De Gruyter Book Archive (1933-1945) This title from the De Gruyter Book Archive has been digitized in order to make it
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German Pages 187 [188] Year 1937
Table of contents :
INHALT
NATION
ROUSSEAU
BURKE
JEFFERSON
FICHTE
HUMBOLDT
ITALIEN UND DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION
MAZZINI
HEGEL
RANKE
NACHWORT
OTTO VOSSLER D E R N A T I O N A L G E D A N K E VON R O U S S E A U BIS RANKE
O T T O VOSSLER
Der Nationalgedanke von Rousseau bis Ranke
M Ü N C H E N U N D B E R L I N 1937 VERLAG VON
R.OLDENBOURG
Copyright 1937 by R. Oldenbourg München and Berlin Printed in Germany Druck R. Oldenbourg, München
I N H A L T
Seite Nation Rousseau
7 21
Burke
54
Jefferson
77
Fichte
90
Humboldt
102
Italien und die Französische Revolution . . . .
116
Mazzini
132
Hegel
148
Ranke
175
Nachwort
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NATION
E s ist der Nationalismus die bedeutendste politische Kraft des 19. und 20. Jahrhunderts. So wie man das 16. und 17. Jahrhundert als das Zeitalter der Religionskämpfe bezeichnet, das späte 17. und das 18. als das der Aufklärung, so mag man das vergangene und gegenwärtige das Zeitalter des Nationalismus nennen. Denn in der Tat sind die großen politischen Umwälzungen etwa seit der Französischen Revolution in hervorstechendem Maße Ausdruck und Ergebnis nationalen Wollens. Wenn man die heutige Karte des Abendlandes mit der aus dem späten 18. Jahrhundert vergleicht, findet man, daß die Veränderungen dem Prinzip der Nationalität folgen — gewiß nicht überall in idealer und befriedigender Weise, aber doch in durchaus eindeutiger Richtung. Während die westlichen Staaten — England, Frankreich, Spanien — den äußeren, politisch-geographischen Rahmen fertig aus der Vergangenheit übernehmen können und ihn mit ihrem neuen nationalen Geiste erfüllen — ein Prozeß, der, so tiefgehend er ist, weniger augenfällig und sichtbar wirkt — haben andere Völker ihre nationale Befreiung und Einigung erst erkämpfen müssen. Im Zentrum steht •unsere deutsche Einigung von den Freiheitskriegen über 1848 zu Bismarcks Reichsgründung; etwa gleichzeitig hat im Risorgimento Italien die Einheit gefunden. Früher schon hat sich Belgien von den Niederlanden gelöst, Griechenland von der Türkei. Rumänen, Serben, Bulgaren, Albanier sind den selben Weg gegangen. Für die Habsburger Monarchie wird die Nationalitätenfrage immer mehr zur Lebensfrage, bis sie an ihr zerbricht. Wir selbst haben erlebt, wie die Polen, Litauer, Letten, Esten, Finnen ihre eigenen Staaten bekommen. 1905 hat sich Norwegen von Schweden getrennt. Die Engländer haben sich mit dem Nationalitätenproblem in Irland auseinanderzusetzen, man kann sagen, ununterbrochen; vor7
übergehend in Kanada, auf blutige und kriegerische Weise in Südafrika. Aber schon der Abfall ihrer amerikanischen Kolonien, 1776, der späteren Vereinigten Staaten, hat eine nationale Seite, ebenso wie später der Sezessionskrieg innerhalb der Union. Ähnliches läßt sich von dem Zusammenschluß britischer Kolonien zu großen einigen Dominions sagen oder von der Unabhängigkeitsbewegung der LateinAmerikaner sowie von manchen ihrer Kämpfe untereinander. Heute sehen wir, wie auch bei den Völkern außerhalb des abendländischen Kulturkreises, besonders bei den Asiaten, der Nationalismus Eingang findet und wer vermag zu sagen, ob er dort nicht Umwälzungen von noch größerem welthistorischem Ausmaße hervorrufen wird als er bei uns schon getan hat ? Aber der Nationalismus erschöpft sich noch keineswegs in solchen gewiß großartigen außenpolitischen, auf der Karte sichtbaren Revolutionen, in Kriegen und Grenzveränderungen, in der Sprengung oder Neuschöpfung von Staaten. Nicht minder groß ist der Wandel im Innern der einzelnen Staaten. Man vergleiche etwa das Heer eines absoluten Fürsten mit einem modernen Nationalheere: dort ein Berufs- und Söldnerheer im Dienst des Monarchen, hier ein ganzes Volk in Waffen zur eigenen Verteidigung. Wie mit dem Heerwesen geht es mit Erziehungswesen, Wirtschaftspolitik, Stellung zur Kirche, Verwaltung, Recht, kurz mit der Verfassung im weitesten Sinne. Man kann sagen, daß alle Gebiete staatlichen Lebens, die einen früher, die anderen später, diese stärker, jene schwächer „nationalisiert" werden. Endlich haben wir selbst erlebt, wie mit dem Faschismus und dem Nationalsozialismus der Durchbruch eines neuerwachten nationalen Willens noch weitere und weiteste Lebensgebiete, die früher als völlig un- und außerpolitisch gegolten hatten, erfaßt und durchdringt und wie er damit unser tägliches Dasein in ungeahnter Weise umgestaltet. Aber diese außenpolitischen und innerpolitischen Wandlungen sind beide wieder nur Ausdruck und Auswirkung einer tiefergehenden Umwälzung, die im Inneren der Menschen selber vor sich geht. Der Nationalismus hat nicht nur Grenzen und Reiche, Regierungen und politische Ein-
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richtungen aller Art verändert, er hat die Menschen selber anders gemacht als sie waren. Er hat ihnen einen neuen Glauben und Willen gegeben, einen neuen Halt und eine neue Haltung dem Leben gegenüber. Erst diese kaum zu überschätzende geistig-seelische Revolution, das veränderte Glauben und Fühlen, Denken und Wollen der Menschen, bricht durch in die politische Sphäre, schafft sich dort in mannigfachen Auseinandersetzungen mit fremden oder widerstrebenden Mächten die entsprechenden sichtbaren, politischen, praktischen, organisatorischen Formen. Es ist auch hier der Geist, der sich den Körper baut. Die Anfänge dieser Bewegungen wollen wir hier verfolgen. Und zwar nicht die ersten praktischen Auswirkungen, praktisch-politischen Regungen, also nicht etwa die ersten nationalen Verschwörungen, Aufstände, Erhebungen, Kriege und Einrichtungen — diese müssen uns aus der allgemeinen Geschichte vertraut sein — sondern wir beschäftigen uns mit den ersten geistigen Regungen, mit den geistigen Anfängen, Ursprüngen des Nationalismus. Es ist also Geistesgeschichte, politische Geistesgeschichte, die hier getrieben werden soll. Wir fragen daher nicht, wie entsteht der Nationalstaat, sondern, wie entsteht der Gedanke, der Wunsch, der Wille, die Verpflichtung zum Nationalstaat. Und das Entstehen, das Erwachen dieses Nationalgedankens und Nationalgefühls, wollen wir nicht in den tieferen, breiteren Kulturschichten verfolgen, wo der Prozeß verhältnismäßig unbewußt, ungebrochen, unkompliziert oder dumpf und elementar ist, sondern in den Höhen und Gipfeln der Kultur, bei den großen Erweckern und Führern oder Helden, die von dem neuen Glauben nicht bloß ergriffen werden, sondern mit ihm und um ihn ringen, sich mit ihm auseinandersetzen, ihn schaffen, entwickeln, ausbauen, vorwärtsführen. Diese geistigen Väter des Nationalismus, die wir der Reihe nach abfragen, seien: Rousseau, Edmund Burke, der Engländer, der Amerikaner Jefferson, die frühen deutschen Patrioten Fichte und Humboldt, Italien während der Französischen Revolution, Mazzini, der Apostel des Risorgimento und endlich Hegel und Ranke, die dem nationalen Gedanken seine erste Vollendung geben.
