ie entlastete jüngere Deutsche, die im Eiltempo auf die bessere Seite der Geschichte wechseln wollten” (Aly).
109 [. . .] dass man nichts von dem Lager Auschwitz erfahren hatte” (Ortheil: Abschied 104). Während die Tochter die traumatischen Erlebnisse des Vaters nicht in ihren von NS-Verbrechen bestimmten Referenzhorizont integrieren kann, beharrt der Vater auf seiner Traumatisierung im Russlandfeldzug. Die moralisch eindeutige Urteilsposition der Tochter wird durch die Erzählungen des Vaters zusehends aufgelöst, veruneindeutigt. Auch bei Hahn erscheint die ‘zweite Generation’ als selbstgerecht urteilend, “unnachgiebig, fast hart” (Hahn 44), eine Position, die zunehmend durch einfühlendes Verstehen aufgelöst wird. In Thomas Medicus’ In den Augen meines Großvaters geschieht die Transformation des die Familie überschattenden Familiengespenstes in Gestalt des aus Scham totgeschwiegenen Großvaters und Wehrmachtsgenerals Crisolli durch die Transformation des Verdachts an seiner Teilhabe an Zivilmassakern in der Toskana in das, was Medicus anderswo als “justitiable Täterschaften” bezeichnet hat (Medicus: Archiv 6). Medicus’ detaillierte Recherchen an Ort und Stelle fördern drei nachweisbare Erschießungen zutage. Selbst wenn Medicus im Text meint, seines Großvaters “vergleichsweise” Anständigkeit sei “kein Trost” (Medicus: In den Augen 239), gibt der Text als Ganzes ihm Unrecht. Wenn ein Problem der ‘Bewältigung’ des Nationalsozialismus darin liegt, dass angesichts seiner Verbrechen die Kategorien der bürgerlichen Justiz keine rechte Antwort bereitstellen, so sind justitiable Täterschaften genau das, was dieser Justiz adäquat ist. Auch Medicus kommt, wie Wackwitz und Ortheil, in einer reinen Gegenwart an, das ostpreußische Territorium ist befreit vom Gespenst der Nazizeit, “die Nachkriegszeit [war] zu Ende” (Medicus: In den Augen 239). Tanja Dückers’ Himmelskörper inszeniert den Konflikt zwischen Erlebnisgeneration und zweiter Generation als innerfamiliären stand-off zwischen den sich auf die Traumatisierung konzentrierenden Großeltern und der diese Erfahrungen in einen didaktischen Geschichtskontext einbettenden Tochter, deren Scham über ihr eigenes kleinkindliches Verhalten als Denunziantin der Nachbarn diese Einstellung motiviert und symbolisch verortet. Die zweite Generation erscheint hier, wie auch bei Ortheil, Wackwitz und Grass als Hüter der Geschichtsdeutung, deren zwanghafte Didaktik sich aus der Scham gegenüber der Familienverwicklung in die Shoah speist, und die der dritten Generation die Art des Zugangs zur Geschichte vorschreibt: “Da wir den Krieg nicht selbst miterlebt hatten, wurden wir für unmündig erklärt” (Dückers 95). Das Aufeinandertreffen der generationell inkompatiblen Erinnerungen ist ein Spiel mit verteilten Rollen, fast wie am Reißbrett nach dem Muster von Opa war kein Nazi als Zusammenstoß zwischen Lexikon und Album inszeniert. Zwar scheint die NS-Vergangenheit der Großeltern im Verlaufe des Romans durch unheimliche, rassisch-völkische Anekdoten auf, die die leidvollen und nostalgischen Erzählungen als Deckerinnerungen
110 entlarven, die Ironie der Erzählung jedoch gilt der Mutter, die in diesem anekdotischen Familienzusammenhang als rechthaberisch erscheint. Die Mutter “schaltete sich mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks [. . .] ein”, sie “setzte [. . .] meist zu einer etwas längeren Rede ein, wobei sie [. . .] wie eine aufgeregte Abiturientin bei einer mündlichen Prüfung sprach” (Dückers 127ff.). Dückers’ Ableitung und schlussendliche Pathologisierung des unbarmherzigen Fokus der ‘zweiten Generation’ auf deutscher Schuld und deutscher Verantwortung angesichts der Leidensgeschichten der ‘Erlebnisgeneration’ aus einem psychisch unerträglichen Gefühl der Verstrickung deckt sich mit Stephan Wackwitz’ Fazit in Ein unsichtbares Land, dass die Ablehnung der Elterngeneration seitens der Studentenbewegung – hier symbolisch als Zentrum Rudi Dutschke, der sich aus Scham, Deutscher zu sein als Kind jüdischer Eltern imaginiert habe – quasi pathologische Ursprünge habe und das Fortleben nationalsozialistischen Erbes verdecke (vgl. Wackwitz 256). Erst die dritte Generation, so Dückers’ Fazit, sei in der Lage, die Bürde der Geschichte produktiv zu transformieren: Die 68er hatten doch ein emotional angestrengteres Verhältnis zu ihren Eltern, zu der Tätergeneration, da war eine Konfrontation von zwei Generationen, die beide den Krieg noch erlebt hatten. Meine Generation ist die erste, die einen nüchternen Blick auf dieses Thema wagen kann. (Partouche 1)
Anne Fuchs hat zu Recht diese Vorstellung als “epistemological naiveté” (Fuchs 55) bezeichnet, die die problematische Situation der Darstellung historischer Fragen sowie der eigenen Verwickeltheit in Macht- und Diskursprozesse unbeachtet lässt. Der Akt der Transformation der Familienerinnerungen im Roman bleibt so abstrakt, dass von einer Aneignung der Geschichte nicht wirklich die Rede sein kann, eher von deren Liquidierung. Hajo Hahns Feststellung anhand von Texten von David Wagner und Florian Illies, in der ‘dritten Generation’ gäbe es ein Bedürfnis, sich von ererbten Schuldgefühlen gegenüber dem Erbe des Nationalsozialismus zu lösen durch die Unterstellung, sie seien einem von übereifrigen 68ern, die selbst unter diesen Schuldgefühlen litten, eingeimpft worden, wäre also auch auf Dückers auszudehnen (vgl. H. Hahn 15). Weiterhin zeigen die Familienromane aus der ‘zweiten Generation’ (Wackwitz, Medicus, Bruns, Ortheil), dass Dückers ihre Vorstellung der 68er als eine Generation, die “in ihrer Väteranklage steckengeblieben” sei (A.K. Hahn), mit deren Vertretern teilt, so dass es sich hier eher um eine versuchte Positionsbestimmung innerhalb einer Diskursfront handelt, anstatt um ein generationsbedingtes Ausscheren daraus. Die erwähnten Generationentexte zeichnen sich bei aller Verschiedenheit im Detail dadurch aus, dass das Unbehagen am Nationalsozialismus und der Shoah im Zusammenhang mit der Familienhistorie dadurch bearbeitet wird,
111 dass der ‘Zivilisationsbruch’ mittels Historisierung der Position der ‘zweiten Generation’ überbrückt wird, was den Wiedereintritt in die Gegenwart und die Geschichte ermöglicht. In allen hier betrachteten Texten, die aus einer ‘innerdeutschen’, d.h. einer einem kollektiven Narrativ zuarbeitenden Perspektive verfasst sind, stellt die Shoah das zentrale Referenzproblem bei der Darstellung ‘deutschen’ Leidens, bzw. nichtjüdisch-deutscher Kriegserfahrungen dar. Die von ihr ausgehende disruptive Gewalt in Verbindung mit Fragen von Schuld und Verantwortung droht die Konzentrierung auf nichtjüdisch-deutsche Erfahrungen zu delegitimieren. Während Friedrich die Trope des traumatischen Zivilisationsbruches auf den Luftkrieg und die Nachkriegszeit überträgt, und so ein der Shoah analoges Narrativ kollektiven Traumas produziert, bearbeiten die hier besprochenen Generationentexte die (ver)störende Ruptur ‘Auschwitz’ zwecks einer Rückkehr in eine Geschichte, die nicht mehr unter dem Schatten der Shoah stehen soll. Allein bei Sebald, dessen Werk sich durch eine Außenperspektive zum innerdeutschen Nachkriegsdiskurs auszeichnet, erfolgt die Behandlung des Leidens im Luftkrieg ohne Legitimationsdruck durch die Shoah.
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Silke Horstkotte
“Ich bin, woran ich mich erinnere.” Benjamin Steins Die Leinwand und der Fall Wilkomirski With the death of the last witnesses, a new generation of writers is readdressing the legitimacy of Holocaust fictions and seeking new imaginative and artful approaches to the event. This article discusses the end of the witness paradigm indicated by the increasing heterogeneity of Holocaust representations through a close reading of Benjamin Stein’s novel Die Leinwand (The Canvas). By fictionalizing an authentic case that raised important questions about the moral ownership of affiliative Holocaust memories – the Wilkomirski scandal – and by mediating this historical precedent through the narrative structure of a doubly unreliable flip book, the novel illustrates that the highly normative assumptions associated with the reliable witness model no longer pose sufficient guidelines for a contemporary poetics of the Holocaust.
“A new choice of stories” Mit fortschreitender zeitlicher und generationeller Entfernung von den Verbrechen der Nationalsozialisten verändern sich die ästhetischen Mittel, die einer dritten und vierten Generation für die Repräsentation und Inszenierung von Holocaustgedächtnissen zur Verfügung stehen, ändern sich die Kriterien für die Bewertung dessen, was dabei als akzeptabel und angemessen gilt, und ändern sich die Fragen, die in ästhetischen Diskursen an die Ereignisse, ihre Akteure und die Art und Weise ihrer bewahrenden und interpretierenden Vermittlung gestellt werden. Vor allem in der internationalen Literatur werden die Geschichten, die über den Holocaust erzählt werden, zunehmend freier, kreativer und auch potentiell anstößiger im Umgang mit der dokumentierten Historie. Zu denken wäre an den Tabubruch von Jonathan Littells Die Wohlgesinnten (2006/2008) oder an den geringeren, aber ähnlich gearteten Tabubruch in Jonathan Safran Foers Roman Everything is Illuminated (2002), in dem die Suche eines jungen jüdischen Amerikaners nach den Wurzeln seiner im Holocaust umgekommenen Vorfahren zur Screwball Comedy mit einem Borat-artigen Reiseführer avant la lettre avanciert. Und in Yann Martels Beatrice & Virgil (2010) wird der Holocaust durch die Erfahrungen eines Esels und eines Affen figuriert und steht damit – möglicherweise – metaphorisch für die Jagd auf Tiere und die Vernichtung tierischen Lebensraums durch den Menschen. Diese und andere Beispiele illustrieren den Prozess einer fortschreitenden Ablösung von bisher gültigen Vorstellungen hinsichtlich der Ereignisse, die dargestellt werden können, der dazu verwendeten ästhetischen Mittel und der
116 Perspektivierung ihrer Repräsentation. Vor allem ist es das hochgradig normative Konzept des Zeugen und des Zeugnisses, das seit einigen Jahren im Zuge eines wachsenden Anteils fiktionaler, also nicht-dokumentarischer Darstellungsformen am Genre Holocaustliteratur vermehrt durch narrative Muster aus dem Bereich beispielsweise der Fantastik und der Groteske abgelöst wird. Marianne Hirsch hat in ihren verschiedenen Formulierungen des postmemory-Konzeptes darauf aufmerksam gemacht, dass die wachsende Medialisierung von Postgedächtnissen und die Zunahme von affiliativen im Gegensatz zu familialen Postgedächtnissen diese auch immer offener für imaginative Auseinandersetzungen macht. Stellt postmemory in Hirschs frühen Arbeiten ein ausschließlich für die Kinder von Holocaustüberlebenden reserviertes Konzept dar (vgl. Hirsch: Family Frames 22), so betonen spätere Aufsätze, dass das Postgedächtnis zwar auf dem Modell familiärer Vererbung basiere, als Gedächtnisraum jedoch allen Nachgeborenen offen stehe (vgl. Hirsch: Surviving Images 10): postmemory is not an identity position, but a space of remembrance, more broadly available through cultural and public, and not merely individual and personal, acts of remembrance, identification, and projection. (Hirsch: Projected Memory 8f.)
Der so verstandene postmemoriale Gedächtnisraum schließt mit zunehmender Distanz zu den erinnerten Ereignissen explizit kreative und imaginative Formen der Auseinandersetzung und der Repräsentation ein (vgl. Hirsch: Projected Memory 8). Damit nähert Hirsch sich einerseits dem identitätsoffenen Begriff pluraler postmemories von Andreas Liss an; andererseits begreift sie auch in jüngeren Arbeiten die Struktur familialer Vermittlungen und Repräsentationen als konstitutiv für affiliative Akte des Postgedächtnisses, also für künstlerische Arbeiten, die nicht von den biologischen Nachkommen der Opfer stammen (vgl. Hirsch: Generation of Postmemory 115). Die eingangs erwähnten affiliativen Holocaust-Repräsentationen loten diese neue Freiheit im künstlerischen Umgang mit Holocaustgedächtnissen, die in theoretischen Stellungnahmen noch sehr vorsichtig erhoben wird, mit konsequenter Radikalität aus. Die Figur Henry, in Yann Martels Roman Verfasser eines Holocaust-Romans, erklärt programmatisch: My book is about representations of the Holocaust. The event is gone; we are left with stories about it. My book is about a new choice of stories. With a historical event, we not only have to bear witness, that is, tell what happened and address the needs of ghosts. We also have to interpret and conclude, so that the needs of people today, the children of ghosts, can be addressed. (Martel 15)
Mit dieser Ansicht stößt Henry im Roman, und stieß der Autor Yann Martel in der Wirklichkeit, allerdings auf heftigen Widerstand. Henry, eine Spiegelfigur des Autors, kann seinen Holocaustroman nämlich nicht veröffentlichen.
117 Auch Martel musste sein Buch massiv überarbeiten, bevor es schließlich vom Verlag angenommen wurde (vgl. Barber). Insbesondere ist es die spielerische Anlage als flip book, die bei Henrys Verlegern auf Widerstand stößt: Henry hat nämlich nicht nur einen, sondern zwei Texte verfasst – eine fiktionale Erzählung und einen Essay –, die er nicht nacheinander, sondern in einem Buch mit zwei Vorderseiten und zwei möglichen Lektüren veröffentlichen möchte. Damit besiegelt er – romanintern – das Schicksal seines Buches, denn ein Buch, bei dem der Verleger nicht weiß, wo er den Strichcode hindrucken soll, ist ein Buch, das man nicht veröffentlichen kann: “Where do you put a bar code on a book with two front covers?” (Martel 14). Der Roman Die Leinwand des deutsch-jüdischen Schriftstellers Benjamin Stein, der im gleichen Jahr wie Martels Beatrice & Virgil erschien, verwirklicht die Ambition des fiktiven Henry: Die Leinwand ist ein flip book mit zwei Eingängen und keinem Ausgang. Weil Steins Roman die selbstbezüglich formulierte Frage nach der Ethik und der Legitimität eines affiliativen Postgedächtnisses auf besonders raffinierte Weise mit den Mitteln der literarischen Fantastik verbindet, kann er als paradigmatisch für eine literarische Verabschiedung des Zeugenparadigmas gelesen werden. Durch die Kombination zweier unzuverlässiger Erzählverfahren in den beiden Hälften des Buches demonstriert der Roman nämlich, dass das Konzept des Holocaust-Zeugen, das auf der Annahme einer absoluten Wahrhaftigkeit von Erinnerungen beruht, per se eine Fiktion ist. Andererseits realisiert Die Leinwand jedoch keinen vollkommen freien Umgang mit dem Holocaust, wie Henry ihn in Martels Text fordert – “this idea you have where we’re supposed to throw our whole imagination at the Holocaust – Holocaust westerns, Holocaust science fictions, Holocaust Jamaican bobsled team comedies” (Martel 13). Vielmehr greift Steins Roman einen authentischen Literaturskandal auf, an dem sich Ende der 1990er Jahre eine erhitzte Debatte um die Authentizität und Legitimität von Holocaust-Gedächtnissen entzündete, nämlich den Fall Wilkomirski, und bezieht sich somit auf eine öffentliche Debatte, die binnenliterarische und ästhetische mit lebensweltlichen und ethischen Fragen verband. Unter dem Autornamen Binjamin Wilkomirski wurde im Jahr 1995 der Band Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 veröffentlicht, anscheinend die Kindheitserinnerungen eines Holocaust-Überlebenden. Wie der Schweizer Historiker Stefan Mächler auf Basis der Vorarbeiten des Journalisten Daniel Ganzfried aufdeckte, handelte es sich bei dem Autor jedoch keineswegs um einen lettischen KZ-Überlebenden, sondern um den gebürtigen Schweizer Bruno Grosjean (später, durch Adoption, Bruno Dössecker) (vgl. Mächler). Das Buch wurde vom Jüdischen Verlag, einem Imprint des SuhrkampVerlags, vom Markt genommen, obwohl es keinen paratextuellen Hinweis auf eine autobiographische Basis gegeben hatte. Auch nachdem die Identität Dösseckers mit einem gerichtlich angeordneten DNA-Test zweifelsfrei
118 nachgewiesen wurde, beharrt dieser allerdings weiter auf seiner subjektiven Wahrheit und ist überzeugt, KZ-Überlebender zu sein.1 Benjamin Steins Roman inszeniert und problematisiert eine Reihe von Fragen, die sich aus diesem historischen Fall ergeben: Was ist fiktional, was authentisch im Erzählen über den Holocaust? Wem gehört die Erinnerung an den Holocaust? Was, wenn einer subjektiv von der Wahrheit seiner Holocaust-Erinnerung überzeugt ist, obwohl sich diese faktisch nicht erhärten oder aber sogar widerlegen lässt? Welche Geschichte gilt dann? Von hier aus formuliert der Roman sodann Fragen, die weit über diese HolocaustFokussierung hinausgehen: Was ist überhaupt Identität, und wer bestimmt, welches meine Identität ist? Wer verbürgt also die Wahrheit meiner Geschichte und meiner Erinnerung? Dass das Identitätskonzept des Romans hochgradig anti-essentialistisch ist, verrät schon ein schlichter Blick auf das Äußere des Buchs: auf seine Anlage als flip book. Wie der Erzähler in Martels Roman erklärt, hat ein flip book two front doors, but no exit. Its form embodies the notion that the matter discussed within has no resolution, no back cover that can be neatly, patly closed on it. Rather, the matter is never finished with; always the reader is brought to a central page where, because the text now appears upside down, the reader is made to understand that he or she has not understood, that he or she cannot fully understand, but must think again in a different way and start all over. (Martel 8)
In der Tat hat Die Leinwand nicht einen Anfang und ein Ende, sondern zwei Anfänge und eine Mitte, in der sich die Erzählpfade der beiden Erzähler Amnon Zichroni und Jan Wechsler treffen. Das Buch verweigert also systematisch jede Art der Schließung oder closure: Egal, welchem Lektürepfad der Leser folgt, er wird immer bei einer Aufforderung zur Relektüre enden, denn beide Erzählungen erscheinen im Licht der jeweils anderen gewandelt und neu. Nicht nur diese Doppelstruktur begründet allerdings die Fantastik der Erzählwelt, sondern auch und vor allem die Tatsache, dass es für die Klimax der beiden Geschichten – die beide um den Wilkomirski-Skandal, dessen Aufdeckung und Nachwirkung kreisen – sowohl natürliche Erklärungen aus dem Arsenal der Kriminalliteratur als auch übernatürliche aus dem Bereich der literarischen Fantastik gibt. Ich werde nun die beiden Erzählpfade in der Chronologie der erzählten Zeit nacheinander rekonstruieren und dann diskutieren, welche Schwierigkeiten sich für eine interpretatorische Verbindung der
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Für einen Überblick zum Skandal und den daraus resultierenden Debatten vgl. Dieckmann und Schoeps: Das Wilkomorski-Syndrom sowie Ganzfried: . . . alias Wilkomirski.
119 beiden Pfade ergeben. Im letzten Teil meines Aufsatzes erläutere ich, welche Perspektiven sich aus Steins Roman für eine Literatur nach dem Ende des Zeugenparadigmas ergeben.
Amnon Zichroni oder ‘mein Gedächtnis’ Der Bericht des israelischen Psychiaters Amnon Zichroni behandelt dessen Autobiographie von seiner Kindheit in der radikalen Orthodoxie Mea Shearims und im orthodoxen Mainstream Geulas über die Jugend in einem religiösen Internat in Neuengland, das Studium an der New Yorker Yeshiva University und die Berufstätigkeit in den USA und in der Schweiz. Die erzählte Zeit umfasst mehrere Jahrzehnte und endet mit dem 7. Januar 2008. Datiert ist Zichronis Bericht am Ende allerdings mit Sh’vat bis Av 5678, das entspricht einem Zeitraum von etwa Januar bis Juli 2008. Der Bericht scheint also retrospektiv verfasst worden zu sein; er umfasst zahlreiche Analepsen und trägt deutliche Zeichen schriftlicher Komponiertheit. Der Name des Protagonisten ist ein angenommener (vgl. Z. 188);2 Zichroni bedeutet ‘mein Gedächtnis’. Der Name verweist auf die mysteriöse Gabe seines Trägers, die Erinnerungen anderer Menschen durch Handauflegen empfangen und so zu seinem eigenen Gedächtnis machen zu können. Für den Psychiater Zichroni, der mit der konventionellen medikamentösen Behandlung seiner oft schwer traumatisierten Patienten außerordentlich unzufrieden ist, scheint die Gabe zunächst einen vielversprechenden alternativen Heilungsweg darzustellen. Tatsächlich kann er die psychisch kranke Lauren, die in einem christlich-fundamentalistischen Umfeld aufwuchs und durch Schilderungen der Höllenstrafen des jüngsten Gerichts traumatisiert wurde, von ihren Erinnerungen reinigen und heilen. In verschiedenen anderen Fällen scheitert er jedoch. Er beginnt deshalb, weiße Handschuhe zu tragen, um zu vermeiden, seine Patienten aus Versehen zu berühren und mit ihren Erinnerungen konfrontiert zu werden. Doch als ein gewisser Herr Minsky, den er zunächst als Geigenbauer und -fachmann kennengelernt hat, ihm von seinen furchtbaren Kindheitserinnerungen berichtet, kann Zichroni der Versuchung nicht widerstehen: Er streift die Handschuhe ab und berührt Minsky, um lediglich für einen Augenblick selbst in den Abgrund seiner Erinnerung hinab[zu]steigen, um mir klarzumachen, dass sich all das, wovon ich bisher nichts hatte wissen wollen [d.h. der Holocaust, SH], in seiner ganzen unvorstellbaren Grausamkeit tatsächlich ereignet hatte. Es war das erste und einzige Mal, dass ich
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Der Roman ist wegen der doppelten Anlage zweifach paginiert; ich folge der Praxis des Verlags und gebe mit W. die Wechsler- und mit Z. die Zichroni-Geschichte an.
120 Minsky berührte. Als ich meine Hand auf seine Stirn legte, wurde ich von panischer Angst erfasst. Ich hockte zusammengekauert auf einem grob gezimmerten Dielenboden unter einem niedrigen Tisch. Es war dämmerig, und eine Frau stapfte brüllend durch den Raum [. . .]. (Z. 174)
Zichroni, überzeugt von der Wahrhaftigkeit der Erinnerungen Minskys, wird zu dessen engstem Vertrauten, er befördert tatkräftig die Niederschrift von dessen autobiographischem Bericht Aschentage, und er ist an der Vermarktung des Buches auf Lesungen und bei Medienauftritten Minskys beteiligt. Im Frühjahr 1996 begegnet er erstmals einem gewissen Jan Wechsler bei einer Doppellesung Minskys und Wechslers auf der Leipziger Buchmesse. Zwei Jahre später erscheint ein Artikel Wechslers in der deutschen Presse, der enthüllt, dass Minsky seine Kindheit nicht in KZs, sondern in Schweizer Kinderheimen verbrachte, eine Behauptung, die Wechsler kurz darauf in seinem Buch Maskeraden erhärtet. In den Figuren Minsky und Wechsler lassen sich also unschwer Binjamin Wilkomirski und Daniel Ganzfried wiedererkennen; aus Stefan Mächler hat der Autor im Roman Hans Macht gemacht. Die romaninterne Skandalchronologie folgt quasi eins zu eins dem wirklichen Wilkomirski-Skandal. Mit einer Ausnahme: der hinzugedichteten, mysteriösen Gabe des Psychiaters Zichroni. Das Motiv der Gabe lädt Zichronis Version der Minsky-Affäre, und damit Benjamin Steins fiktionalisierte Darstellung des Wilkomirski-Skandals, von Anfang an mit übernatürlichen und religiösen Semantiken auf. Zichronis Gabe kann in dem ultrareligiösen Kontext, in dem die Figur sich bewegt, eigentlich nur als messianische Gabe verstanden werden, denn das Gedankenlesen wird an verschiedenen Stellen der hebräischen Bibel, vor allem in Ps 139, als Gottesprivileg charakterisiert. Tatsächlich beschreibt Zichroni selbst die kreativen Aspekte der Psychoanalyse mit ihrer quasi-fiktionalen Neukonstitution des autobiographischen Narrativs aus Gedächtnisbruchstücken in Anlehnung an das kabbalistische Konzept des tikkun, der Wiederherstellung des göttlichen Lichtes als Vollendung der Schöpfung: “Es war ein Tikkun, der die versprengten Funken eines verstörten Selbst aus den Träumen zusammensuchte, um ihnen ein neues Gefäß zu geben.” (Z. 153). Sein Ziel ist es also weniger, einen wahren, d.h. intersubjektiv beglaubigten Ursprung des traumatischen Erlebens freizulegen, als vielmehr eine Gedächtniserzählung zu produzieren, die ausgehend von den Bedürfnissen der Gegenwart dem verletzten Selbst seiner Patienten Einheit und Geschlossenheit verleihen kann. Erinnerung wird für ihn zum unhintergehbaren Kern persönlicher Identität, und zwar unabhängig davon, ob die Erinnerung wahr ist: “Unsere Erinnerungen sind es, die uns zu dem machen, was wir sind. Unser Gedächtnis ist der wahre Sitz unseres Ich” (Z. 7). Dieses Erinnerungskonzept erweist sich angesichts des Minsky-Skandals als nicht tragbar: Die unhintergehbare Subjektivität von Erinnerungen wird
121 in diesem Fall von der Öffentlichkeit massiv abgelehnt. Die Enthüllungen Wechslers und Machts zerstören nicht nur Minskys fragiles Selbstbild, sondern auch die Karriere seines Psychiaters. Der muss seine Schweizer Praxis schließen und fängt unter dem programmatisch gewählten Namen ‘Zichroni’, der noch einmal den Anspruch eines nur subjektiv verifizierbaren Gedächtnisses erhärtet, in einem abgelegenen israelischen Kibbuz ein neues Leben an. Retrospektiv stellt sich für Zichroni nun die Frage: Ist die Gabe ihm von Gott gegeben worden, um anderen Menschen zu helfen? Das scheint durch das Scheitern bei Minsky radikal in Frage gestellt. Oder stammt die Gabe von “Satan, [dem] ewige[n] Versucher” (Z. 8)? Handelt es sich vielleicht um eine Selbstermächtigung des Menschen, der sich mit Gott auf gleiche Ebene stellt? Oder liegt es am Beschenkten selbst, die Gabe unabhängig vom Geber “zu einem Segen oder einem Fluch zu machen” (Z. 8)? Zichroni empfindet die Gabe nach dem Debakel mit Minsky als Sünde und sucht sich durch den Unschuldsgestus der weißen Handschuhe davon zu distanzieren. Die Frage von Schuld und Unschuld wird damit aus dem justitiellen Bereich, in dem der authentische Fall Wilkomirski sich abspielte, herausgehoben und in eine metaphysische Dimension verschoben. Die vormoderne Vorstellung einer absoluten Polarität von Schuld und Unschuld, Reinheit und Sünde ist konstitutiv auch für das zweite religiöse Motiv, das im Zusammenprall der beiden Geschichten in der Buchmitte katalytische Funktion erhält, nämlich das Mikwe-Motiv. Es wird eingeführt im Zusammenhang mit einer Spontanheilung des Jugendfreundes Eli Rothstein durch den Besuch einer Mikwe, eines religiösen Reinigungsbades, die von den Figuren als göttlicher Akt der Heilung interpretiert wird. Während die Mikwe im jüdisch-orthodoxen Mainstream eine primär soziale Funktion hat,3 wird sie in Die Leinwand, basierend auf kabbalistischen Überlieferungen und Traditionen, zum Ort mystischer Erfahrung und zur Begegnung mit großen Transzendenzen. Die Mikwe als Heilungsort spielt dagegen im Judentum faktisch keine Rolle, mit Ausnahme charismatischer Erneuerungsbewegungen wie etwa dem Chassidismus als Art jüdischer Pfingstbewegung.4 Das MikwenVerständnis Eli Rothsteins ist explizit kabbalistisch, geht Eli doch nach dem Vorbild des Elisha ben Avuya, dem es gelungen sein soll, “allein kraft seines Geistes in die sieben himmlischen Paläste aufzusteigen, im Pardes vor den Thron des göttlichen Glanzes zu gelangen und den Ewigen inmitten der Scharen von Engeln zu schauen” (Z. 83), davon aus, dass das lebendige Wasser 3
Nämlich das Herstellen ritueller Reinheit verheirateter Frauen nach Menstruation oder Entbindung, die für den ehelichen Geschlechtsverkehr notwendig ist. 4 Herzlichen Dank für diesen und andere Hinweise zu jüdischer Religion in Die Leinwand an Prof. Dr. Matthias Morgenstern, Institutum Judaicum, Universität Tübingen.
122 der Mikwe “bei der Heilung seines Körpers durch die eigene Seele lediglich als Katalysator gewirkt” habe (Z. 82). Tatsächlich sei es jedoch der eigene “mentale Akt” gewesen, der “die Materie bezwungen und umgeformt” habe (Z. 82). Das solcherart mystisch aufgeladene Mikwe-Motiv bündelt Semantiken der Heilung, Reinwaschung, aber auch Vergebung und letztlich der verweigerten Vergebung. Denn das Ende der Zichroni-Geschichte suggeriert, dass dieser eine antike Mikwe für einen perfiden Mord nutzte. Zichroni hat sich bereit erklärt, in seinem Kibbuz einen Gast am Sabbat zu beherbergen, und dieser Gast erweist sich als niemand anderer als ein gewisser Jan Wechsler, der die Hetzkampagne gegen Minsky ins Rollen gebracht hatte. Als Wechsler, der Zichroni nicht erkennt, ein Bad in der antiken Mikwe des Ortes zu nehmen wünscht, sieht Zichroni seine Chance gekommen: Das Wasser der Mikwe musste eiskalt sein. Wechlser schnaubte, als er hinabgestiegen war und sich ein erstes Mal, für Sekunden nur, ins Wasser hockte. Dann stand er wieder auf, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. Während er sich so auf seine Tevila vorbereitete, zog ich meine Handschuhe aus. Dann holte Wechsler tief Luft und tauchte unter. Ich kniete mich auf den nasskalten Steinrand des Beckens und streckte die Arme aus. Als er wieder auftauchte und zitternd prustete, sah ich ihm direkt in die Augen und griff nach seinem Kopf. Ich hielt ihn wie einen Ball zwischen meinen Händen und drückte ihn langsam, doch so fest ich nur konnte, zurück ins Wasser. (Z. 193)
Mit diesen suggestiven Worten endet der Zichroni-Teil des Romans. Es liegt nahe, dieses Ende vom Schema der Kriminalerzählung her zu lesen. Offensichtlich ermordet Zichroni den ihm verhassten Wechsler, indem er ihn in der Mikwe ertränkt; gleichzeitig stiehlt er ihm, indem er ihn mit bloßen Händen berührt, seine Erinnerungen. Nach der Logik dieses Erzählstrangs müsste Zichroni zum Erzählerzeitpunkt nicht nur “mein”, sondern auch Wechslers Gedächtnis verkörpern. Eine Kriminalgeschichte mit fantastischreligiösen Elementen also? Die andere Hälfte des Buches stellt Zichronis Darstellung der Ereignisse an der Mikwe radikal in Frage.
Jan Wechsler: “Nicht jede Erinnerung ist mir lieb” Die erzählte Zeit des anderen Erzählstrangs, die flip side des Buches, reicht von Februar bis Oktober 2008. Das ist derselbe Zeitraum, der auch für die Erzählerzeit angegeben wird; da die Erzählung Wechslers in einem Reflexionsstil mit häufigen gedanklichen Brüchen und Aposiopesen gehalten ist und kaum Zeichen kompositorischer Glättung aufweist, ist davon auszugehen, dass es sich hierbei nicht um einen retrospektiv abgefassten Bericht handeln soll, sondern um eine simultane Erzählung, welche im wesentlichen die nicht formalisierten Gedanken des Erzählers im Präsens wiedergibt. Zwar wird die
123 Erzählung an mehreren Stellen unterbrochen durch Analepsen, die Informationen über die Kindheit des Erzählers enthalten, welche er zwar dem Leser, jedoch nicht sich selbst mitteilen muss; doch ist dies eine verbreitete Erzähltechnik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, auf deren logische Inkonsistenzen ich hier deshalb nicht weiter eingehe. Wichtiger scheint mir, dass die erzählte Zeit der Wechsler-Geschichte zwar nach Zichronis Bericht liegt, die Erzählerzeit beider Erzählstränge sich jedoch überschneidet. Auf die Schwierigkeiten, die sich hieraus für die Deutung der Buchmitte ergeben, gehe ich unten noch ein. Wechslers Erzählung beginnt mit einer unerwarteten Restitution: Dem in München lebenden jüdisch-orthodoxen Autor und Familienvater Jan Wechsler wird sein verlorengegangener Koffer von der Fluggesellschaft nach Hause geliefert – nur kann er sich überhaupt nicht daran erinnern, geflogen zu sein, schon gar nicht nach Israel. Auch andere Details seines Lebens vermag Wechsler nicht (mehr) mit Bestimmtheit zu erinnern und verwickelt sich von Anfang seiner Erzählung an immer weiter in Widersprüche. So weiß er nicht mehr, warum er sich entschloss, seine Stelle als Redakteur zu kündigen und “muss sogar einräumen, dass ich im Augenblick lediglich annehme, selbst gekündigt zu haben. Sicher bin ich mir nicht” (W. 17). Doch gleich darauf versichert er im Gegenteil: “Ich erinnere mich deutlich. Alle Details des Augenblicks sind präsent” (W. 17f.). Gerade indem Wechsler behauptet, ein zuverlässiger Zeitzeuge zu sein, stellt er bereits zu diesem frühen Erzählzeitpunkt seine eklatante Unzuverlässigkeit heraus, die nicht nur Details wie die Kündigung bei der Zeitung, sondern die Grundfesten seiner Identität betrifft. Denn glaubt er zunächst, in den 1960er Jahren im Osten Deutschlands geboren zu sein, so wird diese vermeintlich sichere Herkunft bald in Zweifel gerückt. Das geschieht zunächst, indem er auf einen zweiten Autor mit Namen Jan Wechsler stößt. In dem Koffer findet Wechsler nämlich eine Reihe mysteriöser Gegenstände, unter anderem ein paar weiße Handschuhe aus dünnem Baumwollstoff, einen Edelstein in einem Schmuckkästchen, eine Penguin Classics-Ausgabe des Picture of Dorian Gray und – ein Werk mit dem Titel Maskeraden; Autor: ein gewisser Jan Wechsler. Wechsler, der zunächst an eine zufällige Namensgleichheit glaubt, beginnt das Buch zu lesen. Überzeugt, dass es sich bei der Zustellung des Koffers um eine Verwechslung aufgrund der zufälligen Namensgleichheit handelt, schreibt Wechsler über dessen Verlag an seinen vermeintlichen Namensvetter – und erhält eine befremdete Antwort vom Verleger: Warum er denn über den Verlag an sich selber geschrieben habe? Kein Zweifel: Es gibt keine zwei Wechslers, sondern es handelt sich um ein und dieselbe Person. Und diese Person stammt nicht, wie Wechsler selber glaubt, aus Ostberlin, sondern “wurde in Israel geboren und ist mit seiner Mutter als Junge in die Schweiz eingewandert. Seine Großeltern sind in Auschwitz umgekommen” (W. 80).
124 Das ist nicht nur deshalb spannend, weil offensichtliche Parallelen zwischen Wechslers false-memory-Syndrom und dem Wilkomirski-Dösseckers bzw. Minskys bestehen, sondern auch, weil die vermeintliche Ostberliner Herkunft Wechslers deutlich auf die Biographie des Autors Benjamin Stein rekurriert. Wie Wechsler (vermeintlich), ist Stein in Ostberlin geboren und aufgewachsen – unter anderem Namen, denn der Name Benjamin Stein ist ein angenommener. Wechsler wie Stein stammen aus Familien der sogenannten ‘roten Aristokratie’, ihre Großväter waren ZK-Mitglieder, und beide verweigerten den Militärdienst, ohne dadurch ernsthafte Folgen befürchten zu müssen. Stein war und ist als Redakteur, Autor und IT-Berater tätig, und er konvertierte ebenso wie seine Figur Jan Wechsler zum orthodoxen Judentum. Bekanntlich ist die Konversion zum Judentum, und insbesondere zur strenggläubigen orthodoxen Version, ein komplizierter und langwieriger Prozess, der sich über Jahre hinziehen kann. Benjamin Stein hat über diese Schwierigkeiten in den Medien und in seinem Blog turmsegler.net wiederholt und offen berichtet, ebenso wie über seine Familiengeschichte (vgl. Stein: Der Autor als Seelenstripper und ders.: Familiengeschichte). Autor wie Figur leben in München, sind verheiratet und haben zwei Kinder.5 Soweit die Parallelen. Suggestiv ist, dass Benjamin Stein für sich selbst einen Namen gewählt hat, der absolute Festigkeit und Unverrückbarkeit suggeriert, während bei Jan Wechsler schon der Name auf einen Identitäts- und Rollentausch hindeutet. Man kann die Wechsler-Geschichte also, wenn man will, als Gedankenspiel des Autors lesen: Was wäre, wenn . . . ich plötzlich nicht der bin, der ich ganz sicher zu sein glaube, sondern wenn sich meine Identität als ebenso falsch und trügerisch erweist wie die Binjamin Wilkomirskis? Wenn meine Erinnerungen nicht meine Erinnerungen sind, sondern auf Fiktionen beruhen? Wenn auch die von mir gewählte Religion mich nicht verankert – nicht in meiner Umgebung und schon gar nicht in einem metaphysischen Sinne –, sondern als nichts als Maskerade fungiert, die Sicherheit und Distanz zu meinem früheren Leben schafft? Diese essentielle Verunsicherung speist sich aus dem metafiktionalen Trick einer Umkehrung von Realität und Fiktion. Romanintern stammt die Geschichte mit der Ostberliner Jugend nämlich gerade nicht aus der Wirklichkeit, sondern aus einem Roman, nämlich dem Romandebüt Jan Wechslers (vgl. W. 80). Die Konsequenzen dieser Volte sind beträchtlich, und zwar nicht nur für die Figur Wechsler, sondern auch und vor allem für die Erzählkonstruktion des Romans. Denn [wenn] es so war, dann existierte ich gar nicht. Dann bestand ich nur aus der Vorstellung, die ich mir und anderen von mir gemacht hatte. Dann war ich nicht 5
Das war jedenfalls zur Zeit der Publikation der Leinwand der Fall: Ebenso wie die Figur Wechsler ist auch der Autor Stein seither von seiner Frau verlassen worden.
125 mehr als eine literarische Figur; und ein Autor wie Wechsler konnte mit mir und meinem Leben anstellen, was immer ihm gefiel. (W. 82)
Wenn aber der Erzähler nicht existiert, wer erzählt dann die Erzählung? Wechslers Erzählung ist das Ergebnis einer besonders raffinierten narrativen Metalepse, die eine logisch unmögliche, im Sinne von Alber et al. ‘unnatürliche’ Erzählerposition produziert. Wechsler, als homodiegetischer Erzähler die Instanz, die die Erzählung hervorgebracht haben soll, ist selber Produkt der Erzählung eines Anderen. Mit diesem Kunstgriff dreht Die Leinwand das Beweisverhältnis von Realität und Fiktion gegenüber dem Fall Minsky um: Wechsler ist Jude und Enkel jüdischer Holocaust-Opfer, doch er (oder sein gleichnamiges alter ego) fingiert eine alternative Identität, die eines Ostberliner Konvertiten. Wenn Minsky-Wilkomirski von der Sehnsucht getrieben wird, Opfer zu sein,6 so verschleiert Wechsler gezielt seinen Opfer- oder jedenfalls postmemoryStatus. Für Wechsler, den Erzähler, Wechsler, der nach und nach herausfindet, dass er nicht der ist, der er zu glauben meinte, stellt sich nun die Frage: Hat er überhaupt eine lebendige Vergangenheit, ist er ein wirklicher Mensch, oder besteht er aus nichts als Fiktion? Wechslers wie Minskys Identitätswechsel charakterisieren kreative Elemente eines affiliativen Postgedächtnisses, basteln sie ihre jeweilige angenommene Identität doch aus im kulturellen Archiv vorfindbarem Material zusammen. Eine intertextuelle Schlüsselreferenz für dieses Gedächtniskonzept stellt in beiden Teilen der Leinwand Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray dar, das Zichroni einst aus dem verschlossenen Schrank mit den säkularen Büchern seiner Eltern entwendet hatte, womit er seine Verstoßung aus dem Paradies auslöste (vgl. Z. 23). Das Ich wäre demnach nicht das Ergebnis eines objektivierbaren historischen Prozesses, sondern eine Leinwand, die immer wieder neu übermalt werden kann (oder auf die Neues projiziert werden kann). Wechsler, der bei seinen Publikationen über Minsky stets auf der objektiven Faktizität des Vergangenen bestanden hatte, ist gezwungen umzudenken. Er nimmt nun die Position seines Gegenspielers Zichroni an, indem er für eine nicht hintergehbare, subjektive Wahrheit von Erinnerungen eintritt und jedes Abweichen von dieser subjektiven Wahrheit als Verrat bezeichnet: Ich bin, woran ich mich erinnere. Etwas anderes habe ich nicht. Wenn die Dokumente nun zu beweisen scheinen, dass ein großer Teil meiner Erinnerung nicht haltbar ist, dann bin ich selbst nicht haltbar. Man könnte mich auffordern, mich öffentlich zu entschuldigen, die Lüge einzugestehen und reinen Tisch zu machen.
6
So der Titel des Bandes von Irene Dieckmann und Julius Schoeps.
126 Ich vermute, meine Frau erwartet etwas in dieser Art, bevor sie bereit ist, wieder mit mir zu sprechen. Aber täte ich es, wäre das nur eine weitere Lüge, ein reines Lippenbekenntnis ohne Wert. Ich müsste eingestehen, dass es mich gar nicht gibt. Nicht jede Erinnerung ist mir lieb. Einige sind furchtbar. Aber sie gehören mir. In ihnen bin ich. Sie zu leugnen, indem ich einräume, sie seien nichts als inszenierte Illusionen, wäre ein Verrat wie der Verrat Winstons an Julia in Orwells Roman. Einen solchen Verrat kann niemand von mir verlangen. (W. 121)
Das Tor der Transformation Um der Geschichte dennoch auf den Grund zu gehen, reist Wechsler im Spätsommer 2008 schließlich nach Israel, von wo ihm der Koffer ja geschickt wurde, und wird noch am Flughafen unter Mordverdacht verhaftet. Er soll bei seinem letzten Israel-Aufenthalt nämlich einen gewissen Amnon Zichroni ermordet haben, dessen Leiche allerdings seither verschwunden ist. Als Motiv vermutet die israelische Sicherheitspolizei den Diebstahl des äußerst wertvollen Edelsteins aus dem Besitz Zichronis, der sich in Wechslers Koffer wiederfindet. Auch Wechsler fühlt sich schuldig, allerdings sieht er seine eigentliche Schuld darin, dass er Minsky seine Erinnerungen geraubt hat, ebenso, wie ihm nun die eigenen Erinnerungen geraubt werden. Er lässt sich von dem Polizeibeamten Ben Or7 den Ort des putativen Mordes zeigen mit dem Vorsatz, in das Becken der Mikwe zu springen und so einerseits von Schuld reingewaschen zu werden, andererseits in sein altes Leben zurückkehren zu dürfen. Er versteht die Mikwe nämlich als fantastische Schwelle in eine andere Welt, als Tor zwischen dem fiktionalen falschen und dem realen richtigen Leben. Ebenso wie Zichroni, und im Gegensatz zum Mainstream der Orthodoxie, begreift auch Wechsler die Funktion der Mikwe nicht als primär sozial, sondern als mystisch, transzendent und transformatorisch. Dabei greift er auf die Funktion von Mikwaot in der Moderne im Kontext von Konversionen zurück. Traditionell hat die Mikwe keine wichtige religiöse Funktion, doch spielt sie eine zeremonielle Rolle bei Identitätswechseln als Ausdruck einer neuen, post-traditionellen Religiosität in westlichen Gesellschaften. Auch Wechsler konvertierte mit einer Tevila, also einem rituellen Bad. Die Erfahrung dieser Konversions-Tevila bildet für ihn die Basis einer mystischen Umdeutung der Mikwe als sakralem Ort, welche dieselben kabbalistischen Traditionen aufgreift, auf die sich auch Zichroni und sein Jugendfreund Eli Rothstein beziehen. Wechsler begreift die Mikwe nämlich wegen seines Konversionserlebnisses als Ort des “Übergangs in ein neues Leben”. Geschichten aus dem ‘Sohar’ und aus Lurias ‘Tor der Wiederkehr’ geisterten durch meinen Kopf. Man kann sich nicht reinwaschen von Scham und Schande. Aber 7
Der Name bedeutet “Sohn des Lichts” und stellt eine der zahlreichen offenen und verborgenen Referenzen des Romans auf eine kabbalistische Kosmologie dar.
127 wenn die Mikwe ein Tor in ein anderes Leben ist, gibt es doch einen Ausweg – eine Möglichkeit, der Erinnerung an die eigenen Fehler zu entkommen. Das klingt nach Flucht. Aber so sehe ich es nicht, denn das Leben, das auf einen wartet, wenn man auftaucht, ist ebenso voller Herausforderungen. Aber es sind andere, und man tappt in andere Fallen. (W. 171)
Wechsler greift also das magische Realitätskonzept der jüdischen Mystik auf, weil es ihm eine Alternative zum Entweder-Oder von ostdeutscher und schweizer Identität bietet: Beide Identitäten müssen sich nicht gegenseitig ausschließen, weil sie ineinander transformiert werden können. Sie können deshalb auch beide wahr sein. Eine zentrale Rolle für dieses fantastische Wirklichkeitsmodell mit Übertrittsmöglichkeiten aus einer Realität in die andere spielt das kabbalistische Konzept des Gilgul, der Seelenwanderung als innerweltlicher Vereinigung und Vermischung mit dem Anderen (vgl. W. 142f.). Kurz vor seiner Reise nach Israel hat Wechsler einen Traum, in dem ihn der Synagogendiener Ariel als Fährmann über einen unterweltlichen Fluss fährt, dabei jedoch nie ans andere Ufer gelangt, sondern immer nur hin und her pendelt, bis das Boot untergeht (vgl. W. 147). Der Traum deutet auf die erhoffte Verwandlung durch das Ertrinken in der Mikwe voraus, und er verdeutlicht für den Leser, dass das eine mystische Erfahrung ist, indem er mit dem Namen ‘Ariel’ auf ‘Arisal’ anspielt, einen Beinamen des Kabbalisten Isaak Luria. Auf den Kontext der jüdischen Mystik verweist zudem auch der Name Wechsler: Neben dem offensichtlichen Wortspiel mit Identitätswechsel handelt es sich dabei nämlich um den historisch verbürgten Namen Hile und Benjamin Wechslers, die in einem Aufsatz Gershom Scholems als die “letzten Kabbalisten in Deutschland” bezeichnet werden (Scholem). Damit steht die Figur Jan Wechsler nicht zuletzt für die Wiederbelebung voraufklärerischer jüdischer Traditionen in einem post-säkularen Judentum. Auch die Heilungserfahrung Eli Rothsteins, die von der modernen Wissenschaft nicht erklärt werden kann, und das religiöse Plädoyer des ZichroniOnkels Nathan Bollag für das Magische und Fantastische illustrieren dieses Programm der Aufwertung irrationaler und transzendenter Wirklichkeitsanteile innerhalb der erzählten Welt als Statement für die anhaltende Bedeutung von Religion in der späten Moderne: Für das Vage, in keine gängige Theorie Passende, für das der Messbarkeit und Kategorisierung Verschlossene, kurz für das Phantastische, oder nennen wir es das Magische, das die Mystiker aller Religionen seit Jahrtausenden bewegt hat – für all das ist dort draußen in der yevonnischen Welt der vermeintlich exakten Wissenschaften kein Platz. (Z. 61)
Konzepte der Reinwaschung, aber auch der Realitätsflucht in ein anderes, neues Leben überschneiden sich in der Schlussszene des Wechsler-Narrativs mit Assoziationen von Tod und Wiedergeburt aus dem Kontext der
128 jüdischen Mystik. Doch Wechslers Vorhaben des Übertrittes in einen ontologisch und metaphysisch anderen Bereich scheitert: Das Becken ist leer. Die von Wechsler erhoffte Vergebung und Neugeburt werden ihm verweigert. Zwar funktioniert die Mikwe möglicherweise als Übergang vom Zichroni- in das Wechsler-Narrativ, doch ist der Weg in die Gegenrichtung blockiert.
Holocaust Science Fiction Wechslers Geschichte bekräftigt das Modell einer fantastisch strukturierten Wirklichkeit, die von Übergängen zwischen inkompatiblen ontologischen Ordnungen gekennzeichnet ist und die Erfahrung großer Transzendenzen gerade in diesen Schwellensituationen, also etwa in der Mikwe, ermöglicht. In Zichronis Erzählung deuten die Figuren Eli Rothstein und Nathan Bollag an, dass die Wirklichkeit mehrdimensional ist und irrationale Anteile enthält, die sich mit einer modernen, säkularisierten Weltsicht nicht vereinbaren lassen. Jan Wechsler, dessen Rolle in der Minsky-Affäre ja darin bestanden hatte, eine eindimensionale Wirklichkeit zu behaupten, in der dokumentierte Vorgänge sich verlässlich rekonstruieren lassen und einfache, universale Wahrheiten gelten (‘Minsky ist kein Holocaust-Überlebender’), gelangt durch das Mikwe-Bad in der Romanmitte in eine Wirklichkeit, die evident nicht nach den Regeln funktioniert, an die er zuvor geglaubt hatte. Wechsler hat nun keine einfache, eindeutige Identität mehr; seine Erinnerungen werden für ihn selbst und für seine Umwelt unglaubwürdig; er ist ein unzuverlässiger Erzähler und ein unzuverlässiger Zeitzeuge par excellence. Auch die Romanstruktur als Ganze ist mit Unzuverlässigkeiten durchsetzt. Der Versuch, die beiden Seiten des flip book interpretatorisch zusammenzubringen, kann deshalb nur bedingt gelingen. Weder die kriminalistische noch die fantastische Lektüre führt zu einem logisch konsistenten Ergebnis. Zichroni kann Wechsler nicht ermordet haben, denn Wechsler ist nach dem 7. Januar noch am Leben. Allerdings haben sich die Parameter seiner Existenz grundlegend geändert. Kann die kabbalistische Interpretation der Mikwe als Ort des Übergangs zwischen zwei Welten also als Deutungsanweisung für die fantastische Erzählkonstruktion des Romans und für die narrative Doppelung der beiden Hälften begriffen werden? Die Mikwe koppelt nicht nur die beiden Identitäten Wechslers, sondern auch die beiden Hälften des flip book und damit den Lektürepfad des Lesers. Auch wir müssen durch die Mikwe, und wir müssen uns mit der Figur Wechsler immer wieder den Grundfragen von Identität und Erinnerung stellen. Das Motiv der Mikwe als Schwelle zwischen zwei ontologischen Ordnungen sowie dessen strukturelle Funktion als Modus des Übergangs (bzw. des verweigerten Übergangs) von einem Erzählteil in den anderen konstituieren somit einen fantastischen Erzählraum, in dem die Fragen des Protagonisten, welche Wirklichkeit denn nun gilt, auch zu
129 denen des Lesers werden – nach Tzvetan Todorov ein Grundcharakteristikum fantastischen Erzählens. Die Mikwe wäre dann ein Tor in eine andere Welt, durch das man aus der zuverlässigen und mit Elementen des Wunderbaren ausgestatteten Zichroni-Erzählwelt in die unzuverlässige und mit Elementen des Unheimlichen ausgestattete Wechsler-Erzählwelt gelangt. Doch diese fantastische Hypothese stößt ebenfalls an ihre Grenzen. Das hängt mit der Zeitkonstruktion des Romans zusammen. Zum einen kann Wechsler nicht, wie innerhalb des Wechsler-Narrativs der Polizist Ben Or vermutet, Zichroni ermordet haben, denn dieser schreibt ja nach dem 7. Januar noch an seinem Bericht. Zum anderen läßt sich der Bruch in Wechslers Identität und die damit einhergehende Veränderung in seiner Einstellung zur Wahrheit von Erinnerungen nicht auf den 7. Januar 2008 datieren, sondern deutet sich mit dem fluchtartigen Umzug aus der Schweiz nach Deutschland schon wesentlich eher an (vgl. W. 135). Nicht nur Wechsler als homodiegetischer Erzähler, auch der Roman als Ganzer ist damit in hohem Maße unzuverlässig. Die narrative Struktur der beiden nicht ineinander übersetzbaren Hälften erinnert sicher nicht zufällig an Klassiker des unzuverlässigen Filmerzählens wie Cameron Crowes VANILLA SKY (2001) und David Lynchs MULHOLLAND DRIVE (2001), die Benjamin Stein in seinem Blog als wichtige Inspirationsquelle für sein eigenes Erzählen benannt hat (vgl. Stein: Burroughs über Kritiker).8 Bezogen auf die eingangs formulierten Leitfragen meines Aufsatzes nach der Rolle von Fiktionalität, Wahrheit und Identität im Erzählen über die Shoah inszeniert Die Leinwand eine radikal anti-essentialistische Pluralisierung möglicher Antworten. Unzuverlässiges Erzählen, narrative Metalepsen und das postmoderne Spiel mit der Durchbrechung ontologischer Ebenen erschüttern in Die Leinwand den Glauben an eine mögliche ‘zuverlässige’ Berichterstattung über den Holocaust, und sie provozieren grundlegende Reflexionen über das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, das den Kern der Wilkomirski-Affäre bildete. Die spielerische Anlage des Romans mit seinen mindestens zwei Lektürepfaden und dem Aufeinanderprallen zweier miteinander inkompatibler Schlüsse erfordert einen im hohen Maße mündigen und selbständige Entscheidungen treffenden Leser. Zudem operiert der Roman nicht mit einem einzigen und einheitlichen Wahrheitskonzept, sondern stellt verschiedene jeweils persönliche oder situationelle Wahrheiten nebeneinander, die sich in ihrer Gültigkeit nicht gegenseitig aufheben. Das Wahrheitskonzept des Romans lässt sich folglich weder formal (als semantische Übereinstimmung von Aussagen mit einer intersubjektiv anerkannten Wirklichkeit) noch material bestimmen (als religiöse Dimension von 8
Vgl. zum unzuverlässigen Erzählen im Film Ferenz.
130 Wahrheit: das, was gilt und worauf man sich verlassen kann) (vgl. Landmesser). Beide Konzepte sind unzulänglich wegen der fiktionsintern unklaren Konturierung von Wirklichkeit sowie ihrer unsicheren religiösen Fundierung. Beide Erzähler erweisen sich auf solch unsicherem Fundament als höchst unzuverlässig: Zichroni, weil er zwar die Erinnerungen anderer wahrnehmen, sie aber nicht zuverlässig kontextualisieren kann und weil er uns das Ende seines Berichtes vorenthält; Wechsler, weil er sich und damit auch uns über die eigene Vergangenheit täuscht und weil er tatsächlich selbst nicht zu wissen scheint, was denn nun bei der Mikwe passiert ist. Während Zichroni, der ja nach dem Minsky-Debakel erzählt, von Anfang an von der absoluten Vorrangigkeit der individuellen Erinnerung vor intersubjektiv beglaubigten Fakten überzeugt ist, nimmt Wechsler erst allmählich diese Meinung an. Er bereut nun, was er Minsky angetan hat, und versteht Identität infolge seiner eigenen Erfahrungen nicht mehr als das, was man wirklich ist, sondern als selbstkonstruiert, als das, was man zu sein glaubt. Er selbst ist jetzt in der Situation Minskys, und seine neue, konstruierte Identität hat für ihn oberste Priorität. Wechsler postuliert folglich als dritte Möglichkeit ein funktionales Wahrheitskonzept: wahr ist das, was für mich punktuell Sinn und Identitätsstiftung leistet. Diese Konstruktion stößt allerdings intersubjektiv an enge Grenzen, denn die Geltung der eigenen Lebensgeschichte muss ja auch anderen vermittelbar sein. Dieses Problem wird durch die pluralisierende flip-Anlage des Romans angesprochen: Nicht eine, sondern beide Geschichten gelten. Ein solchermaßen verabschiedetes einheitliches Wahrheitskonzept löst selbstverständlich auch den Widerspruch zwischen fiktionalen und authentischen Holocausterzählungen auf. Was bedeutet das fantastische Erzählverfahren nun für den Umgang des Romans mit dem Fall Wilkomirski? Die Frage nach der persönlichen Wahrheit von Erinnerungen wird in Die Leinwand metaphysisch aufgeladen. Auch Fragen der Schuld und Unschuld sind hier metaphysische, nicht etwa justitielle Fragen. Gleichzeitig wird eine Beglaubigung der persönlichen Wahrheit dem Leser durch die vorenthaltenen Enden systematisch entzogen. Zurück bleibt der unbefriedigende Befund, dass es keine allgemeingültige Wahrheit gibt, sondern immer nur die subjektive Wahrheit des Einzelnen. Auch wenn andere meine Erinnerungen also für falsch halten, so können sie doch den Kern meines Ichs bilden und sind für mich deshalb wahr. Die Identitätsfrage wird damit zugunsten eines konstruktiven, nicht-substantiellen Identitätskonzepts in Anlehnung an den kreativen Prozess der Psychoanalyse beantwortet. Deren Ziel wird von Amnon Zichroni bestimmt als funktionale Integration von Persönlichkeitsaspekten; diese Bestimmung orientiert sich eher an der Tiefenpsychologie C.G. Jungs als an der klassischen Psychoanalyse Freudscher Prägung. Dazu passt auch die kabbalistische Beschreibung
131 der psychoanalytischen Selbstdeutung, denn Jung selbst schöpfte aus kabbalistischen und gnostischen Vorstellungen (vgl. Brumlik 180–187 und 229–249 sowie Jung: Gnostische Symbole des Selbst und ders.: The Gnostic Jung). Damit löst sich der Roman radikal vom Konzept des authentischen Holocaust-Zeugen wie auch vom Anspruch der historischen Forschung, Erinnerungen mithilfe von Dokumenten beweisen oder widerlegen zu können. Subjektive Erinnerung und Imagination schlagen im Roman ganz klar den Fakten- und Beweiszugang. Wenn man diesen Standpunkt akzeptiert, dann resultiert die Problematik des Falls Wilkomirski aus nichts als lauter falsch gestellten Fragen. Fragen, von denen sich Steins Roman aber dennoch nicht löst: Die Frage Wem gehört der Holocaust? bleibt auch nach dem Ende des Zeugenparadigmas relevant, und die Frage Was darf über ihn erzählt werden? fördert bei Stein keine beliebigen Antworten zu Tage: keine Holocaust westerns, keine Holocaust science fiction und auch keine Holocaust-Tierfabeln. Die Leinwand schreibt vielleicht eine neue Art von Holocaust-Literatur, aber sie steuert deshalb nicht in die kreative Sackgasse, in der Henrys Buch in Beatrice & Virgil landet: Holocaust westerns, Holocaust science fictions, Holocaust Jamaican bobsled comedies – I mean, where is this going? And then you also want to do it as a flip book, which is normally just a gimmick, in the same section as the joke books, and, I don’t know, it strikes me that your flip book might just be one big flop book. Flip-flop, flip-flop, flip-flop [. . .]. (Martel 13)
Literatur Jan Alber et al.: Unnatural Narratives, Unnatural Narratology: Beyond Mimetic Models. In: Narrative 18.2 (2010). S. 113–136. John Barber: Martel’s postmodern Holocaust allegory fetches $3 million advance. In: The Globe and Mail 6.4.2010. Micha Brumlik: Die Gnostiker: Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen. Berlin: Philo 2000 [1992]. Irene Dieckmann/Julius Schoeps (Hg.): Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein. Zürich: Pendo 2002. Volker Ferenz: Fight Clubs, American Psychos and Mementos: The Scope of Unreliable Narration in Film. In: New Review of Film and Television Studies 3.2 (2005). S. 133–159. Jonathan Safran Foer: Everything is Illuminated. New York: Houghton Mifflin 2002. Daniel Ganzfried (Hg.): . . . alias Wilkomirski – Die Holocaust-Travestie. Enthüllung und Dokumentation eines literarischen Skandals. Berlin: Jüdische Verlagsanstalt 2002. Marianne Hirsch: Family Frames: Photography, Narrative and Postmemory. Cambridge, MA: Harvard University Press 1997.
132 ———: Projected Memory: Holocaust Photographs in Personal and Public Fantasy. In: Acts of Memory: Cultural Recall in the Present. Ed. by Mieke Bal/Jonathan Crewe/Leo Spitzer. Hanover, NH: University Press of New England 1999. S. 3–23. ———: Surviving Images: Holocaust Photographs and the Work of Postmemory. In: The Yale Journal of Criticism 14.1 (2001). S. 5-37. ———: The Generation of Postmemory. In: Poetics Today 29.1 (2008). S. 103–128. Carl Gustav Jung: The Gnostic Jung. Hg. und mit einer Einführung von Robert A. Segal. Princeton, NJ: Princeton University Press 1992. ———: Gnostische Symbole des Selbst. In: ders.: Gesammelte Werke. Band 9, II. Ostfildern: Patmos 1995. S. 197–237. Christof Landmesser: Art. Wahrheit. http://www.bibelwissenschaft.de/nc/wibilex/ das-bibellexikon/details/quelle/WIBI/zeichen/w/referenz/55981/cache/8b008e7e8f fb3ccaf8ec3cde0cf50289/>. Downloaded 16.9.2012. Andrea Liss: Trespassing through Shadows: Memory, Photography and the Holocaust. Minneapolis-London: University of Minnesota Press 1998. Jonathan Littell: Les Bienveillantes. Paris: Gallimard 2006. ———: Die Wohlgesinnten. Berlin: Berlin Verlag 2008. Stefan Mächler: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie. Zürich: Pendo 2000. Yann Martel: Beatrice & Virgil. Toronto: Knopf 2010. Gershom Scholem: Die letzten Kabbalisten in Deutschland. In: ders.: Judaica III: Studien zur jüdischen Mystik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. S. 218–246. Benjamin Stein: Die Leinwand. München: Beck 2010. ———: Der Autor als Seelenstripper. http://turmsegler.net/20100603/der-autor-alsseelenstripper/. Downloaded 29.2.2012. ———: Familiengeschichte. http://turmsegler.net/20100614/familiengeschichte/. Downloaded 29.2.2012. ———: Burroughs über Kritiker. http://turmsegler.net/20120113/burroughs-ueberkritiker/. Downloaded 20.9.2012. Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur. München: Hanser 1972. Binjamin Wilkomirski: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948. Frankfurt: Jüdischer Verlag 1995.
Iris Hermann
Ohnehin Gebürtig Andernorts. Zur Diversität von Erinnerung und Identität bei Doron Rabinovici und Robert Schindel In their novels Viennese writers Doron Rabinovici and Robert Schindel explore Jewish lives in a world after the Shoah. In Schindel’s Gebürtig, Jews and Gentiles are confronted with diverse concepts of their collective identities, stepping out of which often appears anything but easy. Doron Rabinovici’s novels are situated in a globalized world that imagines Jewish identities in quite a different way; they become liquid (Bauman), adopting traditional life-scripts (Appiah) to new concepts of self and creating a kaleidoscopic patchwork identity that is highly flexible. While Schindel uses the act of writing to confront the memory of the past, Rabinovici chooses to make forgetting the condition for remembering in his novel Ohnehin. In Andernorts, he deconstructs collective identities of Jews and Gentiles and questions established forms of remembering. Traditionally, concepts of Jewishness have evolved from Diasporas, connecting Jewish writers to a globalized world and informing contemporary Jewish narratives.
Robert Menasse hat in einem gemeinsamen Interview mit Robert Schindel und Doron Rabinovici darauf hingewiesen, dass sie die ‘Angelus-NovusGeneration’ seien: Es gibt so etwas wie eine kollektive Autobiographie, eine Generationsautobiographie. Und meine Generation hat das biographische Problem mit der Geschichte. Das ist die Generationenfalle gewesen. Wir haben den Auftrag bekommen, es darf niemals vergessen werden, haltet das immer wach, beschäftigt euch damit, es muß immer ein Bewußtsein darüber herrschen, was geschehen ist. [. . .] Wir haben die Geschichte gehabt, und gleichzeitig haben wir den Auftrag mitbekommen, baut die bessere Welt, aber immer in die Geschichte blickend. [. . .] Wir sind die AngelusNovus-Generation. (Beilein 303f.)
Wie Walter Benjamin an Paul Klees Angelus Novus zeigt, ist es die Aufgabe dieses Engels, ein Erinnern des Eingedenkens zu verfolgen und trotz aller Verwüstungen zurückzublicken und das Zerstörte zusammenfügen zu wollen, dabei aber unablässig vom Wind des Fortschritts nach vorne geblasen zu werden.1 Die Romane, die ich hier besprechen will, weisen ein 1
“Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft
134 ähnliches Dilemma wie Benjamins Reflexion Über den Begriff der Geschichte auf. Sie wollen Verlorenes, verlorenes jüdisches Leben, nicht rekonstruieren, sondern begegnen dem Schrecken der Welt mit einem Eingedenken, das sich der Trümmer bewusst ist, sie als solche wahrnimmt und darüber nachdenkt, wie nach dem Morden jüdisches Leben sich wieder neu artikuliert. Robert Schindel und Doron Rabinovici diskutieren in ihren Romanen das Dilemma, zur modernen Welt zu gehören, in ihr und ihren Konflikten zu stehen und zurückzuschauen auf die Gräber Millionen Ermordeter und doch nicht dort zu verharren. Sie haben aus der Reflexion über den Engel der Geschichte ihre eigene Position gewonnen, sie stehen nicht mit dem Rücken zur Zukunft, noch verharrt ihr Blick auf den Trümmern. Sie sind sich aber der beiden gegenstrebigen Perspektiven, zwischen denen der Engel sich positionieren muss, bewusst. Das ist das Angelus-Novus-Bewusstsein, von dem Robert Menasse im Interview spricht. Dass dem Erinnern in den letzten Jahrzehnten eine solche Bedeutung in öffentlichen Diskussionen zukommt,2 hatte Jan Assmann nicht als zufällige Entwicklung angesehen, sondern unmittelbar darauf zurückgeführt, dass Jahrzehnte nach der Shoah die unmittelbaren Zeitzeugen sterben, und somit andere Formen des Erinnerns sich entwickeln als das unmittelbare Zeugnis der Überlebenden (vgl. Assmann 9–19). Alle drei Romane, Gebürtig (1992), Ohnehin (2004) und Andernorts (2010), reflektieren diese Problematik. Sie unterscheiden zwischen der unmittelbaren Zeitzeugenschaft der Überlebenden auf der einen und der Mittelbarkeit des Erzählens von Geschichten auf der anderen Seite. Letztere Aufgabe übernehmen die zweite und dritte Generation. Der Erinnerungsprozess nach Auschwitz zielt so viele Jahre später nicht auf die Rekonstruktion einer Totalität des Geschehenen. Er selektiert Erinnerung und vereinzelt sie. Saul Friedländer spricht hinsichtlich der Shoah von einem Grenzereignis, das den üblichen Rahmen geschichtswissenschaftlicher Diskursivierung sprengt und am besten repräsentierbar sei in der persönlichen Erinnerung und dem individuellen Erzählen (vgl. Friedländer). Unabhängig von den Ereignissen der Shoah hat Ricœur gezeigt, dass
und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.” (Benjamin 669). 2 Eine sehr gute Einführung in die inzwischen weit wuchernde Thematik bietet der in der zweiten überarbeiteten Auflage erschienene Band von Astrid Erll.
135 Erinnern und Vergessen in der Moderne amalgamieren, Vergessen wird dabei zur wichtigen und unverzichtbaren Voraussetzung für das Erinnern: Erinnerungen tauchen nur dort auf, wo ein Vergessen ihnen einen Raum gegeben hat.3 Doron Rabinovici schreibt in einer ähnlichen Argumentation wie Friedländer: Es gibt keine endgültig richtige Art des Erinnerns an Auschwitz. Daß keine unserer Vorstellungen an das Leid der Opfer des Mordprozesses heranreicht, bedeutet nicht, daß uns nicht dennoch Bilder davon beherrschen, daß sie in uns vorherrschen – jenseits alles Erfahrbaren und Geschehenen. (Rabinovici: Spiegel der Finsternis 100)
Dieser Satz Doron Rabinovicis aus seinem Essay Der Spiegel der Finsternis, einem Text, der sich mit dem Wiener Holocaustmahnmal auseinandersetzt, fasst zusammen, worum es hier gehen soll: Um den Versuch, anhand dreier Romane von zwei jüdischen Wiener Schriftstellern, Robert Schindel und Doron Rabinovici, zu erörtern, wie in ihnen an Auschwitz erinnert und, damit durchaus im Zusammenhang, wie jüdische Identität imaginiert wird. Es ergeben sich demnach zwei Fragen: Wie erinnern an Auschwitz? Wie kann man Jude sein nach Auschwitz? Während die erste Frage eine ist, die keineswegs nur in einem jüdischen Binnenraum diskutiert werden kann, richtet die zweite sich an das jüdische Selbstverständnis, an die jüdische Identität. Nach der Shoah haben sich viele Juden mit ihrem Jüdischsein neu auseinandergesetzt, darauf hat beispielsweise Vilém Flusser hingewiesen, wenn er bemerkt, dass die Juden heute, nach dem Nationalsozialismus, sich die permanente Frage stellen, wie man nach Auschwitz leben und wie man diese Ereignisse in die eigene jüdische Lebensgeschichte integrieren kann (vgl. Flusser 64). Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität als jüdischer ist aber keine neue Erscheinung, sondern spätestens ab dem Zeitpunkt, als Juden an der Hegemonialkultur teilnehmen, ein virulentes Thema: Integriert man sich in die Kultur der Mehrheit oder hält man an jüdischen Traditionen fest? Dieter Lamping schreibt dazu: Das Judentum hat sich, zumindest in Europa und zumindest in der Moderne, wesentlich durch Differenz definiert und in ständiger Auseinandersetzung mit dem Bild, das Nichtjuden von ihm entworfen haben. (Lamping 10)
3
“Auf die Vergangenheit als Gewesenheit bezieht sich jenes Vergessen, von dem Heidegger sagt, es bedinge die Erinnerung. Man begreift die scheinbare Paradoxie, wenn man das Vergessen im Sinne der unvordenklichen Quelle und nicht in dem der unerbittlichen Zerstörung versteht.” (Ricœur 133). Ricœur steht mit dieser Auffassung eines engen Zusammendenkens von Vergessen und Erinnern nicht alleine da, einen guten Überblick über diesen Kontext bietet Matthias Berek (vgl. Berek 162–170).
136 Es ist diesem Suchen nach Identität eine Spannung mitgegeben, die nicht nur aus dem Grundkonflikt zwischen Assimilation und Selbstbehauptung erwächst, sondern auch daraus, welche Orientierung sich das Jüdischsein wählt: eine religiöse, eine nationale, eine universalistische oder eine kulturell geprägte? “Diese Komplexität des jüdischen Identitätsproblems ist der Grund dafür, daß es bei aller unleugbaren Besonderheit ein Paradigma für die Auseinandersetzung mit kultureller Identität überhaupt geworden ist” (Lamping 11). Mira Zussmann nennt vier Anhaltspunkte für eine Basis jüdischer Identität: die gemeinsame Herkunft, den gemeinsamen Glauben, die Hoffnung auf ein gemeinsames Land Israel4 und nicht zuletzt den Bezug auf eine gemeinsame Geschichte. Wie Dieter Lamping betont,5 ist es insbesondere die Literatur, in der die Frage nach der jüdischen Identität verhandelt wird. Auch Robert Schindel und Doron Rabinovici stellen sich in ihren Romanen diese Fragen im Variantenreichtum verschiedener Situationen noch einmal neu. Sie setzen in der Behandlung dieser Fragen unterschiedliche Akzente, die womöglich auch darauf zurückgeführt werden können, dass Robert Schindel genau genommen noch zur Generation der Überlebenden gehört, er ist 1944 geboren und durch glückliche Zufälle den Nazis entronnen. Doron Rabinovici ist, Jahrgang 1961, ein Nachgeborener der zweiten Generation. Beide blicken jedoch aus der ihnen eigenen Position in die Geschichte zurück, beide klammern die Fragen ihrer Zeit mit ein und nicht aus. Im Folgenden werden die Romane daraufhin untersucht, wie sich in ihnen eine je spezifische Kultur des Erinnerns etabliert und, auf dieser Basis, wie in ihnen jüdische Identität6 diskutiert wird.
4
Wie wichtig für die Gründung des Staates Israel der Bezug zur Shoah zum einen und zum anderen, wie wichtig der Staat Israel für die jüdische Identität der Juden heute ist, diskutiert Moshe Zuckermann in seinem Aufsatz Die Parzellierung der Shoah-Erinnerung im heutigen Israel. Vom historischen Ereignis zum Gegenstand ideologischer Projektion. 5 “Tatsächlich ist die Frage nach einer neuen jüdischen Identität das große Thema der jüdischen Literatur in deutscher Sprache schon seit dem Anfang unseres Jahrhunderts, etwa seit Kafka. Mit neuer Dringlichkeit ist sie es aber nach dem Holocaust, und dabei werden alle Möglichkeiten jüdischer Identität reflektiert: die religiöse wie die säkulare, die historische wie die nationale, also die Bindung an einen Glauben oder die Zugehörigkeit zu einer Kultur, die Verbundenheit mit der Geschichte oder einem Volk, und nicht immer schließt das Bewußtsein, ein Jude oder eine Jüdin zu sein, dabei auch eine positive jüdische Identität ein – wenn nicht sogar Identitätslosigkeit zur Identität erhoben wird.” (Lamping 12). 6 Zur Frage nach jüdischer Identität vgl. Flusser, Lamping, Meyer, Zussmann.
137 Gebürtig Robert Schindel hat mit diesem Roman, wie er selber betont, eine Art Kaddisch für seine von den Nationalsozialisten ausgerottete Familie, in der nur der Onkel und seine Mutter überleben konnten, verfasst (vgl. Schindel: “Ich war kein schlechter Ping-Pong-Spieler”). Er, der in erster Linie Lyriker ist, hat seinen zweiten Roman zu einem Zeitpunkt spielen lassen, in dem Österreich, von der Waldheim-Affäre erschüttert, beginnt, die nationalsozialistische Vergangenheit jenseits der verbreiteten These, man sei ja nur Opfer des faschistischen Deutschlands gewesen, zu hinterfragen. An Auschwitz zu erinnern, ist im Buch stete Praxis. Jede Figur steht für eine besondere Art des Erinnerns bzw.für eine Leerstelle, ein bemerktes Fehlen des Geschichtsbewusstseins. Es entsteht so eine “Polyvalenz” (Erll 178) des Erinnerns, eine vielfältige Praxis, die sich zudem auch innerhalb einer jeden Figur manchmal widersprüchlich entwickelt. Die jüdischen Figuren im Roman fordern das Erinnern an die Shoah ein und dort, wo Tatsachen verharmlost oder gar verfälscht werden, bietet dies Anlass zu deutlicher Kritik. Dennoch wird der Blick auf die Judenverfolgung in Wien nicht immer explizit. Schindels Roman lebt vielmehr von einer Ästhetik des Andeutens, lakonischen Verweisens und einer körperlich-sinnlichen Metaphorik.7 Davon werden die Phänomene des Erinnerns umgeben, sie werden so zu einem Komplex, der mehr als nur eine Dimension aufweist. Schindel entfaltet in seinem Roman8 ein Panorama des intellektuellen Wiens, das er in Beisln und Kaffeehäusern verortet. Im Mittelpunkt der großen Vielzahl von Figuren, die im Roman agieren, steht der jüdische Lektor Dany Demant, der sich als Gastgeber einer Open-House-Party in die nichtjüdische Ärztin Christiane Kalteisen verliebt. Das Auf und Ab dieser Beziehung resultiert aus der gegenseitigen Irritation über die je verschiedene jüdische bzw. nichtjüdische Herkunft des Anderen: Sie kann mich eben nicht leiden. Sie hängt an mir, um den Widerwillen gegen meinesgleichen sich sinnlich erfahrbar zu machen. [. . .] Daher vergleicht sie selbstverständlich den Mörder Hugo Schenk, der vor hundert Jahren ein paar Frauen abgemurkst hat mit Eichmann. (Schindel 262f.)
7
Das entspricht generell der Ästhetik seines Werkes. Schindel selbst schreibt dazu: “Ich sage bloß: Aussparung, indirektes Schreiben, Verfahrensweisen also, in denen aufgeschrieben wird, wovon das Aufgeschriebene eben nicht handelt. Kein Lichtzwang. [. . .] In diesem Sinne lasst uns das Licht eindunkeln, damit Dunkles sich erhellt. Etwas wird sichtbar.” (Schindel: Schreibtechniken: Über das Geheimnis, über Aussparung 103). 8 Zitate aus Gebürtig erfolgen mit Angabe der Seitenzahl, wenn es nicht anders im Text angegeben wird.
138 Am Ende ist das Buch wieder an seinem Ausgangspunkt angekommen, einem Wiener Beisl, das als zentraler Erinnerungsraum den topographischen Rahmen9 des Buches bildet. In den Figurenkreis um den jüdischen Dany Demant und die nichtjüdische Christiane mit dem sicher zu sehr sprechenden Namen Kalteisen ist eine Binnengeschichte montiert, die zeigt, wie traumatisch Erinnerung sein kann, wenn sie nicht in das angestrebte Selbstbild integrierbar ist, sondern in einer kollektiven Identität10 verharrt. Das ist der Fall bei Konrad Sachs, dem Sohn des Täters Ernst Sachs, dessen reales Vorbild Hans Frank war, der Generalgouverneur von Polen im ‘Dritten Reich’. Dessen Sohn, der Journalist Niklas Frank, hat seinen Vater, der für seine Verbrechen hingerichtet wurde, lange Zeit aus großer Scham verleugnet und darunter sehr gelitten, bis er in der Lage war, die Geschichte des Vaters aufzuschreiben und zu veröffentlichen (vgl. Frank). Diese Binnengeschichte spielt in Schindels Roman eine zentrale Rolle; am Schluss erzählt Konrad Sachs Dany Demant seine Geschichte und schreibt sie dann wie sein reales Vorbild auf. 9
Womöglich kann man hier durchaus von einem Erinnerungsort im Sinne Aleida Assmanns (Assmann 1998) sprechen. Im Beisl verknüpfen sich nicht nur die Gesprächsfäden zu immer neuen Geflechten, sondern begegnen sich die Protagonisten, egal ob sie jüdisch oder nichtjüdisch sind. Das Beisl ist demnach ein neutraler Ort, der verschiedene Lebensweisen erlaubt und zur Bühne wird für Repräsentationen der Erinnerung, die sich sofort auch an ein Publikum wenden können. Das Beisl ist aber auch ein Ort der Heterotopie, er ist erst einmal funktionslos, im Gegenteil zu den mit einer festen sozialen Funktion versehenen Orten ist er nicht determiniert und bietet so einen Raum für das Entwickeln von neuen Repräsentationen. Er ist weder jüdisch noch nichtjüdisch und eignet sich deshalb dazu, dass sich in Gebürtig fortan alle hier begegnen. 10 Kollektive Identitäten werden hier verstanden im Sinne von Saurwein, der zum Begriff der kollektiven Identität hervorhebt, dass sie sich beziehen auf “Vorstellungen vom Gelten oder Geltensollen eines unterscheidbaren Kommunikations- und Handlungszusammenhangs, der ihre Teilnahme durch spezifische Solidaritätserwartungen verbindet. Damit wird die Frage, ob es überzeitliche, objektive Kriterien der Zurechnung und Konstitution von Gemeinschaftlichkeit gibt, durch die Frage nach den Modi der sozialen Konstruktion und den Geltungsbedingungen eines spezifischen Gemeinsamkeitsglaubens ersetzt.” (Saurwein 19). Diese Auffassung geht zurück auf die Arbeiten von Charles Taylor, insbesondere auf Sources of the self, der den dialogischen Charakter des Begriffs der kollektiven Identität betont. Kwame Anthony Appiah greift diesen Begriff der kollektiven Identität auf und betont innerhalb dieses Konzeptes die Basis der Individualität: “To say that collective identities – that is, the collective dimensions of our individual identities – are responses to something outside ourselves is to say that they are the products of histories, and our engagement with them invokes capacities that are not under our control. Yet they are social not just because they involve others, but because they are constituted in part by socially transmitted conceptions of how a person of that identity properly behaves.” (Appiah 21).
139 Auf einer anderen Erzählebene, nämlich des von Dany Demant zu bearbeitenden Manuskripts, wird zudem die Geschichte von Hermann Gebirtig erzählt, einem jüdischen Schriftsteller aus Wien, der nach seiner Befreiung aus dem österreichischen KZ Ebensee in die USA ins Exil geht. Dort erreicht ihn die Anfrage von Daniel Lebensart (für den Simon Wiesenthal Pate gestanden haben könnte), bei einem Prozess gegen einen der ehemaligen Aufseher aus Ebensee als Zeuge auszusagen. Nach langem Sträuben kommt Gebirtig schließlich nach Wien. Den Ausschlag gibt die hartnäckige Susanne Ressel, die ihn in New York aufsucht und dazu überredet. Der Dialog zwischen der Tochter des Spanienkämpfers Karl Ressel und dem eher unpolitischen Gebirtig ist der Höhepunkt des Romans. In ihm geht es darum, wer vorrangig als Opfer der Nazis zu betrachten ist: Der Kommunist, der aufgrund seines politischen Widerstandes inhaftiert wird, oder der Jude, der allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zum jüdischen Volk von den Nazis verfolgt wird. Mit den beiden KZ-Opfern, Karl Ressel und Hermann Gebirtig, hat Schindel zwei Vertreter kollektiver Identitäten einander gegenübergestellt. Nur Gebirtig wagt es, sich aus seiner Erinnerung schrittweise zu lösen, bevor er am Ende wieder sein Exil aufsucht, bitter enttäuscht davon, dass der KZ-Aufseher freigesprochen wird. Generell lassen sich drei Erinnerungsvarianten in Gebürtig erkennen: Als erste die Dany Demants, der als jüdischer Intellektueller am mangelnden Geschichtsbewusstsein seiner nichtjüdischen Geliebten leidet. Die Lektorentätigkeit Dany Demants ist bemerkenswert und charakteristisch für den gesamten Roman. Er bearbeitet als Angehöriger der zweiten Generation die Geschichte eines Überlebenden. Die Erzählung wird erst zur Geschichte durch die Bearbeitung Dany Demants. Die jüdische Erinnerung im Text ist eine des Aufschreibens und Durcharbeitens. Das gilt auch dort, wo in dem Roman die Geschichte von Sonja Okun hineinmontiert wird. Sie hat keinen rechten Bezug zum Gesamtgeschehen, wird innerhalb der Romanhandlung bei einem Besuch bei einer Überlebenden erzählt. Der Roman dient hier als Archiv: Schindel wollte, laut eigener Aussage in einem mit Studierenden der Universität Bamberg geführten Gespräch im Juli 2010, an das Schicksal Sonja Okuns erinnern und hat sie deshalb im Roman erzählt. Sonja Okun geht aus dem sicheren Schweizer Exil aus Liebe zu einem Berliner Regisseur 1938 (!) nach Berlin. Ihr Geliebter Egon Stellein kehrt jedoch zu seiner Familie zurück, er unternimmt scheinbar keine Anstrengungen, die Geliebte zu retten. Sonja kommt in einem Transport nach Auschwitz, dem sie freiwillig zusteigt, um ihre Freundin Hedwig nicht zu verlassen, ums Leben (vgl. Schindel 293ff.). Die Geschichte, die Dany bearbeitet, ist, als zweite hier zu nennende Erinnerungsvariante, die Geschichte des Überlebenden Hermann Gebirtig, der die authentische Erinnerung des Opfers mit sich trägt: Gebirtig konnte vor den Nazis nach New York fliehen, wo er seitdem lebt. Zum ersten Mal nach dem
140 Krieg zurückgekehrt nach Wien, sammelt er dort erstaunlich positive Erfahrungen, die seine Verlusterfahrungen zu konterkarieren beginnen: “Vielleicht, sagte er leise, bin ich eben erst aus dem Lager herausgekommen” (Schindel 319). Die dritte Art des Erinnerns betrifft die Figur des Tätersohnes Konrad Sachs, der sich in Selbsthass und gleichzeitigen Philosemitismus verstrickt. So vielfältig und kunstvoll wie Robert Schindel diese verschiedenen Erzählebenen, die gleichbedeutend sind mit einer je anderen Perspektive auf das zu Erinnernde, ineinander verwoben hat, so überdeutlich ist jedoch die Leitmotivqualität eines Bildes, das die verschiedenen Ebenen durchkreuzt und verbindet: Die Rede ist von der gläsernen Wand, die Juden und Nichtjuden trennt, durch Liebesbeziehungen, Gespräche, Begegnungen und Texte hindurch. Susanne Ressel beispielsweise, Tochter des Spanienkämpfers Karl Ressel, weint, als Hermann Gebirtig sich zur Zeugenaussage bereiterklärt und es wird deutlich, dass sich beide voneinander angezogen fühlen: “So standen die beiden gewissermaßen ewig einander gegenüber. Es sah aus, als wollten sie sich küssen, doch eine durchsichtige Glasscheibe war ihnen zwischen die Münder geschoben worden” (Schindel 178f.). Der Roman lässt offen, ob ein Überwinden der Wand möglich ist. Die Wand deutet darauf hin, dass die kollektiven Identitäten, so wie sie sich in Schindels Roman entwerfen, sich nicht als Versatzstücke, das heißt als Vorlagen benutzen lassen zu singulären, individuell verschiedenen Entwürfen des eigenen Selbst. Die kollektiven Identitäten bleiben im Roman als abgetrennt voneinander gedacht. Gebirtig bleibt Exilant, Sachs Tätersohn, Dany jüdischer Intellektueller. Die gläserne Wand als Metapher lässt aber den Blick auf den Anderen zu, sodass Berührungen und Begegnungen möglich werden, aber nicht die völlige Überwindung der Wand. Aber, und das ist die Hauptsignatur des Romans, wichtiger als die Herkunft der einzelnen Personen ist ihre je eigene Auseinandersetzung mit ihrem Gebürtigsein. Und die ist auch auf der Täterseite jüdisch, wenn Konrad Sachs beginnt, seine Geschichte aufzuschreiben. Die Schrift ist der Kitt des jüdischen Kollektivs nach Auschwitz, kein Allheilmittel, aber der Versuch, der Erinnerung einerseits zu entgehen (Sachs) oder sie zu bewahren (Okun). Der Lektor Dany, das heißt derjenige, der professionell mit Schrift und Texten umgeht, wagt sich dann aber auch am weitesten hinaus aus einem Jüdischsein, das sich vor allem über den Umgang mit der Shoah definiert. Als Geliebte akzeptiert er eine Frau, die die Gebirtig-Geschichte gleichsetzt mit der Geschichte eines beliebigen Frauenmörders, beides sind für sie “Mordgeschichten” (Schindel 261f.).