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Wir wollen nun unsere Aufgabe nicht damit beginnen, daß wir den Begriff des Nationalismus in einer Definition säuberlich abgrenzen und festlegen. Diese Methode würde hier wie gegenüber allen historischen und lebendigen Erscheinungen nicht weit führen. Wenn wir etwa fragen wollten, was ist Nationalgefühl, so lautet eine spontane und ehrliche Antwort: das ist uns eine Selbstverständlichkeit. Und das ist auch gut so in vieler Beziehung. Doch wird es nichts schaden, wenn wir unseren Nationalbegriff, der sehr wahrscheinlich zu starr und zu eng sein dürfte, statt ihn durch Definitionen zu dogmatisieren, im Gegenteil durch einige kurze Überlegungen lieber ein wenig in Bewegung bringen und lockern und damit wirklichkeits- und lebensnäher machen. Wir wollen auf diese Weise eine Reihe von Mißverständnissen und Unklarheiten gleich hier aus dem Wege räumen, die uns später immer wieder fragend und störend entgegentreten könnten. Beim Begriff Nation denkt man bei uns gemeinhin an gewisse Kennzeichen wie gemeinsames Land, gemeinsame Rasse, gemeinsame Geschichte und Erinnerung, oft, nicht immer, gemeinsame Religion, gemeinsame Kunst, Philosophie, kurz gemeinsame Kultur; am leichtesten erkennbar erscheint er an der gemeinsamen Sprache. Dem Nationalgedanken, so meint man weiter, entspricht es, wenn eine solche Kulturgemeinschaft — um sie mit einem Schlagwort zu nennen — zugleich eine politische Gemeinschaft ist, die ihren eigenen Staat hat, eben den Nationalstaat. Diesem Gedanken liegt eine sehr richtige und sehr wichtige Unterscheidung zugrunde, die wir beachten müssen, die Unterscheidung von Kulturnation und Staatsnation. Eine italienische Kulturnation gibt es, seit es eine italienische Literatursprache gibt, seit 700 Jahren etwa; eine italienische Staatsnation dagegen erst seit 1860 oder 1870, seit die alte italienische Kultur ihren politischen Ausdruck in einem einigen italienischen Staat gefunden hat. Ähnlich liegt der Fall bei uns Deutschen und bei einer ganzen Reihe von Völkern, bei denen die Nationalkultur älter oder fester ist als der entsprechende Nationalstaat, oder genauer: als der politische Wille zum nationalen Staat. Daß wir uns hier lediglich mit der politischen Seite der Sache beschäftigen wollen, braucht 10
wohl kaum erst betontzu werden. Wir haben es nur mit der Entstehung der Staatsnation, des politischenNationalismus zu tun. Wie aber steht es denn mit jener eben erwähnten Forderung, die wir geneigt sind als den Kern, das Wesen des Nationalismus zu empfinden, der Forderung nämlich, daß die Angehörigen derselben Kulturnation, desselben Volkes, zugleich Angehörige desselben, eben des nationalen Staates sein sollen ? A m besten wird dies an einem Beispiel deutlich: Die Grenzen des deutschen Volkes, des deutschen Sprachgebiets, sind sehr viel weiter als die des deutschen Staates. Nahezu überall wohnen jenseits der Reichsgrenzen Deutsche. Wir empfinden diesen Zustand fast überall als bitteres Unrecht, als eine krasse Verletzung des Nationalgedankens — wenigstens in den meisten Fällen, nicht in allen. Die Deutsch-Schweizer sind auch Angehörige unserer Kulturnation, nicht aber Angehörige unseres Staates; sie sind Deutsche kulturell gesehen, nicht aber politisch gesehen. Unser Nationalgedanke aber — und darauf kommt es hier an — fühlt sich durch diesen Zustand in diesem Falle nicht verletzt. Wir würden es lächerlich und anmaßend finden, wenn Einer kommen wollte und uns sagen: Ihr Deutsche empfindet nicht national, weil ihr die Schweiz nicht erobern wollt. Nein, im Gegenteil, gerade weil wir national empfinden, denken wir nicht daran, die Schweiz zu erobern. Die Schweizer haben genau das gleiche Recht auf ihren Staat, wie wir auf den unsrigen. Und die Franzosen, die doch auch etwas von Nationalismus verstehen, sind gar nicht unglücklich darüber, daß französisch-sprechende Menschen unter dem Schweizer Banner leben. Aus diesem Fall kann man jedenfalls soviel entnehmen, daß der Nationalgedanke in der Wirklichkeit, selbst was seine Kern- und Kardinalforderung angeht, keineswegs so starr und dogmatisch und eindeutig ist, wie ein theoretisch festgelegter, abstrakter Nationalgedanke, den es aber in Wirklichkeit gar nicht gibt. Uns geht nur die Wirklichkeit an und die ist bunt und lebendig und vielgestaltig. Man lasse sich also nicht stören und verwirren durch einen abstrakten, schulmäßigen, sogenannten vollkommenen Nationalgedanken, sondern man halte sich an den konkreten, an den realen, wie er ist. Ii
Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Als unter dem Einfluß der französischen Revolutionslehren und -heere die Cisalpinische Republik entstand, ein erster unverkennbarer Ansatz zu einem italienischen Nationalstaat, sind die italienischen Patrioten von Mailand sogleich über die Grenze gezogen ins Tessin, um ihre italienischen Brüder dort von der Schweizer Herrschaft zu befreien und mit sich zu vereinen. Die Tessiner waren aber gar nicht damit einverstanden, bewaffneten sich und warfen die Italiener aus dem Land. Ihr Wahlspruch, wie er auf dem Denkmal in Lugano 2u lesen steht, lautete dabei: Liberi e Svizzeri o Morte, Frei und Schweizer oder Tod. — Wer von beiden vertritt hier den Nationalismus ? Die Italiener, die da sagen, ihr seid Italiener und gehört zu uns, oder die Tessiner, welche antworten, nein, wir sind Schweizer und gehören zur Schweiz ? Nach dem bisher Gesagten muß die Antwort lauten: Beide denken und handeln national. Die Italiener berufen sich auf eine Gruppe von Kennzeichen der Nation, Sprache, Rasse, Geographie usw. und bestimmen danach die politische Zugehörigkeit, die Tessiner berufen sich auf eine andere Gruppe, auf Geschichte, Erinnerungen, Schicksalsgemeinschaft und — sagen wir — den Zug des Herzens und kommen zu einem anderen Ergebnis. Es geht aber nicht an, von vornherein zu behaupten, das eine sei der richtige Nationalgedanke, das andere der falsche, oder auch, sie seien beide falsch. Das hieße die lebendige historische Wirklichkeit auf ein Prokrustesbett der Abstraktion legen. Gewiß haben weder die Tessiner noch die Italiener unseren Nationalbegriff. Es wäre falsch, zu verlangen, daß sie ihn haben sollten — wir haben ja auch nicht den ihrigen. Und je genauer man die Geschichte betrachtet, desto deutlicher sieht man, daß jede Nation ihren eigenen und besonderen NationalbegrifF hat, der von denen der anderen verschieden ist. Die eine Nation legt den Akzent etwa auf das sprachliche Moment, bei einer zweiten steht dieses mehr im Hintergrund, während eine dritte gar völlig darauf verzichten kann — je nach dem konkreten Fall, nach der besonderen Lage. Und im Tessin sehen wir, wie zwei verschiedene Nationalbegriffe miteinander in Konflikt geraten. Beispiele dieser Art ließen sich fast beliebig vermehren. Wir kommen also zu dem Ergebnis: 12
Es gibt gar nicht den Nationalismus, einen einzigen Allerweltsnationalismus, sondern mehrere, verschiedene Nationalismen. Jede Nation hat ihren eigenen, ihr und ihr allein gemäßen Nationalbegriff — genau so, wie es nicht den Staat gibt, einen Allerweltsstaat, sondern viele konkrete Staaten, von denen jeder wieder anders aussieht. Wenn man etwas über den Staat wissen will, muß man sich eben die konkreten Staaten ansehen — ebenso verhält es sich mit der Nationalität. Wir werden auch in unseren Betrachtungen sehr verschiedenen Nationalbegriffen begegnen. Noch ein weiteres Beispiel: Die Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika bilden eine Nation. Daran ist nicht zu zweifeln. Sie haben sogar einen auffallend stark entwickelten Nationalsinn, einen Nationalstolz bis zum Jingoism, ein äußerst kräftiges und waches Nationalbewußtsein und Nationalgefühl. Wenn sie etwas als „unamerican", als unamerikanisch bezeichnen, so bedeutet das für sie gewiß keine schwächere Ablehnung als für uns die entsprechende Bezeichnung „undeutsch". Und doch, so ausgeprägt der amerikanische Nationalstaat ist, gibt es eine spezifisch amerikanische, von der englischen oder gar kanadischen verschiedene Nationalkultur, in der jener amerikanische Staat wurzelt, so wie zum deutschen Staat eine deutsche Kultur gehört ? Darüber läßt sich streiten. Um uns die Sache einfacher und klarer zu machen, greifen wir zurück auf die Anfänge der amerikanischen Nation. Eine amerikanische Nation — Staatsnation — gibt es seit der Unabhängigkeitsund Einheitsbewegung, also seit dem Abfall der 13 Kolonien vom englischen Mutterland im Jahre 1776. Vorher gehören die Amerikaner sowohl kulturell wie politisch zur englischen Nation; sie sind überzeugte und selbstbewußte Engländer, stolz auf ihre englische Bildung wie auf die Größe des britischen Staates, dem sie angehören. Nach dem Abfall sind diese selben Menschen zu Amerikanern geworden, zu ausgesprochenen, selbstbewußten, gelegentlich chauvinistischen amerikanischen Nationalisten. Aus der einen englischen Nation hat sich hier eine zweite, neue, die amerikanische abgespalten und selbständig gemacht. Was aber hat sich da geändert, um die neue Nation zur Entstehung zu bringen ? Die sämtlichen sogenannten Kennzeichen, von denen wir
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sprachen, sind gleichgeblieben, die Sprache, die Rasse, die Religion, die Geographie, überhaupt die Kultur ist nach 1776 dieselbe wie vor diesem Datum und auch die Geschichte ist bis zum Ausbruch des Streites die nämliche geblieben. Und mit all diesen Kennzeichen, mit Nationalkultur und Volkstum, die bei unserer Befreiung und Einigung eine so große Rolle spielen, hat die Entstehung des amerikanischen Nationalbegriffs kaum etwas zu tun. Die Amerikaner werden sich ihres Anders-Seins gegenüber England und ihres Gemeinsam-Seins untereinander nicht an solchen kulturellen Dingen bewußt, die sie ja mit den Engländern teilen, sondern an politischen. Sie haben in den 150 Jahren ihrer Kolonialzeit allmählich, ohne es recht zu wissen, andere politische Einrichtungen, einen anderen politischen Glauben und Willen entwickelt oder auch beibehalten als das Mutterland. Bei Gelegenheit einer rein politischen Frage, der Besteuerung und Verfassung, wird dieses Anders-Sein, die nationale Eigenart der amerikanischen politischen Ideale im Gegensatz zu den englischen politischen Vorstellungen bewußt, es kommt zum Konflikt und Bruch, sie trennen sich vom Britischen Reich und gründen ihren eigenen Staat. Er soll ihr besonderes, ihr national-amerikanisches politisches Denken und Wollen verwirklichen und bewahren, wie es im alten Britischen Reich nicht mehr möglich war. Also der amerikanische Nationalbegriff kristallisiert sich nicht um allgemein kulturelle, sondern um spezifisch politische Güter, nicht um ein Volkstum, sondern um spezifisch politische Ideale, wie Freiheitsrechte, Demokratie, Selbstverwaltung usf. Kurz, wir haben hier in der Union, besser in der Frühzeit der Union, den Fall eines Nationalbegriffs, der ganz einseitig auf politischem Gebiete entsteht und sich entwickelt, ohne wesentliche und tiefere Verbindung oder Verwurzelung mit einer nationalen Kultur. Gewiß ist dieser amerikanische Nationalbegriff sehr verschieden von dem unsrigen — deshalb erwähnen wir ihn gerade. Aber wenn wir deshalb den Amerikanern sagen wollten: Ihr seid ja gar keine Nation, weil ihr nicht eine nationale Sprache habt, so würde das bei ihnen schallendes Gelächter hervorrufen. Und sie könnten uns mit demselben Recht, oder vielmehr mit demselben Unrecht, antworten: Ihr Deutsche seid keine
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Nation, weil ihr keine Nationalverfassung habt, wie wir sie seit anderthalb Jahrhunderten heilig halten. Da wäre an uns die Reihe, zu lachen. Wir brauchen eben kein nationales Verfassungsideal, unser Nationalbegriff zentriert um ganz andere Dinge, wurzelt in den Tiefen unseres Volkstums. Wenn drüben in Amerika eine Nation neu entstanden ist, die es vorher nicht gegeben hatte, nicht einmal als Kulturnation, gibt es dann vielleicht auch den umgekehrten Fall, daß eine Nation verschwindet ? Gewiß, da brauchen wir gar nicht weit zu suchen. So feine und kräftige Denker wie Ranke und Hegel haben ihren Nationalbegriff wesentlich ausgerichtet an der preußischen Nation. Für Ranke und Hegel — und die müssen es doch wissen — ist Preußen eine Nation, geradezu d i e Nation. Wir heutigen Deutschen haben zwar vom Nationalbegriff jener beiden Großen sehr Vieles und äußerst Wertvolles beibehalten — aber heute und für uns ist Preußen doch keine Nation. Sie ist es gewesen, aber sie ist es nicht mehr, sie ist verschwunden, aufgegangen in der deutschen Nation, der einzigen, die es heute für Deutsche gibt. Dabei haben sich die Kennzeichen der Nation, Sprache, Rasse, Boden, Volkstum, Kultur, Religion, nicht geändert, sie waren und sind deutsch. Auch die Änderung des politisch-organisatorischen Faktors ist nicht entscheidend; wenn auch reduziert, es gibt ja noch einen preußischen Staat. Aber er ist nicht mehr erfüllt von einem preußischen Nationalbewußtsein. D a s ist das Entscheidende, dieses ist verschwunden und vielleicht wird auch seine politische Organisation, die noch stehengeblieben ist, als „überlebt", als tote Schale weggeräumt werden. Dieses preußische Beispiel bringt uns zu einer weiteren Beobachtung. Wenn wir vorhin gesagt haben, es gibt nicht einen einzigen, einen Allerwelts-Nationalbegriff, der für alle paßt, sondern jedes Volk hat seinen eigenen, nur ihm gemäßen Nationalbegriff, der sich nicht auf andere Völker übertragen läßt, so können wir jetzt hinzufügen: Auch dieselbe Nation hat nicht immer denselben, gleichbleibenden Nationalbegriff, sondern er ändert sich in der Zeit, von Epoche zu Epoche. Unser deutscher Nationalgedanke von heute ist nicht derselbe wie zur Zeit der Befreiungskriege oder wie noch während des Weltkrieges. Man denke nur, 15
wie das Moment der Rasse entscheidend in den Vordergrund getreten ist, während es früher nicht entfernt diese Rolle gespielt hat in unserem nationalen Denken. Dieses hat sich eben geändert. Bis hierher nun haben wir den so deutlich und selbstverständlich scheinenden Begriff der Nation immer mehr aufgelockert, ausgeweitet, und jetzt sind wir in Gefahr, ihn völlig aufzulösen und zu verlieren. Wir müssen fürchten, daß uns schließlich gar nichts mehr in der Hand bleibt, denn die Kenn2eichen sind eines nach dem anderen weggeschmolzen und zuletzt geriet der einzelne Nationalbegriff sogar in seinem eigenen Lande ins Fließen und Schillern. Gibt es denn überhaupt nichts Festes mehr ? Wenn alle Kennzeichen wanken, entbehrlich sind, was ist es dann, was eine Nation zu einer Nation macht ? Zur Antwort möchte ich doch eine Definition zitieren: Eine Nation ist was eine N a t i o n sein will. Die Formulierung stammt von dem bekannten französischen Schriftsteller und Historiker Ernest Renan, der Gedanke freilich ist sehr viel älter, so alt wie der Nationalismus selbst. — Eine Nation ist was eine Nation sein will; hier wird also von allen mehr oder weniger äußeren oder äußerlichen Kennzeichen abgesehen und der Nationalbegriff verinnerlicht und vergeistigt — das Wesen der Nation wird im nationalen Willen erkannt. So wie die einzelne Persönlichkeit erst durch Bewußtsein und Willen zu einer solchen wird, nicht schon durch ihre bloß physische Existenz, die auch das kleine Kind hat, so entsteht auch die Kollektivpersönlichkeit der Nation erst durch das Kollektivbewußtsein und den Kollektivwillen. Es ist tatsächlich so, daß keines der sogenannten Kennzeichen unentbehrlich, keines wesentlich ist, außer dem einen: dem nationalen Willen. Wo kein Nationalbewußtsein und -wille ist, da ist auch keine Nation und mögen auch alle anderen Kennzeichen noch so vollzählig und in Ordnung sein. Wir können es dann bestenfalls mit einer Kulturnation zu tun haben, mit einer Staatsnation aber erst, wenn der politische Gemeinwille erwacht ist, erst wenn der Rütlischwur getan ist: Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern ! — So gehören wir zur Deutschen Nation, nicht eigentlich weil wir deutsch reden — das tun auch die Schweizer 16
und noch viele andere — sondern weil wir uns zu dieser nationalen Gemeinschaft bekennen, für sie eintreten, für sie kämpfen, weil wir sie wollen. Die Saarländer gehören zu uns, weil sie wollen; und die anderen Volksgenossen außerhalb des Reiches, die, durch Gewalt getrennt, zu uns gehören wollen, sie gehören auch zu unserer Nation, ganz gleich, welche Staatsangehörigkeit man ihnen aufgezwungen hat. Die Schweizer dagegen gehören nicht zu uns, weil sie nicht wollen. Sie wollen Schweizer sein, Eidgenossen. Die Amerikaner bilden eine Nation, weil sie als solche fühlen, denken und wollen. Die Preußen dagegen sind keine Nation mehr, weil ihr preußischer Nationalwille gestorben ist. Das ist alles klar: Der Wille entscheidet über die Nationalität. Etwas anderes freilich ist es, wenn wir nun weiter fragen: Warum will denn gerade diese Gruppe von Menschen sich zu einer nationalen Gemeinschaft zusammenschließen und nicht eine andere, größere oder kleinere ? Warum weist Nationalbewußtsein und Nationalwille die Saarländer zur deutschen Nation und nicht zur französischen oder gar zur portugiesischen ? Hier ist es an der Zeit, daß wir jene Kennzeichen, die wir so schlecht behandelt und zuletzt alle miteinander ausgewiesen haben, wieder hereinholen. Denn jetzt können wir sie brauchen. Der nationale Gemeinwille entsteht und lebt ja nicht in einem luftleeren, abstrakten Räume, sondern in der Wirklichkeit und erhält von ihr erst Farbe, Richtung, Inhalt. Er ist frei, aber nicht willkürlich, er ist gebunden, gebunden an die Gemeinschaft des Bodens, der Landschaft, der Rasse, der Sprache, der Religion, der Erinnerungen, der Erlebnisse und Schicksale, der staatlichen Einrichtungen, mit einem Wort, an die Geschichte. Und da ist es nun eine historische Erfahrung, nicht aber eine logische Forderung, daß ein nationaler, politischer Gemeinwille mit Vorliebe diejenigen Menschen erfaßt, die schon in einer Sprach- und Kulturgemeinschaft leben. Sie sprechen e i n e Sprache und wollen nun e i n e n Staat bilden. Das tritt nicht immer ein und niemals genau, aber oft und in der Hauptsache; noch am besten stimmt es im Falle von Italien. In einem anderen Fall kann der Nationalwille statt in einer Sprachgemeinschaft in einer schon bestehenden staatlichen Gemeinschaft erwachen, diese zuVossler, Nationalgedanke 2