Ohnehin In Doron Rabinovicis Roman Ohnehin ist eine große Vielzahl an Geschichten versammelt: zum einen die Liebe des Neurologen Stefan Sandtner zu Flora
141 Dema, die aus Ex-Jugoslawien fliehen muss und deren existentielle Probleme er nicht begreift, zum anderen die Amnesie des Patienten Kerber, der sich nur noch an seine Verstrickungen in das Kriegsgeschehen des Zweiten Weltkriegs erinnern kann und von Sandtner behandelt wird. Schließlich noch die Geschichte des Bukowiner Juden Paul Guttmann, der Kunsthändler ist, und anderer, etwa die von Patrique Mutabo, dessen Eltern Afrikaner sind, während er, in Wien geboren und aufgewachsen, echtes Wienerisch spricht. Rabinovici hat sich von Gebürtig inspirieren lassen und dessen Grundkonstellation im Wien der Jahrtausendwende noch einmal befragt. In einer globalisierten Welt, in der für Österreich der vor der eigenen Haustüre stattfindende Jugoslawienkrieg eine große Rolle spielt, ohne dass dies heißen muss, dass man ihn nahe an sich herankommen lässt, wie an der Figur von Stefan Sandtner exemplifiziert wird, zeigt Rabinovici ein transkulturelles Miteinander, wie es sich im Reagenzglas des Wiener Naschmarktes fast utopisch entfaltet. Hier begegnen sich Vertreter der unterschiedlichsten Gebürtigkeiten, was generell zunächst einmal faszinierend wirkt. Erst bei näherem Hinsehen erweist sich dieses Miteinander als problembehaftet. Stefan Sandtner, der die junge Filmemacherin Flora auf dem Naschmarkt kennenlernt und mit ihr eine Liebesbeziehung eingeht, nimmt nicht wahr, dass es für Flora wenig sinnvoll ist, in teure Lokale ausgeführt zu werden, während sie befürchten muss, dass sie und ihre Mitarbeiter abgeschoben werden. Diagnostizieren kann man hier eine Trägheit des Herzens, anders ist Sandtners Nichthinsehen auf die wahren Nöte der Freundin nicht erklärbar. Im Vordergrund steht aber noch eine ganz andere Problematik. Das sogenannte Korsakow-Syndrom des Patienten Herbert Kerber, der von Sandtner, nachdem er seine Kliniktätigkeit für einen längeren Urlaub unterbrochen hat, als einziger Patient noch behandelt wird, wird zum Aufhänger für eine grundlegende Diskussion um Vergessen und Erinnern. Das Korsakow-Syndrom kann sich unter anderem dadurch auszeichnen, dass neue Zusammenhänge oft nicht mehr gemerkt werden, während alte Erinnerungen völlig unbeeinträchtigt bleiben und an ihre Stelle treten können. Kerber erinnert sich in frappierender Genauigkeit an seine Zeit als SS-Mann. Seine Tochter Bärbl, die darüber Genaues erfahren und ihn zur Reue bewegen möchte, inszeniert Verhöre, um die Schuld des Vaters genau taxieren zu können, während der Sohn Hans der eigenen Karriere wegen die Toten ruhen lassen möchte. Unwidersprochen bleibt, dass Bärbl darauf beharrt, die Opfer ihres Vaters hätten keine Bestattung bekommen, es gäbe keinen Ort, wo sie ruhen könnten, und dies zum Anlass nimmt, ihren Vater mit seiner Schuld, für die er sich vor Gericht nicht mehr wird verantworten können, zu konfrontieren. Die verschiedenen thematischen Fäden verfolgt das Buch nicht immer in der Tiefe, die man sich wünschen würde, aber eindrucksvoll gestalten sich Dialogpassagen, in denen ähnlich wie in Gebürtig Menschen verschiedener
142 Herkünfte und deshalb auch verschiedener Erinnerungen in großer Hilflosigkeit einander gegenüberstehen. Als Bärbl etwa bemerkt, dass ihr mit dem sympathischen Lew Feininger ein jüdischer Nachgeborener gegenübersitzt, verfällt sie aus Verlegenheit in einen idiotisch wirkenden Philosemitismus, um bald darauf die Kinder von Opfern und Tätern in eins zu setzen: Beide kämen ja aus Familien, die über ihr Schicksal nicht geredet hätten. Das wird von Feininger ebenso eindrucksvoll wie nachhaltig zurückgewiesen. Das Gespräch ist damit zwar beendet, es bleibt aber in der Schwebe, ob Feininger mit seiner emotional vorgetragenen Replik nicht doch die Möglichkeit offen lässt, die solchermaßen erwachsen Gewordenen mit ihren verschiedenen Herkünften könnten die Chance ergreifen und sich neu begegnen. Hier sind Bärbel und Lew, ähnlich wie in Gebürtig, als Vertreter kollektiver Identitäten konzipiert, und vielleicht kann man sogar den Versuch wagen, Bärbels Vorstoß, als Kinder von Opfern bzw. von Tätern hätten sie beide ähnlichen Herausforderungen zu begegnen, nicht nur für kurzsichtig halten, sondern für den Versuch, einer Vermischung der Identitäten das Wort zu geben. So wie Rabinovici dies in seinem Buch jedoch gestaltet hat, steht diese Art der Lektüre nicht zur Debatte. Im Mittelpunkt der Überlegungen des Romans steht also weniger eine Diskussion über Identität als vielmehr eine Diskussion über die Notwendigkeit von Erinnern einerseits und Vergessen andererseits. Der Historiker Rabinovici plädiert, anders als in seiner Dissertation über die Wiener Judenräte Instanzen der Ohnmacht, dabei nicht generell für die Erinnerung der vergangenen Verbrechen, wie es von ihm zweifelsohne zu erwarten wäre, sondern Rabinovici lässt seine Figuren in immer wieder neuen Mäandern die Problematik engführen. So tauchen zumindest implizit die folgenden Fragen auf: Was nützt es, sich zu erinnern, wenn der, der es tut, gar keine Verantwortung dafür mehr übernehmen kann? Was ändert es, wenn der, der es ausspricht, nicht bereit ist, dafür einzustehen? Wie weit reicht die Verantwortung derer, die als Nachgeborene nicht mehr selbst schuldig sind, wohl aber eine Verpflichtung haben, die Schuld zu benennen? Rabinovici weitet diese und ähnliche Fragestellungen zu einer generellen Auseinandersetzung mit anderen transkulturellen Konflikten aus und bettet die jüdische Frage in diesen Kontext ein. Es ist Verdienst seines Buches, dass die Erinnerung an die Shoah und das Verständnis jüdischer Identität nicht nur als historische Frage gestellt, sondern auch innerhalb neuer Migrationsbewegungen aktualisiert werden.
Andernorts Andernorts erzählt die Geschichte von Ethan Rosen, einem in Wien als Soziologe lehrenden Israeli, der sich elegant und erfolgreich durch die globalisierte Welt und ihre Anforderungen bewegt. Einen Bruch erfährt der
143 polyglotte Rosen, als sein Vater schwer erkrankt und man um sein Leben fürchten muss. Rosen reist nach Israel, um bei seinem Vater zu sein. Zusammen mit der neuen Freundin Noa richtet er sich wieder in Tel Aviv ein, ohne das alte Leben in der Diaspora aktiv zu beenden; er meldet sich einfach nicht mehr in Wien. Im Laufe der Beschäftigung mit dem alten und kranken Vater erfährt Ethan schließlich, dass er nicht der Sohn seines Vaters Felix Rosen ist, sondern der vom gerade verstorbenen Dov Zedek, einem väterlichen Freund, der als Zionist gilt. Der Roman schweigt lange darüber, wie Ethan diese Nachricht über die zu erwartende Erschütterung hinaus verarbeitet. Heftige Reaktionen auf diese unerwartete Wendung der Ereignisse sind bei einem Anderen zu beobachten: Bei Rudi Klausinger, Konkurrent auf eine Wiener Professur, der als Judaist die jüdische Kultur genau kennt, ohne in ihr beheimatet zu sein. Da es Indizien gibt, dass sein Vater, dessen Namen er nicht kennt, Jude sein könnte, forscht er nach und es ist ausgerechnet Felix Rosen, der ihm bedeutet, er sei sein Vater. Als sich jedoch herausstellt, dass Felix weder Ethans noch Rudis Vater ist, bricht Rudi mit Israel, indem er Hals über Kopf abreist und die Verlogenheit von Felix anprangert: “Immerzu von der Notwendigkeit der Erinnerung sprechen, aber die eigene Geschichte verfälschen ohne Ende” (Rabinovici: Andernorts 232). Ethan und Rudi bindet diese Geschichte enger aneinander, als sie es hätte tun können, wenn die beiden nun tatsächlich Brüder gewesen wären. Mit einiger Distanz betrachtet bilden die beiden eine Figur: Wissenschaftler im Jetset internationaler Konferenzen, Verfasser blendend geschriebener Essays und gute Redner, Konkurrenten auf eine Professur, die für beide passend erscheint. Was trennte sie überhaupt, als beide annahmen, sie wären zumindest Halbbrüder? Und was ändert sich, nachdem beide keinen gemeinsamen Vater haben? Ethan scheint als Erster zu begreifen, dass die Abstammung wenig Bedeutung für ihr vergangenes und ihr kommendes Leben hat: “Es geht nicht um Vererbung” (Rabinovici: Andernorts 269). Hineingewebt in Andernorts wird zudem die Geschichte von Rabbi Berkovitsch, der die seltsame Theorie entwickelt, der Messias sei im Bauch seiner Mutter von den Nazis ermordet worden. Um ihn womöglich doch noch zur Welt kommen zu lassen, müsse er aus dem Genmaterial von Menschen, mit denen er nahe verwandt ist, geklont werden, dann könne das Heilsgeschehen sich vollziehen. Zuversicht für diese verwegene Theorie schöpft der Rabbi aus einer Mischung aus Versprechungen der modernen Gentechnik in ihrer Verbindung mit der Vorstellung, die Grundeinheit der Heiligen Schrift sei die Doppelhelix. Verknüpft mit Ethans und vor allem Felix’ Geschichte wird diese absurde Utopie dadurch, dass Felix derjenige sein soll, der, verwandtschaftlich gesehen, dem Messias am nächsten steht. Als Felix plötzlich stirbt, ist diese Hoffnung ebenso dahin, wie Rudis und Ethans ursprüngliche Identitätsentwürfe obsolet. Das ist die Konstellation, in der Rabinovici in seinem
144 Roman die Frage nach der Erinnerung an Auschwitz und die Frage nach der jüdischen Identität in einem veränderten Rahmen neu stellt. Die hegemoniale Erinnerungskultur muss sich im Roman von Rudi fragen lassen, ob die Identifikation mit den Opfern nicht kontraproduktiv sei. In Israel, in Deutschland und in Österreich. Bringe die andauernde Beschwörung des Massenmords nicht heutige Jugendliche erst auf die Idee, sich als neue Nazis zu verkleiden? Schüre die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nicht den Haß auf allen Seiten, insbesondere im Nahen Osten? Bestehe nicht die Gefahr, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu vergiften? (Rabinovici: Andernorts 266)
Dieser Erinnerungsskepsis entspricht auf der Figurenebene eine Identitätsproblematik, die Rabinovici als das Zerbrechen von Identitäten vorführt. Er zeigt, wie sich individuelle, personale Lebensentwürfe wie die von Ethan auf einem Skript kollektiver Identitäten errichten. Den Begriff des Skripts habe ich von Appiah übernommen, der gezeigt hat, wie kollektive Identitäten als Basis für eigene Lebensentwürfe dienen können. Bei Appiah heißt es: “Collective identities, in short, provide what we might call scripts: narratives that people can use in shaping their projects and in telling their life stories” (Appiah 22). Auf der Basis einer kollektiven Identität des Jüdischen wird eine auf ihrem Narrativ entstandene, individuell entworfene Identität errichtet: Ethan ist nicht der Sohn eines jüdischen Kaufmanns, dennoch ist er der Sohn eines Überlebenden des Holocaust. Das, was er für sein Leben hielt, gerät ins Schwimmen, als er erfährt, dass ein Anderer sein biologischer Vater ist. Rabinovici führt uns spielerisch und mitunter in absurder Groteske vor, wie Judentum in der modernen Welt aussehen könnte. Es ist ein Judentum, das sich in vielerlei Formen mit den Elementen einer kollektiven Identität des Judentums auseinandersetzt, die sich nach der Shoah in Trümmern und Zersplitterungen vorfinden, und aus den Trümmern eine neue, elastisch sich repräsentierende Identität schafft. Diese flüssige Identität kann man, wenn erforderlich, umschreiben, weil sie nicht ein seit langem etabliertes Narrativ relevant setzt, sondern auf der Basis eines Skripts neue Narrative entwickelt, die sich benutzen lassen und das Individuum in einer neu gefundenen Identität stabilisieren, aber nicht limitieren. Rabinovici stattet seine jüdischen Figuren des Weiteren mit einer Diasporamentalität aus. Sein auf der Basis des Narrativs des wandernden Juden vorgestellter Jude ist ein Vielflieger, einer, der auf internationalem Parkett zu Hause ist. Er ist eine Figur, die nicht damals mit heute verwechselt. Er schaut vor allem nach vorn und genießt den Wind des Fortschritts up in the air. Waren Robert Schindel und Robert Menasse nach Menasses Bekunden noch Vertreter der Angelus-Novus-Fraktion, so geht Rabinovici in seinem neuen Roman einige Schritte weiter. Auf der Grundlage der Analyse von
145 Zygmunt Bauman, der die heutige Gesellschaft als eine verflüssigte, alle Sicherheiten aufweichende Gesellschaft begreift,11 zeigt er uns ein Judentum, das er sich vor allem in der Diaspora lebendig vorstellt, im Andernorts eines ständig wechselnden Raumes, einem Zwischenraum, einem Raum des Durchquerens, des Transits. Anders als Bauman gewinnt der Erzähler in Andernorts dieser Verflüssigung Positives ab, zerstört sie doch das Erzählen vom jüdischen Volk nicht, sondern lässt es sich in ständig neu spiegelnden Geschichten vervielfältigen.12 Es ist die narrative Struktur, die nicht nur den literarischen Text auszeichnet und auch hier die Bedeutung, Fiktion und Entwurf zu sein, übersteigt. Ist es doch gerade die narrative Form, in der insbesondere in der Moderne die eigene Identität als eine Geschichte erzählt wird. Für Charles Taylor ist es sogar eine der Grundkonditionen für die Erkundung des eigenen Selbst, “that we grasp our lives in a narrative” (Taylor: Authenticity 47). Die narrative Struktur, in die Ethan Rosen in Rabinovicis neuestem Roman sein Leben fasst, indem er dessen Versatzstücke kaleidoskopartig und das heißt immer wieder neu und anders zusammenfügt, zeigt ein Bild der jüdischen Identität, von der Rabinovici an anderer Stelle sagt: Klingt diese Frage, was ein Jude ist, was ihn bestimmt, denn nicht irgendwie anders in Tel Aviv als in Wien? Es ist, als wäre das Judentum ein Kaleidoskop, dessen Glassplitter und Spiegelwände bei jeder Drehung ein überraschendes Bild, ein einmaliges Mosaik entstehen lassen, eine Anordnung, die so noch nie gesehen wurde und nie mehr so gesehen werden wird. (Rabinovici: Festrede)
Diese Sätze sind der Rede Rabinovicis zum 25jährigen Bestehen der Heidelberger Hochschule für jüdische Studien entnommen, in der er jüdische Identität im Sinne polyphoner Identitäten denkt, als einen pluralistischen Widerpart gegen alle Homogenisierungsbestrebungen einer vermeintlichen Leitkultur. In Andernorts durchmisst er diesen Gedanken noch einmal neu: Seine 11
Zygmunt Bauman sieht diese Entwicklung eher kritisch, aber es sind Bücher wie Andernorts, die diese Entwicklung weniger bewerten als vielmehr erfahrbar machen und dadurch ihre Möglichkeiten und Polyvalenzen ausreizen. Zygmunt Baumann schreibt: “Wir sind die Erben einer individualisierten, privatisierten Version der Moderne. Wir müssen das soziale Gewebe in Heimarbeit und in eigener Verantwortung selbst herstellen, jeder für sich. Ende durch Verflüssigung – dieses Schicksal ergreift jetzt die letzten Muster der Abhängigkeit und die Ordnung der Interaktion. Sie haben einen Grad der Geschmeidigkeit erreicht, sind in einem Ausmaß dehnbar geworden, wie es für frühere Generationen unvorstellbar war. Aber wie es eben so ist mit Flüssigkeiten: Sie werden ihre heutige Form nicht lange behalten.” (Bauman 14f.). 12 Zum Aspekt der Verknüpfung von Repräsentation von Geschichte und Narrativen vgl. Straub.
146 jüdischen Figuren sind im Transit eines Durchgangsraums unterwegs, weil sie (jüdische) Angehörige einer modernen Welt sind, in der alles sich in Bewegung setzt: der Bezug zur Herkunft, der Umgang mit der Geschichte, die kollektiv gestaltete Erinnerung. Andernorts nimmt die Problematik um Erinnern und Vergessen noch einmal auf und fügt ihr weitere Facetten hinzu. Wie kann sich an die Shoah erinnert werden, wenn man in einer Welt lebt, die nach dem Verlust jeder als gültig zu vertretenden Metaphysik dennoch versucht, ein Erinnern zu diskutieren? Ein solches Erinnern weiß darum, dass es keine allgemeine Gültigkeit beansprucht: Es gibt verschiedene Erinnerungen, weil es verschiedene Perspektiven gibt, aus denen das Erinnern unternommen wird. In Andernorts wechseln diese Perspektiven deshalb, weil das Selbstverständnis der Figuren sich verändert: Ihre Identität wird nicht nur in Frage gestellt, sondern mitunter völlig zerstört und muss sich daraufhin erst wieder neu und anders bilden, und sie bleibt flüssig, richtet sich nicht wieder ein in einer abgegrenzten Identität. Die Frage nach der Erinnerung wird dabei mit der Frage nach der jüdischen Identität eng verknüpft. Niemand kann mehr eine Deutungshoheit darüber beanspruchen, wie jüdische Identität sich entwerfen mag. Und: Auch Nichtjuden wie Rudi Klausinger beschäftigen sich mit dem Jüdischsein. Als es beim Begräbnis von Felix Rosen zum Streit kommt, ist er derjenige, der die Trauergemeinde mit Felix’ individuellem Entwurf jüdischen Lebens zu konfrontieren vermag: Er ging nicht in die Synagoge. Er lebte nicht nur in Israel. Er arbeitete auf allen Kontinenten und mit Menschen aus vielen Ländern. Sein Jerusalem war immer andernorts und überall zugleich. Er war im Zwischenraum zu Hause, wo ein Mensch auf den anderen trifft. (Rabinovici: Andernorts 285)
Jüdisches als Schrift, Jüdisches als Zwischenraum Die Wiener Autoren Robert Schindel und Doron Rabinovici entwerfen in ihren Romanen Vorstellungen jüdischen Lebens in einer Welt nach der Shoah: im Wien der Waldheimaffäre, im Wien und Tel Aviv heute, nicht zuletzt im Irgendwo zwischen allen Zielen, im Luftraum des globalen Unterwegsseins. Während Robert Schindel im Erinnerungsort des Beisls Juden und Nichtjuden in Begegnungen zeigt, in denen sich ihre kollektiv gedachten Identitäten einander konfliktträchtig gegenüberstehen und Versuche, sich aus ihnen herauszubewegen, nur zaghaft unternommen werden, sind Doron Rabinovicis Romane Ohnehin und Andernorts in einer globalisierten Welt angesiedelt. Diese ermöglicht es ihnen, jüdische Identität im Sinne von Zygmunt Bauman als flüssige Identitäten zu denken, die die alten kollektiven Identitäten als Skripte verwenden, um neue, kaleidoskopartige Identitätsentwürfe, die sich
147 durch ihre generelle Flexibilität auszeichnen, zu entwerfen. In Rabinovicis Romanen begegnen sich auch einander als Rivalen imaginierte Figuren, weil die Entwürfe selbst von Juden und Nichtjuden sich so ähneln, dass sie sich ineinander verschränken. Während Robert Schindel das Schreiben und das Durcharbeiten des Schreibens als Erinnerungsmedium einsetzt, ist bei Rabinovici in Ohnehin das Vergessen die Bedingung für das Erinnern und in Andernorts hat das kreative und mitunter groteske Dekonstruieren der kollektiven Identitäten von Nichtjude und Jude das Gedenken zwar nicht abgelöst, aber manche ihrer etablierten Formen in Frage gestellt. Jüdischsein ist für Rabinovici das simultane Nebeneinander von gerade in der Diaspora sehr verschiedenen Zugehörigkeitsentwürfen, deren Gültigkeit sich nur daran messen lässt, ob Juden mit ihnen leben mögen.
Literatur Kwame Anthony Appiah: The ethics of identity. Princeton, NJ: Princeton University Press 2005. Aleida Assmann/Heidrun Friese (Hg.): Identitäten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hg. von dems./Tonio Hölscher. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. S. 9–19. Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhard Kreissl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Gesammelte Schriften. Band I, 2. Hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. S. 693–704. Matthias Berek: Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen. Wiesbaden: Harrassowitz 2009. Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2. aktualisierte u. erw. Aufl. 2011. Vilém Flusser: Jude sein. Essays, Briefe, Fiktionen. Hg. von Stefan Bollmann/Edith Flusser. Mit einem Nachwort von Edith Flusser. Düsseldorf: Bollmann 1995. Niklas Frank: Der Vater. Eine Abrechnung. München: Goldmann 1987. Saul Friedländer: Memory, History and the Extermination of the Jews of Europe. Bloomington, IN: Indiana University Press 1993. Dieter Lamping: Einleitung. In: Identität und Gedächtnis in der jüdischen Literatur nach 1945. Hg. von dems. München: E. Schmidt 2003. S. 7–16. Michael M. Meyer: Jüdische Identität in der Moderne. Aus dem Amerikanischen von Anne Ruth Frank-Strauss. Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag 1992. Doron Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat. Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag 2000. ———: Festrede zum 25-jährigen Bestehen der Jüdischen Hochschule in Heidelberg. http://www.zentralratdjuden.de/de/article/18.html. Downloaded 1.2.2012.
148 ———: Ohnehin. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. ———: Der Spiegel der Finsternis. In: ders.: Credo und Credit. Einmischungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. S. 96–104. ———: Andernorts. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011. Paul Ricœur: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen. Übersetzt von Andris Breitling/Henrik Richard Lesaar. Göttingen: Wallstein 1998. Karl-Heinz Saurwein: Einleitung: Die Konstruktion kollektiver Identitäten und die Realität der Konstruktion. In: Gebrochene Identitäten. Hg. von Werner Gephart/ dems. Opladen: Leske und Budrich 1999. S. 9–27. Robert Schindel: Gebürtig. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. ———: Schreibtechniken: Über das Geheimnis, über Aussparung. Eine Aussparung. In: ders.: Mein liebster Feind. Essays, Reden, Miniaturen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. S. 97–103. ———: “Ich war kein schlechter Ping-Pong-Spieler”. Robert Schindel im Interview mit Clemens Berger. http://www.hainholz.de/wortlaut/schindel.htm. Downloaded 9.5.2008. Leider ist das Interview inzwischen nicht mehr dort zu finden. Jürgen Straub: Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. Charles Taylor: Sources of the self. Cambridge, MS: Harvard University Press 1989. ———: The ethics of authenticity. Cambridge, MS: Harvard University Press 1992. Moshe Zuckermann: Die Parzellierung der Shoah-Erinnerung im heutigen Israel. Vom historischen Ereignis zum Gegenstand ideologischer Projektion. In: Gebrochene Identitäten. Hg. von Werner Gephart/Karl-Heinz Saurwein. Opladen: Leske und Budrich 1999. S. 47–60. Mira Zussmann: Jüdische Identität heute. Notizen aus Amerika. In: Jüdische Lebenswelten. Essays. Hg. von Andreas Nachama/Julius H. Schoeps/Edward van Voolen. Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag Suhrkamp 1991. S. 108–122.
Barbara Breysach
Verstörende Erinnerung. Überlieferung und Traditionsbruch in der österreichisch-jüdischen und deutsch-jüdischen Literatur (Vladimir Vertlib und Esther Dischereit) This essay deals with questions of memory, postmemory and generational discourse in a literary and also in a social sense. Both authors consider their status within the German (and Austrian) as well as the German-Jewish (and Austrian-Jewish) literature as problematic. Their texts compose a complex logic of intergenerational and transgenerational discourses. Although their writing is rooted within their families’ memories, it is characterized by the dialectic tension between transmission and break with tradition.
I. In der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung zur literarischen Verarbeitung der Ereignisse der Shoah und ihrer Nachgeschichte haben sich zwei Aspekte ins Zentrum der Aufmerksamkeit geschoben: die generationenbezogene und die postmemoriale Konstellation. Die Schnittmengen – aber auch die Divergenzen – der beiden Ansätze werden im Folgenden für die Lektüre der Werke Vladimir Vertlibs und Esther Dischereits ins Spiel gebracht. Es erscheint mir unausweichlich, dass die Verortung eines literarischen Textes im Diskurs der Generationen eine Zuordnung zur Erinnerungskultur impliziert, während die These von einer postmemorialen Kultur eine bedingte Freisetzung von den Geboten einer moralisch allgemein verpflichtenden Gedächtniskultur zumindest ins Spiel bringt. Hingegen bezieht sich die jüngste Studie von Marianne Hirsch zur postmemorialen Generation des Holocaust auf die konkrete Frage der familiären Transmission von Erinnerung, vor allem auch nach dem Tod der Generation der Überlebenden der Shoah, wobei sie keineswegs nur authentisches familiäres Erinnerungsmaterial, sondern ebenso fiktionale Werke wie W.G. Sebalds Roman Austerlitz bzw. fiktionalisierte Formen wie Art Spiegelmans Comic Maus zu Grunde legt (vgl. Hirsch: The Generation of Postmemory 22 u. 29–52). Jedenfalls ist klar, dass Hirschs Annahme einer Nach-Erinnerung im Wesentlichen die Erinnerung in der jüdischen Generationenfolge sowie ihre Auswirkung auf das allgemeine Verständnis und die Nachgeschichte der Vernichtung fokussiert. Doch auch die familiäre Nach-Erinnerung unterliegt, nicht anders als die Erinnerung, einer allmählichen Medialisierung und Verallgemeinerung in der Gedächtniskultur, und diese färbt, wie Hirsch schreibt, zugleich auf das Bild der Gegenwart
150 überhaupt ab (vgl. Hirsch: The Generation of Postmemory 18). Zur Debatte steht die Frage, was die Vernichtung in den Epochen nach der Erinnerung bedeutet bzw. wie sie repräsentiert werden kann und welche Brüche dem postmemorialen Prozess eingeschrieben sind: Like the other ‘posts’ [z.B. Postmodernismus, B.B.], ‘postmemory’ reflects an uneasy oscillation between continuity and rupture. [. . .] I see it, rather, as a structure of inter- and transgenerational return of traumatic knowledge and embodied experience. (Hirsch: The Generation of Postmemory 5f.)
Es ist wichtig hervorzuheben, dass die Annahme einer postmemorialen Konstellation in der literarischen Repräsentation der Shoah aufs Engste an die traumatische Natur dieses zu vermittelnden Wissens und an die Möglichkeit der Unterbrechung der Weitergabe gebunden wird. In der Literaturwissenschaft könnte die Annahme einer postmemorialen Disposition auch die Tendenz zur Abkoppelung von Erinnerung suggerieren, aber in metatheoretischer Hinsicht ist postmemoriale Literatur an die Existenz von Gedächtnisliteratur geknüpft. Sie ist Nach-Erinnerung, nicht mehr die Erinnerung selbst, bleibt aber unabdingbar an deren Existenz geknüpft, so, wie es eine Nachgeschichte gibt, die nicht mehr Teil der Ereignisse ist, aber nur dank dieser existiert. Das kulturtheoretische Generationenkonzept widerspricht dieser Annahme nicht, es ist aber weiter gespannt und basiert nicht auf der Annahme eines traumatischen Kerns des Generationenwissens. Generation wird als eine Form der Erlebnisgemeinschaft mit einer Identität stiftenden Komponente begriffen, denn es wird impliziert, dass ein historisches Ereignis eine durch dieses Geschehen geprägte Generation hervorgebracht hat (vgl. Parnes et al. 11f.). Davon ausgehend werden dann Prozesse der Generationenübertragung in den Blick genommen. Sie beruht auf einer zyklischen Logik: zwar lösen sich die Generationen voneinander ab und entwickeln eine je eigene, generationenspezifische Sichtweise; sie bleiben aber gleichwohl der Generationenabfolge, sei sie linear oder auch zyklisch gedacht, verhaftet. Insbesondere für den Themenkomplex der Vernichtung der Juden, vor allem hinsichtlich seiner literarischen Verarbeitung, wurde das Generationenkonzept ins Spiel gebracht (vgl. Schruff). Auch von ‘Generationen des Holocaust’ ist die Rede, denn sowohl Schuld als auch Leiden sind zentrale Objekte “intergenerationeller Übertragungen” und “transgenerationeller Übertragung” (Parnes et al. 305): In diesem Fall erfolgt die Weitergabe von Gedächtnisinhalten nicht von einer zur folgenden Generation, sondern über mehrere Generationen hinweg und kann so auch modifiziert werden. In der Vergangenheit war gerade die Betonung der Art und Weise von Erinnerung ein Weg der Kritik an vorgängigen und dominanten Politiken der Geschichte und des Gedächtnisses. So beinhaltet das weltweit beachtete Erinnerungsbuch Dem Herrgott zuvorkommen (1977) der polnischen Autorin
151 Hanna Krall – ganz im Geiste der damaligen politischen Opposition in ihrem Land – das folgende lakonische Statement ihres Hauptprotagonisten und Zeugen Marek Edelman: “Wir schreiben ja keine Geschichte. Wir schreiben über die Erinnerung” (Krall 84). Die Inthronisierung der Erinnerung richtete sich keineswegs nur gegen das einfache, sondern gegen ein sehr subtil gedeutetes Vergessen und gegen die politische Eindimensionalität von autoritär implementierter Gedächtnispolitik bzw. ganz allgemein gegen das Vergessen der vernichteten jüdischen Kultur. Die Problematisierung des Gedächtnisses stellt einen Subtext der Literatur über die Shoah dar und lässt sich von den poetologischen Fragen sowie den ethischen Voraussetzungen des Schreibens nicht trennen. (Marszałek 163)
Der politisch motivierten Gedächtniskritik war eine pro-memoriale Note inhärent, zugleich aber auch eine meta-memoriale Reflexion, denn explizit memoriale Diskurse verstanden sich häufig zugleich erinnerungskritisch und als Gegenmodell zur Historiographie. So sieht auch Hirsch, ähnlich wie Krall/Edelmann, Erinnerung “as a form of counter-history” (Hirsch: The Generation of Postmemory 17). Das Pro und Kontra des Erinnerns ist der Holocaustliteratur eingeschrieben; zu verweisen wäre hier auch auf Ruth Klügers autobiographischen Roman weiter leben. Eine Jugend (1992), in dem sie sich kritisch mit der ortsfixierten Gedächtniskultur auseinandersetzt und ihre Erinnerung als eine individuelle, hermeneutisch reflektierte Zeitreise beschreibt. Die neuere Rede von der postmemorialen Literatur bezieht sich jedoch über solche Erwägungen hinaus primär auf den vergrößerten zeitlichen Abstand zu den Ereignissen der Vernichtung, der einen memorialen Bezug zu den Ereignissen der Vergangenheit ausschließt (vgl. Hirsch: The Generation of Postmemory 17). Der Begriff postmemorial kann m. E. missverständlich sein, weil – auch nach der Dominanz der Postmoderne – das Präfix post kaum nur als zeitliche Bestimmung, sondern eben auch als ein Jenseits der Erinnerung verstanden werden dürfte (vgl. Hirsch: Family Frames 22). Schließlich bleibt festzuhalten, dass sowohl das memoriale als auch das Generationennarrativ eine von der zeitlichen Logik des Nacheinanders abweichende Struktur von Ereignis und Nachgeschichte verfolgen. Beides sind narrative Verfahren, die auf “Konzepte von Leben und Nachleben, von Übertragung und Vererbung” (Parnes et al. 18) rekurrieren, wobei keine lineare Abfolge von Er- und Nachleben vorausgesetzt werden kann, sondern stets sowohl die Differenz als auch die Wechselbezüglichkeit zwischen Ereignis und Nachwirkung vorauszusetzen ist. Bekanntermaßen spielten diese Aspekte in den deutsch-jüdischen Debatten um Nationalsozialismus und Vernichtung sowie deren Nachgeschichte von Anfang an eine zentrale Rolle. Dieser umfangreiche Themenkomplex kann hier nur in Form eines schmalen Streiflichts thematisiert werden. Unmittelbar
152 nach 1945 wurde Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür (1947) zu einem Manifest der ‘jungen Generation’ der Kriegsteilnehmer und artikulierte ihr Begehren, sich von den Verfehlungen der älteren, der Generation der nationalsozialistischen Machthaber abzusetzen. Borcherts Werk war Ausdruck eines intragenerationellen Diskurses unmittelbar nach 1945. Umgekehrt zeigte Peter Schneider 1987 mit Vati stellvertretend für die Generation der 68er, dass ein Austreten aus der Schuldgeschichte der Tätergeneration unmöglich ist. Wiederum thematisieren die Erinnerungen jüdischer Autorinnen, wie Ilse Aichinger, Ruth Klüger oder Cordelia Edvardson, die der Vernichtung als Kinder und Jugendliche entkamen, ausführlich die Beziehung zu den Müttern bzw. Eltern und Großeltern; diese Reflexionen sind Voraussetzungen für die Artikulation der eigenen Identität und für somit für eine selbstbestimmte Existenz. Die Vernichtung war zunächst einmal kein individuelles, sondern ein kollektives Schicksal, die erinnernde Aneignung der Zeit der Vernichtung ist hingegen häufig ein individueller Akt, dem die intergenerationelle Auseinandersetzung eingeschrieben ist. Die deutsch-jüdische Autorin Esther Dischereit und der österreichischjüdische Autor Vladimir Vertlib repräsentieren mit ihrem Werk die Generation der Nachgeborenen, für die das Familiengedächtnis einerseits eine Konstante ihres Selbstverständnisses ist, andererseits aber auch eine Perspektive auf die Vergangenheit repräsentiert, an der sie sich reiben. Anhand ihrer Werke soll gezeigt werden, inwieweit jüdisches Schreiben in der Nachgeschichte der Shoah immer auch auf ganz individuellen Motiven und poetologischen Aspekten beruht, die den Absolutheitsanspruch sowohl der Generationen- als auch der postmemorialen Deutungsperspektive relativieren und deswegen auch als Befreiung von diesen Determinanten verstanden werden kann. Schon 1994 betonte Hana Wirth-Nesher, dass eine von der Zeit und den je besonderen Umstände abstrahierende Definition ‘jüdischer Literatur’ kaum möglich sei (vgl. Wirth-Nesher 3–12). Auch die Shoah als gemeinsamer Bezugspunkt von Vertlibs und Dischereits Schreiben erlaubt keine Reduktion ihrer Texte auf das Merkmal ‘jüdische Literatur der Shoah’. Dischereits und Vertlibs Texte stehen in einem über die epochale Bedeutung der Shoah noch hinausweisenden Kontext, der ganz fundamental mit der Frage von Traditionsvermittlung und Traditionsbruch verbunden ist. Die Vergleichbarkeit beruht auf diesem Themenkomplex, der mit dem Status der familiären Erinnerung verbunden ist, sich aber darin nicht erschöpft. Differenzen ergeben sich durch die Besonderheiten der österreichischen und deutschen Tradition, durch Genderdifferenzen, aber auch interkulturelle und intermediale Aspekte, die aus Gründen der notwendigen Begrenzung im Folgenden nur gestreift werden können. Vladimir Vertlib, Jahrgang 1966, geboren in Leningrad, reflektiert die österreichische Gesellschaft als ein politisch höchst ambivalentes Gemeinwesen, das sich lange Zeit durch Verleugnung, wo nicht klandestine Identifikation
153 mit dem Nationalsozialismus, auszeichnete. Dass Vertlib sich dennoch explizit als österreichischer Autor versteht, verleiht seinem Schreiben eine zusätzliche Reibungsfläche. Er will sich jedoch nicht in der österreichischen Tradition beheimaten, sondern sucht hier eine Art von drittem Raum. Zu dieser Sicht auf Österreich als einem ‘Inbetween’ gehört auch, dass seine Texte eine russisch-jüdische Perspektive auf Nationalsozialismus und Vernichtung spiegeln, insofern das Familiengedächtnis der Vertlibs durch spezifisch sowjetische Erfahrungen geprägt ist. Etwas anders gelagert ist der Ausgangspunkt der Berliner Autorin Esther Dischereit, deren Mutter der Vernichtung in verschiedenen Verstecken in Deutschland entging. Dischereit, Jahrgang 1952, geboren in Heppenheim, ist eine Multimedia-Künstlerin, die nicht nur Gedichte und Prosa schreibt, sondern als Performerin mit Musikern die Grenzen des Schreibens und des literarischen Mediums überschreitet, Drehbücher verfasst und auch als Künstlerin im öffentlichen Raum von sich reden macht. Ähnlich wie Vertlib sucht auch Dischereit nach ‘Zwischenwelten’, die für sie jedoch vor allem künstlerischer und medialer Natur sind.
II. Vertlibs Schreiben war in seinen Anfängen und ist es auch mit seinem neuen Roman Schimons Schweigen (2012) wieder autobiographisch motiviert. Es ist eng verbunden mit der schier endlosen Migrationsgeschichte seiner Familie und ihren russisch-jüdischen Erfahrungen. Der Vater sympathisierte mit zionistischen Ideen und einer Auswanderung nach Israel. So verließ die Familie die Sowjetunion und für den späteren Autor begann mit sechs Jahren eine zahlreiche Etappen umfassende Migrationsgeschichte: Die Emigration meiner Eltern, die 1971 ihre Heimat verlassen mussten, hatte mehrere Stationen: Israel – Österreich – Italien – Österreich – Niederlande – wieder Israel – wieder Italien – wieder Österreich – USA – und schließlich endgültig Österreich. Der Einwanderungsversuch in die USA endete mit Schubhaft und Abschiebung. Was ursprünglich nur als Übersiedlung aus der UdSSR nach Israel geplant gewesen war, entwickelt sich in der Folge zu einer Anzahl weiterer Emigrationen und Remigrationen [. . .]. (Vertlib: Spiegel im fremden Wort 13)
“Israel war zwar nicht die ‘sechzehnte Sowjetrepublik’, doch es entsprach kaum den naiven Erwartungen meiner Eltern, die 1971 ihr Heimatland verlassen mussten” (Vertlib: Spiegel im fremden Wort 13). Die gesellschaftlichen Träume der Eltern deutet der Erzähler als Frucht der sowjetischen Sozialisation. Vertlib bezeichnet seinen Vater als eine Art von ‘Homo Sovieticus’, der in Schwarz-Weiß-Schemata dachte und recht naiv die sozialistische durch eine zionistische Utopie ersetzen wollte (vgl. Vertlib: Spiegel im fremden Wort 14).
154 Dass die Familie sich schließlich in Österreich niederließ, war der Effekt verschiedener anderer, mittlerweile verworfener Optionen. In [. . .] der ‘Heimat Adolf Hitlers’, einem Land, in dem Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit alltägliche Realität waren, wollte er nicht leben. Die USA, Kanada oder Australien nahmen nur qualifizierte Fachkräfte auf (das in der Sowjetunion abgeschlossene Jusstudium meines Vaters war dort nichts wert), und in den Niederlanden oder der Schweiz gab es schon genug andere Gastarbeiter [. . .]. Die Emigrationsversuche meiner Eltern waren zum Scheitern verurteilt [. . .] schlecht vorbereitet und dilettantisch durchgeführt. (Vertlib: Spiegel im fremden Wort 14)
Die Unruhen des langen Unterwegsseins werden in Vertlibs Texten sehr anschaulich; sein Anliegen ist es, sich von der “destruktiven Energie” dieser jüdischen “Odyssee” (Vertlib: Spiegel im fremden Wort 14) zu distanzieren und von der Flucht- und Verfolgungsgeschichte der Eltern zu emanzipieren: Beispielsweise war da die Sache mit dem Flugzeug. Wir hätten ursprünglich mit einer Alitalia-Maschine von Tel Aviv nach Rom fliegen sollen. Die gebuchte Maschine fällt aus, es bieten sich alternativ ein Air-France- oder ein El-Al-Flug an: Die Air-France-Maschine wurde von arabischen Terroristen nach Entebbe in Uganda entführt, während wir wohlbehalten in Rom landeten. ‘Man muß ja im Leben nicht alles haben’, erklärte Mutter später. (Vertlib: Zwischenstationen 133f.)
“Nicht alles haben” meint hier, auf der Reise von Israel nach Rom nicht auch noch Geiselhaft oder Geiseltod zu erleben, wo Bedrohung historisch allgegenwärtig war. Das ‘Alles’, diese mehrdimensionale jüdische Katastrophengeschichte, deren jüngster Kristallisationspunkt die Vernichtung der europäischen Juden darstellt, die aber, wie noch zu zeigen ist, durch die sowjetische Geschichte erweitert wird, mündet für die Familie in einer anhaltenden Transitexistenz. Sowohl die Unterdrückung in der Sowjetunion als auch die Erfahrungen auf den verschiedenen Stationen ihrer Auswanderung und insbesondere die Erfahrung der nur knapp entronnenen Flugzeugkatastrophe schreiben sich in die Tradition der Juden als der Überlieferungsgemeinschaft schlechthin ein. Es ist eine Überlieferung, die niemals, wie Alfred Bodenheimer zeigt, unabhängig von traumatischen Einschnitten und historischen Katastrophen wirksam war: “Der jüdische Narrativ als Tradition stiftender lässt sich [. . .] als Trauma-Transport lesen” (Bodenheimer 13), als Überlieferung des Traumas der immer wiederkehrenden existentiellen Bedrohung und drohenden Vernichtung der Juden. Die dominierende Erfahrungskonstante der Katastrophe erfährt eine Aktualisierung in der Flugzeugentführung. Die Mutter erinnert hier an die jüdische Tradition und interpretiert das eigene Geschick als deren Fortsetzung, auch wenn es sich hier, wie bekanntermaßen ebenfalls in der jüdischen Tradition überliefert, um die Variante der glücklichen Errettung handelt. Ob Untergang oder glückliche Rettung, immer spielt der “Trauma-Transport” in die Deutung des Geschehens hinein.
155 Vor diesem Hintergrund geht es dem Autor um den Versuch der Ersetzung des Transitären durch eine eigene Wahl. Schließlich ermöglicht die unbefriedigende Erfahrung des unendlichen Transits dem Autor als neue Option das Dableiben. In vielen Vertlib-Texten spricht der Erzähler in der Rolle des Sohnes, dessen Aufgabe es ist, die Gebrochenheit der in der Sowjetunion als Juden unterdrückten und in ihren Auswanderungsplänen gescheiterten Eltern zu korrigieren, ohne sie vergessen zu machen. Sein Agieren steht für die Notwendigkeit, den Zustand der Defizienz zu überwinden – oder ihm zumindest standzuhalten. Der Ungebrochenheit, die der Akt des Tradierens über die Generationen hinaus generieren soll, steht die Gebrochenheit als Inhalt des Tradierens gegenüber. Man könnte auch sagen, diese Gebrochenheit ist das Mittel dazu, die transgenerationelle Ungebrochenheit zu sichern. Dass die Treue der nachfolgenden Generation notwendigerweise bedeuten muss, auf die Defizienz, die ihr vererbt worden ist, mit neuen Strategien zu reagieren, indem sie aber den Anspruch erheben muss, im Sinne der Ungebrochenheit das Erbe der Väter fortzuführen, ist die logische Konsequenz dieses Verfahrens. (Bodenheimer 12)
Es scheint, dass Vertlibs Bekenntnis zur österreichisch-jüdischen Literatur die oben geschilderte Dialektik von Bruch und Tradition spiegelt, es ist keine spontane oder naive Zugehörigkeit, sondern eine reflektierte, eine vielen Für und Wider abgetrotzte Variante. Die deutsch-österreichische Kulturdifferenz ist für ihn signifikant, er ist österreichisch, insofern er nicht als ‘deutscher Autor’ vereinnahmt werden will, weil er auf dieser Differenz – und auch anderen kulturellen Trennungslinien – beharrt. Vertlibs komplexe Kulturtopographie speist sich auch aus der Konstellation eines in deutscher Sprache schreibenden russischen Juden, der in Österreich lebt. Sein Selbstverständnis speist sich aus den Paradoxien einer ost-westeuropäischen Katastrophengeschichte, in dem der Nationalsozialismus als deutsche Gedächtnisdeterminante relativiert wird. Er ist nur ein Element, aber nicht der Fixpunkt der eigenen kulturellen Verortung. Das russische Gedächtnis, dem die Familie verbunden ist, stellt das zentrale Thema des 2003 erschienenen Romans Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur dar. Hintergrund des Romans ist die Hungerblockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht: Die Stadt Leningrad wurde von September 1941 bis Jänner 1944 von der Deutschen Wehrmacht belagert. Dem Hunger, der Kälte und dem regelmäßigen Artilleriebeschuss fielen etwa eine Million Zivilisten zum Opfer. Alleine in Leningrad waren mehr zivile Opfer zu beklagen als im gesamten ‘Großdeutschen Reich’ [. . .]. Was jedoch erstaunt ist die Tatsache, dass von dieser Episode des NS-Vernichtungskrieges in Österreich und Deutschland kaum jemand etwas gehört zu haben scheint. (Vertlib: Schicksalsbilanz 59)
156 So Vertlibs Kritik an den unaufgeklärten Schattenzonen des deutschösterreichischen Kriegsgedächtnisses im Essay Schicksalsbilanz von 2004. Im Roman, nur ein Jahr zuvor, kontextualisiert er dasselbe Ereignis aus der russisch-jüdischen Perspektive und nimmt so eine weitere entscheidende Perspektivenverschiebung vor, der zufolge die deutsche Hungerblockade der Stadt Leningrad wahrscheinlich das Überleben der Familie in dieser Zeit ermöglichte: Es gehört zu den perversen Absurditäten des Schicksals, dass die von der Naziführung initiierte Hungerblockade meinen Eltern höchstwahrscheinlich das Leben gerettet hat. Hätten die deutschen Truppen die Stadt 1941 wirklich besetzt, wären meine Eltern und Großeltern mit ziemlicher Sicherheit aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ermordet worden. So verdanke ich Hitlers Vernichtungsplänen für meine Geburtsstadt vielleicht meine Existenz, denn die Wahrscheinlichkeit, in Leningrad nicht zu verhungern, war für einen Juden immer noch höher, als in den von den Nazis besetzten Gebieten nicht ermordet zu werden. (Vertlib: Spiegel im fremden Wort 89)
Das russisch konnotierte transgenerationelle Gedächtnis verschiebt die Bedeutung und die Relevanz der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in den besetzten europäischen Ländern und erweitert sie durch eine Erfahrung, die aufs engste mit dem anti-russischen bzw. anti-sowjetischen Vernichtungskrieg verbunden ist. Dies unterscheidet Vertlib von einem Autor wie Doron Rabinovici, einem notorischem Kritiker der politischen Kultur Österreichs, der sich als ‘kulturelles Zwitterwesen’ beschreibt, also als Österreicher, der mit seiner israelischen Identität und als Israeli, der mit seiner österreichischen Identität hadert. Für Vertlib ist die Verschiebung des Gedächtnisses auf der ost-westeuropäischen Achse wichtig, für Rabinovici eher die auf der jüdisch-österreichischen Achse: Seit Monaten droht der in Tel-Aviv geborene Doron R. dem in Wien lebenden D. Rabinovici damit, die Beziehungen zu ihm zu überdenken. Seitdem geht es rund. ‘Wir Österreicher wählen, wen wir wollen’, sage ich mir trotzig, worauf ich mir lächelnd entgegne: ‘Nu, kein Problem, und wir Israeli haben diplomatische Kontakte, mit wem wir wollen.’ Da gehe ich als nationaler Doppler, als hochprozentiges Gemisch durch die Straßen und fühle mich so eigen und so fremd. (Rabinovici 54)
Während bei Rabinovici die klassische Differenz von Israel und Galut explizit mitschwingt, ist Vertlib ein Österreicher qua Wahl, obwohl ihn der Alltag hier über die Aktualität faschistisch-rassistischen Denkens in Teilen der österreichischen Gesellschaft belehrte, worauf seine autobiographisch motivierten Romane immer wieder rekurrieren. Als Kind erhält der Ich-Erzähler des Romans Zwischenstationen in der österreichischen Schule Lob, weil er schnell Deutsch lernt, viel besser als die türkischen Kinder, wie seine
157 Lehrerin erkennt. Die Mutter wird in ihrem Job als Putzfrau mit dem aggressiv inszenierten Ausländerdeutsch der österreichischen ‘Chefputzfrau’ konfrontiert. Das Kind durchschaut es als Projektion einer angeblichen Normalität auf die vermeintliche Alterität: ‘Du jetzt putzen Klos im Erdgeschoß! Dann ordentlich staubsaugen Vorraum. Ordentlich ist ordentlich! Ja! auch Ecken! Ja? Nicht vergessen Staubwischen großer Tisch’, kommandiert die Vorgesetzte. Das Kind, das diese Rede hört, entgegnet: ‘Warum reden Sie denn so falsch?’ Und bekommt dann zu hören, im perfekten Wienerisch: ‘Sei ruhig, du bleder G’schropp. Mit dir red’t eh kaana.’ (Vertlib: Zwischenstationen 70)
Diese xenophobe Reaktion legt Denkschemata frei, denen zufolge Zuwanderer primitives Deutsch sprechen und auch keine Kinder haben können, die es einwandfrei sprechen. Den vermeintlichen Verwaltern der österreichischen Sprachkultur verbietet es sich, mit Repräsentanten dieser vermeintlich defizienten Migrantensprache zu sprechen. Vertlib gibt hier ein Beispiel der Konstruktion des Anderen durch eigene Hegemonieansprüche (vgl. Bachmann-Medick 184ff.). Es erinnert zugleich an das bekannte Diktum Homi Bhabhas, wonach Kultur sich auf eben solche Weise konstituiert: “Das Studium der Weltliteratur könnte das Studium der Art und Weise sein, in der Kulturen sich durch ihre Projektion von ‘Andersheit’ (an-)erkennen” (Bhabha 139). Dass Österreich Vertlib Heimat nicht im Sinne von selbstverständlicher Gewissheit werden kann, hat nicht nur mit den zweifelhaften politischen Traditionen und unverändert vitalen Ressentiments in der österreichischen Gesellschaft zu tun, sondern auch mit Vertlibs komplexer Migrationserfahrung, die Heimat als Fixpunkt menschlicher Existenz ebenso ausschließt wie die Annahme eines lokalen oder familiären Ursprunges, der zweifelsfreie Herkunft und Identität verheißen könnte: Für Vertlib “ist Heimat fast immer eine Zwischenwelt” (Vertlib: Spiegel im fremden Wort 59). Mit dieser seiner – jüdisch konnotierten – Erfahrung wendet er sich implizit auch gegen die Vorstellung einer ununterbrochenen jüdischen Tradition. Österreich ist – wenn man so will – eine aus jüdischer Sicht gewissermaßen ‘riskante’ Wahl oder eben eine Art von ‘Zwischenheimat’, die nicht in das Erfahrungsmuster des jüdischen 20. Jahrhunderts passt. Der Roman Schimons Schweigen bekräftigt, dass Österreich für Vertlib Zwischenwelt nicht nur im geo-kulturellen, sondern auch in einem transgenerationellen Sinn ist, verortet zwischen den Fixpunkten der familiären Flucht- und Emigrationsgeschichte aus Israel und dem sowjetischen Russland. Israel war für sowjetische Emigranten die große Hoffnung, während der spezifisch sowjetische Antisemitismus in Leningrad vor allem den Vater zu der lange geplanten Auswanderung motiviert hatte. Enttäuschungen über
158 Israel, wo die Familie provisorisch untergebracht war und in der Rolle von Außenseitern verblieb, und schließlich die verzweifelte existenzielle Situation nach vielen gescheiterten Integrationsversuchen verleiten den Vater dazu, die Remigration in die Sowjetunion zu erwägen. Eine sowohl Israel als auch den Westen kritisierende Stellungnahme des Vaters bringt ihn in Misskredit bei seinen früheren russischen Mitstreitern, die dringlich auf die Ausreisegenehmigung warten. Die doppelte Ohnmacht des Vaters angesichts der sowjetischen Behörden als auch der Unmöglichkeit, sich in Israel oder einem anderen Exilland zu integrieren, wendet der Sohn in ein vieldeutiges Ja zur österreichisch-jüdischen Tradition. Zwischen den beiden vor allem durch Familienerfahrungen bedingten ‘Unmöglichkeiten’ Russland und Israel öffnet Österreich einen kulturellen, bisweilen paradox oder partiell absurd anmutenden Zwischenraum. Österreich, in dessen Tradition sich Vertlib verankern möchte, kann man als postmemoriale Disposition deuten, mit der die Unmöglichkeiten des Vaters relativiert oder auch transzendiert werden. Vor allem aber repräsentiert Österreich in Vertlibs Verständnis ein ‘Inbetween’ bzw. einen dritten Raum zwischen den klassischen jüdischen Optionen Israel oder Galut. Insoweit ist auch Vertlibs Schreiben ‘Arbeit an der Tradition’ im Sinne eines Suchens nach neuen Strategien.
III. Das Werk Esther Dischereits ist einerseits durch Bezüge zur deutschjüdischen Gedächtnisdifferenz geradezu überdeterminiert (vgl. Braese 28ff.). Ihr Schreiben nimmt bisweilen die Rolle einer Gegenrede zur deutschen Mehrheitsgesellschaft ein. Andererseits aber ist es aus der Perspektive des Traumas ihrer Mutter zu lesen, die in Deutschland in verschiedenen Verstecken unter Not und größter Gefahr überlebte und deren Leben nach 1945 von dieser Erfahrung der Todesangst gezeichnet blieb. “Ihr nicht gelebtes Leben soll in mir leben” (Dischereit: Joëmis Tisch 28), heißt es, oder auch: “Ich bin das einzige Kapital einer armen Frau” (Dischereit: Joëmis Tisch 39). Joëmis Tisch, Dischereits erster Prosaband aus dem Jahr 1988, inszeniert teils zwischen den Zeilen, teils in Rückblenden die Realität des nationalsozialistischen Deutschlands aus der Doppelperspektive einer vom Tode bedrohten Jüdin im Nationalsozialismus und einer Jüdin in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft. Das Schicksal der wenigen in Deutschland überlebenden Juden war ein sehr spezifisches und führte zu Einsichten in die Struktur der nationalsozialistischen Gesellschaft, die weder die Überlebenden der Lager noch die im Exil lebenden Juden teilten. In Dischereits Texten gehört die fundamentale Diskrepanz des minoritären (jüdischen) Gedächtnisses in der (deutschen) Mehrheitsgesellschaft sowie der Erfahrungssprung zwischen der deutschen Mehrheits- und der jüdischen Minderheitsexistenz zu den zentralen
159 Erfahrungen des Ich. Insoweit spricht es auch stellvertretend für die Mutter. Die Präsenz von Juden in der deutschen Nachkriegsgesellschaft war lange von doppelter Unwahrscheinlichkeit und schien auf doppelte Weise verworfen. Weil Juden hier, in diesem Land, ohne vernehmbaren Widerspruch der Gesellschaft zur Vernichtung verurteilt wurden und ein Weiterleben ausgerechnet hier als der unwahrscheinlichste Fall jüdischer Existenz nach 1945 erscheinen mochte: Bundesdeutsche Realität ist eine Erörterung des Jüdischen, als sei dem Deutschen ein kollektiver Patient zugewachsen, dessen Krankheit noch gesucht wird – zögernd ertastet, begleitet mit viel Gespräch, viel Verständnis. (Dischereit: Übungen, jüdisch zu sein 18)
Dischereits Texte exponieren dieses schwache deutsch-jüdische Ich, das im Zerrspiegel der Mehrheitsgesellschaft zur quasi-exotischen Existenz einer jüdischen Frau in Deutschland wird. Sie stellen es aus und reinszenieren seine schmerzlichen Reibungsflächen. Doch Dischereits Schreiben geht nicht in dieser Differenz auf. Die erörterte Spannung wird durch eine zweite, nicht minder brisante durchkreuzt, die intergenerationeller Natur ist. Wie sehr dieser intergenerationelle Diskurs, das gewissermaßen stellvertretende Schreiben für die sprachlose Generation der Opfer der Shoah, sie einengt, macht Dischereits Nachwort zu Gertrud Kolmars Prosaband Die jüdische Mutter (2003) deutlich. In diesem Roman über das Gewaltverbrechen an der Tochter einer allein erziehenden jüdischen Mutter wird ein Themenkomplex aufgegriffen, der auch bei Dischereit zentral ist: die Verknüpfung der jüdischen Erfahrung von Gewalt und Verfolgung mit einer geschlechterspezifischen, gegen Frauen und Mädchen gewendeten Gewalt. Gertrud Kolmar, Generationsgenossin von Else Lasker-Schüler, repräsentiert mit dieser zusammen die Dichtung deutschsprachiger jüdischer Autorinnen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Anders als Lasker-Schüler, die im Exil überlebte, wurde die Berliner Dichterin in Auschwitz-Birkenau ein Opfer der Shoah. Aufgrund seiner unbestrittenen Bedeutung, aber auch wegen der Verbindung von jüdischer und weiblicher Erfahrung, scheint das Werk der großen Dichterin als Einladung zur Auseinandersetzung mit der deutschjüdischen Tradition und für den notwendigen Generationendialog geeignet zu sein. Doch benennt Dischereit die Deportation und Ermordung der Lyrikerin auch als Anlass einer mit tiefer Angst besetzten Distanzierung: Sie hat da gewohnt, bevor. Alles an der Dichtung der Kolmar ist ‘bevor’. Bevor sie nach Auschwitz deportiert wurde am 27. Februar 1943 bei der letzten so genannten ‘Fabrikaktion’ der Nationalsozialisten. Ich könnte nicht in ihrem Haus einziehen. Es ist besser in Häuser einzuziehen, von denen ich nichts weiß. (Dischereit: Nachwort 195)
160 Dischereits Kommentar wendet sich explizit dagegen, die Position des ‘Danach’ zu einer traumatischen Erfahrung des ‘Davor’ bzw. der Präsenz der Vernichtungsdrohung einzunehmen. Die Erinnerung an Nationalsozialismus und Shoah bringt für eine jüdische Autorin wie Dischereit die Gefahr einer Verwaistheit bzw. Traditionslosigkeit im literarischen Sinne mit sich, in die ein intergenerationelles Gesetz eingeschrieben ist, das über den Rahmen der eigenen Familie hinausweist. Auch hier geht es um ‘Tradition’ als “TraumaTransport” (Bodenheimer), gegen die sich die Autorin trotz ihrer Bewunderung für den Roman Kolmars stemmt. Tradition und Traditionsvakuum sind einander eng verwandt und werden von Dischereit im Kontext des eigenen Schreibens als ungewollte Entblößung und kompromittierende ‘Gattungsfrage’ gedeutet. Das Schreiben ‘in jüdischen Angelegenheiten’ (vgl. Dischereit: Mit Eichmann an der Börse) ist mit einem Wissen über Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung verbunden, es ist ein unfreiwillig exponiertes Schreiben über eine sehr prekäre existenzielle Kondition, das ebenso ständig wie unfreiwillig Grenzen überschreitet. Todd Herzog bezeichnete Joëmis Tisch als “complex series of trips across national, temporal, and personal borders” (Herzog 4). Dies kommt der Selbstdeutung der Autorin sehr nahe: mein Schreiben im Jüdischen ist Prostitution, weil dieses Schreiben ein öffentlicher Vorgang ist, der einer Entblößung gleichkommt. Mir kommt Die jüdische Mutter von Gertrud Kolmar in den Sinn. Ich lebe auch von der Gattungsinteressantheit und öffne das Hemd, sodass die Nacktheit zu sehen ist. (Dischereit: Es geht darum, im öffentlichen Raum präsent zu sein 23)
Im Hörspiel Rote Schuhe taucht das Motiv der Traditions- und Schutzlosigkeit ebenfalls auf: bei dem Heh, dem hebräischen H – ich mochte diesen Buchstaben von allen immer am meisten – da gibt es diesen kleinen Längsstrich, ein wenig Halt auf der Linie, dann scheinbar schwebend, dann doch überdacht. Dieser kleine Strich bin ich. Aber Dach und seitliche Mauern sind weggebrochen. Ich könnte mein Zimmer mit diesen weggebrochenen Mauern tapezieren. Ich will was anderes sehen als dieses mein beschissenes Zimmer. (Dischereit: Übungen, jüdisch zu sein 17)
In dem Fragenkomplex, ob der jüdische “Trauma-Transport”, der sich bei Dischereit in der Beschäftigung mit dem Schicksal Gertrud Kolmars aktualisiert, eine Tradition bzw. welche Tradition begründen kann, berühren sich Vertlibs und Dischereits Werk. Die existenzielle Gebrochenheit der eigenen Mutter durch das Trauma des Überlebens, aber auch die traumatische Erinnerung an die Ermordung der jüdischen Dichterin Gertrud Kolmar in der Shoah stellen übermächtige Determinanten dar, die es gleichermaßen zu bewahren und abzuwehren gilt, denn die gewissermaßen unhinterfragte Anerkennung
161 exemplarischer Verstrickung in deren Schicksal beinhalt auch eine Komponente der Unfreiheit. Der Gang zu dem Haus, in dem Kolmar gewohnt hatte, erhebt es in Dischereits Text zu einem literarischen Erinnerungsort, bezeugt ein Traditionsbewusstsein und folgt dem Erinnerungsgebot. Doch der Versuch, sich als jüdische Autorin in der jüdischen Erfahrung zu verorten, endet im Gefühl einer Nacktheit, einer ‘Prostitution’, so, als würde die Überlieferung keine Nahrung enthalten, als wäre sie nur eine Wunde. Doch man könnte auch folgern, dass die sprachlich und poetisch exponierte und ausgearbeitete Gebrochenheit “das Mittel dazu [ist], die transgenerationelle Ungebrochenheit zu sichern” (Bodenheimer 12). Mit Entschiedenheit widmet sich Dischereit dem literarischen Erbe Kolmars, doch steht ihre Annäherung weniger im Zeichen der Kontinuität als dem der Diskontinuität. Der Gedichtband Als mir mein Golem öffnete von 1996 enthält aphoristisch wirkende Kurzgedichte, die eine Brücke zu Dischereits Rolle als Performerin und Künstlerin im öffentlichen Raum darstellen. Hier wird eine tautologische Enge deutlich, die mit der Option deutsch-jüdischen Schreibens einhergehen kann, gegen die Dischereits literarisches Ich rebelliert. Das Zimmer ist mein Land Ich spreche Deutsch mit meiner Schreibmaschine Einen Fetzen an den Rand Das Zimmer ist mein Land (Dischereit: Als mir mein Golem öffnete 25; vgl. dazu auch Heuser 181)
Schon parallel zur Entstehung ihrer frühen Prosawerke entwickelte sich die Autorin zur Lyrikerin und Performerin; dazu zählten anfangs gemeinsame Projekte mit dem 1990 verstorbenen hessischen Jazzbassisten Buschi Niebergall. Die Multimedia-Künstlerin eröffnet ihre Homepage mit einer abwechselnd in Deutsch und Englisch gesetzten Zeile, die einen Verweis auf die Katastrophengeschichte und auf die eigene Nicht-Identität mit dieser Vorgeschichte enthält. Es ist ein Versuch, eine Andeutung, vielleicht nur ein Begehren danach, die Enge der deutschen Sprache und des intergenerationellen Gesetzes, das sowohl die deutsch-jüdische als auch die innerjüdische Konstellation beherrscht, zu sprengen: “Ich geh und lass meine Splitter hinter mir. I go and leave my splinters behind me.” Eine neuerdings von Dischereit erarbeitete akustische Installation im öffentlichen Raum weist einen möglichen Ausweg aus den Paradoxien deutsch-jüdischen Schreibens, das für Dischereit nach wie vor mit einem Vakuum verbunden ist, in dem sie zwar ihre Individualität verteidigen, nicht aber die Echolosigkeit jüdischen Schreibens im Sinne eines Traditionsvakuums überwinden kann. Die Künstlerin wendet sich hier der untergegangenen jüdischen Lebenswelt in Deutschland zu. Die Installation wurde von
162 der Jury der Stadt Dülmen in Westfalen nach einem öffentlichen Wettbewerb ausgewählt und stellt einen Erinnerungsort für die jüdischen Bewohner der Stadt dar. Im Dezember 2008 wurde dazu ein zentraler Platz in EichengrünPlatz umbenannt und hier Dischereits Installation dauerhaft eingerichtet. Sie besteht aus zwei an verschiedenen Orten des Platzes angebrachten Textlesungen. Lautsprecher 1 lässt über 24 Stunden poetische, teils lyrische Texte der Autorin erklingen. Der Lautsprecher ist versteckt angebracht; erreicht werden die Passanten, die sich auf die gegenüber gelegene Bank setzen. Die Texte thematisieren direkt und indirekt die ermordeten bzw. emigrierten jüdischen Bewohner, während aus Lautsprecher 2, an einer Laterne angebracht, in unregelmäßigen Abständen und mit langen Pausen, Rezepte der traditionellen jüdischen Küche zu hören sind. Die Abwesenheit der Emigrierten und Ermordeten wird durch Symbole, also eine lebendige Lebenswelt kontrastiert: Erst durch das Wechselspiel von Ab- und Anwesenheit kommt Erinnerung zu Stande, die zugleich anstößig und konkret ist. Sie steht im Kontext von orts- und personenbezogenen Projekten wie den Orten der Erinnerung im Bayerischen Viertel in Berlin-Schöneberg, die ein interaktives Potential haben. Das akustische Mahnmal wird durch das Buch Vor den Hohen Feiertagen gab es ein Flüstern und Rascheln im Haus ergänzt, zu dem zwei CDs gehören: Es ist Buch (im Sinne eines Mediums) und zugleich Kunstobjekt (das auf sich selbst verweist, für sich steht). Das Layout korrespondiert mit dem Thema der tonalen Installation, in der es um die Anwesenheit von Abwesendem geht: Im Text sind dafür Leerstellen eingesetzt. Diese Figuren sind weder in der Gedächtniskultur noch in der Lyrik neu, hier aber ‘existentiell’ notwendig, denn es gibt in Dülmen keine jüdische Gemeinde mehr – und so haben die in Dischereits Texten evozierten Geschichten etwas Verstörendes, sie sind ephemer und doch verstörend. “Jemand sammelt Steine, die er oder sie den Salomons hinlegen will. Wohin? Auf deren Grab? Vor die Tür des Hauses, in dem sie wohnten. Und wer sind die Salomons?” (Hahn 2). Barbara Hahn stellt in ihrer Einleitung zur Textdokumentation der Performance die Fragen, die zwischen den Zeilen evoziert werden. Dischereits Text hat kein Subjekt, er konturiert die Leere, die die Shoah in diesem katholisch geprägten Ort hinterlassen hat. Er lässt Worte erklingen, die in Dülmen sicher schon lange niemand mehr gesagt oder gehört hat: Matzen, Schiwe sitzen, milchig, L’Chaim. In anderen Geschichten spricht das ‘Ich’ von Ereignissen, die den Alltag in Dülmen nach wie vor prägen: Kinder werden zur Erstkommunion eingekleidet, eine Prozession zieht vorbei. In diesem Nebeneinander wird den Spuren jüdischer Kultur jeder Anstrich des Exotischen genommen. Dülmen erscheint als ein Ort eines Mit- und Durcheinanders. (Hahn 2)
Dischereits Projekt ist nicht rhetorisch konzipiert, sondern geht in medias res. Die Autorin hat im Stadtarchiv die Namen, Berufe und Biographien der
163 einstmaligen Bewohner, aber auch die antisemitischen Maßnahmen der lokalen Behörden recherchiert. Die folgende Textpassage vermischt personenund ortsbezogene Erinnerung mit der Evokation von Abwesenheit durch den konkreten Bezug auf den Beruf der jüdischen Einwohner, die Textilfabrikanten waren und kurz vor ihrer Emigration standen. Es klappert und klappert das Schiffchen geschwind – ich hoffe, dass ihre Arbeiter gesund sind wir weben das Leinen wie Leichentuch fahren nach England zum Nachbarn nach Übersee Ballen von Tuch im Gepäck ich wickel mich ein an Bord ist es zugig und kalt das Geld und meine Briefe sind unnütz jetzt aber das Tuch Halbleinen es war sehr schön nicht teuer und angenehm zu tragen Sie erinnern sich? ich habe die Bände Karl Marx neulich weggegeben Haltbar sollten diese Dinge sein für Enkel und Enkelin. Es hat nicht sein sollen. Am Mittag läuten die Glocken Wir knien auf Jahrhunderten und spenden für die Kollekte. (Dischereit: Vor den Hohen Feiertagen 32)
Weder die Berufung auf die sozialistische Tradition (Karl Marx) noch die auf den erarbeiteten Wohlstand halfen im Angesicht der nationalsozialistischen Politik, jüdisches Leben hatte hier keinen Ort und keine Zukunft und mündete in das Leben rettende Exil. Verwendet wurden für die Installation auch ‘authentische’ Dokumente, so ein Brief der Familie Eichengrün an die Behörden der Stadt, mit dem sie sich, vergeblich auf Moral und Rechtsstaatlichkeit pochend, gegen antisemitische Belästigungen zur Wehr setzte: [. . .] möchten wir höflich bitten, dass sich die Vorkommnisse des Sonnabends nicht wiederholen. Wir wenden uns an Sie persönlich [. . .] Wir machen auch höflich darauf aufmerksam, dass wir unsere Pflichten sowohl während des Krieges als Soldat, wie auch steht wo es galt den Mitmenschen zu helfen, erfüllt haben. Hochachtungsvoll Gebr. Eichengrün Dülmen 23. Mai 1933 (Dischereit: Vor den Hohen Feiertagen 72)
In den Texten für die Toninstallation übernimmt Dischereit die Rolle der intellektuellen, der stellvertretenden Zeugin und bleibt nicht mehr dem
164 intergenerationellen Diskurs verhaftet, der den Subtext von Prosabänden wie Joëmis Tisch oder Übungen, jüdisch zu sein darstellte. Im Unterschied zum intergenerationellen Zeugnis transportiert das intellektuelle Zeugnis im Sinne Geoffrey Hartmans immer eine Infragestellung der eigenen Rolle und der Kultur, die sich der vernichteten Lebenswelt zuwendet (vgl. Hartman 187). Der ‘Generationenzeuge’ ist gewissermaßen durch Familie und Erbe beauftragt zu sprechen, der intellektuelle Zeuge kommt eher von außen und sein Auftrag ist nicht definiert, seine Stellvertretung rührt an den totalen Charakter der Vernichtung, die noch die potentiellen Zeugen ihres Verbrechens auslöschen möchte. Es handelt sich dabei nicht um einen Wandel von der Generationenposition zur intellektuellen Rolle im Selbstverständnis der Autorin, sondern um eine Wende im Medium. Schreibend kann – und will – Dischereit dem vorgängigen deutsch-jüdischen literarischen Gedächtnis nicht ausweichen, einer Tradition, die ihr keinen Schutz bietet, denn “Dach und seitliche Mauern” (Dischereit: Übungen, jüdisch zu sein 17) sind weggebrochen. Kunst im öffentlichen Raum wendet sich an eine allgemeine, jüdische und nichtjüdische Öffentlichkeit. Künstler und Künstlerinnen hinterfragen die eigenen Strategien der Erinnerung und Vergegenwärtigung, so, wie sie die Vergesslichkeit und Oberflächlichkeit der städtischen Gesellschaft im Verhältnis zu ihrer (jüdischen) Geschichte hinterfragen. Die Autorin ‘vertritt’ eine nicht mehr lebende Gemeinde. Durch diese Schwerpunktsetzung entgeht sie der provokativ als unfreiwillige Prostitution bezeichneten Rolle. Gleichzeitig nimmt sie die Dinge, von denen ihre Geschichten handeln, sehr ernst und belässt ihnen ihren konkreten Sinn, ohne sie symbolisch aufzuladen. Denn die Vernichtung und das daran anschließende Vergessen der Juden in Dülmen vollzogen sich ebenfalls in einem sehr durchdachten Umgang mit den konkreten Hinterlassenschaften der jüdischen Gemeinde Dülmen, der in der TonInstallation in seiner Monstrosität und seinem Zynismus sichtbar gemacht wird: Teile von Friedhöfen, auf denen Beerdigungen mit Juden stattgefunden haben, können jetzt ohne weiteres als Grünflächen umgestaltet werden. Die Gräber der Familie Mendel werden jetzt als Bodendenkmal geführt. (Dischereit: Vor den Hohen Feiertagen 84)
Weil Dischereit weder weitere “Bodendenkmale” für das vernichtete jüdische Leben in Deutschland produzieren möchte noch sich in eine für sie nicht lebbare literarische Traditionslinie einschreiben will, geht sie mit der akustischen Installation in Dülmen den Weg der multimedialen, interaktiven Kunst.
IV. Ein gemeinsamer Zug im Schreiben der beiden Autoren ist die sehr sorgsam reflektierte Verortung ihrer prekären Rolle in der deutschen bzw.
165 österreichischen Gesellschaft. Würde man diese jedoch auf das Nachleben der Täter-Opfer-Konstellation im Nationalsozialismus in der Gegenwart reduzieren, würde man die innerjüdische Dialektik ihres Schreibens ausblenden. Hier ist einerseits eine postmemoriale Generationenkonstellation wirksam, andererseits aber wird auch eine über die Verarbeitung der Zäsur der Shoah hinausweisende, mehrdeutige Markierung von Tradition und Traditionsbruch lesbar. Sie halten die Erfahrungs- und Erinnerungswelt der Eltern- und Großelterngeneration aufrecht, aber sie brechen mit deren Erfahrung der Negation jüdischer Identität im deutschen Sprachraum und vollziehen dies im Sinne einer Tradition, in der der traumatische Kern der Überlieferung niemals deren Unmöglichkeit meinte. In diesem schmerzlichen, teils absurden und bisweilen komischen Für und Wider finden sowohl Dischereit als auch Vertlib die übergeordnete Motivation für ihre öffentliche Artikulation.
Literatur Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt 2006. Homi K. Bhabha: Verortungen der Kultur. In: Hybride Kulturen. Beiträge zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte. Hg. von Elisabeth Bronfen/Benjamin Marius/Therese Stefffen. Tübingen: Stauffenburg 1997 (Studien zur Inter- und Multikultur 4). S. 123–148. Alfred Bodenheimer: Ungebrochen gebrochen. Über jüdische Narrative und Traditionsbildung. Göttingen: Wallstein 2012. Stephan Braese: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Berlin: Philo 2001. Esther Dischereit: Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. ———: Als mir mein Golem öffnete. Passau: Stutz 1996. ———: Übungen, jüdisch zu sein. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. ———: Mit Eichmann an der Börse. In jüdischen und anderen Angelegenheiten. Berlin: Ullstein 2001. ———: Nachwort. In: Gertrud Kolmar: Die jüdische Mutter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. S. 195–215. ———: Es geht darum, im öffentlichen Raum präsent zu sein. Esther Dischereit im Gespräch mit Katharina Hall. In: Contemporary German Writers: Esther Dischereit. Hg. von Katharina Hall. Cardiff: University of Wales Press 2007. S. 18–28. ———: Vor den Hohen Feiertagen gab es ein Flüstern und Rascheln im Haus. Before the High Holy Days the House was full of Whisperings and Rustlings. EichengrünPlatz Dülmen. Berlin: AvivA 2009. Barbara Hahn: Aufgehobene Geschichten. In: Esther Dischereit: Vor den Hohen Feiertagen gab es ein Flüstern und Rascheln im Haus. Before the High Holy Days the House was full of Whisperings and Rustlings. Eichengrün-Platz Dülmen. Berlin: AvivA 2009. S. 1–9.
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Carola Hähnel-Mesnard
Die Inszenierung von Zeugenschaft im Roman Nahe Jedenew (2005) von Kevin Vennemann Vennemann’s novel Close to Jedenew is one of the rare fictional works by non-Jewish, German writers in the contemporary literary field who have chosen to represent the perspective of the Jewish victims of National Socialism. In this article I argue that, as it is a fictional work, the novel presents a witness account of a traumatic event, a pogrom, which, according to psychoanalysts, would only have been possible to write after the fact. Discontinued narration, this particular literary form, which is written in the present tense, attempts to reproduce a traumatic experience and share it with the reader. Furthermore, the article looks at the way in which the novel gives a universal character to this pogrom, both actualizing the question of anti-Semitism and referring to other forms of discrimination. Finally I will analyze the metafictional level of the novel that points to its own fictional character, referring to the place from which the author is speaking, namely a post-memory situation where he has had to resort to fiction in order to write about a history he did not experience.
Dass es immer weniger Zeitzeugen der Shoah gibt, ist bereits seit Längerem in das Bewusstsein der nachfolgenden Generationen eingeschrieben; je weiter die Zeit voranschreitet, umso intensiver wird dies reflektiert. Genau diese Erkenntnis einer gerade sich ereignenden historischen Zeitenwende war Ausgangspunkt für die Fragestellungen einer der jüngsten Veröffentlichungen zum Thema der Zeugenschaft nach dem Ableben der Zeitzeugen. Die Herausgeber fokussierten dabei vor allem den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik in der Darstellung der Shoah durch diejenigen, die die Nachfolge der direkten Zeugen antreten. Aufgerufen ist also die Frage nach der angemessenen Form zukünftiger Erzählungen, die dem Anspruch einer nachhaltigen Vermittlung der Shoah und der Erlebnisse der Zeugen unter den neuen Bedingungen gerecht zu werden vermögen. Ethische Fragen wie die nach der Aneignung der Erfahrungen des Anderen oder nach den Grenzen der Fiktionalisierung sollten dabei mit ästhetischen Ansprüchen verbunden werden, denn: one of the lessons of the past half-century is that the narratives that endure, and that have the greatest chance of transmitting the story to future generations, all possess a significant aesthetic dimension. (Lothe/Suleiman/Phelan 2)
Dieser auf den ersten Blick höchst normativen Forderung nach ästhetischer Bedeutsamkeit steht Ruth Klügers Auffassung gegenüber, dass wir vor diesem Thema “nach einem halben Jahrhundert noch ziemlich ratlos stehen, so daß uns jedes neue Experiment willkommen sein sollte” (Klüger 66). Doch auch Klüger nimmt eine Unterscheidung in der Art der Ästhetisierung
168 zwischen “Wahrheitssuche durch Phantasie und Einfühlung” und “Verkitschung” (Klüger 61) vor, die im Grunde ebenfalls ein ästhetisches mit einem ethischen Anliegen verbindet. Der bisher von der germanistischen Literaturwissenschaft kaum beachtete Roman Nahe Jedenew1 (2005) des 1977 geborenen Autors Kevin Vennemann könnte diese ästhetischen und ethischen Anforderungen exemplarisch erfüllen. Der Roman reflektiert die Perspektive der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus und nimmt dadurch sowohl thematisch als auch ästhetisch in der gegenwärtigen Literatur über den Nationalsozialismus und die Shoah eine besondere Stellung ein. Er unterscheidet sich wesentlich von der in den letzten Jahren vorherrschenden Form des “Familienromans”, in dem die Nachgeborenen den Verstrickungen von Familienangehörigen der Tätergeneration nachgehen und deren Erfahrungen aus der Gegenwartsperspektive “filtern” (Herrmann 13). In diesem Kontext ist eine Darstellung aus der Sicht der Opfer von Verfolgung eher selten.2 Vennemanns Anliegen ist es, Opfererfahrung literarisch darzustellen und nachvollziehbar zu machen, wobei er dafür eine besondere ästhetische Form zu finden sucht. Nahe Jedenew nähert sich einem nicht näher kontextualisierten traumatischen Ereignis, einem Pogrom an einer jüdischen Familie, durch die Bewusstseinsebene der dieses Ereignis erlebenden jugendlichen Erzählerin. Der Roman greift somit einen historischen Vorgang der Ausgrenzung und Verfolgung auf und gestaltet diesen aus der Erlebnisperspektive der Betroffenen. Ausgangspunkt für den Autor war die Frage, “wie [. . .] das gewesen sein [mag], als alles Vertraute zusammenbrach mit einem Schlag?”, eine Erfahrung, die “unzählig[e] jüdisch[e] Familien seit dem Beginn ihrer Geschichte machen mussten” (Vennemann: Sick of standing 70). Die Darstellung einer solchen Perspektive, die den Leser direkt an diesem traumatischen Ereignis teilhaben lässt, ist nur in der Fiktion möglich. Die Figuren bezeugen ein Ereignis in dem Moment, in dem sie es erleben, sie legen nicht im Nachhinein Zeugnis ab. Der Bericht bzw. Bewusstseinsbericht einer den Pogrom erlebenden Person wäre in
1
Vennemanns Roman wurde hauptsächlich im Feuilleton diskutiert. Eine literaturwissenschaftliche Annäherung erfolgt lediglich in der Examensarbeit von Just (vgl. Just 42–52), die neben Nahe Jedenew auch Werke von Ágota Kristóf und Gert Hofmann analysiert. 2 Eine Ausnahme bildet das Werk von W.G. Sebald. Zu erwähnen wäre ebenfalls Ursula Krechel (geb. 1947) mit ihrem Roman Shanghai fern von wo (2008). Eine Vorreiterrolle unter der jüngeren Autorengeneration kommt Katharina Hacker (geb. 1967) und ihrem Roman Eine Art Liebe (2003) zu. Vgl. den Beitrag von Katja Stopka in diesem Band. Hartmut Steineckes Befund einer geringen Präsenz der Thematik Shoah in der deutschsprachigen Literatur nicht-jüdischer Autoren der zweiten Generation (vgl. Steinecke 149) gilt ebenfalls für die dritte Generation.
169 Wirklichkeit so nicht vermittelt worden. In Bezug auf eine Aussage des Psychoanalytikers Dori Laub unterstreicht Cathy Caruth, dass “während des Holocaust ‘die historische Aufgabe der Zeugenschaft nicht erfüllt werden konnte’ ”, denn die Betroffenen seien unfähig gewesen, “von einem Ereignis vollständig Zeuge zu werden, während es geschieht” (Caruth 88). In den folgenden Ausführungen möchte ich zunächst die literarische Umsetzung dieser direkten Zeugenschaft genauer untersuchen. Im Anschluss daran werde ich den sparsamen Einsatz außertextueller Referenzbezüge, der diesen Roman charakterisiert, analysieren. Nahe Jedenew verweist auf kein konkret situierbares geschichtliches Ereignis, dennoch wird der historisch vorgebildete Leser den Kontext eines Pogroms und damit der Judenverfolgung rekonstruieren. Zum Schluss werde ich auf die Darstellung und Funktion von Erinnerung im Roman sowie auf die Frage nach seiner Fiktionalität eingehen.
Inszenierung von Zeugenschaft in traumatischen Situationen Vennemanns Roman ist der Versuch, den Zusammenbruch von Vertrautem und eine unmittelbare existentielle Bedrohung darzustellen, ebenso die “Unmöglichkeit zu verstehen”, wie er es im Interview mit Georg Diez formuliert (Diez). Des Weiteren stelle sich die Frage: “Was geht letztendlich in diesem Moment vor, in dem Moment der Tat, im Moment des Pogroms? Ich habe versucht, das zu fassen, was nicht zu fassen ist” (Diez). Um dies literarisch zu gestalten, inszeniert er direkte Zeugenschaft. Er stellt eine Situation traumatischen Erlebens aus der Perspektive zweier Mädchen dar, die zunächst zu Zeugen eines Pogroms an ihrer Familie werden und diesem schließlich – auch wenn der Roman dies nur andeutet – selbst zum Opfer fallen. Die intern fokalisierte Erzählperspektive ist die eines sechzehnjährigen Mädchens, doch bis kurz vor Ende des Romans erzählt dieses aus der Wir-Perspektive und bezieht so verschiedene Personen seiner Familie und der Nachbarschaft in alle erzählten Ereignisse mit ein. Gleich zu Beginn des Romans wird dieses “Wir” den “Jedenewer Bauern” (NJ 9)3 gegenübergestellt, wodurch zwei Gruppen – Opfer und Täter – voneinander abgegrenzt werden (vgl. Just 43). Die Anzahl der in diese Wir-Perspektive einbezogenen Personen variiert je nach erzählter Situation, zu Beginn des Romans ist das Verhältnis zwischen diesen Personen unklar. Nach und nach identifiziert der Leser die einzelnen Figuren und versteht, dass ein besonders enges Verhältnis zwischen der Erzählerin und ihrer Zwillingsschwester Anna besteht, so dass das ‘Wir’ sich in den meisten Fällen auf die beiden Schwestern bezieht 3
Die Seitenzahlen des Romans Nahe Jedenew finden sich im Folgenden im Text mit der Sigle NJ.
170 (vgl. Just 45). Erst kurz vor Ende des Romans und mit Annas Tod geht das ‘Wir’ in ein ‘Ich’ über und der Bericht der Erzählerin fokussiert für kurze Zeit nur noch ihr eigenes Erleben. Die namenlose Erzählerin und ihre Zwillingsschwester Anna werden zu Zeugen der Vernichtung ihrer ganzen Familie. Dieses Zum-Zeugen-Werden wird im Roman durch eine stetige Steigerung dargestellt, die das zunächst auf Ungläubigkeit und Unverständnis beruhende Verhältnis der Figuren zum Erlebten vermittelt: vom anfänglichen Nichthinsehen über das Hören und das Sehen mit den Augen eines anderen zur Augenzeugenschaft. Wie alle anderen Familienmitglieder fliehen die beiden Schwestern vor den herannahenden, sie verfolgenden Jedenewer Bauern. Auf der Flucht in den Wald bemerken sie, dass ihre Schwägerin Antonina und deren vier Wochen alte Tochter Julia von den Bauern ergriffen werden, während ihr Bruder Marian, Antoninas Mann, die Mädchen daran hindert, sich umzuschauen und Antonina zu Hilfe zu kommen. Die Situation wird daher im Konjunktiv erzählt, so wie die Erzählerin und ihre Schwester sie sich im Nachhinein vorstellen bzw. wie sie es eventuell von Marian erzählt bekommen haben: und Antonina mit der kleinen Julia auf dem Arm verdreht sich den Knöchel und fällt und bleibt an der Bresche, die wir ins Feld schlagen im Mai, weinend liegen und legt den Kopf in die Arme, wie wir sehen könnten, wenn wir uns umdrehten, aber wir drehen uns nicht um, wir rennen weiter, wir laufen ins Feld hinein und denken: Sie fällt, sie legt den Kopf in die Arme, wie wir sehen könnten, wenn wir uns umdrehten, aber wir drehen uns nicht um [. . .] Wir laufen, ohne uns wenigstens noch einmal zu Antonina umzudrehen. (NJ 13)
Die fliehenden Mädchen nehmen das Zurückbleiben ihrer Schwägerin nicht mit eigenen Augen wahr, ebenso wenig die folgenden Ereignisse, die sie als Ohrenzeugen mitverfolgen: Wir hören ein Schleifen in der Ferne und Antonina mit einem Mal kreischen, daß es weh tut, wir hören etwas in den Teich im Garten hinterm Haus fallen oder hören die Jedenewer Bauern etwas in den Teich im Garten hinterm Haus werfen, wir hören Antonina ins Wasser springen und wieder heraufkommen, wieder hineinspringen und kreischend erneut herausklettern, wir hören die Jedenewer Bauern lachen, grölen [. . .]. (NJ 15)
Den Fortgang des Geschehens erfahren sie durch die Erzählung ihres Bruders Marian, der wiedergibt, was er gerade beobachtet: Marian flüstert: Jetzt steht Antonina am Teich und dreht sich um zu uns und sieht über die weißblauen Felder hinweg und die kleine Julia vor sich dann mit dem Gesicht nach unten im Teich schwimmen und sieht dieselben Ähren im Wind sich bewegen wie wir, sieht dann vor sich die kleine Julia langsam ans andere Ufer treiben. [. . .] er sagt: Sie sieht sich nach uns um und wartet auf uns, Marian hält uns
171 an den Handgelenken fest, er sagt: Aber wir können nicht kommen, und wir schließen die Augen und denken: Sie sieht sich nach uns um und wartet auf uns, wir denken: Wir können nicht kommen. Wir halten die Augen geschlossen, [. . .]. (NJ 15)
Die Tatsache, dass die beiden Mädchen die Gewalt zunächst nicht mit eigenen Augen wahrnehmen, dass sie die Augen geschlossen halten, nicht hinschauen, ist ein Hinweis auf die Plötzlichkeit, mit der die Gewalt über sie herfällt und sie aus ihrem Alltag reißt, auf die mangelnde Fähigkeit, die Situation zu begreifen und wahrhaben zu wollen. Sie verweist aber auch allgemein auf das Paradox traumatischen Erlebens, demzufolge selbst die massivste Konfrontation mit der Realität die traumatisierte Person für diese Realität völlig unempfindlich machen und betäuben [kann], und die Unmittelbarkeit zur Folge haben [kann], daß die Realität erst nachträglich erfahren wird. (Caruth 88)
Erst nach und nach nehmen die Mädchen das ganze Ausmaß der Zerstörung wahr. Von ihrem Versteck im Feld aus “sehen [sie] vorsichtig über die Ähren hinweg und sehen Wasznars und Antoninas Hof brennen” (NJ 19), sie laufen an ihrem mittlerweile erschlagen am Wegesrand liegenden Bruder Marian vorbei (vgl. NJ 20) und suchen schließlich in einem Baumhaus Zuflucht, das sie im letzten Jahr zu bauen angefangen haben. Von dort aus können sie das ganze Tal überblicken und vor allem beobachten, was sich in ihrem Wohnhaus abspielt: Wir sehen die Soldaten in sauberen Uniformen in unserem Garten umhergehen und gestikulieren und in ihren sauberen, steifen Uniformen diskutieren, wir sehen die Jedenewer Bauern in ihren polnischen Bauernkleidern, den Kradejewer Tierarzt im schwarzen Straßenanzug im Garten schweigend im Gras sitzen, wartend, oder sehen sie zu neunzehnt wartend auf dem Holzsteg sitzen, der im Garten hinterm Haus auf den Teich hinterm Haus führt, wir sehen Antoninas helles Kleid in der Mitte des Teichs treiben, wir sehen weg. (NJ 27)
Die Erzählerin und ihre Schwester werden nun definitiv zu Augenzeugen des Geschehens, das Baumhaus entspricht einem optischen Dispositiv4 im Rahmen der Fiktion, das die Möglichkeit des Blicks und damit der Augenzeugenschaft unterstreicht. In diesem Zusammenhang reflektiert Anna nach 4
In Anlehnung an das von Philippe Hamon in seinen literaturtheoretischen Überlegungen zur Beschreibung eingeführte Konzept des “porte-regard”, des “Blickträgers”. Hamon zufolge benötigt jede Beschreibung, um “natürlich” und “wahrscheinlich” zu wirken, ein bestimmtes fiktionales Dispositiv, das nicht nur die Fokalisatorfigur umfasst, sondern ebenfalls eine “Szenografie”, die es der Figur erlaubt, “sehen zu können” (z.B. Beschreibung eines Panoramas von einer Anhöhe aus, der Blick aus dem Fenster etc.) (Hamon 185ff.).
172 Ablauf einer Nacht die plötzlich in ihr Leben eingebrochene Gewalt sowie ihre eigene Hilflosigkeit: Anna sagt: Wieviel sich verändern kann in nur wenigen Augenblicken, nicht wahr. Sie sagt: Es ist kaum eine Handvoll Augenblicke her, daß wir noch zusammen auf dem Holzsteg hinterm Haus sitzen, lesen, schwimmen, Sommerbowle trinken [. . .]: Und jetzt sehen wir zu dabei, wie sie Wasznars und Antoninas Hof zu löschen versuchen und unser Haus ausräumen [. . .]. (NJ 47)
Die Angst, entdeckt zu werden, lässt die Mädchen schweigen und den Atem anhalten – “wir atmen nicht” ist der erste Satz des Romans und durchzieht ihn wie ein Leitmotiv, “ich atme nicht” ist der letzte Satz, mit dem die Erzählerin ihre Lage bezeugt, nachdem ihre Schwester Anna durch eine Kugel getötet wurde und sie selbst die Strickleiter fallen lässt und, so vermutet der Leser, von den Jedenewer Bauern ergriffen wird. Trotz der direkten Zeugenschaft der Mädchen, die mit eigenen Augen die Vernichtung ihrer Familie mitverfolgen können, werden die schrecklichen Szenen, denen sie beiwohnen, im Roman nicht detailliert beschrieben, sondern über Ellipsen vermittelt. Die Mädchen selbst verschließen sich dem Anblick, der sich ihnen bietet, sie “sehen nicht mehr auf und nicht mehr hin”, sie “halten [ihre] Blicke gesenkt” (NJ 27). Das im Roman konstruierte Dispositiv beruht auf dem Blick der Figuren und nicht auf der Darstellung des Wahrgenommenen. Der Autor verzichtet auf die Beschreibung von Gewaltszenen, welche beim Leser die Illusion erwecken könnte, das Geschehene durch Realismus fassbar zu machen. Im Gegensatz zu einem Text wie Jonathan Littells über tausend Seiten umfassenden Tatsachenroman Die Wohlgesinnten, der fast zur gleichen Zeit wie Nahe Jedenew erschien, verzichtet Vennemann auf Realismus und auf eine kohärente, geschlossene Darstellung der Vergangenheit ebenso wie auf deren Monumentalisierung. Sein kaum einhundertfünfzig Seiten langer Roman wählt einen Zugang zur Geschichte, der auf Abstraktion, Ellipse und Verallgemeinerung beruht. Vennemann selbst betont die “Zeitlosigkeit”, “Uneindeutigkeit” und “Einfachheit der Darstellung”, die dem Text einen “archaischen Gestus” einschreibe (Vennemann: Sick of standing 72). Er rekonstruiert nicht im Detail, was geschehen ist und er stellt keine Opfer zur Schau – die Erzählerin klammert die wahrgenommenen Gewalttaten weitgehend aus; er nimmt so eine ethische Position jenseits von Horror und Verkitschung ein. Man könnte im Falle von Nahe Jedenew auch von einer Ethik des Blickes sprechen, die dem Leser bedeutet, dass die Wahrnehmung und die Erfahrung der Zeugen “nicht vollständig durch Sprache vermittelt werden kann”, dass es einen Teil der Gewalt gibt, “der von keinem Blickwinkel aus dargestellt werden kann” (Mesnard 9, eigene Übersetzung). Somit könnte Vennemanns Roman einer Literatur entsprechen, die im Umgang mit der Shoah eine “kritische Konfiguration”
173 aufweist, jenseits von auf Transparenz zielenden realistischen, transzendierenden symbolischen oder pathetisch-emotionalen Darstellungsweisen, und die den Leser dadurch in eine gewisse kritische Distanz zur Vergangenheit versetzt (vgl. Mesnard 9). Gewalt wird im Roman nicht detailliert dargestellt. Der Autor versucht jedoch, die Auswirkungen dieser Gewalt auf der Bewusstseinsebene der Zeugen nachzuvollziehen. Die Erzählerin und ihre Schwester durchleben ein für sie traumatisches Ereignis und diese Erfahrung wird im Text durch die Erzählweise zum Ausdruck gebracht. Untersuchungen im Bereich der Traumaforschung haben ergeben, dass sich die traumatische Erfahrung “der sprachlichen und deutenden Bearbeitung entzieht”, das Trauma die “Unmöglichkeit der Narration” bedeutet (Assmann 264). Dori Laub unterstreicht, dass das traumatische Ereignis “jenseits der Parameter einer ‘normalen’ Realität statt[findet]: Kausalität, Linearität, Ort und Zeit”. Das Trauma werde zu einem Erlebnis “ohne Anfang, ohne Ende, ohne Vorher, ohne Während, ohne Nachher” (Laub 77). Vennemanns literarische Fiktion wird dieser psychologischen Komponente gerecht, indem sein Roman Narrativität, Linearität und Kohärenz infrage stellt und es so vermeidet, geschichtliche Gewalt und Trauma-Erfahrung in eine konventionelle erzählerische Ordnung zu überführen und eventuell zu deuten. Wie oben bereits ausgeführt wurde, gelangt eine traumatisierte Person nie in vollem Maße zu einer Wahrheit über das von ihr Erlebte, “das Ereignis [wird] nicht vollkommen ins Bewusstsein eingelassen oder in seiner Ganzheit erfahren” (Caruth 85). In diesem Sinne ist die Perspektive der Erzählerin in höchstem Maße fragmentarisch und unsicher. Der Autor reflektiert die Frage, wie zwei traumatisierte Mädchen versuchen würden, ihre Situation zu begreifen, so, “dass sie auf gar keinen Fall in der Lage sein würden, geordnet zu erinnern oder mit dem Ziel, sich zu erklären, wie es zu dem kommen konnte, was sie da unten gerade sehen” (Vennemann: Sick of standing 73). Das auffälligste Merkmal des Textes, das der Darstellung eines von “Zeitlosigkeit” und “Allgegenwart” (Laub 77) geprägten traumatisierten Bewusstseins dient, ist das plötzliche Ineinanderübergehen unterschiedlicher Zeitebenen. Während die Erzählerin Ereignisse der Gegenwart wahrnimmt, kommen ihr gleichzeitig Bruchstücke aus der jüngsten Vergangenheit, aber auch aus weiter zurückliegenden Zeiträumen in den Sinn. Sowohl Gegenwärtiges als auch Vergangenes werden dabei konsequent in der Zeitform des Präsens erzählt, sodass der Leser das Erzählte nicht immer eindeutig einer Zeitebene zuordnen kann, was in folgendem Beispiel deutlich wird: niemals entdeckt uns hier irgend jemand, tagsüber nicht, erst recht nicht nachts. Nicht einmal dann, wenn der Nebel sich auflöst für längere Zeit, und warum nur gehen im Frühjahr nicht wir beide allein ins Baumhaus zurück. Anna liegt auf dem Rücken, den Hammer in der Hand, den Kopf auf ihrem Ziegelsteinstapel,
174 ohne eine Antwort abzuwarten, schläft sie ein. Marian gibt ihr einen Klaps auf die Schultern, er nimmt ihren Kopf aus dem Kissen, er sagt: Wir müssen los [. . .]. (NJ 44)
Der Text zeichnet sich durch zahlreiche Anakoluthe aus, die die einzelnen Sequenzen der gegenwärtigen Wahrnehmung und der Erinnerung zusammenhanglos aneinanderreihen. Auch können sich bestimmte Elemente eines Satzes, in der Art einer in der Rhetorik als Apokoinu bekannten Konstruktion, auf zwei unterschiedliche Satzteile und Zeitebenen beziehen: “Bevor sie geht, warten wir, bis die Wache im Garten hinterm Haus allein ist und sich abwendet vom Wall und vom Wald, als sie geht [Herv. CHM], sieht Marian Antonina schweigend hinterher” (NJ 52). Das von mir kursiv gesetzte “als sie geht” bezieht sich sowohl auf die Zeitebene der Gegenwart – Anna wartet darauf, das Baumhaus unbeobachtet verlassen zu können – als auch auf die Ebene der Vergangenheit, also die Beziehung zwischen Marian und Antonina. Diese mehrere Vergangenheitsschichten komprimierende Verdichtungsarbeit und die sich im selben Satz ändernden zeitlichen Bezugsebenen beschleunigen die Erzählung, sie symbolisieren das Gehetztsein der Erzählerin, sind Ausdruck der existentiellen Gefahr, in der sie sich befindet. Die Wahl des Präsens als einzige Zeitform im Roman verweist auf die traumatische Erfahrung als eine “fortlaufende Zeit” (Langer 59), die jeglicher chronologischen Schichtung entgegensteht. Der Text selbst folgt außerdem einem ganz bestimmten Rhythmus: Die gerade erlebten bzw. erinnerten Szenen sind von der Anzahl her beschränkt, sie durchziehen jedoch den Text wie musikalische Themen mit entsprechenden Variationen, was an das Kompositionsprinzip von Celans Todesfuge erinnert. An die Stelle linearen Erzählens tritt ein zyklisches, es beruht auf “schleifenartig wiederaufgenommene[n] Motive[n]”, wie Hannes Fricke es in Bezug auf andere literarische Texte beobachtet hat (Fricke 224). Die zahlreichen Wiederholungen auf textueller Ebene verweisen auf die ständige Wiederkehr der immer gleichen Szenen im Bewusstsein der Erzählerin als flashbacks und lassen sich als Ausdruck, als Symptome ihres Traumas lesen. Teilweise ähnelt die Erzählung dem assoziativen und spontanen Bewusstseinsstrom der Erzählerin, jedoch ist der Roman nicht “ein einziger stream of consciousness” (Just 49), wie Just behauptet, dafür sind bestimmte Erinnerungen der Erzählerin sowie die Binnenerzählungen des Vaters und des Bruders zu kohärent dargestellt. Insgesamt sind der Erzählrhythmus, die konsequente Verwendung des Präsens und der Wechsel der Zeitebenen stilistische Mittel, die es dem Autor erlauben, die Wahrnehmung traumatischer Ereignisse durch die Erzählerin zu reflektieren und direkte Zeugenschaft literarisch zu inszenieren. Gleichzeitig erzeugt er eine permanente Erschütterung der Erwartungshaltung des Lesers,
175 der durch die narrativen Brüche und Inkohärenzen die unsichere Position der Erzählerin nachempfinden kann.
Ökonomie außertextueller Referenzen und Universalisierung von Geschichte Bis auf wenige Anhaltspunkte, die es dem Leser ermöglichen, den historischen Kontext zu rekonstruieren, verzichtet Nahe Jedenew auf außertextuelle heteroreferentielle Bezüge5. Die historischen Indizien, die der Leser trotz mangelnder Explizität weiterverfolgt, betreffen hauptsächlich Elemente, die der “Konstituierung der temporalen, lokalen und personalen Deixis in der Fiktion entsprechen” (Nünning 69). Auf einen realen geographischen Raum verweist lediglich eine Angabe aus der Erzählung des Vaters über seine Ankunft in Jedenew. Dort ist die Rede von der “südlitauischen Heide” (NJ 34), welche auf das Grenzgebiet zwischen Litauen, Polen und Russland verweist. In diesem Gebiet befinden sich auch die Orte, an denen sich unterschiedliche Handlungsstränge abspielen; im Gegensatz zu der wirklich existierenden Region erweisen sich diese jedoch als fiktiv. Noch bevor der Leser die Information über die geographisch lokalisierbare reale Region erhält, verweisen ihn bereits die slawisch klingenden Namen der fiktiven Orte – neben dem bereits im Titel enthaltenen Jedenew sind dies Kradejew, Ladow, Nadice, Julowice, Boiberice (vgl. NJ 23) – auf eine Gegend in Polen oder Russland. Gestützt wird diese Vermutung ebenfalls durch die Charakterisierung der Figuren: auch diese tragen slawisch anmutende Vornamen und Namen wie Zygmunt, Kacia, Wasznar, Krystowczyk, Sapetow, Kaczmarek etc. (vgl. NJ 10) Des Weiteren verweisen die zwischen mehreren Sprachen wechselnden Figuren auf eine Grenzregion. Die Jedenewer Bauern “reden Polnisch untereinander”, sprechen aber auch “auf holprigem Deutsch mit den Soldaten” (NJ 20). Die Erzählerin hört Krystowczyk “singen, sprechen, grölen, befehlen auf deutsch”, während er “in der letzten Woche noch, Mitte Juni, [. . .] leise Lieder auf russisch [singt].” (NJ 11). Knappe Informationen erhält der Leser auch über die beiden Familien, die den Jedenewer Bauern zum Opfer fallen werden. Die eine ist katholischen Glaubens (vgl. NJ 40f.), die andere jüdisch, 5
In seiner Theorie des historischen Romans untersucht Ansgar Nünning u.a. den Rückgriff auf fiktionale Elemente und auf Realitätsreferenzen. Das von ihm vorgeschlagene Referenzmodell unterscheidet zwischen Formen der Autoreferentialität (intratextuelle Selbstreferenz und metafiktionale Selbstreferenz) und der Heteroreferentialität (intertextuelle und außertextuelle Referenzen), wobei das ‘Mischungsverhältnis’ der einzelnen Komponenten Aufschluss über den Grad der Fiktionalisierung gibt (vgl. Nünning 66–69).
176 wobei die Merkmale dieser beiden Religionen kaum hervorgehoben werden. Nur die kurze Erwähnung von Festen wie Purim (vgl. NJ 43) und Chanukka (vgl. NJ 119) sowie eines Leuchters, wohl einer Menora, lassen darauf schließen, dass die Familie der Erzählerin jüdisch ist, ebenso wie die Konversion Marians, da seine zukünftige Frau Antonina “nichts lieber will, als in Weiß in einer Kirche zu heiraten.” (NJ 40). Den temporalen Rahmen der durchweg im Präsens erzählten Handlung geben lediglich zwei Zeitangaben vor: die Monate Mai und Juni, wobei der Monat Mai, “vor wenigen Wochen erst” (NJ 14), noch die Zeit des Friedens symbolisiert. Der Leser wird durch ein weiteres Indiz diese vagen Zeitangaben mittels seines Geschichtswissens zu deuten versuchen. Denn die Figuren verfolgen im Radio die neuesten Nachrichten über den Einmarsch, wir hören die Nachrichten und die hohe, aufgeregte Stimme des Sprechers auf dem einen Sender, die dunkle, scheinbar gelassene Stimme eines anderen auf einem anderen Sender [. . .].” (NJ 37)
Da auch die Erinnerungen der Erzählerin an vergangene Zeiten stets im Präsens erzählt werden, ist der temporale Rahmen durch Verweise auf andere Jahreszeiten relativ unklar, so dass man zunächst an den Einmarsch der Wehrmacht in Polen im September 1939 denken könnte. Nach und nach rekonstruiert der Leser, dass das im Zentrum der Handlung stehende Pogrom im Juni stattfindet und der Text vielmehr auf das sogenannte Unternehmen Barbarossa, den Angriff Nazideutschlands auf die Sowjetunion und die gleichzeitig dort einsetzende Judenverfolgung im Juni 1941, verweisen könnte. Gerade in Litauen wurden die Aktionen der Einsatzkommandos von ‘Partisanen’ aus der eingesessenen Bevölkerung begleitet, die die jüdische Bevölkerung auf dem Land und in den Städten verfolgte und ausrottete (vgl. Friedländer 247ff.). Es wurde auch die Vermutung geäußert,6 dass der Roman auf ein Pogrom der polnischen Bevölkerung an ihren jüdischen Nachbarn anspielt, das sich im Juli 1941 im polnischen Jedwabne ereignete und das erst im Jahre 2001 durch den amerikanischen Historiker Jan T. Gross in seinem Buch Neighbors an die Öffentlichkeit gebracht wurde. Einige Motive des Romans und die Wahl bestimmter Eigennamen legen in der Tat nahe, dass dieses Buch auch eine Quelle für Vennemann war.7 6
Vgl. u.a. die Leserreaktion von Adam Kucharczyk auf eine Besprechung des Romans in Die Zeit vom 12.1.2006, abrufbar unter http://www.zeit.de/2006/03/ L-Vennemann. Downloaded 24.5.2013. Im gemeinsamen Interview mit Diez (2008) erwähnt der Historiker Nikolaus Wachsmann ebenfalls die Studie von Gross, Vennemann geht darauf jedoch nicht ein. 7 Angefangen vom Motiv des Mordes an den Nachbarn, das im Zentrum der Studie sowie des Romans steht. Zwei Elemente aus Augenzeugenberichten der
177 Doch Geschichte wird im Roman eben nicht explizit rekonstruiert. Außertextuelle Referenzen werden äußerst sparsam eingesetzt, und dennoch wird der Leser aufgrund der wenigen vorhandenen Indizien die geschichtlichen Tatsachen zu situieren versuchen. Vennemanns Roman ist somit ein Beispiel für eine Form gegenwärtiger Erinnerungsliteratur, die von der Prämisse ausgehen kann, dass der Leser bereits ein Wissen über die historischen Fakten besitzt – mit Welzer et al. könnte man von “Lexikon” sprechen (Welzer et al. 10) – und dieses Wissen jederzeit reaktivieren kann.8 In einem Interview erklärte Vennemann aber auch, dass die Darstellung eines konkret situierbaren historischen Ereignisses mit allen notwendigen Fakten für ihn eine ethische Frage, und zwar die Frage nach der Legitimation, aufgeworfen hätte: Darf ich diese Geschichte schreiben? Darf ich als Nachgeborener über ein solches Ereignis schreiben (vgl. Vennemann: Sick of standing 70)? Der Verzicht auf konkrete Fakten ermöglicht eine Erweiterung und Fiktionalisierung der Aussage, die es dem Autor überhaupt erst erlaubt, über ein solches Thema zu schreiben. Außerdem werde Geschichte so nicht als abgeschlossen und bewältigt dargestellt, sondern als immer noch präsent und aktualisierbar, so zum Beispiel was die Frage des Antisemitismus betreffe (vgl. Vennemann: Sick of standing 71f.). Durch den weitgehenden Verzicht auf außertextuelle Referenzen erfährt die Thematik antijüdischer Pogrome eine universale Ausweitung, die auch auf andere Ausgrenzungsprozesse zu verweisen vermag. Elemente, die diese universalisierende Lektüre des Textes unterstützen, sind neben vagen Orts- und Zeitangaben auch die nur wenigen Hinweise auf das Judentum der Familie der Erzählerin. Es handelt sich um eine säkularisierte Familie, die die genannten Feiertage nicht begeht und die auch die Menora, den Leuchter, nie anzündet. Anstatt spezifische Elemente der jüdischen Kultur wenigen Überlebenden des Pogroms erinnern an das Schicksal der Figur Antoninas und ihrer Tochter Julia im Roman. Ein Zeuge berichtete, wie sich zwei junge Frauen mit ihren Neugeborenen freiwillig in einen Teich stürzten, um ihren Verfolgern zu entkommen, während diese dann schaulustig danebenstanden (vgl. Gross 26, NJ 15). Ein anderer Augenzeuge berichtete, wie die jüdische Bevölkerung versuchte, sich in den umliegenden Getreidefeldern zu verstecken. Seine Familie ignorierte Hilfeschreie aus der Nähe, um sich selbst nicht in Gefahr zu bringen (vgl. Gross 84), eine Szene, die an die Haltung Marians erinnert, der seine Schwestern, die Antonina zu Hilfe eilen wollen, zurückhält (vgl. NJ 15f.). Des Weiteren fällt in Nahe Jedenew eine Häufung von Vornamen und Namen auf, die auch im Buch von Gross vorkommen, so u.a. die der Angeklagten Krystowczyk und Sobuta (vgl. Gross 94, NJ 10). 8 Ähnlich verfährt auch der französische Autor Philippe Claudel in seinem 2007 erschienenen Roman Brodecks Bericht, der den Mord an einem Fremden durch eine Dorfgemeinschaft in den Jahren nach dem/einem Krieg zum Gegenstand hat.
178 hervorzuheben, wird die gelungene Symbiose zwischen einer jüdischen und einer katholischen Familie dargestellt: Der jüdische Marian konvertiert unter Einwilligung der Familien zum Katholizismus, um Antonina zu heiraten. Ebenso wird das Zusammenleben mit den Bauern der Umgebung als ein lange friedliches dargestellt. So gestaltet der Text insgesamt weniger den Untergang einer spezifisch jüdischen Kultur als vielmehr das Zerbrechen eines auf dem Zusammenleben unterschiedlicher Religionen bestehenden sozialen Gefüges, was eine Übertragung auf andere Konflikte erlaubt. Hinzu kommt die Perspektive der jugendlichen Erzählerin, die ein fast noch kindliches Verhalten an den Tag legt: “wir flechten mit sechzehn Jahren noch immer täglich Zöpfe in die Haare unserer Puppen, die wir auf die Fensterbänke arrangieren” (NJ 65). Ihre Erinnerungen an die Zeit vor dem Pogrom fokussieren allgemein Menschliches, Alltagsphänomene und kindliches Spiel: Sommertage am Rande eines Sees, Picknicke in den umliegenden Feldern, den Bau eines Baumhauses, Erzählungen des Vaters an Winterabenden. Auch hier erfolgt eine Universalisierung der Aussage über bestimmte ethnische Gruppen hinaus. Um seine Absicht, über einen spezifischen historischen Fall hinaus allgemeine Ausgrenzungs- und Unterdrückungsmechanismen darzustellen, noch zu unterstreichen, hat Kevin Vennemann in späteren Ausgaben seines Romans bzw. in Übersetzungen das Adjektiv polnisch zur Charakterisierung der Bauern gestrichen (vgl. Vennemann: Près de Jedenew 20, 27).9 So wird Antisemitismus nicht auf eine bestimmte Tätergruppe beschränkt. Die zurückhaltende Verwendung außertextueller Referenzen, die jedoch auf das historische und erinnerungstheoretische Wissen des gebildeten Lesers zählen kann, ermöglicht also einerseits eine literarische Legitimierung, um über historische Ereignisse sprechen zu können, sowie andererseits eine Aktualisierung von Vergangenheit und eine Universalisierung der Aussage, um andere Ausgrenzungsmechanismen mit zu reflektieren. So stellt Vennemann in seinem Roman einerseits ein Sinnbild der Shoah, das Pogrom an einer jüdischen Familie, literarisch dar, andererseits wird dieses Sinnbild aktualisiert und dadurch auf andere Sachverhalte übertragbar.
Darstellung und Funktion von Erinnerung im Text Erinnerung erscheint in Nahe Jedenew als subjektive Erinnerung der Erzählerin an die Zeit vor Beginn der Gewalt an ihrer Familie. Als solche hat sie für die Erzählung eine konstitutive Bedeutung, wird aber nur an einer Stelle, gegen Ende des Romans, auch auf einer Metaebene reflektiert. 9
Diesen Hinweis verdanke ich Barbara Fontaine, die den Roman ins Französische übertragen hat. Auch in der französischen Übersetzung wurde das Adjektiv weggelassen.
179 Während die Erzählerin die einzelnen Ereignisse des Pogroms wahrnimmt, gehen ihr immer wieder Erinnerungsfetzen durch den Kopf. So wird zum Beispiel ein Ort, den sie auf der Flucht durchquert, mit Erinnerungen an diesen Ort verbunden, Gewalterfahrung und Normalität treffen in einem Satz aufeinander. So die Lichtung im Feld, auf der sich die Flüchtenden verstecken und die ihnen bis vor Kurzem als Picknickplatz diente: Marian hat ein langes Küchen-, ein Brotmesser. Hier und dort hackt er im Rennen ab, was im Weg steht, und auf allen vieren erreichen wir unsere Lichtung, wir singen, es ist Mai. Wir singen und falten singend das Tischtuch auf dem Feldboden auseinander [. . .]. (NJ 13)
Neben diesen sich flashbackartig einstellenden Erinnerungen, die das Erleben von Gewalt begleiten, gibt es jedoch auch Momente, in denen die Erzählerin längere Zusammenhänge aus ihrer Vergangenheit erinnert, als sollten dadurch die Schrecken der Gegenwart kompensiert werden. Diese Erinnerungen unterstreichen einmal mehr ihr Unverständnis für das gerade sich Ereignende, denn es geht neben Erinnerungen an den kindlichen Alltag in einem behüteten familiären Milieu vor allem um die Beschreibung eines gutnachbarlichen Zusammenlebens mit den Jedenewer Bauern. Als ihr Bruder Marian Antonina heiratet, stehen die Bauern, die später zu ihren Mördern werden, mit zahlreichen Geschenken zum Fest bereit. Einer von ihnen, Krystowczyk, hat die Kindheit der Zwillingsschwestern begleitet, hat mit ihnen gespielt und ihnen handwerkliche Griffe beigebracht, die sie aufs Leben vorbereiten sollten: keinen anderen der Jedenewer Bauern kennt Antonina so gut wie Krystowczyk, auch wir anderen kennen Krystowczyk von allen Jedenewer Bauern mit Abstand am besten und längsten [. . .] und also kümmert sich Krystowczyk seit Jahren bereits so oft er kann um uns und taucht seit Jahren wenigstens einmal in der Woche bei uns auf, um uns Kindern etwas zu bringen oder uns beim Baumhausbau zu helfen, die Schlitten für den Winter zu reparieren [. . .]. (NJ 30)
Die jüdisch-katholische Symbiose schien also auch außerhalb der Familien von Marian und Antonina, deren Väter eine gemeinsame Tierarztpraxis führen, Realität zu sein. Doch gerade Krystowczyk wird die deutschen Soldaten auf die Spur des Baumhauses bringen, in dem sich die Zwillingsschwestern verstecken. Diese positiven Erinnerungen werden in die Gegenwart überführt, indem sie ebenfalls im Tempus des Präsens erzählt werden, was beim Leser Verunsicherungen ob der gerade erzählten Zeitebene bewirkt. Vennemann zufolge ist die Benutzung des Präsens auch für die Erinnerungen der Versuch, die Gegenwart, wie sie sich jetzt da unten in Form von Vernichtung und Zerstörung darstellt, durch das Überperfekte und Idealisierte der Vergangenheit in eine Gleichzeitigkeit mit der Gegenwart zu führen: alles fließt ineinander, alles
180 ist letztlich gleichwertig und spiegelt die Nichtakzeptanz der Gegenwart wider. (Vennemann: Sick of standing 73)
Die Erinnerungen sind für den Erzählprozess wesentlich. Einerseits dienen sie dazu, das gegenwärtig Erlebte zurückzudrängen, andererseits verhelfen sie der Erzählerin erst dazu, das Erlebte zu vermitteln, zu erzählen. Dies wird gegen Ende des Romans besonders deutlich, wenn die Erinnerung an eine vom Vater immer wieder erzählte Geschichte, die nicht zufällig die Herkunftsgeschichte der Familie ist, sich mit dem gerade Erlebten und aus der Gegenwartsperspektive Erzählten vermischt. Die vom Vater erzählte Geschichte über seine Ankunft in Jedenew, die im Roman den Platz einer Binnenerzählung einnimmt, ähnelt einem unheimlichen, makabren Märchen. Sie handelt davon, wie es den Vater vor Jahren durch Zufall an den Ort nahe Jedenew verschlagen hat, nachdem er mit einem Fuhrmann und dessen weißem Pferd tagelang durch einen Schneesturm geirrt war und dabei den Sarg einer toten Frau mit sich führte. Als solches Märchen, dessen anthropologische Funktion in der Auseinandersetzung mit Angst und als unheimlich empfundenen Situationen besteht, vermittelt die immer wieder bruchstückhaft erinnerte Erzählung zwischen der Vergangenheit und der als traumatisch empfundenen Gegenwart.10 Über die Geschichte des Vaters heißt es: Die wir aufbewahren und für uns behalten oder vergessen oder auch einmal weitererzählen oder aber auch nur für uns erinnern können, einmal, zweimal, noch öfter, und dann vergessen können, wenn wir wollen, oder vergessen müssen, wenn nichts anderes möglich ist. Aber immer erinnern und ein letztes Mal wieder erinnern müssen, wenn, wie wir beschließen, uns keine andere Wahl bleibt. Im Baumhaus mit den Rücken an den Baumhauswänden, erinnern wir uns, dass Vater Vor uns unser Haus wiederholt, dass er ergänzt: Das Haus, das heute unseres ist. (NJ 98)
Die vom Vater erzählte Geschichte scheint zunächst einmal eine ganze Reihe von möglichen Reaktionen und Umgangsweisen zu bieten: aufbewahren, weitererzählen oder nicht, erinnern, vergessen. Zunächst legt die Erzählerin eine gewisse Indifferenz dieser Geschichte gegenüber an den Tag, eine Geschichte, von der sie schon lange weiß, dass sie nur erfunden und dadurch belanglos geworden ist. Und doch wird diese Herkunftserzählung des Vaters, welche Gemeinschaft, Stabilität, aber auch Zukunft bedeutet, gerade in dem Moment erinnert, in dem die Erzählerin und ihre Schwester sich ihrer aussichtslosen Lage bewusst sind. Nicht zufällig erinnern sie sich gerade der
10
Man denke hier auch an Helma Sanders-Brahms’ Film DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER (1979/80) und die – unter anderen Aspekten (Verweis auf den Genozid) – auch vermittelnde Funktion des Märchens vom Räuberbräutigam, das Lene ihrer Tochter Anna erzählt, während sie zu zweit durch dunkle Wälder irren.
181 Worte des Vaters “Vor uns unser Haus” – im Text durch die Großschreibung als Zitat ausgewiesen –, als sie der Plünderung des Hauses beiwohnen und ihrer Identität beraubt werden (“Daß direkt vor unseren Augen unser Haus und alles, was wir sind, ausgeräumt wird.” NJ 85). Erinnerung fungiert hier als Mittel, die traumatische Gegenwart zu beherrschen und als imaginäre Wiederaneignung des gerade Verlorenen. Diese für die Diegese wichtige Funktion der Erinnerung findet jedoch im Roman hinsichtlich der erzählerischen Techniken zur Darstellung von Erinnerung kaum eine Entsprechung. Auf narratologischer Ebene, in Bezug auf die “Mimesis des Erinnerns” (Basseler/Birke 123), ist die “Erinnerungshaftigkeit” (Basseler/Birke 125) dieses Erzähltextes, die Markierung und Darstellung von Erinnerungsprozessen, gering. So werden die Analepsen als “Grundfigur der Inszenierung von Erinnerung” (Basseler/Birke 126) vom Leser nicht unmittelbar als solche erkannt, da sie, wie die Basiserzählung, ebenfalls im Präsens geschrieben sind. Der Wechsel der Erzähltempora zur Markierung von Erinnertem ist dadurch auch hinfällig. Die erzählerische Ordnung im Roman ließe sich hier eher mit dem Begriff der Achronie (vgl. Genette 119f.) beschreiben.11 Der Erinnerungsprozess der Erzählerin wird vom Leser dennoch wahrgenommen, weniger jedoch durch eine Inszenierung auf narratologischer Ebene als durch den Aufbau eines bestimmten semantischen Universums, nämlich dem des Alltags und der Kindheit, das dem Leser den Bruch zur Gewalt der Gegenwart verdeutlicht.
Fiktion und Metafiktion Vennemanns als Roman gekennzeichneter Text gehört eindeutig in den Bereich der fiktionalen Literatur. Die Fiktion vermittelt den Bericht über ein Pogrom aus der Perspektive einer Betroffenen, die Zeugnis ablegt. Der Autor erfindet sozusagen ein Zeugnis über die Shoah. Wie bereits angedeutet, ist eine solche Situation des Zeugnis-Ablegens noch während des sich ereignenden Geschehens außerhalb der erzählten Welt höchst unwahrscheinlich. Auch bleibt im Roman offen, wie dieses Zeugnis den Leser erreicht, da die Erzählerin am Ende in die Hände der deutschen Soldaten gelangt und, vermutet man, wie ihre Familie ermordet wird. Vennemann selbst hatte zunächst Bedenken hinsichtlich der Legitimität seines Vorhabens und entschloss sich für einen 11
An dieser Stelle soll im Anschluss an Fricke angemerkt werden, dass bestimmte Kategorien der Erzähltheorie für die Beschreibung von Texten, die Traumata darzustellen versuchen, hinterfragt werden sollten. So sei es nicht sinnvoll, angesichts der das traumatische Bewusstsein kennzeichnenden Atemporalität bzw. mangelnden Kausalität Begriffe wie Prolepse oder Analepse zu verwenden (vgl. Fricke 237ff.).
182 weitgehenden Verzicht auf konkrete außertextuelle Realitätsreferenzen, etwa auf die Gestaltung eines konkreten historischen Ereignisses. Zudem enthält der Roman selbst metafiktionale Verweise, die seinen fiktionalen, künstlichen Charakter reflektieren und dem Leser in Erinnerung rufen, dass er es mit einer künstlerischen, literarischen Darstellung von Zeugenschaft zu tun hat. Der in der Literaturtheorie kontrovers diskutierte Begriff Metafiktion soll hier im weitesten Sinne verstanden werden als “selbstreflexive Aussagen und Elemente einer Erzählung, die nicht auf Inhaltliches als scheinbare Wirklichkeit zielen, sondern zur Reflexion veranlassen über Textualität und Fiktionalität” (Wolf 447). Einen ersten Hinweis auf metafiktionale Selbstreferenz12 in Vennemanns Roman bietet die Thematisierung des Geschichtenerzählens in der Kindheit der Erzählerin. Der Bezug der Zwillingsschwestern zur Realität wird über Geschichten aufgebaut, über gelesene, erzählte und gehörte, selbsterfundene. Bücher und Geschichten spielen im Roman eine sehr große Rolle. Die Mädchen “sitzen lesend zusammen” auf dem Holzsteg vor dem Teich, abends hören sie dem Vater zu, “der aus seinen Büchern Märchen, alte Sagen, Gedichte liest” (NJ 9). Es sind dieselben Bücher, die beim überstürzten Weglaufen vor den Jedenewer Bauern ins Wasser fallen (vgl. NJ 13) und hier metaphorisch den Untergang einer Kultur ankündigen. Geschichten hören und selbst erfinden, fantasieren – dies gehört zum Alltag der Mädchen, so dass ihre Wahrnehmung geprägt ist durch eine Art Interaktion zwischen Realität und Fiktion, was die folgende Passage verdeutlicht: Wir wissen seit Tagen schon, wie es kommt, nämlich so, wie es jetzt kommt, aber tagelang sind wir überzeugt, wir bilden uns wirre Dinge ein, fantasieren, wie wir es immer tun, wir flechten mit sechzehn Jahren noch immer täglich Zöpfe in die Haare unserer Puppen [. . .] und erzählen uns Märchen, nichts lieber als das. Wir denken uns Geschichten aus, alles was bei uns nahe Jedenew passiert, ist eine Geschichte, und wenn nichts passiert, denken wir uns etwas aus. Hier im Baumhaus wissen wir von keiner einzigen der vielen Geschichten, die wir uns im Baumhaus erzählen, während Wasznars und Antoninas Hof verbrennt, weil diese Geschichten tatsächlich passieren, oder weil wir sie uns nur ausdenken, uns als unsere Geschichten verkaufen, weil wir uns für Augenblicke nicht erinnern können an das, was wirklich passiert, welche Geschichte wahr ist und welche falsch, wir beschließen, daß uns das egal ist, wir erinnern oder erfinden im Baumhaus sitzend einfach irgendwas, wir flechten uns gegenseitig Zöpfe und erfinden vielleicht unsere Geschichte, um sie erzählen zu können, vielleicht auch nicht. (NJ 65f.)
Die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen ebenso wie die zwischen Realität und Fiktion. Der Wahrheitsgehalt erzählter Geschichten wird ebenso in Frage gestellt wie die Realität, das Erlebte selbst, welches gerade in dem Moment, in dem es nur noch Grausamkeit und Gewalt 12
Nünning zufolge eine Form der Autoreferentialität (vgl. Nünning 67).
183 bedeutet, als Fiktion erscheint. Die Erzählungen lenken von der Realität ab, der Ausweg in die Fantasie hilft beim Überleben: Solange die Erzählungen währen, leben und überleben die Mädchen. Endet die Erzählung, so steht der Erzählerin der wahrscheinliche Tod bevor: dann ist alles still und nichts mehr zu hören, nichts mehr zu sehen, und also stehe ich im ewig dachlosen Baumhaus in der Baumhausöffnung, die keine Tür mehr bekommt, und höre und sage nichts, es gibt nichts zu sagen. Ich atme nicht. (NJ 143)
Es gibt nichts zu sagen, außer der Erzählung, die der Leser aus dem Mund dieser Erzählerin erfahren hat, und deren Überlieferung gleichfalls offenbleibt. In der zitierten Passage steht der entscheidende Satz, der auf metafiktionaler Ebene auf den fiktionalen Status der Erzählung verweist: “Wir denken uns Geschichten aus, alles was bei uns nahe Jedenew passiert, ist eine Geschichte, und wenn nichts passiert, denken wir uns etwas aus” (NJ 65). Dies gilt dann auch für die gerade erzählte Geschichte über Nahe Jedenew, die der Leser in Händen hält und ihm ihren fiktionalen Charakter signalisiert. Einen weiteren metafiktionalen Verweis beinhaltet die Herkunftserzählung des Vaters, die im Roman von der Erzählerin immer wieder leitmotivisch aufgenommen wird. Von dem belesenen Vater heißt es zunächst, dass er ständig Geschichten erzählt, und zwar “wilde, erfundene Geschichten” (NJ 33). Dazu gehört vor allem die immer wieder erzählte Geschichte, die seine Ankunft auf dem Hof von Jedenew schildert und die in den Augen der Mädchen schnell als eine unglaubwürdige Geschichte erscheint: “erzählt er uns eine Geschichte und behauptet, diese Geschichte selber erlebt zu haben” (NJ 33f.). Die Mädchen wissen längst, dass die Geschichte des Vaters nicht seine eigene ist (vgl. NJ 55), haben sie sie doch “schon vor Jahren in einem Buch in seiner Bibliothek [entdeckt]” (NJ 97). Dennoch hören sie immer wieder gebannt zu, nur Anna äußert ihre Zweifel laut: “Glaubt ihm kein Wort, ihm kann man kein einziges Wort glauben, und Vater sagt: Doch, glaubt mir, und erzählt [. . .]” (NJ 55). Wie oben dargestellt nimmt diese Erzählung die Gestalt einer Legende, eines Märchens an und hat im Text zwei Funktionen: Sie dient auf der Ebene der Diegese als Vermittlungsinstanz für die als traumatisch erlebte Gegenwart, andererseits hat sie auch eine metatextuelle, metafiktionale Funktion. Denn die Geschichte, die der Vater immer wieder erzählt und die die Töchter bereits vor Jahren in einem Buch aus seiner Bibliothek entdeckt haben, ist keine andere als die Erzählung Die ewige Seligkeit von Scholem Alejchem, einem Klassiker der jiddischen Literatur (vgl. Berger 149–152). Die intertextuellen Verweise auf die Erzählung von Alejchem markieren die Fiktionalität des Romans, wenn man intertextuelle Referenz nicht unbedingt als eine Form der Heteroreferentialität versteht (vgl. Nünning 66f.), sondern
184 als ein Signal für die Selbstreflexivität eines literarischen Textes, das den Leser dazu auffordert, “ihn gezielt in seinem Konstruktionscharakter wahrzunehmen” (Kaute 155). Die fiktionale Ankunftserzählung des Vaters, deren Wahrheitsgehalt die Mädchen bereits früh in Frage stellen – sie charakterisieren ihren Vater explizit als unglaubwürdigen Erzähler –, verweist auf einen literarischen Text und damit auf die Tatsache, dass sich der Roman in eine “Überlieferungskette” eingliedert, Teil eines “textuellen Netzes” (Kaute 161) ist, auf welches bewusst Bezug genommen wurde. Sowohl die Selbstaussage der Erzählerin über ihren Hang zum Fabulieren und Geschichtenerfinden als auch der Rückgriff auf einen Intertext, der im Roman selbst als solcher dargestellt wird (die Mädchen finden die Geschichte des Vaters in einem Buch), signalisieren dem Leser deutlich die Fiktionalität des Erzähltextes und verweisen auf den Ort, von dem aus der Autor spricht, nämlich aus der notwendigen Distanz der Nachgeborenen heraus, denen im Gegensatz zur Erlebnisgeneration nur der Rückgriff auf fiktionale Mittel bleibt, um über Geschichte zu schreiben.
*** In ihrer Untersuchung zum Umgang unterschiedlicher deutscher Schriftstellergenerationen mit der Vergangenheit attestiert Elena Agazzi der dritten Generation, sie empfinde den Erinnerungsakt als eine “Pflicht”, nach der Devise „das möchte man wohl vergessen, darf es aber nicht vergessen.“ Verbunden sei diese Haltung mit dem Verzicht, eine “eindeutige ideologische Position einnehmen zu müssen” (Agazzi 135). Dieses etwas pauschale Bild einer kaum engagierten, sich ihrer Pflicht jedoch bewussten Schriftstellergeneration muss im Falle von Kevin Vennemann korrigiert werden. Der Autor setzt sich mit der Vergangenheit auseinander und aktualisiert diese, um dem Leser bewusst zu machen, dass Geschichte eben nicht der Vergangenheit angehört, sondern dass bestimmte Ausgrenzungsprozesse immer noch aktuell sind. In diesem Sinne sieht er sich selbst als einen Autor mit “erhobenem Zeigefinger” (Vennemann: Sick of standing 72), dem die Vermittlung einer bestimmten Moral wichtig ist. Mit seinem Roman Nahe Jedenew versucht Vennemann den Leser unmittelbar an das Erleben von Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung heranzuführen, indem er direkte Zeugenschaft in der traumatischen Situation eines Pogroms literarisch inszeniert. Damit begeht er eine Grenzüberschreitung im Rahmen der Fiktion, ist doch die historische Zeugenschaft während der sich abspielenden Ereignisse kaum möglich. Den abwesenden Rezipienten bzw. Zuhörer in der realgeschichtlichen Situation ersetzt Vennemann durch den Leser seiner Fiktion als Empfänger dieses Zeugnisses und macht diesen letztendlich zum Zuhörer, zu jenem “Anderen”, der unabdinglich ist,
185 damit ein Augenzeuge Zeugnis ablegen kann (Laub 79f.). Diese Grenzüberschreitung mit den Mitteln der Fiktion schließt letztendlich eine Lücke, sie versucht sich einer Erfahrung anzunähern, die in einer solchen Form nicht überliefert ist bzw. überliefert sein kann. Die Wahl der erzählerischen Mittel, der weitgehende Verzicht auf Realismus und die Transponierung der unsicheren Position der Erlebenden auf die erzählerische Ebene, die dem Leser diese Unsicherheit und Gefährdung vermittelt, zeugen von einem ethischen Bewusstsein seitens des Autors, der sich der Sensibilität des Themas bewusst ist. Nahe Jedenew ist ein wichtiges literarisches Werk eines Vertreters der Generation der Nachgeborenen, das sich der historischen Realität, die die Berichte der Überlebenden übermitteln wollten, durch eine künstlerische Form anzunähern und dieser gerecht zu werden versucht (vgl. Lothe/ Suleiman/Phelan 2).
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Axel Dunker
Auschwitz im Pop-Roman. Thomas Meineckes Hellblau Thomas Meinecke defines pop as an “analytical procedure to handle pre-existing surfaces in a politically productive way”. Quite in the manner of a literary discourse analysis, his novel Hellblau (2001) focuses on gender, ethnic and religious identities as constructs. In the definition of National Socialism, ‘The Jew’ is a construct as well, though one entailing deadly consequences. Holocaust-related contemporary history as experienced by the protagonists and their musical-historical research are collocated in the text. Anti-Semitism of the past, for example, is connected to present-day racism, especially in the field of popular culture, which should after all, be characterized by syncretism. Meinecke’s novel offers a ‘performative working-through’ of these coherences.
Kann ein Pop-Roman, so ist zunächst einmal zu fragen, überhaupt ein angemessenes Genre sein, um die Problematik des Holocaust aufzugreifen? Jens Birkmeyer kommt in seiner Untersuchung zum Gedächtnisdilemma in der Popliteratur zu einem eindeutigen Ergebnis: Für die Gruppe um Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht und Florian Illies, für Wolf Haas, Andreas Mand und Thomas Brussig konstatiert er die Sehnsucht nach einer Normalisierung im Sinne einer Loslösung von den Konfliktkonstellationen und Diskursregeln der Nachkriegszeit, sei es in politischer, ideologischer oder jugendkultureller Hinsicht. (Birkmeyer 151)
Der popkulturelle Diskursroman wie die Theoreme von Illies zur Generation Golf seien Ausdruck einer “mentalen Entlastungsbemühung” (Birkmeyer 157). Und auch in Christian Krachts Faserland finde “keine Anschlußkommunikation an ein Erinnern statt, das [. . .] frei wäre von einem alles in allem larmoyanten Narzißmus” (Birkmeyer 164). Als entscheidendes Defizit stellt Birkmeyer den fehlenden Anschluss “an die beiden zentralen Gedächtnismodelle (Gedächtnisbildung und Gedächtnisreflexion) der Erinnerungskultur” (Birkmeyer 164) heraus. Gerade die fehlende Selbstreflexion, so Birkmeyer, ist das entscheidende Manko dieser Art von Pop-Roman. Dem soll hier nicht widersprochen werden, auch wenn man zumindest für Christian Kracht auch zu einer anderen Einschätzung kommen könnte. Vielmehr möchte ich eine ganz andere Art von Pop-Roman daneben stellen, der noch viel stärker als Diskurs-Roman zu bezeichnen ist als die Romane Krachts oder gar die Stuckrad-Barres, nämlich die Romane Thomas
188 Meineckes. Am einschlägigsten für unseren Zusammenhang ist der 2001 erschienene Roman Hellblau.1 Dabei definiert Meinecke Pop auch ganz anders als die Protagonisten von Tristesse Royale (Bessing): “Pop ist eine Praxis”, erklärt Meinecke. Ein Mittel. Ein analytisches Verfahren, mit vorgefundenen Oberflächen auf politisch produktive Weise umgehen zu können. Eine Wahrnehmungstechnik. Pop ist Lesen. Diagnose, aber nicht Prognose. Nicht Wissen, sondern Fragen. (Meinecke: Ich als Text 25)
“Pop hat etwas Archivarisches, etwas Kartografierendes” (Meinecke: Im Prozess 271), sagt Meinecke an anderer Stelle. Seine Art des Archivarischen unterscheidet ihn aber wiederum von anderen Pop-Autoren der jüngeren Vergangenheit, die Moritz Baßler als die “neuen Archivisten” (vgl. Baßler) bezeichnet hat. Zu Meineckes Archivieren gehört nicht so sehr das Aufzählen von Markennamen aus der Konsumwelt der Gegenwart, sondern ihm geht es um “die literarische Form einer breitangelegten Diskursanalyse” (Schumacher 186f.). Dabei tritt der Autor “hinter den Diskurs zurück, er spricht nicht mehr mit ‘Autorität’, sondern präsentiert den Diskurs lediglich, fragend und assoziierend” (Picandet 278). Wie dabei in Hellblau der Holocaust-Diskurs ins Spiel kommt und was das für Folgen hat, darum soll es im Weiteren gehen. Im Mittelpunkt des handlungsarmen Romans stehen mehrere “Sprechfiguren” (Picandet 281), die sich wechselseitig Emails schreiben, miteinander telefonieren, sich Zeitungsausschnitte zuschicken und dabei Informationen austauschen, aus denen der Text zu großen Teilen besteht. Der Deutsche Tillmann befindet sich an einem kleinen Ort auf den Outer Banks vor der nordamerikanischen Atlantikküste. Er arbeitet über den von Paul Gilroy beschriebenen “Black Atlantic” (vgl. Gilroy) und stößt während seiner Recherchen dazu auf die Geschichte der deutschen U-Boote, die im Zweiten Weltkrieg die amerikanische Küste bedrohten. Liiert ist er mit der jüdischen Amerikanerin Vermilion, die an der Duke University “über die Feminität der chassidischen Juden in Brooklyn promoviert und stets einen Davidstern um den Hals trägt” (Picandet 281), der häufig erwähnt wird. Co-Autorin von Tillmanns Buchprojekt ist die in Bitburg als Tochter schwarzer US-Soldaten geborene Yolanda, die an der Regenstein Library in Chicago arbeitet. Weitere wichtige Stimmen des Romans sind Tillmanns frühere Freundin Cordula, die an der Humboldt Universität in Berlin studiert, und ihr neuer Freund Heinrich, der sich für seine Magisterarbeit mit Ronald Reagans Besuch auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg 1985 beschäftigt. Dabei geht es ständig um die Geschichte der schwarzen (und teilweise der jüdischen) Musik in Amerika, 1
Im Folgenden zitiert als H mit Seitenzahl.
189 vom frühen Jazz bis zur Detroiter Techno-Szene und Mariah Carey. Gemeinsamer Bezugspunkt dieser scheinbar heterogenen Materialgebiete ist das Thema geschlechtlicher, ethnischer und religiöser Identität “im Spannungsfeld nationaler und territorialer, sexueller und geschlechtlicher, religiöser und politischer Grenzziehungen und -überschreitungen” (Goer 179), was Meinecke in all seinen Büchern geradezu obsessiv beschäftigt. Mit Judith Butler und anderen poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen feministischen Theoretikern und Theoretikerinnen wird dabei immer wieder betont, dass Identität nur eine Konstruktion ist. Hierin berührt sich der Roman auch eng mit entsprechenden Theoremen der postkolonialen Studien (vgl. Hägele 136). Die inhaltliche Orientierung an der Dekonstruktion von Essentialismen aller Art spiegelt sich in der Form dieses wie der anderen der Meinecke’schen Bücher. “Im Zusammenschnitt von Theorie, Musik und Literatur”, so Claudia Breger, “entwirft der Roman eine Welt der unendlichen Bezüge, in der Hybridität zur unhintergehbaren Seinsweise alles Notierbaren geworden ist” (Breger 200). Man hat diese Form als Realisierung des “poststrukturalistische[n] Modell[s] des Rhizoms [. . .] par excellence” (Picandet 288) bezeichnet. Ein Wurzelstrang dieses Rhizoms wäre dann der Nationalsozialismus, der Antisemitismus und der Holocaust. Aber was für eine Wertigkeit hat er innerhalb des in sich verschlungenen Gebildes? Kann man sich damit begnügen, nur metaphorisch – in Abwandlung eines Zitats von Hubert Fichte – festzustellen: “Gegenwart und Vergangenheit, Berliner Republik und Drittes Reich umschlingen sich im synkopischen Techno-Rhythmus” (Kreienbrock 167)? Einer der Stränge, über den immer wieder der Holocaust sich ins Bild drängt, ist die Beschäftigung der Figur Heinrich mit Reagans Besuch auf dem Soldaten-Friedhof in Bitburg, auf dem neben ‘normalen’ Soldaten auch Angehörige der Waffen-SS begraben sind. So wird beispielsweise aus Protestbriefen jüdischer Amerikaner wie dem folgenden zitiert: “Henry Orenstein: Dear Mr. President, I am a survivor of five concentration camps. My parents, my brother, and my little sister were brutally murdered by SS stormtroopers” (H 35). Daneben steht die Wiedergabe von Zeitungsartikeln wie dem folgenden: Nach einer Meldung der Deutschen Presseagentur ist gestern, am 23. Juni 1999, ein achtundsiebzigjähriger Mann der Beihilfe zum grausamen Mord an Juden für schuldig befunden worden. Von einer Bestrafung habe das Landgericht Braunschweig aber abgesehen. (H 36)
Das geht im selben Abschnitt direkt über in: Yolanda schreibt mir, daß Slim Gaillard von seinem Vater, der als Steward auf einem Ozeandampfer arbeitete, aus Versehen einmal sechs Monate lang auf Kreta ausgesetzt wurde [. . .] Slim in London zu mir, eine verkleinerte Reproduktion der
190 ursprünglichen Notation aus seinem Portemonnaie fingernd: In Wirklichkeit heißt es ja Flat Foot Floozy. Plattfußflittchen. Plattfußschickse. Schickse: Jiddisch für nichtjüdisches Mädchen, Christenmagd [. . .] Yolanda hatte das auf Anhieb gar nicht glauben wollen. (H 36f.)
Auf den Holocaust bezogene Zeitgeschichte und musikgeschichtliche Recherche stehen hier unmittelbar nebeneinander. Das setzt sich fort: Karlheinz Stockhausen, das legendäre Studio für elektronische Musik, Westdeutscher Rundfunk, Köln, 1956: Gesang der Jünglinge im Feuerofen für 5 Lautsprechergruppen; auf CD gebrannt von Heinrichs Eltern. Bereits 1930 weihte Henry Ford, gemeinsam mit Konrad Adenauer, die Kölner Ford-Werke ein. Henry Ford, Lebensdaten einfügen, Antisemit, Detroit, Michigan, USA. Fords Buch The International Jew erwähnen, das im Deutschen Reich unter dem Titel Der ewige Jude ein Bestseller wurde. Adolf Hitler, der sich in seinem Buch Mein Kampf für Henry Ford begeisterte. (H 83)
Das geht dann weiter mit Zwangsarbeitern aus den Ostgebieten in den Ford-Werken in Deutschland, “Die Autofabrik Köln als Außenstelle des Konzentrationslagers Buchenwald.” (H 84). Ich wüßte, erstens, gern, wie viele jüdische Amerikaner Ford in Detroit eingestellt hat. Zweitens: Wie viele afrikanische Amerikaner? The Big Three of Detroit Automakers: Ford, General Motors, Chrysler. The Big Three of Detroit Techno: Juan Atkins, Derrick May, Kevin Saunderson. (H 84)
Letzeres, also die ‘großen Drei’ der Detroiter Techno-Szene neben Henry Ford und dessen Verstrickung in den Antisemitismus zu stellen, ist keine frivole Juxtaposition von Unvereinbarem, sondern Detroit Techno, “als radikal dissidentes Medium” (H 21), steht in einem politischen Zusammenhang, den es archäologisch (archivalisch gleichsam) ebenso freizulegen gilt, wie die Hintergründe und Ausläufer des Holocaust. Im Roman führt das einerseits zu einer Auflistung der deutschen Firmen, die Entschädigungen für Zwangsarbeiter geleistet haben und welche (noch) nicht. Listen dieser Art, die grundverschieden sind von den Listen von Marken-Klamotten bei Christian Kracht u.a., würde man wohl eher in Büchern wie Peter Weiss‘ Ästhetik des Widerstands erwarten als in einem Pop-Roman. Sie zeigen aber, dass hier ein Pop-Roman ganz anderer Art vorliegt, der “mit vorgefundenen Oberflächen auf politisch produktive Weise” umgeht. Andererseits mündet dieser textuelle Zusammenhang in (unbeantwortete) Fragen wie diese: Apropos: Was ist eigentlich von der seit einigen Wochen umhergeisternden Meldung zu halten, nach der die Behörden von Auschwitz die Eröffnung einer
191 Discothek in der früheren Gerberei des Vernichtungslagers genehmigt haben sollen? (H 104)2
Nun schließen sich Archäologie und die Arbeit an Oberflächen eigentlich natürlich aus. Meinecke legt aber auch keinen Subtext an, wie es in anderen literarischen Auseinandersetzungen mit Auschwitz etwa zur Repräsentation traumatischer Strukturen der Fall ist (vgl. Dunker). Vielleicht kann man das Eintragen von ‘Auschwitz’ in den Pop-Diskurs vergleichen mit den in den Auslaufrillen von Techno-Platten eingeritzten politischen Botschaften, die im Roman immer wieder zitiert werden. Es ist da, man muss es nur sehen, nicht fixiert bleiben auf etwas anderes, hier den Rhythmus der Musik, der als solcher politisch (als dissident) zu verstehen ist, was der Text in der Auslaufrille nur verstärkt. Die von Hitler geschickten deutschen U-Boote, die immer wieder vor der amerikanischen Atlantikküste auftauchten, sind als Wracks immer noch vorhanden, man kann zu ihnen hinabtauchen und sie inspizieren. Was nicht nur ein harmloses Freizeitvergnügen ist, jedenfalls nicht in diesem Buch. In der Boom Box läuft, kaum hörbar, eine Kassette mit historischen Aufnahmen der Epstein Brothers. Der Klarinettist und Saxophonist Chizik Epstein war zu einem gefragten Musiker in der chassidischen Szene avanciert. Als er und seine Brüder in den späten neunzehnhundertsechziger Jahren zur alljährlichen Zeremonie anläßlich der 1944 nach der zynischen Nazi-Devise Blut gegen Ware erfolgten Befreiung des Satmarer Rebben Joel Teitelbaum aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen aufspielten, soll dieser ausgerufen haben: ‘Di Musik klingt azoj schejn [. . .]’ Bis heute kann mir niemand erklären, weshalb so viele Frejlechsn der Klezmorim, in ihrer mitreißenden synkopischen Rhythmik, an den Hambone Beat des Elias McDaniel gemahnen. Elias McDaniel, afrikanischer Amerikaner aus McComb, Mississippi, 1955 von dem polnischen Juden Leonard Chess in Chicago entdeckt, [. . .] unter Vertrag genommen und nach einem, wie an bestimmten Orten fortwährend betont wird, primitiven afrikanischen Instrument Bo Diddley getauft. (H 122)
Womit der Holocaust und die schwarze Musik wieder einmal zusammen geführt wären.
2
“WARSAW, Poland – A Polish disco near the Auschwitz death camp will close following protests by Jewish groups and the international community, its landlord said. Jewish groups have been urging Poland’s government to shut the System dance club – located in a former tannery used by German Nazis to sort luggage and clothes of the camp’s victims about 1.5 km (one mile) from Auschwitz – since it opened a year ago.” (CNN.com/World). Gegen die Errichtung eines Einkaufszentrum, so heißt es weiter in der CNN-Meldung vom (ausgerechnet) 11. September 2001, gebe es keine Einwände.
192 Das hat sicherlich, wie Claudia Breger ausführt, etwas damit zu tun, dass der atlantische Raum “keine schöne bunte Welt kultureller Kreuzung” ist, sondern “durch rassistische Diskurse – und Praktiken – reguliert wird” (Breger 201). Antisemitismus (nicht nur) der Vergangenheit und Rassismus der Gegenwart haben viel miteinander zu tun, gerade auch auf dem Gebiet der populären Kultur, das sich eigentlich doch durch Synkretismus auszeichnen sollte. Gerade die Geschichte der schwarzen Musik in den Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts, die Meinecke weniger erzählt als in Materialien zugänglich macht, zeigt aber das Gegenteil. Rassismus kommt bei den Umsignifizierungen von jüdisch bzw. schwarz in nicht-jüdisch bzw. weiß immer wieder zum Vorschein. Als Cordula Tillmann und Yolanda in den USA besucht, heißt es einmal aus der Perspektive Tillmanns, man komme auf den ökonomistischen Antikapitalismus der Postlinken zu sprechen. Ich höre Cordula sagen: Für diese Leute war sogar Auschwitz-Birkenau nichts als ein kapitalistischer Industriebetrieb in letzter Konsequenz, eine fordistische Fabrik wie Volkswagen in Wolfsburg. Und denke, daß in meinem Leben, selbst hier auf den Outer Banks, kein Tag vergeht, an dem mir nicht mindestens einmal das Wort Auschwitz, und mit diesem der gesamte gleichnamige Komplex, durch den Kopf schießt. (H 287)
Sebastian Wogenstein bemerkt dazu, dieses Geständnis benenne explizit die unumgängliche palimpsestartige Präsenz der Vergangenheit, die durch die Gegenwart hindurch scheint und der zweiten deutschen Nachkriegs-Generation den Ort des Terrors gleichsam als Wort-Kugel durch den Kopf jagt. (Wogenstein 90f.)
Seine Folgerung, es bleibe hier aber unklar, “ob diese permanente Präsenz der Todeslager-Metonymie aus der Empfindung einer deutschen Kollektivschuld oder einer Identifikation mit den Opfern erwächst” (Wogenstein 91), scheint mir die Anlage des Romans aber nicht richtig zu treffen. Vielmehr macht eine solche Äußerung Auschwitz, “das ungeheuerste Zentralsignifikat deutscher Geschichte” (Baßler 181), wie Moritz Baßler es im Kapitel “Generation Golf in Auschwitz” in seinem Buch über den deutschen Pop-Roman nennt, zu einem der Wurzelknoten des Meineckeschen Rhizoms. Es geht nicht um Psychologie, sondern um eine besondere Form von Konstruktion. “Das Ethnische erscheint”, so heißt es wenige Seiten zuvor, ausgehend wiederum von Gilroys Black Atlantic, “nicht als biologische Konstante, sondern als unendlicher Prozeß einer sich ständig ändernden, aber nicht beliebig veränderbaren sozialen Konstruktion von Identität” (H 263). Auch das zu vernichtende Jüdische des Nationalsozialismus ist natürlich nichts anderes als eine Konstruktion, aber eine mit tödlicher, massenmörderischer Konsequenz.
193 Insofern markiert Auschwitz den Punkt innerhalb von Meineckes Konstrukt, der das ganze Gewebe aus dem Selbstgenügsam-Spielerischen, als das es vielleicht erscheinen könnte, herausholt und dem Buch die Dignität des überaus Ernsthaften verleiht. “Ich erkläre Vermilion, daß der Himmel allein durch den Wasserdampf in der Luft hellblau erstrahlt. Farbe ist ja keine physikalische Größe an sich” (H 184). Aber Farben werden Bedeutungen zugeschrieben, rassistische Bedeutungen, wenn es um Hautfarben geht, diskriminierende, mörderische, wenn es um den gelben Judenstern geht. Der Roman Hellblau ‘erstrahlt’ – um im Bild zu bleiben –, weil er Diskurse wiedergibt. Als solcher hat er keine Essenz, wie ein Diskurs hat er etwas Prozesshaftes, etwas Erscheinendes, Performatives. Das Nicht-Essentialistische, das angestrebt wird, hat aber nicht zur Folge, dass es nur um Oberflächliches im Sinne von Belanglosigkeit gehen würde. Abschließend soll dieser Aspekt der Poetik von Hellblau noch einmal an einem Detail aufgezeigt werden. Wenige Seiten vor Schluss zitiert der Roman aus Himmlers Posener Rede vom 4. Oktober 1943, einem der schlimmsten Dokumente des Holocaust. Romuald Karmakar hat diese Rede im Jahr 2000, also ein Jahr vor der Publikation von Hellblau, einem der eindrucksvollsten Versuche, sich dem Holocaust filmisch zu nähern, zugrunde gelegt. 182 Minuten lang liest der Schauspieler Manfred Zapatka im Film DAS HIMMLERPROJEKT in neutraler Umgebung und mit neutraler Stimme Himmlers Rede vor. Berüchtigt ist diese Geheimrede Himmlers, die er vor einem handverlesenen Publikum von hohen SS-Führern gehalten hat, vor allem wegen einer Passage: Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit, auch ein ganz schweres Kapitel erwähnen. Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden. [. . .] Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ‘Das jüdische Volk wird ausgerottet’, sagt ein jeder Parteigenosse, ‘ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.’ Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heisst, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte. (Himmler)
Doch nicht diese Passage zitiert Meinecke. Bei ihm heißt es: Am 4. Oktober 1943 sprach in der polnischen Stadt Posen der SS-Reichsführer Heinrich Himmler die folgenden Worte zu seinen SS-Truppen: Es ist grundfalsch,
194 wenn wir unsere ganze harmlose Seele mit Gemüt, wenn wir unsere Gutmütigkeit, unseren Idealismus in fremde Völker hineintragen. Das gilt, angefangen von Herder, der die Stimmen der Völker wohl in einer besoffenen Stunde geschrieben hat und uns, den Nachkommen, damit so maßloses Leid und Elend gebracht hat. Cordula möchte heute morgen wissen, ob es Adolf Hitler oder Joseph Goebbels war, der versucht hatte, Leni Riefenstahl dazu zu bewegen, den afrikanischamerikanischen Sportler Jesse Owens aus ihrem Olympia-Film herauszuschneiden. (H 322)
Das Zitat aus Himmlers Rede ist wörtlich korrekt aus dem Tonmitschnitt auf einer Wachsschallplatte bzw. der zeitgenössischen Abschrift dieses Mitschnitts entnommen. Es wird nicht weiter kommentiert. In Himmlers Rede geht es unmittelbar im Anschluss folgendermaßen weiter: Ein Grundsatz muss für den SS-Mann absolut gelten: ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird. (Himmler)
Ist es nun eine Verharmlosung, diese Passage nicht zu zitieren und stattdessen das aus dem Zusammenhang genommen eher groteske Zitat über Herder und die Stimmen der Völker aufzunehmen? Meinecke nimmt das heraus, was anschlussfähig ist an seine Aufarbeitung eines Diskurses, bei dem sich das Politische immer im Musikalischen spiegelt. Pars pro toto enthält der Verweis auf die Posener Rede mit der genauen Angabe des Datums für den historisch Kenntnisreichen den ganzen abgrundtiefen Zynismus und alle Schrecken der nationalsozialistischen ‘Endlösung’. Für den Nicht-Eingeweihten freilich, der am Sound von Meineckes Buch interessiert ist, an der popistischen Oberfläche, tut sich hier nichts. Man muss gewissermaßen wieder in der Auslaufrille lesen, dem Verweis nachgehen, was sich über das Internet, das Meineckes Protagonisten selbst ständig benutzen, leicht machen lässt. Der Rezipient ist nicht nur gefordert, den vielen Hinweisen auf die unterschiedlichen Arten von Musik von Drexciya bis Chizik Epstein nachzugehen, sie sich beispielsweise auf YouTube anzuhören und anzuschauen, sondern auch den historischen Verweisen zu folgen. Auch auf YouTube findet sich im Übrigen im Originalton der Ausschnitt aus Himmlers Rede, in der er von der Vernichtung der Juden spricht. Von der ganzen Anlage her ist der Roman Hellblau ein Buch, das gewissermaßen zum Mitmachen auffordert, das einen performativen Appell enthält.
195 Wenn dann gegen Ende des Buches Judith Butler mit den Worten referiert wird “Alles, was wir tun könnten, sei, die diskursiven Gepflogenheiten, die uns bedingten, performativ durchzuarbeiten” (H 324), so bringt das metafiktional die Poetik dieses Romans auf den Punkt. Bei Meinecke geht es gerade nicht um eine ‘Loslösung von Diskursregeln’, wie Birkmeyer für Kracht et alii feststellt, sondern um eine performative Darstellung dieser Regeln, die man als diskursanalytisch bezeichnen kann. Ebenso wird man wohl gleichzeitig auch eine aufklärerisch-emanzipatorische Ausrichtung der ganzen Unternehmung, die auf eine Dekonstruktion dieser Regeln hinausläuft, feststellen können.
Literatur Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: Beck 2002. Joachim Bessing (Hg.): Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre. Berlin: Ullstein 1999. Jens Birkmeyer: Nicht erinnern – nicht vergessen. Das Gedächtnisdilemma in der Popliteratur. In: Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. Hg. von Jens Birkmeyer/Cornelia Blasberg. Bielefeld: Aisthesis 2006. S. 145–164. Claudia Breger: Pop-Identitäten 2001: Thomas Meineckes Hellblau und Christian Krachts 1979. In: GegenwartsLiteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. A German Studies Yearbook 2 (2003). Hg. von Paul Michael Lützeler/Stephan K. Schindler. München: Stauffenburg 2003. S. 197–225. CNN.com/World: Auschwitz disco to close – owner. http://archives.cnn.com/2001/ WORLD/europe/09/11/auschwitz.disco. Downloaded 24.10.2011. Axel Dunker: Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz. München: Fink 2003. Paul Gilroy: The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. LondonNew York: Verso 1993. Charis Goer: Cross the Border – Face the Gap. Ästhetik der Grenzerfahrung bei Thomas Meinecke und Andreas Neumeister. In: Pop-Literatur. Hg. von Heinz-Ludwig Arnold/Jörgen Schäfer. München: edition text + kritik 2003. S. 172–182. Christoph Hägele: Politische Subjekt- und Machtbegriffe in den Werken von Rainald Goetz und Thomas Meinecke. Innsbruck-Wien-Bozen: StudienVerlag 2010. Heinrich Himmler: Posener Rede vom 04.10.1943. http://www.nationalsozialismus. de/dokumente/texte/heinrich-himmler-posener-rede-vom-04-10-1943-volltext. html. Downloaded 25.10.2011. Jörg Kreienbrock: Parallel Dimensions. Der Alltag der Ethnographen Hubert Fichte und Thomas Meinecke. In: Alltag als Genre. Hg. von Heinz-Peter Preußer/ Anthonya Visser. Heidelberg: Winter 2009. S. 163–174. Thomas Meinecke im Gespräch mit Wilfried Eckl-Dorna, “Im Prozess liegt die Arbeit”. In: Die ZEIT, 10.12.2001. Zitiert nach Katharina Picandet: Zitatromane der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Lang 2011. S. 271.
196 ———: Hellblau. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. ———: Ich als Text (Extended Version). In: Zuerst bin ich immer Leser. Prosa schreiben heute. Hg. von Ute-Christine Krupp/Ulrike Janssen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. S. 14–26. Katharina Picandet: Zitatromane der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Lang 2011. Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Sebastian Wogenstein: Topographie des Dazwischen: Vladimir Vertlibs Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur, Maxim Billers Esra und Thomas Meineckes Hellblau. In: GegenwartsLiteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. A German Studies Yearbook 3 (2004). Hg. von Paul Michael Lützeler/Stephan K. Schindler. München: Stauffenburg 2004. S. 71–96.
Susanne Düwell
Ästhetische Reflexion von Exil und Krieg im Werk Norbert Gstreins The article examines Norbert Gstrein’s reflections on the representation of historical events in his essays and in two of his novels, Die englischen Jahre and Handwerk des Tötens. It addresses the question what consequences emerge from the ‘aesthetics of detachment,’ postulated by Gstrein, when dealing with issues of exile and war. The article takes into consideration the relation between witness literature and fiction; it elaborates on Gstrein’s references to the topoi of the Shoah discourse with regard to both the persecution of Jews and the wars in former Yugoslavia. Furthermore it demonstrates that the mode of detachment in Gstrein’s writing is linked to a tendency to universalism and historicism.
Gegenstand der folgenden Überlegungen sind literarische und poetologische Texte von Norbert Gstrein, in denen Fragen und Probleme der literarischen Darstellung historischer Ereignisse reflektiert werden. Übereinstimmend mit einem großen Teil der auf die Geschichte des Nationalsozialismus bezogenen Literatur seit den 1990er Jahren geht es Gstrein in seinen literarischen Texten nicht um die Rekonstruktion von Fakten, sondern um eine Reflexion der Repräsentationsformen von Geschichte. Neben der Geschichte des Exils während des Nationalsozialismus bilden die Kriege der neunziger Jahre im ehemaligen Jugoslawien einen weiteren historisch-politischen Schwerpunkt der Texte Gstreins. Diese sind insofern mit der Geschichte des Nationalsozialismus korreliert, als die geschichtspolitischen Deutungen dieser Kriege vielfach auf den Nationalsozialismus und die Konfliktlinien des Zweiten Weltkriegs bezogen sind. Darüber hinaus rekurriert Gstrein in der Reflexion über die Darstellung der Kriege der neunziger Jahre auf Topoi des ästhetischen Diskurses im Kontext von Nationalsozialismus und Shoah. Im Zentrum der literarischen Texte Gstreins stehen Verfahren der Mittelbarkeit, des unzuverlässigen Erzählens, der Vermittlung von Ereignissen durch die Schachtelung mehrerer Erzählinstanzen, das unentscheidbare Nebeneinander verschiedener Versionen einer Geschichte, das Spiel mit Mutmaßungen und Relativierungen jeder Aussage sowie konkurrierenden Wahrheits- und Besitzansprüchen im Hinblick auf erzählte Lebensgeschichten. Vor allem in den Romanen Die englischen Jahre und Das Handwerk des Tötens werden die genannten ästhetischen Verfahren mit Lebensgeschichten im Kontext historisch-politischer Katastrophen des 20. Jahrhunderts verbunden.1 Beide Romane 1
Im Roman Die Winter im Süden ist zwar auch der Krieg im ehemaligen Jugoslawien präsent, Gstrein löst sich aber von den reflexiven narrativen Verfahren, die für die
198 werden flankiert von poetologischen Essays, in denen Gstrein den literarischen Umgang mit historisch-politischen Quellen reflektiert und eine literaturpolitische Positionierung vornimmt, die skizziert werden soll. Im Folgenden werde ich keine narratologische Analyse der beiden Romane vorlegen,2 sondern mich auf die Frage konzentrieren, wie der Umgang mit historischem Material reflektiert wird und wie sich die Texte Gstreins zum Diskurs und zur Ästhetik des Umgangs mit Nationalsozialismus und Shoah bzw. Exil verhalten.
Exil: Die englischen Jahre Im Vordergrund des Romans Die englischen Jahre steht die Reflexion der Darstellung und Rezeption von Lebensgeschichten jüdischer Exilanten. Der Roman inszeniert die Recherche nach Gabriel Hirschfelder, einem jüdischen Österreicher, der als sehr junger Mann während des Nationalsozialismus von Österreich nach England emigrieren musste. Berichtet wird aus der Perspektive einer distanzierten Ich-Erzählerin, die nach Hirschfelders Tod dessen (ehemalige) Frauen interviewt und die Ansätze biographischer Erzählungen ihrer Gesprächspartnerinnen sukzessive verwirft. Aufmerksam wird die Erzählerin auf diese Lebensgeschichte durch ihren ehemaligen Lebensgefährten, der eine große Bewunderung für Hirschfelder hegt, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Schriftsteller in Erscheinung getreten ist. Die erzähltechnische Pointe des Romans besteht in der Enthüllung, dass der Mann, der nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Namen Gabriel Hirschfelder in England gelebt hat und dessen Leben die Erzählerin zu rekonstruieren versucht, kein Jude war, sondern während der Internierung in England den Namen und die Identität eines jüdischen Mitgefangenen angenommen hat, der beim Untergang der Arandora Star vor der Küste Irlands vermutlich ums Leben gekommen ist. Der Gefangene Harasser, der sich die Identität Hirschfelders angeeignet hat, ist aber auch mitverantwortlich für dessen Tod, da er selbst auf der Arandora Star deportiert werden sollte, aber Hirschfelder dazu gebracht hat, sich auf ein Kartenspiel einzulassen, dessen Verlierer die Isle of Man mit dem später versenkten Schiff verlassen musste. Rezeptionsästhetisch bewirkt die Pointe der Identitätsvertauschung, dass die Aufmerksamkeit der Leser und Leserinnen darauf gelenkt wird, dass ihre Rezeption des Romans in signifikanter Weise von der Annahme gesteuert wird, mit der Lebensgeschichte einer verfolgten jüdischen Figur konfrontiert zu sein. Nach anderen beiden Romane kennzeichnend sind. Auch in Die Winter im Süden werden Jugoslawienkrieg und Faschismus aufeinander bezogen durch die Figur des ‘Alten’, einen ehemaligen kroatischen Soldaten, der 1945 nach Argentinien flieht und in den 1990er Jahren nach Kroatien zurückkehrt. Vgl. dazu: Kramer. 2 Vgl. zur Struktur der Romane: Stopka; Wende; Düwell; Leucht.