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sammenfassen, wie in der Schweiz. Es können, ja müssen aber auch eine Vielzahl anderer Momente bei der nationalen Willensbildung fördernd oder hemmend dazukommen. Eine Regel gibt es da nicht; bei jeder Nation ist die Stärke und das Verhältnis der einzelnen Momente wieder anders, einmalig, unwiederholbar. — Nicht der geringste Vorzug jener zitierten Definition liegt gerade darin, daß sie das Auswahlprinzip, nach dem der Nationalwille nur bestimmte Menschen zusammenfaßt zu einer nationalen Gemeinschaft und alle anderen davon ausschließt, daß sie dieses Auswahlprinzip offen läßt. Man kann es wohl erkennen und verstehen, man kann es beobachten und beschreiben, indem man in der Geschichte verfolgt, wie eine bestimmte nationale Willensgemeinschaft sich zusammengefunden und gebildet hat, wie eine zweite, dritte, vierte usw. — und man wird finden, daß jede einen anderen Weg gegangen ist, jede nach ihrem eigenen Auswahlprinzip zusammenschmilzt zur Einheit. Dieses aber ein für allemal festzulegen und die Kennzeichen der Nation in einer Tabelle aufzureihen, ist unmöglich. Man hat es oft genug versucht, die Nationalität in äußeren Dingen zu finden, als könnte man sie zusammenaddieren, statt sie da zu suchen, wo sie allein ist, im Inneren, in Herz und Kopf, um sie von da aus zu begreifen. Herz und Kopf aber sind ihrerseits gebildet durch die Geschichte. Warum gehören wir zur deutschen Nation ? Weil wir wollen ! Und wenn einer weiterfragt: Warum wollt ihr? dann fangen wir nicht an, aufzuzählen und zu addieren von der Landschaft bis zum Sauerkraut, sondern sagen, betrachtet unsere Geschichte, dann werdet ihr es verstehen, denn unsere Geschichte bindet unseren Willen; sie hat uns hierher gestellt auf unseren Posten als Deutsche. Dann werdet ihr auch wissen, warum die Saarländer zu uns gehören, die Schweizer aber nicht. Mit Kennzeichen aber, mit Tabellen, Prinzipien, Definitionen, Dogmen, läßt es sich nie verstehen. Hier mag sich noch eine letzte, naheliegende Frage melden. Wenn wir den nationalen Willen ausschließlich durch die Geschichte bestimmt sein lassen, kommt da nicht dasjenige Moment zu kurz, das gerade in unserem neuerwachten deutschen Nationalbewußtsein eine so hervorragende Rolle spielt, die Rasse ? Sind wir mit unserer heutigen Er18
kenntnis von der Blutsbedingtheit des politischen Willens nicht vorgestoßen in Gebiete, die jenseits, vor oder über der Geschichte liegen, und müssen wir daher, um die letzten und tiefsten Quellen unseres nationalen Wollens zu erkennen, nicht über die „bloß historische" Bedingtheit hinaus zu dem Urgrund des Naturhaften hinabsteigen ? Ganz gewiß, von jenem tiefsten Urgrund ererbter Art müssen wir heute das Nationale herleiten, wir müssen auf die blutsmäßige Bindung und Bedingtheit des nationalen Gemeinschaftswillens achten und erkennen, daß dieser nationale Wille durch Naturentfremdung Schaden leidet. Nur dürfen wir, wenn wir diesen rassischen Momenten nachgehen, nicht etwa glauben, daß wir damit gewissermaßen das Hoheitsgebiet der Geschichte überschritten und verlassen haben und in ein anderes Reich überlegenen Ranges, das Reich der Natur übergegangen seien. Es ist hier nicht der Ort und auch nicht die Notwendigkeit zu einer philosophischen Untersuchung des Verhältnisses von Natur und Geschichte. Soviel aber kann gesagt werden: Mit einer solchen vermeintlichen „Rangerhöhung" zum „Überhistorischen" würden wir dem rassischen Faktor einen sehr schlechten Dienst erweisen. Ihn so „über" die Geschichte stellen, würde nämlich heißen, ihn außerhalb der Geschichte stellen, ihn metahistorisch oder geschichtsfremd machen, kurz, ihn aus der historischen Wirklichkeit hinausdrängen. Wenn er aber historisch wirken können soll, müssen wir ihn gerade in die Geschichte hereinnehmen, oder besser, wir müssen ihn in der Geschichte lassen, wo er ja schon immer gewesen ist. Anders ausgedrückt: Die moderne Erkenntnis des rassischen Faktors hat die historische Welt nicht etwa überschritten oder gar gesprengt, sondern sie hat sie verändert, verfeinert, vertieft, bereichert. Man darf sich aber das rassische Moment — so hoch man auch seine Bedeutung anschlägt — nicht als eine vor-, un- und außerhistorische Macht vorstellen, die von außen her als etwas Fremdes, auf unbegreifliche Weise in die Geschichte eingreift. Eine solche Vorstellung würde zu Schwierigkeiten und unerwünschten Folgerungen führen. Sondern Rasse wirkt statt auf die Geschichte d u r c h die Geschichte, i n der Geschichte, ja selber als Geschichte. Man kann also sagen, der rassische 19
Faktor ist selber ein historischer Faktor; in der historischen Bedingtheit — des nationalen Willens zum Beispiel — ist also die blutsmäßige Bedingtheit inbegriffen und mitenthalten. Soviel allerdings müssen wir noch bedenken: Die Erkenntnis, daß zu den vielerlei historischen Faktoren, wie wir heute wissen und eben sagten, auch der rassische gehört und vor allem die Erkenntnis, welche Rolle er in der Geschichte und insbesondere .bei der Bildung des nationalen Willens spielt, ist sehr neu und spät. Den Männern, denen wir im folgenden lauschen wollen, war sie noch so gut wie ganz fremd. Liegen doch ihre letzten Äußerungen fast genau ein Jahrhundert zurück und vor einem Jahrhundert hat man sich mit Rassefragen noch kaum beschäftigt. Von dem naturhaften, rassischen Element im nationalen Denken werden uns daher dessen frühe Vorkämpfer nur sehr wenig oder gar nichts zu sagen wissen. Bescheiden wir uns damit. Ist es doch wahrlich genug, was wir ihnen verdanken. Und erinnern wir uns nochmals daran: Der Nationalgedanke ist nicht an einem Tage entstanden, fix und fertig in seiner heutigen Gestalt •—• er ist allmählich geworden und gewachsen, hat sich geändert und entwickelt und entwickelt sich noch heute, denn er lebt. Damit sollen diese vorbereitenden allgemeinen Betrachtungen abschließen. Eine Begriffsbestimmung der Nation haben sie nicht gegeben, wollten sie auch nicht geben. Aber so viel haben wir erkannt und darauf kommt es uns an: Nation ist nicht etwas Äußerliches, körperlich Faßbares, sondern etwas wesentlich Innerliches, sichtbar nur an seinen Wirkungen; sie ist nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht statisch, sondern dynamisch, nicht ein Haben, sondern ein Erwerben, nicht ein fertiges Geschenk, das man beruhigt und zufrieden einstecken kann, sondern eine Verpflichtung, die man täglich neu erfüllen muß; Nation ist Gemeinschaft des Fühlens und Glaubens, des Bewußtseins und Denkens, vor allem aber Gemeinschaft des politischen Wollens und Tuns.
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ROUSSEAU
Lehren die vorhergehenden Überlegungen, daß eine Nation im politischen Sinne nicht etwas Äußerliches und Körperliches ist, nicht etwas Gegebenes, das ohne unser Zutun schon immer da war, so wissen wir doch, daß sie erst erwachen, bewußt werden und entstehen mußte durch einen Rütlischwur sozusagen, daß sie in erster Linie politischer Gemeinwille ist. Richtung und Inhalt dieses Willens wurden zunächst offengelassen mit der Begründung, daß sie von Volk zu Volk und von Epoche zu Epoche wechseln, daß sie sich nicht ein für allemal festlegen und bestimmen, sondern nur historisch betrachten und verstehen lassen. — Solche historische Betrachtung des Erwachens des Nationalgefühls soll mit dem Genfer Jean-Jacques Rousseau (17x2 bis 1778) einsetzen. Er ist durch vielerlei Leistung und durch Anregungen auf mancherlei Gebieten bekannt; weniger bekannt dagegen dürfte es sein, daß er, indem er als Erster eine breite Bresche in das herrschende Denken seiner Zeit schlug, den Weg erst freigemacht hat für das Vordringen des Nationalismus. Rousseau ist der erste und man kann vielleicht sagen, der bedeutendste unter den Erweckern des nationalen Denkens und Wollens. Wenn man nun wissen will, worin die Leistung des Genfers für den Nationalismus besteht, muß man sich vorher fragen, was denn jenes sperrende Hindernis war, in das er eine Bresche für den Nationalgedanken geschlagen hat. Wie sah der Gegner aus, den er überwunden hat ? Man muß sich vorher fragen, warum gibt es denn in der Aufklärung keinen Nationalismus, warum denken ein Locke und Thomas Paine, Voltaire und die Enzyklopädisten, Filangieri und Beccaria, Christian WolfF und Pufendorf, warum denken sie alle und ihre Zeitgenossen nicht national, warum können sie es nicht ? Dafür gibt es eine ganze Menge von weltanschaulichen Gründen — denn mit ihnen wollen wir uns