199 der Enthüllung der vertauschten Identität erscheinen viele Details des Textes in einem anderen Licht, so dass dieses narrative Verfahren geeignet ist, eine Reflexion über die Erwartungshaltung gegenüber jüdischen Biographien zu initiieren. Die Erzählung der Ich-Erzählerin liest sich zunächst wie die journalistische Recherche über die Biographie eines Verstorbenen, über den sie nur Mutmaßungen anstellen kann, da ihre Gesprächspartnerinnen häufig gegensätzliche Varianten der Lebensgeschichte präsentieren. Darüber hinaus integriert der Text Motive der Kriminalliteratur: Die Ich-Erzählerin ist mit der zunächst unerklärlichen Behauptung eines durch den Verstorbenen verübten Mordes konfrontiert und übernimmt die kriminalistische Aufgabe der Identitätsklärung. Den Roman durchzieht die Frage, wie ein Leben erzählt und aufgeschrieben werden kann. Die Berichte der Ich-Erzählerin über ihre Gespräche mit den ehemaligen Frauen Hirschfelders und mit anderen ‘Informanten’ sind durchzogen und teilweise dominiert von Bewertungen – ‘glatt’, ‘harmlos’, ‘stilisiert’, ‘geschmäcklerisch’, ‘theatralisch’, um nur einige Attribuierungen zu nennen – und Reflexionen der Sprechakte, Artikulationsweisen oder Narrationsmuster ihrer Gesprächspartnerinnen. Die die Redeformen in Frage stellenden Kommentare schließen mitunter auch selbstreflexiv ihren eigenen Gesprächspart und ihre Erwartungen mit ein. Auf einer Metaebene werden außerdem verschiedene Ansätze einer Lebensdarstellung reflektiert: Die IchErzählerin beschäftigt sich mit Hirschfelders Tagebuch, das jedoch nur in den kritischen Resümees der Erzählerin präsentiert wird; es wird erwähnt, dass Hirschfelder an einer Autobiographie mit dem Titel “Die englischen Jahre” (Gstrein: Die englischen Jahre 370) geschrieben haben soll; seine ehemalige Frau Madeleine, durch die die Ich-Erzählerin über die Identitätsvertauschung aufgeklärt wird, arbeitet darüber hinaus an einer Biographie über Hirschfelder und am Ende des Romans ‘schenkt’ die Erzählerin die Geschichte ihrem ehemaligen Lebensgefährten, der daraus einen Roman aus der Perspektive einer weiblichen Ich-Erzählerin verfassen will. Dieser Schriftsteller, der in Anspielung auf W.G. Sebald und dessen Werk Die Ausgewanderten nur als Max bezeichnet wird, fungiert als Reflexionsfigur; auf ihn werden sowohl autoreflexive Selbstkritik als auch prospektive literaturkritische Einwände gegen Gstreins Roman Die englischen Jahre projiziert: Ich weiß noch, wie sehr ihn die Vorwürfe trafen, er hätte sich nur an eine Mode angehängt, es gäbe keinen anderen Grund für ihn, sich mit einem Vertriebenen zu beschäftigen, um so weniger, als es ein Jude war, er wisse nichts vom Exil und hätte bei seinen Dorfgeschichten bleiben sollen. (Gstrein: Die englischen Jahre 10)3 3
Die Auseinandersetzung mit Literaturkritik und Autoreflexion, die in Die englischen Jahre wiederholt am Rande auftaucht, ist Gegenstand des Textes Selbstportrait mit einer Toten, den Gstrein als Seitenstück zum Roman bezeichnet hat.
200 Jenseits der vordergründigen erkenntniskritischen Position, dass jede Version einer Lebensgeschichte sich einer subjektiven Perspektive verdankt und mehrfach vermittelt ist, entfaltet der Roman eine differenzierte rezeptionsästhetische Wirkung, d.h. zahlreiche Aussagen über Hirschfelder verändern ihre Bedeutung, je nachdem, ob sie in der ersten Lektüre ohne Kenntnis der Identitätsvertauschung einem jüdischen Exilierten zugeschrieben werden oder ob sie als Charakterisierungen der Figur Harasser aufgefasst werden, die sich die Identität Hirschfelders angeeignet hat.4 So lassen sich beispielsweise an das Motiv der Erinnerungslosigkeit und der Distanz gegenüber dem Judentum unterschiedliche Deutungen knüpfen. Was sich bei der ersten Lektüre wie die Abwehr eines durch die Nürnberger Rassegesetze zum Juden Erklärten oder auch als ‘jüdischer Selbsthass’ lesen lässt, erscheint unter Berücksichtigung des Identitätswechsels als platter Antisemitismus, so dass durch dieses Vexierbild die Lektüremuster von jüdischen Verfolgungsgeschichten subvertiert werden. Zahlreiche Begriffe aus dem Kontext des Shoahdiskurses werden durch dieses Textverfahren im Roman ironisiert oder entmystifiziert,5 so lassen sich z.B. Störungen und Brüche des Erinnerungsprozesses, die im Kontext der Biographie eines jüdischen Überlebenden vermutlich auf
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Eine ähnliche Veränderung der Bedeutung beschreibt Ruth Klüger in Bezug auf Binjamin Wilkomirskis Roman Bruchstücke, je nachdem, ob der Text als Autobiographie eines jüdischen Überlebenden oder als Fiktion eines nicht-jüdischen Schweizers gelesen wird, der durch paratextuelle Momente die Authentizität einer Autobiographie suggeriert: “Wir haben es mit einem Text zu tun, der sich geändert hat, weil er von einer Gattung in die andere übergegangen ist. Und er liefert uns ein besonders anschauliches Beispiel dafür, dass sich mit diesem Wechsel auch der ästhetische Wert ändert [. . .]. Man mache die Probe aufs Exempel: Eine Stelle, die vielleicht gerade in ihrer naiven Direktheit erschütternd wirkt, wenn man sie als Ausdruck erlebten Leidens liest, und die sich dann als Lüge erweist, verkommt in der Darstellung erfundenen Leidens zum Kitsch” (Klüger). Mögliche Reaktionen auf diesen Fall sind zum einen die Kritik an Wilkomirskis Vorgehen, zum anderen lässt sich daraus aber auch eine Kritik an der Rezeption entwickeln, die sich durch biographische und paratextuelle Momente und nicht von der Qualität eines Textes leiten lässt. Diese Position wurde u.a. von Daniel Ganzfried vertreten, der die Fiktionalität von Wilkomirskis Roman aufgedeckt hat. Nicht thematisiert wird von Klüger die Tatsache, dass Wilkomirskis Authentizitätsbehauptung lange akzeptiert wurde, weil er die Rezeptionserwartungen an Shoahliteratur einkalkulieren konnte, da diese stereotype Formen entwickelt hat. 5 Am Ende des Romans nach Kenntnis über die Identitätsvertauschung wird diese Entmystifizierung auch durch die Erzählerin vollzogen, vgl. Gstrein: Die englischen Jahre 346f.
201 Traumatisierungen zurückgeführt werden würden, durch den Identitätswechsel und den Versuch, diesen zu verbergen, erklären. Aber es war nicht die Tatsache, daß er darüber kaum sprach, die sie beirrte [. . .], es war die Distanziertheit, seine Kälte, und sie habe immer den Eindruck gehabt, er hätte seine Erinnerungen mit ihren ganzen Ungereimtheiten versiegelt, hätte sie mit einer Plombe versehen, er hätte ihnen alles Leben entzogen, und übriggeblieben war eine eingefrorene Version, die ihm nichts anhaben konnte, ein präpariertes Ausstellungsstück. Von entfernten Bekannten hätte er nicht anders reden können, oder von Fremden, auf sie wirkte es dann so, als weigerte er sich, einen Zusammenhang herzustellen, eine Kette, wenn auch eine zerrissene, deren letztes Glied er selbst war. (Gstrein: Die englischen Jahre 136f.)6
Mit Vorstellungen wie der Versiegelung, dem Einfrieren, der Abspaltung von Erinnerung oder der Plombe ruft Gstrein Topoi des Erinnerungsdiskurses auf, die bezogen auf den ‘falschen’ Hirschfelder lediglich auf einen Betrug verweisen und nicht auf einen durch traumatische Erlebnisse gestörten Erinnerungsprozess.7 Die Schwierigkeiten, die mit literarischen Versuchen verbunden sind, sich aus der Perspektive der Nachgeborenen der Geschichte der abwesenden Opfer des Nationalsozialismus anzunähern, werden darüber hinaus in der Figur der Ich-Erzählerin gespiegelt: Zunächst lehnt sie die Einfühlung in den verschwundenen Hirschfelder, dessen Leben kaum Spuren hinterlassen hat, als Anmaßung ab, obwohl in ihrem Kopf sofort Bilder zu seiner Geschichte entstehen (vgl. Gstrein: Die englischen Jahre 254), in der Folge werden aber doch durch die Imagination der Erzählerin die Leerstellen der Geschichte des Lebens und Sterbens Hirschfelders gefüllt. Als die Erzählerin auf der Isle of Man die Gräber der jüdischen Inhaftierten sieht, auf deren Grabsteinen nur deren Namen stehen, wird ihr dieses Bild zur Motivation des Schreibens: Die Geschichten dazu mußte man sich zusammensetzen [. . .], die Leerstellen erscheinen mir manchmal wie eine nachträgliche Rechtfertigung, wenn ich mich frage, warum ich angefangen haben, in Hirschfelders Leben herumzukramen. (Gstrein: Die englischen Jahre 256f.)
Die Situation, in der sich die Ich-Erzählerin bei ihrer Suche nach Spuren des echten Hirschfelder befindet, ist exemplarisch für die Situation nach 6
Zugleich enthält dieses Zitat auch eine ironische Metalepse, indem der ‘falsche’ Hirschfelder nicht nur mutmaßlich Autor einer Autobiographie mit dem Titel “Die englischen Jahre” sein soll, sondern hier auch zentrale poetologische Kategorien Gstreins, nämlich Distanz und Kälte, zitiert werden. 7 Ähnliches gilt für Begriffe wie Überlebensschuld (vgl. Gstrein: Die englischen Jahre 374), “Leerstellen”, “Lücken” und “Auslassungen” (Gstrein: Die englischen Jahre 257, 264, 265) der Erinnerung.
202 dem Tod von überlebenden Augenzeugen. Hirschfelder ist nicht nur durch den Untergang des Schiffes, er ist auch aus der Erinnerung verschwunden. Die Ich-Erzählerin kann niemanden auffinden, der ihn gekannt hat, abgesehen von der Figur Clara – die einzige der Frauen, die Hirschfelder und nicht Harasser kannte –, deren Erinnerungs- und Kommunikationsfähigkeit bereits zerstört sind: “Es war gleich ein mehrfaches Verschwinden, sein Verschwinden von der irischen Küste, sein Verschwinden in Claras Erinnerung” (Gstrein: Die englischen Jahre 371). Die Struktur des Romans alterniert zwischen dem Bericht der weiblichen Ich-Erzählerin über ihre Recherchen in der Gegenwart und der Erzählung eines jüdischen Emigranten aus Wien – datiert auf das Jahr 1940.8 Stilistisch von den Recherchekapiteln der Ich-Erzählerin abgesetzt werden so über den Roman verteilt vier exakt datierte Tage im Mai, Juni und Juli 1940 aus dem Leben des jüdischen Flüchtlings Hirschfelder beschrieben, die die Zeit nach seiner Internierung vergegenwärtigen und – so legt der Roman es nahe – der Imagination der Ich-Erzählerin entspringen. Diese imaginative Annäherung stellt den Versuch dar, die Lücke durch vorgestellte Nähe zu schließen. Erzählt in der zweiten Person changiert die Erzählung zwischen den beiden Möglichkeiten der Selbstadressierung der Figur und der Adressierung der imaginierten Figur durch eine Erzählinstanz; erst am Ende handelt es sich eindeutig um eine Adressierung: Im letzten der Kapitel des Jahres 1940, das mit dem 2. Juli datiert ist, wird der Untergang des Schiffes beschrieben; es endet mit der ausführlichen Beschreibung, wie der Flüchtling im Wasser allmählich das Bewusstsein verliert. Ohne kontextualisierende Einordnungen geben die Passagen über das Jahr 1940 unmittelbar die Erlebnisse der Figur im Internierungslager wieder, die montiert werden mit Erinnerungen an die Zeit vor seiner Flucht aus Wien. Rückblicke des Protagonisten über sein Leben werden durch kurze szenische Passagen, Gesprächsfetzen der anderen Gefangenen unterbrochen, akustische und optische Wahrnehmungen des Protagonisten protokolliert. Der Text erzeugt den Eindruck von Unmittelbarkeit und ist annähernd zeitdeckend erzählt. Im Unterschied zur
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Der Aufbau folgt einer strengen Symmetrie: Bezüglich des Seitenumfangs besteht der Roman genau zur Hälfte aus den imaginativen Passagen in der Vergangenheit und zur anderen Hälfte aus der Recherche der Erzählerin in der Gegenwart, die vier Kapitel, die sich auf diese Recherche beziehen, sind jeweils mit dem Namen einer der Partnerinnen Hirschfelders überschrieben. Die acht Kapitel sind spiegelbildlich angeordnet. Beginnend mit dem Kapitel mit der Überschrift “Margaret” alternieren Kapitel über die Gegenwart und die Vergangenheit, im Zentrum des Romans folgen im vierten und fünften Teil zwei Kapitel über die Ereignisse des Jahres 1940 aufeinander, so dass zwischen dem vierten und dem fünften Kapitel eine Spiegelachse entsteht.
203 distanzierten, reflektierenden und vermittelten Erzählform der Recherche in der Gegenwart sind diese Passagen durch unkommentierte Nähe zu der Figur gekennzeichnet und werden narrativ nicht mit den anderen Kapiteln verbunden. Es stellt sich die Frage nach der Funktion der Kapitel, die sich auf das Jahr 1940 beziehen, abgesehen von dem Überraschungseffekt, der durch die nachträgliche Erkenntnis entsteht, dass sich beide Erzählebenen des Romans auf zwei verschiedene Figuren beziehen. Zum einen wird durch die Markierung des imaginativen Charakters der Vergangenheitspassagen diese Erzählung aus Sicht des Opfers eingeklammert, zum anderen fungiert sie jedoch auch als ein Schreibversuch zum Thema Exil; hier geht es um die Konstruktion einer unmittelbaren Perspektive ohne nachträgliche historische Kontextualisierung. Als Vorbild für diese Perspektivenwahl kann der Roman eines Schicksallosen von Imre Kertész gelten, dessen Nüchternheit immer wieder hervorgehoben wurde. Der jugendliche Protagonist von Kertész’ Roman ist nicht in der Lage, seine Erfahrungen politisch einzuordnen und kommt zu einer völlig unpathetischen und nüchternen Sicht auf die Ereignisse, die deutlich kontrastiert mit nachträglichen Diskursen über die Shoah.9 Diese unmittelbare Perspektive führt sowohl in Kertész’ als auch in Gstreins Roman zu politischen Fehleinschätzungen, indem z.B. beide Protagonisten nicht erkennen, dass ihre eigentlichen Feinde die Nazis sind. Der Roman Die englischen Jahre lässt sich auch als ein Beitrag zu der Frage lesen: Wem gehört die Geschichte der Verfolgten des Nationalsozialismus, wer ist autorisiert sie zu erzählen? Gstrein kontextualisiert den Roman selbst im Hinblick auf die Gegenwartsliteratur jüngerer deutschsprachiger Autoren und Autorinnen, die sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen, sich aber nicht auf eigene Erinnerungen oder Erfahrungen beziehen können. Diese Angewiesenheit auf vermittelnde Medien und Erzählungen oder die eigene Erfindung spiegelt sich in der Erzählkonstruktion des Romans Die englischen Jahre. Er grenzt sich ab von naiven und identifikatorischen
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Das erklärte Anliegen Kertész’ ist eine Entmystifizierung von Auschwitz, indem er eine Perspektive vor dem Wissen über die Shoah rekonstruiert. Die Begrenzung der Perspektive wird dadurch betont, dass keine zeitlichen Vorwegnahmen in der Erzählung des erlebenden Ichs auftreten. In der Beschränkung auf das unmittelbar Gegenwärtige spiegelt sich auch ein Aspekt des Totalitären. Nur die Konzentration auf das im Moment Lebensnotwendige und die völlige Anpassung an die Gesetze der Welt des Lagers können eine Überlebenschance eröffnen. Die Anpassung in Kertész’ Roman ist allerdings so vollständig, dass das erzählende Ich die anderen Gefangenen z.T. aus der Perspektive der Täter betrachtet. Die schockierende Wirkung des Textes basiert auf der Diskrepanz zwischen dem nachträglichen Wissen der Rezipienten und Rezipientinnen und der konsequenten Begrenzung der Erzählperspektive.
204 Formen des Erzählens und mahnt die basale Differenz von Realität und Darstellung an: Die vergleichsweise naive Art des Erzählens geht von einer Abbildbarkeit der Wirklichkeit in der Literatur aus. Ich wollte diese Dinge wieder trennen. Das eine sind Abbildungen und das andere sind die Fakten. Und ich glaube, das ist das Glück bei der Erzählkonstruktion der Englischen Jahre, dass es darin Kapitel gibt, in denen eine weibliche Ich-Erzählerin eine Geschichte recherchiert, und dass es andere Kapitel gibt, die in ihrer Imagination spielen. Man stellt als Leser mehr und mehr fest, daß sich das Recherchierte mit dem Imaginierten nicht deckt. [. . .] Und weiter könnte eigentlich solch eine Erkenntnis nicht auseinanderklaffen, als dass das Recherchierte und Imaginierte sich auf zwei tatsächlich verschiedene Personen beziehen und man nur aus ästhetischer Nachlässigkeit und aus einem Kitschbedürfnis in der Wahrnehmung solcher Geschichten die Differenz zugekleistert hat. (Helbig 16)
Gstrein rekurriert in seinen poetologischen Überlegungen auf ästhetische Fragen aus dem Kontext des Shoahdiskurses, etwa die Frage nach dem Verhältnis von Fakten und Fiktion, Erinnerung und Erfindung, Erzählen durch Reflexion von Darstellungsmöglichkeiten, das Umkreisen einer Leerstelle und das serielle Erzählen verschiedener Versionen von Erinnerungen und Ereignissen, so dass deren Undarstellbarkeit und die Materialität und Mittelbarkeit jeder Repräsentation sichtbar werden.10 10
Darüber hinaus bezieht Gstrein sein Schreiben auch auf die Literatur von Überlebenden, immer wieder genannt werden Kertész, Kis und Semprún (vgl. u.a. Gstrein: Geschichte 49–54). Auch wenn Positionen, die einzig die Literatur von Augenzeugen legitimieren, obsolet sind, besteht meines Erachtens doch eine Differenz zwischen Autobiographien Überlebender und der gegenwärtigen Literatur, die auf der Basis von Recherchen Shoah und Nationalsozialismus reflektiert, so dass die Poetik der von Gstrein als Vorbilder genannten Autoren sich kaum auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur der ‘Nachgeborenen’ übertragen lässt. Distanz und die Metareflexion auf den Prozess des Erzählens und die Notwendigkeit, auch Autobiographisches zu erfinden und zu konstruieren, ist in Erinnerungstexten u.a. eine Reaktion auf die Erfahrung, Vergangenheit und Erinnerung sprachlich nicht adäquat einholen zu können. In Texten der Gegenwartsliteratur, die auf der Basis medial vermittelter Informationen auf die Geschichte Bezug nehmen, erfüllt Distanz beispielsweise die Funktion, eine als Anmaßung und Verfälschung bewertete Einfühlung in die Opfer der Geschichte zu unterlaufen. Auf die Unangemessenheit des Vergleichs mit den genannten Autoren reagiert Gstrein durch eine rhetorische Strategie, die seine poetologischen Äußerungen im Hinblick auf Fragen des Exils und des Nationalsozialismus durchzieht, nämlich das Sprechen “in Klammern oder unter Vorbehalt” (Gstrein/Semprún 34), ein Verfahren, das in Die englischen Jahre eingesetzt wird, um Probleme historischer Repräsentation vorzuführen, in den poetologischen Texten aber vor allem dazu genutzt wird, etwas zu sagen und zugleich die Verantwortung dafür zurückzuweisen.
205 Judentum und Exil In seiner Rede Fakten, Fiktionen und Kitsch beim Schreiben über ein historisches Thema äußert sich Gstrein über die historische Recherche zu seinem Roman Die englischen Jahre. Gstrein orientiert sich zum einen an einer überraschend unbedarften Position faktischer Richtigkeit des historischen Rahmens seiner Geschichte über Internierungen in England am Anfang des Zweiten Weltkrieges und den Untergang der Arandora Star. Zudem verwendet er Fakten zur Rechtfertigung der ihm selbst problematisch erscheinenden Erzählkonstruktion einer Identitätsvertauschung, “die mir viel zu kolportagehaft erschienen wäre [. . .], würde nicht ein historischer Hintergrund dafür existieren” (Gstrein: Fakten 26). Gstrein vertritt die These, dass “bei einem Roman, der ein Spiel mit Fakten und Fiktionen treibt, [. . .] die historischen Hintergründe exakt recherchiert sein” (Gstrein: Fakten 32) müssen, um nicht ästhetisch und historisch beliebig zu sein. Allerdings erfolgt keine Reflexion darüber, aus welchem Material sich der historische Hintergrund konstituiert: weder geht es um Berichte von Zeugen noch um systematisches Wissen, vielmehr richtet sich die Aufmerksamkeit auf zufällige Details, aus denen sich ein “Lokalkolorit” ergibt. Eher sind es zufällige Funde, die als Katalysatoren wirken, winzige Kleinigkeiten, die einen mit einem Wissen weit über das systematische Wissen hinaus versorgen und die dann zu dem beitragen, was man unter anderem vielleicht Lokalkolorit nennt. (Gstrein: Fakten 32)
Als Beispiel eines solchen Fundes nennt Gstrein eine Broschüre der Arandora Star aus dem Jahr 1935, das Wetter im Mai und im Juni 1940 auf der Isle of Man, über das es in einer aktuellen Ausgabe des Guardian einen ausführlichen Bericht gegeben hat, die Beschreibung eines Fliegerangriffs auf einen Flugplatz in der Nähe von Liverpool am 1. Juli desselben Jahres in einer anderen Zeitung oder der Preis für eine Hure in London zu Anfang des Krieges. (Gstrein: Fakten 33)
Gstrein scheint hier nicht die Frage nach dem Verhältnis von Historiographie und Literatur im Blick zu haben, sondern die ästhetische Frage nach einer gelungenen Narration. Im Unterschied zu diesem lokalen historischen Erzählrahmen verzichtet Gstrein im Hinblick auf die Erfahrungen der exilierten Zeitzeugen auf historische Quellen und behält den Bereich der Erinnerungen von Opfern seiner literarischen Konstruktion vor, da das Material, das durch die Konfrontation mit Zeitzeugen entstünde, “sein eigenes Recht verlangen” und ihn in seiner “formalen Freiheit” (Gstrein: Fakten 29) einschränken würde. Die Konzeption einer möglichen ‘sekundären Zeugenschaft’ setzt dagegen gerade bei den
206 Erinnerungsberichten der Überlebenden an, die hier von Gstrein als Quelle seiner literarischen Texte ausgeschlossen werden. Gstrein beschreibt ein mehrfaches “Erschrecken” bei seiner Konzeption des Romans Die englischen Jahre: Sein Erschrecken über das Thema Exil, das im zwanzigsten Jahrhundert ein jüdisches Thema sei, und sein Erschrecken über dieses Erschrecken. Ferner sein Zurückschrecken vor einem Kontakt zu überlebenden Zeugen, die aus ihrer Perspektive berichten würden, sowie das Erschrecken darüber, bestimmte stereotype, tradierte Vorstellungen über das, was jüdisch ist, bei sich selbst zu finden: Das Erschreckende daran ist, zu sehen, daß man offenbar, ob man will oder nicht, formatiert ist, daß man gewisse Schemata, wenn schon nicht mit der Muttermilch, so doch mit der Sprache und mit den Bildern, die einem vorgesetzt werden, aufgenommen hat. (Gstrein: Fakten 23)
Gerade die von Gstrein selbst angeführten Beispiele eines alltäglichen Antisemitismus und Antijudaismus, denen er in seiner Sozialisation begegnet ist, stehen im Widerspruch zu seiner These, dass die jüdische Herkunft der Opfer völlig kontingent sei; diese Ebene historischer Tradierung wird in Gstreins Roman jedoch nicht zum Gegenstand der Reflexion. Vielmehr wird eine Auseinandersetzung mit der jüdischen Herkunft der Opfer ausgespart, diese wird auf eine an sich kontingente Zuschreibung von außen reduziert, um – wie Gstrein anmerkt – der Gefahr zu entgehen, Judentum als Folklore darzustellen. Aus dieser Reduktion des Jüdischen auf eine politische Definition von außen folgert Gstrein, dass es im Hinblick auf den historischen Hintergrund seines Romans für ihn nicht notwendig sei, etwas über das Judentum zu wissen. Der Ansatz, politische Themen exemplarisch und universell zu behandeln und keine partikulare Perspektive einzunehmen, veranlasst Gstrein, in Die englischen Jahre eine Figur zu entwerfen, die “keine Beziehung mehr zu ihrem Judentum hatte” (Gstrein: Fakten 25). Der Vorsatz, keine Stereotypen zu verwenden, führt zu einer Vermeidung des Themas Judentum und zu einer Ignoranz gegenüber historischen Fakten. Gstrein schreibt in der Überzeugung, dass Klischees durch unreflektierte Fiktionalisierung entstehen und im Gegenzug die Integration von Reflexion Klischees und Kitsch verhindere, indem so die Differenz von Fakten und Fiktion markiert werde. Er erklärt die Tatsache, dass er sich nicht für das Judentum der Opfer interessiert, im Rekurs auf den Topos der Unerklärbarkeit und Inkommensurabilität der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden;11 jedoch ist die Formulierung dieses 11
Dan Diner insistiert darauf, dass das Judentum der Opfer nicht ausgeklammert werden kann, sondern konstitutiv ist für das Ereignis. Diner leitet die Singularität der Shoah aus der Tatsache ab, dass es um eine prospektive Vernichtung aller Juden ging, “die jenseits all dessen lag, was nach den Maßgaben utilitaristischer
207 Arguments bei Gstrein in provozierender Weise unterkomplex und unhistorisch: die Position, die Shoah entziehe sich dem Verstehen, wird nicht entfaltet, sondern das Judentum der Opfer als völlig kontingentes Detail dargestellt: ‘Ich dachte aber: Möglicherweise ist es ein Vorteil, nicht sehr viel darüber zu wissen. Wer sehr viel weiß, neigt vielleicht dazu, die jüdische Tragödie erklären zu wollen. Dabei ist es nur grotesk: Genauso wie man zwischen Juden und NichtJuden unterschieden hat, hätte man zwischen Menschen unterscheiden können, die über ein Meter 80, und solchen, die unter eins 80 sind. So blöd war das, da gibt es nichts zu verstehen. Dieses Verstehen-Wollen produziert in vielen belletristischen Büchern zu diesem Thema häufig genug Folklore und Kitsch.’ (Nüchtern 48)
Mit der Wahl einer jüdischen Figur, die keine Beziehung zu ihrer jüdischen Herkunft hat, steht Gstrein in der Tradition der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Sofern jüdische Figuren überhaupt vorkommen, konvertieren sie zum christlichen Glauben (etwa bei Böll und Hochhuth), werden den politischen Gefangenen subsumiert – z.B. in Apitz’ Roman Nackt unter Wölfen –, fungiert das Judentum der Figuren als Metapher für Dissidenz oder Diskriminierung (z.B. in Bachmanns Erzählung Unter Mördern und Irren oder Frischs Andorra); oder die jüdischen Figuren haben keine Beziehung zum Judentum, so z.B. in Anderschs Roman Efraim, der aus der Ich-Perspektive einer jüdischen Figur erzählt wird, die aufgeklärt und kosmopolitisch ist und sich sowohl von der jüdischen Herkunft als auch der These der Einzigartigkeit der Shoah distanziert. Die Tendenz, politische Themen ins Exemplarische und Universelle auszuweiten, zeigt Gstrein auch in Bezug auf das Thema Exil und bezieht es in einem Interview biographisch auf seine Herkunft aus einem kleinen österreichischen Dorf: Zugleich vermute ich, dass diese Biografie, dieses Herkommen aus einem so kleinen Ort sehr viel damit zu tun hat, dass mich die Exilthematik zunehmend interessiert hat. Das Thema findet sich in den ‘Englischen Jahren’, es findet sich im Roman ‘Die Winter im Süden’, und selbst im ‘Handwerk des Tötens’ gibt es Exilbiografien. Ich gehe so weit zu behaupten, dass schon die Hauptfigur meines ersten Buches ‘Einer’ in der dort beschriebenen Dorfgemeinschaft ein Exilierter war, und zwar ein Exilierter aus dem eigenen Leben. (Gansel/ Kaulen 404f.) Rationalität und Selbsterhaltung der Handelnden sonsthin seine Schranken findet. Dass beide Anteile des Geschehens, der partikulare wie der universelle – Shoa und Auschwitz –, auseinanderzutreten vermögen, ist eine nachträgliche Konstruktion. Denn jenes universelle Verbrechen wurde an der Menschheit mittels der Vernichtung einer partikularen Gruppe, eben der Juden, verübt” (Diner 116). Damit richtet sich Diner auch gegen Ansätze einer Universalisierung der Holocausterinnerung, die darauf abzielt, dass sich andere Opfer mit den jüdischen Opfern identifizieren können.
208 Voraussetzung der Auseinandersetzung Gstreins mit Darstellungen der Verfolgung der europäischen Juden ist die Tatsache, dass die Literatur von Augenzeugen und Überlebenden zu einem Ende kommt und sich die Frage stellt, unter welchen Bedingungen in Zukunft literarische Formen der Erinnerung an Verfolgung und Exil der europäischen Juden möglich sind (vgl. Eke/Steinecke). In Äußerungen über die Repräsentation historischer Ereignisse wendet sich Gstrein gegen die im Diskurs über Shoahliteratur auf den Topos der Zeugenschaft rekurrierende Position, nur die Opfer (oder gegebenenfalls deren Nachkommen) seien legitimiert über die Katastrophe zu schreiben. Die Argumente, mit denen unbeteiligten Autoren wie Gstrein das Recht abgesprochen wird, über die Shoah zu schreiben, werden von ihm einem letztlich nationalistischen Identitätsdiskurs zugeordnet (vgl. Gstrein: Geschichte 51–53). Die Laudatio, die Jorge Semprún anlässlich der Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung an Gstrein hielt, kann in diesem Zusammenhang als Autorisierung durch den überlebenden Augenzeugen gedeutet werden, über die Verfolgung im Nationalsozialismus zu schreiben.12 Semprún attestiert Gstrein, eine “Sprache für den Verlust und das Verschwinden” (Gstrein/Semprún 12) zu erfinden. Allerdings arbeitet auch Semprún mit Universalisierungen, die historisch existentielle Erfahrungen auf die Existenz des Schriftstellers übertragen, hier allerdings nicht durch eine Metaphorisierung des Begriffs Exil, sondern den des Überlebens: “Überlebende sind wir. Überlebende sind alle wahren Schriftsteller. Das Schweigen, und den Verlust, und das Verschwinden haben wir überlebt” (Gstrein/Semprún 17). Angesichts der unausweichlichen Tatsache, dass es in Zukunft keine Zeugen mehr geben wird, appelliert Semprún an die folgende Generation von Autoren: Wir brauchen jetzt junge Schriftsteller, die das Gedächtnis der Zeugen, das Autobiographische der Zeugnisse, mutig entweihen. Jetzt können und sollen Gedächtnis und Zeugnis Literatur werden. (Gstrein/Semprún 15)13 12
Allerdings hat Semprún selbst in seinem autobiographischen Text Schreiben oder Leben auf die qualitative Differenz zwischen der Situation der meisten politischen Gefangenen und der deutlich extremeren Erfahrung jüdischer Häftlinge hingewiesen. 13 Alexandre Métraux deutet Semprúns Äußerung jedoch nicht im Sinne einer Konkurrenz von Augenzeugenschaft und Fiktionen der folgenden Generationen, nicht als Appell zur Entweihung oder Infragestellung autobiographischer Zeugnisse, sondern als Wunsch der Fortsetzung von Erinnerung. Aufgrund der Indirektheit der Darstellung in belletristischen Texten wie dem Roman Die englischen Jahre “sprechen die Figuren nicht als Repräsentanten der Überlebenden, und schon gar nicht für sie, sondern für deren Autoren und ihre Vergegenwärtigungsakte. Diese belletristischen Texte stehen außerhalb der Konkurrenz sowohl zur geschichtswissenschaftlichen Textproduktion wie auch zu den Äußerungen der Augenzeugen. Es sind Vergegenwärtigungsmodelle – Modelle dafür, wie die Shoah sagbar bleiben kann” (Métraux 85).
209 Nicht nur wird Gstreins Schreiben durch den Laudator, den er sich ausgesucht hat, autorisiert, Gstrein inszeniert darüber hinaus eine Verwandtschaft zwischen Semprúns – ihm zum Zeitpunkt der Niederschrift von Die englischen Jahre nicht bekannten – Texten und seinem Roman: Zahlreiche Elemente seines Romans erscheinen ihm “wie eine Widerspiegelung von Motiven aus Jorge Sempruns Leben und Werk”, das mache ihn zum bekennenden Plagiator von etwas mir vorher nicht bekannt Gewesenem [. . .], angefangen mit dem jahrelangen Nichtschreiben, über die Identitätsvertauschung, die aus einem nichtjüdischen österreichischen Flüchtling einen jüdischen macht, bis hin zu seinem Exil [. . .]. (Gstrein/Semprún 26f.)14
In seiner kritischen Auseinandersetzung mit Darstellungen von Nationalsozialismus und Shoah beschränkt sich Gstrein allerdings auf (seines Erachtens missglückte oder kitschige) Texte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Die Schwäche von Gstreins poetologischen Positionierungen entsteht somit durch eine polemische Absetzung von unterkomplexen literarischen Texten und ästhetischen Konzepten. Dagegen bezieht Gstrein beispielsweise Texte der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur in seine Überlegungen nicht mit ein. Eine Besonderheit dieser Literatur ist, dass die Autoren und Autorinnen eine andere erinnerungspolitische Position einnehmen als unbeteiligte Autoren wie Gstrein und in vielen Texten autobiographische Aspekte der Familiengeschichte integriert werden. Den poetologischen Vorstellungen entsprechend, die Gstrein in seiner Rede Fakten, Fiktionen und Kitsch beim Schreiben über ein historisches Thema formuliert, arbeitet diese Literatur gegen stereotype und klischeehafte Opferdarstellungen an und unterläuft Formen der Einfühlung oder philosemitische Konstruktionen. Diese repräsentationskritische Literatur entgeht sowohl der Versuchung, sich mit den Opfern zu identifizieren, als auch der von Saul Friedländer beschriebenen Faszination des Faschismus, indem sie “ihre Bedingungen des Sekundären, der Pluralität der künstlerischen Konstruktion und der medialen Vermittlung selber zum Thema macht” (Scherpe 266). Viele der aktuellen literarischen Darstellungen zur Shoah stehen unter einem repräsentationskritischen Vorzeichen und reflektieren darüber hinaus die Formen der öffentlichen und künstlerischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Zu denken ist dabei etwa an die Subversion von Opferidentifikation und
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Dieser unverhohlene Versuch der Autorisierung ist umso erstaunlicher, als Gstrein den Roman Eine Art Liebe von Katharina Hacker aufgrund der Autorisierungsstrategie der Autorin kritisiert hat. Der Roman bezieht sich auf die Lebensgeschichte von Saul Friedländer, die Autorin verweist darauf, dass dieser ihr seine Geschichte selbst überlassen habe.
210 Erinnerungsdiskurs durch Formen der Groteske, Satire oder Parodie bei Autoren wie Robert Schindel, Doron Rabinovici, Maxim Biller, Robert Menasse oder Daniel Ganzfried. Diese andere erinnerungspolitische Position sowie deren Umgang mit dem Thema Judentum bleibt in Gstreins Reflexion über gegenwärtige literarische Bezugnahmen auf Nationalsozialismus und Exil ausgespart, ebenso wie historiographische Ansätze, die sich nicht auf die Sammlung von Fakten beschränken, sondern versuchen, der spezifischen Perspektive der jüdischen Opfer Rechnung zu tragen.15
Krieg: Das Handwerk des Tötens Im Zentrum des 2003 erschienenen Romans Handwerk des Tötens steht die Frage, wie Ereignisse im Kontext eines Krieges dargestellt werden können, indem verschiedene Repräsentationsformen medialer oder literarischer Art zitiert und grundlegend problematisiert werden. Kritische Rezensionen konzentrierten sich vor allem auf die Tatsache, dass die Fabel des Romans auf den im Kosovo getöteten Kriegsberichterstatter Gabriel Grüner bezogen werden kann. Auf der Grundlage einer Rezeption des Textes als mehr oder weniger dokumentarisch wurde der Umgang mit biographischen Daten als unangemessen oder sogar diffamierend bewertet.16 Zwar steht die Fiktionalität des Romans außer Frage, die Provokation und das Spiel mit
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Im Hinblick auf die Epistemologie der Shoah erfährt bei Dan Diner die Opferperspektive eine Privilegierung, insofern als aus der historischen Perspektive der Opfer die Spezifik der Shoah, die sie grundlegend von anderen Genoziden unterscheidet, deutlich wird. Die jüdischen Opfer waren mit der Antirationalität und der Außerkraftsetzung des Prinzips der Selbsterhaltung seitens der Täter konfrontiert – insofern als die Vernichtung ohne Rücksicht auf ökonomische oder kriegsstrategische Interessen exekutiert wurde –, wodurch auch auf Seiten der Opfer antizipierendes rationales Handeln mit Blick auf die eigene Selbsterhaltung unmöglich wurde (vgl. Diner). Für eine an modernen literarischen Verfahren orientierte Form der Autoreflexivität historiographischer Texte plädiert auch Saul Friedländer in seinem psychohistorischen Konzept der Shoah-Forschung. Auch die narrative Darstellung wird erhöhten Ansprüchen im Sinne einer nicht abgeschlossenen, autoreflexiven, polyperspektivischen Erzählung unterworfen, die die Stimme der Opfer miteinbezieht (vgl. Friedländer). 16 Eine grundlegende Kritik erfuhr der Roman Gstreins durch Iris Radisch, die die These vertritt, dass der selbstreflexive Gestus des Textes und die Erzählstrategie, die jede Version der Geschichte wieder durchstreicht, zum Selbstzweck wird und ins Leere läuft, so dass der Krieg in Jugoslawien völlig aus dem Blick gerät und lediglich als thematischer Vorwand für stilistische Spiele und Fehden im Literaturbetrieb dient (vgl. Radisch).
211 dokumentarischen Genres hat Gstrein jedoch einkalkuliert und durch die versförmig angeordnete Widmung des Romans inszeniert: zur Erinnerung an Gabriel Grüner (1963–1999) über dessen Leben und dessen Tod ich zu wenig weiß als daß ich davon erzählen könnte. (Gstrein: Handwerk 8)
Nicht nur ist diese Geste, eine Referenz herzustellen und sie im nächsten Halbsatz einzuklammern, charakteristisch für Gstreins Schreibverfahren, auch das Eingeständnis begrenzten Wissens, welches Erzählen unmöglich macht, ist programmatisch für den Roman, der die Unmöglichkeit des Erzählens einer authentischen Geschichte im Erzählen vorführt. Der inszenierte performative Widerspruch besteht in der Ambivalenz, durch die Widmung einen referentiellen Bezug nahezulegen, dessen Möglichkeit in ihr zugleich negiert wird.17 Im Fokus des Romans steht nicht die Faktizität einer individuellen Lebensgeschichte, sondern das Exemplarische der Biographie.18 Gstreins Aufmerksamkeit in diesem Roman und in anderen literarischen Texten ist auf die Kritik der medialen Darstellung politischer Ereignisse, die Konkurrenz verschiedener Narrationsmuster für Lebensgeschichten, die Konkurrenz von Perspektiven und Versionen einer Geschichte gerichtet sowie auf die Fragen nach der Legitimation, eine Geschichte zu erzählen. Gegenstand der kritischen Reflexion ist nicht nur die Medienberichterstattung über Jugoslawien in den neunziger Jahren, sondern sind auch Repräsentationen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur; auch hier wird ausschließlich auf verfehlte Darstellungsversuche der Situation im ehemaligen Jugoslawien angespielt. Sowohl die Popularität der Kriege in Jugoslawien als Thema der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als auch die Adaption ästhetischer Muster des Holocaustdiskurses können in diesem Zusammenhang auf die Tendenz der Universalisierung des Holocaustdiskurses seit den neunziger Jahren bezogen werden. Maßgeblich für die moralische Durchsetzung einer holocaustbasierten transnationalen kollektiven Erinnerung ist nach Daniel Levy 17
Zum Verhältnis von Fakten und Fiktion im Handwerk des Tötens vgl. Rösch. “Mir ging es bei der Figur um das Exemplarische der Erfahrung von jemandem, der als Beobachter und scheinbar Unbeteiligter in einen Krieg geht, und ich kann nicht sagen, wo bei all dem Gabriel Grüner bleibt, was auf ihn zutrifft und was nicht” (Gstrein: Geschichte 23). 18
212 und Natan Sznaider der westliche Diskurs über den Kosovo-Krieg.19 Voraussetzung für die Umcodierung des Diskurses und die Herstellung einer Analogie zum Nationalsozialismus ist die Ausblendung der historischen Rollen der Konfliktparteien. Die Serben als historische Gegner der Nazis werden nun mit den Nazis parallelisiert, Muslime mit Juden etc.20 Die Konflikte der Gegenwart werden dementsprechend nicht mehr in Bezug gesetzt zu den Balkankonflikten während des Ersten und Zweiten Weltkriegs, sondern zum Holocaust. Ferner wird durch die Universalisierung des Holocaust – so die Argumentation von Levy und Sznaider – als dritte Position neben Tätern und Opfern die des Zeugen oder Zuschauers eingeführt. Historisch gesehen handelt es sich um die amerikanische Perspektive, die “aber von den sogenannten Opfer- und Täterkollektiven übernommen werden” (Levy/Sznaider 177) kann. Die Position des unbeteiligten Zeugen kann im Diskurs über die Kriege im ehemaligen Jugoslawien erstmals wieder von Deutschen besetzt werden. Mit dem Kosovokrieg wurde der Holocaust auch für Deutsche (und von Deutschen) zu einer universalen Metapher umgedeutet. Das Motto ‘Nie wieder Auschwitz’ ertönt nicht mehr ausschließlich aufgrund einer partikularen Erfahrung des Holocaust, sondern aufgrund des Wunsches, die täterzentrierte Erinnerung durch die Zeugenperspektive zu ersetzen. (Levy/Sznaider 191)
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Der Diskurs über die Jugoslawienkriege hat nicht nur Verbindungen und Analogien zu Nationalsozialismus und Shoah aktiviert, sondern darüber hinaus auch eine Überblendung der Verfolgung der europäischen Juden mit der Geschichte der Zwangsmigration der Deutschen befördert. Bilder von Lagern und Flüchtlingsströmen wurden nicht nur rückprojiziert auf die Judenverfolgung, sondern auch auf Flucht und Zwangsmigration von Deutschen aus Osteuropa – mit der Konsequenz, dass Teile der Ikonographie der Shoah auch auf deutsche Opfernarrative bezogen wurden. Eine Überblendung, die auch hinsichtlich literarischer Darstellungen der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist, indem Verfahren und ikonographische Topoi, die sich im Rahmen der Shoahliteratur etabliert haben, auf das Thema Flucht und Zwangsmigration übertragen werden. Stephan Braese hat diese Übertragung in Bezug auf Jirgls Roman Die Unvollendeten beschrieben. Es wird “in genauer Parallelführung zu Schlüsselszenen aus der Geschichte des Holocaust eine Erzählung der Vertreibung verfasst, das die Einheit einer Geschichte des, wie es einmal heißt, ‘Ewigen Deportierten aus allen Jahrhunderten’ suggeriert” (Braese 27). Ein weiteres Beispiel wäre der Roman Niemandszeit von Jörg Bernigs. 20 Die Kontroverse um Peter Handke und seine Parteinahme für Serbien basiert darauf, dass Handke sich weigert, diese Umcodierung vorzunehmen, indem er auf dem Täter-Opfer-Schema in Kontinuität zu den Konfliktparteien im Zweiten Weltkrieg beharrt. Handke bedient sich jedoch ebenso wie die Gegenseite der Analogie zum Zweiten Weltkrieg, wenn er Parallelen zwischen der NATO und dem nationalsozialistischen Deutschland zieht (vgl. Handke).
213 Dieser Befund ist insofern für die Texte Gstreins relevant, als er die Perspektive des Zeugen, der keine Partei ergreift, präferiert und sich einer Rhetorik bedient, die durch den Erinnerungsdiskurs im Kontext des Nationalsozialismus präfiguriert ist. Entsprechend der Korrelation von Kosovo-Krieg und Zweitem Weltkrieg rekurriert Gstrein auch im Roman Handwerk des Tötens sowie in dem Essay Wem gehört eine Geschichte? auf Topoi des Diskurses über die Darstellbarkeit von Shoah und Nationalsozialismus, wenn er die Unmöglichkeit von Einfühlung postuliert, extreme historische Ereignisse als “Leerstelle” bezeichnet, die nur umkreist, aber nicht repräsentiert werden können, sich auf die Obszönität von Verstehen und distanzloser Abbildung bezieht, Unsagbarkeitstopoi verwendet oder darauf insistiert, dass Unmittelbarkeit weder wünschenswert noch möglich ist, eine adäquate Darstellungsform Gstrein zufolge dagegen autoreflexiv Formen der Vermittlung ausstellt oder verschiedene Versionen von Geschichten anbietet, die niemals das Ereignis treffen. Im Hinblick auf Das Handwerk des Tötens hat Gstrein die Aporie aller Repräsentationsansätze folgendermaßen beschrieben: Das heißt, Schreiben über den Krieg bedeutet immer auch: Man wird scheitern. Und ich mache es dann so, dass ich mir verschiedene andere Versuche, über den Krieg zu schreiben, anschaue und zu jedem einzelnen sage: So geht es nicht. Jeder Versuch, der mir vorliegt, ist also ein Fehlversuch. Aber dadurch, dass ich all diese Fehlversuche zu beschreiben versuche, kreise ich eine Leerstelle ein, und in dieser Leerstelle könnte genau der Effekt liegen, dass ich doch etwas über den Krieg sage. Mit der hässlichen Voraussetzung natürlich, dass ich damit eine ganze Reihe von Kollegen angreife. (Gstrein: Grenze des Sagbaren 63)21
Kritisiert Gstrein in Bezug auf journalistische und literarische Darstellungen vor allem die Klischeehaftigkeit, Unmittelbarkeit und Drastik von Sprache und Bildlichkeit, so bedient er sich in seinen Annäherungsversuchen an das Ereignis des Krieges einer Ästhetik der Negation, die sich von einer Ästhetik der Repräsentation nationalsozialistischer Verbrechen herschreibt und vor dem Hintergrund einer bis in die 1950er Jahre zurückreichenden ästhetischen und literarischen Tradition selbst stereotyp zu werden droht, wenn Gstrein von der Anwesenheit der Abwesenheit spricht, der Leere der Nachkriegslandschaften, der “anderen Stille” oder der Obszönität der Friedlichkeit eines Dorfes in Anbetracht der Zerstörung (vgl. Gstrein: Geschichte 23–26). 21
Gstreins Darstellungsversuche beziehen sich nicht auf das Kriegsereignis, sondern dessen verfehlte Repräsentationen in der deutschen Gegenwartsliteratur und Presseberichterstattung. Die dem Diskurs über den Nationalsozialismus entliehene Rhetorik wird so auf einen grundlegend anderen Gegenstand verschoben, kann aber die Funktion erfüllen, Gstreins literarisches Konzept mit Bedeutsamkeit aufzuladen.
214 Mit negativem Pathos beschreibt Gstrein auch seine Weigerung, den Ort des Todes von Gabriel Grüner aufzusuchen: Den Ort im Kosovo, an dem Gabriel Grüner erschossen worden ist, habe ich nie aufgesucht. Es war ein Tabu für mich, dorthin zu fahren, geradeso, als bestimmte die eingehaltene Entfernung die Distanz meines Schreibens zu seinem Leben. Herausgekommen sind dadurch am ehesten Kreisbewegungen um die Leerstelle seines Todes, den Abgrund, in dem alle Fiktionen ins nur mehr Faktische fallen wie in ein riesengroßes schwarzes Loch. (Gstrein: Geschichte 103)
Gstrein operiert mit der Differenz von Nähe und Distanz (vgl. u.a. Gstrein: Geschichte 66, 35f.). Nähe als ästhetische Kategorie ist bei Gstrein negativ konnotiert und verbunden mit medialen Formen der Repräsentation, die etwa durch drastisches Bildmaterial auf Sensation abzielen. Ferner wird der Begriff der Nähe auf literarische Formen bezogen, die Effekte von Unmittelbarkeit und Authentizität erzeugen,22 die Einfühlung in die Opfer der Geschichte intendieren und auf identifikatorische Lektüre abzielen, häufig verbunden mit stereotypen Narrationsmustern. Distanz meint im Gegenzug Formen autoreflexiven Schreibens und Techniken, die die Mittelbarkeit und die Konstruktion von Narrationen ausstellen. Teil des Programms der Distanz ist für Gstrein der Verzicht auf Parteinahme bzw. die Position des unbeteiligten Zeugen. So kritisiert er im Hinblick auf Handkes Reaktionen auf die Kriege im ehemaligen Jugoslawien, dass dieser sich zu einer Positionierung hinreißen lasse (vgl. Nickel). Gerade nicht die Zeugenschaft und Nähe, sondern die Distanz zum historischen Ereignis wird von Gstrein als politische und ästhetische Bedingung adäquater Repräsentation postuliert. Der Rekurs auf die Kategorie der Distanz – wobei Distanz auch mit der Kategorie Kälte gekoppelt und als Antithese zu Teilnahme konzipiert wird – steht nicht nur in Relation zu ästhetischen Programmen von Sachlichkeit und Nüchternheit, sondern auch zu Tendenzen der Historisierung von Nationalsozialismus und Shoah innerhalb der Geschichtsschreibung (vgl. Berg). Gstrein wehrt sich zum einen gegen eine durch mediale Kriegsbilder aufgezwungene Nähe zum Ereignis, zum anderen versucht er auf einer autobiographischen Ebene eine Verbindung zum Land herzustellen, die sein Schreiben in Gang setzt und auf einer atmosphärischen und alltagsgeschichtlichen 22
Als Effekt literarischer Authentizität lassen sich Verfahren analysieren, die auf Unmittelbarkeit abzielen und versuchen, die Darstellung und ihre Medialität zu verdecken. Unter stilistischen Aspekten lässt sich somit eine Repräsentationsform als ‘authentisch’ bezeichnen, die sich entweder einer Rhetorik des Tatsächlichen oder einer Rhetorik der Anti-Rhetorik bedient und damit die Illusion erzeugt, nur passives Medium einer Botschaft zu sein, gleichgültig, ob es sich um die Übermittlung historischer Ereignisse oder persönlicher Erlebnisse handelt. Zu Authentizitätseffekten in Repräsentationen der Shoah vgl. Lange.
215 Ebene angesiedelt ist: Männlichkeitsrituale, Provinzialität, patriarchalische Strukturen und die katholische Tradition fungieren als “das Gemeinsame”, so dass ihm Pale bei seinem ersten Besuch “wie ein aufgeblasener und gleichzeitig heruntergekommener Wintersportort irgendwo im tiefsten Österreich” (Gstrein: Geschichte 32f.) erscheint. Die Reflexion über den Krieg in Jugoslawien versucht, diesen nicht als etwas exotisch Fremdes und Monströses wahrzunehmen, sondern an Bekanntes anzuschließen: Ich hatte die Idee, mit meinem Roman, wie auch immer verzerrt, unter anderem einen Teil meiner Herkunftsgeschichte zu erzählen, und es ist dabei nicht einmal wichtig, wie sehr das bloß eine Projektion war, [. . .] Hauptsache, es ist eine Prämisse, die mein Schreiben in Gang gesetzt und mich vor der Gefahr bewahrt hat, über die Grausamkeit des Krieges so zu schreiben, als wäre dergleichen nur auf dem Balkan möglich. (Gstrein: Geschichte 31)
Aus der immanenten Logik des Schreibprozesses wird so die Verbindung des Autors zum Krieg in Ex-Jugoslawien motiviert, auf einer politischhistorischen Ebene erscheint die Wahl der spezifischen Thematik jedoch relativ beliebig. Wie in Die englischen Jahre bedient sich Gstrein auch im Handwerk des Tötens verschiedener Distanzierungsstrategien und verweigert das Erzählen einer Geschichte, indem er in einer verschachtelten Erzählkonstruktion verschiedene Perspektiven auf die moralisch fragwürdige Figur und Lebensgeschichte des Kriegsberichterstatters Altmayer präsentiert. Die Quelle des Ich-Erzählers zu dieser Geschichte sind wiederum die Erzählungen anderer Figuren und deren durchweg als verfehlt bewerteten Darstellungsversuche. Zwar stehen auch in Die englischen Jahre erkenntnis- und medienkritische Reflexionen im Mittelpunkt, durch eine komplexe Erzählkonstruktion gelingt es Gstrein jedoch, eine Reflexion über Erwartungen an NS-reflexive und ‘jüdische’ Literatur zu initiieren und durch die imaginative Erzählung aus der Perspektive eines Emigranten einen Erzählversuch im Kontext der Erinnerungsliteratur zu entwerfen. Im Handwerk des Tötens beschränkt sich Gstrein jedoch im Wesentlichen auf eine Kritik der Präsentation der Jugoslawienkriege in Kriegsreportagen und Belletristik, so dass sich die Frage stellt, ob durch die Präsentation von relativ undifferenzierten “Fehlversuche[n]” der Darstellung des Krieges “etwas über den Krieg” gesagt werden kann, wie es Gstrein für sich in Anspruch nimmt (vgl. Gstrein: Grenze des Sagbaren 63).
Literatur Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung. Göttingen: Wallstein 2003. Stephan Braese: Die Ich-Erzähler. Flucht und Vertreibung – wie kann man angemessen erinnern? Fragen wir die neuere deutsche Literatur. In: Tagesspiegel 10.5.2004. S. 27.
216 Dan Diner: Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust. Göttingen: Wallstein 2007. Susanne Düwell: “Ein Toter macht noch keinen Roman”. Literarische Repräsentationen des Krieges in Norbert Gstreins Roman Handwerk des Tötens und Peter Handkes Unter Tränen fragend. In: Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien. Band 2: Ideologisierungen und Entideologisierungen. Hg. von Stephan Jaeger/Christer Petersen. Kiel: Ludwig 2006. S. 92–117. Norbert Otto Eke/Hartmut Steinecke (Hg.): Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Berlin: E. Schmidt 2006. Saul Friedländer: Trauma, Erinnerung und Übertragung in der historischen Darstellung des Nationalsozialismus und des Holocaust. In: Die Juden in der europäischen Geschichte. Hg. von Wolfgang Beck. München: C.H. Beck 1992. S. 136–151. Carsten Gansel/Heinrich Kaulen: “Der Sprachlosigkeit eine Sprache entgegensetzen” – Gespräch mit Norbert Gstrein. In: Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Hg. von dens. Göttingen: V&R unipress 2011. S. 403–411. Norbert Gstrein: Die englischen Jahre. Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. ———: Handwerk des Tötens. Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. ———: Selbstportrait mit einer Toten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. ———: Wiener Rede. Fakten, Fiktionen und Kitsch beim Schreiben über ein historisches Thema. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. ———: Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. ———: “Die Grenze des Sagbaren verschieben”. Ein Gespräch mit Norbert Gstrein. In: Kritische Ausgabe 9.1 (2005). S. 61–67. Norbert Gstrein/Jorge Semprún: Was war und was ist. Reden zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung am 13. Mai 2001. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. Peter Handke: Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. Geoffrey Hartmann: Intellektuelle Zeugenschaft und die Shoah. In: “Niemand zeugt für den Zeugen”. Erinnerungskultur nach der Shoah. Hg. von Ulrich Baer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. S. 35–52. Axel Helbig: Der obszöne Blick. Zwischen Fakten und Fiktion. Gespräch mit Norbert Gstrein am 16. Januar 2005. In: Norbert Gstrein. Hg. von Kurt Bartsch/Gerhard Fuchs. Graz: Literaturverlag Droschl 2006. S. 9–29. Ruth Klüger: Kitsch ist immer plausibel: Was man aus den erfundenen Erinnerungen des Binjamin Wilkomirskis lernen kann. In: Süddeutsche Zeitung 30.9.1998. Sven Kramer: Erzählen im Nachkrieg. Zu Norbert Gstreins Roman “Die Winter im Süden”. In: Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Hg. von Carsten Gansel/Heinrich Kaulen. Göttingen: V&R unipress 2011. S. 137–163. Sigrid Lange: Authentisches Medium. Faschismus und Holocaust in ästhetischen Darstellungen der Gegenwart. Bielefeld: Aisthesis 1999. Robert Leucht: Die Gestalt der Abwesenheit: Emigrantenfiguren in Norbert Gstrein Die englischen Jahre und Nachwelt von Marlene Streeruwitz. In: Norbert
217 Gstrein. Hg. von Kurt Bartsch/Gerhard Fuchs. Graz: Literaturverlag Droschl 2006. S. 93–107. Daniel Levy/Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. Alexandre Métraux: Über die Verarbeitung der Shoah in der Belletristik. In: Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Moshe Zuckermann. Göttingen: Wallstein 2003. S. 63–86. Gunther Nickel: “Eine Figur, die sich verrannt hat”. Interview mit Norbert Gstrein. In: Volltext. Zeitung für Literatur 7.4 (2008). S. 24–25. Klaus Nüchtern: Rezension. Versuch ein Mann zu sein. In: Falter 28.7.1999. S. 48. Iris Radisch: Tonlos und banal. Wie Norbert Gstrein in seinem Roman Das Handwerk des Tötens nichts über einen ermordeten Journalisten erzählen will. In: Die Zeit 22.12.2003. Gertrud Maria Rösch: Wem gehört eine Geschichte? Über die Möglichkeiten und Grenzen der Fiktionalisierung von Realität. In: Justitiabilität und Rechtmäßigkeit. Verrechtlichungsprozesse von Literatur und Film in der Moderne. Hg. von Claude D. Conter. Amsterdam-New York, NY: Rodopi 2010 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 73). S. 217–228. Edward W. Said: Reflections on Exile and Other Essays. Cambridge, MS: Harvard University Press 2002. Klaus R. Scherpe: Von Bildnissen zu Erlebnissen. Wandlungen der Kultur “nach Auschwitz”. In: Literatur und Kulturwissenschaften. Hg. von Hartmut Böhme/ dems. Reinbek: Rowohlt 1996. S. 254–282. Katja Stopka: ‘Beobachtete Beobachter’. Literarische Derealisierungstendenzen von Kriegsperspektiven. Am Beispiel der Journalistenromane Die Fälschung von Nicolas Born und Das Handwerk des Tötens von Norbert Gstrein. In: Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Hg. von Carsten Gansel/Heinrich Kaulen. Göttingen: V&R unipress 2011. S. 119–136. Waltraud Wara Wende: Als erstes stirbt die Wahrheit. Fakten und Fiktionen im intermedialen Diskurs. Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens. In: Imaginäre Welten im Widerstreit. Hg. von Lars Koch/Marianne Vogel. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. S. 169–183.
Katja Stopka
Sekundäre Zeugenschaft in postmemorialer Literatur. Katharina Hackers Eine Art Liebe The post-memory generation cannot bear witness to the Holocaust as they do not possess the authenticity of memory. Nevertheless, the later-born generation is faced with the responsibility of obtaining information about the experiences and memories of Holocaust survivors – besides the general acquisition of historical knowledge – with the purpose of conserving it and passing it on. This responsibility may be specified in the concept of ‘secondary testimony’; by listening to witnesses of history, the postmemory generation in turn become witnesses to the memories and narrations of the first-hand witnesses. In her novel Eine Art Liebe (A Kind of Love) Katharina Hacker explores the narrative potential and the limits of such secondary testimony. From the dual point of view of a witness to history and a later-born woman, Hacker tells about the difficulties and opportunities of remembrance narration and its reconstruction. In this process, the reader is made to realize the whole dimension of the incomprehensible both in the survivors’ burden and in the dowry of the later-born.
I. Die literarische Annäherung an den Holocaust fordert auch 65 Jahre nach der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager zu immer neuen Kontroversen heraus. Eine der jüngeren Debatten betrifft nach Jonathan Littells Roman Les Bienveillantes (2006, Die Wohlgesinnten, 2009) erneut einen französischsprachigen Roman, der 2009 in Frankreich erschienen ist und seit 2011 nun auch in der deutschen Übersetzung vorliegt. Es handelt sich um den mehrfach preisgekrönten Roman Das Schweigen des Jan Karski (im Original Jan Karski) von Yannick Haenel. Der Autor, Jahrgang 1967, hat sich mit dem legendären Kurier der polnischen Exilregierung einer historischen Persönlichkeit literarisch angenommen, die 1943 die Gelegenheit bekam, in höchsten Regierungskreisen Großbritanniens und der USA von den Geschehnissen in den nationalsozialistischen KZs und Ghettos zu berichten. Dieser Tatbestand ist der Ausgangspunkt von Haenels Roman, der sich in drei sehr unterschiedlich angelegten Kapiteln der Frage nähert, warum die Alliierten trotz der Kenntnisnahme der Judenvernichtung nicht bereits 1943 dagegen eingeschritten sind. Das erste Kapitel des Romans beinhaltet eine Beschreibung jener Filmsequenz aus Claude Lanzmanns Film SHOAH (1985), in der der in die USA immigrierte Jan Karski dem Regisseur 1978 nach einer langen Phase des Schweigens von dem erzählt, was er als heimlich eingeschleuster Augenzeuge in einem Vernichtungslager und im Warschauer
220 Ghetto mit ansehen musste.1 Das zweite Kapitel ist eine Zusammenfassung von Karskis autobiographischem Bericht über seine Erlebnisse als Kurier im Aufrag der polnischen Exilregierung, dessen Veröffentlichung unter dem Titel The Story of a Secret State im Jahre 1944 zwar zunächst für großes Aufsehen vor allem in den USA gesorgt hatte, dann aber weitgehend in Vergessenheit geriet (vgl. Karski). Die Handlung des dritten Kapitels ist im Unterschied zu den vorangegangenen Teilen, die sich auf konkrete Dokumente und auf die Autobiographie Karskis beziehen, rein fiktiv. Angelegt als ein innerer Monolog Karskis wird in einem unverkennbar anklagenden Ton darüber nachgedacht, warum die alliierten Regierungen und hier besonders der amerikanische Präsident Roosevelt den europäischen Juden keine Hilfe geleistet und nichts zur Verhinderung des Holocaust beigetragen haben. Im Zentrum dieses Kapitels steht ein imaginiertes Gespräch Karskis mit Roosevelt. Dieses fiktive Gespräch inszeniert der Autor Haenel als Skandalon, insofern er dem Präsidenten ein weitreichendes Desinteresse an dem Bericht des polnischen Kuriers über die Judenvernichtung andichtet. Mit anderen Worten: Haenels Roman entpuppt sich als eine literarische Anklage, die anhand der Teilfiktionalisierung einer Biographie die Mitverantwortung der Alliierten an der Judenvernichtung behauptet. Dass er als Autor der Nachgeborenen-Generation historischen Personen eine fiktive Stimme gegeben hat, ist wohl der größte Vorwurf, dem sich Haenel in der Kontroverse um sein Buch gegenübersah. Losgetreten wurde sie von niemand anderem als von Claude Lanzmann. In der französischen Zeitschrift Marianne wirft er in dem Artikel ‘Jan Karski’ de Yannick Haenel: un faux roman dem jüngeren Autor neben Plagiatsbezichtigungen vor, eine Fälschung der Historie und ihrer Akteure vorgenommen zu haben: Haenel sei zu jung und ahnungslos für eine ernstzunehmende Einschätzung der damaligen Zeit und Umstände. Als Nachgeborener stünde es ihm nicht zu, über die Kriegs- und Nachkriegszeit ein Bild zu zeichnen, das vollständig an Fakten, Personen und damaligen Lebensumständen vorbeigehe (vgl. Lanzmann: Jan Karski). Auch wenn man einigermaßen verblüfft darüber sein kann, dass Lanzmanns einschlägig bekannte Vorbehalte gegen jede Art von Fiktionalisierung des Holocaust schon wieder eine öffentliche Debatte hervorrufen konnten, verweist eben diese Debatte einmal mehr auf die nach wie vor bestehende Sensibilität, die im öffentlichen Umgang mit dem Holocaust geboten ist. 1
Claude Lanzmann hatte zunächst nur Ausschnitte des zweitägigen Interviews mit Jan Karski in seinen Film SHOAH integriert. 2010 veröffentlichte er als Reaktion auf Haenels Roman das bis dahin unveröffentlichte Interviewmaterial unter dem Titel Le Rapport Karski, dessen zweisprachige Erstausstrahlung auf Arte am 17. März 2012 erfolgte und das mittlerweile auf DVD unter dem deutschsprachigen Titel Der Karski-Bericht erhältlich ist.
221 Hält sich das Erregungspotential bei der Fiktionalisierung von historischen Persönlichkeiten anderer Epochen in Grenzen, sieht es bei der Literarisierung von öffentlichen Personen und Zeitzeugen des Holocaust offenkundig anders aus – werden damit nach wie vor Tabus verletzt. Oder um einen Begriff der Narratologin Dorrit Cohn aufzunehmen: Die Referenz-Irrelevanz der Literatur hat hier anscheinend keine Gültigkeit, insofern der Maßstab der Historiographie angelegt wird, für deren Narrativitätsstruktur implizite Verweise auf tatsächliches Geschehen und explizite Quellenverweise notwendige Referenten sein müssen (vgl. Cohn; Herrmann 79). Lanzmanns Haltung als singulär abzutun, wäre denn auch zu einfach. Zu beobachten ist, dass postmemoriale Literatur über den Holocaust umso kritischer unter Beobachtung steht, je stärker der Abschied von den Zeitzeugen in das öffentliche Bewusstsein rückt. Befürchtet wird, dass Fiktionalisierungen die historischen Ereignisse und die Zeugnisse der Holocaust-Überlebenden zunehmend zu verdrängen drohen. Dieser Befürchtung liegt ein Verständnis des Holocaust als eines Zivilisationsbruchs zugrunde, das in ihm eine Zäsur im Kontinuum des Denk-und Darstellbaren erkennt und daher nur das Zeugnis persönlicher Erfahrung als Darstellungsform zu akzeptieren vermag, wie dies etwa James E. Young herausgearbeitet hat (vgl. Young 23ff.). Auch wenn man solchen Einwänden nicht vorbehaltlos zustimmen kann, bleibt die Zwiespältigkeit des Fiktiven bzw. der Fiktionalisierung in diesem Grenzbereich bestehen, ohne wahrscheinlich je in die Eindeutigkeit einer Legitimierung oder Ablehnung überführt werden zu können. Zwiespältig insofern, als die Erfahrung zeigt, wie fiktionale Erzählungen, die keine Authentizität beanspruchen, zu Referenten wirklichen Geschehens avancieren, weil sie in der Erinnerung des Einzelnen und durchaus auch im kulturellen Gedächtnis häufig nicht als Fingiertes bleiben, sondern als Darstellung von Realhistorie.2 Man denke nur an den Wilkomirski-Fall als ein prominentes Beispiel für eine solche Verwischung.3 Nicht selten kommt es vor, dass Zeithistoriker und -historikerinnen auf (vermeintliche) Zeitzeugen stoßen, deren Erinnerungen, wie sich herausstellt, sich nicht auf Selbstgesehenes und Selbsterlebtes, sondern auf Fiktionalisiertes wie etwa Literatur stützen (vgl. Welzer/Markowitsch 27). 2
Das Verhältnis von Fiktionen und Fakten unter Aspekten der ‘false memory’ zu erörtern, haben vor allem Erinnerungsgeschichte und kulturelle Gedächtnisforschung vorgeschlagen und damit ein neues Forschungsfeld eröffnet (vgl. Markowitsch/ Welzer; Fried; Dieckmann/Schoeps). 3 Auf den weithin bekannten Fall des Binjamin Wilkomirski und seines Buches Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 im Kontext des Phänomens der ‘false memory’ soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Zum Fall wie zur Debatte vgl. Dieckmann/Schoeps; Oels.
222 Was aber ist zu tun, wenn es Zeitzeugen bald nicht mehr geben wird, die die Zäsur bezeugen können? Sich allein auf die dokumentierten und somit in den Stand von Archivmaterial gesetzten Überlieferungen verstorbener Zeitzeugen zu stützen, wird nicht genügen, um den Schrecken und das Wissen über diesen Zivilisationsbruch in Zukunft wachzuhalten und den Dynamiken der gesellschaftlichen Diskurse über das katastrophische 20. Jahrhundert gerecht zu werden. Wie aber können alternative Zugangs- und Schreibweisen aussehen, ohne dass dabei die Stimmen derjenigen, die nun nicht mehr sprechen können, ihre Authentizität einbüßen oder gar ganz ausgeblendet werden? Haenels Buch wie die Debatte darum konturieren diese wichtigen Fragen postmemorialer Vermischung von Zeugnissen und Fiktionalisierungen des Holocaust unter ethischen wie ästhetischen Gesichtspunkten aufs Neue – und das wiederum verweist auf den nach wie vor bestehenden Orientierungsbedarf im deutschen wie im europäischen Kontext.
II. Der Historiker Norbert Frei hat in diesem Zusammenhang in der ZEIT von einem “erinnerungspolitischen Gezeitenwechsel” (Frei) gesprochen. Mit dem Sterben der Zeitzeugen vollzieht sich ein Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis, und dies führt zu einer Historisierung des Holocaust, der nun bald nicht mehr zur Zeitgeschichte gehören wird. Im Unterschied zu der Erlebnisgeneration und zu der Generation der Nachkriegsgeborenen erhalten schon jetzt viele jüngere Autoren und Autorinnen ihr Wissen und ihre Kenntnisse von Judenverfolgung und -vernichtung kaum mehr durch Erzählungen von Zeitzeugen selbst, sondern überwiegend durch historische und mediale Vermittlung. Gleichwohl verschließt sich diese jüngere Autoren-Generation im deutschsprachigen Raum diesem Thema nicht: als postmemory-Generation im Sinne Marianne Hirschs (vgl. Hirsch 22) stellt sie sich vielmehr der Frage, wie die aus der primären Zeugenschaft erwachsenen Erfahrungen und Narrative weiterzugeben sind, ohne sie zu simulieren und ohne unbedacht in die Rolle von Opfern wie Tätern zu schlüpfen und damit einer Verkitschung des Holocaust zuzuarbeiten.4 Eine spezifische Art der Annäherung ist etwa die Literarisierung des Holocaust auf der Grundlage von Zeitzeugenberichten, wie dies Yannick Haenel unternommen hat. Aber auch in deutschsprachigen Texten, etwa von Norbert Gstrein, W.G. Sebald und Katharina Hacker wird der
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Die Gefahr der Verkitschung des Holocaust hat Saul Friedländer in seiner Studie Reflets du nazisme (dt. Kitsch und Tod) als politisch-ästhetisches Phänomen des ausgehenden 20. Jahrhunderts untersucht.
223 Zugang über die Thematisierung der Zeitzeugenschaft gewählt.5 Anhand von realen, aber auch fiktiven Biographien wird sich so der Problematik des Verhältnisses von Zeitzeugenschaft und ihrer literarischen Überlieferungsmöglichkeiten durch die signifikante Differenz eines Anderen genähert. Ihr Selbstverständnis beziehen solche postmemorialen Texte mithin auch nicht daraus, Ereignis- bzw. Erlebnisgeschichten zu erzählen. Insofern sie unter der Prämisse des Nicht-Selbstverbürgten erzählerisch aber dennoch Prozesse des Verbürgens darstellen, problematisieren und auch selbst bezeugen wollen, handeln ihre Narrative von den Differenzerfahrungen, die sich aus der Wahrnehmung des Erlebens und Erinnerns des Anderen ergeben und die sich in den Zwischenräumen von kommunikativ und kulturell Überliefertem wie Verschwiegenem entfalten. Im Folgenden wird dies am Beispiel von Katharina Hackers Roman Eine Art Liebe, der 2003 erschienen ist, näher beleuchtet.
III. Der intertextuelle Bezugsrahmen von Hackers Text ist ähnlich wie bei Haenels Jan Karski ein biographischer. Ihrer Geschichte liegt das 1978 in Frankreich erschienene Buch Quand vient le souvenir (Wenn die Erinnerung kommt, 1979) von Saul Friedländer zugrunde (vgl. Heuser). In ihm hat der Historiker des Holocaust seine eigene Überlebensgeschichte in einem französischen Internat und die damit verbundene Verlusterfahrung in Bezug auf seine in Auschwitz ermordeten Eltern schreibend zu verarbeiten versucht. Obwohl diese Bezugnahme auf der Handlungsebene des Romans nur implizit erfolgt, so ist sie doch in einem Nachwort paratextuell gekennzeichnet. Dieses Buch ist Saul Friedländer gewidmet. Wer seinen autobiographischen Essay [. . .] gelesen hat, wird in diesem Buch seine Geschichte erkennen. Zwar haben meine Figur Moshe Fein und Saul Friedländer (soweit ich das beurteilen kann) keinerlei Ähnlichkeit, aber die Erzählung von Feins Jahren in Frankreich ist nichts als der Versuch, durch eine andere erfundene Geschichte diese Geschichte Saul Friedländers zu verstehen. Das Buch Eine Art Liebe handelt von der Frage, wie es möglich ist mit Hilfe der Imagination da zu verstehen, wo es kein eigenes Erinnern gibt. (Hacker 267)
Ähnlich wie bei Haenel erfolgt also auch bei Hacker die Fiktionalisierung einer realen Biographie durch Verfremdung und Hinzuerfindung als eine Art 5
Norbert Gstrein hat in seinem Roman Die englischen Jahren Zeitzeugenperspektiven mit eingewoben, W.G. Sebald problematisiert die Zeitzeugenperspektive vor allem in seinem Erzählband Die Ausgewanderten und Katharina Hacker tut ebensolches in ihrem Roman Eine Art Liebe.
224 Annäherung an ein Verstehen jenseits eigener Erfahrung. Wenn die deutsche Studentin Sophie davon erzählt, wie ihr Moshe Fein seine Geschichte erzählt, sie aber ebenso von den Schwierigkeiten berichtet, eine solche Geschichte angemessen nachzuerzählen, wird auf der Handlungsebene des Romans der Prozess gespiegelt, der den Leserinnen und Lesern im Ergebnis als Roman vorliegt. Der Roman Eine Art Liebe erzählt mithin auch von den Schwierigkeiten seiner eigenen Entstehung. Die Frage nach den Schwierigkeiten des Wiedererzählens, des Weitererzählens, der Vermittlung von nicht Selbsterlebtem als einem grundlegenden Problem postmemorialen Zugangs hat sich auch Yannick Haenel gestellt. In einem Interview konstatierte er, was ihn an Karski interessiert habe, sei es zu verstehen, wie der Kurier zum Zeugen werden konnte. Karski selbst sei ja kein Jude gewesen, sondern als Botschafter der Opfer habe er die Botschaft des Anderen überbracht und dies sei eine Position, die seiner als Schriftsteller sehr nahe komme.6 Beide Paratexte reagieren damit auf die in der HolocaustForschung geäußerten Befürchtungen, wie sie oben bereits dargelegt wurden: Die Angst vor der Nivellierung der Differenz zwischen authentischer Erfahrung und vorgestelltem Leid, zwischen geschichtlicher Wirklichkeit und konstruierter Nacherzählung, zwischen Realität und Rhetorik, Fakt und Fiktion. Gleichwohl arbeiten beide Autoren mit ihren Gestaltungen einer sekundären Vermittlung von Zeitzeugenschaft gegen diese Vorbehalte an. Dass die Überlieferung der Zeugenschaft durch einen Zweiten eben auch als eine Chance begriffen werden kann, eine glaubwürdige Vermittlung der primären Zeugenschaft zu garantieren – darauf verweist die im Jahre 2000 erschienene Aufsatzsammlung “Niemand zeugt für den Zeugen”, die sich der Erinnerungskultur nach der Shoah als Problemfeld widmet. Darin wird die Position des sekundären Zeugen in seiner Funktion als Zuhörender hervorgehoben. Der Herausgeber des Sammelbandes Ulrich Baer fasst seine Kernthese folgendermaßen zusammen: Damit die Wahrheit der extrem traumatischen Erfahrungen ans Licht gelangt, benötigen Augenzeugen eine Art der Zuhörerschaft, die sich als sekundäre Zeugenschaft, als Zeugenschaft durch Vorstellungskraft oder als Zeugenschaft der Erinnerung verstehen läßt. (Baer 11)
Wie entlastend sich diese sekundäre Zeugenschaft dabei besonders für ‘primäre’ Zeugen auswirken kann, hebt der amerikanisch-jüdische 6
“Ce qui m’intéressait, c’est de savoir comment ce messager de la parole des Juifs du ghetto de Varsovie devient témoin. C’est la phrase de Celan que j’ai mise en exergue: ‘Qui témoigne pour le témoin?’ Karski était le porteur de la parole de quelqu’un d’autre et cela me semblait proche de ma position d’écrivain.” (Haenel: Karski le porteur de parole)
225 Psychoanalytiker und Mitbegründer des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies7 Dori Laub in seinem Aufsatz Bearing Witness or the Vicissitudes of Listening hervor, dessen erstmalige deutschsprachige Veröffentlichung im oben genannten Sammelband erfolgte. Darin richtet Laub das Augenmerk auf einen Aspekt, der in der Diskussion um ethische wie ästhetische Legitimierungen der Darstellung des Holocaust bisweilen vollständig ausgeblendet wird – nämlich, wie schwer es Zeitzeugen fällt, über ihre Erlebnisse überhaupt zu sprechen: The emergence of the narrative which is being listened to – and heard – is, therefore, the process and the place wherein the cognizance, the ‘knowing’ of the event is given birth to. The listener, therefore, is a party to the creation of knowledge de novo. The testimony to the trauma thus includes its hearer, who is, so to speak, the blank screen on which the event comes to be inscribed for the first time. (Laub: Bearing Witness 57)8
Dass die zerstörerische Gewalt des ursprünglichen Traumas in vielen Fällen eine Einarbeitung in das Gedächtnis gar nicht erst zulässt, vieles im Verborgenen bleibt, wodurch sich die Überlebenden selbst schützen, ist eine wesentliche Erkenntnis, die nicht nur dem primären Zeugen, sondern auch dem sekundären Zeugen gewahr wird (vgl. Baer 14f.). Saul Friedländer formuliert in seinem Erinnerungsbuch: “Extraordinaire mécanisme de la mémoire: l’insupportable s’efface ou plutôt s’enfonce, le banal prend le devant de la scène.” (Friedländer: Quand vient le souvenir 83).9 Und an anderer Stelle notiert er: Nous autres juifs, nous échafaudons des murailles autour des nos souvenirs les plus oppressants, autour des perspectives les plus angoissantes aussi et même le
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Das 1979 gegründete Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies ist eine Sammlung von mehr als 4.400 videographierten Interviews mit Zeitzeugen und Überlebenden des Holocaust. Als Teil des Yale University’s Department of Manuscripts and Archives, befindet sich die Sammlung in der Sterling Memorial Library (vgl. http://www.library.yale.edu/testimonies. Downloaded 10.5.2012). 8 “Die Erzählung [der Zeitzeugen] entsteht im Zuhören und Gehörtwerden. In diesem Prozess wird die Kenntnis, das ‘Wissen’ von dem Erlebnis erst hervorgebracht. Die zuhörende Person ist an diesem Vorgang unmittelbar beteiligt, insofern hier ein Wissen entsteht, das in dieser Form noch nicht existierte. Das Bezeugen des Traumas schließt den Zuhörer mit ein, indem dieser Zuhörer als eine leere Fläche fungiert, auf der das Ereignis einmal eingeschrieben wird.” (Laub: Zeugnis ablegen 68) 9 “Erstaunlich wie das Gedächtnis funktioniert: Das Unerträgliche wird ausgelöscht oder es versinkt vielmehr, das Alltägliche tritt in den Vordergrund.” (Friedländer: Wenn die Erinnerung kommt 83)
226 récit détaillé se transforme parfois en occultation. Ces défenses, nécessaires, sont l’un des aspects de notre névrose profonde. (Friedländer: Quand vient le souvenir 79)10
Es ist diese Ambivalenz zwischen der Bezeugung von Erlittenem und des Nicht-Bezeugen-Könnens eben dieses Erlittenen, der sich der Roman Eine Art Liebe annähert; und zwar als Prozess der Verschriftlichung einer sekundären Zeugenschaft aus der Teilhabe an einer primären Zeugenschaft. Um dies genauer zu erläutern, folgt nun zunächst eine knappe Skizzierung des Plots, der Handlungsstruktur und der Erzähltechnik des Romans. Über einen Zeitraum von etwa zwölf Jahren erstreckt sich die Gegenwartshandlung von Eine Art Liebe. 1990 kommt die Deutsche Sophie als Studentin nach Israel, wo sie sich mit dem 60-jährigen Rechtsanwalt Moshe Fein anfreundet. Der ursprünglich aus Deutschland stammende Jude erzählt ihr über einen Zeitraum von acht Jahren (vgl. Hacker 53) immer wieder Teile aus seiner Lebensgeschichte, die ihn als Kind von Deutschland nach Frankreich und schließlich nach Israel geführt hat. Der Bogen dieser historischen Handlung beginnt Ende der 1930er Jahre und erstreckt sich über die Nachkriegszeit dann weitgehend unabgegrenzt in die Gegenwartsebene hinein. 1938 flüchtet das Kind Moshe mit seinen Eltern aus Berlin nach Frankreich, wo die Eltern ihren Sohn, um ihn zu retten, zu Beginn der 1940er Jahre taufen und in einem französischen Internat unter falschem Namen unterbringen ließen. Dort überlebte er unentdeckt, während seine Eltern kurz nach seiner Unterbringung im Internat verhaftet, deportiert und schließlich in Auschwitz ermordet wurden. Der überraschende Tod Jeans, seines lebenslangen französischen Freundes aus diesen Internatszeiten, veranlasst Moshe 1998, Sophie darum zu bitten, dessen Geschichte aufzuschreiben. Doch Jeans Geschichte erschließt sich Sophie nicht zusammenhängend. Lediglich Bruchstückhaftes lässt sich aus den Erzählungen Moshes und aus ihren eigenen Recherchen über den lange in einem französischen Kloster lebenden und schließlich in einem Berliner Nachtklub erschlagenen Freund zusammentragen. Was sie von Jean in Erfahrung bringt, kreist vor allem um einen möglichen Verrat, der aufs engste mit dem Leben Moshes verknüpft ist, wie Sophie feststellen wird. Als Kind hatte Jean seinen Eltern in einem unüberlegten Augenblick Moshes jüdische Herkunft verraten – und das kurz bevor Moshes Eltern verhaftet wurden. Trägt er Schuld an deren Tod? Das ist die Frage, deren Beantwortung Moshe sich
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“Wir Juden errichten Mauern um unsere quälendsten Erinnerungen und um die furchterregendsten Perspektiven, sogar der detaillierteste Bericht dient manchmal nur der Verdunkelung. Diese notwendigen Schutzmaßnahmen sind Teil unserer tiefen Neurose.” (Friedländer: Wenn die Erinnerung kommt 79)
227 verweigert, obgleich sie ihn quält. Er überantwortet sie Sophie und lässt diese damit ratlos zurück. Daß Jean seinem Vater gesagt hatte, eigentlich hieße sein neuer Freund nicht Jean Marie, sondern Moses Fein – war das Verrat? War er Schuld am Tod von Moshes Eltern? Worauf kam es an? Moshe wollte, daß ich erfinde, was er nicht wußte; daß ich erfinde, woran er sich erinnerte. (Hacker 257)
Als Sophie die Geschichte Jeans respektive Moshes schließlich aufzuschreiben beginnt, handelt es sich nicht mehr nur um die Wiedergabe von Moshes Erinnerungen, sondern ebenso um einen “Erinnerungsprozess zweiten Grades” (Herrmann 225): “Es ist, als würde man sich an eine Erinnerung erinnern, die zugleich eine fremde und eigene ist” (Hacker 53). Das Ergebnis ist eine Mischung aus allem: Aus Erinnerungen und erinnerten Erinnerungen Mosches, aus den eigenen Erinnerungen der Ich-Erzählerin und deren erinnerten Erinnerungen wie Erinnerungslücken und -bruchstücken, ebenso wie aus deren Erfindungen. So lautet die Schlusspassage des Romans: “ ‘Es ist nicht, was du dir vorgestellt hast’, sagte ich zu Moshe und gebe ihm das Manuskript, ‘nicht einmal, was ich mir vorgestellt habe’ ” (Hacker 265). Keinem chronologischen Ablauf folgend wird die Gegenwartshandlung des Romans aus der autodiegetischen Perspektive Sophies erzählt und besteht zum größten Teil aus der Wiedergabe der Gespräche mit Moshe. In diese Gegenwartshandlung immer wieder lose und übergangslos eingeblendet ist die historische Handlung, die in permanent wechselnden Erzählmodi wiedergegeben wird, mal als indirekte Rede oder dramatische Figurenrede Moshes noch fast als ein Teil der Gegenwartshandlung, mal als konzentriert heterodiegetische, intern auf die Internatszeit fokalisierende Binnenerzählung. Kurz und knapp zusammengefasst kann man sagen: Erzählerin wie Roman verzichten darauf, eine bzw. zwei biographisch miteinander verbundene Geschichten in einer chronologisch wie inhaltlich nachvollziehbaren Aufeinanderbezogenheit zu schildern. Vielmehr wird strukturell nachgeahmt, was Erinnerungsprozesse selbst kennzeichnen: Lückenhaftigkeit, Sprunghaftigkeit und Assoziationsreichtum. Mit dieser Erzähltechnik reiht sich die 1967 geborene Katharina Hacker, wenn auch sehr elaboriert, ein in ihre Generation postmemorialen Erzählens. Die zumeist in der Gegenwart angesiedelten Rahmenerzählungen enthalten Binnenerzählungen als Rekonstruktionen von vergangenem Erlebten und Ereignissen. Dabei geht es weniger um das historische Geschehen selbst als vielmehr um seine Erinnerungshaftigkeit. So konstatiert Meike Herrmann in ihrer 2010 erschienenen Studie Vergangenwart, grundlegend für diese postmemoriale erinnerungshafte Literatur, sei “ein doppelter Zeitbezug, die Unterscheidung von mindestens zwei Ebenen: üblicherweise jener der erinnernden/erzählenden Figur und jener der erinnerten/handelnden Figur”
228 (Herrmann 88). Je deutlicher die Ebene der erinnernden/erzählenden Figur quantitativ und durch ihren Reflexionsgrad dominiere, umso größer sei die Erinnerungshaftigkeit (vgl. Herrmann 88). Entsprechend ist auch Eine Art Liebe durchwebt von höchst problembewusst orientierten gedächtnis- und erzähltheoretischen Gedanken und Kommentaren. Dass es Hacker aber vielmehr um Erinnerungshaftigkeit in einem weiteren Rahmen geht als um die bloße Erkenntnis der Brüchigkeit und Unzuverlässigkeit von Erinnern und Erzählen, möchte ich mit Rückgriff auf die bereits eingeführte Figur der sekundären Zeugenschaft noch einmal deutlicher machen. Denn Eine Art Liebe ist vor allem ein Roman über das Dialogische der Erinnerung und die Schwierigkeiten, die Erinnerung und damit das ‘Unerträgliche’, wie es Friedländer in seinen Memoiren genannt hat, zum Sprechen und damit einem Gegenüber zu Gehör zu bringen. Friedländer schreibt in Quand vient le souvenir: Il me fallut très longtemps avant de retrouver le chemin de mon propre passé. Des événements même, je ne pouvais chasser le souvenir, mais voulais-je en parler ou encore prendre la plume pour les décrire que je me trouvais frappé d’une étrange paralysie. (Friedländer: Quand vient le souvenir 105) 11
Das Vermeidenwollen von Gedanken und Gefühlen, die an belastende Ereignisse erinnern könnten, ist neben der Vermeidung von schmerzhaften Erinnerungen durch Dissoziation oder durch Teilamnesien, neben Alpträumen, Schlaflosigkeit und Flashbacks Kennzeichen eines unverarbeiteten Traumas (vgl. Caruth 153f.; Kühner 24ff.). Und solche Kennzeichen eines unverarbeiteten Traumas weist auch die Figur des Moshe Fein in Eine Art Liebe auf. Alpträume und Schlaflosigkeit belasten ihn ebenso wie plötzliche Halluzinationen, und Erinnerungen werden von ihm abgewehrt wie abgewertet (vgl. Hacker 85, 122). Als Sophie Moshe einmal darum bittet, detaillierter von der Ankunft in Paris zu berichten, wohin Moshe mit seinen Eltern zunächst geflüchtet war, verweigert er dies brüsk mit einer Abwertung von Erinnerungsdetails. “ ‘Ich erinnere mich nicht gerne an diese Zeit. Warum willst Du das wissen? Das Glas Milch kannst Du ebensogut erfinden. Was du erfinden könntest, unterscheidet sich nicht von dem, was ich erzähle’ ” (Hacker 15f.). An einer anderen Stelle wirft er ihr unwirsch entgegen: “ ‘Ich habe dir genug erzählt’ [. . .].‘Sag nicht, daß du es vergessen hast. Ich vergesse ebenso wie du’ ” (Hacker 69). Diese Widersprüchlichkeit im Verhalten Moshes zwischen der Bereitschaft und der Ablehnung, sich zu erinnern, lässt sich als typisches Kennzeichen eines Traumas identifizieren, das von der amerikanischen 11
“Es hat sehr lang gedauert, bis ich den Weg zu meiner eigenen Vergangenheit wiederfand. Die Erinnerung selbst konnte ich nicht vertreiben, doch wenn ich davon sprechen wollte oder wenn ich zu einer Feder griff, um sie zu beschreiben, war ich jedesmal gelähmt.” (Friedländer: Wenn die Erinnerung kommt 108)
229 Psychiaterin Judith Herman auch als zentrale Dialektik des Traumas beschrieben wird: “The conflict between the will to deny horrible events and the will to proclaim them aloud is the central dialectic of psychological trauma” (Herman: Trauma and Recovery 1).12 Die Ich-Erzählerin führen solche Bemerkungen zwar einerseits zu einem intensiven Nachdenken über den Verlauf von Erinnerungsprozessen. Andererseits ist sie aber auch immer wieder verunsichert durch die Reizbarkeit und die plötzliche Abwesenheit ihres Gegenübers im Gespräch: Ich fühlte mich als hätte ich von der falschen Seite ein Haus betreten, dessen Bewohner tat, als hörte er mich nicht, und nur seine unwillige Verlegenheit zeigte an, daß er von meiner Anwesenheit wußte. (Hacker 73)
Das Setting, das Hacker mit ihrem überwiegend als Dialog konstruierten Roman herstellt, erinnert mithin entfernt an ein therapeutisches Gespräch, in dem der Erzählende zwar grundsätzliche Bereitschaft signalisiert zu sprechen und sich zu erinnern, aber zugleich auch Abwehrreaktionen entwickelt. Dass Moshe, wie es explizit im Roman heißt, Sophie seine Geschichte über einen längeren Zeitraum erzählt, also in – für Therapiesitzungen – typischen kleineren kompakten Gesprächseinheiten, könnte man als einen weiteren Hinweis darauf lesen. Aber soweit muss man gar nicht gehen, verfügt doch weder Sophie über eine therapeutische Ausbildung noch äußert Moshe die Absicht, ein therapeutisches Gespräch führen zu wollen. Gleichwohl soll hier in Anlehnung an den Psychoanalytiker Dori Laub der Begriff des “treatment contract” (Laub: Bearing Witness 70)13 eingebracht werden, eine dialogische Konstellation also, die die Grundlage für die Bedingung der Möglichkeit dessen ausbildet, was sich als sekundäre Zeugenschaft ausweisen lässt. Denn, so betont Laub, der Versuch eines jeden einzelnen Zeugen, seine traumatische Vergangenheit zu kommunizieren, hängt von der Hilfe und der Aufnahmefähigkeit anderer ab. Durch das Konzept einer dialogischen Zeugenschaft könne der Rahmen eines rein historischen Verständnisses von Wirklichkeit aufgebrochen werden (vgl. Laub: Bearing Witness 62).14 Auf dieser Folie lässt sich Hackers Roman als 12
“Der Konflikt zwischen dem Wunsch, schreckliche Ereignisse zu verleugnen, und dem Wunsch, sie laut auszusprechen, ist die zentrale Dialektik des Traumas.” (Herman: Narben der Gewalt 9) 13 Vgl. “therapeutische Allianz” (Laub: Zeugnis ablegen 77). 14 Die Kritik an einem einseitig historischen Verständnis des Holocaust liegt in der Befürchtung, die Geschichte des Holocaust nur noch mithilfe großer Kategorien, Zahlen und Fakten darzustellen und die individuellen Erfahrungen, welche nicht immer und nicht unbedingt auf zuverlässigen Erinnerungen beruhen, zu marginalisieren. Damit aber wäre die Vermittlung des Unfassbaren und Monströsen des Holocaust als eines seiner herausragenden Merkmale gefährdet (vgl. Assmann passim; Laub: Bearing Witness 59ff.).
230 ein Entwurf lesen, sich aus der Perspektive einer nachgeborenen Deutschen ästhetisch einer Opferperspektive des Holocaust jenseits philosemitischer Anbiederung anzunähern. Denn der Roman handelt von den Schwierigkeiten im Umgang mit der belasteten Vergangenheit des Holocaust aus zwei Perspektiven – aus der Perspektive der Nachgeborenen Sophie ebenso wie aus der Perspektive Moshes.15 Zeugenaussagen, so Laub, seien keine Monologe; Zeugen sprächen zu jemandem (vgl. Laub: Bearing Witness 70f.).16 Dabei bergen diese Gesprächssituationen nicht nur Schwierigkeiten und Belastungen für den Traumatisierten, sondern können ebenso für den Zuhörenden schwierig werden. “The listener, however, is also a separate human being and will experience hazards and struggles of his own, while carrying out his function of a witness to the trauma witness” (Laub: Bearing Witness 58).17 Oder mit den Worten der Kulturwissenschaftlerin Andrea Allerkamp gesprochen: “Zuhörer [. . .] werden dazu aufgefordert, ihrerseits Rechenschaft, also Zeugnis abzulegen. Indem sie dem Zeugen Glauben schenken, ihm zuhören, zeugen sie für den Zeugen” (Allerkamp 311). 15
Dass die Figur des Moshe an eine reale Person, nämlich Saul Friedländer, angelehnt ist, lässt sich durchaus auch als eine ethische wie ästhetische Reaktion vor allem auf eine US-amerikanische Kritik postmemorialer Kunst und Literatur lesen, die dem Wunsch geschuldet ist “der Erfahrung der Überlebenden einen privilegierten Ort in der Geschichte und dem Gedächtnis der jüdischen Diaspora zu geben” (Haselstein 193f.). 16 Dori Laubs Ansatz einer sekundären Zeugenschaft als empathische Teilhabe an den Erinnerungen der Opfer durch die Zuhörenden ist auf scharfe Kritik gestoßen. Dieser Ansatz laufe Gefahr, einer undifferenzierten und falschen Opferidentifikation vor allem durch deutsche Nachgeborene oder gar Täter Vorschub zu leisten. So etwa Jureit/Schneider, für die das Konzept der sekundären Zeugenschaft für eine generationelle Selbstermächtigungsstrategie steht. Diese sehe sich in der Erbfolge der Holocaust-Überlebenden und leite daraus eine Deutungsmacht ab, die etwa zu Umdeutungen historischer Tatbestände und Erfahrungen führen könnte (vgl. Jureit/ Schneider 87). Dieser Kritik ist mit Blick auf die Gefahr einer generationellen Verzerrung der Zugehörigkeit bzw. ‘Gleichstellung’ von Täter- und Opfernachkommen durchaus zuzustimmen. Aber Laubs Ansatz bezieht sich aus seiner individualpsychologischen Perspektive verstärkt auf persönliche Aspekte der Weitergabe traumatischer Erfahrungen und erschwert mithin, “den Holocaust als eindeutig historische ‘Erfahrung’ zu definieren”, wie dies Ulrich Baer betont, der argumentiert, dass ein solcher Ansatz neue Möglichkeiten bietet, “die scheinbar unüberwindbare Diskrepanz zwischen den furchtbaren persönlichen Erfahrungen der Opfer und unserem Verständnis der Geschichte, ohne eine Nivellierung dieser Erfahrungen, zu etwas Nachvollziehbarem in unser Denken einzulassen” (Baer 27f.). 17 “Während er für den Zeugen des Traumas die Funktion eines Zeugen übernimmt, wird der Zuhörer als eigenständige Person jedoch zusätzlich mit sich selbst ringen und sich mit Schwierigkeiten konfrontiert sehen.” (Laub: Zeugnis ablegen 69)
231 In eine vergleichbare Situation sieht sich eben auch Sophie immer wieder versetzt, wenn sie feststellen muss, “es kommt mir vor, als würde ich mich selbst erinnern” (Hacker 73) oder wenn sie Moshes Erinnerungsorte plötzlich als ihre eigenen erinnert (vgl. Hacker 16, 124). Was in Eine Art Liebe sichtbar wird und was nicht zuletzt der Titel des Buches zum Ausdruck bringt, ist der Versuch, durch eine empathische Teilhabe an den belasteten und belastenden Erinnerungen eine Entlastung zu erreichen, wie es die Psychoanalyse vorschlägt und praktiziert. Die sekundäre Zeugenschaft bezeugt dabei auch genau solche kaum narrativ zu vermittelnden Momente von Zeitzeugenerinnerung und Zuhörerschaft, auf die auch in Eine Art Liebe immer wieder hingedeutet wird. Dabei geht es nicht nur um die Teilhabe am Erzählten, sondern auch um die Teilhabe an den Schwierigkeiten des Erzählens. Wenn in dem Roman immer wieder auf Situationen eines Zuhörens des Nicht-zu-Erinnernden und Nichterinnerten aufmerksam gemacht wird, tritt damit eben auch die Erinnerungshaftigkeit des Beschwiegenen und Verschwiegenen konturiert hervor. Das Schweigen als Teil des Dialogs anzuerkennen, ist der Psychoanalyse zufolge genauso wichtig wie dem Erzählten zuzuhören. Der Zuhörer muss wissen, [t]hat the speakers about trauma on some level prefer silence so as to protect themselves from the fear of being listened to – and of listening to themselves. [. . .] The listener must know all this and more. He or she must listen to and hear the silence, speaking mutely both in silence and in speech, both from behind and from within the speech. He or she must recognize, acknowledge and address that silence, even if this simply means respect – and knowing how to wait. (Laub: Bearing Witness 58)18
All dies tut die Ich-Erzählerin in Hackers Roman, wenn sie über Jahre hinweg Moshes Lebensgeschichte zuhört und sie zu einem Teil ihrer eigenen werden lässt, nicht zuletzt indem sie sie niederschreibt. Dass dabei das Verhältnis von Fiktion und Erinnerung auf der Handlungsebene des Romans mit verhandelt wird, ist entscheidend für die Markierung der Differenz von Moshes ‘realem Zeugnis’ und dessen Verdichtung zu einer kohärenten Geschichte. So stellt Moshe die entscheidende Frage, die die Erzählerin respektive Katharina Hacker mit ihrem Roman 18
“[. . .] daß diejenigen, die vom Trauma sprechen, es vorziehen würden zu schweigen, weil sie sich davor, daß ihnen zugehört wird und daß sie sich selbst zuhören, schützen müssen. [. . .] Die Person, die zuhört, muß all dies und mehr wissen. Sie muss diesem Schweigen zuhören und vernehmen, wie es wortlos durch Schweigen und durch Sprechen, sowohl von jenseits des Sprechens wie auch aus dem Sprechen heraus spricht. Sie muss diese Stille wahrnehmen, anerkennen und sie ansprechen, auch wenn das eine gewisse Toleranz erfordert – man muss warten können.” (Laub: Zeugnis ablegen 69f.)
232 beantwortet: “Die Frage ist, ob es noch einen imaginären oder erinnerten Ort gibt, an dem man für einen Moment die Bruchstücke zusammenfügen kann” (Hacker 128). Mehrfach ist auf der Handlungsebene als explizit Fingiertes markiert, was nicht Teil von Moshes ‘realer’ Erzählung ist, wo er die Erinnerung beredt verweigert oder gar ganz schweigt. Gleichwohl kommt in der als Binnenerzählung integrierten historischen Handlung das von Moshe explizit nicht Erinnerte als Teil der Geschichte vor. “Er erinnerte sich an dieses Glas Milch, an diese Geste wie an etwas, das unvermeidlich war: ein Klischee. Ein Glas warme Milch auf der Treppe” (Hacker 15). Dass diese Erinnerung an das “Glas Milch” von Sophie erfunden ist, wird zwei Absätze später deutlich, wenn Moshe konstatiert “Das Glas Milch kannst Du ebensogut erfinden” (Hacker 15). In dieser geschickten Kennzeichnung der Fiktionalisierung lässt der Roman so zwar die Lücken der Erinnerungen Moshes sichtbar werden, aber ermöglicht es sich dennoch, eine Geschichte zu erzählen, die trotz der Markierungen ihrer Bruchstückhaftigkeit sich als eine nachvollziehbare Geschichte erschließt – und dass mit dem Topos Milch eine andere fiktionale Anknüpfung so unaufdringlich wie zwangsläufig aufgerufen wird, die den Zusammenhang von Erfahrung und Erfindung beklemmend ausgeleuchtet hat, spricht für die Souveränität und die Umsicht dieses Textes bzw. seiner Autorin – ist es doch mittlerweile nicht mehr so leicht, das nicht zuletzt durch seine Prominenz zum Klischee verbogene Gedicht Todesfuge (1947) von Paul Celan zu zitieren, ohne es als Kitsch zu desavouieren.19 Im Lichte dieser Betrachtung von Eine Art Liebe erhält nun auch der bereits zitierte Satz aus dem Nachwort Hackers eine doppelte Bedeutung: “Das Buch ‘Eine Art Liebe’ handelt von der Frage, wie es möglich ist, mit Hilfe der Imagination da zu verstehen, wo es kein eigenes Erinnern gibt” (Hacker 267). Denn nicht nur um die eigene fehlende Erinnerung als Nachgeborene geht es Hacker, sondern vor allem auch um die fehlenden Erinnerungen der Zeitzeugen selbst und wie diese fehlenden Erinnerungen ihnen das eigene Leben erschweren. Oder mit anderen Worten: Eine Art Liebe ermöglicht das Erzählen einer Geschichte, die sowohl die Schwierigkeiten des erinnernden Erzählens wie auch das Schweigen weiter erzählt und damit eine sekundäre Zeugenschaft übernimmt, der das Wissen um die Unüberbrückbarkeit von vergangenem Erlebten und gegenwärtigem Verstehen mitgegeben bleibt.20 19
Zur Debatte um die Gefahr der Verkitschung des wohl berühmtesten Gedichts von Paul Celan vgl. Klüger 61f. und Way. 20 Dieses Verständnis einer sekundären Zeugenschaft steht damit dem Verständnis von sekundärer Zeugenschaft als Opferidentifikation diametral entgegen (vgl. Fußnote 16), insofern gerade durch die Differenz von primärer und sekundärer Zeugenschaft der Hiatus des Erfahrungshorizonts wie auch die Kluft zwischen Erzählbarem und Nicht-Erzählbarem deutlich markiert bleibt.
233 Nicht zuletzt als Re-Lektüre von Friedländers Memoiren wird hier die Referenz einer literarisch konstruierten Zeitzeugenschaft als Produkt intertextueller Bezüge markiert. In der Doppelbelichtung der Lesbarkeit wie Unlesbarkeit von Zeitzeugenschaft scheint das Wissen um deren tiefe Ambivalenz und Brüchigkeit aus der literarischen Perspektive von Hackers Roman allein als ein ästhetisch Gewonnenes hervor. Ein Mehrwert, den Friedländers Memoiren so nicht bieten können, da in ihnen die Perspektive der sekundären Zeugenschaft nicht eingetragen ist. Erst diese ermöglicht, das Ausmaß des Nicht-Verstehens sowohl als Last der Überlebenden wie auch als Mitgift der Nachgeborenen herauszukristallisieren. Dabei darf die gewählte Form dieser intertextuellen Anverwandlung in Eine Art Liebe für die Möglichkeiten postmemorialen Erzählens des Holocaust nicht unterschätzt werden. Denn erst die fortgesetzte literarische Einbeziehung von Zeitzeugnissen in ebenfalls sich fortsetzenden Gegenwartsdiskursen arbeitet der Enthistorisierung wie Sakralisierung von Zeitzeugenschaft entgegen. Da Zeitzeugnisse ihre Anerkennung als Authentisches wie Historisches traditionell und so wohl auch in der Zukunft aus ihrer schriftlichen Verbürgtheit beziehen, gewähren und bewahren intertextuelle Anknüpfungen an sie einen Zugang zu der Präsenz einer primären Zeugenschaft – wenngleich aus zweiter Hand von Literarisierung gestiftet.
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Philipp Hammermeister
Vergangenheit im Konjunktiv: Erinnerung und Geschichte in Marcel Beyers Kaltenburg There are few other contemporary German writers who focus as intensively on the German past of National Socialism as Marcel Beyer. In his novel Kaltenburg (2008) he explores the thin line between fact and fiction by relating the life of the famous zoologist Konrad Lorenz through his eponymous hero Ludwig Kaltenburg. He follows Kaltenburg from the Eastern front of the 1940s via Dresden of the 1950s to the Berlin Republic of the 2000s and develops an alternate history that connects the ways of the Third Reich with those of the GDR and those of post-reunification Germany. This paper aims to follow Beyer’s search for the essence of the German past by contrasting actual history with his slightly altered version. In addition, it explores Beyer’s poetics of the fundamental mistrust of remembrance and narration as it isn’t Kaltenburg who presents his story, but his student and foster son Hermann Funk, himself traumatized, deeply torn between loyalty and criticism, and essentially unreliable as a narrator.
Im Jahr 2008 erschienen kurz hintereinander gleich zwei Erinnerungsromane auf dem deutschen Buchmarkt, die sich beide der Verstrickungen und Verwicklungen ihrer fiktiven Erzähler in die deutsche Vergangenheit und insbesondere in den Zweiten Weltkrieg widmeten. Beide erkunden die Geschichte von Täterfiguren und deren Fortwirken bis weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus. Beide konfrontieren subjektive Geschichten mit objektiver Geschichte, private Erinnerungen mit öffentlicher Erinnerungskultur. Doch wo man nun aufgrund von Thema und Konzeption Gemeinsamkeiten erwarten durfte, können die Unterschiede tatsächlich größer kaum sein. Jonathan Littell lässt in Die Wohlgesinnten (2006/2008) den SS-Offizier Max Aue seine Lebensgeschichte in einem fast mythischen Duktus beginnen: “Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist” (Littell 9). Dieser theatralische, auf überzeitliche Wahrheit zielende Tonfall lässt Zweifel an der Wahrhaftigkeit des Geschilderten erst gar nicht zu. Aue umgibt sich mit der Aura und Autorität des Zeitzeugen, der als einziger weiß, wie sich die Dinge abgespielt haben, weil er als einziger dabei war. Seine Ausführungen beruhen also auf persönlichen Erfahrungen, die die offizielle Geschichtsschreibung wenn nicht korrigieren, so doch zumindest ergänzen. Da er als einzige Quelle seiner Lebensgeschichte auftritt, bleibt seine Erzählung unwidersprochen – was umso mehr verstören muss, als es sich bei Aue um einen Kriegsverbrecher und Sadisten handelt, der auf weit über 1000 Seiten so lustvoll wie detailliert seinen ganz persönlichen, monströsen Beitrag zu Krieg und Vernichtung schildert. Sein Erinnern ist für ihn – frei von jedem Selbstzweifel – deckungsgleich mit dem Geschehenen und das Geschehene liegt in all
238 seiner Widerwärtigkeit offen. Das schockiert und fasziniert gleichermaßen, entspricht aber nicht dem Stand von Gedächtnis- und Erzählforschung, denen zufolge alle Erinnerung Konstruktion ist und der Mensch letztlich nur erinnert, was er aus gegenwärtiger Sicht über sich erinnern will oder erinnern muss, um sich des fragilen Konstruktes seiner Identität zu vergewissern. Meistens erinnert er sich bruchstückhaft, häufig falsch und manchmal auch gar nicht. Die Wiedergabe von Erfahrungen folgt dabei nicht unbedingt dem Ablauf des Erlebten, sondern ist subjektiv, selektiv und auf den jeweiligen Zuhörer ausgerichtet (vgl. u.a. Schacter, Welzer, Freeman). “Ich erinnere mich nicht mehr genau [. . .]” (Beyer: Kaltenburg 162)1 beginnt entsprechend ein typischer Satz von Hermann Funk, dem offensichtlich vor dem Hintergrund kulturwissenschaftlicher Erinnerungsforschung konzipierten Erzähler von Marcel Beyers Kaltenburg (2008). Wenn bei Aue die Zuverlässigkeit und Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen so selbstverständlich sind, dass sie gar nicht thematisiert zu werden brauchen, steht bei Funk der permanente Zweifel im Vordergrund, ob das von ihm Erinnerte auch der historischen Wirklichkeit entspricht. Auch seine Vergangenheit ist ihm nur über das Gedächtnis zugänglich, welches in diesem Fall aber – eingestandenermaßen – nicht besonders zuverlässig ist. “Doch ich traue mir nicht ganz [. . .]” (176), “[. . .] soweit ich mich erinnere [. . .]” (28) oder “[. . .] da kann ich mich auch vertun [. . .]” (74) sind nur einige von zahllosen über den Text verstreuten Einschränkungen, die Zweifel an der Verlässlichkeit seiner Erinnerungen geradezu verlangen. Darüber hinaus ist es bezeichnend, dass eine Figur wie Max Aue nur einen einzigen Satz braucht, um sich und uns seiner Rolle als Urheber des folgenden Textes zu vergewissern, während Hermann Funk ein ganzes Kapitel benötigt, bevor er zum ersten Mal “ich” (16) sagt. Es ist ein beinah verschämter Akt der Selbstermächtigung, wenn er sich von einem namenlosen Zeugen historischer Ereignisse zum Subjekt seiner eigenen Erinnerung aufschwingt. Er schleicht sich quasi durch die Hintertür in die eigene Lebenserzählung, von der er weiß, dass sie ihm nur eine Nebenrolle zugestanden hat. Er ist nämlich bloß “das perspektivische[] Zentrum des Romans, dessen Protagonist ein anderer ist” (Herrmann 270): der berühmte Tierforscher und Titelheld Ludwig Kaltenburg. Kaltenburg ist bereits Beyers dritter Roman – nach Flughunde (1995) und Spione (2001) – über die Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Nachwirkungen. In ihm setzt er seine in den früheren Texten begonnene Fiktionalisierung der Vergangenheit fort, indem er sich auch hier der Leerstellen der Geschichtsschreibung annimmt und die daraus resultierenden Unbestimmtheiten literarisch produktiv macht. Wieder bewegt er sich an der 1
Im Folgenden zitiert durch Angabe der Seitenzahl in Klammern.
239 Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert, die für den Übergang von der lebendigen Erinnerung der Zeitzeugen hin zu einer ausschließlich medialen Rekonstruktion entscheidend ist und mit deren Überschreiten sich die Frage nach den Zugängen zur Geschichte des Nationalsozialismus neu stellt. Und wieder bedient er sich hierfür bei dem gesamten Repertoire der Gedächtnisforschung, vom Drei-Generationen-Modell bis hin zur Blitzlichterinnerung, vom Fehlerinnern bis hin zum gemeinsamen Verfertigen der Vergangenheit im Gespräch. Doch in gewichtigen Punkten unterscheidet sich Kaltenburg auch von Beyers früheren Texten. Nicht nur, weil er hier historisch noch weiter ausholt und in einer Art “dreifache[r] Vergangenheitsbewältigung” (Jarausch 9) neben der Geschichte des Nationalsozialismus auch dessen Nachwirkungen von der DDR der 1950er Jahre über die Nachwendezeit bis in die Gegenwart verfolgt; sondern insbesondere auch deshalb, weil Beyer sich in Kaltenburg so dicht wie nie zuvor an die offizielle Geschichtsschreibung und an historische Persönlichkeiten heranwagt. Die Kritik hat in dem Zoologen Ludwig Kaltenburg schnell die nur wenig verfremdeten Züge von Konrad Lorenz entdeckt und in anderen Figuren Parallelen zu Joseph Beuys, Heinz Sielmann und auch Oskar Heinroth aufgetan (vgl. u.a. Bartmann, Bucheli, Schütz: Pimp my Nazi). Handelt es sich bei Kaltenburg also um einen Schlüsselroman, in dem sich Beyer unter dem Deckmantel der Fiktion an realen Vorbildern abarbeitet? Nutzt Beyer das kreative Potenzial des Romans, um jene biographischen Lücken zu füllen, vor denen die Geschichtsschreibung und Autobiographieforschung mangels Material und gesicherter Quellen kapitulieren muss? Gehen Literatur und Geschichte in Kaltenburg ein Zweckbündnis ein, um historische Ungereimtheiten zu entlarven oder sogar zu beseitigen? Spätestens wenn Hermann Funk bei einem seiner Spaziergänge an Kaltenburgs ehemaligem Institutsgebäude vorbeikommt und auf dem Klingelschild nicht einmal, sondern gleich zweimal der Name “Lorenz” (214) steht, wird deutlich, dass es sich bei Kaltenburg nicht um ein literarisches Versteckspiel handelt. Die Quellen und Bezüge der Beyer’schen Fiktion sind viel zu offensichtlich, als dass sie überhaupt der Entlarvung bedürften. Es geht ihm vielmehr um die Imagination eines alternativen Geschichtsverlaufes, um eine “Perspektivverschiebung” (216), wie Hermann Funk an einer Stelle im Roman selbst bemerkt: “Nur eine minimale Veränderung des Blickwinkels” (216), die sich aber, einmal wahrgenommen, nicht mehr ignorieren lasse. Eher als um einen gewöhnlichen Geschichts- oder Schlüsselroman handelt es sich bei Kaltenburg um einen kontrafaktischen Roman (vgl. Schütz: Zwischen Heimsuchung und Heimkehr), der dem uneingelösten Potenzial geschichtlicher Konstellationen nachgeht. In seinem Zentrum steht aber weniger die Geschichte an sich als vielmehr der Prozess ihrer retrospektiven Vergegenwärtigung, weshalb man auch von einem metahistoriographischen Roman
240 (vgl. Nünning) sprechen könnte, der ethische und ästhetische Möglichkeiten des Erzählens von vergangenen Zeiten und Leben mitreflektiert. Kaltenburg verlangt also nach terminologischer und typologischer Differenzierung, da er bei aller Verwurzelung im deutschen Geschichts- und Erinnerungsdiskurs weder als historischer Roman noch als einfacher Erinnerungsroman oder gar als Generationenroman im klassischen Sinne gelesen werden kann.2 Bei der Suche nach Antworten auf die Frage nach dem komplexen Verhältnis von Geschichte, Erinnerung und Literatur wird sich dieser Aufsatz zunächst dem Erzähler Hermann Funk und seinem mühsamen Erinnerungsprozess widmen. Wie lässt sich erzähl- und erinnerungstheoretisch deuten, was er von sich und seinem Leben zu berichten weiß? Und was gerade nicht? In einem zweiten Schritt soll die literarische Fiktion mit ihrer historischen Vorlage abgeglichen werden, um das komplexe Verhältnis von Fakt und Fiktion zu erhellen. Schließlich wird die Funk’sche Erinnerungsskepsis vor den Hintergrund der zweiten den Roman durchziehenden Erinnerungstheorie gestellt, denn mit Funks späterer Ehefrau Klara, einer begeisterten Leserin, tritt auch ein Marcel Proust in die Romanwelt ein. Es wird zu zeigen sein, dass Funk sich ganz ähnlich wie dieser Auf der Suche nach der verlorenen Zeit befindet und die Proust’sche Erinnerungsakrobatik nicht nur auf motivischer Ebene Eingang in den Roman findet.
Von Brüchen und Bröckchen: Hermann Funks Erinnerungsprozess Hermann Funk ist ein pensionierter Ornithologe, der in diesem Buch nur zu Wort kommt, ja, dessen Lebensgeschichte überhaupt nur von Belang ist, weil er andere, berühmtere, interessantere Menschen kannte, wie etwa jenen berühmten Professor Ludwig Kaltenburg. Auch ihm selbst erscheint von sich nur berichtenswert, was in Verbindung mit diesem schillernden Zoologen steht, dessen Mitarbeiter und über viele Jahre auch engster Vertrauter er war. Der Professor ging bereits in den 1930er Jahren in Funks Posener Elternhaus ein und aus, und im Dresden der Nachkriegszeit nahm er sich des mittlerweile verwaisten Jungen wieder an, um ihn zu seinem Schüler aufzubauen. Hermann Funk wird somit ohne eigenes Zutun zu einem Beobachter der Geschichte aus größter Nähe, verbleibt selbst aber passiv und unscheinbar. Es ist deshalb auch wenig überraschend, dass es eines Anstoßes von außen bedarf, um ihn noch einmal aktiv in eine Auseinandersetzung mit den eigenen Erinnerungen zu zwingen. Dieser Anstoß kommt in der Person der Übersetzerin 2
Für die mittlerweile einschlägigen Definitionen des vor allem an familiale Erzählungen gebundenen Generationenromans und des die Brüchigkeit des Rekonstruierens betonenden Erinnerungsromans siehe Meike Herrmanns Überblick über u.a. die Arbeiten von Friederike Eigler und Sabine Brichall. Vgl. Herrmann 101ff.
241 Katharina Fischer. Sie möchte sich für den anstehenden Besuch eines auch an ornithologischen Fragestellungen interessierten Staatsgastes vorbereiten und wendet sich mit der Bitte an Funk, sie mit der Dresdner Vogelwelt und ihren englischen Entsprechungen vertraut zu machen. Aus diesem Gespräch über Stieglitz und Buchfink, Dompfaff und Kernbeißer entwickelt sich in den folgenden Monaten eine unfreiwillig intensive Selbsterkundung Funks, in welcher die Dolmetscherin nicht nur zwischen verschiedenen Sprachen, sondern auch zwischen verschiedenen Personen und Zeiten zu übersetzen lernt. “Sie sind kein gebürtiger Dresdner, oder?” (22). Mit dieser Frage nach seiner Herkunft, die sich ihr nicht in seiner Sprache zeige, setzt sie seinen Erinnerungsprozess in Gang, an welchem sie durch gezielte Fragen und Kommentare im Fortgang immer wieder beteiligt sein wird. Halb ist sie ihm “Vergil und geleitet ihn durch das Reich seiner bis dahin sorgsam gemiedenen Toten, halb ist sie ihm Mnemosyne, die ihm die Wege zu den verschollenen und verschütteten Bezirken seiner Existenz öffnet.” (Bucheli). Und Recht hat sie, denn Hermann Funk stammt ja tatsächlich nicht aus Dresden, sondern befand sich mit seinen Eltern im Februar 1945 nur auf der Flucht von Posen in den Westen, als die Luftangriffe der Alliierten die Stadt in Schutt und Asche legten. Seine Eltern verloren hierbei ihr Leben, Funk lediglich das Wissen um Herkunft und Identität. In “buchstäblich aufgelöstem Zustand” irrte der Elfjährige auf der Suche nach den Eltern durch den Großen Garten, “jeglicher Vorstellung von sich selbst beraubt” (15). Seither ist er kein zuverlässiger Zeuge mehr, insbesondere nicht in eigener Sache. Das traumatische Ereignis zeigt sich auch in der Gegenwart noch in der Disparatheit seiner frühesten Erinnerungen. Folglich kann Funk insbesondere die Geschichte seiner Kindheit weniger als schlüssige Verkettung von Ereignissen und ihrer Konsequenzen, sondern vielmehr als lose Abfolge scheinbar zusammenhangsloser, jeder zeitlichen Ordnung enthobener Episoden erzählen.3 Seine Erinnerungen präsentieren sich auch ihm zunächst als Puzzle, das nur dank der ständigen
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Dass sich Beyer hier mit dem Motiv der zersprungenen Erinnerungen nicht nur der Erkenntnisse der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung bedient, sondern auch einen Topos aus Autobiographien von Holocaustüberlebenden aufgreift, zeigt schon ein Blick auf die zwar faktisch nachweislich falschen, gleichwohl subjektiv wahren Erinnerungen Binjamin Wilkomirskis, der gleich zu Beginn seiner passenderweise Bruchstücke überschriebenen Lebensgeschichte schreibt: “Meine frühesten Erinnerungen gleichen einem Trümmerfeld einzelner Bilder und Abläufe. Brocken des Erinnerns mit harten, messerscharfen Konturen, die noch heute kaum ohne Verletzung zu berühren sind. Oft chaotisch Verstreutes, chronologisch nur selten zu gliedern; Brocken, die sich immer wieder beharrlich dem Ordnungswillen des erwachsen Gewordenen widersetzen und den Gesetzen der Logik entgleiten.” (Wilkomirski 7f.)
242 Anteilnahme der Übersetzerin zu einer kohärenten Biographie zusammengefügt werden kann.4 Beyer verdichtet hierbei die Fragen nach der Erinnerung zu poetischen Denkbildern über die Erinnerung. Wie die von Kaltenburg besonders geliebten Kamindohlen beim Abstieg zu ihrem tief im Schornstein verborgenen Nest begibt sich auch Funk scheinbar ungelenk, aber doch mit großer Vorsicht und schließlich immer behänder und zielstrebiger hinab in das Reich seiner Erinnerungen.5 Wie diese allmähliche Annäherung an die Geschichte im Modus der Erinnerung funktioniert, soll an einem Beispiel verdeutlicht werden. Die Familie Funk beschäftigte in ihrer Posener Zeit ein polnisches Kindermädchen, das sich einzig und allein um den jungen Hermann zu kümmern hatte. Dieses tritt jedoch erst wieder in sein Bewusstsein, als Katharina Fischer nach seinem dialektfreien Deutsch fragt, für das er auch dieses Kindermädchen verantwortlich glaubt. Unvermittelt steht es ihm wieder vor Augen: In einem Erinnerungsbild sehe ich mich im Sonntagshemd auf unserer Küchenbank sitzen, und mein Kindermädchen streicht mir mit einem feuchten Lappen über die nackten Beine. Ob die Eltern damals im Februar mein Kindermädchen mit auf die Reise nach Dresden genommen hatten? (22)
Diesem ersten Erinnerungsbild folgen weitere, die immer ein wenig mehr der Szene, nie aber alles enthüllen. Eine Handlung auf der Gegenwartsebene – das Ordnen von Vogelbälgen – löst ein abruptes Wiedereintauchen in dieselbe Szene aus, welche allmählich an Tiefenschärfe und Kontur gewinnt: Ich sehe mich im weißen Hemd da sitzen, der Lichtkegel der Küchenlampe erreicht mich nicht, mein Kindermädchen schirmt mich ab, das Hemd ist ganz zerknittert, und vielleicht könnte man, wenn ich beleuchtet wäre, dunkle Flecken im
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Ihre Konstellation erinnert durchaus – bei aller Vorsicht vor ethisch fragwürdigen Vergleichen – an das aus der Holocaustforschung bekannte Konzept der sekundären Zeugenschaft, demzufolge die Überlebenden traumatischer Ereignisse der aufmerksamen und aktiven Anteilnahme einer Zuhörerschaft bedürfen, um vor sich selbst und anderen Zeugnis über das Erlebte ablegen zu können. Vgl. hierzu insbesondere Baer und auch die Ausführungen von Katja Stopka im vorliegenden Band. 5 “Der Vogel springt nach einigem Zögern und Herumlaufen mit dem Schnabel voran in den Eingang der künstlichen Höhle, vollführt eine Drehung, findet mit abgespreizten Flügeln am rauen Kamingemäuer Halt, streckt die Beine aus und stützt sich mit den Krallen ab. Dann geht es vorsichtig, man könnte sagen Schritt für Schritt, hinunter in die Tiefe, zwei Meter oder mehr. Das laute Poltern, Rasseln, Schleifen. Momentaufnahmen dieser viele Male am Tag wiederholten Prozedur vermitteln den Eindruck, die Dohle stürze hilflos aus großer Höhe herab, aber das Gegenteil ist der Fall, jede Bewegung zeugt von überlegtem Vorgehen und äußerster Geschicklichkeit.” (9f.)
243 Stoff erkennen, Lehm, Farbstifte, geronnenes Blut. Maria. Sie kann keine zwanzig gewesen sein. (26)
Was eben noch im Dunkeln lag, wird nun vom Lichtkegel der Küchenlampe zumindest gestreift. Was eben noch ein namenloses Kindermädchen war, ist plötzlich wieder Maria. Im weiteren Erinnerungsprozess ergeben sich aus Bildern erste Sequenzen und aus Sequenzen ganze Episoden, ohne allerdings der Lösung der Frage – was geschah mit Maria bei der Flucht der Familie? – wirklich näher zu kommen. Zwar erlangt Funk irgendwann zumindest die Gewissheit darüber, dass sie nicht mit der Familie nach Dresden gereist ist (vgl. 29), was aber stattdessen aus ihr geworden ist, ob seine Eltern ihr kündigten oder ob sie freiwillig ging, ob sie untertauchte oder deportiert wurde, bleibt offen. Beyer erweist sich hier als “Virtuose der Suspense-Technik” (Bisky: Es scheuen die Dohlen), der ständig Spuren legt und die Erwartungen der Leser reizt, aber nie eintreten lässt, womit zu rechnen wäre. Die Erinnerung dient in Kaltenburg also nicht mehr der Vergewisserung des eigenen Selbst, sondern orientiert sich eher an der Funktionsweise des autobiographischen Gedächtnisses und an dem Konzept narrativer Identität (vgl. Echterhoff/Straub). Beyers Fokus liegt auf der Thematisierung und Inszenierung subjektiver und selektiver Erinnerungsprozesse sowie auf der konstitutiven Rolle des Vergessens. Aus erzähltheoretischer Sicht orientiert er sich dabei zwar auch an einer “Mimesis des Erinnerns” (vgl. Basseler/Birke) – schließlich wird Erinnerung im Roman nicht nur thematisiert, sondern, wie gezeigt, auch mit literarischen Mitteln inszeniert –, Kern seiner Romankonzeption ist aber eher eine ‘Mimesis des Vergessens’. Funk ist dabei allerdings nur ein unzuverlässiger Erinnerer und kein unzuverlässiger Erzähler (vgl. Assmann). Gerade weil er sich der Funktionsweise und somit der Schwächen des menschlichen Gedächtnisses bewusst ist und seine Erinnerungen so lückenhaft präsentiert, wie es die Gedächtnisforschung vorsieht, zeichnet ihn ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit aus. Nur auf der Gegenwartsebene, der Rahmenerzählung, folgt der Text einer groben Chronologie. Die Erinnerungen, die aufgrund plötzlicher Assoziationen aus dem Erzählfluss heraus entstehen und erst nach zahlreichen Abschweifungen wieder Anschluss an die Gegenwartshandlung finden, zeugen nicht nur von der großen “Erinnerungshaftigkeit” (Basseler/Birke 125) des Textes, sondern versetzen die Leser (und nicht zuletzt auch Funk und Fischer) unversehens um Jahre vor oder zurück. Das Verschwimmen der Chronologie ist dabei genau kalkuliertes literarisches Element, mit dem auf grammatikalischer Ebene ein steter Wechsel des Tempus korrespondiert. Beyer verwendet das Präsens für die Gegenwartshandlung der Gespräche zwischen Funk und Fischer, genauso wie für Funks Erinnerungen, wenn sie sich als besonders zentral oder emotional aufgeladen zeigen. Passagen aus den 1950er
244 Jahren stehen somit grammatikalisch ununterscheidbar neben solchen aus dem Jahre 2005. Vergangenheit und Gegenwart überlagern sich, wie auch Funks erinnertes Ich sich nicht immer scharf von seinem erinnernden Ich trennen lässt. Beyer verweist somit auf die Fragwürdigkeit einer linearen Zeitstruktur im Erinnerungsprozess und die irrige Vorstellung, über das Gedächtnis einen verlässlichen Zugang zur eigenen Geschichte erlangen zu können. Mit der Erinnerung an sein Kindermädchen Maria ist aber noch eine andere traumatische Erfahrung verbunden, die auf die Anfänge von Funks Begeisterung für die Vogelforschung verweist und die Hintergründe jener zunächst rätselhaften Küchenszene erhellt: Im nächsten Moment sitze ich völlig benommen auf der Küchenbank und höre kaum, wie die Mutter mit meinem Kindermädchen schimpft, das sich am Nachmittag mit einem Verehrer in den Feldern vergnügt hat, während es mich allein im Haus zurückließ, und mir nun die Beine mit einem nassen Lappen wischt. (36)
Was war geschehen, das den Jungen so verstörte und die Eltern so erregte? Während sie damals einen Sonntagsausflug unternahmen, hatte der junge Hermann Maria, die eigentlich auf ihn aufpassen sollte, fortgeschickt, um allein zu spielen. Dann aber verfing sich ein Vogel in den Gardinen des Salons, flatterte panisch im Zimmer herum, fand keinen Ausgang mehr und starb auf dem Teppich im Angesicht des verwirrten Kindes. In seiner Erinnerung nimmt der Vogel nach und nach die Form eines Mauerseglers an, auch wenn der Ornithologe in ihm weiß, dass ein Mauersegler niemals durch eine offene Tür in ein Haus fliegen könne. Er würde “sich, bei seiner Fluggeschwindigkeit, den Kopf an einer Wand einschlagen und [könne], falls er tatsächlich überleben sollte sich keinesfalls wieder vom Boden lösen, um in den Vorhängen zu verschwinden” (36). Es kann also kein Mauersegler gewesen sein, und dennoch stellt es sich in seiner Erinnerung immer wieder und mit immer größerer Gewissheit so dar. Von besonderer Bedeutung ist dies, weil der junge Funk glaubt, an dem sterbenden Mauersegler Beine wahrgenommen zu haben, die dieses eigentlich nur in der Luft zu beobachtende Tier dem Volksglauben nach gar nicht besitzt. Wenn es aber gar kein Mauersegler war, dann beruhten seine Forscherkarriere, die von dieser Entdeckung ihren Ausgang nimmt, und sein Selbstbild als Ornithologe auf einer falschen Erinnerung. Funk weigert sich also auch deshalb gegen nachträgliche Korrekturen seiner Erinnerungen, weil in ihnen seine gegenwärtige Identität wurzelt. Der Mauerseglervorfall bleibt somit ungeklärt, Maria für immer verschollen und auch an anderen ungelösten Fragen mangelt es diesem Roman nicht.
Die Lücken der Geschichte(n) Bereits in Beyers Erfolgsroman Flughunde steht ein Rätsel im Zentrum der Erzählung: Hermann Karnau, dieser besessene, moralisch fragwürdige
245 Akustiker unter Joseph Goebbels, der auch vor grausamen Experimenten nicht zurückschreckt, um an die inneren Töne der Menschen zu kommen, berichtet – teilweise in der Vergangenheit, teilweise aus der Erinnerung – von den letzten Tagen im Führerbunker und der Ermordung der Kinder Joseph Goebbels’. Seine Berichte legen nahe, dass er daran beteiligt war, ohne jedoch Gewissheit zu bieten. Da er aber der einzige überlebende Zeuge ist, sind wir Leser aufgefordert, uns aufgrund seiner eingeschränkten Wahrnehmung und unzuverlässigen Deutung der Ereignisse selbst ein Bild vom tatsächlichen Hergang der Geschichte zu machen. In Spione versuchen vier jugendliche Cousins sich ein Bild von der Vergangenheit ihrer Großeltern zu machen, von denen sie nicht viel mehr wissen, als was ihnen ein lückenhaftes Fotoalbum vermittelt. Ob der Großvater tatsächlich Luftwaffenoffizier bei der Legion Condor und als solcher an der Zerstörung Guernicas beteiligt war, oder ob es sich bei dieser Version der Geschichte nur um die Phantasie der Kinder handelt, bleibt auch hier offen. In Kaltenburg bleiben gleich mehrere Fragen ungeklärt. Ob Funks Vater wirklich nicht wusste, was sich in den langen Zügen mit Viehwaggons befand, die in den 1940er Jahren am Posener Elternhaus vorbei Richtung Osten fuhren? (vgl. 78) Ob er die zahmen Vögel, die er in seinem Arbeitszimmer hielt, tatsächlich gefunden, oder aber von deportierten Juden übernommen hatte? (vgl. 284f., 298) Warum es zwischen ihm und Kaltenburg nach anfänglicher Freundschaft zum Bruch gekommen war? (vgl. 80, 377) Wer Kaltenburgs Dresdner Dohlenkolonie vergiftete und damit seinen Fortgang aus der DDR besiegelte? (vgl. 116, 380) Zentral aber – und für Funks Erinnerungen wie auch die Konzeption des gesamten Romans entscheidend – ist die ungeklärte Frage, welchen Tätigkeiten Professor Kaltenburg in seiner Zeit als Heerespsychologe in Posen zu Beginn der 1940er Jahre nachgegangen war (vgl. Abschnitt 4). Angedeutet wird hier viel, ausgeführt hingegen sehr wenig. In seinem Essay Was sprechen heißt – eine der wenigen Arbeiten, die Beyer als “poetologische Vorgabe” (Beyer: Spucke 75) begreift – beschreibt der französische Schriftsteller und Ethnologe Michel Leiris die Auswirkungen der deutschen Besatzung in Frankreich auf den Sprachgebrauch: In dieser Zeit, in der die Sprache von einer bösartigen Krankheit befallen schien oder in der Negativität des Schweigens unterzugehen drohte, konnte man klarer erkennen denn je, was sprechen heißt [Hervorhebung im Original, P.H.], was beim Gebrauch der Rede auf dem Spiel steht und welch – sofortige – tödliche Konsequenz die einfache Handlung, einen Gedanken zu formulieren, haben kann. (Leiris 56)
Aus diesem Essay bezieht Beyer nicht nur sein Verantwortungsgefühl gegenüber einem skrupulösen, sich seiner Bedeutung jederzeit bewussten Umgang mit Sprache, sondern auch sein Bewusstsein für den literarisch produktiv zu machenden Wert der Andeutung. Jedes Wort konnte damals, so Leiris, schlimme Folgen haben, jedes Schweigen falsch verstanden werden, und
246 das Finden der richtigen Umschreibung, anspielungsreich und verschleiernd zugleich, verständlich für den Adressaten, unverständlich für alle anderen, wurde zu einer lebensrettenden Technik. So richtet sich auch Marcel Beyer an eine kenntnisreiche und kundige Leserschaft, die seine im Text versteckten Andeutungen mit dem eigenen Wissen um historische Zusammenhänge und Personen anreichert und die ihnen bekannte geschichtliche Wahrheit vor dem Hintergrund ihrer Fiktionalisierung zu überprüfen bereit ist. Dieses Prinzip einer indirekten Beleuchtung, das sich einem direkten Bezeichnen der Dinge verweigert und eher den Konsequenzen geschichtlicher Ereignisse auf Sprech- und Verhaltensweisen der Menschen nachspürt, hat Beyer einmal in einem Aufsatz zur Bedeutung der Lichtverhältnisse für sein Schreiben entwickelt. In Anlehnung an die japanische Lichtästhetik bestehe Literatur für ihn “aus kaum etwas anderem als dem Umkreisen von Gegenständen und aus indirekter Beleuchtung, wobei gewisse Dunkelheiten durchaus ihren Raum haben” (Beyer: Schatten). Für Kaltenburg bedeutet das etwa, dass allein über das Erwähnen bestimmter Namen und Orte historische Ereignisse, gesellschaftliche Milieus und mit ihnen verknüpfte Atmosphären heraufbeschworen werden. Das Posen der 1940er Jahre wirkt auf den jungen Hermann vor allem deshalb bedrohlich, weil sein Schulweg ihn täglich am dortigen Schloss vorbeiführt. In dessen düsterer Ausstrahlung (vgl. 67f.) schwingt das Wissen um die Bedeutung der Stadt für die Nationalsozialisten und vor allem um Himmlers berüchtigte Rede zur Judenvernichtung aber unausgesprochen mit. Die verstörenden Dimensionen der Bombardierung Dresdens werden erst deutlich, wenn Funk die dabei verbrennenden Vögel schildert; die Folgen des Baus der Berliner Mauer erst fassbar, wenn die bedrückte Stimmung an Kaltenburgs Institut beschrieben wird. Die bloße Erwähnung von Ereignissen wie dem Slanskyprozess, dem Verschwinden Paul Merkers oder dem Selbstmord Philipp Auerbachs müssen bei Beyer genügen, um die mit ihnen verbundenen historischen Ereignisse im Kopf der Leser zu evozieren. Geschichte wird also nicht explizit, sondern implizit verhandelt. Und auch seine Figuren werden eher gezeigt denn erklärt. Er lässt sie sich in den zahlreichen Begegnungen mit Enten, Dohlen und Äffchen über ihre unterschiedliche Haltung zum Tier selbst entlarven.6 6
Vgl. hierzu Beyers Ausführungen im Gespräch mit André Hille: “Für mich war es wichtig, den Vogel nicht als Symbol aufkommen zu lassen. Um dem zu entkommen, hatte ich nur eine Möglichkeit: die Tiere bis an den Rand ihrer Symbolhaftigkeit zu zeigen, aber immer an ganz verschiedenen Rändern. Anhand der Tierwelt kann ich Dinge darstellen, die innerhalb der Menschenwelt nicht ausgesprochen werden. Zum Beispiel wenn der Erzähler sich erinnert, dass an Kaltenburgs Institut jemand scheußliche Experimente mit Rhesusaffen durchgeführt hat. Das war eine Möglichkeit, über Menschen zu sprechen, ohne sie bloßzustellen. Die Tierszenen beleuchten die Menschenszenen und die Menschenszenen die Tierszenen.” (Beyer/Hille)
247 “Leben heißt beobachten” (128, 306) lautet das Motto Kaltenburgs und für die Lektüre dieses Romans gilt analog ‘Lesen heißt beobachten’, denn Beyer teilt den Lesern die Position der aufmerksamen Beobachter zu, die aus dem Erzählten eigenständig ihre Schlüsse zu ziehen haben. Auch diese Haltung einer solchen Schreibweise bzw. Lesart kommt im Roman selbst zur Sprache, wenn sich Hermann Funk an die abendlichen Tier-Exkursionen mit seinem Vater erinnert: Wenn wir am späteren Abend loszogen, gab es natürlich nicht mehr allzu viel zu sehen, so lernte ich, mich auf die schwachen Eindrücke zu konzentrieren, den nebensächlich wirkenden Phänomenen meine Aufmerksamkeit zuzuwenden. (42)7
Zentral für eine solche ‘Poetik der schwachen Eindrücke’ ist die Figur des Professor Kaltenburg und ihr Verhältnis zu ihrem historischen Vorbild Konrad Lorenz.
Literatur zwischen Fakt und Fiktion Die Gemeinsamkeiten und Bezüge zwischen beiden sind frappant. Das beginnt schon mit dem Namen, denn Kaltenburg verweist auf Konrad Lorenz’ Geburtsort Altenberg an der Donau. Beide teilen neben den Initialen KL bzw. LK auch Geburts- und Todesjahr (1903 bzw. 1989) und mit grauem Bart und schlohweißem Haar erscheint der eine auch optisch als literarischer Doppelgänger des anderen. Beide eint die Hingabe zur Tier- und insbesondere zur Vogelforschung, beide teilen sich die Rolle als Gründervater einer umstrittenen Wissenschaft, der Ethologie oder Vergleichenden Verhaltensforschung, und beide haben im Laufe ihrer akademischen und publizistischen Laufbahn den wagemutigen Schritt unternommen, von ihren zoologischen Beobachtungen auf das soziale Verhalten der Menschen zu schließen. Während Konrad Lorenz die Ergebnisse seiner Beobachtungen zur Aggression in seinem zivilisationskritischen Bestseller Das sogenannte Böse (1963) zusammenfasste, veröffentlicht der erfundene Professor ein zoologisch-anthropologisches Spätwerk über die Urformen der Angst8 (in der Fiktion nur ein Jahr nach Lorenz’ 7
Als ebensolche metafiktionale Leseanweisung lässt sich auch Knut Sieverdings Machart von Tierfilmen deuten, in welchen er die Interpretation der Bilder seinen Zuschauern überlässt – ganz zum Ärger einiger Rezensenten: „Natürlich gab es auch Kritiker, die etwas völlig anderes erwartet hatten. Mein Wunsch war ganz einfach, die Welt zu zeigen, sie aber hatten sich wohl gewünscht, ich würde ihnen die Welt erklären.“ (50) 8 Hierfür scheint sich Beyer außerdem noch von Günther Tembrocks Studie Angst. Naturgeschichte eines psychobiologischen Phänomens inspiriert haben zu lassen, in welcher Tembrock die Angst ebenfalls als positiv und lebenserhaltend beschreibt, da sie die Chance biete “eine Situation zu beenden, bei der die verfügbaren
248 Buch veröffentlicht), in welchem er die Angst als positive, weil arterhaltende Kraft beschreibt – auch für Menschen. Wie bei Lorenz weist Kaltenburgs Biographie neben zahlreichen braunen auch einen blinden Fleck vor 1945 auf. Beide sympathisierten schon aus beruflichen Gründen eine ganze Zeit lang sehr intensiv mit dem Nationalsozialismus und waren, was beide bis zu ihrem Tode bestritten, 1938 Mitglied der NSDAP geworden.9 Wo Lorenz in zahlreichen Aufsätzen die “Verhaustierung” (Lorenz, zit. nach Föger/Taschwer 110) des zivilisierten Menschen beklagte, schreibt Kaltenburg über Domestikationsschäden (vgl. 80). Wo Lorenz den Schutz der Gesellschaft vor parasitären Existenzformen verlangt, philosophiert Kaltenburg über die Schädlichkeit des Mitleids (vgl. 81f.). Wo Lorenz die Überempfindlichkeit der Gesellschaft angesichts seines neodarwinistischen Gesellschaftsverständnisses bedauert,10 beklagt auch Kaltenburg, dass man nicht mehr vom unterschiedlichen Wert der Menschen sprechen könne, ohne gleich als Verteidiger der Gaskammern gebrandmarkt zu werden (vgl. 345). Und wie Lorenz wurde auch Kaltenburg schließlich vom Lehrstuhl für Philosophie in Königsberg direkt zur Heerespsychiatrie nach Polen abberufen, wo beide mit Verhaltensweisen keinen Ausweg vorgeben.” (Tembrock 103). Auch die von Lorenz und Kaltenburg vorgenommene Übertragung von Tier- auf Menschenforschung findet sich hier, in allerdings reflektierter Form: “Beim Thema Angst sind wir Grenzwanderer zwischen klassischer Biologie und der Psychologie. Wir nutzen Einsichten in die biologischen Grundlagen tierischen Verhaltens, um den Menschen besser verstehen zu können“ (Tembrock 108). 9 Und dies offenbar mit zumindest anfänglich großer Begeisterung, wie seine Ausführungen aus seinem NSDAP-Aufnahmegesuch vom 28. Juni 1938 zeigen: “Ich war als Deutschdenkender und Naturwissenschaftler selbstverständlich immer Nationalsozialist und aus weltanschaulichen Gründen erbitterter Feind des schwarzen Regimes [. . .]. Schließlich darf ich wohl sagen, daß meine ganze wissenschaftliche Lebensarbeit, in der stammesgeschichtliche, rassenkundliche und sozialpsychologische Fragen im Vordergrund stehen, im Dienste Nationalsozialistischen Denkens steht.” (Gauakte Konrad Lorenz, “Personal-Fragebogen zum Antragschein auf Ausstellung einer vorläufigen Mitgliedskarte und zur Feststellung der Mitgliedschaft im Lande Österreich” der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) vom 28. Juni 1938, zit. nach Taschwer/Föger 84f.). 10 “Es ist eine der vielen Aporien, in die sich die zivilisierte Menschheit hineinmanövriert hat, daß auch hier wieder die Forderungen der Menschlichkeit gegenüber dem einzelnen mit den Interessen der Menschheit in Widerspruch stehen. Unser Mitleid mit dem asozialen Ausfallbehafteten, dessen Minderwertigkeit ebensogut durch irreversible, frühkindliche Schädigungen (Hospitalisation!) verursacht sein kann wie durch erbliche Mängel, verhindert, daß der Nicht-Ausfallbehaftete geschützt wird. Man darf nicht einmal die Worte ‘minderwertig’ und ‘vollwertig’, auf den Menschen angewendet, gebrauchen, ohne sofort verdächtigt zu werden, man plädiere für die Gaskammer.” (Lorenz: Die acht Todsünden 58)
249 Menschenexperimenten und erbbiologischen Studien im Dienste des Nationalsozialismus in Berührung kamen, über deren genaues Wesen und Ausmaß aber nur gemutmaßt werden kann (vgl. Deichmann 285ff., Föger/Taschwer 141-160). Kaltenburg und Lorenz sind aber – und das ist entscheidend – dennoch nicht deckungsgleich, denn ihre Beziehung funktioniert weniger nach dem Prinzip der Verdichtung als nach dem Prinzip der Verschiebung (vgl. Bartmann) – um mit Freud zu sprechen. Wie in dessen Traumarbeit sind auch bei Beyer Personen und Orte verschoben und in neue Konstellationen gestellt. Während Konrad Lorenz 1950 in Buldern/Westfalen eine eigene Forschungsstelle erhielt, wählt Kaltenburg nach Jahren der Kriegsgefangenschaft die DDR und geht nach Dresden, wo er sein “Institut für Vergleichende Verhaltensforschung” aufbaut. Hier führt ihn Beyer mit weiteren historisch verbürgten und gleichzeitig fiktionalisierten Personen zusammen, wie etwa mit Heinz Sielmann in Gestalt des Tierfilmers Knut Sieverding und mit Joseph Beuys in Gestalt des Künstlers Martin Spengler. Ein ähnliches Zusammentreffen von Lorenz, Sielmann und Beuys in Buldern ist zwar historisch verbürgt, allerdings nicht in seinem genauen Ablauf und seinen genauen Folgen dokumentiert, so dass Beyer sich die Freiheit herausnimmt, in seiner alternativen Geschichte eine mögliche Entwicklung dieser Beziehung unter DDRBedingungen auszuführen.11 Im Kontext von SED-Diktatur, sozialistischem Realismus und Stasi-Bespitzelung gewinnen Kaltenburgs bzw. Lorenz’ biologische Beobachtungen an Tieren und Menschen ganz neue Bedeutungen. Die von Kaltenburg an verschiedenen Stellen ausgemachte “Todesatmosphäre” (u.a. 82, 240, 378) etwa stellt die Verhätschelung kranker Tiere neben die Pflege Schwerverletzter, Stalins Gulag neben Hitlers KZs und das Elternhaus Hermann Funks neben das Überwachungssystem der DDR. Unerwartete Parallelen und Kontinuitäten treten auf diese Weise zutage und entlarven eine Art innere Wahrheit der Vergangenheit, die sich weniger mit dem tatsächlichen Verlauf als mit der gefühlten Geschichte des 20. Jahrhunderts deckt. Dass Kaltenburg so viel mit Konrad Lorenz gemein hat, ist also insbesondere deshalb so wichtig, weil erst in ihren Unterschieden das kreative Potenzial der Literatur sowie das uneingelöste Potenzial der Geschichte deutlich werden. Lorenz’ Biographie bietet den festen Grund, von dem aus dieses literarische Experiment erst möglich wird. Beyer eignet sich deutlich erkennbare Personen der Zeitgeschichte an und stellt sie in neue Konstellationen, um zu
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Diesem Zusammentreffen der drei hat Beyer sich auch schon im Zyklus Der westdeutsche Tierfilm in seinem Gedichtbad Erdkunde gewidmet, wo es z.B. heißt: “Der Wolf des Wolfes, Mensch und / Gänseklein: wer hätte Lorenz / nicht auf seinem Wasserschloß / besucht, wie Joseph mal von / Sielmann mitgenommen wurde, kurz / vor dem Schädelglühen. [. . .]” (Beyer: Erdkunde 97).
250 prüfen, wie und mit welchen Konsequenzen ihre Geschichte auch hätte verlaufen können. Kaltenburg ist also die fiktionale Biographie einer fiktionalisierten historischen Persönlichkeit aus der Sicht eines Dritten. Welche Konsequenz aber ergibt sich aus dieser mehrfach gebrochenen und gespiegelten Konstellation für das literarische Erzählen von Geschichte? History from a Bird’s Eye View überschreibt Aleida Assmann ihren Aufsatz zu Kaltenburg und verkehrt damit das Anliegen des Textes in sein genaues Gegenteil. Das literarische Schreiben über Geschichte muss eben nicht wie die Historiographie aus der Vogelperspektive berichten, sondern kann sich an einer Geschichtsschreibung von unten versuchen, für welche auch Verdrängtes, Vergessenes und Nebensächliches in den Fokus rücken dürfen. Solche Romane erweitern die Perspektive der klassischen Geschichte, indem sie Grundannahmen von Positivismus und Biographismus in Zweifel ziehen: [Sie] verlagern den Akzent vom Öffentlichen auf das Private, messen der Wahrnehmung des historischen Geschehens im Bewußtsein durchschnittlicher Figuren größere Bedeutung bei und dezentrieren das ‘große’ historische Geschehen. (Nünning 546)
Mit Funk hat Beyer eine solche durchschnittliche Figur zum perspektivischen Zentrum seines Romans erhoben. Er, der auch nach Jahrzehnten noch als Außenseiter auf Dresden schaut und im Schatten der ihn umgebenden Koryphäen zu verschwinden scheint, bietet eine neue Perspektive auf historische Ereignisse. Beyer positioniert seinen Text damit in einem Bereich, in welchem die Literatur in Konkurrenz zur Geschichtsschreibung tritt, nicht nur, weil sie über größere fiktionale Freiheiten verfügt, sondern weil sie sich – ganz im Sinne des von Ansgar Nünning beschriebenen Prozesses “fortschreitender Hybridisierung” (Nünning 545) des historischen Romans – die Geschichte selbst einverleiben und anverwandeln kann. In solchen Romanen wird die Grenze zwischen Literatur und Geschichte aber gerade nicht verdeckt, sondern selbstreflexiv behandelt und dadurch sogar noch besonders hervorgehoben. Das spannungsvolle Verhältnis von Fakt und Fiktion, von kollektiver und individueller Erinnerung, von öffentlicher und privater Geschichte wird ja nur spürbar, wenn auch die ihnen zugrunde liegenden Grenzen sichtbar bleiben. Es geht in Kaltenburg aber gerade nicht nur um das Verhältnis von Geschichte und Literatur, sondern immer auch um die Rolle der Erinnerung bei der Erweiterung dieser Konstellation zu einem Dreiecksverhältnis. Doch auch dies ist typisch für Formen des literarischen Schreibens über Geschichte, wie Konrad Jarausch betont: Der erzählende Duktus fiktiver Texte kann [. . .] eine fast magische Macht in der Wiedererweckung einer versunkenen Welt und der Dramatisierung von Erlebnissen haben, weil er sich auf die Fährnisse weniger handelnder Personen konzentriert.
251 Allerdings bieten literarische Annäherungen an die Vergangenheit [. . .] auch die Möglichkeit einer gleichzeitigen Reflexion über die Bedeutung von Erinnerung, ihre Aporien, Widersprüche und Wiederholungszwänge. (Jarausch 16)
Mit der ständigen Selbstreflexion des Erzählers Hermann Funk verlagert sich die Aufmerksamkeit immer wieder auf die Prozesse narrativer Strukturierung und Sinnbildung. Die Ebene der erzählerischen Vermittlung rückt in den Vordergrund vor die Ebene des Geschehens. Historische Fakten sind nur über die Problematisierung ihrer nachträglichen Rekonstruktion zu erfahren. Beyer nutzt hier konsequent das kreative Potenzial der Romanform, aber nicht etwa, indem er mit Fiktion füllen würde, wo die Quellenlage der Geschichtswissenschaft keine Füllung erlaubt, sondern gerade indem er immer wieder auf die Brüche der Geschichte und die Lücken der Erinnerungen verweist und sie zum eigentlichen Erzählanlass seiner Figuren macht. Historiographie und Literatur werden dadurch in ein Spannungsverhältnis gesetzt, das vom Roman nicht aufgelöst wird, da es seine eigentliche Existenzgrundlage und Daseinsberechtigung ist.
Wahrheit und Erinnerung Kaltenburg ist ein Roman, der die Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Erinnerung mit dem Thema der Tierforschung im Allgemeinen und der Ornithologie im Speziellen verbindet.12 Die wichtigsten Erinnerungsobjekte sind dementsprechend ausgestopfte Vogelbälge. Mumiengleich überleben die derart präparierten Tiere nicht nur ihre Präparatoren, sondern erzählen anhand ihrer Etiketten und Kataloge auch eine ganz eigene Geschichte des 20. Jahrhunderts, in der politische und zoologische Grenzverläufe nicht deckungsgleich sind (vgl. 99ff.). Darüber hinaus scheint ihrer möglichst lebendig wirkenden Erscheinung auch das Potenzial innezuwohnen, besonders 12
In seiner erinnerungskritischen Haltung und seiner Verbindung von Menschheitsgeschichte und Gewalterfahrung mit Tierbeobachtung und zoologischer Sammelleidenschaft erinnert Kaltenburg an Vladimir Nabokovs Sprich, Erinnerung, sprich (1984), von dem der Roman sich mehr als nur das Motto (“Ach, bloß ein kleiner Vogel – der hat keinen besonderen Namen.”) zu leihen scheint. Nabokov rekapituliert in diesem autobiographischen Text insbesondere seine Kindheit anhand von Schmetterlingsfunden und hinterfragt dabei die Authentizität seiner Erinnerungen und deren chronologische Gebundenheit mit einer Bereitschaft, die für Funks Erinnerungsskepsis Pate gestanden haben kann: “Ich gestehe, daß ich nicht an die Zeit glaube. Es macht mir Vergnügen, meinen Zauberteppich nach dem Gebrauch so zusammenzulegen, daß ein Teil des Musters über den anderen zu liegen kommt. Mögen Besucher ruhig stolpern. Und am meisten genieße ich die Zeitlosigkeit, wenn ich [. . .] unter seltenen Schmetterlingen stehe” (Nabokov 140f.).
252 lebendig wirkende Erinnerungen zu evozieren, wobei insbesondere dem Geruch eine wichtige Rolle zukommt, wie Hermann Funk anhand von Ludwig Kaltenburgs Dohlenpräparaten beschreibt: Den Geruch dieser Vögel bekommt man nicht mehr von den Fingern. Man wäscht sich minutenlang die Hände, Seife und Desinfektionsmittel und Sand, man kann die Fingerkuppen schrubben bis aufs Blut: Es nützt nichts, noch die kleinste Spur entfaltet sich zu einer ungeheuren Geruchserinnerung. (109)
Eine Sinneserfahrung ruft einen Augenblick der Vergangenheit in Erinnerung, spontan, unbewusst und unwillkürlich. Über eine sinnliche Assoziation werden zwei völlig unterschiedliche Augenblicke des Lebens miteinander verknüpft. Solche unwillentlichen, der bewussten Rekonstruktion unzugänglichen Erinnerungsakte sind seit Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit fester Bestandteil literarischer Inszenierungen von Erinnerungsprozessen. Ihnen wohnt, da sie nicht an die verformenden Konventionen sprachlicher Rekonstruktion und begrifflichen Denkens gebunden sind, eine gesteigerte Authentizität inne: Ich hatte die beiden ungleichen Pflastersteine, an die ich gestoßen war, in jenem Hof nicht gesucht. Doch bürgte gerade die zufällige, unentrinnbare Weise, wie ich der Empfindung begegnet war, für die Wahrheit der wiederentdeckten Vergangenheit und der freigesetzten Bilder [. . .]. Sie bürgt auch für die Wahrheit des ganzen Bildes mitsamt all jenen früheren Eindrücken, die sie uns zurückgibt, mit jenem unfehlbaren Gefühl für das Verhältnis von Licht und Schatten, [. . .], von Erinnerung und Vergessen, wie es bewußter Erinnerung und Beobachtung auf immer und ewig unbekannt bleiben wird. (Proust 277)
Wo bei Proust der Geschmack einer in Tee getauchten Madeleine, das Geräusch einer klirrenden Gabel oder eben das Stoßen an unebenen Pflastersteinen ein unvermitteltes Eintauchen in die Vergangenheit auslösen, führen bei Beyer der Geruch ausgestopfter Dohlen oder der Geschmack von Asche und verbranntem Teer (vgl. 107f.) zu besonders intensiven Erinnerungen. In ihnen scheinen Vergangenheit und Gegenwart in eins zu fallen und werden vorübergehend ununterscheidbar. Dem chronologischen, messbaren Zeitablauf wird die achronologische, gefühlte Wahrheit des subjektiven Erlebens gegenübergestellt. Bei Proust eröffnen solche der Kontrolle des Subjektes entzogenen mémoires involontaires dem jungen Marcel dementsprechend den Zugang zu einem wahrhaftigen Wiedererleben längst vergangener Zeiten und dem Wesen der Dinge. Bei Beyer ermöglichen sie Hermann Funk immerhin einige wenige Momente der Gewissheit in seiner ansonsten unbeständigen Selbsterkundung. Doch auch auf inhaltlicher Ebene spielt Prousts Recherche eine wichtige Rolle. Funks spätere Ehefrau Klara Hagemann entstammt dem Dresdner
253 Bürgertum. Im Salon ihrer Eltern trafen sich zu DDR-Zeiten Intellektuelle, Künstler und Oppositionelle in kleiner Runde, um über Politik und Kultur zu diskutieren. Hier traf Klara auf Rudolf Schottländer, den damals letzten lebenden Proustübersetzer, der sie auf die Spur des von offizieller Seite verpönten „dekadenten, unzüchtigen Werkes“ (238) setzte. Dessen Lektüre verhilft ihr zu einer differenzierten Beobachtungsgabe und genauen Menschenkenntnis, die auch ein Ludwig Kaltenburg trotz seines angestrebten “Einschwören[s] durch Augenschein” (139f., 310) nicht mehr erreichen wird. Und es verhilft ihr zu einer gewissen Resistenz gegen jene offiziöse Erinnerungspolitik, die mit dem Zwecke „der Schaffung einer nationalen Identität durch Ableitung aus einer gemeinsamen Vergangenheit“ (Jarausch 15) eine Version der Vergangenheit durchzusetzen und andere zu vergessen versucht. Klara kann so etwa dem inszenierten Gedenken, wie es sich in der Gestalt des verklärenden Festumzugs zum 750jährigen Bestehen Dresdens zeigt, der KZInsassen nur als politisch Inhaftierte kennt (vgl. 310-314), eine private, von offizieller Seite nicht zu beeinflussende Wahrheit entgegensetzen, welche den nationalsozialistischen Antisemitismus nicht verdrängt. Allein die Flucht in den Proust lässt sie das Leben in der DDR überstehen und ermöglicht es ihr zugleich, der später einsetzenden romantischen Verklärung der DDR kritisch entgegenzutreten. Das Familiengedächtnis basiert nicht auf der Einheitlichkeit des Inventars seiner Geschichten, sondern auf der Einheitlichkeit und Wiederholung der Praxis des Erinnerns sowie auf der Fiktion einer kanonisierten Familiengeschichte. (Welzer 166)
Was Harald Welzer für die Funktionsweisen des Familiengedächtnisses beschrieben hat, lässt sich auch auf andere Erinnerungsgemeinschaften übertragen: Das Familiengedächtnis bildet einen Rahmen, in welchem die individuellen Erinnerungen über Gespräche aufeinander abgestimmt werden. Auf diese Weise wird die Fiktion einer kohärenten und fundierenden Erzählung gesichert und eine gemeinsame Gruppenidentität erarbeitet. Eine solche gemeinschaftsstiftende Erinnerungspraxis lässt sich aber auch jenseits der familiären Rahmen beobachten, etwa in jenem ostalgisch gestimmten Freundeskreis von Hermann und Klara, der die DDR der 1950er Jahre in zunehmend verändertem Licht sieht. Diese Gruppe stimmt die jeweiligen Erinnerungen aufeinander ab und erarbeitet sich mit zunehmender Gewissheit eine allen genehme Version der Vergangenheit: “Von Bild zu Bild stand den Beteiligten das Geschehen klarer vor Augen, schließlich konnten sich alle daran erinnern, wie sie einander [. . .] auf dem Postplatz begegnet waren” (358). Auch diesem postsozialistischen Kollektivismus, diesem “Konformitätsdruck von unten” (Bisky 122), der den doch eigentlich mit der DDR verabschiedeten Zwang zur Einordnung in die Gruppe erneut und – in
254 verharmlosender Weise – wieder aufleben lässt, stellt Klara ihre an Proust geschulte Erinnerungsskepsis gegenüber: Auf dem Heimweg – die Runde hatte sich danach bald aufgelöst – konnte ich Klara nicht viel mehr entlocken, als daß sie die Geschichten eben nicht ertragen habe, den Gestus, in den die Erzählenden verfielen, als könnten die Erinnerungen Halt bieten, wo doch im Gegenteil die Rückschau uns zutiefst erschüttern, unser jetziges Leben aus den Fugen geraten lassen müßte. (358)
Dieser in ihren Augen falschen, weil verfälschenden Erinnerungspraxis begegnet sie in der Folge mit dem Hinweis, sie könne aus den 1950er Jahren nichts als die Lektüre von Prousts Romanen erinnern, in welchen sie insbesondere die zahlreichen Beschreibungen des Händewaschens so fasziniert hätten (vgl. 359ff.). Jedes Gespräch über die DDR wurde von ihr, wenn sie sich denn daran beteiligen musste, schnell zu einem Gespräch über Proust gewendet: Von den Budapester – oder waren es Prager? – Pflastersteinen gelangte sie innerhalb weniger Sätze spielend zu jener Unebenheit im Straßenpflaster, über die Prousts Erzähler einmal stolpert, als er sich auf dem Weg zu einer Matinee befindet. Ist er nicht eben im Begriff, darüber nachzudenken, wann er sich zuletzt die Hände gewaschen hat [. . .]? (362)
Diese Szene aber – und auch die anderen von Klara beschriebenen – gibt es in der Recherche gar nicht, wie Funk der Übersetzerin am Ende ihres Gespräches enthüllt. Klara stellt also der unbewusst falschen Erinnerung ihrer Freunde die bewusst gefälschte Erinnerung ihrer Lektüre gegenüber. Während bei Funk die unwillkürliche Erinnerung noch der Selbstvergewisserung dient, wird dieser Schein des Authentischen, der ihr anhaftet, von Klara ins Gegenteil verkehrt. Wo Wahrheit stehen sollte, gibt es nur Fälschung. Eine Gewissheit über den tatsächlichen Lauf der Geschichte(n) ist zumindest über die Erinnerung nicht zu erlangen.
Fazit “Was kümmert Sie die Zeit [. . .]. Sie suchen Ähnlichkeiten” (288), lässt Beyer die Übersetzerin auffahren, als Hermann Funk sich wieder einmal naheliegender Berichtigungen seiner Erinnerungen verweigert. Allein in diesem kurzen Satz scheinen Kern und Wesen des Romans zu liegen, denn anstatt um eine chronologisch verlässliche Rekonstruktion der Geschichte geht es Beyer in Kaltenburg vielmehr um das Aufspüren der in sie eingeschriebenen Parallelen und Kontinuitäten – sei es im Kleinen und Privaten, sei es im Großen und Ganzen. Während Kaltenburg und sein ornithologischer Antagonist Matzke unterschiedlicher kaum sein könnten, weisen ihre Vogelpräparate große Gemeinsamkeiten auf. Während früher die Vaterfigur Kaltenburg den eigentlichen Vater aus Funks Erinnerungen zu verdrängen schien, werden in
255 der Rückschau Ähnlichkeiten zwischen beiden deutlich. Während die DDR sich vom Nationalsozialismus abzugrenzen bemühte, entlarvt das Wirken des Professors unter beiden Systemen deren gemeinsames Fundament aus Angst, Einschüchterung und Opportunismus. Die nationalsozialistische Vergangenheit, so kann man das lesen, lässt sich von offizieller Seite weder bewältigen noch beenden, solange mentalitätsgeschichtliche Kontinuitäten und Verhaltensmuster fortwirken.13 Ihre Reflexion wird auch durch das Versterben der Zeitzeugen keinen Bruch erfahren, da deren lebendige und somit vermeintlich wahrhaftige Erinnerung den verfälschenden und verzerrenden Mechanismen aller menschlichen Erinnerungsprozesse unterliegt und kaum größere Authentizität für sich beanspruchen kann als ihr Nacherzählen aus zweiter Hand. Wo Kaltenburg in seinen Erinnerungen bewusst seine Posener Zeit verschweigt, bemüht sich Funk immerhin um Redlichkeit, während Klara genau diese für alles Gedenken ad absurdum führt. Ein grundsätzlicher Zweifel an allen wahrhaftig daherkommenden, erinnerungsgesättigten Erzählungen müsste die Folge sein, zumal wenn man annimmt, dass Ludwig Kaltenburg nicht nur in eigener Sache spricht, als er darauf hinweist, dass man als Zoologe die Fähigkeit zur rückblickenden Selbstbeobachtung aufbringen müsse, um “in der Lage [zu] sein, Fehlschlüsse der Vergangenheit zu korrigieren” (295). Hermann Funk scheint dagegen, wie gezeigt, ein zuverlässiger Erzähler zu sein, insofern er um seine eigene Unzuverlässigkeit weiß. Er gibt zu, dass seine Erinnerungen vermutlich trügerisch sind und er die Vergangenheit nach Maßgabe seines gegenwärtigen Bedürfnisses nach Sinnstiftung und kohärentem Selbstbild konstruiert. Seine Rhetorik der Erinnerung dient dabei nicht einfach der Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse, sondern der Prozess, die Probleme und die mangelnde Zuverlässigkeit der Erinnerungen avancieren selbst zu den zentralen Problemen. Was aber bewirken diese thematisierte Unzuverlässigkeit und seine zahlreichen Erinnerungslücken für die Lektüre des Buches? Beyers Leser sind wieder einmal dazu aufgefordert, am Bild der Geschichte mitzuarbeiten. Es gilt, die Selbstdarstellung Kaltenburgs als eines unpolitischen Zoologen in politisch schwierigen Zeiten genauso zu hinterfragen wie die Ignoranz Funks’ angesichts des Schicksals von Maria und wie das behauptete Unwissen seines Vaters angesichts der vorbeiziehenden Deportationszüge. Umberto Eco hat darauf hingewiesen, dass Texte immer und grundsätzlich unvollständig sind und die Mitarbeit ihrer Leser voraussetzen. Diese entnähmen den Texten nicht nur, was diese sagten, sondern auch und insbesondere das, was nur durch deren Lücken und Leerstellen durchschimmere (vgl. Eco). Kaltenburg fordert ganz in diesem Sinne zu einer erhöhten
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Inwiefern das Fortwirken aber auch auf die BRD und vor allem das wiedervereinigte Deutschland zutrifft, lässt Beyers Roman durch seine Fokussierung auf Kaltenburgs begrenzten Aufenthalt in der DDR offen.
256 Aufmerksamkeit gegenüber allem Ungeschriebenen und Ungesagten auf, indem Beyer hier zeigt, wie schon kleinste Veränderungen der Perspektive der Geschichte einen anderen Sinn zu geben vermögen.
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Bastian Reinert
“Ich lasse am liebsten Tote sprechen”. Elfriede Jelineks postmortales Theater In nearly all of her plays, Elfriede Jelinek upholds a tradition that is almost as old as mankind itself: the idea of a postmortem existence. While one’s own death is traditionally the one event one cannot bear witness to, Jelinek’s characters – the speaking dead – undermine this premise by trying (unsuccessfully) to win back their status as subjects. In In den Alpen and Erlkönigin, Jelinek’s “speaking corpses” (Barthes) are put into the context of the Shoah, bringing together the idea of the commemoration of the dead and the concept of testimony, thus revealing Jelinek’s post-dramatic theater as a postmortem one. Both plays emphatically demonstrate – on fundamentally different levels – that the revisionist discourse in Austria (as well as in Germany) has not only continued to exist in post-war times but has constantly upheld a general downplaying or even a firm abnegation of the Shoah. In both In den Alpen and Erlkönigin, the dead characters underline in different ways the fact that a proper accounting for the past is only possible through open communication and the willingness to talk about past events. Yet, this calls for exactly the readiness to talk that these speaking dead lack because they are merely interested in maintaining their status quo.