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beschäftigen — und wir werden sie nacheinander kennen lernen, in dem Maße, wie sie einer um den anderen überwunden oder beseitigt werden. Jetzt aber wollen wir nur dasjenige Hindernis des nationalen Denkens und Wollens herausstellen, das Rousseau angegriffen und umgestürzt hat. Das ist die rationalistische Auffassung vom Menschen und vom Staat, und das dementsprechende Verhältnis des Menschen zum Staat, wie es grundsätzlich gleich von allen jenen Denkern, von Locke bis Pufendorf gesehen wird. Bekanntlich wird nach dem vorwiegend religiös und auf das Jenseits hin ausgerichteten Zeitalter als neue Richtschnur des Lebens, man könnte sagen als neue Gottheit, die Vernunft entdeckt und auf den Altar erhoben. Sie ist das klare, unfehlbare, allwirkende und allheilende, beglückende Prinzip, die die Welt beherrschende und weltordnende, höchste Macht, sie erhält im Universum, in der Welt der Natur und in der Welt des Menschen die Harmonie. Spiegel, Finder, Träger der Vernunft ist der einzelne Mensch, das Individuum. Daher seine Unantastbarkeit und Würde. Das Individuum hat an der Vernunft einen unfehlbaren Kompaß in sich, nach dem es sich richten kann und muß, es bedarf aber nicht mehr der Hilfe und Vermittlung einer göttlichen Offenbarung oder einer kirchlichen Heilsanstalt oder irgendwelcher Autorität. Die Vernunft allein, die in ihm spricht, genügt dem Individuum. Es trägt mit der ratio alles, was es braucht, in sich selbst, bedarf keiner fremden Weisung. In sich geschlossen, sich selbst genügend, sich selbst führend und unabhängig, in sich vollkommen kraft seiner Vernunft, so steht das autonome und souveräne Individuum da. Es gehorcht nur der, d. h. seiner Vernunft. Sie und nichts und niemand anders sagt ihm, wie es sich in der Welt zurechtfinden kann, was es tun und lassen muß, was wahr ist und falsch, was nützlich ist und schädlich, was gut ist und böse. Sie sagt ihm auch durch die Vernunftmoral, das Vernunft- oder Naturrecht, wie es sich zu den anderen Individuen zu verhalten hat, mit denen es zusammenlebt. Da lautet der erste und Ursatz der Naturmoral: Behandle die anderen so, wie du wünschest, daß die anderen dich behandeln. Also positiv: Tue den anderen Gutes — die 22
humanitäre Forderung. Negativ führt dies zu der nicht unbedenklichen Anschauung: Solange du niemand schadest, kannst du tun, was dir gefällt. Folgst du der Vernunft, bist du nicht nur tugendhaft, sondern auch glücklich. Tugend lohnt sich. Es folgen logisch andere Sätze über Unverletzlichkeit des Lebens, des Eigentums, der Freiheit, freiwillig geschlossener Verträge und anderes mehr. Kurz, nicht nur das Einzelindividuum, sondern auch die Gesellschaft wird durch die eindeutigen Gebote der Vernunft gelenkt und in Ordnung gehalten, ohne daß es da einer weiteren Autorität oder übergeordneten Macht bedürfte. Vernünftige Menschen können in einer vernünftigen Gesellschaft zusammenleben und eine hohe Kultur entwickeln, ohne einen Staat nötig zu haben. Man glaubte auch vielfach, daß früher im Naturzustand solches der Fall gewesen sei. Warum gibt es dann überhaupt den Staat ? Es wird eben leider die Stimme der Vernunft, die zwar in allem spricht, nicht auch von allen gehört und befolgt. Es gibt Menschen, die lieber auf die Stimme ihrer Leidenschaften hören und die werden Diebe, Räuber, Mörder, Ehebrecher, Schwindler, Unterdrücker, Eroberer — lauter bedauerlich unvernünftige Wesen. Sie sind für die friedlich wohlgeordnete vernünftige Gesellschaft störend und gefährlich. Zwar steht jedem Individuum das Recht der Selbsthilfe und Notwehr gegen sie zu, aber die Ausübung dieses natürlichen Rechts durch den Einzelnen ist lästig und unrationell. Viel besser und wirksamer schafft man eine eigene Einrichtung zur Wiederherstellung und Sicherung der gestörten oder bedrohten Ordnung und Ruhe der vernunftgemäßen Gesellschaft: eben den Staat. — Es ist uns die Lehre von der Entstehung des Staates durch den Staatsvertrag schon bekannt, wir erinnern nur an ihre Grundzüge. Die souveränen Individuen schließen untereinander freiwillig einen Vertrag auf Gegenseitigkeit, nach welchem sie ihre Rechte der Notwehr und Selbsthilfe, eventuell noch andere, abtreten, delegieren an den Staat. Dieser richtet eine Regierung ein, eine Polizei, ein Heer, Gerichte, um Streitigkeiten friedlich zu schlichten. Er kann auch, braucht aber nicht, noch weitere Aufgaben dazu übernehmen, die über die Kraft der Einzelnen hinausgehen, wie etwa den Bau von Straßen, Brücken, Kanälen, Hafen 23
u. ä. Kurz, der Staat ist nach dieser Lehre eine zweckmäßige Einrichtung, die die Individuen geschaffen haben, zur besseren Wahrung und nötigenfalls zwangsweisen Sicherung der präexistenten, vernunftgemäßen Gesellschaftsordnung gegen ihre inneren und äußeren unvernünftigen Feinde und zur Förderung ihres eigenen persönlichen Glücks. Es versteht sich, daß dieser Staat für die Individuen da ist. Sie haben ihn ja gemacht, damit er für ihre Ruhe und Wohlfahrt sorge. Dafür also ist er da, der Staat dient den Individuen; es ist aber nicht umgekehrt das Individuum für den Staat da, das hieße die Dinge auf den Kopf stellen. Es versteht sich ferner, daß der Staat nicht autonom ist, er lebt nicht nach eigenem Gesetz, nicht nach dem Gesetz der Macht, der berüchtigten Staatsräson, sondern er ist mediatisiert, er steht unter einer höheren Macht, unter dem Gesetz der Vernunft, unter dem Vernunftrecht, das er zu verwirklichen hat. Er ist nur Mittel dazu, keinesfalls Selbstzweck, er ist nur Instrument. Als solches freilich ist er aufs Feinste und Klügste ausgebaut, ein sinnreich konstruierter Apparat oder Mechanismus, eine Maschine. Eigene Macht, eigenes Recht, eigenes Ethos und eigenes Leben aber hat diese utilitarisch-eudämonistische Maschine nicht. Damit ist auch schon das Verhältnis des Individuums zum Staate deutlich. Es ist nicht unähnlich dem, das wir etwa zur Feuerwehr haben oder zu einem gemeinnützigen Zweckverband, zu einer Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit oder einer Wach- und Schließgesellschaft. Der Staat ist ja nichts anderes als ein solcher Verband im Großen. Fängt er die Spitzbuben und schützt er die Biedermänner, wahrt er Frieden, Ordnung und Wohlstand, sorgt er dafür, daß der Bürger ungestört arbeiten, sich seines Besitzes freuen und in Ruhe schlafen kann, so hat er seinen Zweck erfüllt — dafür zahlt der Private seine Steuern — seinen Beitrag zu den Vereinsunkosten sozusagen — und achtet die Gesetze — die Statuten. Damit ist für ihn die Sache aber auch fertig und er geht in Frieden seinen eigenen und eigentlichen Beschäftigungen nach. Mehr will er vom Staat nicht wissen? mehr erwartet er auch nicht von ihm. Dieser ist ja im Grunde ein notwendiges Übel, mit dem man sich abfindet — aber wenn alle nur vernünftig sein 24
wollten, könnte man noch viel schöner ohne ihn leben. Hier ist also das Verhältnis des Individuums zum Staate ein sehr nüchternes, distanziertes, rein verstandesmäßig und auf wohlerwogenem Eigennutz begründet. Das ist freilich der Idealfall, das ist die Theorie, der Wunsch der aufgeklärtesten Geister. In der Wirklichkeit sieht es ganz anders aus und sehr viel schlimmer. Am ehesten entspricht der Idealforderung noch das englische Staatswesen, von dem die Lehre, besonders durch Locke verbreitet, ausgeht und die englische Verfassung wird ja auch im 18. Jahrhundert gerade wegen ihrer sinnreich gesicherten Zurückhaltung und der weisen Selbstbeschränkung der Staatsgewalt als vorbildlich gerühmt und gepriesen. Auf dem Kontinent aber haben wir damals einen anderen Staatstypus, den absolutistischen, der sich keineswegs als Nachtwächterstaat benimmt, sondern äußerst energisch eingreift. Das steht mit der rationalistischen Staatsidee nicht in Widerspruch, solange diese Eingriffe nur vernunftgemäße Reformen bedeuten. Für diesen kontinentalen Staatstypus des aufgeklärten Absolutismus ist das Preußen Friedrichs des Großen vorbildlich; er wird bewundert als der Philosoph auf dem Throne. Da haben wir den Bund von Thron und Philosophie, also Friedrich den Großen und Voltaire, Katharina und Diderot, Joseph II. in Österreich. Als Zwingherr zur Vernunft darf der Staat sehr wohl den unaufgeklärten Untertanen zu seinem eigenen unverstandenen Glücke zwingen. Da fungiert der Staat gewissermaßen als der weltliche Arm der souveränen Vernunft, nicht aus eigenem Recht. Daß der Untertan solchen Zwang unangenehm empfindet und gar dagegen rebelliert, wie das in Österreich und im Belgischen Aufruhr von 1789/90 gegen die Josephinischen Reformen geschehen ist, ist eine Sache für sich. Dem Aufklärer erscheint solche Rebellion lediglich als Werk dummer Bauern und dunkler Pfaffenlist — uns erscheint es als ein Zeichen, daß der aufgeklärte Staat die Verbindung mit dem Volke verloren hat. Der wahrhaft Aufgeklärte dagegen rebelliert im umgekehrten Falle, nämlich wenn der Staat die vernunftgebotenen Reformen nicht durchführt. Dafür ist das klassische Beispiel die Französische
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Revolution, wo das tausendjährige Reich der Räson aufgerichtet werden soll, nachdem die Bourbonen die Reformen versäumt haben. Am deutlichsten aber zeigt sich die Entfremdung von Individuum und Staat oder von Volk und Staat auf dem Gebiete der Außenpolitik. Die sogenannte Kabinettspolitik, die gerade im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht, die Völker, Regierungen und Staaten vertauscht, verschiebt, verkoppelt wie auf einem Schachbrett, ist ein echtes Kind des Rationalismus. Für den Rationalisten ist es prinzipiell — prinzipiell! — gleichgültig, ob Sizilien zum Beispiel von den spanischen Habsburgern regiert ist oder ab I^OI von den spanischen Bourbonen, oder ab 1714 von den Piemontesen oder ab 1720 von den Österreichern, oder ab 1735 von den Neapolitanern. Den Sizilianern kann es doch gleichgültig sein, von wem sie gerade regiert werden, wenn sie nur gut, d. h. vernunftgemäß regiert werden; wer dieses Geschäft des Regierens für sie übernimmt, macht ihnen im Prinzip nichts aus. Nicht nur Gleichgültigkeit, sondern tiefgehenden Widerstreit zwischen Individuum und Staat bzw. Volk und Regierung, treffen wir da, wo sich in der Wirklichkeit die unausrottbare, elementare Machtnatur des Staates zeigt, also wiederum in der Außenpolitik. Nun ist gerade das 18. Jahrhundert erfüllt von den gewaltigsten Machtkämpfen der Staaten: England und Frankreich führen bis in die entlegendsten Kontinente einen säkularen, kaum unterbrochenen Krieg um die Weltherrschaft, Preußen, Österreich, Rußland steigen in einer Kette von Kriegen empor, das europäische Staatensystem wird in gewaltigen Erschütterungen neu aufgebaut. Für alle diese Ereignisse der politischen Wirklichkeit des Jahrhunderts ist aber in der rationalistischen Theorie des Jahrhunderts kein Platz. Vor der Vernunft sind alle diese Kriege verworfen, illegal, Bruderkriege, denn alle Macht, aller Machttrieb ist unvernünftig, unsinnig, unheilvoll und sündhaft. Alle Menschen sind Brüder und sollen und können in Frieden miteinander leben. Hier also klafft Theorie und Praxis der Zeit in heilloser Weise auseinander. Wie sehr, mag man daraus erkennen, daß Friedrich der Große einen Antimachiavell geschrieben hat; er hat zwei Seelen in
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seiner Brust, den Philosophen, der die Macht verwirft, und den Staatsmann, der ein Klassiker der Machtpolitik und der politischen Notwendigkeit ist. Was aber beim Preußenkönig in einer merkwürdigsten Personalunion zusammenlebt, ist normalerweise getrennt in die aufgeklärten Individuen oder in Gesellschaft oder in Volk, die den vernünftigen Frieden wollen, und in die ewig unvernünftigen Regierungen, die Staaten, die Fürsten, die den Krieg wollen. So tritt also der Rationalist dem unverbesserlich sündhaften Staate oder Fürsten, denn der gilt meistens als der aus dynastischem Ehrgeiz Schuldige, entweder mit gutgemeinten Moralpredigten gegenüber, oder aber er wendet sich resigniert, skeptisch und pessimistisch von einem Staate ab, der doch nie so ist, wie er vernünftigerweise sein sollte — und selbst der aufgeklärteste Staat, mag er England oder Preußen heißen, ist wenigstens in seiner Außenpolitik hoffnungslos unvernünftig. Man mag an diesen praktischen Beispielen vielleicht deutlicher oder krasser als aus der entsprechenden Theorie entnehmen oder bestätigt finden, daß da eine weitverbreitete Entfremdung des aufgeklärten Individuums vom ach so unvollkommenen Staate, eine staatsgleichgültige oder gar staatsfeindliche Stimmung herrscht und die Menschen zur Flucht in die reinen Sphären des Glaubens, der Bildung und der Kunst treibt. Es versteht sich, daß unter diesen praktischen und theoretischen Umständen — denn beide gehen zusammen — nicht leicht ein nationaler politischer Wille aufkommen lind in den Staat einfließen kann. Schon deshalb nicht, weil der politische Wille des Aufklärers rational ist und nicht national ist. Der Aufklärer verlangt vom Staat, daß er dem Vernunftgebot gehorcht. Dieses Vernunftgebot aber ist allgültig, absolut, übernational, ist für alle Menschen und alle Staaten und alle Zeiten das gleiche, unveränderliche. Daher kann der Aufklärer nicht auf den Gedanken kommen, daß der Staat statt schlechthin vernunftgemäß zu sein, national sein solle, spezifisch französisch oder" spezifisch italienisch. Es wäre für ihn dasselbe, als wollte er etwa von einem Uhrwerk verlangen, daß es italienisch gehe und nicht französisch. Richtig muß es gehen, die Uhr hat einen vernünftigen, praktischen Zweck, denselben für alle Menschen, nicht aber 27
einen nationalen. Ebenso der Staat — man verlangt, daß er den erfülle, daß er funktioniere. Tut er das, dann ist es gleichgültig, welchen Staat man nun gerade hat, ebenso wie es gleichgültig ist, welche Uhr man gerade hat, sofern sie nur richtig funktioniert. Das weitere Hindernis für das Einströmen nationaler Momente in den Staat liegt darin, daß der mediatisierte, mechanisierte Vernunftstaat keine rechte Verbindung hat mit den höheren Werten des menschlichen Daseins. Das kulturelle Leben des Individuums wie der Nation spielt ja nicht in der staatlichen Sphäre, sondern außerhalb, in der außerstaatlichen, privaten oder gesellschaftlichen Sphäre. Mit den geistigen Dingen hat der rein praktisch-zweckbestimmte Staat nichts zu tun, oder doch nur insofern, als er jene gegen äußere Störung schützt, so etwa wie der Feuerwehrmann eine Theateraufführung bewacht. Das Individuum ist aber nicht in seinem innersten Wesen, nicht durch sein ganzes sittliches und kulturelles Sein und Streben an den Staat gewiesen und gebunden, sondern an die anderen Individuen, an die Gesellschaft. Die Kultur des Individuums mag also noch so bewußt national sein, sein Verhältnis zum Staat wird dadurch nicht berührt, denn Kultur und Staat sind sozusagen getrennt, laufen auf verschiedenen Gleisen oder liegen auf verschiedenen Ebenen. Der Staat hat nicht eigentlich eine kulturelle Funktion, die steht der Gesellschaft zu, sondern eine rein praktische, untergeordnete, subalterne. So stehen, vereinfacht und schematisch dargestellt, die Dinge bei Rousseaus Auftreten. Es ist damit einer der Gründe angedeutet, weshalb das Zeitalter des Rationalismus keinen Nationalismus kennt, weshalb das Nationalbewußtsein, das seit den Tagen der Humanisten sehr wohl erwacht ist, auf das kulturelle Gebiet beschränkt bleibt, aber nicht in das staatliche und politische Gebiet vorstößt und vorstoßen kann. Es fehlt eben — man könnte sagen — die Verbindungsbrücke vom Individuum und seiner Kultur hinüber zum Staat und der Staat ist seinerseits zu eng, zu nüchtern, zu subaltern, um Träger, nicht nur Schützer kultureller Güter zu sein. Soll ein nationaler Wille überhaupt möglich werden, so muß daher zunächst einmal das Verhältnis des Individuums 28
zum Staat ein ganz anderes werden, ein viel engeres, intimeres, vielseitigeres. Der Einzelne muß nicht nur durch einige praktische Rücksichten und Vorteile, nicht nur durch eine einzelne schmale Seite seines Wesens mit dem Staate verbunden sein, im übrigen aber, in seinem eigentlichen Dasein, unabhängig, sich selbst genügend, in sich geschlossen außerhalb des Staates dastehen, sondern er muß mit seinem ganzen Wesen, durch seine tiefsten Bedürfnisse und sein höchstes Streben mit dem Staate verkettet werden, er muß mit ihm verschmelzen. Dann erst können die kulturellen und auch nationalen Elemente, die im Individuum stecken, in den Staat eingehen, ihn durchdringen, erheben, versittlichen und vergeistigen. Das ist es gerade, was uns Rousseau lehrt: Aufgehen des Einzelnen im Staat, ohne Reserve und Vorbehalt, mit allem, was er ist und hat, mit Leib und Seele. Wie kommt er zu dieser unerhörten, höchst revolutionären Forderung ? Wir wissen ja, diese Forderung ist völlig unsinnig, sie ist gar nicht möglich, wenn man vom alten Staatsbegriff ausgeht; sie ist nicht möglich, wenn man vom alten Begriff des Individuums ausgeht, und diese beiden sind unangreifbar, solange der alte VernunftbegrifF steht; denn von ihm Sind sie mit zwingender logischer Notwendigkeit abgeleitet und gestützt. Da hängt eins mit dem andern zusammen und führt immer wieder zurück zur absoluten Vernunft. Um zu seiner revolutionären Forderung gelangen zu können, muß daher Rousseau an der Grundlage selber ansetzen, die rationalistische Weltanschauung überhaupt erschüttern, ehe er den Menschen, den Staat und das Verhältnis der beiden revolutionieren kann. Rousseau greift also die Gottheit seiner Zeit an, die absolute Vernunft selbst und stellt ihr das Irrationale entgegen, von da aus entwickelt er den neuen Menschen, stellt dem rationalistischen Individuum die freie Persönlichkeit entgegen und schließlich fordert er für den neuen Menschen, für die freie sittliche Persönlichkeit den neuen Staat und postuliert die innigste Verschmelzung der beiden. Das Politische ist also für Rousseau, der ursprünglich gar nicht politisch interessiert war, nicht der Ausgangspunkt, sondern der Endpunkt, die Krönung. Anders hätte er auch nicht ans Ziel kommen können. Denn man sieht schon, es war dieser großartige 29