Die Vorstellung postmortaler Existenz ist so alt wie die Menschheit selbst. Sie ist in ihren unterschiedlichen Manifestationen – seien es die Hadesfahrten der antiken Literatur oder der bis heute in sämtlichen Regionen und Religionen der Erde verbreitete Jenseitsglaube – wichtiger Bestandteil aller uns bekannten Kulturen und damit gleichsam Ausdruck ihres je spezifischen spirituellen und traditionellen Umgangs mit dem Tod. Während die Erfahrung des Sterbens an sich – wenn auch mit Einschränkungen – noch kommunizierbar ist, muss die Erfahrung des Todes selbst eine nicht kommunizierbare bleiben. Der Tod ist somit der äußerste Skandal der eigenen Existenz, weil er derjenige Moment ist, der sich eben nur noch erfahren, nicht aber mehr mitteilen lässt. Er stellt jenen Nullpunkt von Empirie dar, der seit Anbeginn der Menschheit Eingang in sämtliche ihrer Kulturtechniken, vor allem aber in die Literatur gefunden hat. Der Tod ist also das vom gestorbenen Individuum per se Unbezeugbare, da dieses Individuum nach dem Tod seines Bewusstseins kein Bewusstsein mehr davon haben kann, gestorben zu sein. Wenn sich in der Literatur die Toten dennoch zu Wort melden, lässt sich das als Selbstermächtigung verstehen, als eine ungeheuerliche Inthronisation eines seines Status als Individuum mit Gegenwart und Zukunft Beraubten. Diese literarische Strategie der Selbstermächtigung bezeugt mithin die faktische Ohnmacht gegenüber dem Tod, indem sie die Verhältnisse qua Fiktion einfach umkehrt. Durch den Tod eben noch der Vergangenheit
260 anheim gefallen, ist das Individuum nun – aber als sprechender Toter – wieder ein an der Gegenwart partizipierendes Subjekt. In der Literatur nach Auschwitz lässt sich diese Inthronisation der Wiederauferstandenen als Utopie lesen, die darauf zielt, dem Massenmord etwas entgegenzusetzen. Sie ist Ausdruck dessen, was Theodor W. Adorno in der Negativen Dialektik als “Emanation des irren Wunsches eines vor zwanzig Jahren Umgebrachten” (Adorno 354) beschreibt, denn der Überlebende hat Adorno zufolge sein Weiterleben nach Auschwitz mit dem zu bezahlen, was die Psychologie survivors guilt nennt, nämlich mit den ihn immer wieder heimsuchenden Träumen, “daß er gar nicht mehr lebte, sondern 1944 vergast worden wäre, und seine ganze Existenz danach lediglich in der Einbildung führte” (Adorno 354). Der Überlebende ist somit bereits bei Adorno als lebender Toter charakterisiert, der in zahlreichen avancierten Versuchen literarischer Zeugenschaft von Jean Cayrol über Paul Celan bis zu Samuel Beckett und Elfriede Jelinek ‘auftritt’. Sprechende Tote finden sich im Werk Jelineks ab Mitte der Achtzigerjahre, seitdem Emily und Carmilla als Untote in dem Stück Krankheit oder Moderne Frauen (1984) einen folgen- und facettenreichen Vampirdiskurs eröffneten, der sich bis zum gegenwärtigen Schaffen der Autorin fortsetzt.1 “Wir sind die Untoten, Carmilla! [. . .] Wir sind nicht Tod, nicht Leben”, heißt es dort eindringlich von Emily, einer Widergängerin der romantischen Schriftstellerin Emily Brontë, die ihren paradoxen Status als Halbtote auf die prägnante Formel bringt: “wir sind und sind nicht” (Jelinek: Krankheit 230). Kein anderes Werk der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur weist eine solche Fülle an Toten, Untoten und Gespenstern auf wie dasjenige Jelineks. Es ist deshalb nicht übertrieben zu konstatieren, dass die Tradition der sprechenden Toten in der Literatur seit der Antike in ihrem Werk einen vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. Die postmortale Sprechsituation ist inzwischen zu einer ihre Arbeiten beherrschenden Textstrategie, ja geradezu zu einer Trope par excellence geworden. Vorbereitet wurde dieser buchstäbliche Tod allerdings schon durch seine Metaphorisierung in der frühen Prosa, von wo aus sich eine klare Entwicklungslinie hin zur theatralen Konkretisierung der Toten auf der Bühne in den späteren Theatertexten verfolgen lässt. Den Ausgangspunkt dieser Entwicklung stellt dabei der Anti-Heimatroman Die Liebhaberinnen (1975) dar, der sich am Beispiel des Trivialmythos ‘Liebe’ an Roland Barthes’ Mythen des
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Damit die zeitlichen Bezüge innerhalb von Jelineks Werk im Folgenden immer klar erkennbar bleiben, findet sich im Fließtext hinter der ersten Erwähnung eines Titels stets das Datum seiner Erstveröffentlichung, die gegebenenfalls auch ein Vor- oder Teilabdruck gewesen sein kann. Sofern es eine spätere Buchausgabe eines Textes gibt, wird ausschließlich nach dieser zitiert.
261 Alltags abarbeitet.2 Den Arbeiterinnen Brigitte und Paula bleibt angesichts der doppelten Chancenlosigkeit innerhalb des Patriarchats und innerhalb ihrer Klasse nur noch die Bindung an den Mann, der Sicherheit verspricht und sozialen Aufstieg garantieren soll. Von den Frauen, die “todfroh” in die Ehe gehen, in der sie dann Nachwuchs produzieren, der es ebenfalls “gar nicht mehr erwarten [kann], endlich auch sterben zu dürfen”, heißt es dementsprechend: “überall an den türschwellen sitzen angestorbene frauen wie zerquetschte eintagsfliegen” herum (Jelinek: Liebhaberinnen 32, 17, 68). Was für die Frauen in den Liebhaberinnen gilt, trifft – ins Extrem gesteigert – auch für die Direktorenfrau Gerti im Anti-Porno Lust (1989) zu, deren Mann sich im Zeitalter von AIDS gezwungen sieht, auf Bordellbesuche zu verzichten und stattdessen lieber täglich seine Frau vergewaltigt, die zudem noch gratis zu haben ist. Diese Verdinglichung und damit auch sprachliche Abtötung von Gertis Körper erfährt ihre letztmögliche Steigerung, indem auch dieser Körper – wie die “angestorbenen frauen” in den Liebhaberinnen – nur noch als (sprechender) “Kadaver” (Jelinek: Lust 8) wahrgenommen wird. Grundlegend für Jelineks Werk sind Barthes’ Mythen des Alltags, deren Mythenkritik sowohl in Die Liebhaberinnen als auch in Lust durchgespielt wird, jedoch nicht nur, weil sie Jelinek den Weg gewiesen haben für eine literarische Verfahrensweise, die experimentelle Ästhetik mit historischem Bewusstsein und engagierter Ideologiekritik zu verbinden weiß, sondern vielmehr, weil sie ihr die für das eigene Schreiben so zentrale Allegorie vom “sprechenden Kadaver” verdankt, als den Barthes das bezeichnet, was der Mythos übrig lässt: Der Mythos [. . .] ist eine Sprache, die nicht sterben will, er entreißt dem Sinn, von dem er sich nährt, hinterlistig Dauer, er ruft in ihm einen künstlichen Aufschub hervor, in dem er sich behaglich einrichtet, er macht aus ihm einen sprechenden Kadaver. (Barthes 116)
Es ist ausgesprochen typisch für Jelineks ästhetisches Verfahren – und daher bemerkenswert, dass in der Forschung noch nicht darauf hingewiesen wurde –, dass sie kurzerhand das von Barthes bemühte Bild des Vampirs, das ihm zur Verdeutlichung der Funktionsweise des Mythos dient, buchstäblich auffasst, also konkretisiert, und münden lässt in Figuren, die als Vampire, Untote und Tote tatsächlich ‘sprechende Kadaver’ und somit ihrerseits Mythosträger sind. Auf diese Weise setzt sie wiederum genau das um, was Barthes mit dem “künstlichen” Mythos (Barthes 121) umschreibt, den der
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Siehe hierzu grundlegend Janz: Elfriede Jelinek, die als erste Jelineks BarthesRezeption ins Zentrum ihrer Interpretationen gestellt hat. Vgl. hierzu auch Janz: Falsche Spiegel.
262 Mythologe, also der Mythoskritiker, als Subvertierung des eigentlichen Mythos zu leisten habe. Diesen “künstlichen” Mythos versteht Barthes jedoch nicht – ebenso wenig wie Jelinek – als eine schlichte Umkehr oder Aufhebung, sondern vielmehr als eine weitere Deformation des Mythos. Die “sprechenden Kadaver” in Jelineks Theatertexten sind darum als Subversionen, als ebenjene Deformationen eines mythisch verbrämten Diskurses inszeniert, um mit den Toten genau das bloßzustellen, was nicht totzukriegen ist, nämlich den ständigen Gebrauch einer die Wahrheit verschleiernden Sprache zugunsten der angeblichen Unschuld der Figuren. Jelinek hat bereits früh in Ich möchte seicht sein (1983), ihrem ersten programmatischen Essay zur eigenen Theaterästhetik, hervorgehoben, dass es ihr nicht um ein Theater geht, das Menschen als psychologisch nachvollziehbare Figuren präsentiert, sondern einzig um das Ausstellen von ideologisch verwendeter Sprache. Es stehen mithin bei ihr nicht mehr Charaktere im Vordergrund, die die Basis wären für die von den Schauspielern darzustellenden Persönlichkeiten, sondern lediglich noch Prototypen, auf die die Sprache einfach ‘draufgelegt’ wird. Die Figuren selbst sind nicht mehr Bedeutungsträger, sondern tragen die Sprache, ohne die sie erst gar nicht wären, gewissermaßen nur noch spazieren. In Sinn egal. Körper zwecklos (1997), einem Essay, der ihre Ästhetik des Leblosen als eine Ästhetik des Antiauthentischen noch radikalisiert, betont sie daher: “Die Schauspieler SIND die Sprache, sie sprechen nicht” (Jelinek: Sinn egal 268). In einem Interview konkretisiert sie entsprechend: “Für mich bestehen die Figuren nur aus Sprache, und so lange sie sprechen, sind sie da, und wenn sie nicht sprechen, sind sie verschwunden. Es sind wirklich geschlossene Sprachflächen” (Becker 4). Diese “Sprachflächen” dienen aber keiner Kommunikation, keinem gegenseitigen Verständnis oder Einverständnis, sondern werden so gegeneinander gestellt, dass die Figuren zwar sprechen, aber nicht miteinander und auch nicht mehr aneinander vorbei, sondern geradewegs so, als ob die jeweils anderen Figuren gar nicht mehr existierten. Dadurch wird Jelineks Theater zu einem der Verweigerung, zu einem, das keine Repräsentation mehr kennt, keine Mimesis ans Leben inszeniert und entsprechend den Schauspielern untersagt, Subjekte oder ‘Menschengestalter’ sein zu wollen. So ist also bei ihr schon früh eine Tendenz des Leblosen erkennbar, die ihre logische Konsequenz in den Toten auf der Bühne gefunden hat, denn die können schließlich in ihrem Diskurs wirklich nicht mehr so tun, als sei es noch das echte Leben, das da aus ihnen spricht. Vor dem Hintergrund der Allgegenwärtigkeit der Toten in ihrem Werk wundert es kaum, dass sich Jelinek diesbezüglich schon früh auf Heiner Müller bezogen hat, der vom Thema Auschwitz ebenso wie sie “nie losgekommen” sei und bei dem die Toten auf der Bühne sinnbildlich für den vergeblichen Versuch stünden, “die Toten von uns abzuhalten, weil wir mit
263 dieser Schuld nicht leben können” (Carp 4). Auch Müller hat als Reaktion auf ein die Geschichte verharmlosendes Theater an die Erinnerungsfunktion appelliert, die zeitgenössische Bühnenautoren zu erfüllen hätten: “Eine Funktion von Drama ist Totenbeschwörung”, da der “Dialog mit den Toten” nicht abreißen dürfe, “bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist” (Müller: Vorwärts zurück zu Shakespeare 64). Wie bei Jelinek ist auch bei Müller mit der “Totenbeschwörung” ein figuratives Hinabsteigen zu den Toten gemeint, eine Art Umkehr der Verdrängung und des Vertuschens: “Es ist an der Zeit”, heißt es wiederum bei Müller, “die Toten unter dem Teppich hervorzuholen und sie auf die Bühne zu bringen” (Müller: Für ein Theater 136). Dem leistet Jelinek im Grunde Folge, wenn sie in Da gibt’s nichts zu lachen (2009), einem kurzen Essay zum Gedenken an Müller, ihr ästhetisches Verfahren auf folgenden Punkt bringt: Die Toten sprechen. Auch ich lasse am liebsten Tote sprechen [. . .]. Die Toten, das sind die, welche einem am wenigsten dreinreden, noch weniger als erfundene Figuren, denn die sprechenden Toten sind ja zur Sicherheit doppelt tot, ihr Sprechen ist Fiktion, und sie selbst [. . .] sind, als Tote, Medien der Enttäuschung, weil man sich die Geschichte doch ganz anders vorgestellt hat [. . .]. Man kann ihnen jedes Sprechen an den Körper klatschen, um sie, als Golems, als Popanze neu entstehen zu lassen, mit vollkommen neuer Rede, eigens geschrieben vom Dichter. [. . .] So, das Leben ist jetzt weg, das Sprechen ist aber noch da, und es ist alles, was es gibt. (Jelinek: Da gibt’s nichts zu lachen)
Sowohl bei Müller als auch bei Jelinek bleiben die Toten eben nicht unter dem Teppich der Vergangenheit, sondern lugen ständig darunter hervor: “Der tot ist, der schläft in seiner eigenen Welt, in die auch ich nicht hineinschauen kann”, heißt es in Jelineks Dankesrede zur Verleihung des Mülheimer Theaterpreises 2002, aber sie “versuche dafür, die Toten ein wenig herausschauen zu lassen” (Jelinek: Die Kunst geht sich nie aus 7). Auch Jelinek unternimmt damit den Versuch, in ihrem postmortalen Theater den von Adorno beschriebenen “irren Wunsch eines vor zwanzig Jahren Umgebrachten” produktiv zu machen: “Daß ein Toter überhaupt sprechen darf, bedeutet vielleicht ein schreckliches Transzendieren ins Nichts des Sprechens, das selber nichtig ist, des Sprechens von einem, der überlebt hat, aber nur gerade so eben” (ebd.). In ihren Texten sind die Toten immer Mahnende gegen den Diskurs historischer Unschuld, der die Hintergründe dieses Gestorbenseins vergessen machen will. Dem Verleugnungs- und Relativierungsdiskurs, der noch immer anhält, kann – so Jelineks ästhetisches Programm – am wirkungsvollsten dort begegnet werden, wo die Toten selbst auftreten. Denn aus den Toten spricht eine höhere Wahrheit, das heißt, sie sprechen mit einer nicht mehr zu überbietenden Autorität. Wie es Gespenster häufig tun, verweisen auch Jelineks Tote auf einen Frevel der Lebenden, denn seit Odysseus’ Hadesbesuch und seit Lukians Totengesprächen (und der
264 daran anschließenden Tradition) dienen die Stimmen der Toten als Korrektiv der jeweiligen Gegenwart. Als Boten aus dem Jenseits und mit der Totalperspektive von oben sind sie offenkundige Inszenierungen von Objektivität und damit zugleich so etwas wie eine Travestierung des Authentizitätsanspruches an Zeugenschaft insgesamt. Die Toten sind nicht nur Träger des Gedächtnisses, sondern geradezu das personifizierte, ewige Gedächtnis selbst und so Ausdruck eines Gedächtniszwanges, der dem ebenso ewigen Verdrängen und Vergessen immer sein Gegenteil vorhält. Jelinek hat daher einmal die Kunst – und gleichfalls ihr Theater – folgendermaßen perspektiviert: “Das berühmte Adornosche Diktum würde ich umformulieren: Es darf kein Kunstwerk geben, in dem die Shoah nicht ist” (Beil et al. 400).. Das Stück In den Alpen ist ein treffliches Beispiel dafür, wie ihre Dramentexte gerade in den letzten Jahren im Kontext der Shoah und im Schnittpunkt von Totengedenken und Zeugenschaft inszeniert werden, denn ihm dient vordergründig das katastrophale Bergbahnunglück im österreichischen Kaprun im November 2000 als Stoff. Im Tunnel der aus offensichtlicher Profitgier der Betreiber nur unzureichend gewarteten und darüber hinaus auch noch mit hochbrennbaren Bauteilen gefertigten Gletscherbahn erstickten und verbrannten 155 Passagiere, mehrheitlich Kinder und Jugendliche, während nur ein Bruchteil der Touristen knapp entkommen konnte. Jelinek hat diesen tragischen Unfall in Interviews mehrfach als die schlimmste Katastrophe der österreichischen Geschichte nach Auschwitz bezeichnet und angegeben, dass sie nicht umhin konnte, bei den Rauchwolken von Kaprun an die Schornsteine von Auschwitz zu denken (vgl. Piekenbrock). Jens Birkmeyer hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Jelinek hierbei Kaprun und Auschwitz in einen Vergleich hinein gezogen hat, der kritische Leserinnen und Leser durchaus frappieren muss. Denn schließlich handelt es sich in dem einen Fall um ein singuläres, menschliches Fehlverhalten, das zu einem tragischen Unfall, und im anderen Fall um historisch präzedenzloses (und massenhaftes) Fehlverhalten, das zur willentlichen Vernichtung von Millionen Menschen führte. Auch ihre plakative Unterscheidung in Opfer und Täter ist Jelinek immer wieder zum Vorwurf gemacht worden und sicherlich ließen sich nicht wenige Einwände gegen diese Simplifizierungen erheben. Man muss allerdings auch hier zur Kenntnis nehmen, dass sie schlichtweg von ihrem Verfahren, das sie in einem ihrer frühen ästhetischen Texte bewusst als “eine Art Holzschnittechnik” (Jelinek: Ich schlage sozusagen mit der Axt drein 14) benannt hat, nie abgerückt ist – selbst angesichts einer Thematik nicht, die bei manchem gewiss nach einer stärkeren Differenzierung verlangt. Jelinek ging es jedoch von Anfang an nicht um “abgerundete Menschen”, sondern expressis verbis “um Polemik” und “Schwarz-Weiß-Malerei” (ebd.). Was daher zunächst an dem Stück auffällt, ist, dass auch hier die Figuren nur noch Schattenrisse, nur
265 noch Stereotype sind, weshalb ihre Rollenbezeichnungen schlicht “Helfer”, “Kind”, “Mann”, “Junge Frau” und am Ende lediglich “A” und “B” lauten. So ist ihnen schon auf der Ebene der Regie- und Rollenanweisungen jegliches Leben ausgehaucht, indem sie ihre Individualität einbüßen und zu bloßen Vertretern einer Kategorie werden, die wie “Spielsteine” eingesetzt werden, um eine Aussage zu machen. In In den Alpen interagieren und sprechen die “Helfer” (also die “Lebenden”) mit den Toten, deren Sprechen aus dem Jenseits (oder genauer: deren Sprechen buchstäblich neben ihren eigenen Leichensäcken) als Ringen mit ihrem Schicksal als Tote gezeigt wird. Im mal versteckten, mal kalauerartig offensichtlichen Rekurs auf die in der deutsch-österreichischen Nachkriegsgeschichte verdrängte Shoah in ihrem Stück versucht Jelinek die Aporie von Zeugenschaft nach Auschwitz zu unterwandern, die Giorgio Agamben in Was von Auschwitz übrig bleibt folgendermaßen formuliert: “es ist nicht möglich aus dem Inneren des Todes Zeugnis abzulegen, es gibt keine Stimme für das Verschwinden der Stimme” (Agamben 31). Indem sie den Toten aber ihre Stimme (zurück) gibt, durchbricht Jelinek den Dualismus von Leben und Tod und kehrt die Stimmlosigkeit der Toten wieder um. Diese Art der Inversion, die Umkehrung von Stimmenverlust zu Sprachmächtigkeit, wird bei Jelinek zu einem wesentlichen Verfahren. Was den “Opfern” in Jelineks Texten bei aller Disparität gemeinsam ist, lässt sich als Gegendiskurs der “endlose[n] Unschuldigkeit” (vgl. Jelinek: Die endlose Unschuldigkeit), des Vergessens und Verdrängens deuten, der nur auf Fortschritt und Normalisierung bedacht ist und die Geschichte als Vergangenes stets aus der Gegenwart heraushalten will. In In den Alpen wird dies besonders einsichtig, wenn der Gletschertunnel mit der ausgebrannten Bergbahn zum “Ofen” umgemünzt wird und ein Opfer von Kaprun (“Kind”) im Jenseits auf ein Opfer von Auschwitz trifft (“Mann”), das allerdings kein unmittelbares Opfer der Vernichtungslager ist. Das verbrannte Kind sagt schließlich (mit Bezug auf die 155 verbrannten Bergtouristen von Kaprun) zu dem Mann: “Unser Ofen hat 155 Stück geschafft, aber daß Ihrer viel mehr geschafft hat, das müssen Sie mir erst beweisen! Opa sagt, das geht gar nicht” (Jelinek: Alpen 42). Was als Reminiszenz an die Menschenvernichtung von Auschwitz anklingt (indem der Relativierungsdiskurs aufgegriffen wird, der sich offenbar noch bis in die jüngste Generation fortsetzt), führt zu einer Verwischung der ganz unterschiedlichen Opfergruppen von Kaprun und Auschwitz. Dies wird noch verkompliziert durch den Umstand, dass Jelinek diesen “Mann” qua Zitatcollage erkennbar als Celan ausweist, der gemäß den Regieanweisungen auf an seine Person gerichtetes ‘Kreischen’ und ‘Schreien’ stets mit hilflosem “Weiß ich” oder “Versteh ich, versteh ich” (Jelinek: Alpen 41) antwortet. Diese Verknüpfung ist sowohl Jelineks ästhetischem Verfahren der Überzeichnung geschuldet als auch ihrem offensichtlichen Bedürfnis nach Brüskierung, denn
266 es handelt sich dabei – das lässt sich nicht leugnen – um eine Vereinnahmung Celans als Stellvertreter für die Gruppe der Shoah-Opfer, die dieser selbst so nie für sich reklamiert hatte. Dem fremdenfeindlichen und offen antisemitischen Diskurs, der im Stück zum Tragen kommt, werden Versatzstücke aus Celans Gespräch im Gebirg (1959) gegenübergestellt, die jedoch erkennbar Fremdkörper bleiben. Celans Text über die Erfahrung der Fremde und der Fremdheit ‘des Juden’ in der Welt führt eben nicht – anders als es im Gespräch im Gebirg zwischen Jud Klein und Jud Groß der Fall ist – zu einem Dialog zwischen “Kind” und “Mann”, sondern lediglich zu einer toten Sprachmontage. Die Sprache ist und bleibt hier doppelt tot: als von Toten gesprochene und als eine in ihrer Funktion als Kommunikationsmedium gescheiterte Sprache. Die “Sprachflächen” des ‘daherzockelnden’ Juden erfahren in In den Alpen keine Integration und auch die im Gespräch im Gebirg unternommene Selbstreflexion des Jüdischen im Kontext der Erfahrung von Auschwitz führt in Jelineks Text – auf der Figurenebene – nicht zu einer Reflexion auf Sprache. Das Gegenüber des monologisierenden Celan, also das Kind, fungiert nämlich nicht als Dialogpartner, sondern lediglich als Stichwortgeber mit austauschbaren Einsätzen, auf die Celan wiederum nicht reagiert, sondern einfach in seinem Text-imText fortfährt. Aus dem jüdisch-jüdischen Dialog des Gesprächs im Gebirg lässt sich also in In den Alpen kein deutsch-jüdischer Dialog herstellen, sondern nur eine gescheiterte Kommunikation konstatieren, die damit das unterstreicht, was schon Gershom Scholem mit seiner Polemik Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch (1964) auf den Punkt brachte (vgl. Scholem). Denn was Jelinek hier effektvoll ausstellt, ist die offenbar noch immer fehlende Bereitschaft zu einem wirklichen, von Ressentiments befreiten Gespräch, ohne das eine echte Aufarbeitung der Vergangenheit unmöglich ist. Diese radikale Dialogverweigerung wird noch deutlicher an der Titelfigur des Monodramas Erlkönigin. Diese, eine berühmte Burgschauspielerin, wird nach ihrem Tod (wie es für eine Doyenne dieser Wiener Institution üblich ist) dreimal um das Burgtheater herum getragen, während sie sich – in ihrem Sarg sitzend – Fleischstücke vom Leib schneidet, die sie ab und an ins Publikum wirft. Ohne auf den dialogischen Austausch mit anderen Figuren angewiesen zu sein, kann die Erlkönigin endlos parlieren über ihre Schauspielkunst und die Macht, die sie durch ihre Verführungskünste über das Publikum hatte und die sie – wie sie beglückt feststellt – über ihren Tod hinaus noch immer hat. Ihr Monolog, der weniger ein Selbstgespräch als vielmehr eine dämonisch iterative Publikumsansprache darstellt, ermöglicht es ihr, in immer neuen Anläufen über ihre Karriere als Schauspielerin im ‘Dritten Reich’ zu reflektieren, ohne jemals ihre Mitschuld an der Propaganda für das nationalsozialistische Regime eingestehen zu müssen. Da es keine Gegen- oder Widerrede zu ihrer Suada gibt, braucht sie keine Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und sich auch der Vergangenheit nicht zu stellen.
267 Unverkennbar wird die Figur der Erlkönigin als eine Überzeichnung der Burgschauspielerin Paula Wessely ausgewiesen und mithin das Stück zu einem Epilog zu Jelineks Burgtheater, das nach seiner Uraufführung 1985 den bis dahin größten Theaterskandal der österreichischen Nachkriegsgeschichte auslöste. Hinter Istvan, Schorsch und Käthe, den drei Protagonisten in Burgtheater, ließen sich seinerzeit unschwer die Säulenheiligen und seit Jahrzehnten verehrten Publikumslieblinge der österreichischen Theater- und Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts erkennen: Paula Wessely (1907–2000), ihr Mann Attila Hörbiger (1896–1987) und dessen Bruder Paul Hörbiger (1894–1981). Ausgangspunkt für Burgtheater war die prominente Beteiligung Wesselys und ihres Mannes an Gustav Ucickys Hetzfilm HEIMKEHR (1941), den Jelinek noch vor Veit Harlans JUD SÜß (1940) als den “schlimmste[n] Propagandaspielfilm der Nazis überhaupt” (Jelinek: Die Kriegsgewinnlerin 150) bezeichnet hat und in dessen Folge Wessely zum größten und bestbezahlten Star der großdeutschen Film- und Propagandaindustrie avancierte.3 Jelinek geht es allerdings weder in Burgtheater noch in Erlkönigin darum, ihre Figuren oder deren reale Vorbilder als ideologisch überzeugte Nazis zu denunzieren, sondern darum, erstens ihren Opportunismus anzuprangern (deshalb lässt sie sie unentwegt Sätze sprechen, die die Willfährigkeit aufstiegswilliger NS-Schauspieler als pure Anbiederei ausstellt) und zweitens ihren banalisierenden Umgang damit nach dem Ende des Krieges aufzuzeigen. Mit Erlkönigin treibt Jelinek schließlich ihr Konzept der “Sprachflächen” auf die Spitze, da die Figur hier lediglich als Textoberfläche existiert, die ihren theatralen Charakter überhaupt nur noch daraus gewinnt, dass ihr Monolog die Anwesenheit eines Publikums voraussetzt. Denn ihre Publikumsansprachen, die zuweilen in regelrechte Publikumsbeschimpfungen umschlagen, rekurrieren nicht von ungefähr auf Peter Handkes gleichnamige Publikumsbeschimpfung (1965). Zwar führen die Ausfälle der Erlkönigin nicht zu solchen exzessiven Tiraden gegen das Publikum wie in Handkes frühem Stück, doch zielen sie gewiss in dieselbe Richtung, indem sie dessen Gestus übernehmen. Denn Publikumskritik auf der Bühne ist gewiss die radikalste Form von Gesellschaftskritik, da die Kritisierten zugleich ein Teil der Performance als auch Objekte der Kritik sind. Wie bei Handke werden daher auch bei Jelinek für das Publikum möglicherweise kathartisch wirkende Effekte von der Erlkönigin nicht nur konsequent unterminiert, sondern das Publikum selbst in einem fort denunziert – entweder als begeisterte Mitläufer oder als schweigende Mehrheit, die aus ihrem passiven Verharren die 3
Zählte Wessely vor Beginn des Krieges mit einer pauschalen Gage von RM 120.000 pro Film immerhin schon zu den fünf bestbezahlten Filmstars, so stand sie spätestens 1944 noch vor prominenten Kollegen wie Gustaf Gründgens und Heinz Rühmann, die rund ein Drittel weniger verdienten, unangefochten an erster Stelle. Vgl. Drewniak 153 u. 162.
268 Schlussfolgerung ableiten zu können glaubt, an der Geschichte nicht beteiligt gewesen und somit auch nicht schuldig geworden zu sein. Während die Erlkönigin in ihrem Selbstgespräch ihre Karriere Revue passieren lässt, entlarvt sie sich nicht nur als Opportunistin, sondern zugleich als gefälliges Propagandainstrument: “Ich zeige dem Volk, wie eine Frau aus dem Volk ist. Wie eine Frau aus dem Volk spielt, daß sie eine Frau aus dem Volk ist, damit das Volk selber immer wieder sich selbst dienstbar gemacht wird. Wozu es schließlich gebraucht wird” (Jelinek: Erlkönigin 23f.).4 Indem sie ihre Schauspielkunst ostentativ zelebriert und gleichsam performativ vorführt, dekuvriert sie den einzigen Nutzen, den ihr Spiel für die Propaganda des ‘Dritten Reiches’ überhaupt hatte: “Meine Rolle: ich besänftigte sie [die Massen, BR], damit sie ihren Rudelführer nicht zerrissen, sondern sich für ihn zerreißen ließen. Brot für alle? Das geht nicht. Spiele für mich? Das geht schon” (E 23). Wie immer bei Jelinek wird die Kritik an der Figur der Figur selbst schon in den Mund gelegt und so wird auch das Sprechen der Erlkönigin zu einer fortwährenden Selbstentblößung, da sich hier die Sprache durch ihre eigene Konterkarierung überführt und am Beispiel einer Zeit größter Hungersnöte den eklatanten Egoismus der Figur offen legt. Jelineks Versuch, den nachkriegsgesellschaftlichen Mythos historischer Unschuld in immer neuen Anläufen aufzuspüren, zu beschreiben und zu destruieren, setzt sich hier fort mit einer Figur, deren prätendierte Unschuld – anders als noch in Burgtheater – sich nicht erst im unentwegt enthüllenden Versprechen als ihr Gegenteil überführt, sondern sich bereits im vordergründig offenen Machtdiskurs der Figur als Schein zu erkennen gibt. Die Erlkönigin kann gar nichts dagegen tun, dass sie sich, während sie sich noch zu behaupten versucht, im selben Atemzug schon demontiert: In die verschleiernde Sprache der Figur ist zugleich schon ihre Deutung eingelassen, die sie selbst natürlich nicht wahrhaben will, darum aber umso deutlicher ausstellt. Wie schon zu Lebzeiten, so spricht und spielt sie auch “unter der Erde” (E 28) unaufhörlich weiter, da allein ihr Sprechen und Spielen zum einzigen Instrument ihres Machterhalts geworden ist. Ihr Nachleben ist eines, das verspricht fortzudauern, da das Leben – wie die Erlkönigin lakonisch sagt – dem Tod ohnehin nur “als Vorlage” (E 8) gedient habe. Wie alle sprechenden Toten in der Literatur kreist auch die Erlkönigin notwendig um sich selbst und trägt dabei das von ihr repräsentierte Paradox einer Existenz zwischen Leben und Tod unentwegt vor sich her. Dieses Paradox lässt sich allerdings nicht auflösen, indem die Grenzen zwischen Leben und Tod sprachlich einfach verwischt werden und man die lebenden Toten zu den ‘eigentlich’ 4
Im Folgenden zitiere ich im Fließtext aus dieser Ausgabe unter Verwendung der Sigle E mit entsprechender Seitenzahl.
269 Lebenden erklärt, während die Lebenden die ‘eigentlich’ Toten seien. Die sprechenden Toten schwanken daher nicht etwa zwischen Existenz und NichtExistenz, sondern ihr Totsein ist ihre Existenz, also ein Fortleben im Tod, der kein ‘Nicht-Zustand’, sondern exakt ihr Zustand ist. Aus diesem Grund hat die Rede der Toten auf dem Theater – und Erlkönigin unterstreicht dies in besonderem Maße – stets den Charakter eines Epilogs, der die Erzählposition des Ich immer auch als après coup reflektiert, als ein nachträgliches, verspätetes und vielleicht schon zu spätes Sprechen. Ungebrochen erinnert sich die Erlkönigin mit Wehmut und Stolz an ihre Erfolge in der NS-Zeit: “Meine Premieren in Anwesenheit der höchsten Uniformierten, dieser Vormieter der Ewigkeit. Leute mit Armbinden, Ordner, die den Schlüssel zu dieser Ewigkeit hatten und Millionen durchwinkten. Ordnung muß sein” (E 7). Mit der deutlichen Anspielung auf den Massenmord in Auschwitz, der hier mit stereotyp deutscher Organisationsmanie assoziiert wird, denunziert Jelinek nicht nur in aller Schärfe das Anbiedern ihrer Figur an die Nazigrößen, sondern hebt vor allem ihre Mitverantwortung an der Aufrechterhaltung dieses Menschen vernichtenden Systems hervor und unterstellt der Figur, zu jedem Zeitpunkt genau gewusst zu haben, für was sie sich aus Gründen der Karriere hingegeben hat. Es geht nicht darum, das, wofür sie steht, als ihr tatsächliches ‘Sein’ zu diffamieren, sondern stets darum, ihren Opportunismus, und damit den ‘Schein’, als karrieristisches Andienen bloßzustellen, denn dieser Schein hat das Publikum (das daran aber wiederum nicht ganz unschuldig ist) blind gemacht für den Betrug an ihm: Ein Glück, daß Sie das alles nicht merken und nie gemerkt haben! Zum Beispiel der Wolf, der Sie damals, gleich nebenan auf dem Platz, mit der weit aufgerissenen Schnauze an der Schulter berührt und angespuckt hatte [. . .]. Er durfte ruhig selbst zum Tier werden und seine Milchzähne an einem Faden zeigen, bis endlich wieder Ruhe war und der Applaus aufbrandete, alles über und über mit Gischt und Geifer bespritzend. (E 9)
In dieser Passage wird ein für Jelinek typisches Verfahren deutlich. Die zentrale Kritik eines Textes – hier die am Mythos historischer Unschuld – wird scheinbar beiläufig und beinahe bis zur Unkenntlichkeit entstellt und auf verschiedenen Ebenen des Textes immer wieder durchgespielt. Das viel sagende “gleich nebenan” bezieht sich ganz konkret auf den vom Burgtheater – also von der intendierten Spielstätte des Stückes aus gesehen – “nebenan” liegenden Wiener Heldenplatz, wo sich Hunderttausende von Menschen versammelten, als Hitler dort am 15. März 1938 seine so genannte ‘Anschluss’-Rede hielt. Mit dem “Wolf” ist unübersehbar Hitler selbst gemeint, der ihn als emblematisches Pseudonym führte, das er nicht nur vielfach in seiner privaten Korrespondenz verwendete, sondern dem vor allem Führerhauptquartiere wie ‘Wolfsschanze’, ‘Wolfsschlucht’ und ‘Werwolf ’ ihre Decknamen verdankten.
270 Als Hitler also an diesem Frühjahrsvormittag dem “deutschen Volke die größte Vollzugsmeldung” seines Lebens abstattete, nämlich “den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich” (Hitler 340), wurde er nachweislich begeistert empfangen. Dass ihn die Massen frenetisch bejubelten, ist in der (auch literarischen) Nachgeschichte jedoch meist vergessen worden. Zwar ist diese Begeisterung auf Bild und Ton gut dokumentiert, doch passte sie später nicht mehr zum Selbstverständnis der Zweiten Republik, das das Ideologem von Österreich als dem ‘ersten Opfer’ Hitlers salonfähig machte und so den Unschulds- und Opfermythos ins österreichische Geschichtsbewusstsein implementierte.5 Jelinek zeigt mit In den Alpen und Erlkönigin eindrücklich auf zwei fundamental unterschiedlichen Ebenen, dass der revisionistische Diskurs in Österreich nicht nur bis in die unmittelbare Nachkriegszeit hinein fortlebte, sondern sich noch bis heute (ebenso wie in Deutschland) immer wieder fortschreibt. Erlkönigin zeigt in der Verwendung einer toten, wiedergängerischen Protagonistin, die auf der Seite der Täter stand, dass die Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich noch nicht ausreichend aufgearbeitet worden sein kann, wenn das reale Vorbild der Figur, Paula Wessely, noch bis zu ihrem Tod im Jahr 2000 (und von weiten Teilen der Öffentlichkeit noch darüber hinaus) vehement verteidigt wird, während umgekehrt Jelinek als “Nestbeschmutzerin” verunglimpft wurde und wird.6 Hierfür steht in beiden Stücken der Verleugnungsdiskurs, der sich in der Sprache der toten Figuren ungehemmt Bahn bricht. In den Alpen knüpft mit dem revisionistischen und antisemitischen Geplapper des Kindes, das als unbewusstes und unreflektiertes Nachplappern von Klischees (zum Beispiel des geizigen Juden) gezeigt wird, direkt an diesen Diskurs an. Der Figur Celan, dem “Opfer”, wird der Dialog dabei im gleichen Maße verweigert wie sich die Erlkönigin, die “Täterin”, mit aller Macht ihre Sprach- und damit Deutungshoheit sichert. Beide Figuren unterstreichen damit in Jelineks postmortalem Theater auf ihre je eigene
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Urte Helduser sieht vor dem Hintergrund dessen, wie der Alpenkönig im Burgtheater zu Tode kommt, im “Bild des Fleischverteilens” in Erlkönigin gar eine auf dieses Geschichtsbewusstsein anspielende “Vertauschung von Opfer und Täter/in aufgerufen”, die auch in der Nachbemerkung des Stückes thematisiert werde. Allerdings missversteht Helduser hier Jelineks auf die Affäre um Binjamin Wilkomirski anspielenden Kommentar zu den “Opferrollen, die bisher nie sonderlich beliebt waren, aber inzwischen eben deutlich im Kurs gestiegen sind” (E 89) und bezieht ihn fälschlicherweise auf die Erlkönigin, die wiederum an keiner Stelle von sich als Opfer spricht. Die einfache Umkehr von Täter/in in Opfer, die die Figuren noch am Ende von Burgtheater vornehmen, wird in Erlkönigin gerade nicht fortgesetzt. Vgl. Helduser 173. 6 Vgl. hierzu Janke.
271 Weise, dass eine echte Aufarbeitung der Shoah nur mit in alle Richtungen offener Kommunikation zu haben ist.
Literatur Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (1966). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und sein Zeuge. Übers. von Stefan Monhardt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Übers. von Helmut Scheffel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. Peter von Becker: “Wir leben auf einem Berg von Leichen und Schmerz.” Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: theater heute. Nr. 9/1992. S. 1–9. Hermann Beil et al. (Hg.): Weltkomödie Österreich. 13 Jahre Burgtheater, 1986–1999. Band II: Chronik. Wien: Zsolnay 1999. Jens Birkmeyer: Elfriede Jelinek – Tobsüchtige Totenwache. In: Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Norbert Otto Eke/Hartmut Steinecke. Berlin: E. Schmidt 2006. S. 302–310. Stephanie Carp: “Ich bin im Grunde ständig tobsüchtig über die Verharmlosung”. Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Theater der Zeit Mai/Juni 1996. Boguslaw Drewniak: Der deutsche Film 1938–1945. Ein Gesamtüberblick. Düsseldorf: Droste 1987. Urte Helduser: Theaterlegenden. Paula Wessely im Werk Elfriede Jelineks. In: Elfriede Jelinek. Stücke für oder gegen das Theater? Hg. von Inge Arteel/Heidy Margrit Müller. Brüssel: VWK Universa Press 2008. S. 165–174. Adolf Hitler: ‘Ansprache auf dem Heldenplatz in Wien, 15. März 1938’. In: “Anschluß” 1938. Eine Dokumentation, im Auftrag des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands ausgewählt. Bearbeitet und zusammengestellt von Heinz Arnberger et al. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1988. S. 338–340. Pia Janke (Hg.): Die Nestbeschmutzerin. Jelinek und Österreich. Salzburg-Wien: Jung und Jung 2002. Marlies Janz: Elfriede Jelinek. Stuttgart-Weimar: Metzler 1995. ———: Falsche Spiegel. Über die Umkehrung als Verfahren bei Elfriede Jelinek. In: Literaturmagazin 23 (1989). S. 135–148. Elfriede Jelinek: Da gibt’s nichts zu lachen (im Gedenken an Heiner Müller). http://www.elfriedejelinek.com. Downloaded 28.3.2012. ———: Die endlose Unschuldigkeit (1970). In: dies.: Die endlose Unschuldigkeit. Prosa – Hörspiel – Essay. Schwifting: Schwiftinger Galerie-Verlag 1980. S. 49–82. ———: Erlkönigin. In: dies.: Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999. S. 5–30. Zitiert mit der Sigle E. ———: Ich möchte seicht sein (1983). In: Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Hg. von Christa Gürtler. Frankfurt a.M.: Neue Kritik 1990. S. 157–161. ———: Ich schlage sozusagen mit der Axt drein (1984). In: TheaterZeitSchrift 7 (1984). S. 14–16.
272 ———: In den Alpen. In: dies.: In den Alpen. Drei Dramen. Berlin: Berlin Verlag 2002. S. 5–65. ———: Krankheit oder Moderne Frauen. In: dies.: Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992. S. 191–265. ———: Die Kriegsgewinnlerin. Ein Interview mit Elfriede Jelinek. In: Format 20 (2000). S. 150. ———: Die Kunst geht sich nie aus. Dankesrede zur Verleihung des Mülheimer Dramatikerpreises 2002. In: theater heute 43 (2002) H. 7. S. 7. ———: Die Liebhaberinnen (1975). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990. ———: Lust. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989. ———: Sinn egal. Körper zwecklos (1997). In: Elfriede Jelinek. Die internationale Rezeption. Hg. von Daniela Bartens/Paul Pechmann. Graz: Literaturverlag Droschl 1997. S. 266–272. Heiner Müller: Für ein Theater, das an Geschichte glaubt. Gespräch mit Flavia Foradini. In: ders.: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Hg. von Gregor Edelmann/Renate Ziemer. Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1990. S. 130–136. ———: “Vorwärts zurück zu Shakespeare in einer auch von Brechts Theater mit veränderten Welt”. Gespräch zwischen Wolfgang Heise und Heiner Müller. In: ders.: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Hg. von Gregor Edelmann/ Renate Ziemer. Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1990. S. 50–70. Marietta Piekenbrock: ‘Ich habe das Bedürfnis, die Erde wegzukratzen.’ Elfriede Jelinek über den Unschuldsbegriff ihrer österreichischen Heimat, die Bündelungskraft von Katastrophen und ihr neues Stück (Interview mit Elfriede Jelinek). In: Frankfurter Rundschau vom 4.10.2002. Gershom Scholem: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch (1964). In: ders.: Judaica 2 [zuerst 1970]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. S. 7–11.
Martin Sexl
Von Auschwitz nach Srebrenica und zurück – Jonathan Littell und Peter Handke The mere fact that Jonathan Littell’s novel Les Bienveillantes (2006) received so much attention in German speaking countries shows that it has not only been approached as a work of French literature (the German translation only appeared two years after the French original had been published) but also as a text that calls up memories of the Shoah in those countries. Although Les Bienveillantes is very different from Peter Handke’s writing on the wars in (Ex-)Yugoslavia in the 1990s, the texts have some things in common, especially when it comes to their reception. This would suggest that since 1945 any act of genocide can only be perceived in relation to the Shoah. Public reactions to Srebrenica only make sense, if also understood as reactions to Auschwitz. Hence we ought to relate the violent responses stirred up by Handke’s texts on Yugoslavia to the omnipresence of the Shoah in collective memory. On the other hand, however, it is illuminating to view the critiques of Les Bienveillantes in connection with the events of the Yugoslav Wars in the 1990s.
Mit den Begriffen Auschwitz und Srebrenica sind zwei genozidale Verbrechen im Europa des 20. Jahrhunderts umrissen, die auf je unterschiedliche Weise erschüttert und traumatisiert haben.1 Die nationalsozialistische Judenvernichtung muss an dieser Stelle nicht näher erläutert werden, der Genozid in der bosnischen Kleinstadt Srebrenica im Bosnienkrieg Mitte der 1990er Jahre bedarf jedoch einer kurzen Erklärung: Truppen der bosnischen Serben unter dem Kommando von Ratko Mladic´, der erst 2011 gefasst werden konnte und sich seit Juni 2011 vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu verantworten hat, hatten die Stadt im Juli 1995 nach dreijähriger Belagerung erobert und in den Tagen danach mehr als 8.000 Menschen, überwiegend bosnisch-muslimische Männer, hingerichtet – und dies trotz der Präsenz von (niederländischen) UNO-Soldaten, die als Schutztruppe die Stadt vor den Belagerern geschützt hatten oder schützen hätten sollen. Das in Europa dominante Erinnerungsdispositiv, um solche Ereignisse im kollektiven Gedächtnis zu verankern, ist die Thematisierung und Aufarbeitung 1
Für den vorliegenden Beitrag mag der Hinweis, dass die Genozidforschung nicht mit der Holocaustforschung gleichgesetzt werden kann, genügen, ohne die beiden Forschungsfelder weiter auszudifferenzieren. Der Begriff Holocaust wird in der Sekundärliteratur, wie es scheint, zunehmend mit dem Begriff Shoah ersetzt, da Holocaust – wenn man dem Philosophen Giorgio Agamben folgt – von Anfang an eine antijüdische Bedeutungsgeschichte aufweist und den problematischen Vergleich mit Altären und Krematorien impliziert (vgl. Hennigfeld 184).
274 der Shoah: Nachfolgende kriegerische Ereignisse, die mit der Einrichtung von (Konzentrations-)Lagern, mit ethnischen Säuberungen oder (willkürlichen) Hinrichtungen verknüpft sind, werden auf der Folie dieses Dispositivs wahrgenommen. Dass die Massenhinrichtungen in Srebrenica 2007 vom Internationalen Gerichtshof juristisch als Genozid definiert wurden, weil der ‘Tatbestand’ der Ermordeten in ihrer ‘Volkszugehörigkeit’ bestand, ist Ausdruck dieses Shoah-Dispositivs und verstärkt es gleichzeitig, denn Genozide sind, zumal in der europäischen Gesellschaft nach 1945, auf Dauer mit der Judenvernichtung der Nationalsozialisten verknüpft. Da die genannten Massenhinrichtungen auf europäischem Boden stattgefunden haben, erschütterten sie die (europäische) Gesellschaft fast stärker als der ein Jahr zuvor stattgefundene Genozid in Ruanda, bei dem mehr als 800.000 Menschen ermordet wurden, denn die Verbrechen auf dem Balkan rühren viel intensiver an jene Formen, mit und in denen wir uns an die Shoah erinnern. Dass die Auseinandersetzung mit den Ereignissen in Ex-Jugoslawien während und nach den Kriegen der 1990er Jahre auf der Basis des ShoahErinnerungsdiskurses geführt wurde und wird, kann exemplarisch an jenem Filmmaterial verdeutlicht werden, das am 6. August 1992 im serbischen Gefangenenlager Trnopolje von Independent Television News und Channel 4 in Begleitung eines Reporters vom Guardian aufgenommen wurde: Eine Abbildung, die innerhalb weniger Tage zu einer Ikone des Bosnienkrieges wurde, zeigt einen ausgemergelten Mann – den meisten Berichterstatterinnen und Berichterstattern zufolge den Bosniaken Fikret Alic´ – mit nacktem Oberkörper in einer Gruppe von Männern hinter Stacheldrahtzaun. “Belsen 92” und “Horror of the new Holocaust” ist auf der Titelseite des Daily Mirror am 7. August unter der Fotografie, die nahezu zwei Drittel der Seite einnimmt, zu lesen. Auf der Titelseite der Daily Mail heißt es ebenfalls am 7. August: “The Proof” sowie “Das sind Szenen wie die in schwarz und weiß flimmernden Bilder aus fünfzig Jahre alten Filmen über Konzentrationslager der Nazis” (zit. n. Deichmann 228). Und auf der Titelseite des Time-Magazine – hier nimmt die Fotografie die ganze Seite ein – heißt es: “Must it go on?” (vgl. dazu Deichmann). Das Bild hat – vorbereitet durch einige Artikel von Roy Gutman in der New York Newsday (Hidden Horror und Whitness Tells of Serbian Death Camp am 19.7.1992; For Muslims, Misery und Like Auschwitz am 21.7.1992; The Death Camps of Bosnia am 2.8.1992) – wie kaum ein anderes Zeichen die Wahrnehmung der europäischen Öffentlichkeit über den Bosnienkrieg beeinflusst und die Schuld der ‘serbischen Faschisten’ an den Verbrechen festgeschrieben. Der Vergleich mit den Bildern des Holocaust und der nationalsozialistischen Konzentrationslager wurde in nahezu allen wichtigen englischsprachigen Publikationen gezogen. Bevor wir überhaupt wissen, was auf der Fotografie eigentlich genau zu sehen ist, werden in unserer Wahrnehmung die Fotografien der Alliierten aus
275 den befreiten Konzentrationslagern aufgerufen – das kollektive Gedächtnis greift unwillkürlich darauf zurück: Wir nehmen die Aufnahme von Fikret Alic´ als Fotografie eines Lagers wahr, das mit den nationalsozialistischen Konzentrationslagern vergleichbar ist. Und dies nicht deshalb, weil das auf dem Bild zu sehen wäre, sondern weil wir es zu sehen gelernt haben. Gerade im angloamerikanischen Raum wurde diese Fotografie – wie die Cover der oben genannten Zeitschriften demonstrieren – als Fotografie aus einem Konzentrationslager gelesen, wobei die Presse dort weniger zurückhaltend war als in Deutschland und Österreich, wo diese und vergleichbare Fotografien nicht auf Titelblättern bekannter Zeitschriften gezeigt wurden. Man denke nur an die bekannten Fotografien der Befreiung des Lagers Buchenwald: Auf einer der bekanntesten und meistverbreiteten Fotografien der Shoah überhaupt von Harry Miller (vgl. Wiedenmann 341) sieht man in der rechten Bildhälfte einen ausgemergelten Mann mit nacktem Oberkörper, der hell beleuchtet am Stützpfosten eines Raumes lehnt, während zur Linken in vier übereinander geschichteten Lagern ungefähr 25 ebenfalls ausgemergelte und teilweise nackte, teilweise in Decken gehüllte Männer zu sehen sind, die meisten unter ihnen in Richtung des Kamerastandpunktes blickend. Man denke etwa auch an jene sehr bekannte Fotografie von Margaret BourkeWhite, auf der eine Gruppe von ca. fünfzehn Männern hinter übermannshohem Stacheldraht abgebildet ist. In anderen Worten: Schon einige Jahre vor dem Genozid in Srebrenica war durch den medialen Diskurs der beginnenden 1990er Jahre der Vergleich zwischen den serbischen Verbrechen auf dem Balkan mit denen der Nationalsozialisten und Faschisten vor 1945 fest etabliert. Die Massenhinrichtungen in Srebrenica drei Jahre nach der Fotografie aus dem serbischen Lager machten aus den Serben in der dominanten westlichen Wahrnehmung endgültig mit Nationalsozialisten vergleichbare Täter, was die Kroaten und die Muslime in die Rolle von Opfern drängte. Die serbischen Verbrechen stehen zweifelsfrei fest und in den Lagern wurden Tausende Gefangene gefoltert und getötet, aber doch ist es in gewisser Weise – wenn man an die Geschichte des Balkan im Zweiten Weltkrieg denkt – eine erstaunliche Deutung der Geschichte, wenn man die serbischen Verbrechen als ‘faschistische’ wahrnimmt. Man muss ja nur daran erinnern, dass Kroatien im Zweiten Weltkrieg ein von Deutschland geduldeter faschistischer Staat war, in dessen größtem Konzentrationslager Jasenovac ungefähr 85.000 Menschen, mehrheitlich Serben, umgebracht wurden.2 Zudem machte der 2
Die Angaben zu den Opferzahlen in Jasenovac weichen stark voneinander ab. Einen seriösen Überblick über die Quellenlage dazu gibt der Wikipedia-Eintrag zu KZ “Jasenovac”. Mit der Frage der Höhe der Opferzahlen beschäftigt sich Holm Sundhaussen vom Osteuropa-Institut in Berlin, etwa in seiner Rezension zu Josip Jurcˇévic´s Buch Die Entstehung des Mythos Jasenovac oder in seinem
276 kroatische Präsident in den 1990er Jahren, Franjo Tud-man, auch lange nach dem Zweiten Weltkrieg nie ein Geheimnis aus seiner revisionistischen, antisemitischen und Ustaša-freundlichen Haltung, die er nicht nur in seinem Buch Irrwege der historischen Wahrheit (Bespuc´a Povijesne Zbiljnosti), das 1989 erschien, sondern auch in seinen zahlreichen Reden, Auftritten und politischen Entscheidungen zur Schau stellte. Auf der Folie der Shoah mag es nicht mehr so überraschend sein, dass sowohl der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher wie auch dessen österreichisches Pendant Alois Mock in den Kriegen der 1990er Jahre drängten, Jugoslawien aufzulösen und Slowenien und Kroatien völkerrechtlich anzuerkennen. Und 1999 verteidigte der deutsche Außenminister Joschka Fischer mit dem Satz “Nie wieder Auschwitz!” den NATO-Einsatz auf dem Balkan. Das politische Handeln des Westens und vor allem Deutschlands und Österreichs in Ex-Jugoslawien kann man nur vor dem Hintergrund der Shoah richtig verstehen. Es war vor allem die Präsenz der UNO-Truppen in Srebrenica zum Zeitpunkt des Genozids, die eine Frage im Rahmen der Thematisierung der Shoah neu aufwarf: Warum haben wir nicht (adäquat und schnell genug) eingegriffen? Und es mag sein, dass man sich nicht noch einmal den Vorwurf gefallen lassen wollte, zu spät, zu ungenügend oder gar nicht eingegriffen zu haben.3 In den Medien und der Politik kamen bei der Thematisierung der Ereignisse in den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre (unbewusste) Kommunikationsstrategien zum Einsatz, die – wenn auch oft nur implizit – einen Bezug zur Shoah herstellten: Die Verwendung des Begriffes Genozid mit seinen ethnischen und religiösen Konnotationen (die gerade auf dem Balkan Mittel der Rhetorik der kriegführenden Parteien waren) kann durchaus als eine solche Strategie angesehen werden. Eine andere wird sichtbar, wenn man untersucht, welche Personen die Medien in den Vordergrund gerückt haben. Hier soll nur eine herausgegriffen werden, nämlich der bosnische Serbe, Literaturwissenschaftler und Shakespeare-Experte Nikolai Koljevic´, der als Vizepräsident der ‘Republika Srpska’ politisch keine große Rolle spielte, aber von den
Beitrag Das Konzentrationslager Jasenovac, wo er von einer wahrscheinlichen Zahl von 85.000 ermordeten Menschen spricht (vgl. Sundhaussen: Das Konzentrationslager Jasenovac 378). 3 Der Erfolg von Yannick Haenels Roman Das Schweigen des Jan Karski (2011, im Original 2009), der unter anderem das Nicht-Eingreifen der Alliierten angesichts der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager zum Thema macht, scheint mir die Aktualität dieser Fragestellung für das Shoah-Erinnerungsdispositiv am Anfang des 21. Jahrhunderts zu belegen.
277 westlichen Medien immer wieder in den Vordergrund gerückt wurde, was die Faszination für eine solche Figur demonstriert. Koljevic´ entspricht dem TäterTypus des intellektuellen Henkers, der Feinsinnigkeit und Kunstverstand mit Kaltblütigkeit und Grausamkeit scheinbar problemlos verbindet – im großen Erfolg des Spielfilms DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER (1991) wird die Faszination für einen solchen Täter-Typus deutlich –, der also sozusagen oszilliert zwischen dem durch ethnischen Hass angetriebenen Amokläufer, dem berechnenden Politstrategen und dem Beamten und Parteisoldaten, der seinen Job macht. Im Roman Les Bienveillantes aus dem Jahre 2006 (der 2008 unter dem Titel Die Wohlgesinnten auf Deutsch erschienen ist) des amerikanisch-französischen Schriftstellers Jonathan Littell findet sich mit dem Protagonisten eine vergleichbare Figur. Das Buch stellt eine Ich-Erzählung des 1913 geborenen Maximilian Aue dar, der in den 1970er Jahren als Fabrikleiter in Frankreich lebt und sich an seine Zeit als SS-Offizier zurückerinnert. Zentral dabei ist, dass es sich bei der Anlage des Buches um einen Rückblick handelt, um die Erinnerung eines Täters mehrere Jahrzehnte nach den Taten. Littells Roman hat in Frankreich, aber vor allem auch im deutschsprachigen Raum, für einiges Aufsehen gesorgt, weil er Ereignisse beschreibt, die für den Erinnerungsdiskurs Europas zentral sind, und dabei die gewohnten Regeln des Erinnerns verletzt. Der Roman wurde so stark rezipiert, dass nicht nur er selbst, sondern auch die zahlreichen Interventionen seines Autors (etwa in Form von Interviews) sowie die Rezeptionszeugnisse (etwa in Form von Besprechungen und Kritiken) einflussreiche Teile von gesellschaftlichen Erinnerungsdiskursen geworden sind. Darüber hinaus ist die Rezeption dieser Texte Teil der Bedeutung des eigentlichen Textes geworden. Es gibt einen weiteren skandalumwitterten Autor, der sich zwar nur am Rande mit dem Thema der Shoah auseinandergesetzt, aber mit seinen Büchern zu den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahren ebenfalls für große Aufregung gesorgt hat, nämlich Peter Handke, für den Ähnliches gilt wie für Jonathan Littell: Seine ‘Jugoslawientexte’ (dabei vor allem Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, 1996) sind ebenfalls Texte, welche die üblichen Konventionen des Erinnerns durchbrechen. Auch bei Handke lässt sich beobachten, dass die literarischen Texte durch Interviews, Rezensionen, Kritiken, Buchbesprechungen, Pamphlete und vieles mehr überlagert wurden. Der folgende Beitrag hat es sich zum Ziel gesetzt, Auschwitz und Srebrenica sowie die beiden Autoren Littell und Handke in Beziehung zueinander zu setzen. Selbst wenn die beiden Autoren unmittelbar nichts miteinander zu tun haben, erhellt ein Blick auf Littells Roman und dessen Rezeption Gründe für die ablehnenden Reaktionen auf Handkes ‘Jugoslawientexte’ und umgekehrt. Im Zentrum der Ausführungen steht allerdings Littells Roman: Für die Diskussion der Aufarbeitung der Shoah im deutschsprachigen Raum sind der
278 Roman und seine Wahrnehmung aus mehreren Gründen ebenso aufschlussreich wie problematisch – es sollen nur drei davon genannt werden: (1) Der Protagonist des Buches, Maximilian Aue, ist Deutsch-Franzose und ein hochrangiger SS-Offizier, der sich zwar nicht im innersten Kreis der nationalsozialistischen Führung bewegt, aber doch an der Judenvernichtung durch SS und Wehrmacht federführend beteiligt ist. (2) Maximilian Aue ist eine fiktive Figur, aber im Roman spielen auch viele historische Personen – vor allem aus der Führungsebene von SS, Wehrmacht und Partei – entscheidende Rollen. Die geschilderten Ereignisse sind von Littell auf das Genaueste recherchiert worden, wie er auch immer wieder betont, so etwa in einem Interview mit dem französischen Historiker Pierre Nora, in dem er auch feststellt, dass er die deutsche Auseinandersetzung mit der Shoah viel besser kenne als die französische (vgl. Littell/Nora 43). (3) Die deutschen Rezensionen4 waren fast durchwegs ablehnend bis entsetzt, da Littells literarische Strategien keine eindeutige Distanzierung zum Täter und zur Shoah erlauben: Der Protagonist ist ein über weite Strecken mit Empathie, manchmal sogar Sympathie beschriebener, gebildeter, belesener und intelligenter Mann, der es den Leserinnen und Lesern nicht leicht macht, ihn zu verabscheuen. Aue ist homosexuell, hat aber auch ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Schwester. Er kommt in hochrangigen Positionen mit den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes an den verschiedensten Kriegsschauplätzen des Ostens zum Einsatz: Er nimmt aktiv an den Erschießungen von Babyn Jar teil, überlebt schwer verletzt die Schlacht von Stalingrad, wird in das Lager Auschwitz abkommandiert und erlebt gegen Ende des Krieges auch die Eroberung Berlins durch die Rote Armee mit. Dabei trifft er immer wieder die Führungselite des Dritten Reiches, zuletzt auch Adolf Hitler, der ihm noch in den letzten Kriegstagen einen Orden verleiht. Es gibt nun eine ganze Reihe von bemerkenswerten formalen Eigenheiten des Romans, etwa die Konstruktion als eine barocke Tanzsuite: Die Kapitelüberschriften folgen der Bezeichnung und der Abfolge der Teile einer Suite, für die Littell in einem Interview Johann Sebastian Bach als Vorbild nennt (vgl. Littell/Mantilla). Das Buch ist auch eine Orestie mit Inzest und Muttermord (Aue bringt bei einem Fronturlaub, den er in Frankreich verbringt, seine Mutter um): Bereits der Titel spielt auf den letzten Teil der Orestie
4
Auf die Rezensionen, Besprechungen und Kritiken soll an dieser Stelle nicht im Detail eingegangen werden. Aus Platzgründen werden diese auch nur dann in der Bibliografie genannt, wenn im Beitrag ausdrücklich darauf Bezug genommen wird.
279 von Aischylos an – auf die Eumeniden (die Wohlgesinnten), also auf eine Bezeichnung für die Erinnyen, die Rachegöttinnen, die im Buch von den beiden Polizisten Weser und Clemens verkörpert werden, die Aue bis in die Gegenwart der 1970er Jahre wegen des Mordes an seiner Mutter auf den Fersen sind. (Die beiden Polizisten demonstrieren im Roman nicht nur, dass der deutsche Rechtsstaat bis zum Schluss funktioniert, sondern dass es für Aue wie auch für die beiden Polizisten keinen Widerspruch zu bedeuten scheint, für den Massenmord an Millionen Juden unbehelligt zu bleiben und wegen des Verdachts des Mordes an einer Person über Jahre und Jahrzehnte verfolgt zu werden.) Die Konstruktion als Orestie und als Tanzsuite sind nur zwei der vielen Strukturmerkmale des Romans, die gemeinsam mit der Tatsache, dass man den Roman durch die Fülle an historischen Personen und Ereignissen und trotz der Ich-Erzählung nicht nur als fiktional rezipiert, zu einer Meta- bzw. Hyperkodierung des Textes führen. Diese Hyperkodierung bewirkt, dass unentschieden bleibt, ob es sich um einen historischen Roman, eine fiktive Autobiografie (mit christlichen Zügen, weil Aue aus dem inzestuösen ‘Paradies’ der Liebe zu seiner Schwester vertrieben wird), eine fiktive Zeugenschaft, eine Groteske, eine Satire, eine Form der Oral History, eine Kriminalgeschichte, die Geschichte eines Faustpaktes (in dem der mysteriöse Dr. Mandelbrod als Mephistopheles dient, der im Hintergrund die Fäden zieht), eine Höllenfahrt (die in Stalingrad beinahe zum Tod Aues führt), eine Tragödie (Orestie), einen Entwicklungsroman – “En dernière analyse, plus encore qu‘un livre sur la Shoah, Les Bienveillantes est la restitution d‘un parcours individuel” (Solchany 165)5 –, um etwas ganz anderes oder um alle diese Dinge gleichermaßen handelt (vgl. Grethlein). Jonas Grethlein zeigt, dass der Roman seine “eigene Fiktionalität durch Hypersemantisierung” markiert, weil er mehrere Plots konstruiert und dadurch als Literatur immer erkennbar bleibt. Durch die zusätzliche Fülle an faktualen Informationen lässt sich Littells Roman [. . .] als eine Reflexion auf die Narrativität von Geschichte lesen, eine Reflexion, welche selbst die Form einer Erzählung hat und die Möglichkeiten der Narrativisierung ausreizt. (Grethlein 64)
Man kann Littells Roman nicht einordnen, nicht recht fassen. Aus diesem Grund könnte man den Roman mit Grethlein auch als “metafiktional” bezeichnen (vgl. Grethlein 71ff.). “Littells Roman wird vielmehr durch die narrative Hyperkodierung und die Form der mise en abyme metahistorisch”
5 “Mehr noch als ein Buch über die Shoah ist Die Wohlgesinnten letztlich die Rekonstruktion eines individuellen Lebensweges” [Übersetzung M.S.].
280 (Grethlein 72). Und doch wird der Roman angesichts der genauen historischen Kontextualisierung auch als historischer Roman gelesen. Historische Romane werden in den letzten Jahren von der französischen Literaturkritik stark in den Vordergrund gerückt (Boucheron 442), was nicht nur auf Brüche und Veränderungen in der Erinnerung an markante historische Ereignisse (Algerienkrieg, Vichy-Regime, Shoah, Jugoslawienkriege u.a.) verweisen mag, sondern auch auf eine Rolle der Geschichtswissenschaft als “science auxiliaire de l‘invention littéraire” (Boucheron 442), also als “Hilfswissenschaft” der Literatur. Dabei geht es nicht alleine um das Problem der Erklärung der Shoah (oder der Massenhinrichtungen in Srebrenica), sondern auch um die Frage ihrer Darstellung und Darstellbarkeit. Auch wenn Aue nicht unbedingt als mittlerer Held im Sinne einer griechischen Tragödie taugt, so stilisiert er sich in seinem Rückblick zu einem solchen. Aue wird als tragischer Held inszeniert – bzw. inszeniert sich selbst als ein solcher –, der zwar wissentlich handelt, aber doch nicht anders handeln kann, der schuldlos schuldig wird, weil das nationalsozialistische System stärker ist als er – bei einem hochrangigen Offizier und überzeugten Nationalsozialisten eine hochproblematische Perspektive, die noch problematischer wird angesichts der Tatsache, dass es sich um eine Rahmenerzählung handelt, die mehr als 25 Jahre nach den geschilderten Ereignissen von diesen berichtet. Und der Erzähler und Täter Aue zeigt keinerlei Anzeichen von Einsicht.6 Die Verstörung, die der Roman ausgelöst hat und auslöst, liegt also vielleicht weniger in der Grausamkeit und Detailgenauigkeit des Berichts als vielmehr in der Tatsache begründet, dass der Täter erstens davongekommen ist und zweitens ohne erkennbare Reue und in schamloser und zynischer Form von seinen Taten erzählt. Das konfrontiert uns Leserinnen und Leser nämlich nicht nur mit der Shoah alleine, sondern mit ihrer oft fehlenden oder unzureichenden Aufarbeitung in der deutschen und österreichischen Nachkriegsgesellschaft.7
6
“Aber das Buch fällt auseinander. Denn entweder haben wir einen bemitleidenswerten Protagonisten, der mehr oder weniger Getriebener einer Bürokratie ist oder wir haben den kalten Dämon, der aus Überzeugung und ohne Reue handelt – oder den perversen Lüstling, der seinen Dienst als Mittel zum Zweck einer Karriere nach dem Krieg betrachtet. Aber Littell kann sich nicht entscheiden” (Keuschnig). 7 Die betrifft vor allem die gesellschaftspolitische Diskussion in Österreich: Erst Mitte der 1980er Jahre wurde mit der Wahl zum Bundespräsidenten und dem bürgerlichen Kandidaten Kurt Waldheim – der im Zweiten Weltkrieg als Offizier auf dem Balkan im Einsatz war und im Wahlkampf mit Sätzen wie “Ich kann mich nicht erinnern” oder “Ich habe nur meine Pflicht getan” irritierte und verstörte – schmerzvoll bemerkt, dass man nach 1945 nicht einfach zur politischen Tagesordnung übergehen konnte. An dieser Stelle muss nicht weiter ausgeführt werden,
281 Wir sind von Littells Roman also auch deshalb betroffen, weil ein erinnerungskulturelles Versagen dargestellt wird, das betroffen macht: Es erinnert an Versäumnisse von Nachkriegsgesellschaften, sei es nach Ende des Zweiten Weltkriegs, nach Ende des Algerienkriegs oder nach Ende der Jugoslawienkriege. Dieses Versagen hat nicht nur mit dem Versuch des Vergessens und Verdrängens zu tun, sondern auch mit nachträglichen Rechtfertigungsstrategien, die in der Erinnerung Maximilian Aues deutlich sichtbar werden und die zeigen, dass man nicht nur von einer ‘Banalität des Bösen’ (Hannah Arendt) sprechen sollte, sondern vielmehr von dessen ‘Intellektualität’. Auch wenn von den mehr als 1.300 Seiten des Romans (in der Ausgabe des Berliner Taschenbuch Verlages) nur 30 der Gegenwart des Ich-Erzählers, das heißt der Rahmenerzählung selbst, gewidmet sind und alles Weitere im Zweiten Weltkrieg angesiedelt ist, werden die Leserinnen und Leser doch immer wieder daran erinnert, dass der Bericht einen Rückblick aus einer Distanz von mehr als 25 Jahren darstellt, unterbricht doch der Ich-Erzähler immer wieder seine Schilderung, um sich direkt an die Leserinnen und Leser zu wenden, wobei er auch wichtige Ereignisse im Rahmen der Aufarbeitung der Shoah in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts thematisiert.8 So wird in der im Folgenden zitierten Stelle unter anderem der Eichmann-Prozess von 1961 angesprochen: Si j’ai décrit si longuement ces rencontres avec Eichmann, ce n’est pas que je m‘en souvienne mieux que d’autres : mais ce petit Obersturmbannführer, entre-temps, est devenue en quelque sorte une célébrité, et je pensais que mes souvenirs, éclairant son personnage, pourraient intéresser le public. On a écrit beaucoup de bêtises sur lui : ce n’était certainement pas l’ennemi du genre humain qu’on a décrit à Nuremberg [. . .] ; il n’était pas non plus une incarnation du mal banal, un robot sans âme et sans visage, comme on a voulu le présenter après son procès. (Littell: Les Bienveillantes 524)9
dass Erinnerung immer performativ ist, weil die verwendeten Begriffe zur Bezeichnung historischer Ereignisse sowie der abrufbare Bildervorrat des kollektiven Gedächtnisses Ereignisse nicht nur beschreiben und erklären, sondern ihre Bedeutung ständig neu konstruieren. Literarische Texte sind eine (und sicher nicht die unwesentlichste) der zahlreichen Möglichkeiten, den Bedeutungsspielraum historischer Ereignisse neu zu vermessen und auszuloten, und darum werden sie zu einer “Referenz auf die Erfahrungshaftigkeit des historischen Geschehens” (Grethlein 68). 8 Die Rahmenerzählung ist klarerweise eine Art von autobiografischer Simulation, die Leserinnen und Leser über die Frage der Authentizität des Erzählten im Unklaren belässt, denn selbst wenn der Autor Littell in Interviews immer wieder betont, dass es ihm um die Wahrheit gehe (vgl. etwa Littell/Nora 30; vgl. dazu auch Bouju 423), so könnte der Erzähler ja auch lügen über das, was er erlebt hat, etwa, um sich reinzuwaschen (vgl. dazu Solchany 166).
282 Die Stellen, in denen der Ich-Erzähler der 1970er Jahre spricht, dienen häufig einer Form von (pseudo)philosophischer Reflexion. So heißt es etwa an einer Stelle: On a beaucoup parlé, après la guerre, pour essayer d’expliquer ce qui s’était passé, de l’inhumain. Mais l’inhumain, excusez-moi, cela n’existe pas. Il n’y a que de l’humain et encore de l’humain [. . .]. Me voilà loin de mes premières réflexions. Ce que je souhaitais dire, c’est que si l’homme n’est certainement pas, comme l’ont voulu certains poètes et philosophes, naturellement bon, il n’en est pas plus naturellement mauvais [. . .]. (Littell: Les Bienveillantes 542ff.)10
Die Rahmung der Ich-Erzählung als erinnernder Rückblick führt zu ambivalenten Lektüren, denn es wird nicht klar, ob diese Rahmung das erzählte Geschehen auf unzulässige Weise verharmlost – die meisten Rezensentinnen und Rezensenten haben diese Lesart vertreten – oder ob diese Rahmung nicht vielmehr eine ‘realistische’ Perspektive eines unverbesserlichen alten Mannes präsentiert.11 Earl Jeffrey Richards spricht von einer “Rhetorik der Mehrdeutigkeit”, die vor allem deshalb so problematisch sei, weil sie an die 9
“Wenn ich so lange bei meinen Begegnungen bei Eichmann verweile, dann nicht, weil ich mich an sie besser erinnern kann als an andere. Doch dieser kleine Obersturmbannführer hat es in der Zwischenzeit zu einer Art von Berühmtheit gebracht, und ich denke, meine Erinnerungen, die etwas Licht auf seine Persönlichkeit werfen, könnten die Öffentlichkeit interessieren. Es wurden viele Dummheiten über ihn geschrieben: Er war gewiss nicht der Feind des Menschengeschlechts, als der er in Nürnberg geschildert wurde [. . .]; er war auch keineswegs die Banalität des Bösen, nicht der gesichts- und seelenlose Roboter, als den man ihn nach seinem eigenen Prozess hatte hinstellen wollen” (Littell: Die Wohlgesinnten 796). 10 “Nach dem Krieg wurde viel geredet, sie versuchten zu erklären, das da an Unmenschlichem geschehen war. Aber das Unmenschliche – ich bitte um Entschuldigung –, das gibt es nicht. Es gibt nur das Menschliche, immer nur das Menschliche [. . .]. Ich habe mich von meinem Ausgangspunkt entfernt. Eigentlich wollte ich sagen, dass der Mensch zwar sicherlich nicht, wie uns einige Dichter und Philosophen weismachen wollten, von Natur aus gut ist, dass er aber auch genauso wenig von Natur aus böse ist [. . .]” (Littell: Die Wohlgesinnten 823ff.). 11 Die Ambivalenz hat auch damit zu tun, dass auf der formalen Ebene delirierendes Erzählen (Campion 74) – welches die Irrationalität der Shoah durch die Irrationalität desjenigen, der von ihr berichtet, suggeriert – mit einem akribischen Reportagestil gemischt wird. “Notons chez Max Aue la précision maniaque dans les tableaux, bilans et références [. . .]. C’est bien un rapport documenté et chiffré, aussi complet et aussi détaillé, aussi objectif que possible; c’est aussi une sorte de confessions, aussi sincère que possible” (Campion 65ff.). Dieser Aspekt erinnert an die Bürokratie, mit der Shoah organisiert wurde und die vor allem Hilberg als erster deutlich herausgearbeitet hat. Littell erwähnt im Interview mit Pierre Nora im Übrigen, dass ihn jene Stelle in Shoah von Claude Lanzmann, in der Hilberg von den Transporten der Juden mit der Reichsbahn berichtete, am meisten beeindruckt habe.
283 Entschuldigungsrhetorik der Nationalsozialisten knapp nach 1945 erinnere. Die Täter haben sich wie schlüpfrige Aale gewunden, und das mache auch Maximilian Aue (vgl. Richards 130), dessen “mystifizierende Ausweichtaktik” (ebd. 133) an vergleichbare Fälle in der Realität, etwa den Fall Schneider/ Schwerte, erinnere. Aber diese Ambivalenz ist möglicherweise programmatisch gemeint, denn Littell entwirft eine Art proto-typisches Täterprofil, wobei die mangelnde Distanz zwischen Autor und Erzähler aus der literarischen und fiktionalisierenden Reproduktion einer solchen Rhetorik in deren Fortschreibung zu kippen droht. Auf jeden Fall sollte uns nicht das Beschriebene verstören, sondern mehr die Tatsache, dass der Holocaust noch Jahrzehnte später in dieser Weise rekonstruiert werden kann. Unser Unmut sollte also, in anderen Worten, weder dem Dargestellten (bzw. dem Protagonisten Maximilian Aue) im Zweiten Weltkrieg noch dem Autor gelten, sondern dem Ich-Erzähler der 1970er Jahre, der im Sinne Gérard Genettes als unzuverlässiger Erzähler angesehen werden kann: Auch wenn der Erzähler behauptet, die Wahrheit zu sagen, verliert sein Bericht allein durch die Tatsache, erst Jahrzehnte nach den Ereignissen niedergeschrieben zu werden, an Glaubwürdigkeit. Dass der Erzähler zudem ein alter, zynischer und kranker Mann ist, der – wie er selbst behauptet – nichts bereut, macht ihn und seine Niederschrift nicht zuverlässiger. Da der Autor des Textes aber keine Signale einbaut – bzw. nicht genügend –, welche die Distanz zwischen Autor und Ich-Erzähler ausreichend markieren würden (vgl. auch LaCapra 73), werden Leserinnen und Leser an vielen Stellen geradezu gezwungen, Maximilian Aue zumindest streckenweise zu verstehen, ja noch mehr: Leserinnen und Leser müssen Widerstand entwickeln – und dies trotz all der Irrationalität und Abnormalität, die das Handeln Aues streckenweise auszeichnet –, um nicht in eine identifikatorische Haltung zu kippen.12 Diese fehlende oder mangelnde Distanz zwischen Autor und Erzähler hat vielleicht damit zu tun, dass Littell mit dem Buch eigene traumatisierende 12
Viele Rezensentinnen und Rezensenten im deutschsprachigen Raum kritisierten, dass man sich mit Aue gerade eben nicht identifizieren könne, weil sein Handeln als völlig irrational erscheine (vgl. etwa Born; Keuschnig), und der Roman daher problematisch sei, weil er die Ereignisse verharmlose. Unabhängig davon, ob diese These stimmt, steckt ein nicht unproblematischer Begriff von Literatur dahinter, der davon ausgeht, dass erst die Möglichkeit der Identifikation einen Text gewissermaßen wirksam werden lasse, indem er den Leserinnen und Lesern vor Augen führt (durch die Identifikation), dass auch diese unter entsprechenden Umständen zu Mörderinnen und Mördern werden würden. Die Distanzierung vom Protagonisten, die nun – folgt man diesem Modell weiter – bei der Lektüre von Littells Roman “beim Leser einsetzt, verhindert diese Auseinandersetzung und macht es leicht, sich diesen Kerl vom Leibe zu halten (und Neurechten erleichtert es, die Ideologie des Nationalsozialismus zu ‘retten’)” (Keuschnig).
284 Erfahrungen verarbeitet. Das ist deshalb keine Spekulation, weil Littell in Interviews immer wieder darauf zu sprechen kommt – und da durch das enorme Medienecho der Rezeptionskontext (etwa Interviews, Talkshows etc.) einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Rezeption ausgeübt haben, ist es auch legitim, auf diese außerliterarischen Bedingungen des Romans einzugehen und solchermaßen auch wieder den Bogen zum Thema der Balkankriege der 1990er Jahre zu schließen: Jonathan Littell arbeitete zwei Jahre, von 1993–1995, für die NGO Action contre la faim in Bosnien. In dem bereits erwähnten Interview mit Pierre Nora sagt Littell ganz dezidiert, dass der Aufenthalt in Bosnien während des Krieges auch seine Faszination für die Motive jener Menschen erklärt, die für das Schreiben von Die Wohlgesinnten wichtig war (vgl. Littell/Nora 27). Das bedeutet, dass sich die Erfahrung des Bosnienkrieges gewissermaßen über die Beschreibung der Shoah legt. Und dies nicht nur für den Autor, sondern durchaus auch in der öffentlichen Wahrnehmung des Romans, denn Littell kommt, wie gesagt, in Interviews immer wieder auf den Bosnienkrieg zu sprechen. Da man davon ausgehen kann, dass viele den Roman zwar wahrgenommen, aber nicht gelesen haben, ist die Wahrnehmung vielleicht sogar stärker von Texten und Aussagen über den Roman geprägt als von den Lektüren selbst. Auch wenn Littell im schon genannten Interview mit Pierre Nora die bosnischen Kroaten als “schlimmer” im Vergleich zu den bosnischen Serben bezeichnet – Les Serbes de Bosnie, c’était pas mal dans le genre. J’ai eu le privilège de travailler des trois côtés, donc j’ai aussi fréquenté les affreux fascistes croates de l’Herzeg-Bosnie, qui étaient pires, au contact humain, que les Serbes. (Littell/Nora 26f.)13
– so reproduziert er in der Beschreibung der Serben jene Muster, von denen bereits gesprochen wurde. Im Interview erzählt Littell von einem Gespräch mit dem bereits erwähnten Nikolai Koljevic´, der sowohl Littell wie auch Pierre Nora zu faszinieren scheint. Im Zuge dessen fragt Pierre Nora: “Avezvous eu tout de suite le sentiment de l’ambiguïté intrinsèque dans ce mélange de l’intellectuel et du bourreau, d’une proximité indémêlable de culture et de barbarie?” Und Littell antwortet: “Ce n’est pas un sentiment, c’est un constat” (Littell/Nora 2010, 27).14 13
“Die bosnischen Serben, die waren nicht schlecht auf dem Gebiet. Ich hatte das Privileg, mit allen drei Seiten zu arbeiten, also besuchte ich auch regelmäßig die schrecklichen faschistischen Kroaten Bosnien-Herzegowinas, die schlimmer waren als die Serben im Umgang mit den Menschen” [Übersetzung M.S.]. 14 “Spürten sie sofort die Doppeldeutigkeit in dieser Mischung aus Intellektuellem und Henker, eine unauflösbare Nähe von Kultur und Barbarei? [. . .] Es war kein Gespür, sondern eine Feststellung” [Übersetzung M.S.].
285 Littell tendiert dazu, die Ursachen von komplexen historischen Ereignissen auf pathologisches Individualverhalten herunterzubrechen, was die geschichtlichen Umstände von Ereignissen zu ignorieren droht. Er überblendet die literarische Aufarbeitung der Shoah mit seiner eigenen Faszination für Täter im Bosnienkrieg, wodurch in weiterer Folge die Lesart evoziert wird, dass die Gründe der Judenvernichtung in einem unbeeinflussbaren Schicksal – Stichwort Tragödie – bzw. in den individuellen Eigenheiten der Täter zu suchen sind. One may argue that understanding perpetrators is important epistemologically, ethically, and politically, including the ‘empathic’ recognition of possible ways one may be inclined to engage in extreme acts. But there is a difference between two orientations: on the one hand, acknowledging the possibility of one’s own involvement in perpetration along with the fact that one can never be fully confident about how one might respond to certain situations, and, on the other hand (what I find more pronounced in Littell), universalizing and essentializing historically specific conditions by presenting Aue as everyman. (LaCapra 76)
Nun gibt es zwar im Roman Verfahren der Verfremdung: So ist Aue selbst etwa eine Art Zelig, eine unrealistische Figur, in die Littell alles hinein projiziert, was nur irgendwie möglich ist, wodurch Aue aber zu einer unwahrscheinlichen Figur wird – Littell sagt selbst über Aue: “Il n’est effectivement pas un personnage vraisemblable” (zit. n. Solchany 163)15 –, die aber gerade deshalb möglicherweise auch zu einer Folie für everyman wird. Als Verfremdungselement sind auch die Hinweise auf eine Burleske zu interpretieren, wenn etwa Aue Hitler gegen Ende seines Berichts in die Nase beißt und sich darüber mokiert, dass die Historiker (genannt werden Trevor-Roper und Bullock, die es ja in der Tat gegeben hat) über diesen Vorfall geschwiegen hätten. Auch wenn dieses Ironiesignal identifikatorische Prozesse durchbricht, so kommt es doch reichlich spät zum Einsatz. Die Verfremdungseffekte können eines nicht verhindern: Dass man nämlich als Leserin und Leser geradezu verführt wird, die Ursachen der nationalsozialistischen Verbrechen in den pathologischen Verhaltensweisen eines Täters zu suchen,16 der sich jedoch nicht nur durch wüste Sexszenen, Inzest und Muttermord auszeichnet, sondern auch durch vernünftiges und nachvollziehbares Verhalten. Und das macht es wiederum schwierig, sich von Aue zu distanzieren, zumal der Ich-Erzähler trotz der Unzuverlässigkeit, 15
“Er ist wirklich keine wahrscheinliche Figur” [Übersetzung M.S.]. Die Homosexualität Aues wird von Richards als Abwehrstrategie interpretiert: “Der Schriftsteller Littell lenkt zu viel Aufmerksamkeit auf die private Perversion seines Helden, die schließlich keine Einsicht in sein Handeln gewährt. Es könnte durchaus sein, dass Littell einen homosexuellen Täter braucht, um selbst als Autor von seinem Protagonisten Abstand zu gewinnen, quasi als Abwehr gegen eine zu starke Identifikation mit ihm” (Richards 138). 16
286 die durch die Rahmenerzählung in Szene gesetzt wird, im Bericht selbst in hohem Maße authentisch spricht, also auf der Ebene des discours überzeugend wirkt. Das Perfide des Romans liegt also gewissermaßen darin, dass uns jemand, der irgendwie verrückt ist, glaubwürdig als streckenweise normal verkauft wird, was im Umkehrschluss dazu führt, dass wir jedem, der normal ist (oder es zu sein glaubt) – also gewissermaßen auch uns selbst –, unterstellen müssen, verrückt, das heißt zu solchen Taten fähig zu sein. Und dies nicht einmal unter repressiven Bedingungen, denn Aue ist ja ein hochrangiger Offizier, der aus Überzeugung handelt. Der Roman zwingt uns, zwei Fragen miteinander zu verknüpfen. Die erste lautet: Waren die Täter der Judenvernichtung ganz normale Menschen oder Verrückte? Und die zweite Frage ist: Ist Maximilian Aue ein normaler Mensch, der schuldig gesprochen werden kann? Die erste Frage wird seit Jahrzehnten gestellt, aber durch Littells Roman wird sie wieder virulent: Es ist nicht zuletzt dieser Streit, der bei der Bewertung von Littells Werk wieder aufflammt, denn die akribische Beschreibung der Ereignisse, kombiniert mit dem genauso akribisch erzählten inneren Monolog des Protagonisten, plädiert einerseits für die Partikularität, für die Besonderheit der Shoah und entschuldigt andererseits, wohl unabsichtlich, die Gräueltaten als das Handeln eines Psychopathen. Dieser Widerspruch ist unüberbrückbar. (Richards 140)
In der Rahmenerzählung thematisiert nun Aue selbst genau dieses Problem, wenn er sich direkt an die Leserinnen und Leser wendet: je ne cherche pas à dire que je ne suis pas coupable de tel ou tel fait. Je suis coupable, vous ne l’êtes pas, c’est bien. Mais vous devriez quand même pouvoir vous dire que ce que j’ai fait, vous l’auriez fait aussi. (Littell: Les Bienveillantes 26)
Und wenige Seiten später heißt es: “Je vis, je fais ce qui est possible, il en est ainsi que tout le monde, je suis un homme comme les autres, je suis un homme comme vous. Allons, puisque je vous dis que je suis comme vous!” (Littell: Les Bienveillantes 30).17 Das kann als eine Unterstützung von Harald Welzers These gesehen werden, dass jeder Mensch zum Massenmörder werden kann, auch wenn nicht unbedingt (extremer) Druck auf diesen ausgeübt wird.18 17
“Ich will hier nicht behaupten, ich sei an diesem oder jenem nicht schuldig. Ich bin schuldig, ihr seid es nicht, wie schön für euch. Trotzdem könntet ihr euch sagen, dass ihr das, was ich getan habe, genauso hättet tun können” (Littell: Die Wohlgesinnten 33). “Ich lebe, ich tue, was mir möglich ist, so geht es jedem, ich bin ein Mensch wie jeder andere, ich bin ein Mensch wie ihr. Hört mal, wenn ich es euch doch sage: Ich bin wie ihr!” (ebd. 39). 18 Welzer weist in seiner Analyse der Verbrechen des Polizeibataillons 101 während des Russland-Feldzuges – “Die knapp 500 Angehörigen dieses Bataillons haben rund 38 000 Menschen ermordet und weitere 45 000 nach Treblinka deportiert”
287 Man glaubt dem Roman also nicht unbedingt deshalb, weil die Fakten stimmen, weil die histoire überzeugend wäre, sondern weil der Erzähler und Täter vorgibt – und dies auch ständig betont – die Wahrheit zu sagen. Man beginnt also gewissermaßen, die Perspektive des Täters zu übernehmen, weil er eine Art Angebot an alltägliche Leserinnen und Leser macht – und dies auch ganz explizit –, wenn er sagt: Auch Du würdest so handeln! Und weil man den Roman durch die Fülle an bestens recherchierten historischen Vorgängen und Personen (bis ins kleinste Detail hinein) auch als eine Art Dokument liest, wird man dazu verführt, in der Ich-Erzählung auch eine historisch wahre oder zumindest plausible Erklärung des realen Geschehens im Zweiten Weltkrieg zu sehen. Der Täter war ja nicht nur an vorderster Stelle dabei, sondern beginnt seine Erzählung mehr als 25 Jahre später mit dem Satz “Frères humains, laissez-moi vous raconter comment ça s’est passé”, der auch unübersehbar auf dem Cover der deutschen Taschenbuchausgabe zu finden ist: “Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist”. Hier kann von einer “Naturalisierung” des Verbrechens und einer “Mythologisierung” von Geschichte (LaCapra 80) gesprochen werden.19 Dass die Jugoslawienkriege – und insbesondere der Bosnienkrieg und der Genozid in Srebrenica – Jonathan Littells Schreiben über die Shoah beeinflusst haben, ist offensichtlich. Allerdings haben die Ereignisse auf dem Balkan in den 1990er Jahren auch die Art und Weise, wie wir heute ganz
(Welzer 105) – mit einem Bezug auf Christopher Brownings und Daniel Goldhagens Untersuchungen nach, “dass es den Männern des Bataillons freigestellt wurde, ob sie beim Töten mitmachen wollten oder nicht” (ebd.), wobei “die Verweigerung der Teilnahme keine oder nur milde Konsequenzen nach sich gezogen hätte” (ebd. 107). Die Frage, warum die Massenhinrichtungen in diesem Ausmaß trotzdem stattfinden konnten, kann hier nicht weiter verfolgt werden; ein Hinweis auf die überzeugende Erklärung in Welzers Buch muss an dieser Stelle genügen. 19 Der Begriff Naturalisierung orientiert sich an der Mythenanalyse von Roland Barthes (in dessen Buch Mythologies). Barthes beschreibt nicht nur, wie ein Mythos semiotisch funktioniert, sondern auch, wie dabei komplexe und kontingente geschichtliche Prozesse von Geschichte in Natur verwandelt werden, und zwar dadurch, dass man ihre Unausweichlichkeit und scheinbar selbstverständliche Evidenz in den Vordergrund rückt und wiederholt behauptet. Dieser Prozess entzieht die Geschichte der Politik, d.h. der Vergegenwärtigung und Gestaltung von Erinnerung. Eine vergleichbare Verschränkung von Geschichte mit der Unausweichlichkeit und Evidenz des Schicksals sieht Dominick LaCapra in Littells Roman: “A basic issue is the manner in which, intentionally or not, the intertwining – or even twinning – of Aue’s personal erotic excesses as parts of the same ‘fated’ story threatens to make the genocide itself an effect of fate and not of the complexities, including the constraints, of human action in history. Insofar as this is the case, history is absorbed into the transhistorical and the mythological [. . .]” (LaCapra 80).
288 allgemein die Shoah (und auch Flucht und Vertreibung) thematisieren, beeinflusst und tun es immer noch. Es war unter anderem der Genozid in Srebrenica, der mit dazu geführt hat, dass zwei Fragen rund um die Shoah neu, anders und intensiver gestellt wurden (und literarische Texte reflektieren dies nicht nur, sondern beeinflussen es auch): nämlich die Frage nach der Normalität der Täter bzw. der Normalität und auch der Alltäglichkeit der genozidalen Tat sowie die Frage nach den Möglichkeiten, diese Tat zu verhindern. Die 1990er Jahre markieren eine Wende im Erinnerungsdiskurs über die Shoah, denn mit Christopher Brownings Buch Ordinary Men von 1993, der Wehrmachtsausstellung von 1995 oder Daniel Goldhagens Buch Hitler’s Willing Executioners von 1996 konnte die Verantwortung für die Shoah nicht mehr der SS oder überzeugten Nationalsozialisten alleine zugeschrieben werden, sondern wurde zu einer Angelegenheit der Mitte der Gesellschaft. Man fragte sich nun – um es mit dem Buchtitel von Harald Welzer zu sagen –, Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Und Littells Roman ist eine Reflexion dieser Frage, denn Littell beschreibt die Nachvollziehbarkeit des Schrecklichen. Der Bosnienkrieg und der Genozid in Srebrenica haben zu der genannten Wende beigetragen, und dies spiegelt sich auch in der großen Aufregung rund um Peter Handkes Texte zu den Jugoslawienkriegen wider. Die Aufregung hat ihre Ursachen nicht nur im Verständnis oder gar in der Sympathie Peter Handkes für die Serben und teilweise sogar für die serbischen Täter, deren Handeln er zu erklären versucht (vergleichbar mit Littells Roman, der das Handeln nationalsozialistischer Täter plausibel zu machen versucht), sondern hat möglicherweise noch einen anderen und gleichsam unbewussten Grund: Peter Handke entzieht die Thematisierung der Jugoslawienkriege dem Shoah-Erinnerungsdispositiv durch bewusste Aussparung auf der einen Seite – er beschreibt seine Besuche in Srebrenica, ohne näher auf die Massenhinrichtungen einzugehen20 – sowie durch offene Kritik an der medialen Berichterstattung auf der anderen Seite, die ihn an Propaganda erinnere (wobei er auch die Verwendung von Bildmaterial anprangert).21 Handke
20
So etwa in Sommerlicher Nachtrag (222ff.) oder in Unter Tränen fragend (107ff.). Im letztgenannten Text reflektiert (und ironisiert) Handke allerdings selbst diese Aussparung: “(Achtung: von dem Gottesdienst in Srebrenica zu erzählen, von den geflüchteten, arbeitslosen, seit Jahren verlorenen Sarajevo-Serben dort, das heißt ‘Massaker’ und ‘Genozid’ leugnen!)” (Handke: Unter Tränen fragend 110). 21 Vor allem in Unter Tränen fragend geißelt Peter Handke “die Propaganda der westlichen Kriegsgroßmächte und der mit ihnen, zum grausigen Staunen, wie geschmiert zusammenspielenden Medien: ein Trommelfeuer aus sogenannten Informationen, wofür, mitsamt den ins Auge springenden, die Augen anspringenden paar
289 beschreibt die Normalität außerhalb des Schrecklichen, was ihm in vielen Reaktionen als Verharmlosung vorgeworfen wurde, weil Europa in Srebrenica und den serbischen Gefangenenlagern der 1990er Jahre eine Art Wiederholung von Auschwitz sah bzw. sehen wollte. Die Kritik an Peter Handkes Jugoslawientexten erfolgte und erfolgt nicht zu Unrecht, aber doch vermögen es diese vielleicht, jene Bild- und Medienlogik, deren Wirken am Beginn dieses Beitrages kurz angedeutet wurde, zu unterlaufen. Handke schließt hier an ein poetologisches Programm an, das er schon in den 1960er Jahren zu entwickeln beginnt und das mit dem Begriff Bildkritik umrissen werden könnte. Einer der Ausgangspunkte dieser Kritik ist in seiner Rede zum Büchner-Preis von 1973 zu finden: eines der schon üblich gewordenen KZ-Photos. [. . .] Jemand mit rasiertem Kopf, großäugig, mit hohlen Wangen, saß da auf einem Erdhaufen im Vordergrund, wieder einmal, und ich betrachtete das Photo neugierig, aber schon ohne Erinnerung; dieser photographierte Mensch hatte sich zu einem austauschbaren Symbol verflüchtigt. (Handke: Geborgenheit 45f.)
Peter Handkes Kritik an den “üblich gewordenen” alliierten Fotografien aus den befreiten Konzentrations- und Vernichtungslagern impliziert eine Kritik daran, dass man sich allzu schnell mit dem Glauben abfindet, schon verstanden zu haben, bevor man sich überhaupt erst mit den Ereignissen und der Erinnerung daran auseinanderzusetzen beginnt. Eine solche Auseinandersetzung, so Handke, könne jedoch nur durch behutsame Arbeit an der Sprache erfolgreich sein. Seine Jugoslawientexte mehr als drei Jahrzehnte später könnte man als eine vergleichbare Kritik lesen an der vorschnellen Gleichsetzung von Auschwitz und Srebrenica – bzw. an der Evokation der Shoah in der medialen Berichterstattung über die Jugoslawienkriege. Diese Gleichsetzung wird vor allem über Bildmaterial ins Werk gesetzt, wodurch das Risiko besteht, Verstehen mit Wiedererkennen zu verwechseln, weil Fotografien (wie Bilder ganz allgemein) unseren Erfahrungsraum verdichten (vgl. Stenger 206). Die Warnung vor einer Gleichsetzung der beiden genozidalen Verbrechen durch
Wahrheiten [. . .] noch einmal das verbrauchte Wort ‘Propaganda-Lügen’ auffrischbar wird”. Handke sieht “auf der Seite der Supermächte Propaganda im Gewand der Superinformation, oder eher als eine Art Parallelbeschuß mit Wörtern und Bildern, die ‘Information’ bloß vortäuschen, aber umso besser, in jeder Hinsicht, verkaufen. [. . .] Die Bilder gleichen einander, die seinerzeit aus Bosnien jetzt denen von der mazedonischen, albanischen, montenegrinischen Grenze? Nein, die BildEinstellungen, die Bild-Winkel, die Bilder-Machschemata gleichen einander. Was sind das für Wahrheiten, die vor allem aus Großaufnahmen und Zuschlag-Wörtern bestehen?” (Handke: Unter Tränen fragend 21f.).
290 (massenmediale Reproduktion von) Bildmaterial bedeutet jedoch weder eine Leugnung serbischer Kriegsverbrechen noch eine Forderung nach einem Bilderverbot bzw. einem Verbot des Vergleichs. Sie stellt aber einen Aufruf dar, mit Bildern verantwortungsbewusster umzugehen. Was Jonas Grethlein zu Die Wohlgesinnten meinte – “So fragwürdig die Ansichten des Erzählers auch sein mögen, sie zwingen den Leser dazu, sich mit der Shoah auseinanderzusetzen” (Grethlein 66) – kann also auch für Peter Handkes Jugoslawientexte fruchtbar gemacht werden: So fragwürdig die Ansichten des Erzählers auch sein mögen, wird in den Texten nicht nur eine, wenn auch implizite, Kritik an “Erinnerungsobsessionen” (Traverso 38) deutlich, sondern auch offene und scharfe Kritik an massenmedialer Kommunikation artikuliert. Massenmediale Kommunikation ist niemals nur Gestaltung von Geschichte durch ihre Transformation in Prozesse der Erinnerung und historischer Aufarbeitung, sondern avanciert gerade in den Jugoslawienkriegen, wie Jürgen Brokoff zuletzt auch festgehalten hat, sowohl “zum entscheidenden Mittel der innenpolitischen Auseinandersetzung und der militärisch-psychologischen Kriegsführung” wie auch zum “wichtigste[n] Instrument im Kampf um die Meinung der Weltöffentlichkeit” (Brokoff 164f.). Gerade weil massenmediale Kommunikation so einflussreich wie vereindeutigend (weil komplexe Prozesse vereinfachend) ist, wird der Versuch verständlich und notwendig, ihr etwas entgegenzustellen. Sowohl Littell wie Handke scheinen einen solchen Versuch zu wagen, wobei beide dabei letztlich scheitern: Während Littell Geschichte einem Prozess der Naturalisierung und Mythologisierung unterwirft, setzt Handke den einseitigen wie vereinfachenden Darstellungen der Medien eine nicht minder einseitige und vereinfachende entgegen. Er vermag sein poetologisches Programm, das er in den Jugoslawientexten immer wieder auch explizit macht, nicht umzusetzen (vgl. ebd. 173ff.), weil er “die Festschreibung von Opfern und Tätern [. . .] bloß kritisiert, nicht aber überwindet” (ebd. 176).
Literatur Roland Barthes: “Mythologies”, suivi de “Le Mythe, aujourd’hui”. Paris: Seuil 1957. Marcus Born: Ein menschlicher Schelmenroman. In: Glanz@Elend. Magazin für Literatur und Zeitkritik, http://www.glanzundelend.de/Artikel/littlleborn.htm. Downloaded 1.3.2011. Patrick Boucheron: “Toute littérature est assaut contre la frontière”. Note sure les embarras historiens d’une rentrée littéraire. In: Annales. Histoire, Sciences Sociales 2010/2, 65e année. S. 441–467. Emmanuel Bouju: Exercice des mémoires possible et littérature “à-présent”. La transcription de l’histoire dans le roman contemporain. In: Annales. Histoire, Sciences Sociales 2010/2, 65e année. S. 417–438.
291 Jürgen Brokoff: “Nichts als Schmerz” oder mediale “Leidenspose”? Visuelle und textuelle Darstellung von Kriegsopfern im Bosnienkrieg (Handke, Suljagic´, Drakulic´). In: Repräsentationen des Krieges. Emotionalisierungsstrategien in der Literatur und in den audiovisuellen Medien vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Hg. von Søren R. Fauth/Kasper Green Krejberg/Jan Süselbeck. Göttingen: Wallstein 2012. S. 163–180. Pierre Campion: Les Bienveillantes. Jonathan Littell et les raisons de la littérature. In: Littérature 159/3 (2010). S. 64–77. Thomas Deichmann: “Es war dieses Bild, das die Welt in Alarmbereitschaft versetzte.” Ein Bild ging um die Welt, und es war ein falsches Bild vom Bosnienkrieg. In: Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke. Hg. von Thomas Deichmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. S. 228–258. Jonas Grethlein: Littells Orestie. Mythos, Macht und Moral in Les Bienveillantes. Freiburg i.Br.-Berlin-Wien: Rombach 2009. Peter Handke: Die Geborgenheit unter der Schädeldecke. In: Büchner-Preis-Reden 1972–1983. Mit einem Vorwort von Herbert Heckmann. Stuttgart: Reclam 1984. S. 42–48. ———: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. ———: Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise. In: Peter Handke: Abschied des Träumers. Winterliche Reise. Sommerlicher Nachtrag. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. ———: Unter Tränen fragend. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. Yannick Haenel: Das Schweigen des Jan Karski. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011. Ursula Hennigfeld: 9/11 als neuer Holocaust? – Frédéric Beigbeders Roman Windows on the World. In: 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien. Hg. von Sandra Poppe/Thorsten Schüller/Sascha Seiler. Bielefeld: Transcript 2009. S. 183–199. Gregor Keuschnig: Nein, liebe Leute, dieser Kaiser ist nackt!, in: Glanz@Elend. Magazin für Literatur und Zeitkritik, http://www.glanzundelend.de/Artikel/littlellstruck.htm. Downloaded 1.3.2011. Dominick LaCapra: Hostrical and Literary Approaches to the “Final Solution”: Saul Friedländer and Jonathan Littell. In: History and Theory 50 (2011). S. 71–97. Jonathan Littell: Les Bienveillantes. Paris: Gallimard 2006. ———: Die Wohlgesinnten. Berlin: Berlin Taschenbuch Verlag 2009. ———Nora, Pierre: Conversations sur l‘histoire et le roman. In: Le Débat 144/2 (2007). S. 25–44. ———Mantilla, Jesus Ruiz: La cultura no nos protege de nada. Los nazis son la prueba. In: El País vom 27.10.2007, http://elpais.com/diario/2007/10/27/babelia/ 1193441952_850215.html. Downloaded 7.8.2012. Earl Jeffrey Richards: Fiktionen des Bösen und ‘das Gewissen der Nazis’: Les Bienveillantes von Jonathan Littell. In: Observatoire de l’extrême contemporain. Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. von Roswitha Böhm/ Stephanie Bung/Andrea Grewe. Tübingen: Narr 2009. S. 129–146.
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Jens Birkmeyer
Kältezonen aus nächster Nähe. Alexander Kluges neue Erzählungen über Nationalsozialismus und Krieg Alexander Kluges recent volumes contain numerous stories about National Socialism. They deal primarily with NS-politics, wartime events and the personal experiences of soldiers. Instead of giving priority to the representation of wartime disasters and the Holocaust, he describes the emotions of people in often hopeless situations. If it is impossible for human beings to cooperate with each other, a dangerous coldness will develop. Therefore, possibilities to avoid the inevitable should be traced out in historic events. But often they remain unnoticed. Passed experiences must be understood to enable nowadays a learning process against such coldness. How can be recognized, whether and where we are faced with a new danger? For this to find out, we should know how catastrophes are structured.
Die umfangreichen Erzählsammlungen Alexander Kluges der letzten zehn Jahre enthalten jeweils dutzende Texte zu den Komplexen Nationalsozialismus, Kriegserfahrung, Täter- und Opferlebensläufe. In diesen Textgruppen findet eine themenvielfältige Behandlung und facettenreiche Recherche statt nach den Konstellationen zwischen simultanen Wirklichkeiten und kontingenten Verstrickungen in Geschichte und Geschichten. Hierfür stehen etwa Kluges Erzählbände Chronik der Gefühle (2000); Die Lücke, die der Teufel lässt (2003); Tür an Tür mit einem anderen Leben (2006); Das Labyrinth der zärtlichen Kraft (2009); Dezember (2010) und Das fünfte Buch (2012). Mit analytischem Blick und einer gegen jedes illusionäre Kontinuum gewendeten Poetik der Montage werden aus Lebensläufen, Katastrophenereignissen, Kriegsepisoden, Bürokratieabläufen, Alltagsunfällen, Gewaltszenarien und scheiternden Liebesversuchen etc. immer wieder die verborgenen Gefühlslagen der Beteiligten und Betroffenen freigelegt und deren gestaute Emotionen, die in den jeweiligen Situationen sich nicht Geltung verschaffen können, herauspräpariert. Gefahndet wird in diesem komplexen Erzähluniversum vor allem nach jenen Konstellationen und Augenblicken, in denen Subjekte nicht nur von den übermächtigen Realitätsmassen der Varianten an Unterdrückung, des Krieges und der Verbrechensorganisation beherrscht, sondern auch ihre tatsächlichen Gefühle von ihren Handlungen abgespalten und getrennt werden und auf diese Weise fatale Kältezonen entemotionalisierter Subjektivität entstehen. Man kann trotz vieler dunkler Episoden und Schreckensnachrichten in Kluges Texten von der Annahme ausgehen, dass diese insgesamt keine
294 bilanzierende Gesamtschau einer insgesamt katastrophischen Vergangenheit beabsichtigen. Eher sollen die Texte zum Komplex des Nationalsozialismus offenkundig ganz unterschiedliche Blicke auf disparate Aspekte der Realgeschichte so freilegen, dass immer auch ein Zusammenhang zwischen großer Ereignis- und kleiner Erlebnisgeschichte erkennbar wird. In den folgenden Ausführungen soll es allerdings nicht darum gehen, einen motivisch ausgerichteten Überblick über dieses mäandernde Erzähllabyrinth zu geben. Stattdessen werden anhand ausgewählter Episoden exemplarisch einige jener internen Prinzipien aufgezeigt, die diesem in der deutschen Gegenwartsliteratur bislang einmaligen Textuniversum offensichtlich zugrunde liegen. Für diesen Zusammenhang ist zunächst der Hinweis darauf von Belang, dass Kluges Miniaturen nicht vom Paradigma eines ästhetischen Darstellungsproblems der Shoah aus konzipiert sind. Es lassen sich keine eindeutigen Hinweise für die Annahme finden, Kluge beabsichtige mit seinen Kurz- und Kürzesterzählungen in erster Linie, die Verbrechen des Faschismus selbst erzählerisch in Angriff zu nehmen und darstellen zu wollen. Ebenso verfügen die elliptisch kreisenden Erzählungen, die sich erklärtermaßen nicht am Modell des linearen und chronologischen Erzählens des 19. Jahrhunderts ausrichten, über kein thematisch oder motivisch angelegtes Zentrum, das ethische Reflexionen über das Monströse des Geschehenen anstellt. Wohl eher stellt sich die Frage, weshalb gerade der Holocaust keine zentrale Rolle spielt, während dies doch in der Gegenwartsliteratur der letzten Jahre, die sich primär diesem dominanten Motiv der Erinnerungskultur verpflichtet sieht, der Fall ist. Mit einer gewissen Vorsicht soll nun behauptet werden, Kluges Erzählungen über den Nationalsozialismus seien thematisch letztlich keiner Täter-Opfer-Dichotomie verpflichtet, die für die literarischen Erinnerungsperspektiven der letzten Jahre – häufig zudem mit moralischer Aufladung – maßgeblich war (vgl. Birkmeyer/Blasberg). Eher fahnden sie unter dem Aspekt der Pathologien von Subjektivität nach möglichen Auswegen und Umbrüchen dieser Subjektivität, etwa von Akteuren des Krieges, in auswegloser Zeit. Das Erzählvorhaben zielt vielmehr darauf ab, die Konstellationen von blindem, d.h. automatisiertem Handeln und unreflektierten Erlebnissen einerseits und Erfahrungsmöglichkeiten andererseits sichtbar und mitteilbar zu machen. Daher nähert sich Kluge dem Komplex Nationalsozialismus nicht von seinem katastrophischen Ende des Holocaust her, sondern geht stattdessen von einem gigantischen Reservoir an kontingenten Geschichten und Ereigniskonstellationen an den disparaten Rändern der Realgeschichte aus. Gerade auch im Genozid und im Zweiten Weltkrieg sieht Kluge das Prinzip Ausgrenzung und industrielle Liquidation verkörpert: Breite Teile des Menschlichen und der Wirklichkeit werden nicht in ein Gemeinwesen eingesogen, sondern entrealisiert mit den Mitteln des Kannibalismus, aber auch nach dem vomitorischen Prinzip (‘auskotzen’) oder kannibalo-vomitorisch.
295 Eine Umgangsform unter Menschen, die das Gefühl und die Wünsche der Menschen abstößt. (Kluge: Personen und Reden 28)
Mit Adorno teilt Kluge die Überzeugung, dass letztlich nicht das Subjekt selbst die Instanz für das endgültig Böse ist, weil es für die divergierenden Innenkräfte des Menschen zu aufwendig sei, unablässig Böses anzustreben. Demgegenüber entstünden “gesellschaftliche Verbrecher [. . .] nur dadurch, daß Personen sich in einen Zustand der Unberechenbarkeit versetzten, sich ‘rasend’ machen und so für den Genozid zur Verfügung stehen” (Kluge: Das fünfte Buch 104f.). Diese Sichtweise, dass nämlich das Böse zwischen Menschen “auf unsichtbaren Plattformen” entstehe, “an welche die Libido nicht heranreicht, weil sie sich von ihren Ursprungsorten, den Körpern, nicht weit entfernt, und die sind individuell” (Kluge: Das fünfte Buch 105), liegt Kluges Erzählungen zugrunde. Ihre durchaus irritierende distanzierte Nüchternheit ist nämlich nicht am unmittelbar unfassbar Grausamen interessiert, sondern an den verheerenden Verstrickungen abgespaltener Subjektivität. Der mitunter verblüffende Optimismus dieser Texte hat damit zu tun, dass in allen Episoden kasuistisch nach Resten und Fundamenten unverwüstlicher Gefühle geforscht wird, die nicht die absolute Katastrophe anstreben: “Weder eine kasernierte Arbeit noch eine Gefangenschaft machen deshalb bis zum Nullpunkt unglücklich. Kurz vor diesem Nullpunkt macht die Hoffnung Sprünge” (Kluge: Das fünfte Buch 206). Der Autor weist in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hin, dass es erst die Kontrastierungen von Erzählgeschichten und Realgeschichte sowie von Einzelgeschichten untereinander sind, die einen sinnvollen Kontext erschließen. Wenn etwa “kurze Geschichten mit anderen kurzen Geschichten” kombiniert werden, dann entwickeln diese Konstellationen zwei Dinge, nämlich den Kontext, den Zusammenhang und zweitens den Subtext, der die Geschichten in Wirklichkeit bestimmt. Meine Geschichten sind nicht bloß von der Grammatik oder von der Logik geführt oder sie enthalten Informationen, sondern sie enthalten auch einen subjektiven Bestandteil, der sozusagen die Form der Geschichten ausmacht, und der wirkt spontan.1
Diese epistemische Prosa will besonders die Zusammenhänge von erlebtem historischen Geschehen, dem Subjekte jeweils ausgesetzt sind, und deren hierbei immer auch eingeschränkte Erfahrungsweisen gegenüber den aufgezwungenen Realitäten durchleuchten. Mit aufklärender Intention sollen 1
Das Zitat stammt aus einem Gespräch, das ich mit Alexander Kluge am 7. März 2012 geführt habe: Alexander Kluges Erzählungen im Unterricht. Jens Birkmeyer im Gespräch mit Alexander Kluge. In: Der Deutschunterricht 17 (2012). H. 3. S. 10–15. Hier S. 10.
296 die mannigfachen Kältezonen der Subjekte, d.h. ihre Abtrennung von reflektierten Erfahrungsmöglichkeiten sowie ihre pathologischen Entsubjektivierungen, erhellt werden, indem reale Begebenheiten auf ihren Erfahrungsgehalt hin untersucht werden. Kälte entsteht dort, “wo ein Mensch und seine Wirklichkeit voneinander abgeschnitten werden” (Kluge: Die Lücke, die der Teufel lässt 751). Dabei erzeugen die Narrative ein kritisches Unterscheidungsvermögen für das Geflecht aus subjektiven Einstellungen und Handlungsmustern einerseits und den vorgefundenen objektiven Gegebenheiten andererseits. Somit rücken Konstellationen in den Blick, die als Aggregatzustände des Subjektiv-Objektiven erforscht werden sollen. Die oft fern anmutenden Geschichten dringen dabei konsequent in jene Zonen der Lebensläufe vor, in denen Kämpfe zwischen Kälte als Zustand sozialer Abspaltungen und Kooperation, Liebe und Gewalt, Hoffnung und Ausweglosigkeit etc. in elementarer Form ausgetragen und sichtbar werden. Wenn Ernestine Schlant in ihrer Übersichtsstudie Die Sprache des Schweigens Kluges frühen Erzählungen grundsätzlich Holocaustignoranz attestiert, übersieht sie allerdings den methodisch induktiven Erzählansatz Kluges, der in ästhetischer Hinsicht überhaupt nicht auf das schrecklich Erhabene der Shoah im Ganzen abzielt (vgl. Schlant 77ff.). Selbst in einem so eindeutig auf den Genozid bezogenen frühen Text wie Ein Liebesversuch (1962) aus dem Erzählband Lebensläufe (Kluge: Lebensläufe 142–145), in dem von einem faschistischen Euthanasieexperiment an einem misshandelten Liebespaar berichtet wird, steht nicht das Verbrechen allein im Vordergrund. In dieser lakonischen Erzählung etwa werden neben den Details perfider Menschenvernichtung vor allem die Pathologien und Perversionen der nazistischen Täter sichtbar, die sie davon abhalten, das vollzogene Verbrechen überhaupt als solches wahrzunehmen. Der reale Kern dieser Erzählung bezieht sich auf NS-Experimente, in denen Röntgenbestrahlung als Mittel zur Durchführung von Massensterilisationen getestet wurde. In dieser Episode werden zwei Gefangene manipuliert, um sie zum Geschlechtsverkehr zu stimulieren. Da der Versuch jedoch scheitert, werden die Gefangenen anschließend erschossen. Stammte diese vermutlich bekannteste Erzählung Kluges noch aus dem historisch-politischen Umfeld des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses gegen Mitglieder der Lagermannschaft des KZ Auschwitz (1963–65), so wird an ihr bereits das Kältemotiv pathologischer Subjektivitätsverleugnung sichtbar, das Kluges Werk insgesamt durchzieht. Bemerkenswert ist an dieser Geschichte, die ebenfalls in den Band Glückliche Umstände, leihweise (Kluge: Glückliche Umstände, leihweise 204–208) aufgenommen wurde, die Erzählweise selbst, da ein anonymer Täter, der an dem Experiment beteiligt war, sich an dieses Ereignis erinnert und diesbezügliche Fragen beantwortet. Die gestellten Fragen lassen sich als eine fiktive
297 Selbstbefragung der Täter im Nachhinein lesen: “Schämten sich die Versuchspersonen?” (204), “Woher wußte man das?” (205), “Wurden Sie selbst erregt?” (207), “Was geschah mit den Versuchspersonen?” (207). Die Ethik dieses Erzählens besteht aber in keiner Trauerarbeit, sondern in der nicht-moralisierend gestellten Frage, wie Täter ihre kalkulierende Empathielosigkeit hätten reflektieren müssen, um überhaupt noch zu Lernprozessen gelangen zu können. Erzählt wird in der Gestalt einer Täter-Mimesis, die nicht auf Einfühlung, Psychologisierung oder Imagination der Figuren, weder der Täter noch der Opfer, setzt. “Diese streng eingehaltene Sicht aus den Augen des Täters”, bemerkt Rainer Stollmann zu Recht über das herangezoomte Protokoll, “vermeidet vor allem alle falsche Unvermitteltheit; irgendeine Identifikation mit den Opfern, die in jedem Falle falsch und lügnerisch wäre, ist hier überhaupt nicht möglich. Was wir über sie ungefähr in Form einer Polizeiakte erfahren, bringt sie uns nicht näher, sondern rückt sie uns fern” (Stollmann 153). Kluges nüchterne Recherchen zielen in diesem Kontext darauf ab, Pathologien der Subjektivität als Ursache von Verbrechen und Barbarei sichtbar zu machen: “Was geschah mit den Versuchspersonen? Die widerspenstigen Versuchspersonen wurden erschossen. Soll das besagen, daß an einem bestimmten Punkt des Unglücks Liebe nicht mehr zu bewerkstelligen ist?” (Kluge: Glückliche Umstände, leihweise 207f.). Wenn die Erzählung mit dieser unbeantworteten Frage endet, so weist sie zugleich als Indiz für den noch unauslöschbaren Rest an menschlichem Eigensinn in Zuständen erdrückendster Barbarei auf eine maßgebliche Intention von Kluges Erzählprojekt insgesamt hin. Denn Kluge geht es in seinem Archiv pathologischer Subjektivität von Menschen unter glücklichen und unglücklichen Umständen vor allem darum, noch die gewissermaßen anthropologischen Ressourcen an eigensinnigem Beharrungsvermögen der Subjekte auszuloten und kenntlich zu machen. Diese Sichtweise hängt mit dem Umstand zusammen, dass Kluge Subjektivität und deren Gefühlskonstellationen als eine beständige, anpassungsfähige und zugleich hartnäckige materielle Grundlage von Realität und Fundament von Geschichte als “ein erzählerischer Strom gelebter Erfahrung, die von Generation zu Generation weitergereicht wird” (‘Der Konjunktiv des Krieges’) auffasst. Zieht man theoretische Schriften Kluges zu diesem Komplex heran, wie etwa seine Beiträge Krieg (Kluge: Krieg 211–216), Das Lesen des Textes wirklicher Verhältnisse und Maßverhältnisse des Politischen (Kluge/Negt: Maßverhältnisse des Politischen 185ff.), so werden unmittelbar folgende Intentionen sichtbar: Es soll (1) der Text wirklicher Verhältnisse als ein “wüstes Gemisch von Zeichen” (Kluge: Das Lesen des Textes wirklicher Verhältnisse 201) gelesen und dechiffriert werden, der durch Klischees kollektiver Erinnerung verweigert und falsch wiedergegeben werde. Zudem sollen (2)
298 die gegeneinander abgeschotteten “Wirklichkeits-Blöcke” (Kluge: Das Lesen des Textes wirklicher Verhältnisse 177) mit ihren zugleich darin enthaltenen, jedoch verborgenen Erfahrungsgehalten so sichtbar gemacht werden, dass in den Geschichten stets auch Variationen von gescheiterter oder unvollständiger Erfahrungsverarbeitung aufscheinen und in der Lektüre in einen Modus möglicher Erfahrung des Lesers im Nachhinein überführt werden können. Ein so verdichtendes Erzählen zielt darauf ab, gerade in den nicht erfolgten Lernprozessen das nicht Zwangsläufige von Vergangenheiten wiedererkennen zu können: Es liegen also in der negativen Entwicklung die Auswege versteckt. Das wird an jeder Nahtstelle solcher Erfahrungsbereiche, wenn man sie nämlich überschreitet, deutlich, die immanente Logik des Verhängnisses entwickelt ihre niederschmetternde Macht immer nur innerhalb des einzelnen Wirklichkeitsblocks. Die Blöcke untereinander haben verblüffend wenig Verkehr. Alle Wirklichkeiten gemeinsam zeigen keine Notwendigkeit, keine Fatalität, sondern absolut Mangel an Bearbeitung. (Kluge: Das Lesen des Textes wirklicher Verhältnisse 178)
Diese antifatalistische Poetik geht davon aus, dass Menschen sich immer in einem zugleich vorgefundenen, gegebenen, wirklichen, jedoch auch noch unwirklich optionalen Wirklichkeitsbezug (z.B. Wünsche und Möglichkeiten) bewegen. Aus dieser Differenz resultieren Chancen für Lernprozesse, die aber nur möglich sind, weil Menschen ohnehin über ein Reservoir an Intuition, Wissen und sinnlichem Vermögen verfügen, das mimetisch die Lebensvollzüge grundiert. Mimetisch sind für Alexander Kluge daher alle Erlebnisse, die ein Mensch hat und mimetisch ist auch das, was ich, wenn ich einen Text genau lese, was das Begleitgefühl macht. Anders gesagt, Texte sind Magnete und diese Magnete magnetisieren oder führen mit sich das, was an sinnlichem Material im Leser schon längst vorbereitet vorhanden ist. Hätte er das nicht, könnte er sich nicht in einen Luftangriff hineinversetzen, dann kann ich ja überhaupt keinen Text auflösen. (Alexander Kluges Erzählungen im Unterricht 11)
Unbedingte Sachlichkeit im Erzählen will die moralische und ästhetische Dimension des Grausamen deeskalieren, keinesfalls jedoch vergrößern oder dramatisieren. Kluges lakonisches Erzählen rückt durch diese Haltung die Erzählerstimme bis an den Rand der Gleichgültigkeit um des Berichtens willen. Selbst Hinweise auf das Zerstörungsausmaß und die Opferbilanz des Luftangriffes auf Halberstadt (Kluge: Chronik II 27ff.) folgen an keiner Stelle ästhetisierenden Intentionen, sondern sind der Froschperspektive der Lebensläufe und dem authentischen Ton der jeweiligen Situationserfahrung verpflichtet, die sich mit keiner poetisierenden Erzählerphantasie verträgt, stattdessen der personalen Nahperspektive verbunden ist: “Die Häuser brannten ‘wie Fackeln’. Sie suchte nach einem besseren Ausdruck für das, was sie so genau sah” (Kluge: Chronik II 28). Nicht um die Erinnerung an die
299 historischen Geschehnisse geht es Kluge hierbei, sondern um den Nachvollzug ihrer latenten Möglichkeitsformen: Was wäre gewesen wenn? Was hätte stattdessen passieren können? (vgl. Schulte/Stollmann 21f.) In einem Interview erklärt Kluge dieses Selbstverständnis als die Tätigkeit eines Sammlers von Erfahrungsweisen: Ich betrachte mich als jemand, der nach der Beendigung von Bürger- oder Religionskriegen über die Arten des Irrtums und der rotierenden Gefühle eine Sammlung anstellt, die sich mit den Sammlungen anderer - zum Beispiel denen eines Montaigne oder Michel Foucault - verbinden läßt. Es geht mir darum, Gefäße, Kisten, Röhren, Ampullen in einem Archiv bereitzustellen, in denen man Erfahrung aufbewahren und prüfen kann. Mein Buch liefert historische Momentaufnahmen, ein riesiges Lager von Beispielen und Lehrstücken. (Erzählen ist die Darstellung von Differenzen)
Kluge geht es an dieser Stelle offensichtlich um Materialstudien über die geschichtliche Bestimmtheit der Subjektivität. In ihrem Gemeinschaftswerk Geschichte und Eigensinn wird die soziologische Perspektive von Negt und Kluge klar benannt: Ein Mensch hat eine Geschichte, d.h. er kollidiert mit der Geschichte. [. . .] All diese Prozesse von Geschichte sind subjektiv-objektiver Natur. Subjektivität ist geschichtlich bestimmt, wenn sie in ihren Partikeln, in allen diesen einander mehrdimensional überlappenden Geschichtsverläufen, untersucht wird, somit eine Gattungsbestimmung erhält – und wenn diese Untersuchung zugleich im individuellen Lebenslauf rezipiert werden kann. Dies ist nämlich die Bedingung dafür, daß Subjektivität als geschichtlich bestimmte, als subjektiv-objektives Verhältnis, wiederangeeignet werden kann. (Negt/Kluge: Geschichte und Eigensinn 782f.)
Wenn das Fundament von Kluges Texten weder ästhetischer, ethischer noch psychologischer Natur im engeren Sinne ist, dann geht es eher um die Gefühlslagen subjektiv-objektiver Geschichtskonstellation, also um Erfahrungen von Enteignung und Wiederaneignung, d.h. um die Dialektik von “Makrophysik der Subjektivität” und der “Mikrophysik des gesellschaftlichen Menschen” (Negt/Kluge: Geschichte und Eigensinn 784). Im Zentrum der realistischen Episoden stehen meist reale Erfahrungskerne, die als eine Form der Erinnerung rekonstruiert werden und auf diesem Wege wieder mittels Lektüre für neues Erfahrungswissen verfügbar gemacht werden sollen (vgl. Großklaus 175–202; Kluge: Die fünf Sinne – Sinnlichkeit des Zusammenhangs 123–126). In der Erzählung Was heißt ‘wirklich’ im nachhinein? reflektiert Kluge über den Wirklichkeitsgehalt von Erinnerung anhand dessen, was heute auf dem ehemaligen Terrain des durch einen Luftangriff im Zweiten Weltkrieg zerstörten Elternhauses noch sichtbar ist: “Was ist an diesem Arrangement von Resten wirklich? Sechs Büsche und ein Stein können keine Wirklichkeit herstellen. Aber etwas Früheres, was in meinem Sinn lebt, und
300 die sieben Partikel bilden einen Moment. Aus solchen Momenten entsteht Wirklichkeit” (Kluge: Tür an Tür 243). Die kollektive Niederlage der Wehrmacht vor Stalingrad zeigt etwa, dass sie unter anderem deshalb so hartnäckig als politischer Zusammenbruch betrachtet wurde, weil der faktische millionenfache individuelle Zusammenbruch der Kriegsteilnehmer als kollektive Katastrophe mythisiert wurde, ohne dass diese Katastrophe jedoch hinlänglich gesellschaftlich-kollektiv bearbeitet wurde. “Stalingrad and Halberstadt remain non-experiences, negative myths in postwar German consciousness” (Roberts 150). Diesem Umstand wird narrativ Rechnung getragen, indem die zwar objektive, jedoch nicht wahrzunehmende Totalität des historisch Geschehenen nicht mehr aus der individuellen Perspektive eines vereinzelten point of view punktuell erzählt wird. Denn allein gesellschaftlich bewußte, kollektive Arbeit vermag das Gespensterdasein des Vergangenen, das die gegenwärtigen Zukunftsplanungen durchkreuzt, aufzuheben und den tödlichen Wiederholungszwang zu brechen, der Wiederkehr des Verdrängten Einhalt zu gebieten. Transformation der kulturellen Erbschaft in gegenwärtige, gesellschaftliche Gestaltungen ist jedoch an den öffentlichen Umgang mit der Geschichte gebunden, der nur unter bestimmten Bedingungen Lernimpulse entfaltet. (Kluge/Negt: Maßverhältnisse des Politischen 332)
Stattdessen soll eine kritische Erinnerungsarbeit in Geschichten durch die Matrix der Vervielfachung aus Montagen, Simulationen und Perspektivwechsel den mikrologischen Gefühlsraum mit dem Makrokosmos der Geschichte konfrontieren und zugleich zusammenführen. So wird etwa der Warschauer Aufstand im August 1944 in einem kleinen Zyklus von sechs Erzählungen (Der Horizont des Unmöglichen) behandelt, die punktuell ganz unterschiedliche Perspektiven einnehmen und unmittelbar nebeneinander stehen (Kluge: Tür an Tür 295–303). In den Blick geraten auf diese Weise parallel zeitgleiche Realitätsausschnitte: der Widerspruch zwischen Befehlsgehorsam eines Oberleutnants und dessen moralische Skrupel hinsichtlich einer Liebesbeziehung, Organisationsschritte der Wehrmacht zur Niederschlagung des Aufstandes, Kommunikationsprobleme der Aufständischen, Befreiung deutscher Beamten aus dem Hauptpostgebäude, ein Geldfund deutscher Soldaten in einem Kohlehaufen, das Machtvakuum der deutschen Besatzer im Zeitraum zwischen der Niederschlagung des Aufstandes und der Räumung Warschaus. An dieser kontingent erscheinenden Reihung wird deutlich, dass es weder einen prominenten Bezugspunkt gibt, von dem aus berichtet wird, noch ein moralisch ausgewiesenes Zentrum des sich selbst legitimierenden Erzählens im ethischen Sinne. Die genuin multiple und fraktale Darstellungsperspektive
301 folgt eher einem Wirklichkeitsverständnis, das dem unvermittelten Aufeinanderprallen gleichzeitiger Ungleichheiten und Gegensätze verbunden ist und nicht einer linearen Erzählstruktur mit einer ethischen oder sinnstiftenden Zentralperspektive. Ein strukturelles Muster dieser Erzählform ist es, menschliche Verhaltensweisen und Reaktionsmuster auf frühe geschichtliche Wurzeln zurückzuführen. Zentral ist das stille und unmerkliche Fortwirken der langen Vorgeschichten in den Gefühlsräumen der Lebensläufe. Kluge interessiert sich für das Zusammentreffen der subjektiven Gefühlslagen (Wünsche, Phantasien etc.), die als individuelle Glückssuche in jeder Biographie unterschiedliche Formen annehmen. Diese Biographien müssen sich an historischen Umständen abarbeiten, wobei entscheidend ist, dass diese Gefühle, die “antirealistisch und gegen die Erkenntnis des Schreckens gerichtet” (Kluge: Personen und Reden 20) sind, ihrerseits über eine lange Entwicklungsgeschichte verfügen. Von dieser haben die Subjekte in der Regel jedoch keine Kenntnis, weil ihr noch vorhandener Eigensinn sich nicht zu einer positiven Kooperation verbinden kann, die Unheil erst gar nicht anstrebt oder rechtzeitig verhindern kann. Negt und Kluge charakterisieren diesen Eigensinn in Abgrenzung von einem Naturtrieb und einem voluntaristischen Postulat als eine “natürliche Gegenwehr” gegen Zwangsverhältnisse im Sinne einer “Umproduktion von nichtidentischen Verhältnissen in identische, vermöge der Selbstregulation von Erfahrung” (Negt/Kluge: Geschichte und Eigensinn 510). Eigensinn wird als ein Protestgefühl gefasst, das auf dem nicht vorhandenen identischen “Zusammenhang der Grundbedürfnisse des Menschen” (Negt/Kluge: Geschichte und Eigensinn 510) beruht. Alle Grundsituationen menschlicher Gefühle, alle Tugenden und Untugenden müssen auf ihre Konsequenzen für Emanzipationsprozesse hin bewertet werden, zumal Gefühle als “die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe” (Kluge: Chronik I 7) sich als geschichtsmächtige Kräfte in den unterschiedlichen Kontexten ganz verschieden auswirken können (vgl. Menninghaus 258 ff.). In einer Doppelrolle als Anatom und “Wissenspoetiker” (Scherpe 328) kartographiert Kluge einen historischen Atlas der Gefühlszustände samt ihren in der Vergangenheit entstandenen Zeitzonen und “Intensitätsgraden” (Kluge/Negt 45). So etwa auch hinsichtlich Leutnant Bertrams abgespaltener “Gesamtpersönlichkeit (Erfahrung, Erkenntnisse, Protestgefühl, auch soweit dieses vor Stalingrad angesammelt wurde, Gewissen der Vorväter usf.)” (Kluge: Chronik II 18) vor Stalingrad, dessen militärischer Funktionskörper immer schneller handelt als die verzögert nachfolgende Persönlichkeit. In ihm, der keine Zeit für Trauer hatte, jedoch den Wunsch nach “Sinngehalt” als “einer zusammenhängenden ‘Wirklichkeitsform’” (Kluge: Chronik II 20)
302 agiert heftig das Gefühl, verraten worden zu sein, allerdings verspätet und “unterhalb der Sprache”. Als Patient durchläuft er verschiedene Reservelazarette, von seinem Obergefreiten getrennt. Seine Persönlichkeit folgte allmählich nach; traf er im März ein, so kann er schon Ende April ihre Wiederankunft fühlen. Es ist das Gefühl: ‘schmählich’, ‘unverzeihlich’‚ ‘im Stich gelassen’‚ zu sein. ‘Feige Etappenärsche, die sich nicht rührten.’ Was sollen die Worte! Es ist ein Gefühl. Er hat ausreichend Zeit, daß diese Gefühle, allerdings unterhalb der Sprache, in ihm anlangen. (Kluge: Chronik II 18f.)
Nach einem unerfüllten Heimaturlaub von der Ostfront fühlt der Obergefreite Eilers Heimat gerade dort, “wo ich den persönlichen Eindruck habe, dass alles Sinn und Zweck hat und die Zusammenarbeit klappt. Das kann ich vom gewesenen Weihnachtsfest nicht sagen. Dagegen muß ich es hinsichtlich der Stellung, die wir hier ‘um jeden Preis’ halten, behaupten. Ich hätte sonst überhaupt nichts übrig” (Kluge: Chronik I 723). Die disziplinierte und selbstlose Turmbeobachterin Zacke will mitten im Bombenhagel des Luftangriffs auf Halberstadt plötzlich “nicht auf dem steinernen Gesims des Turmgangs ‘abbrennen’” (Kluge: Chronik II 36) und flüchtet zum Überleben in den brennenden Kirchturm hinab. Mit dem an dieser Stelle angedeuteten Zeitaspekt wird bereits ein weiterer poetologischer Kern in Kluges Arbeiten sichtbar. Die meisten Episoden des Bandes Dezember sind in den Kriegsjahren 1941 bis 1945 und in der Gegenwart von 2003 bis 2009 angesiedelt. Vom vordergründig unterhaltenden Amüsement befreit, werden in diesen Anekdoten etwa Zeitzonen mit Wetterkonstellationen und politischen Recherchen verknüpft. Die erste Geschichte des Bandes verstrickt so die drei Dimensionen Zeit, Klima und Politik auf exemplarische Weise: 1. Dezember 1941: Eissturm an der Front vor Moskau. Es müßten zwei Armeen in Reserve stehen, sagt Generalfeldmarschall Fedor von Bock, der gegen 17 Uhr mit dem Oberkommando des Heeres telefoniert. An sich brauchen wir, fährt er fort, keine Waffen zur Bekämpfung der Russen, sondern eine Waffe zur Bekämpfung des Wetters. Nichts von diesem Geschehen im Osten ist in den Häusern Deutschlands unmittelbar wahrzunehmen. Dr.-Ing. Fred Sauer, ehemals Siemens, für die Versuchsabteilung des Heereswaffenamtes tätig, untersucht die Anatomie von Mammuten. Ließ sich aus den kurzen Rümpfen und gedrungenen Körpern dieser erfahrenen Riesen der Kaltsteppe (die es mit ihren staubigen, immerwährenden, extrem kalten Ostwinden im Jahr 1941 nicht mehr gibt) eine winterfeste Panzerwaffe entwickeln? In den gewaltigen Säulenbeinen, so Fred Sauer, wärmte das sauerstoffhaltige Blut, das aus dem Körper dieser Tiere strömte, das verbrauchte kalte Blut, das zum Körper hinaufstieg. Das war ein Hinweis auf die Möglichkeit, durch doppelte Kreisläufe in den Motoren (einer zur Erwärmung des Gerätes und einer für den Antrieb) eine Aushilfe gegen die Tücke des russischen Winters zu finden. Das Projekt kommt für die Entscheidung in diesem Jahr zu spät. Der Monat Dezember 1941 war durch Zeitarmut charakterisiert. (Kluge/Richter 7)
303 Der skurrile und vermutlich realistisch rekonstruierte Episodenkern will Zeitverknappung mit der Wetterlage derart in eine sinnfällige Konstellation setzen, dass der politische Gehalt der Kriegsführung in seinem konstituierenden Zeitmaß sichtbar wird. Metaphorisch gesprochen handelt es sich um eine poetische Form des Erinnerns selbst. Kluge gräbt wie die Lehrerin Gabi Teichert in dessen Film DIE PATRIOTIN (1979) in der Geschichte und findet einen Zeitkern, um den herum sich eine Episode entfaltet und narrativ gestalten lässt. Was als “Zeitarmut” bezeichnet wird, ist der Glücksfall einer nicht gelungenen politischen Maßnahme gegen die Natur zur Beförderung des Krieges als stärkste Mythenbildung, sodass der Leser durch dieses Prinzip etwas Wissenswertes in der Kombination mit einem maßgeblichen historischen Augenblick und dem temporären Moment des geglückten Scheiterns erfährt. Dezember lässt sich in dieser Hinsicht als eine Textsammlung über divergierende Perspektiven der Zeit und Zeitqualitäten lesen, zumal in etwa der Hälfte aller Miniaturen das Zeitthema sogar explizit gemacht wird. Systematisierend lassen sich die Zeitperspektiven dieser Prosa in fünf Gruppen unterscheiden: (1) ungelegene Zeit, (2) Zeichen der Zeit, (3) knappe Zeit, (4) Qualitäten der Zeit und (5) Tempi der Zeit. Zu den in Dezember differenzierten Zeitvariationen gehört ebenso die Kategorie des bedeutungsvollen Zufalls, die es genau auszumalen und vorzustellen gilt. “Insofern glaube ich, daß diese Ballung von Zufall und vorangegangenem Zufall und vorangegangenem Tun und Irrtum, etwas ist, das äußerst bekämpfenswert ist” (Erzählen ist die Darstellung von Differenzen). Das Nichtgeschehene soll als Möglichkeit des Geschehenen dem Vorstellungsvermögen zugeführt und dort in seiner temporären Dimension unterscheidbar gemacht werden, denn das Mögliche ist eine Dimension des Wirklichen selbst. Wenn etwa am 3. Dezember 1931 nach einer Hochzeitsrückfahrt “um ein Haar” (Kluge: Dezember 10) Hitler durch einen nur knapp vermiedenen Autounfall mit Goebbels Brautmutter ums Leben gekommen wäre, heißt es in der kommentierenden Fußnote zu diesem Kalendereintrag: “Ich, einliegend im wohltemperierten Bauch, wäre beinahe geboren worden, ohne daß Hitler ein Stück Zukunft gehabt hätte. Es fehlte am tödlichen Zusammenstoß auf der Eisfläche ein Abstand von 40 Zentimetern zwischen den hochmotorisierten Fahrzeugen” (Kluge: Dezember 10). Das Zeitmaß des Zufalls wird auf diese Weise zu einer relevanten und erzählbaren Qualität, die das geschlossene und eindimensionale Wirklichkeitsverständnis einer derart banalen Episode an einer Stelle aufbricht, die es erlaubt, Möglichkeitskerne innerhalb der bestehenden Wirklichkeit vorstellbar und denkbar zu machen. “Nur alle Wirklichkeiten zusammen genommen, zehn oder zwölf Aggregatszustände, bilden ein wirkliches Verhältnis” (Erzählen ist die Darstellung von Differenzen). Somit geht es in dieser Prosa immer auch darum, simplifizierte, einseitige und ungenaue Vorstellungen von
304 ausschließlich irreversibel chronologischer Zeit komplexer, intelligenter und gehaltvoller zu gestalten. In den Erzählkernen sollen durch ein Spiel mit den Möglichkeiten deren temporäre Modalitäten freigelegt werden, um immer wieder die Vorstellung zu konterkarieren, Ereignisse folgten zwangsweise stets einem unabweisbaren Verlauf. Die Erzählungen wollen sowohl die Macht der Phantasie gegen das Regime des Faktischen stimulieren als auch für die gemeinhin unberücksichtigten zersplitterten Zeitmaße des Geschehenen sensibilisieren. Entscheidend für Kluges Zeitphantasie, einen veränderten komplexeren Zeitbegriff zu entfalten, der die Wirklichkeit im Plural denken kann, ist das Paradigma der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Bemüht man sich darum, die Zeitperspektiven der Texte etwas systematischer zu rubrizieren, lassen sich diese Typen benennen und unterscheiden. Unterschiede zwischen den Zeitqualitäten sind ihrerseits differente Perspektiven: “Physikalische Zeit (die ein Metronom mißt), psychologische Zeit, Produktionszeiten, Tageszeit, Zeiten des Lebenslaufs, Geschichtszeit – alles dies sind verschiedene Perspektiven. Perspektive bedeutet, angewendet auf die Zeit: Qualität” (Kluge: Die Macht der Bewußtseinsindustrie 203). Zeichen der Zeit treten auf, müssen beachtet und verstanden werden. Doch wenn im Dezember 1942 Hauptmann Slopotka “durch Schlamperei des militärischen Apparats” (Kluge/Richter 16), so erinnert Kluge eine Episode Heiner Müllers, von Sizilien in den Kessel Stalingrads versetzt wurde, dann hat er, aus einem “anderen Realitätsstrom” kommend, die dortigen “Lernprozesse” versäumt und ist entsetzt über den “doktrinären Glauben der Kessel-Kameraden ans eigene Unglück” (Kluge/ Richter 16). Slopotka, der am 24. Januar des folgenden Jahres umkommt, kam aus einer anderen Zeitzone und vermochte nicht die Zeichen der Zeit angemessen zu erfassen. Ein glücklicher Augenblick, so ließe sich die Konstellation der Zeit dieses Textes charakterisieren, ist eine Art der komponierten Zeitvernetzung, die etwas zum Gelingen bringen kann. Eine unglückselige Konstellation hingegen liegt für Kluge immer auch in der knappen Zeit selbst begründet. Gerade etwa der Monat Dezember 1941 erscheint durch “Zeitrasanz” derart charakterisiert, dass “selbst für die sorgfältige Organisation von Verbrechen kein Platz” (Kluge/Richter 28) mehr blieb. Angesprochen ist damit die Terminverschiebung der Wannseekonferenz. Verknüpft wird unter dem Datum 8. Dezember 1941 dieses banale Faktum mit der kritischen evolutionstheoretischen Fragestellung, wie sich “aus einer wirren Struktur von Unbestimmtheiten die EINE BESTIMMTHEIT, die zum Unheil führt, während andere Unbestimmtheiten (‘Möglichkeiten’) sich einfach nur zerstreuen” (Kluge/ Richter 26), herausbildet und durchsetzt. Kluge fahndet insofern nach Tendenzen der Zeitverknappung in Krisensituationen, die bis zur Situation einer “Macht ohne Zeit” (Kluge/Richter 38) führen kann, wie sie beispielsweise für
305 die deutschen Besieger der polnischen Heimatarmee attestiert wird. Deren letzte 30 Tage führten zu einer Verknappung der Zeit, innerhalb der die Macht allumfassend war: “In gewissem Sinne war sie enthemmt, weil keine Zeit blieb für mögliche Rechenschaft. Mit diesen Wochen gingen Erfindungen einher; Erfahrungen wurden gesammelt. Für wann? Sinnlosigkeit schmälert nicht die Irrtümer” (Kluge/Richter 38). Zeitentzug entrealisiert Wirklichkeit und steigert den Handlungszwang. Die Zeitphilosophie Kluges geht im Grunde davon aus, Zeit an sich sei nicht existent, sondern immer nur in Relation zu divergierenden und differenten “System- oder Lebens-Geschwindigkeiten” (Kluge: Verdeckte Ermittlung 66). Maßgeblich ist dabei, dass diese Kürzestgeschichten von ständig wechselnden Standpunkten und Perspektiven aus nichtlinear in kreisenden Bewegungen und thematischen Gruppen verfasst sind. Gekennzeichnet sind sie immer von der Absenz einer Empathie. Diese Kälte in moralischer Hinsicht des Narrativs korrespondiert mit dem Kältestrom der Ereignisse und Episoden selbst. In der Chronik der Gefühle etwa erzählt die Geschichte Brennstoff der Freiheit vom alltäglichen Kannibalismus im Stalingradkessel: Die Kontrollen in den Lagern stellten Antikannibalismusgruppen aus den Reihen der Offiziere auf, die, mit Stemmeisen und Hämmern bewaffnet, jeden Kannibalen, den sie fanden, töten sollten. Diese Späher hielten Tag und Nacht nach den verräterischen kleinen Feuern Ausschau, an denen die Menschenfresser ihre Mahlzeiten zubereiteten. Dr. med. P., an einem dieser Patrouillengänge beteiligt, überraschte hinter einer Baracke einen Mann, der an einem Stock einen Gegenstand über dem Feuer briet. Zunächst dachte er, es sei Wurst, dann aber entdeckten die erfahrenen Augen des Arztes die ziehharmonikaförmige Struktur der ‘Wurst’, d.h., der Mann briet sich eine Luftröhre. (Kluge: Chronik I 721)
Erzählerisch geht es in diesem Ausschnitt – wie in zahlreichen anderen Miniaturen dieses Themenkreises – um eine gegenempathische Haltung, die behutsam “die Authentizität von den Rändern her sucht” (Kluge: Glückliche Umstände 342), wie Kluge in einem Interview bemerkt. “Ein Text ist dann moralisch”, so Kluge, “wenn er Unterscheidungsvermögen herstellt. Wenn er vom Bösen handelt, ist er nicht beispielgebend, sondern er unterscheidet in diesem fremden Gelände” (Kluge: Verdeckte Ermittlung 49). An Kluges puristischer Reduktion ist jedoch nicht ihr stilistischer Duktus maßgeblich, sondern die Choreographie an Unterscheidungsvermögen, wozu auch die Grammatik gehört, Geschichten über die Arten des Bösen Gegengeschichten an die Seite zu stellen, die punktuell die Bosheit und das Grausame wiederum nicht bestätigen. “Es kann allerdings passieren, dass mir das Gegensteuern in einem Bereich überhaupt nicht mehr gelingt. Ich bin bei Auschwitz nicht mehr in der Lage, eine positive Geschichte dagegenzusetzen” (Ich bin ein Homo compensator).
306 Dem Nationalsozialismus nähert sich dieses Erzählen nicht von einer zentralen Geschichte oder von einem motivischen Mittelpunkt her, sondern von der Peripherie zahlloser unzusammenhängender Parallelepisoden, die auf ihre jeweiligen Kerne so reduziert werden, dass die in ihnen enthaltenen Erfahrungsweisen, d.h. die Kenntnisse von Problemen, sichtbar werden. Hierzu gehört auch die Einsicht, dass die Kälte, die von Adorno als Grundprinzip bürgerlicher Subjektivität und Voraussetzung für Auschwitz gesehen wurde, “aber in keiner bürgerlichen Gesellschaft prinzipiell, also rein herstellbar” (Kluge: Wer sich traut 67) ist. Dort, wo Menschen von ihrer Wirklichkeit getrennt und abgeschnitten werden, entsteht in dieser Hinsicht Kälte, wobei die Gesellschaft mithin als ein “Ordnungsgefüge abstrakter Funktionen” (Voss 174) erscheint. Als Elementarform der Abspaltung ist der Kältestrom das Ergebnis aus gleichzeitiger warmherziger Gefühlsproduktion sowie einer damit einhergehenden unerbittlichen Ausgrenzung. Dieses von Adorno konzipierte Spannungsfeld versucht Kluge zur Grundlage seiner mikrohistorischen Geschichten als Form der Kritik im Sinne verdeckter Ermittlungen zu machen. Verdeckte Ermittlung heißt dann eben auch, das Randständige und Unerwartete stets im Blick zu haben, um über eine enzyklopädische Kasuistik der Erfahrungen sensibel und wahrnehmungsoffen zu bleiben für die Lesbarkeit der Vorzeichen von Katastrophen. In einem Gespräch mit Heiner Müller führt Kluge zum Stichwort Auschwitz etwa aus: “Man kann sich vornehmen, daß es niemals geschehen werde. Es wird auf diese Weise genau an der unbeabsichtigten Stelle geschehen” (Garather Gespräch mit Heiner Müller). Ein Teil dieser destruktiven Konstellation realisiert sich im nationalsozialistischen Typus selbst, den Kluge in der Erzählung Schicksalhafte Begegnung, die von Hitlers Liebesbeziehungen handelt, als einen sich selbst verleugnende Schuldner in eigener Sache charakterisiert: Insofern muß der Nationalsozialist, der sich gewissermaßen in der Umlaufbahn um einen spezifischen Partikel seines Wesens befindet und hierbei immer höhere Beschleunigungen erzielt, sich an der Schwere seines realen Ichs immer erneut verstärken. Er macht Schulden, und es ist eine Sache des Zufalls, ob er bei einem dieser Vorgänge der Verschuldung glücklich aus dem Himmel herabfällt oder sich in der Umlaufbahn zerstört. Zum bestirnten Himmel aufzusteigen vermag er nicht. (Kluge: Tür an Tür 487)
Ein anderer Teil ist auch der Umstand, dass irrsinnige barbarische Gewalt gesteigert wird, wenn die Gefühlswelt der Verbrecher gegen ihre eigenen Möglichkeiten gezwungen wird. Ähnlich wie in der erwähnten Geschichte Ein Liebesversuch berichtet die Episode Impotenz steigert die Gewalt von einem Kältestrom durch scheiternde Wärme. 1944 sollen in Warschau magenkranke Wehrmachtssoldaten, so der SS-Befehl, auf “chevalereske” Weise nach dem
307 niedergeschossenen Aufstand gefangene Polinnen verführen, um sie ohne Vergewaltigungen zu ‘versiegeln’, indem sie von deutschen Männern geschwängert und so dem deutschen Rassekern gewaltsam eingemeindet würden: Keinem der magenkranken oder Moribunden gelang es jedoch, eines der jungen Mädchen auf den Luftschutzbetten zu ‘verführen’. Die (ebenfalls magenkranken) Offiziere des Bataillons versuchten vieles, dem Befehl, dessen rassische Pointe sie zu verstehen glaubten, gegen den Widerstand der Truppe zur Ausführung zu verhelfen. Den Männern wurde vom Bataillonsarzt Samenflüssigkeit abgenommen, diese mit H2O verdünnt. Die jungen Mädchen wurden an Stricken, Kopf nach unten, in den Klassenräumen aufgehängt. Mit engem Trichter wurde die samenversetzte Flüssigkeit den Frauen eingegossen. Auch nach vier Wochen zeigte sich in keinem der Fälle ein Resultat. Der SS-Richter ließ die Prozeduren sofort einstellen. Er hob alle Befehle auf und sorgte für den Abtransport des Bataillons ins Reich. Bei Posen wurde der Bahntransport durch die Januar-Offensive der Roten Armee überholt. Alle Insassen des Zuges wurden erschossen. Andernfalls wären sie wenig später an ihren Magenkarzinomen gestorben. (Kluge: Wer sich traut 33f.)
An dieser schrecklichen und erschütternden Sequenz lässt sich noch nachvollziehen, dass es hier gar nicht primär um ästhetische Darstellungsfragen der Grausamkeiten oder um moralische Beurteilungen von Verbrechen geht, womit zunächst zu rechnen wäre. Kluge hat wohl eher im Auge, auf diese brutal direkte Weise die massenhaft geschehene Realität selbst als eine geschichtliche Fiktion darzustellen. Das Monströse der Realgeschichte, die weder rein subjektiver noch rein objektiver Natur ist, wird im Modus des “Was wäre gewesen, wenn?” noch einmal erzählt, und auf diese Weise erscheinen die Fakten – auf dem Umweg über eine subjektive Perspektive – unwirklich und als eine groteske Erfindung und Gegenpart einer wünschbaren und möglichen anderen Realität. Letztlich geht es auch darum, dem Fatalismus der machtvollen Realität die grundlegenden Bauformen ihrer jeweiligen kontingenten Momentsituationen entgegenzuhalten und ihre versäumten anderen Optionen sichtbar zu machen. Zu keinem Zeitpunkt soll in diesen zersplitterten Texten, Dialogsequenzen, Anekdoten und Protokollauszügen vordergründig eine darstellerische Emphase des Grausamen im Mittelpunkt stehen, sondern die Fahndung nach entscheidenden Wendepunkten in erratischen Wirklichkeiten und mögliche Auswege aus dem schier Unabweisbaren. Die Erzählung Geistige Reaktionsmasse in der Reichsführung aus dem Konvolut Die Wende vom Dezember 1941 des Bandes Tür an Tür mit einem anderen Leben stützt sich sogar auf eine statistische Schätzung des Schlafforschers Lerchenau, der die Nachdenk- und Entscheidungszeit Hitlers im Dezember 1941 untersucht. Für Hitlers Persönlichkeit geht er davon aus, daß dieser nur ausgeschlafen, nach angeregtem Gespräch, mit angemessener Vorbereitungszeit, die solchen Gesprächen
308 folgt, mit einer Pause, bevor er zu reden beginnt, unter Wahrung der rhetorischen Grundregeln, die er sich im Jahr 1919 erworben hat, eine hinreichende ‘Führungskompetenz’ aufweise. (Kluge: Tür an Tür 161)
Ermittelt werden auf diese Weise viereinhalb Stunden Denk- und sechseinhalb Entscheidungszeit: Dies hätte, behauptet Lerchenau (keiner seiner Kollegen folgt seiner Auffassung), zu folgenden anderen Ergebnissen geführt: keine Kriegserklärung an die USA, Rücknahme der Rußlandfront um 145 Kilometer in die Linie Wjasma bis zum 3. Dezember (die Linie wurde später im Januar erreicht), Bemühungen um Separatfrieden mit der Sowjetunion über schwedische Kontakte [. . .]. (Kluge: Tür an Tür 162f.)
Lerchenau attestiert, dass es nirgends eine “adäquate Arbeitszeit von intakten Sinnen” gegeben habe, die dem “Anprall von Zeitgeschichte” dieser Tage sich noch als “‘Bewußtsein’ hätte entgegenstellen können.” (Kluge: Tür an Tür 161) Für Kluge, der diesen Befund im Grunde nur referiert, gehört die Spekulation offenbar zum nötigen Repertoire einer Geschichtssicht, die vehement darauf ausgerichtet ist, die Bruch- und Nahtstellen eines übermächtigen Wirklichkeitsverlaufs durch optionale Motive zu durchsetzen und zu zeigen, “wie porös dieses Dritte Reich war” (Ich könnte einen Nazi umdrehen). In diesem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung insistiert Kluge optimistisch auf der Überzeugungskraft guter Argumente gegen falsche ideologische Überzeugungen: Ich könnte einen Nationalsozialisten davon überzeugen, dass ein System, das auf dem Prinzip der Zwangstauschgesellschaft beruht, seine Aggression unweigerlich nach außen wendet und damit notwendig etwas anderes bewirkt, als die Planer wollen. Ich würde ihn auf das Löcherige an diesem System hinweisen. [. . .] Ich werde ihn nicht nach links drehen, aber zur Einsicht bringen können, wie porös dieses Dritte Reich war. Lassen Sie uns einmal annehmen, wir befinden uns bereits im Vorkrieg. [. . .] Worauf muss man achten? Wir haben auf Kriegsverlauf und Kriegsausbruch keineswegs einen so großen Einfluss. Also muss man den Krieg so genau studieren, dass man seine Schwächen kennt, die schwammartige Struktur, die die Kriegswirklichkeit hat. Die kann man sabotieren, sodass auch andere darauf aufmerksam werden. Damit ließe sich die Erfahrung vom April 1945, als der Kriegsbeginn von 1939 endgültig widerlegt war, abkürzen und vorwegnehmen. [. . .] Dieses Vorwissen macht Sie nicht immun, aber es macht Sie sensibel. Es käme darauf an, diese Dinge zu kennzeichnen, Faustregeln aufzustellen, sie fibelartig festzuhalten, sodass man im Ernstfall sofort reagieren kann. (Ich könnte einen Nazi umdrehen)
Nur das Auffinden und fokussieren solcher Episoden, Fragmente und Fundstücke, so ließe sich seine Erforschung der Kältezonen kommentieren, sind die mannigfachen Antirealismen der Realität sichtbar zu machen und dem Reservoir des massenhaften Unterscheidungsvermögens zuzuführen, denn
309 der “Realitätsgehalt von Tendenzen ist größer als der Realitätsgehalt von Tatsachen” (Negt/Kluge: Geschichte und Eigensinn 481). Wenn dokumentarisches Material manipuliert wird, erscheinen sogar Heeresprotokolle aus Stalingrad wie phantastische Erzählungen, weil das verbrecherische Unglück von 300.000 Soldaten in toto von einem Einzelnen weder zu erfassen noch zu erzählen ist. Dem realistischen Zugriff liegt hier eine antirealistische Gewissheit insofern zugrunde, weil “Realitäten, die Stalingrad hervorbringen, böse Fiktionen sind. Daß ich auf Stalingrad beharre, hat den Protestgrund, daß Erinnerungslosigkeit irreal ist” (Kluge: Chronik I 511). Die Erzählungen dringen in jene Realitätsschichten ein, in denen Gefühle als antirealistisches Kontinuum eines unbeugsamen Glücksverlangens auf dem “langen Marsch des Urvertrauens”, wie eine Zentralmetapher Kluges lautet, zum Vorschein kommen sollen. Die 6. Armee war nie eine Maschine, das Instrument, das die Stäbe zu führen meinten. Vielmehr sind es Arbeitskraft, Hoffnungen, Vertrauen, der unabweisbare Wille, in der Nähe des Realitätssinns zu bleiben [. . .] vor allem: in Gesellschaft zu verharren [. . .]. Dies ist organisatorischer Aufbau eines Unglücks. Es baut sich quasi fabrikmäßig, in den Formen der Staatsanstalt auf; die menschlichen Reaktionen darauf bleiben privat. Sie addieren sich nicht fabrikmäßig. (Kluge: Chronik I 514)
Hätten die Soldaten bereits hinlängliche Freiheitserfahrungen in der Geschichte gemacht, so heißt es bei Kluge weiter, “wären sie nie hierhergelangt oder hätten Auswege gewußt. In solche Not kann nicht die Natur bringen” (Kluge: Chronik I 514). Kluges Diagnose der Gefühle folgt einer Erzählgrammatik, die, wenn in den disparaten und nur schwer überschaubaren Erzählungen von Krieg, Auschwitz, Stalingrad, Luftangriff auf Halberstadt, soldatischem Elend, Verbrechen, privater Idylle und faschistischer Politik die Rede ist, vor allem den Codes (1) Chronos/Kairos, (2) Pathologien/ Kälte, (3) Eigensinn/Antirealismus der Gefühle und (4) Wünsche/Konjunktiv folgt. Der Text des Realen wird dabei so lange freigelegt, bis die elementaren Konstellationen der Gefühle als Formen der Erinnerungen beobachtet werden können (vgl. Birkmeyer 257ff.). Die Erzählkerne des geschichtlich Realen werden fortlaufend miteinander kombiniert, montiert und in analoge Beziehungen gestellt, bis in diesen Geschichten der Rohstoff verschütteter Erfahrungen wieder sichtbar wird und in Lernprozessen für die Gegenwart erneut angeeignet werden kann. Hierin besteht u. a. die literarische und politische Besonderheit und Bedeutung dieses realistischen Erzählens in der Gegenwartsliteratur. Denn Alexander Kluge nähert sich “im Chronotop der Nachträglichkeit und des Eigensinns” (Elsaesser 147) in besonderer Weise forschend den Biographien von Tätern und Mitmachern an, ohne viktimisierende oder dämonisierende Absichten zu verfolgen.
310 Insgesamt gesehen verfolgen Kluges Erzählungen eine archäologische Strategie, die die Wirklichkeit in Schichten zergliedert und sie kasuistisch als Material für genaue Betrachtung präpariert. Sobald man sich als Leser von der Vorstellung befreit hat, alle Episoden unmittelbar ein- oder zuordnen zu müssen, stattdessen jedoch einen Vertrauensvorschuss gegenüber diesem erzählten konnektiven Unterscheidungsvermögen akzeptiert, wird der außerordentliche Beziehungsreichtum dieses nichtlinearen und dissipativen Erzählens als gegenwartsrelevante Fülle an historischer Erfahrungsmasse deutlich sichtbar. In dieser Perspektive wird der Nationalsozialismus in den Erzählungen Alexander Kluges nicht allein als Verbrechen und Katastrophe in der Vergangenheit behandelt, sondern als reichhaltiges Fallmaterial zur gegenwartsrelevanten Diagnose mikrologischer Signaturen von Beschädigungen und Unglück für heutige Lernprozesse. Zu lernen wäre in Kluges Sinne vor allem zweierlei: es geht zum einen insbesondere um das exakte Wissen über sämtliche Spielarten des genauen organisatorischen Aufbaus von Unglück in der Geschichte. Zum anderen zielt die komplexe Erzählkasuistik darauf ab, das Vermögen auszubilden und zu schärfen, die frühen Anzeichen drohender Katastrophen zur rechten Zeit zu bemerken und aufmerksam zu verfolgen. Erst wenn die Sinne durch subjektiven Eigensinn und historische Kenntnisse geschärft sind, ebenso mögliche Gefahren frühzeitig zu erfassen wie auch immer die Möglichkeiten für alternative Wirklichkeiten zu bedenken, erscheinen auch eigensinnige und kooperative Varianten der Gegenwehr gegen pathologische Umstände überhaupt aussichtsreich.
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312 Repräsentation von Vergangenheit. Hg. von Hartmut Eggert. Stuttgart: Metzler 1990. S. 258–272. David Roberts: Alexander Kluge and German History: The Air Raid on Halberstadt on 8.4.1945. In: Alexander Kluge. Raw Materials for the Imagination. Ed. by Tara Forrest. Amsterdam: Amsterdam University Press 2012. S. 127–170. Klaus Scherpe: Stadt. Krieg. Fremde. Literatur und Kultur nach den Katastrophen. Tübingen-Basel: Francke 2002. Ernestine Schlant: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München: Beck 2001. Christian Schulte/Rainer Stollmann (Hg.): Der Maulwurf kennt kein System: Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge. Bielefeld: transcript 2005. Rainer Stollmann: Wovon man nicht reden kann, das ist gemeinsame Sache aller Teilsprachen. KZ, Krieg, politisches Verbrechen im Werk Alexander Kluges. In: Rechenschaften. Juristischer und literarischer Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen. Hg. von Stephan Braese. Göttingen: Wallstein 2004. S. 146–164. Dietmar Voss: Dialektik der Grenze. Aufsätze zur Literatur und Ästhetik einer unverantwortlichen Moderne. Würzburg: Könighausen & Neumann 2001.
Sven Kramer
Nationalsozialismus und Shoah in Thomas Harlans literarischem Spätwerk Until recently, scholars have paid little attention to Thomas Harlan’s last literary works. Born in 1929 as the son of Veit Harlan, the infamous director of JEW SÜss, Harlan dealt with the inheritance of National Socialism throughout his life. In a text titled Veit, he takes on the legacy of his father. In his novels Rosa and Heldenfriedhof he establishes a genuine literary approach, in which he juxtaposes the voices of the perpetrators with those of the victims and their children. All narratives in Harlan’s work speak to the afterlife of National Socialism. This article focuses on his genuine literary approach to engaging with this afterlife in general, and in particular, on his controversial portrayal of the Bonn Republic, which he characterizes as a denied derivate of the Third Reich.
Thomas Harlans Leben verlief im Bann der Geschichte und der Nachgeschichte des Dritten Reichs; sein literarisches Werk kreist um die Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus und der Shoah. Und doch hat die Literaturwissenschaft in Deutschland seine Arbeit bislang nicht zur Kenntnis genommen.1 Dies zu ändern verlangen nicht nur äußerliche Gründe wie die Chronistenpflicht oder der Anspruch auf eine vollständige Literaturgeschichtsschreibung des beginnenden 21. Jahrhunderts. Vielmehr sind es die Texte selbst, die auf etwas Unabgegoltenes verweisen. Insbesondere in seinem späten schriftstellerischen Werk findet Harlan einen eigenen Ton und Zugang zu seinen Gegenständen. Hier überkreuzen sich unablässig die persönlichen biografischen Fixierungen des Autors mit zeitgeschichtlichen und politischen Koordinaten. Einen Schwerpunkt bildet dabei der Zusammenhang zwischen dem Nationalsozialismus und der Bonner Republik. Das literarische Spätwerk, darüber hinaus aber auch Harlans vielgestaltiges Lebenswerk insgesamt – und zuletzt sogar seine Biografie –, können als Korrektive der offiziellen und offiziösen Selbstbilder und Selbstinszenierungen gelesen werden, die in der Bonner Republik kursierten und die zum Teil bis heute fortgeschrieben werden. Die folgende Lektüre der späten Schriften Harlans,2 die hier nur begonnen werden kann, fokussiert deshalb auf Harlans Darstellung
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Vgl. den bislang einzigen – allerdings wichtigen – Fachartikel von Stimmel. Vor allem die folgenden Texte werden im weiteren Verlauf herangezogen und mit den angegebenen Siglen zitiert: Harlan: Rosa; Sigle: R. – Harlan: Heldenfriedhof; Sigle: H. – Harlan: Hitler war meine Mitgift; Sigle: HM. – Harlan: Veit; Sigle: V. 2
314 der frühen Bundesrepublik, die heute, in einer Perspektive, die ihren Blickpunkt in der Berliner Republik, also in der Nachgeschichte des Kalten Krieges findet, zunehmend historisiert wird und dabei fremd – und durchaus unheimlich – zu werden beginnt. Für Harlan war die Bundesrepublik schon seit ihrer Gründung kein Ort zum Leben; er wohnte überwiegend im Ausland. Obwohl seine häufig wechselnden Wohn- und Reiseorte hier nicht rekonstruiert werden können, weil dies eine umfangreiche Recherche eigenen Rechts erfordern würde, sollen aus den publizierten Quellen einige Eckpunkte genannt werden. Schon 1948, noch nicht einmal zwanzigjährig, ging er zum Studium nach Paris, wo er mehrere Jahre lebte. Er hatte sein Deutsch bewusst “auf Eis gelegt” (HM 16). 1953 reiste er mit Klaus Kinski “mit gefälschten Pässen” (V 150) mehrere Monate nach Israel. Für nichtjüdische Deutsche war dies ein mindestens ungewöhnliches, eigentlich “undenkbar[es]” (HM 60) Unterfangen, das nur durch die Fürsprache von Nahum Goldmann, dem Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, zustande kam (vgl. HM 60–62). 1959 ging er nach Polen und blieb dort bis 1964, um Akten zu sichten, die über die Täter der Shoah Auskunft geben konnten. Danach wohnte er an diversen Orten, etwa in Mailand und in der Schweiz. Reisen führten ihn in viele Länder der Welt, darunter immer wieder in die Sowjetunion. Seit 2001 lebte er krankheitsbedingt in einer Klinik in Bayern. Schon die Zusammenstellung der Wohn- und Reiseorte Frankreich, Israel, Polen, Sowjetunion ist für einen jungen Westdeutschen in der Nachkriegszeit extrem ungewöhnlich, handelt es sich doch um jene Länder, deren Bevölkerungen während des Krieges unter den Deutschen am meisten gelitten hatten. Und in der Tat war die Hypothek, die Harlan aus dem Nationalsozialismus in die Nachkriegszeit mit hinübernahm, für die Wahl gerade dieser Länder verantwortlich. Thomas Harlan war der älteste Sohn von Veit Harlan, dem Regisseur von JUD SÜß (D 1940) und weiteren Filmen, in denen die Weltanschauung der Nationalsozialisten ins Werk gesetzt und verherrlicht wurde, wie DER HERRSCHER (D 1937), DER GROßE KÖNIG (D 1942) und KOLBERG (D 1945). Die Kindheitsprägungen aus jener Zeit haben ihn bis zu seinem Tod im Jahre 2010 beschäftigt. Harlan wurde 1929 geboren, er war also alt genug, um den Nationalsozialismus bewusst mitzuerleben, aber zu jung, um zum Täter werden zu können. Der 1930 geborene Helmut Kohl sprach in einer zum geflügelten Wort gewordenen, umstrittenen Wendung von der “Gnade der späten Geburt”.3 Schon ein um wenige Jahre abweichendes Geburtsdatum hätte die Situation für Harlan verändert. Günter Grass zum Beispiel gelangte als Angehöriger des Jahrgangs 1927 mit siebzehn in die Waffen-SS. Christian Geissler, 3
Vgl. den Artikel “Gnade der späten Geburt”. In: Fischer/Lorenz 226f.