Umweg, dieser gewaltige radikale Umsturz des rationalistischen Systems notwendig, um von dem Denken des x8. Jahrhunderts aus zur Grundforderung des Nationalismus gelangen zu können. Sehen wir uns diesen Prozeß etwas genauer an. Daß Rousseau der größte Überwinder des Rationalismus ist, ist ja bekannt. Er wagt es, an jener unfehlbaren, allheilenden Vernunft zu zweifeln, er bestreitet ihren Anspruch auf Alleinherrschaft. Denn er hat — man könnte sagen — eine neue Welt entdeckt: Die Welt des Irrationalen, der Triebe, der Leidenschaften, der Gefühle, des Naturhaften, des Herzens, des Charakters mit allen ihren Abgründen und Höhen. Für ihn ist der Mensch nicht nur ein bloßes und blasses Vernunftwesen, sondern ein viel komplizierteres, umfassenderes, reicheres, widerspruchsvolleres, ein Naturund Gefuhlswesen. Er hat nicht nur einen Kopf, sondern auch ein Herz und das Herz hat sein Recht so gut, ja noch besser als der Kopf. Es ist nicht wahr, sagt Rousseau, daß die Vernunft genügt, um den Menschen unfehlbar zu führen. Verführt hat sie ihn, irregeführt. Wohin ist man gekommen mit der vielgepriesenen Vernunft, mit aller Feinheit der so aufgeklärten Philosophie, mit dem Kult des Intellektualismus wie man heute sagen würde ? Eine Welt des Scheins und der Unechtheit hat sie geschaffen, der sterilen Künstlichkeit, des trügerischen Fortschritts und blendenden äußeren Glanzes und der inneren Verkümmerung, Armut und Leere! Es gibt nur noch kranke, verkrüppelte, verkümmerte, halbe Menschen, das Beste in ihnen ist tot, keiner ist mehr, was er sein sollte, ein voller, echter, gesunder und ganzer Mensch. Die Vernunft hat den Menschen entmenscht. Daher ersetzt Rousseau die alte Forderung: Gehorche dem Gebote der Vernunft durch die neue: Gehorche dem Gebot deines Gefühls 1 Sei du selbst! — Eine Maxime, die keineswegs ungefährlich ist. Sie kann zu roher Kulturfeindlichkeit führen, zur Auflösung aller Zucht und Ordnung, zu Chaos, Anarchie und Lächerlichkeit. Sie ist auch mißverstanden worden, von Voltaire etwa, der Lust verspürt haben will, auf allen Vieren einherzugehen, oder bei uns von den sogenannten Kraftgenies, die einem wilden Sichausleben frönen, zunächst mit ihren ungekämmten 30
Haaren, manchmal mit bedenklicheren Streichen oder mit seelischer Verschlampung. So hat es Rousseau nicht gemeint. Er, dessen eigenes Leben gar nicht vorbildlich und alles andere als geordnet war, empfand eine um so tiefere, wenn auch nie oder eben nur in der Phantasie erfüllte Sehnsucht nach Ordnung und Bindung. Und so geht er denn in jeder seiner einzelnen Schriften wie in der Gesamtentwicklung seiner Lehre immer wieder denselben Weg. Er fängt an mit dem revolutionären Protest, mit dem Aufruf zur Freiheit, um dann sofort die wilden Kräfte, die er losgelassen, wieder einzufangen, zu zähmen, zu bändigen, zu legalisieren und in eine neue Ordnung einzufügen, die sich schließlich als viel ernster, viel strenger und bindender erweist als die alte, die er zerschlagen hat. Es ist durchaus Rousseauscher Geist, den unser Dichter ausdrückt: Nach eigenem Sinne leben ist gemein. Der Edle strebt nach Ordnung und Gesetz. Woher aber soll das Gesetz kommen ? Denn aus der Vernunft kommt es nicht. Rousseau leugnet ausdrücklich — entgegen den Aufklärern — daß uns die Vernunft sage, was gut ist und was böse. Das brauchen wir nicht, können wir nicht erschließen und erklügeln — sondern das „fühlen" wir. Die Moral und Sittlichkeit ist nicht ein Gebot der Vernunft, sondern etwas Irrationales. Jeder von uns hat eine innere göttliche Stimme in sich, die ihm, sofern er nur wahrhaft ehrlich auf sie hören will, unfehlbar sagt, was er tun soll und was er nicht tun darf. Nicht der Verstand, sondern jenes Gefühl entscheidet, nicht das Wissen, sondern das Gewissen schafft sittliche Ordnung. Schon der Ursatz der angeblichen Vernunftmoral: Verhalte dich zu anderen so, wie du wünschest,, daß die anderen sich dir gegenüber verhalten, ist nach Rousseau nicht rational haltbar. Denn sobald ein anderer mir gegenüber sich nicht an diesen Satz hält, bräuchte ich mich auch nicht mehr daran zu halten. Ist es doch höchst unvernünftig, einem Bösewicht tugendhaft zu begegnen, man zieht den Kürzeren dabei, erleichtert jenem seine Schurkerei und schon wirft die Vernunft selbst jene angebliche Vernunftmoral über den Haufen. Man muß aber trotzdem auch gegen einen Bösewicht tugendhaft bleiben, nicht weil das vernünftig wäre — nicht weil es sich 31
rentiert — sondern weil es das irrationale Gewissen so verlangt. Bist du ihm treu, dieser göttlichen Stimme, d. h. bist du dir selber treu, so wirst du zwar nicht im landläufigen Sinne glücklich werden, wie dir das die Vernunftmoral als trügerischen Lohn verspricht, aber du wirst sittlich frei sein und in Frieden mit dir selbst. Das ist das einzige Glück, das tiefinnerliche Glück erfüllter Pflicht, das der Mensch hienieden erreichen kann. Diese verinnerlichte Gefühls- und Gewissensmoral des Genfers erweist sich also als sehr viel feiner, anspruchsvoller und strenger als die eudämonistische Vernunftsmoral seiner Zeit. Dementsprechend nimmt seine revolutionäre Maxime: Gehorche deinem Gefühl! die ernste sittliche Bedeutung an: Gehorche deinem Gewissen! Ihm und nur ihm sollst du folgen, keiner fremden Autorität, keinem fremden Willen, keinem fremden Zwang. Nur dadurch, daß du dir selbst gehorchst, bist du sittlich, bist du frei, bist du eine Persönlichkeit. Jede Handlung aber, die nicht aus deinem eigenen Inneren kommt, mag sie objektiv vernünftig, richtig, gut sein, ist sittlich wertlos, unfrei und unwürdig. Das ist offensichtlich protestantischer, kalvinistischer Geist, den da Rousseau lehrt und den er, wie sich noch zeigen wird, für den Nationalismus fruchtbar gemacht hat. Rousseau erweitert nämlich und überträgt diesen protestantischen Gedanken der Treue gegen die eigene innere Stimme und der Ablehnung ichfremder Autorität vom Gebiete des sittlichen auf schlechthin alle Gebiete des menschlichen Lebens. Ob es sich nun um Fragen der Bildung, des geselligen Verkehrs, des Wirtschaftens, der Vergnügungen, der Kleidung, ja um die Kochkunst und Küchenrezepte handelt, immer wieder lautet die Forderung: sei du selbst, gehorche deinem eigenen Willen, niemals fremdem Willen, lebe von innen nach außen, nicht von außen nach innen. Denn nur was von innen kommt, was aus dir selbst kommt, was du selbst bist, das hat Wert. Alles Angelernte, Konventionelle, Angenommene, Aufgepfropfte, Andressierte, gar Aufgezwungene ist falsch, künstlich, verkehrt, unecht, unehrlich, steril, das bist nicht mehr du, das führt dich von deinem wahren Ich, von deiner wahren Bestimmung, Selbstbestimmung ab in eine Scheinwelt. Tue was du willst, was 32
du denkst, was du für richtig hältst, was dir Freude macht, nicht was die anderen wollen, die anderen denken, die anderen für richtig halten, die anderen schätzen. Siehe mit deinen Augen, höre mit deinen Ohren, denke mit deinem Kopf, fühle mit deinem Herzen, nicht mit fremden. Das klingt nun doch wieder wie eine Aufforderung zu schrankenlosem Individualismus, zum Sich-Ausleben nach eigenem Geschmack. Rousseau aber meint das genaue Gegenteil. Denn so, wie das wahre Gefühl, das Gewissen, gut ist und Ordnung schafft, nicht Anarchie, so ist auch das wahre Selbst, der wahre Wille des Menschen oder wie er gerne mit einem allerdings sehr vieldeutig schillernden Ausdrucke sagt, so ist auch der „natürliche Mensch" in uns gut. Die Schwierigkeit liegt freilich darin, das wahre Selbst, den natürlichen Menschen zu finden; denn heutzutage, meint er, ist kein Mensch mehr er selbst, keiner tut mehr was wirklich er selbst will, sondern was ein angelerntes, verbildetes, konventionelles, sozusagen fremdes Selbst zu wollen glaubt. Am ehesten kann man noch bei einfachen Menschen, bei den Bauern auf dem Lande oder bei Kindern den natürlichen, echten Menschen beobachten, ahnen. In der Gesellschaft aber ist das wahre, natürliche Ich begraben, erstickt unter einem Wust von Konventionen, Vorurteilen, Falschheiten, äußerlicher Kultur, unter einem Riesenerbe von fremdem Willen, fremden Meinungen. Es gilt also das echte Selbst, das wahre Gefühl, den natürlichen Menschen wieder auszugraben, zu entwickeln, um die Leute zu sich selbst zurückzuführen. Das hat Rousseau unternommen in seinem berühmten Erziehungsbuch, dem „fimile". Da wird an dem Musterexemplar firmle wie an einem Versuchskaninchen in einer peinlich-listig-kunstvoll arrangierten, keimfreien Umgebung (denn die bestehende wirkliche wäre ja Gift) das wahre Selbst des Menschen, der natürliche Mensch zu ungestörter freier Entwicklung gebracht. Wir brauchen den Verlauf der Erziehung nicht im Einzelnen zu verfolgen, es genügt, zu sagen, daß sie ganz vorwiegend negativ ist, ängstlich darauf bedacht, jeden fremden Einfluß, jede fremde Meinung, jeden fremden Willen von dem Kinde fernzuhalten, damit alles nur aus ihm selber komme, es selber sich entwickele, sich selber V o s s l e r , Nationalgedanke