315 Jahrgang 1928 und nur zwei Monate älter als Harlan, wurde als Flakhelfer eingezogen und machte dabei traumatische Erfahrungen, die sein weiteres Leben mitbestimmten.4 Harlan blieb beides erspart, und ihm war bewusst, dass dies nur ein zufälliger Umstand war: “Ich wußte [. . .], wie ich [. . .] auch schnell hätte gefährlich werden können, für mich und für die anderen [. . .]. Was wäre aus mir geworden, wenn ich nur fünf Jahren älter gewesen wäre?” (HM 101). Stattdessen wuchs er als Sohn eines Starregisseurs privilegiert auf. Als in Berlin die Bombardierungen begannen, schickte man ihn nach Ostpommern aufs Land. Die seelischen Schwären setzten erst nach dem Krieg ein: mit der Einsicht, dass sein Vater – und der Disposition nach auch er selbst – ein verbrecherisches Regime unterstützt hatten. Denn Thomas Harlan war in seiner Kindheit und Jugend ein Befürworter und Verehrer der Nazis gewesen. Diese Einstellung teilte er mit anderen Schriftstellern seines Jahrgangs, etwa mit der ebenfalls 1929 geborenen Christa Wolf, die diese Geschichte vor allem in dem Roman Kindheitsmuster (1976) bearbeitet hat. Harlan war zunächst Rottenführer und “über den niedrigsten Dienstgrad schon in Wonne versunken” (HM 29), später wurde er Führer in der Marine-Hitlerjugend und empfand dabei ein “Glücksgefühl” (HM 28). Goebbels war für ihn ein Freund der Familie, “der liebe Onkel” (HM 219), der ihm besonders zugetan war. Immer wieder kommt er auf einen Geburtstag zurück, an dem er nachts geweckt wurde und mit Goebbels in dessen Auto durch Berlin zum ‘arisierten’ Kaufhaus Wertheim fuhr, das, wie er sagt, “nur für mich geöffnet hatte, komplett besetzt mit strammstehendem Personal und voll erleuchtet. Und da durfte ich mir eine Modelleisenbahn aussuchen” (HM 220).5 Erst nach dem Krieg setzte bei ihm die Erkenntnis ein, dass das besiegte Regime für Terror und Mord stand; sie wirkte nachhaltig: “getrieben war ich [. . .] seit dem 16. Lebensjahr, seit ich erfahren hatte, wes Kind ich war, wes Geistes Kind, wes Geistes Kind mein Vater war” (HM 217). Das Bewusstsein, selbst im Banne des Nationalsozialismus gestanden und mitgemacht zu haben, wurde fortan zu einem Grundmotiv seines Lebens. Ein weiteres, damit eng verbundenes Grundmotiv war das komplizierte Verhältnis zu seinem Vater.6 Thomas war der älteste Sohn aus Veits zweiter Ehe mit der bekannten Schauspielerin Hilde Körber. Die Ehe dauerte von
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Vgl. zu weiteren Lebensläufen jetzt auch Herwig. Die Szene schildert er auch in Rosa, vgl. R 81–83, wo er auch weitere Verweise auf seine eigene Biografie gibt, allerdings ohne seinen Namen zu nennen. So spricht er von der Familie Bonin, die ihn während des Krieges aufnimmt (vgl. R 59) und der Berliner “Hilde-Körber-Villa” (R 80), in der er zuvor gelebt hatte. 6 Wie sich die Kinder und Enkel Veit Harlans zu diesem stellen thematisiert der Dokumentarfilm HARLAN. IN SCHATTEN VON JUD SÜß (D 2008, Felix Moeller). 5
316 1929 bis 1938. 1939 heiratete Veit Harlan erneut; seine dritte Frau wurde die schwedische Schauspielerin Kristina Söderbaum, die er in vielen seiner Filme besetzte und damit zu einem Star des nationalsozialistischen Films machte. Während des Dritten Reiches hatte Thomas seinen Vater geliebt und verehrt; seit Kriegsende konnte er ihm jedoch nur noch mit einer kaum auszuhaltenden Ambivalenz gegenübertreten. Vor allem warf er ihm mangelnde Einsicht in die Schuld vor, die er bei der Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie im Allgemeinen und des eliminatorischen Antisemitismus im Besonderen auf sich geladen hatte. Dass die Beziehung zu seinem Vater für ihn politisch und persönlich prägend war, zeigen schon die Entstehungsumstände seines letzten Buches; er diktierte es 2010 auf dem Totenbett und gab ihm dem Titel Veit. Damit schrieb er selbst die Auseinandersetzung – und durch die Lautgleichheit mit dem englischen Wort fight auch den Kampf – mit dem Vater als ein zentrales Thema seines Lebens fest. Der Text trägt keine Gattungsbezeichnung. Einerseits handelt es sich um eine betont subjektive biografische Vergegenwärtigung, andererseits um eine Anrufung des schon 1964 Gestorbenen. Thematisch kreist das Buch um JUD SÜß und die Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus. Harlan beginnt mit einer Parallelisierung zweier Selektionsakte: Einerseits hatte sein Vater für die Dreharbeiten an JUD SÜß für einige Massenszenen aus dem Ghetto Lublin Juden ausgewählt, andererseits suchten die nationalsozialistischen Entwickler von Vergasungsanlagen Anfang 1942, als noch mit Kohlenmonoxid statt mit Zyklon B gemordet wurde, Juden aus, an denen sie den Tod im Gas “probte[n]” (V 10).7 Harlan verbindet hier die künstlerisch-ideologische Arbeit seines Vaters mit dem Mordwerk der Shoah, er verzeichnet dabei auch das Schicksal jener Juden, auf die dieser noch zurückgegriffen hatte: “Die Juden von Lublin und Umgebung verschluckte die Grabkammer von Belzec” (V 73f.). An einer weiteren Stelle moduliert er die Parallelisierung in die Familiengeschichte. Veit Harlans erste, kinderlose Ehe dauerte von 1922 bis 1924. Die Ehefrau, Dora Gerson, war Jüdin und wurde später in Auschwitz vergast. Thomas Harlan wirft dem Vater vor, dass er sich nach 1933 nicht um ihr Schicksal gekümmert habe: “Veit ließ Dora fahren” (V 42). In der literarischen Imagination verkettet der Sohn die Geschichte des Films mit der Shoah, indem er die vom Vater verschwiegene Szene aufruft: “unterwegs mit Dora nach Auschwitz, wo eine Weisung von Heinrich Himmler die Wachmannschaften aufforderte, sich JUD SÜß anzusehen, im Auschwitz-Kino, nicht weit von der Rampe, nur ein paar Kilometer
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In dem ausführlichen Kommentar von Veit werden die historischen Fakten rekonstruiert, vgl. hier: V 97–103.
317 entfernt von den Gaskammern in Birkenau” (V 41f.).8 Schließlich stellt Thomas Harlan die Verbindung zwischen der Arbeit des Filmemachers und dem Genozid auch explizit her, indem er JUD SÜß als einen Versuch beschreibt, “das Land auf seine Morde einzustimmen, [. . .] auf die Vernichtung” (V 66). An anderer Stelle wirft er dem Vater vor, sich mit dem Film an der Hatz auf die Juden beteiligt zu haben, daran, “der Judenjagd einen möglichst zivilen Charakter zu geben” (HM 44). Das kulminiert in dem Gedanken, JUD SÜß sei ein “Mordinstrument” (V 73 sowie HM 47) gewesen. Damit wird der Vater, obwohl er niemanden eigenhändig umgebracht hatte, zum Täter erklärt. Immer wieder hält in Veit der Sohn dem Vater diese Täterschaft vor; immer wieder dementiert der Vater. Der Diskurs um die nicht angenommene, verleugnete Schuld wird zur Triebkraft des Textes: “So groß war Deine Schuld, dachte ich, daß Du sie nicht ertragen konntest, so riesengroß, daß Du ersticken mußtest an dem Ekel” (V 41). Aber das sind nur die Projektionen des Sohnes. Der Vater empfindet sich als “gutgläubig und schuldlos” (V 42). Schon in den fünfziger Jahren versuchte Thomas Harlan, seinem Vater ein Schuldeingeständnis zu entlocken, blieb damit aber erfolglos. Auch 1964, als dieser sterbenskrank war, gelang ihm das nicht. In Veit wie im gelebten Leben wurde es deshalb zur Aufgabe des Sohnes, die Schuld immer wieder herzuleiten und zu belegen. Biografisch und literarisch steht Veit damit in der Tradition der Väterliteratur, wobei die emotionale Verstrickung, die der Autor als Jugendlicher erfahren hatte, noch in die erste, die Tätergeneration hineinreicht.9 Der Schulddiskurs leitet Harlan in unterschiedliche Richtungen: eine führt in die Täterforschung, eine andere in die Selbstbefragung. Ende der fünfziger Jahre gehörte er zu den ersten, die sich in die Archive begaben und Lebensläufe sowie Organisations- und Vernetzungsstrukturen der Täter recherchierten. Den Auslöser hierzu bildete 1959 ein Aufruf Harlans nach der 50. Vorstellung seines Theaterstücks Ich selbst und kein Engel, einem Stück, in dem er nicht nur Aspekte aus der Gegenwart des Staates Israel thematisierte, sondern vor allem den damals so gut wie unbekannten Warschauer Ghettoaufstand mitsamt dem jüdischen Widerstand (vgl. Harlan 1961). Harlan war bereits 1957 nach Warschau gereist, wo er sich über das Ghetto informiert hatte. Nun verlangte er, “daß man Franz Six und Heinz Jost vor Gericht stellen solle wegen Verbrechen, für die sie in Nürnberg nicht angeklagt worden waren” (HM 85). Beide waren an verantwortlicher Stelle für die Durchführung der Shoah zuständig und lebten mittlerweile unbehelligt in der 8
Eine weitere Parallelisierung rückt die Produktion des Durchhaltefilms KOLBERG und die Vergasungen in Kulmhof zueinander (vgl. V 48f.). 9 Zu Texten der Väterliteratur aus den siebziger bis neunziger Jahren vgl. Mauelshagen, bis in die 2000er Jahre vgl. Brandstädter.
318 Bundesrepublik. Harlans Aufruf provozierte ein lebhaftes Presseecho. Um seine Vorwürfe zu untermauern, fuhr er noch 1959 abermals nach Warschau. Seit 1954 war Harlan Kommunist (vgl. HM 68), und als solcher erhielt er in der Volksrepublik Polen freien Zugang zu allen Archiven. Er fand umfangreiches belastendes Material, das in Deutschland noch völlig unbekannt war, und er entschied sich, zunächst im Lande zu bleiben. Er lebte dann bis 1964 in Polen, durchkämmte die Akten und bereitete Informationen auf, die er an deutsche Stellen weiterleitete, vor allem an Staatsanwälte und Gerichte (vgl. HM 99), darunter auch an Fritz Bauer und an die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, die erst kurz zuvor, 1958, gegründet worden war.10 Harlan wurde zum Spezialisten für Täterbiografien und erkannte, dass nicht nur einige wenige Täter in der Bundesrepublik reüssiert hatten. Lange vor Pionieren wie Ernst Klee11 wusste er um die Seilschaften ehemaliger Nazis in vielen unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und Organisationen der Bonner Republik. Damals verfestigte sich eine These, an der er bis zuletzt festhielt: Die frühe Bundesrepublik sei ein Staat gewesen, “in dem die Faschisten sich als Demokraten verstellt hatten und in den demokratischen Institutionen mit einer Stärke wieder an die Macht zurückgekehrt waren, die sie nicht einmal in Dritten Reich gehabt hatten” (HM 65f.). Das Buchprojekt, an dem er in Polen arbeitete, das er aber nie fertigstellte, trug den programmatischen Titel Das Vierte Reich. Dessen Hauptaufgabe sah Harlan darin, “die Illusion, daß die Bundesrepublik eine demokratische Republik geworden sei, zu zerstören und nachzuweisen, daß die Nationalsozialisten in ihr eine noch größere Macht ausübten, als sie es in der Hitlerzeit getan hatten” (HM 119f.). Provokativ, aber durchaus ernst gemeint, spricht er von der “Renazifizierung der BRD” (HM 168) und vom Schelmenstreich “der Staatsgründung 1949, der Ausrufung der nationalsozialistischen Bundesrepublik Deutschland” (HM 168).
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Harlan gibt an: “Ich habe Ludwigsburg mit Zehntausenden von Fotokopien ausgestattet, ich half bei der Vorbereitung von Prozessen. Ich war für die Ludwigsburger lange Zeit die einzige Quelle für solche Unterlagen, die die überhaupt im sogenannten Osten hatten, da es ja keine diplomatischen Beziehungen gab und das Auswärtige Amt den Ermittlern verbot, sich Dokumente im Osten zu besorgen, weil einem deutschen Beamten grundsätzlich verboten war, in die sozialistischen Länder zu reisen. Und jeden Rechtshilfevorschlag der polnischen Seite hat man im Auswärtigen Amt einfach stillschweigend übergangen und insofern ausgeschlagen. Das änderte sich erst mit dem Auschwitz-Prozeß, etwa ab 1964” (HM 110). 11 Stellvertretend für seine zahlreichen Arbeiten vgl. Klee: Was sie taten – Was sie wurden.
319 In Polen rekonstruierte Harlan aus SS-Akten die von den Nationalsozialisten für den Massenmord aufgebauten institutionellen Strukturen und recherchierte den Namen und die Tätigkeit jeder beteiligten Person. Zur Verdeutlichung der Führungs- und Abhängigkeitsstukturen legte er Organigramme an. Das gilt auch für Lublin, jenem Ort, mit dem Veit beginnt und von dem die ‘Aktion Reinhard’ ausging.12 Doch Harlan rekonstruierte nicht nur die damaligen Funktionen der Täter, er ging auch ihren aktuellen Lebensumständen nach. Dieser Konnex zwischen der Zeit vor 1945 und der danach – vor allem seit 1949 – zeichnet weite Teile seines Werkes aus. Schon in den fünfziger Jahren, und damit lange bevor zum Beispiel die Geschichtswissenschaft sich diese Fragen vorlegte, ging Harlan entschieden von der Kontinuität zwischen dem Nationalsozialismus und der Bundesrepublik aus und wies die These von der Stunde Null zurück. Damit befand er sich zweifellos im Fahrwasser eines von der DDR propagierten, politisch motivierten Narrativs. Harlans Vorgehen unterschied sich jedoch deutlich von diesem, indem er – erstens – die Rekonstruktion konkreter Einzelfälle vor deren ideologische Vereinnahmung setzte und – zweitens – die eindeutige und schematische Freund-Feind-Identifikation unterlief, die für die politische Rhetorik der DDR konstitutiv war. Seine Kenntnisse der Akten nutzte Harlan später im Zusammenhang mit den Romanen Rosa (2000) und vor allem Heldenfriedhof (2006). Beide Texte verbinden mindestens drei Hauptthemen miteinander: die Recherche und namentliche Nennung der am Völkermord beteiligten Täter, den Ablauf der Verbrechen sowie die Nachkriegsexistenz der Beteiligten und Betroffenen. Diese für Harlans spätere Literatur entscheidende Konstellation bildete sich während der Warschauer Jahre heraus, als er realisierte, dass in Kulmhof (Chelmno) “1942 siebenundneunzigtausend Menschen umgebracht” (HM 32) worden waren, während er in Ziegnitz, “250 Kilometer von dort entfernt” (HM 32), dem weitgehend unbeschwerten Leben eines Schülers nachging. Nicht zuletzt der Schock über diese Gleichzeitigkeit trieb seine unablässigen Recherchen über die Morde und die Mörder mit an. In Rosa steht das Vernichtungslager Kulmhof im Zentrum, in Heldenfriedhof ist es ein Kommando, das im Rahmen der ‘Aktion Reinhard’13 aufgestellt wurde und neben systematischen Morden auch die sogenannten ‘Enterdungsaktionen’ durchführte, also die Beseitigung der Spuren an den Mordstätten im Osten.14 In 12
“Komplett ist die Datei zu dem SS- und Polizeiführer in Lublin Globocnik, sie existiert bis zum Chauffeur, das kann gar nicht mehr verbessert werden” (HM 100). – Zur besonderen Stellung Lublins vgl. Pohl. 13 Die Schreibweisen variieren (Reinhard oder Reinhardt). Hier wird die von Thomas Harlan benutzte Schreibweise verwendet. 14 Zur historischen Aufarbeitung der ‘Enterdungsaktionen’ vgl. Hoffmann. Vgl. auch den Zeitzeugenbericht von Wells.
320 beiden Romanen nimmt das Nachleben des Nationalsozialismus eine zentrale Stellung ein. Der Shoah fielen im Rahmen der ‘Aktion Reinhard’ 1942 und 1943 über zwei Millionen Menschen – ganz überwiegend Juden – vor allem in den Todeslagern Belzec, Sobibor und Treblinka zum Opfer.15 Den Kern der Unternehmung bildete eine Gruppe von 92 Personen,16 die als Organisatoren fungierten und die bereits während des Euthanasieprogramms Erfahrungen im systematischen Morden gesammelt hatten. Wie bei allen Operationen im Rahmen der ‘Endlösung’, so wurde auch hier Verschwiegenheit, Geheimhaltung und terminologische Verschleierung eingefordert. In Heldenfriedhof folgt Harlan der Gruppe der 92 bis in ihr letztes Operationsgebiet bei Triest, wo sie in einer Reismühle, der Risiera di San Sabba, eine weitere Tötungsund Deportationsstätte errichtet.17 Der Erzähler Enrico Cosulich hat dort seine Mutter Margarita verloren, die als geisteskrank angesehen und von der Risiera aus in eine der Mordstätten im Osten deportiert wurde. In einer unübersichtlichen und verschlungenen Handlung rekonstruiert Heldenfriedhof die Taten der 92 Täter “aus den R-Kommandos” (H 107) und ihren Verbleib in der Nachkriegszeit, wobei die Recherche überwiegend von Überlebenden und Angehörigen der Opfer vorangetrieben wird. Harlan kombiniert historisch belegte Daten mit einer fiktionalen Handlung. In der Realität mussten die 92 eine Verschwiegenheitserklärung abgeben,18 in Heldenfriedhof leisten sie zusätzlich einen Eid, “dem Feind nicht lebend in die Hände zu fallen” (H 107), den viele von ihnen jedoch bei Kriegsende brechen. In dem Roman reaktivieren die Übriggebliebenen unter den 92 in den fünfziger Jahren, nachdem sie entnazifiziert worden sind oder kurze Zeit in Haft verbracht haben, die alten Netzwerke. Ihnen steht in der Bundesrepublik nunmehr der Zugang zu Positionen in Wirtschaft und Verwaltung offen. Harlan orientiert sich an den Biografien der realen Personen und beschränkt sich dabei keineswegs auf Nebentäter, wie die folgenden Beispiele aus dem Roman zeigen: Hermann Höfle sorgte im Rahmen der ‘Aktion Reinhard’ für die Koordination der Mordaktionen im Generalgouvernement. Dabei war er auch für die Räumung des Warschauer Ghettos zuständig, die in
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Vgl. zu der Opferzahl Musial: Einleitung 8. Vgl. auch: “Nach eigenen Angaben Globocniks [. . .] waren ihm von der Kanzlei des Führers nach und nach 92 Angehörige des Euthanasieprogramms für die ‘Aktion Reinhard’ zur Verfügung gestellt worden” (Koschat 160). 17 Vgl. zu den historischen Fakten Koschat sowie Wedekind 371–373. 18 “Vor Beginn ihre Einsatzes [. . .] wurden die Angehörigen der 1005-Kommandos auf Verschwiegenheit verpflichtet” (Hoffmann 12). 16
321 Heldenfriedhof beschrieben wird (vgl. H 481–498). Nach dem Krieg internierten ihn die Engländer, übergaben ihn 1947 den Österreichern, die ihn aber “auf Gelöbnis” (Klee: Personenlexikon 261) auf freien Fuß setzten. Höfle arbeitete in den fünfziger Jahren in Salzburg und München. 1961 wurde er festgenommen, nachdem ihn Eichmann belastet hatte. Er nahm sich 1962 in der Haft das Leben. Werner Blankenburg, alias Brenner, alias Bieleke, war an verantwortlicher Stelle an der Durchführung der Euthanasie und der Shoah beteiligt. Nach dem Krieg lebte er unter Pseudonymen unerkannt als Sparkassen- und Textilfabrik-Vertreter in Stuttgart. Er starb dort 1957, ohne für seine Taten belangt worden zu sein. Ernst Klee ergänzt: “Bis zum Tode rege Kontakte zu ehemaligen T4-Mitarbeitern” (Klee: Personenlexikon 52). Harlan schildert sein Begräbnis in Heldenfriedhof, zu dem sich viele der noch lebenden Zugehörigen der ‘Aktion Reinhard’ versammeln (vgl. H 228ff.). Dietrich Allers war zunächst Geschäftsführer und Organisator der Euthanasie-Zentrale T4, dann Vorgesetzter des Personals der Vernichtungslager der ‘Aktion Reinhard’. Er stieg innerhalb des Apparats auf und wurde 1944 Befehlshaber des Einsatzes der ‘Aktion Reinhard’ in Triest, wo ihm auch die Risiera di San Sabba unterstand. Von den Alliierten zunächst festgehalten, entnazifizierten ihn die Behörden der Bundesrepublik 1949. In der Deutschen Werft in Hamburg gelangte er in den fünfziger Jahren in eine hohe Stellung (als Syndikus). Nachdem ein Verfahren gegen ihn 1966 vorläufig eingestellt worden war, verurteilte ihn ein Gericht 1968 zu acht Jahren Haft, die er aber nicht antreten musste, weil die Untersuchungshaft angerechnet wurde und andere Gründe für die Haftverkürzung griffen. Er starb 1975 in Freiheit (vgl. Klee: Was sie taten 56–75). Von Allers, Höfle und Blankenburg heißt es in dem Roman, dass ihr Tagwerk während des Nationalsozialismus “aus nichts anderem bestanden hatte als Vertilgung” (H 94). Harlan verzeichnet also in Heldenfriedhof die Monstrosität der Taten während des Nationalsozialismus ebenso wie die weitgehende Straffreiheit der Täter in der Bundesrepublik. Die Mörder gelangten in aller Regel wieder in Amt und Würden, die Netzwerke gewährleisteten ein hohes Maß an Kontinuität. Nun braucht man Harlans These von einer Renazifizierung, die nach der Gründung der Bundesrepublik eingesetzt habe, nicht zu folgen, um anzuerkennen, dass die neue Normalität im demokratischen Deutschland mit der Verschleppung oder Verweigerung der polizeilichen Ermittlung und der juristischen Aburteilung der Nazitäter einherging. Die Bonner Republik erscheint von diesem Gesichtspunkt aus als eine Gesellschaft, die die Mörder integrierte, während sie die Opfer marginalisierte. Erst nach der sich langsam durchsetzenden Wende des öffentlichen Erinnerns, das zunehmend die Perspektive der Opfer berücksichtigte, und dem Ende des Kalten Krieges kann dieser Zusammenhang heute im Sinne einer kritischen Selbstbefragung mit aller Konsequenz gedacht werden. Dabei wird die Bundesrepublik der frühen
322 Jahre im Rückblick fremd und nimmt durchaus unheimliche Züge an, denn das Fremde, das überwunden geglaubte Andere, also der Nationalsozialismus, erscheint genau an jener Stelle, die politisch seit 1949 das Eigene, das, womit sich das Gemeinwesen identifiziert, markiert: Die demokratische Republik zog die Mörder nicht zur Rechenschaft, sondern nahm sie in den – nun demokratisch definierten – Betrieb auf. Harlans sezierender, teils provokativer, teils polemischer, aber immer faktengesättigter Blick auf die Kontinuitäten der Nachkriegszeit stellt der ubiquitären, in jeder deutschen Oberstufenklasse gestellten Frage, die den Nationalsozialismus als das Andere in die Distanz rückt, nämlich der Frage: Wie konnte es zu 1933 kommen?, implizit eine andere an die Seite: Wie konnte es zu 1949 kommen? Wie konnte jene in verfassungsrechtlicher Hinsicht mustergültig ausgestattete Republik, deren Grundgesetz von 1949 bis heute als Eckpfeiler der Demokratie gefeiert wird – und das nicht nur wesentlich zur Identifikation der Bürger mit der Bundesrepublik beiträgt, sondern darüber hinaus Staat und Gesellschaft rechtlich fundiert –, auf die Mitarbeit von Personen zurückgreifen, die in Wort und Tat hinlänglich bewiesen hatten, dass sie nicht nur Verächter des Rechtsstaats waren, sondern den staatlich verordneten Mord an der eigenen Bevölkerung bis zuletzt geplant und durchgesetzt hatten? Warum integrierte die Demokratie die Mörder schweigend und die Täter in den frühen Amnestiegesetzen auch weithin sichtbar, anstatt sie zur Rechenschaft zu ziehen? Harlan konturiert in seinen späten Werken vor allem diese Irritation, die mitten im demokratisch verfassten Gemeinwesen dasjenige aufstöbert, was subkutan als verschwiegenes Anderes in ihm fortwirkt: den Nationalsozialismus. Neben den Täterbiografien geht Harlan in Heldenfriedhof auch auf Aspekte der gerichtlichen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Straftaten ein. Dabei spielt das Jahr 1968, das als Höhepunkt der studentischen Unruhen bekannt wurde, eine wichtige Rolle. Die Studentenbewegung wird allerdings mit keinem Wort erwähnt. Auch die These, die Proteste der 68er seien als Aufstand gegen das Schweigen der nationalsozialistischen Väter zu verstehen, findet in dem Roman keinen Niederschlag. 1968 ist bei Harlan kein Jahr des Aufbegehrens, er fügt es keinem heroischen Narrativ ein, das von der Geschichte der Demokratisierung der Bundesrepublik kündete. In dem Roman ist es stattdessen das Jahr einer entscheidenden Niederlage im zähen juristischen Ringen um die strafrechtliche Verfolgung der Mörder, das Jahr der Entlastung tausender von Tätern. Gemeint ist die Verabschiedung des “EGOWiG oder Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeiten-Gesetz” (H 408), das eine Unterscheidung zwischen Haupttätern und Gehilfen vornimmt. Und da – wie es in Figurenrede heißt – “allein Hitler, Himmler, Heydrich und deren unmittelbare Umgebung als die eigentlichen Täter oder Haupttäter angesehen werden mußten, alle anderen hingegen von Rechts wegen als
323 deren Gehilfen” (H 418), waren deren Taten damit verjährt,19 weshalb das Gesetz – wiederum in Figurenrede – als “größte[s] deutsche[s] Nachkriegsverbrechen” (H 407) bezeichnet wird. Über Seiten hinweg listet Harlan alle 516 abstimmenden Mitglieder jenes deutschen Bundestages auf, der das Gesetz beschloss (vgl. H 450–465). Sie werden in dem Roman als “Täter [. . .], beihelfende Herrschaften” (H 450) und ‘Untäter’ (vgl. H 450) bezeichnet. Auf der anderen Seite entwirft Harlan auch Figuren und porträtiert die vereinzelten Personen, die sich für die Rekonstruktion der Taten und die Überführung der Täter interessieren. Eduardo Santinelli leitet die Ermittlungen in Triest, während Albino Bubnic sie als Lokalredakteur in der örtlichen Presse begleitet. Als Überlebender ist Hermann Langbein vom Internationalen Auschwitz-Komitee beteiligt (vgl. z.B. H 78). Vor allem aber rückt Harlan den Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in den Fokus. Mit seiner Person verbindet er das Scheitern der Bemühungen um die juristische Aufarbeitung der Verbrechen in besonderer Weise. Bauers jahrelange Ermittlungen und Prozessvorbereitungen wurden zum großen Teil hinfällig, weil das EGOWiG die Taten, mit denen er sich befasst hatte, als verjährt definierte. Der Bundestag verabschiedete das EGOWiG am 10.5.1968 (vgl. H 576); Bauer wurde am 1.7.1968 tot in seiner Wohnung aufgefunden. In der Öffentlichkeit war von einem Suizid die Rede. Der Roman schließt sich der Diagnose “Selbstmord” (H 576) zwar an, einige Figuren spekulieren jedoch auch über einen möglichen Mord (vgl. H 444), ohne aber für die eine oder andere These Beweise zu finden. Jedenfalls wird das Jahr 1968 auch durch den Tod Bauers zu einem Jahr der Niederlage. Mit Enrico Cosulich stellt Harlan eine Figur in das Zentrum des Romans, in der das Nachleben des Nationalsozialismus Gestalt annimmt. Cosulich befindet sich in einem “Glaubenskrieg [. . .] in der Absicht, die zögerliche und verruchte Triestiner Anwaltschaft der Republik [. . .] zu amtlichen Handlungen zu zwingen und [. . .] eine Lawine von [. . .] Verfahren” (H 21) gegen die Nazitäter auszulösen. Der biografische Anlass hierfür ist die Ermordung seiner Mutter Margarita Duerr (vgl. H 14), bzw. “Dürr” (H 139), durch die Nationalsozialisten. Margarita bringt Heinrich “als flüchtige Frucht eines Graubündener Hochzeitsfotografen und späteren Bettlers, des gen. polizeikundl. Indiv. Franz Giacometti, vorbestr.” (H 140) zur Welt, heiratet dann aber den Eisenbahner Enrico Graziedio Cosulich, im Roman auch Enrico I genannt, der mit ihr nach Triest geht, dort Kommunist wird und Heinrich adoptiert, der fortan wie der Adoptivvater Enrico Cosulich gerufen wird (vgl. H 141f.). Der Ziehvater wird 1942 als Geisel erschossen. Margarita zieht daraufhin zu ihrem Sohn, der “das Kränkeln und Vergehen ihres Verstandes, der 19
Vgl. auch: “Mit Inkrafttreten ist Mord in der Mehrzahl aller Fälle Beihilfe und Beihilfe in der Mehrzahl aller Fälle verjährt” (H 450).
324 den Tod des Gatten schlicht leugnete”, und ihren “Abweg in die Umnachtung” (H 142) erlebt. Sie wird schwermütig (vgl. H 391), “gemütskrank” (H 14), gelangt in eine Anstalt in Venedig (vgl. H 371) und wird am 8.8.1944 “von der Greiferin Augusta Reiss” (H 14) in der Risiera abgeliefert. Von dort aus wird sie am 12.10.1944 mit dem Zug nach Osten transportiert (vgl. H 391), der “wahrscheinlich bis nach Polen” (H 397) gelangt, wo sich ihre Spur verliert. Entscheidend für die Poetik des Romans sowie für das Spätwerk Harlans überhaupt ist die identifikatorische Anverwandlung einiger Protagonisten an Akteure, die für ihr Leben bedeutsam sind. Cosulichs Nachkriegsexistenz vollzieht sich unter dem Vorzeichen des gewaltsamen Todes der Mutter. Er vergegenwärtigt sich ihr Schicksal rational, recherchierend, ebenso wie im mimetischen Nachvollzug. Schon in den dreißiger und vierziger Jahren studiert er erst Musik, dann Medizin. Nach dem Krieg beschäftigt er sich mit Psycholinguistik. Er komponiert und verfasst Texte unterschiedlicher Art, vor allem ist er der Autor eines Romans mit dem Titel Heldenfriedhof, der auch Harlans Roman den Titel gibt. Cosulichs vielgestaltiges künstlerisch-wissenschaftliches Werk kreist um den Tod seiner Mutter.20 Zu diesem gehören auch die näheren Umstände im Rahmen der nationalsozialistischen Todesmaschinerie. Cosulich entwickelt einen “Eifer auf der Suche nach den Urgründen des Geschehens, dem seine Mutter zum Opfer gefallen war” (H 392). Über den künstlerischen Nachvollzug hinaus reicht seine Anverwandlung an das Schicksal der Mutter noch bis in den Tod: Seine Leiche wird im November 1991 “im Mündungsstrom des Neretwa-Kanals” (H 54) gefunden; auf einer Zeichnung, die sich in seinen Papieren findet, hat er die Stelle, in die der Neretwa-Kanal in den Bug einmündet, “mit dem Buchstaben ‘M’ – Margarita –” (H 54) ausgewiesen. Der in vielfacher Negation einmal kurz aufgerufene Gedanke, er könne ohne die Hypothek der Vernichtungsgeschichte “leben”, wird mit den Worten kommentiert: “Daß davon die Rede nicht sein konnte, ist klar; es geht dies aus jeder seiner Schriften hervor” (H 282). Wie diese Disposition Enrico Cosulichs genannt wird, ob Traumatisierung oder sekundäre Traumatisierung,21 ist für den Roman nicht entscheidend. Aus dem unauflöslichen Zusammenhang zwischen den Ereignissen der Vernichtung und ihrer Nachgeschichte geht aber das poetische Verfahren des Romans hervor. Die Vergangenheit besiedelt die ihr nachfolgenden Gegenwarten als ein Chor aus zahllosen Stimmen, die ungeordnet und chaotisch auf- und
20
In seinen Notizen, heißt es, sei “nichts, das nicht im Schatten Margaritas auf die Lebendige verwies” (H 393). 21 Stimmel liest Rosa “as an expression of secondary traumatization” (Stimmel 98). Ähnlich könnte auch in Bezug auf Heldenfriedhof argumentiert werden.
325 wieder abtauchen. Stimmen unterschiedlicher Herkunft werden hier laut, die sich in unablässiger Transformation befinden und also nur schwer voneinander abzulösen und zu identifizieren sind. Obwohl der Roman großen Wert auf präzise Datierungen legt, ist seine Zeitachse nicht primär chronologisch organisiert. Mit der Schichtung unterschiedlicher Gegenwarten weist er dagegen eine durchaus mythische Zusammengehörigkeit im ‘Danach’ auf. In Enrico Cosulichs Identifikation mit seiner Mutter schildert Harlan die empathische Vergegenwärtigung des Schicksals eines Opfers der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, im Besonderen der ‘Aktion Reinhard’. Da dieser ganz überwiegend Juden zum Opfer fielen, fällt es auf, dass Harlan Margarita nicht als Jüdin konzipiert. Über ihre Herkunft sagt der Roman lediglich, sie sei “böhmischer Abstammung” (H 362) und von Franziskanern in Bozen notgetauft worden (vgl. 139). In Zeugenaussagen der Täter ist zwar in einem größeren Zusammenhang mit Margarita einmal von einem “schizophrene[n] Mischling” (H 75 u. 371) die Rede, eine jüdische Herkunft wird aber nirgends deutlich erwähnt. Margarita muss vielmehr als Opfer der Euthanasieaktionen gegen geistig Behinderte gesehen werden. Auch in Enrico Cosulichs Lebenslauf deutet nichts auf eine jüdische Herkunft hin. Diese Überlegungen schließen an den Aufsatz von Joanna K. Stimmel über Rosa an, in dem sie feststellt: “Among the numerous characters there are virtually no Jewish figures” (Stimmel 116). Das gilt auch für Rozalia Peham, die titelgebende Figur in Harlans früherem Roman. Sie ist die “Tochter des volksdeutschen Landwirts Hesekiel Peham in Kulmhof an der Netze” (R 10), wo sie während des Nationalsozialismus als “Dienstmagd” (R 27, im Or. kurs.) arbeitet und nach dem Krieg in einer Erdhöhle haust. Der Roman weist ihr Attribute eines Opfers zu, weil sie in einem Streit mit ihrer Schwester ein Auge verliert, vor allem aber, weil Rosa offenbar ein empathisches Verhältnis zu den Opfern der Vergasungen in Kulmhof entwickelt. Da der Roman aus vielen unterschiedlichen Stimmen komponiert ist, die sich kaum sauber voneinander trennen lassen, kann das Maß dieser Empathie allerdings nicht sicher bestimmt werden. In Gerichtsakten aus dem Jahre 1956 findet sich jedoch ihre Aussage über die Vergasungen und die Massengräber, die sie mit eigenen Augen gesehen hat (vgl. bes. R 26–28) und die sie eine “furchtbare Stätte” (R 26) nennt. Genau hier gräbt sie sich nach dem Krieg eine Behausung in die Erde und lebt dort bis zu ihrem Tod 1992. Rosa verhielte sich somit, ähnlich wie die Figur der Mutter im dritten Band der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, mimetisch zu dem Schicksal der Ermordeten. Harlan hebt an Kulmhof hervor, dass “der Tod durch Gas”, nämlich im Gaswagen, hier “mitten in einem [. . .] von Volksdeutschen bewohnten Dorf” stattgefunden habe, “das das Kommen von dreimal hunderttausend Juden und nicht das Fortgehen von dreimal hunderttausend Juden gesehen hatte” (HM 135). Anders als in den übrigen, abgeschotteten Lagern geschah der Mord in
326 aller Öffentlichkeit, die Bevölkerung kümmerte sich aber nicht darum.22 Im Roman ist von den “ersten siebenundneunzigtausend und den zweiten zweihunderttausend” (R 36) Opfern die Rede. Im Zuge der ‘Enterdungsaktion’ – der ‘Aktion 1005’ als Teil der ‘Aktion Reinhard’ – wurden auch in Kulmhof die Leichen der Vergasten verbrannt, die übrig gebliebenen Knochen mit Hilfe einer Kugelmühle zerkleinert und in die Wälder und Flüsse der Umgebung geschüttet (vgl. Hoffmann 223). Die Spuren des Mordes waren damit beseitigt, in vielen Protagonisten von Harlans Roman wirken die Nesselfäden der Ereignisse jedoch subkutan – psychisch und physisch – nach. Rosa scheint ihre eigene Existenz den Ermordeten anzuverwandeln, ohne dass dies bewusst geschähe und ohne dass sie es artikulieren würde: sie “teilte [. . .] die Wohnung mit siebenundneunzigtausend Seelen” (R 17), ihre Wohnung sei “ein den Toten zugedachter Raum” (R 69). Allerdings werden neben der möglichen Empathie mit den Opfern in dem Roman auch andere, entgegenstehende Gründe für die Wahl ihres Aufenthaltsorts gegeben. Rosa hat 1943 eine Beziehung zu Franz Maderholz, aus der eine Schwangerschaft hervorgeht, die sie abbricht. Maderholz, der als Zahlmeister für das deutsche Spezialkommando tätig ist, verlässt sie, als er 1943 den Befehl zum Abrücken erhält, was bei Rosa zu lebenslangem “Liebeskummer” (R 188) führt. Aus einer unbestimmten Erzählerperspektive heißt es in diesem Zusammenhang, “an Kindes Statt” (R 189) friste sie ihr Leben in der Erdbehausung. Während hier die Treue zu ihrer einstigen Liebe und die Trauer über den Verlust des Kindes – und keineswegs die Empathie mit den Ermordeten – zum Grund für Rosas Handeln wird, ist es in einer dritten Version ihre Habgier. Maderholz hat Rosa aus den Hinterlassenschaften der Ermordeten 3036 Eheringe verschafft (vgl. R 70), die sie nach dem Krieg hütet. Karol Leszczynski, der die Verbrechen der Nationalsozialisten als Untersuchungsrichter auf polnischer Seite recherchiert, bezeichnet sie und Jozef deshalb als “Diebe und Hehler”, die sich “zum Schutz ihres Vermögens ein Erdloch” (R 163) gegraben hätten. Über diese widerstreitenden Motive hinaus gibt der Roman keinen ‘definitiven’ Grund für Rosas Leben auf den Massengräbern an. Letztlich bleibt ihr Verhalten ein Rätsel, denn es wird nicht aufgeklärt, wem sie mit ihrem abgekehrten Leben auf den Gräbern Loyalität erweist: ihren privaten Umständen oder den Ermordeten. Rosas Nachkriegsexistenz steht zweifellos in irgendeiner Verbindung mit dem Mordgeschehen in Kulmhof, doch mit Stimmel darf gefragt werden, ob es tatsächlich die Opfer sind, mit denen sie sich identifiziert: “Although she quite literally embodies the trauma of the Holocaust, it remains unclear whose trauma it is: the victims’, the culprits’, the more or less innocent bystanders’, or that of them all?” (Stimmel 105). Stimmel wirf Harlan eine 22
Vgl. dazu auch Klein, besonders S. 319–321.
327 Universalisierung des Traumas vor, da sich die Traumatisierung bei ihm nicht nur auf überlebende Opfer, sondern auch auf Teile der Täter beziehe (vgl. Stimmel 105). Diese Überlegung ist nicht von der Hand zu weisen und kann auch auf Heldenfriedhof und Veit bezogen werden. In allen drei Büchern stehen nichtjüdische Figuren im Zentrum, in denen das mörderische Erbe mindestens als Versehrung, vielleicht sogar als Trauma, fortlebt: neben Rosa ist es in dem gleichnamigen Roman auch Richard F., der Rosas Geschichte recherchiert und aufschreibt, und der als der Sohn eines in Plötzensee hingerichteten Vertreters der bekennenden Kirche eingeführt wird (vgl. R 94), während in Heldenfriedhof Enrico Cosulich die Funktion des nachhaltig gezeichneten Protagonisten übernimmt. In Veit ist es schließlich der Ich-Erzähler Thomas Harlan selbst, der durch die Taten des Vaters lebenslang gezeichnet bleibt. In allen diesen Texten kommen empathische Identifikationen mit den Opfern vor, in allen buchstabiert Harlan die Identifikation aber auch in die andere Richtung, in die Einfühlung in die Täter, aus. An dieser Stelle überschreitet sein literarisches Verfahren die historiografische Täterforschung. In Heldenfriedhof zerfällt die auf Cosulich bezogene Zentralinstanz des Textes, indem Harlan diese Figur in viele Teilfiguren zersplittert, die unterschiedliche Namen und Pseudonyme zugewiesen bekommen. Ob diese Ableger überhaupt noch in einer Zentralinstanz mit dem Namen Enrico Cosulich synthetisiert werden können, bleibt fraglich und betrifft zugleich den Kern des Harlan’schen literarischen Projekts. Die Aufspaltung der Erzählperspektive steht in enger Verbindung mit den unterschiedlichen literarischen und wissenschaftlichen Versuchen Cosulichs. Seine literarischen Arbeiten kennzeichnet zunächst “die Auflösung der Figur des Autors in die Figuren Enrico und Heinrich” (H 210), darüber hinaus aber die tendenziell unendliche Vervielfältigung, die Wucherung dieser Figuren in solche mit weiteren Selbstanteilen. Von Heinrich Kaufmann, einem dieser Ableger, dem Verfasser eines Romans bzw. Romanfragments, heißt es: Er hatte sich mit sechs Kaufmännern eingelassen und jedermann kurz vor seinem Tod noch einmal ich sagen lassen; ‘ich’; ich hieß immer so viel wie er; ihn selbst gab es nicht mehr; er hatte sich hinter seinen Figuren verschanzt und verweste bei lebendigem Leibe unter fremder Haut. (H 234)
In der literarischen Anverwandlung wird das Ich elastisch, momentweise verlässt es namentlich seine identitätsstiftenden, dogmatischen Identifikationen, die auch Fixierungen genannt werden können, etwa die politisch korrekte mit den Opfern, und transformiert sich phasenweise oder löst sich ganz auf. In der Identifikation mit anderen Figuren dezentrieren die Identifizierenden sich in einem Maße, das die Rückkehr in das Eigene, in die Identität, kaum mehr möglich macht. Diese Figuren bleiben exzentrisch; mimetisch verwandeln sie sich sowohl den Opfern als auch den Tätern an.
328 Cosulich widmet sich einem der Täter der Risiera, Dietrich Allers, in dieser alles absorbierenden Weise: er “lehnte sich [. . .], schreibend, tief in den Schatten des Mannes Dietrich und fiel, bald, mit ihm zusammen” (H 277). Immer wieder folgen einige Erzählinstanzen des Romans den Tätern und versenken sich in ihr Leben und Denken. Das gilt besonders für die Frage, wie die Gruppe der 92 nach dem Krieg mit ihrem Treueschwur zum Nationalsozialismus umgeht. Einige Mitglieder verüben einen bizarren kollektiven Suizid am Grab ihres ehemaligen Vorgesetzten Christian Wirth in Triest, andere, wie Allers, spinnen die alten Netzwerke in der jungen Bundesrepublik weiter. In Heldenfriedhof führt der Erzählstrom insbesondere mit dem Namen Heinrich Kaufmann in die Identifikation mit den Tätern. Dabei kommt ein intrikater Prozess in Gang, in dem sich die unterschiedlichen Selbstanteile Cosulichs nun gegeneinander wenden: Kaufmann war für seinen Namen dankbar. Kaufmann erlaubte ihm, sich für Reinhold Kaufmann zu interessieren, für August Kaufmann, Walter Kaufman ohne n und mit und für viele andere Noch-Kaufmänner, Kaufmannbrüderschwestern, Enkel, geborene Kauf, angeheiratete Männer, und also, endlich auch, für sich. Kaufmann interessierte sich jetzt endlich für Heinrich, schreibt Kaufmann; [. . .] er hatte sich mit seiner Nadel unter den Spinnern und Wicklern selbst aufgespießt [. . .]. (H 235)
Enrico entdeckt unter dem Namen Heinrich die potenzielle Täterschaft in sich selbst. Damit aber steht er auf beiden Seiten: Kaufmann suchte die Mutter [Margarita, S.K.]; genauer: in vollkommener Metamorphose seinen Vorgänger, Ur-Zustand – ungenauer noch: im vollkommenen Eintauchen in dich, Adolf-Gustav, ihren Schergen; in der Annäherung an ihn, dich [. . .]. (H 236)
Adolf-Gustav Kaufmann ist eine der Romanfiguren Heinrich Kaufmanns (vgl. H 234). Enrico Cosulich geht mit der Linie Kaufmann den eigenen Dispositionen zur Täterschaft nach, fragt danach, welcher Anteil des ‘Schergen’ zu ihm selbst gehört. Gerade diese wiederkehrende Spur in dem Roman, also die Weigerung, durch eindeutige Abgrenzungen eine stabile identifikatorische Position im Opfer-Täter-Feld zu produzieren, kennzeichnet Harlans Schreibweise. Für die immer wieder aufgesuchte Überkreuzung der Position des Opfers und des Täters ist die Arbeit mit nichtjüdischen Opferfiguren vorteilhaft, denn in Bezug auf sie können die Verstrickungen der Täterschaft nachdrücklicher herausgearbeitet werden.23 Vielleicht kommt Harlan gerade 23
Die Abgründe, die sich für die Verfolgten durch die – anders gelagerte – Überkreuzung der Opfer- und der Täterposition ergeben, hat Primo Levi mit dem Begriff der Grauzone thematisiert, vgl. Levi 33-69.
329 deshalb sowohl in Heldenfriedhof als auch in Rosa auf die ‘Aktion Reinhard’ zurück, denn personell entwickelte sich dieser Zweig der Shoah aus der Euthanasieaktion ‘T4’ (vgl. Heberer), in deren Verlauf die ersten Vergasungen stattfanden, denen überwiegend nichtjüdische Menschen zum Opfer fielen. Man mag in der Wahl nichtjüdischer Protagonisten im Spätwerk Thomas Harlans eine Universalisierung des Traumas sehen und eine nicht zu rechtfertigende Aneignung des Opfertraumas durch Figuren, die nicht zu den Opfern gehören. Sie kann jedoch auch als Teil einer produktiven Verfahrensweise begriffen werden, in der die ausschließliche Identifikation mit den Opfern vermieden wird.24 Denn gerade die doppelseitige Identifikation – mit den Opfern und mit den Tätern – eröffnet einen Weg über die Anklage der Täter hinaus in die radikale Selbstbefragung. Während die Anklage der Täter eine Differenz zwischen diesen und den Anklägern ermöglicht – eine Differenz, die gerade die 68er zu etablieren bestrebt waren – und die eine Externalisierung der Taten mit sich bringt, führt die Identifikation mit den Tätern unweigerlich zu der Frage, inwiefern Anteile des eigenen Selbst mit der Disposition der Mörder korrespondieren. Es ist diese destabilisierende Überschreitung sowohl der Täterforschung als auch der Identifikation mit den Opfern, die im Medium der Literatur produktiv wird. Das durchgängige Verfahren, die eigene Verstrickung in die Täterschaft in die Schreibweise mit einzubeziehen, ist in Harlans Werken unterschiedlich ausgeprägt. Eine Variante findet sich in dem Film WUNDKANAL (BRD, F, USA 1983/84),25 der die Entführung eines Kriegsverbrechers durch eine terroristische Gruppe darstellt. Für die Rolle des Entführten gewinnt Harlan Alfred Filbert, einen ehemaligen SS-Obersturmbannführer, der während des Krieges im RSHA und in der Einsatzgruppe B tätig war. 1962 wurde er “wegen 6800 gemeinschaftlich begangenen Morden zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. [. . .] 1975 wurde Filbert aus medizinischen Gründen (Haftunfähigkeit) entlassen. Er starb am 30. Juli 1990” (HM 194). In der fiktiven Handlung wird der Entführte von seinen Entführern verhört und dabei gefilmt. Es werden ihm Fragen gestellt, die ihn als Täter entlarven sollen. Hier vermischen sich die fiktionale Handlung und die reale Situation der Dreharbeiten, denn es entwickelt sich eine Dynamik, innerhalb derer der Zugriff des Filmteams immer aggressiver wird, bis es Filbert tätlich angreift und wegen seiner realen Nazivergangenheit zur Rede stellt. Alles dies ist dokumentiert, denn Harlan hat den Dokumentarfilmer Robert Kramer beauftragt, einen eigenen, unabhängigen Film über die Entstehung von WUNDKANAL zu drehen. Durch diese 24
Vgl. in diesem Zusammenhang Ulrike Jureits und Christian Schneiders scharfe Kritik des “opferidentifizierte[n]” (Jureit/Schneider 10) Erinnerns. 25 Auf Harlans Werk als Filmemacher, das ebenfalls noch kaum wahrgenommen wurde, kann hier nicht weiter eingegangen werden.
330 Doppelung ist der Entführte in der Fiktion von WUNDKANAL einerseits Opfer (der Entführung), andererseits Täter, indem im Laufe der Befragung seine Täterschaft herausgearbeitet wird. Auf einer anderen, realgeschichtlichen Ebene zeigt Kramers Dokumentarfilm UNSER NAZI (BRD, F 1984), wie das Vorgehen des Filmteams gegen den Nazitäter zunehmend selbst gewalttätige Züge annimmt. Um den Täter zu entlarven, überschreiten Harlan und Teile seines Filmteams die Grenze zur Täterschaft. Diese Dynamik wiederholt und reflektiert eine zeitgenössische bundesrepublikanische Konstellation, in der Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und andere Nachgeborene des Täterkollektivs um der eindeutigen Parteinahme willen – “Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen!” (Rote Armee Fraktion 5) – militant wurden und dabei für sich den Standpunkt der politischen Moral reklamierten. Harlans komplizierte Versuchssituation (zwei aufeinander verweisende Filme, die Besetzung der Rolle des Entführten durch einen ehemaligen Nazi usw.) bietet dagegen keine einfachen Identifikationen, sondern sie treibt – umgekehrt – die Verstrickungen der Opfer- und der Täterpositionen heraus. Die Anklage impliziert bei Harlan die Selbstbefragung, die zum Teil bis zur Selbstbezichtigung gesteigert wird. Der unablässige Zwang zur Entlarvung der Täter, zur Anzeige im doppelten Sinn, also der Dokumentation der Verbrechen und ihrer juristischen Verfolgung, wendet sich mit der Selbstbefragung gegen sich selbst, gegen den Entlarvenden: Der unstillbare Drang nach Aufklärung, nach dem Überführen der Täter, nach dem Anzeigen, also alles das, was den Entlarvenden antreibt und seine Existenz ausmacht, wäre nicht vorhanden, wenn es nicht seine – wie auch immer partielle – Teilhabe an dem gäbe, was anzuzeigen ist. Die Jagd nach den Tätern wird damit auch zur Jagd auf sich selbst. Das resultiert in einer sich dauernd erneuernden, nie zu stillenden, zyklisch angelegten psychischen Struktur. Befreiung im emphatischen Sinn kann es hier nicht geben, weil sie die Negation zumindest von Teilen des eigenen Selbst bedeutete. So gerät das Entlarven zur zwanghaften Handlung. Gefragt, warum er Mitte der sechziger Jahre die Arbeit an der Recherche der Täterbiografien eingestellt habe, antwortete Harlan: ich wußte, daß ich Schluß machen mußte, daß ich mit der Verfolgung aufhören mußte, weil ich mich bereits selbst verfolgte und zwischen dem Angstschweiß des Verfolgers und dem Angstschweiß des Verfolgten kein Raum mehr war für Unterschiede. Die Unterscheide gab es nicht mehr. (HM 152)
Diese Konstellation der Befragung und Selbstbefragung, der Bezichtigung und Selbstbezichtigung, der Verfolgung und Selbstverfolgung kehrt in veränderter Gestalt in den literarischen Texten Harlans wieder. In Veit wendet er sie auf den für ihn maßgeblichen biografischen Ausgangspunkt zurück, in dem die Liebe zum Vater und der Abscheu über dessen Handeln einander die
331 Waage halten und zu gleichen Teilen in den Text eingehen, etwa in den folgenden Apostrophen: GELIEBTER, [. . .] VERFEMTER, MIT SEINEN OPFERN SICH VERWECHSELNDER [. . .], WUNDERBARER, [. . .] UNVERZEIHLICH VON SEINEM SOHN VERRATENER, SÜSSESTER, ZÄRTLICH ANGEBETETER, ÜBERSCHULDETER, [. . .] DER ICH DICH ALS HERSTELLER VON MORDWERKZEUGEN ANGEKLAGT HABE, [. . .] VON SCHULDGEBIRGEN UNBEZWINGBARER, [. . .] ZU BEKENNTNISSEN UNFÄHIGER, LIEBSTER, [. . .] DER WAHRHEIT ENTFREMDETER, LÜGNER, [. . .] UNABSCHÄTZBARER UNTER DEN TÄTERN, [. . .] ALLERLIEBSTER, DU MEIN VATER, DU NICHT ENDEN WOLLENDE AUFZÄHLUNG, [. . .] DU UNGLÜCKLICHER. (V 12f., Großbuchstaben im Or.)
Thomas Harlan lässt in Veit keinen Zweifel daran, dass der Vater eine Schuld auf sich geladen habe, die nicht zu tilgen sei (vgl. V 33). Zugleich registriert er dessen Abwehr, die Verantwortung “für ein Unglück, [. . .] Judenmorde, [. . .] Rauchsäulen” (V 65) zu übernehmen, die JUD SÜß befördert habe. Angesichts dieser vom Vater sein Leben lang verleugneten Schuld fragt sich das Ich in Veit: Was tun? Sprechen? [. . .] In die Wunden greifen? Schmerz zufügen [. . .] durch die ungehemmte Anklage? Durch die Abbitte für das nie enden wollende Anklagen, ohne welches ich keinen Tag verbringen kann, an dem ich in der Welt stehe? (V 43)
Der Sohn entschließt sich zu einer noch weiter reichenden, radikalen, empathischen Geste, die als Variante neben die Akte der Identifikation aus den vorangegangenen Büchern tritt: “Vater, ich bin bereit, Deine Schuld auf mich zu nehmen” (V 45). “Wenn Du Deine Verantwortung nicht trägst, gestehe ich sie mir ein, ich übernehme sie an Deiner Statt” (V 91). Nun kommt es zu einer – wenn auch rhetorisch-hypothetischen – Wiederholung der verabscheuten antisemitischen Taten und zu einer Anverwandlung an den entsprechenden Ton: Ich habe den Film gemacht, [. . .] ich habe die Absicht gehabt, euch bloßzustellen euch verdammte Geldfälscher, Finanzkönige, euch erste Kapitalisten, ich war es, der den Film vor zwanzig Millionen Menschen aufführen ließ und den Haß schürte [. . .]. (V 45)
Harlan treibt die Anverwandlung ins Extrem; die Anrufung kulminiert in der Bereitschaft, den Mord zu wiederholen: “Ich habe einen schrecklichen Film gemacht. Ich habe JUD SÜß gemacht. [. . .] Ich habe die Männer von Lublin erstickt. Ich habe sie alle erstickt. Laß sie mich alle ersticken, ich bitte Dich. [. . .] Laß mich Dein Sohn sein” (V 94). Aus den Reihen der Täter hat niemand die Schuld eingestanden; das gilt auch für Veit Harlan bis zu seinem
332 Tod 1964. Neben der Verstrickung in die ideologische Mordmaschine während der Zeit des Nationalsozialismus ist es diese Schuldabwehr in der Nachkriegszeit, die der Sohn nicht akzeptieren kann. Dass Veit Harlan zwischen 1933 und 1945 Filme wie JUD SÜß gedreht hat, ist nicht mehr rückgängig zu machen. Dass der ihm zukommende Teil der Verantwortung für den geschehenen Massenmord weder von ihm noch von jemand anders übernommen wurde, bedeutet, dessen Rechtfertigung und damit die ideologische Disposition zum Mord in die Gegenwart hinein fortzuschreiben. Aus der Sicht des Sohnes muss deshalb die Vergangenheit zum Feld der Auseinandersetzung über die Gegenwart werden, und zwar in einer bestimmten Weise: Nur wenn der Sohn die am Vater gehassten Züge in sich selbst sucht und findet, wenn er also seine eigene Teilhabe postuliert, kann er die katastrophale Vergangenheit auf sich nehmen und in der Gegenwart anders fortschreiben. Darin liegt ein starkes Motiv für die von Harlan praktizierte literarische Anverwandlung: Er muss werden wie der Vater, muss sich literarisch zum Antisemiten und ideologischen Befürworter des Mordes machen, damit es jemanden im Täterkollektiv gibt, der die Verantwortung übernehmen kann.26 So weist ihm die eigene Biografie ein Leben in Nachfolgeschaft und in Stellvertretung zu. Als Summe dieses Lebens formuliert das Erzähl-Ich Thomas Harlan am Ende von Veit in Bezug auf den Vater: “Ich bin in Dir umgekommen” (V 93). Die Bekämpfung der Schuldabwehr trieb Harlan auch politisch an. In der Geschichte der Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre erkannte er Parallelen zu seiner Familiengeschichte. Worum es ihm in der Auseinandersetzung mit seinem Vater ging, galt auch politisch: die mörderische Vergangenheit anders als verleugnend aufzurufen, die Verantwortung zu übernehmen. In der postfaschistischen Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik wurde er zum Verfolger und Ruhestörer. Im Verlauf der Verfolgung griff er – wie mit dem “verschärften Verhör” (HM 205) Filberts in WUNDKANAL – mitunter selbst auf Praktiken der Täter zurück. Diese Dynamik unterstreicht die Zweischneidigkeit – wenn nicht gar den illusionären Charakter – des politischen Konzepts der Befreiung von den Vätern. Im Gewaltakt der Befreiung schreibt sich das Erbe der Täterschaft fort.27 Wegen solcher und ähnlicher 26
Hier liegt ein anderer Nachvollzug des Handelns der Täter vor als in jener “beschwörende[n] Nachgestaltung und Neuinterpretation” (Friedländer 15), die Saul Friedländer in einigen Werken der siebziger Jahre sah, die die Massenfaszination des Nationalsozialismus nachvollziehbar machen wollten und dabei selbst in die Gefahr einer Wiederholung dieser Mechanismen geraten seien. Bei Harlan geht es eher um einen Nachvollzug im Bewusstsein der Scham als um ein Wiederaufsuchen der Faszination. 27 Diese Überlegung wäre zu beziehen auf Harlans Selbstverständnis als Kommunist, auf seine Arbeiten zu unterschiedlichen Revolutionen, etwa dem Film TORRE BELA (F, P, I, CH 1975), sowie zu den sozialistischen Staaten des Ostblocks, die er in dem Erzählungsband Die Stadt Ys (2007) thematisiert.
333 Mechanismen gilt auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht zuletzt der Befund, dass die Verstrickungen in die Täterschaft noch das demokratische Nachfolgegebilde des Nationalsozialismus wesentlich mit bestimmt haben. Solch eine Perspektive erkennt in der Rede von der Stunde Null einen Gründungsmythos, der den postfaschistischen Charakter des demokratischen Gemeinwesens umdeutend verharmlost. Literarisch kann Harlan dem Verstricktbleiben in die Nachfolgeschaft in allen Richtungen und mit aller Radikalität nachgehen. Dabei experimentiert er immer wieder mit der doppelten Identifikation mit den Tätern und den Opfern. Diese unmögliche Position zerreißt die eindimensionalen Narrative und dissoziiert alle einfach gedachten Identitäten. Es entstehen Texte, die Geschichten ohne Anfang und Ende zueinander rücken und deren Figuren sich in dauernden Transformationen befinden. Rosa und Heldenfriedhof sind Textmassive, die nur wenig Orientierung bieten, die im Gegenteil mit ihrem Changieren zwischen Fakt und Fiktion das politisch korrekte Erinnern verunsichern und dezentrieren.28 Statt den Autor als den Souverän über die Nachgeschichte des Nationalsozialismus und der Shoah zu installieren oder den Lesern eindeutige Richtungen vorzugeben, um die Geschichte zu ‘bewältigen’, verlieren sich Autor und Leser in ihr. Und manche der geschilderten Figuren kommen in ihr um.
Literatur Mathias Brandstädter: Folgeschäden. Kontext, narrative Strukturen und Verlaufsformen der Väterliteratur 1960–2008. Bestimmung eines Genres. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. Torben Fischer/Matthias Lorenz (Hg.): Lexikon der ‘Vergangenheitsbewältigung’ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld: transcript 2007. Saul Friedländer: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. München-Wien: Hanser 1984. Thomas Christoph Harlan: Ich selbst und kein Engel. Dramatische Chronik aus dem Warschauer Ghetto. Berlin: Henschelverlag 1961. Thomas Harlan: Rosa. Roman. Frankfurt a.M.: Eichborn 2000; Sigle: R. ———: Heldenfriedhof. Roman. Frankfurt a.M.: Eichborn 2006; Sigle: H. ———: Hitler war meine Mitgift. Ein Gespräch mit Jean-Pierre Stephan. Reinbek: Rowohlt 2011 (zuerst unter dem Titel Das Gesicht deines Feindes. Ein deutsches Leben in Frankfurt a.M.: Eichborn 2007 erschienen); Sigle: HM. 28
Harlan, der Gilles Deleuze persönlich kannte, gibt an: “Die Denkformen, die ich von Deleuze mitgenommen habe, sie haben sich fortgesetzt in allem, was ich je hinund hergewälzt habe in meinen Belagerungszuständen” (HM 23). Eine Lektüre der späten Texte Harlans, die sich zum Beispiel an Deleuzes und Guattaris Begriff der Fluchtlinien orientieren könnte, steht noch aus.
334 ———: Veit. Reinbek: Rowohlt, 2011; Sigle: V. Patricia Heberer: Eine Kontinuität der Tötungsoperationen. T4-Täter und die “Aktion Reinhard”. In: “Aktion Reinhardt”. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941–1944. Hg. von Bogdan Musial. Osnabrück: fibre 2004. S. 285–308. Malte Herwig: Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden. München: DVA 2013. Jens Hoffmann: “Das kann man nicht erzählen”. ‘Aktion 1005’ – Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten. Hamburg: Konkret 2008. Ulrike Jureit/Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Bonn: BPB 2010. Ernst Klee: Was sie taten – Was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord. Frankfurt a.M.: Fischer 1986. ———: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945? Frankfurt a.M.: Fischer 2003. Peter Klein: Kulmhof/Chelmno. In: Der Ort des Terrrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 8. Hg. von Wolfgang Benz/Barbara Distel. Redaktion: Barbara Königseder. München: Beck 2008. S. 301-328. Michael Koschat: Das Polizeihaftlager in der Risiera die San Sabba und die deutsche Besatzungspolitik in Triest 1943–1945. In: Zeitgeschichte, Jg. 19 (1992). S. 157–171. Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. München-Wien: Hanser 1990. Claudia Mauelshagen: Der Schatten des Vaters. Deutschsprachige Väterliteratur der siebziger und achtziger Jahre. Frankfurt a.M.: Lang 1995. Bogdan Musial (Hg.): “Aktion Reinhardt”. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941–1944. Osnabrück: fibre 2004. ———: Einleitung. In: “Aktion Reinhardt”. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941–1944. Hg. von Bogdan Musial. Osnabrück: fibre 2004. S. 7–12. Dieter Pohl: Die Stellung des Distrikts Lublin in der “Endlösung der Judenfrage”. In: “Aktion Reinhardt”. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941–1944. Hg. von Bogdan Musial. Osnabrück: fibre 2004. S. 87–107. Rote Armee Fraktion: Das Konzept Stadtguerilla. In: Gesellschaft für Nachrichtenerfassung und Nachrichtenverbreitung (Hg.): Ausgewählte Dokumente der Zeitgeschichte: BRD – RAF. Köln, 4. Aufl. 1988. S. 5–13. Joanna K. Stimmel: Wounded Body, Wounded History, Wounded Text: “Transgenerational Trauma” in Thomas Harlan’s Rosa. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Hg. von Paul Michael Lützeler/Stephan K. Schindler. Jg. 3. Tübingen: Stauffenberg 2004. S. 97–122. Michael Wedekind: Nationalsozialistische Besatzungs- und Annexionspolitik in Norditalien 1943 bis 1945. München: Oldenbourg 2003. Leon Weliczker Wells: Ein Sohn Hiobs. München-Wien: Hanser 1979 (zuerst 1963).
Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa 2000–2012. Eine Auswahlbibliografie Amann, Jürg: Der Kommandant. Monolog. Arche: Zürich 2011. Beyer, Marcel: Spione. DuMont: Köln 2000. ———: Kaltenburg. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2008. Bossong, Nora: Webers Protokoll. Frankfurter Verlagsanstalt: Frankfurt a.M. 2009. Braun, Christina von: Stille Post. Eine andere Familiengeschichte. Propyläen: Berlin 2007. Bruhns, Wibke: Meines Vaters Land. Geschichte einer deutschen Familie. Econ: München 2004. Brunner, Claudia; Seltmann von, Uwe: Schweigen die Täter, reden die Enkel. Büchergilde Gutenberg: Frankfurt a.M. 2004. Dückers, Tanja: Himmelskörper. Aufbau: Berlin 2003. Erpenbeck, Jenny: Heimsuchung. Eichborn Berlin: Berlin 2008. Faktor, Jan: Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen HodensackBimbams von Prag. Kiepenheuer und Witsch: Köln 2010. Franck, Julia: Die Mittagsfrau. Fischer: Frankfurt a.M. 2007. Geiger, Arno: Es geht uns gut. Hanser: München 2005. Grass, Günter: Im Krebsgang. Steidl: Göttingen 2002. Gruber, Sabine: Stillbach oder Die Sehnsucht. C.H.Beck: München 2011. Gstrein, Norbert: Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2004. Hacker, Katharina: Der Bademeister. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2000. ———: Eine Art Liebe. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2003. Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder. Deutsche Verlagsanstalt: München 2003. Hanika, Iris: Das Eigentliche. Droschl: Graz 2010. Harlan, Thomas: Rosa. Eichborn: Frankfurt a.M. 2000. ———: Heldenfriedhof. Eichborn: Frankfurt a.M. 2006. ———: Veit. Rowohlt: Reinbek 2011. Havemann, Florian: Havemann. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2008. Heidenreich, Gisela: Das endlose Jahr. Die langsame Entdeckung der eigenen Biographie – ein Lebensborn-Schicksal. Scherz: München 2002. ———: Sieben Jahre Ewigkeit. Das geheime Leben meiner Mutter. Droemer: München 2007. Hesing, Jakob: Mir soll’s geschehen. Berlin Verlag: Berlin 2005. Heye, Uwe-Carsten: Vom Glück nur ein Schatten. Eine deutsche Familiengeschichte. Blessing: München 2004. Himmler, Katrin: Die Brüder Himmler. Eine deutsche Familiengeschichte. S. Fischer: Frankfurt a.M. 2005. Janesch, Sabrina: Katzenberge. Aufbau: Berlin 2010.
336 Jelinek, Elfriede: In den Alpen. In: dies.: In den Alpen. Drei Dramen. Berlin Verlag: Berlin 2002. S. 5–65. Jetter, Monika: Mein Kriegsvater. Versuch einer Versöhnung. Hoffmann und Campe: Hamburg 2004. Jirgl, Reinhard: Die Unvollendeten. Hanser: München 2003. ———: Die Stille. Hanser: München 2009. Kempowski, Walter: Das Echolot. Barbarossa ’41. Ein kollektives Tagebuch. Knaus: München 2002. ———: Das Echolot. Abgesang ’45. Ein kollektives Tagebuch. Knaus: München 2005. ———: Alles umsonst. Knaus: München 2006. Krechel, Ursula: Shanghai fern von wo. Jung und Jung: Salzburg – Wien 2008. ———: Landgericht. Jung und Jung: Salzburg – Wien 2012. Kuckart, Judith: Lenas Liebe. DuMont: Köln 2002. Kühn, Dieter: Ich war Hitlers Schutzengel: Fiktionen. S. Fischer: Frankfurt a.M. 2010. Lehr, Thomas: Frühling. Aufbau: Berlin 2001. Leupold, Dagmar: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens. C.H. Beck: München 2004. Lewinsky, Charles: Melnitz. Nagel & Kimche: Zürich 2006. ———: Gerron. Nagel & Kimche: Zürich 2011. Lustiger, Gila: So sind wir. Berlin Verlag: Berlin 2005. Martenstein, Harald: Heimweg. C. Bertelsmann: München 2007. Medicus, Thomas: In den Augen meines Großvaters. Deutsche Verlagsanstalt: München 2004. Menasse, Eva: Vienna. Kiepenheuer & Witsch: Köln 2005. Menasse, Robert: Die Vertreibung aus der Hölle. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2001. ———: Ich kann jeder sagen. Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2009. Modick, Klaus: Bestseller. Eichborn: Frankfurt a.M. 2006. Müller, Herta: Atemschaukel. Hanser: München 2009. Ortheil, Hanns-Josef: Die Erfindung des Lebens. Luchterhand: München 2009. Pollack, Martin: Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater. Zsolnay: Wien 2004. Rabinovici, Doron: Ohnehin. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2004. ———: Andernorts. Suhrkamp: Berlin 2010. Roggenkamp, Viola: Familienleben. Arche: Zürich – Hamburg 2004. ———: Tochter und Vater. S. Fischer: Frankfurt a.M. 2011. Scheub, Ute: Das falsche Leben. Eine Vatersuche. Piper: München 2006. Schiffner, Sabine: Kindbettfieber. Fischer: Frankfurt a.M. 2005. Schirach, Ferdinand von: Der Fall Collini. München: Piper 2011. Schirach, Richard von: Der Schatten meines Vaters. München: Hanser 2005. Schneider, Helga: Laß mich gehen. Piper: München 2003. Sebald, W.G.: Austerlitz. Hanser: München 2001. Senfft, Alexandra: Schweigen tut weh: Eine deutsche Familiengeschichte. Claassen: Berlin 2007.
337 Stein, Benjamin: Die Leinwand. C.H. Beck: München 2010. Streeruwitz, Marlene: morire in levitate. S. Fischer: Frankfurt a.M. 2004. Surminski, Arno: Die Vogelwelt von Auschwitz. Eine Novelle. LangenMüller: München 2008. Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders. Kiepenheuer & Witsch: Köln 2003. ———: Halbschatten. Kiepenheuer & Witsch: Köln 2008. Treichel, Hans-Ulrich: Menschenflug. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2005. ———: Anatolin. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2008. Vennemann, Kevin: Nahe Jedenew. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2005. ———: Mara Kogoj. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2007. Vermes, Timur: Er ist wieder da: Der Roman. Eichborn: Köln 2012. Wackwitz, Stephan: Ein unsichtbares Land. Familienroman. S. Fischer: Frankfurt a.M. 2003. Welsch, Marion: Sprich mit mir. Auf der Suche nach der Vergangenheit meiner Familie. List: Berlin 2005.
Die Autorinnen und Autoren Dr. JENS BIRKMEYER, OStR. i. H., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, Holocaust in Film und Literatur, Medien der Erinnerungskultur, Literaturund Filmdidaktik, Kritische Theorie und Kulturwissenschaft. Publikationen (Auswahl): Zeitzonen des Wirklichen. Maßgebliche Momente in Alexander Kluges Erzählsammlung “Dezember”. In: TEXT + KRITIK. H. 85/86: Alexander Kluge (Neufassung 2011). S. 66–75. Globales Gedächtnis? Universelles Erinnern in W. G. Sebalds Roman “Austerlitz”. In: Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Hg. v. Wilhelm Amann/Georg Mein/Rolf Parr. Heidelberg: Synchron 2011. S. 129–153. Das Gedächtnis der Emotionen. Alexander Kluges “Chronik der Gefühle” als verborgene Erinnerungstheorie. In: Gedächtnis und kultureller Wandel. Erinnerndes Schreiben – Perspektiven und Kontroversen. Hg. v. Judith Klinger/Gerhard Wolf. Tübingen: Niemeyer 2009. S. 257–276. Prof. Dr. CORNELIA BLASBERG, Professorin für Neuere deutsche Literatur, Germanistisches Institut der WWU Münster. Forschungsschwerpunkte: Kultur und Literatur des 19. Jahrhunderts, Jahrhundertwenden um 1900 und 2000, Reflexion und ästhetische Gestaltung der Erfahrung von Nationalsozialismus und Holocaust. Publikationen (Auswahl): Geschichte als Palimpsest. Schreiben und Lesen über die ‘Kinder der Täter’. In: DVjs 76 (2002). H. 3. S. 464–495. Erinnern? Tradieren? Erfinden? Zur Konstruktion von Vergangenheit in der aktuellen Literatur über die dritte Generation. In: Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. Hg. v. ders./Jens Birkmeyer. Bielefeld: Aisthesis 2006. S. 165–187. Zeugenschaft. Metamorphosen eines Diskurses und literarischen Dispositivs. In: Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Hg. v. Barbara Beßlich/Katharina Graetz/Olaf Hildebrand, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2006. S. 21–34. Dr. Habil. BARBARA BREYSACH, Privatdozentin, Europa-Universität Viadrina, Kulturwissenschaftliche Fakultät. Forschungsschwerpunkte: Europäisch-Jüdische Studien, Kulturraum Mitteleuropa, Holocaust-Studies, deutsche und polnische Literatur (19.–21. Jahrhundert).
340 Publikationen (Auswahl): Schauplatz und Gedächtnisraum Polen. Die Vernichtung der Juden in der deutschen und polnischen Literatur. Göttingen: Wallstein 2005. Pan Tadeusz (Adam Mickiewicz). In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. IV. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Hg. v. Dan Diner. Stuttgart: Metzler 2013. Amerika als translationaler (T)Raum. Joseph Roths Roman Hiob zwischen Ost und West. In: Osteuropäisch-jüdische Literaturen im 20. und 21. Jahrhundert: Identität und Poetik. Hg. v. Klavdia Smola. München: O. Sagner 2013. Dr. SUSANNE DÜWELL, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt “Fall-Archive. Epistemische Funktion und textuelle Form von Fallgeschichtssammlungen in Fach- und Publikumszeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts”, Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: deutsch-jüdische Literatur, Erinnerungskultur, Fallgeschichten. Publikationen (Auswahl): “Fiktion aus dem Wirklichen”. Strategien autobiographischen Erzählens im Kontext der Shoah. Bielefeld: Aisthesis 2004. “Das zwangshaft projizierende Selbst”. Die Reflexion von Bildern des Jüdischen im Werk von Doron Rabinovici. In: Bilder des Jüdischen. Selbstund Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert. Hg. v. Juliane Sucker/ Lea Wohl, Berlin: de Gruyter 2012. S. 281–303. Hybridität, Diaspora, Bruch: Poetologische Konzepte deutsch-jüdischer Gegenwartsliteratur am Beispiel von Vertlib, Biller und Rabinovici. In: Aussiger Beiträge 6 (2012). S. 81–102. Prof. Dr. AXEL DUNKER, Professor für neuere und neueste deutsche Literaturgeschichte/Literaturtheorie, Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Postkolonialismus, Literatur und Holocaust, Gegenwartsliteratur. Publikationen (Auswahl): Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. München: Fink 2008. Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz. München: Fink 2003. Postkoloniale Lektüren. Perspektivierungen deutschsprachiger Literatur. (Als Hg. mit Anna Babka). Bielefeld: Aisthesis 2013. Prof. Dr. NORBERT OTTO EKE, Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie, Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte: Erinnerungskulturen und ästhetische Formungen mit Schwerpunkten in den Bereichen Dramen- und Theatergeschichte, deutsch-jüdische Literatur (Literatur und Shoah), Vormärzliteratur und Gegenwartsliteratur. Publikationen (Auswahl): Bühne. Raumbildende Prozesse im Theater. (Als Hg. mit Ulrike Haß/Irina Kaldrack). Paderborn: Fink 2013. Wort/Spiele.
341 Drama – Film – Literatur. Berlin: Erich Schmidt 2007. Shoah in der deutschsprachigen Literatur. (Als Hg. mit Hartmut Steinecke). Berlin: Erich Schmidt 2006. Herausgeber der Zeitschrift für deutsche Philologie und der Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. TORBEN FISCHER, M.A., Geschäftsführer der Fakultät Kulturwissenschaften, Leuphana Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus, Literarischer Antisemitismus, Literatur- und Filmgeschichte. Publikationen (Auswahl): Lexikon der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. (Als Hg. mit Matthias N. Lorenz). 3. überarb. u. erw. Aufl. 2014. Bielefeld: transcript (2007, 22009). Affekt und Erinnerung. Die ›Kriegsfilmwelle‹ im bundesrepublikanischen Kino der späten 1950er Jahre. In: Wendejahr 1959? Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen in gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten der 1950er Jahre. Hg. v. Maurizio Pirro/Matthias N. Lorenz. Bielefeld: Aisthesis 2011. S. 93–114. Judenbilder und literarischer Antisemitismus – Bemerkungen zur Forschungsgeschichte. In: Text ⫹ Kritik. Zeitschrift für Literatur 180 (2008). S. 115–124. Dr. CAROLA HÄHNEL-MESNARD, Dozentin für Neuere deutsche Literatur, Universität Charles de Gaulle – Lille 3. Forschungsschwerpunkte: DDR-Literatur, deutschsprachige Gegenwartsliteratur (Erinnerung an DDR und Nationalsozialismus), Gedächtnis und Literatur. Publikationen (Auswahl): La mémoire de la fuite et de l’expulsion chez Hans-Ulrich Treichel et Reinhard Jirgl – distanciation ou victimisation? In: Témoigner. Entre Histoire et Mémoire. Nr. 113 (2012). S. 38–50. Culture et mémoire. Représentations contemporaines de la mémoire dans les espaces mémoriels, les arts du visuel, la littérature et le théâtre. (Als Hg. mit Marie Liénard-Yeterian/Cristina Marinas). Palaiseau 2008. “Secrets de famille, non-dits ou tabous? Présence du passé national-socialiste dans la littérature contemporaine allemande”. Themenheft der Zeitschrift Allemagne d’Aujourd’hui Nr. 178 (2006). (Als Hg.). PHILIPP HAMMERMEISTER, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Geschichtswissenschaft und literarische Kulturen, Leuphana Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur, Erinnerungskultur, Erzähltheorie. Promoviert über Ethik und Erinnerung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Publikationen: “Vordringlichste Aufgabe ist es nun, wie ein Opfer sprechen zu lernen.” Täterschaft und Stimme in Marcel Beyers “Flughunde”. In: Von
342 Tätern und Opfer. Zur medialen Darstellung politisch und ethnisch motivierter Gewalt im 20./21. Jahrhundert. Hg. v. Claudia Nickel/Silke SeglerMeßner. Frankfurt a.M.: Lang 2013. S. 207–222. Regelmäßige Rezensionen zu deutschsprachiger Gegenwartsliteratur und Literaturwissenschaft. Prof. Dr. IRIS HERMANN, Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Universität Bamberg. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Klassischen Moderne, Imaginationen des Schmerzes in der Literatur, Jüdische Literatur nach 1945. Publikationen (Auswahl): Fährmann sein: Robert Schindels Poetik des Übersetzens. (Als Hg.). Göttingen: Wallstein 2012. “Möchte ich ein schwimmender Schreiber sein”. Von der “Wortsucht” in Robert Schindels Gedichtband “Wundwurzel”. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. Bd. 127, 2 (2008). S. 269–284. Doron Rabinovici: Im Kaleidoskop des Erzählens. Anmerkungen zum literarischen Prosawerk. In: Poetologisch-poetische Interventionen: Gegenwartsliteratur schreiben. Hg. v. Alo Allkemper/Norbert Otto Eke/Hartmut Steinecke. München: Fink 2012. S. 431–444. PD Dr. SILKE HORSTKOTTE, zurzeit Vertretung einer Professur am Institut für Germanistik, Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Erzählliteratur vom 17. bis 21. Jahrhundert, Literarische Visualität, Medienkulturwissenschaft, Literatur und Religion, Narratologie, Comicforschung. Publikationen (Auswahl): Poetiken der Gegenwart: Deutschsprachige Romane nach 2000. Berlin-New York: de Gruyter 2013. Marcel Beyer: Rhythmizität (und Exhumierung). In: Poetologisch-poetische Interventionen: Gegenwartsliteratur schreiben. Hg. v. Alo Allkemper/Norbert Otto Eke/ Hartmut Steinecke. München: Fink 2012. S. 299–314. Nachbilder: Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2009. Prof. Dr. SVEN KRAMER, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literarische Kulturen, Fakultät Kulturwissenschaften, Leuphana Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Kodierung von Gewalt in Literatur und Film, Holocaust-Literatur und -Film, Essay- und Essayfilm, literaturtheoretische und ästhetische Fragestellungen im Umfeld von kritischer Theorie, Dekonstruktion und kritischer Hermeneutik. Publikationen (Auswahl): Transformationen der Gewalt im Film. Berlin: Bertz ⫹ Fischer 2014 (im Erscheinen). Die Folter in der Literatur. Ihre Darstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa von 1740 bis ›nach Auschwitz‹. München: Fink 2004. Die Shoah im Bild (als Hg.). München: Edition text ⫹ kritik 2003.
343 Prof. Dr. HELMUT PEITSCH, Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur (19./20. Jahrhundert), Universität Potsdam. Forschungsschwerpunkte: Reisebeschreibungen um 1800, Stadtbeschreibungen im 19. Jahrhundert, ‘Vergangenheitsbewältigung’ in der Nachkriegsliteratur. Publikationen (Auswahl): Walter Boehlich – Kritiker. (Als Hg. mit Helen Thein). Berlin: Akademie Verlag 2011. Nachkriegsliteratur 1945–1989. Göttingen: V&R unipress 2009. “No Politics”? Die Geschichte des deutschen PEN-Zentrums in London 1933–2002. Göttingen: V&R unipress 2006. BASTIAN REINERT, M.A., Doktorand am Department of Germanic Studies der University of Chicago. Dissertation zu posthumen Stimmen in den Dramen von Samuel Beckett, Heiner Müller und Elfriede Jelinek. Forschungsschwerpunkte: Annette von Droste-Hülshoff, regelmäßige Rezensionen zur Literatur der Romantik für das E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch, Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Publikationen (Auswahl): Im Erscheinen und in Vorbereitung sind eine Monographie (“Wir taten ein Schweigen darüber”. Intertextualität als Zeugenschaft in Paul Celans ‘Engführung’. Würzburg: Königshausen & Neumann), eine Anthologie zu sprechenden Hunden in der Weltliteratur sowie Aufsätze zu Elfriede Jelinek, Paul Celan, Bernward Vesper und Rainer Werner Fassbinder. Dr. HELMUT SCHMITZ, Associate Professor of German (Reader), German Department, University of Warwick. Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur, deutschsprachige Erinnerungsliteratur zum Nationalsozialismus und zur Shoah. Publikationen (Auswahl): On Their Own Terms. The Legacy of National Socialism in Post-1990 German Fiction. Birmingham UP 2004. A Nation of Victims? Representations of German Wartime Suffering from 1945 to the Present. (Als Hg.). Amsterdam-New York: Rodopi 2007. Autobiographie und historische Krisenerfahrung. (Als Hg. mit Heinz-Peter Preußer). Heidelberg: Winter 2010. Prof. Dr. MARTIN SEXL, Universitäts-Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie, die Reflexion des Balkans und der Jugoslawienkriege der 1990er Jahre in Literatur, Fotografie und Film, Literatur und Lebenswelt/Empirische Literaturwissenschaft. Publikationen (Auswahl): Literatur als Bildkritik. Peter Handke und die Jugoslawienkriege der 1990er-Jahre. In: Kriegsdiskurse in Literatur und
344 Medien nach 1989. Hg. v. Karsten Gansel/Heinrich Kaulen. Göttingen: V&R unipress 2011. S. 89–106. Imagined Wars. Mediale Rekonstruktionen des Krieges. (Gem. mit Arno Gisinger). Innsbruck: Innsbruck UP 2010. Hotel Jugoslavija. Die literarische und mediale Wahrnehmung der Balkankonflikte. (Gem. mit Arno Gisinger). Innsbruck: Studienverlag 2008. Dr. KATJA STOPKA, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt zur Geschichte des DDR-Instituts für Literatur “Johannes R. Becher”, Deutsches Literaturinstitut Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Das Verhältnis von Literatur und Geschichte, kultur- und mediengeschichtliche Literaturwissenschaft, Geschichtskulturen und Wissensordnungen im digitalen Zeitalter. Publikationen (Auswahl): Fiktive Zeitgeschichten. Ein Plädoyer für eine historiographische Annäherung an die Literatur. In: Der historische Roman zwischen Kunst, Ideologie und Wissenschaft. Hg. v. Ina Ulrike Paul/Richard Faber. Würzburg: Königshausen & Neumann 2013. S. 79–94. ‘Beobachtete Beobachter’. Literarische Derealisierungstendenzen von Kriegsperspektiven. Am Beispiel der Journalistenromane “Die Fälschung” von Nicolas Born und “Das Handwerk des Tötens” von Norbert Gstrein. In: Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Hg. v. Carsten Gansel/Heinrich Kaulen. Göttingen: V&R unipress 2011. S. 119–136. Vertriebene Erinnerung. Transgenerationale Nachwirkungen von Flucht und Vertreibung im literarischen Gedächtnis. In: Keiner kommt davon. Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945. Hg v. Wolfgang Hardtwig/Erhard Schütz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. S. 166–184.
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“NACH DER MAUER DER ABGRUND”? (Wieder-)Annäherungen an die DDR-Literatur Band 83 – Herausgegeben von Norbert Otto Eke LITERATUR INTER- UND TRANSMEDIAL/ INTER- AND TRANSMEDIAL LITERATURE Band 82 – Herausgegeben von David Bathrick und Heinz-Peter Preußer COMMITMENT AND COMPASSION. Essays on Georg Büchner Band 81– Edited by Patrick Fortmann and Martha B. Helfer DEUTSCH-AFRIKANISCHE DISKURSE IN GESCHICHTE UND GEGENWART Literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven Band 80 – Herausgegeben von Michael Hofmann und Rita Morrien CONTEMPLATING VIOLENCE. Critical Studies in Modern German Culture Band 79 – Edited by Stefani Engelstein and Carl Niekerk GESCHLECHTERSPIELRÄUME. Dramatik, Theater, Performance und Gender Band 78 – Herausgegeben von Gaby Pailer und Franziska Schößler KARL PHILIPP MORITZ. Signaturen des Denkens Band 77 – Herausgegeben von Anthony Krupp WELTANSCHAULICHE ORIENTIERUNGSVERSUCHE IM EXIL / NEW ORIENTATIONS OF WORLD VIEW IN EXILE Band 76 – Herausgeber Reinhard Andress. Mitherausgeber E. Meyer und G. Divers SPATIAL TURNS. Space, Place, and Mobility in German Literary and Visual Culture Band 75 – Edited by Jaimey Fisher and Barbara Mennel