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erziehe. Immer nach dem Grundsatze, sei du selbst, wird ihm möglichst nichts befohlen oder verboten, es gehorcht nur seinem eigenen, wahren, unverderbten, natürlichen Gefühl. Haut es einmal daneben, wird ihm Gelegenheit gegeben, den Fehler selbst einzusehen, zu bereuen, und sich selbst zu verbessern. Denn nur dann, wenn die Korrektur von innen, aus eigener Einsicht kommt, ist sie echt und wertvoll; die von außen durch Befehl und Verbot aufgezwungene wäre eine Verfälschung und unwürdig. Das Kind soll zum Beispiel ganz es selbst, d. h. soll ganz Kind sein, es wird nichts Fremdes, kein verfrühtes, unverdautes Wissen in es hineingestopft, um einen unechten Erwachsenen zu dressieren. Rousseau ist ja der Entdecker des Kindes. So wächst ßmile heran, immer sich selbst treu und daher gut, ohne Zwang zum Knaben, Jüngling, Ehemann, zur freien, sich selbst bestimmenden und sich selbst verantwortlichen Persönlichkeit. Er hat niemand gehorcht außer seinem wahren, unverderbt gebliebenen Ich, aber dieses Ich ist sehr streng und sicher in seinen Forderungen. Der Erzieher, überflüssig geworden, tritt endlich zurück und jetzt erhebt sich die Frage: wie soll Emile in den Staat gestellt werden ? Rousseau sieht die enorme Schwierigkeit: im Staate muß man d o c h fremdem Willen gehorchen und sein erster Rat lautet: erfülle die unvermeidlichen Pflichten gegen den Staat, im übrigen aber drücke dich I Also Flucht ins Idyll, ins Privatleben, Staatsfremdheit und -feindlichkeit. Das ist natürlich keine Lösung, die freie Persönlichkeit kann nicht einfach kapitulieren vor dem Staate, kann nicht sich äußerem Zwange beugen, noch auch unwürdig davonlaufen. Das rationalistische Individuum kann solches tun; wenn es vernünftig ist zu gehorchen, gehorcht es, wenn es vernünftig ist, sich zu drücken, drückt es sich — ohne sich dabei etwas zu vergeben. Die Persönlichkeit hingegen kann das nicht ohne sein innerstes Gesetz der Selbstbestimmung, ohne sich selbst aufzugeben. Ja die ganze Lehre Rousseaus wäre unvollendet, wäre ein Fiasko, wenn es nicht gelänge, die Persönlichkeit in den Staat zu fügen. Und so kehrt er denn zu der Aufgabe zurück, vor der er zuerst ausgekniffen ist. Er hat den fimile zum Menschen erzogen, das genügt nicht, er muß mehr werden: ein Bürger. 34
Das geschieht in Contrat Social, oder richtiger, es geschieht im „Emile" selber noch, denn in ihm steht tatsächlich der Contrat Social im Abriß schon drin —, erst später ist er ausgearbeitet für sich selbst veröffentlicht worden. Das muß man beachten, denn die Staatskonstruktion des Contrat Social ist nur ein Teil des großen Erziehungssystems vom fimile, ist ein Stück, und zwar das letzte und krönende Stück des Erziehungsplanes zur freien Persönlichkeit. Aus diesem sinnvollen großen Zusammenhange herausgerissen aber und für sich allein genommen bleibt der Rousseausche Staat schlechthin unbegreiflich und unsinnig. Nur von seinem Begriffe der Persönlichkeit aus — und wir wollen sie nicht umsonst kennengelernt haben — kann der Contrat Social verstanden werden. Das gilt gleich von den berühmten ersten Sätzen des ersten Kapitels des Contrat, wo das Problem gestellt wird. Wir zitieren: „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten. . . . Wie ist dieser Wandel geschehen ? Ich weiß es nicht. Was kann ihn legitim machen ? Ich glaube, dieses Problem lösen zu können." Das heißt nicht etwa: Früher einmal, in einem verlorenen Paradies der Natur, da war der Mensch frei und vollkommen, jetzt aber ist alles verderbt und schmachtet in Knechtschaft. Laßt uns zurückkehren zum primitiven Glück, die Ketten sprengen usw. usw., sondern es heißt: die wahre und heiligste Bestimmung des Menschen ist es, eine freie, sich selbst bestimmende, verantwortliche Persönlichkeit zu werden — erst zu werden. Im Staate aber herrscht Zwang — man kann hinzufügen, ja er muß herrschen. Die theoretische oder historische Frage, wie es zu diesem Zustand, zu diesem Zwiespalte gekommen ist, interessiert mich gar nicht. Die praktische Frage aber, wie man jene Ketten nicht sprengen, sondern rechtfertigen, wie man jenen Zwiespalt versöhnen kann, die packe ich an und ich will sie zu lösen versuchen. Oder auch in einem Satze zusammengefaßt: die Antinomie von freier Selbstbestimmung der Persönlichkeit auf der einen und der Notwendigkeit staatlicher Ordnung auf der anderen Seite muß aufgehoben werden. Wie nun dieses Problem gelöst werden wird, können wir nach dem, was wir von Rousseau bereits wissen, wenigstens 3*
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grundsätzlich voraussagen und wir werden uns damit unsere Aufgabe erleichtern: So wie das Sittengesetz nicht durch fremde Autorität, nicht durch die Vernunft allein gegeben ist, sondern in mir lebt, aus meinem Herzen und Gewissen kommt und von mir selbst frei gewollt ist, so wie das Gesetz meines privaten und geselligen Handelns nicht durch fremde Autorität, nicht durch die Vernunft allein gegeben ist, sondern in mir lebt, aus meinem Herzen und Gewissen kommt und von mir selbst frei gewollt ist, ebenso ist auch das staatliche Gesetz nicht durch fremde Autorität, nicht durch die Vernunft allein gegeben, sondern es lebt in mir, es kommt aus meinem Herzen und Gewissen und es ist von mir selbst frei gewollt. Das heißt also, Einzelner und Staat sind nicht mehr getrennt, der Staat steht nicht mehr als fremde Autorität ü b e r dem Einzelnen, er steht auch nicht als rational-utiütarische Einrichtung n e b e n oder u n t e r dem Einzelnen, sondern er lebt als sittlicher politischer Wille im Einzelnen. Die Antinomie Freiheit — Zwang, der entsprechende Dualismus Einzelner — Staat oder Volk — Staat wird gelöst, überwunden dadurch, daß der Staat freier Wille der Persönlichkeit wird durch die Forderung Rousseaus an den Einzelnen, die Hegel in die Worte gefaßt hat: Werde selber Staat 1 Wir haben hier vorausgegriffen und den Kern von Rousseaus Staats- und Nationalgedanken vorweggenommen mit der Hegelischen Formulierung seiner Forderung. Das ist freilich schnell gesagt: werde selber Staat, aber wie macht man das, was heißt das ? Wie kann man dadurch tatsächlich die heilige sittliche Pflicht der Persönlichkeit zur freien Selbstbestimmung aussöhnen und in Übereinstimmung bringen mit der Notwendigkeit staatlicher Zucht, Ordnung und Macht ? Rousseau untersucht, wie es bisher mit der .Antinomie Freiheit — Zwang, Einzelner — Staat gestanden hat und ob in den bisherigen Staaten der Widerstreit aufgehoben werden kann. Er unterscheidet zwei Staatstypen. Der eine ist die zu seiner Zeit auf dem Kontinent vorherrschende absolute Monarchie, in der der Wille des Herrschers Gesetz ist. Der Genfer betrachtet sie ohne weiteres als Despotismus; sie sei auf Macht und Gewalt begründet, das sei ein Zwangsverband, nicht aber ein Volk
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oder ein Staat im wahren Sinne, Denn hier habe man nur einen Herrn und eine Herde; den Herrn, der nach seiner privaten Willkür, nicht nach öffentlichem staatlichen Gesetz gebietet, und. unter ihm statt eines Volkes ein bloßes Aggregat von Untertanen, die nicht ihrem eigenen Willen gehorchen, wie es ihre sittliche Pflicht wäre, sondern dem fremden Willen des Fürsten sich beugen. Sie sind bedauernswerte Sklaven ohne eigenen Willen, aber nicht freie Persönlichkeiten. Sie gehorchen dem Staate, weil sie müssen, gezwungen. Der ganze Zustand ist unsittlich, eine Vergewaltigung der Menschenwürde. Hier herrscht Gewalt und Zwang, die Freiheit der Persönlichkeit ist tot. Näher kommt dem Ziele der Wahrung persönlicher Freiheit im Staate der zweite Typus, der ideale Vernunftstaat vorwiegend englischer Prägung, wie ihn die Rationalisten, obenan Locke, gezeichnet haben. Da tritt das Individuum nicht wie im erstgenannten Falle seine ganze Freiheit, sondern nur einen Teil seiner natürlichen Freiheit an den Staat ab, um dafür um so sicherer den Rest und Hauptteil seiner Freiheit behalten und genießen zu können. Das ist die liberale Lösung des Freiheitsproblems. Das Individuum grenzt da sorgfältig einen Bezirk privaten, staatsfreien Lebens ab, in dem es sich frei bewegen kann und in den die Staatsgewalt nicht eingreifen darf. Die Rechte des Individuums und die Rechte des Staats sind genau gegeneinander abgegrenzt — also Freiheit nicht so sehr d u r c h als vielmehr g e g e n den Staat. Gegen dieses Verfahren, das den größtmöglichen Nutzen des Einzelnen sinnreich sichert, ist vom Standpunkte des rationalistischen Individualismus aus durchaus nichts einzuwenden, es gilt auch bis Rousseau als die Ideallösung, als vollkommene Lösung. Rousseau dagegen kann von seinem neuen Standpunkt der freien Persönlichkeit aus diesen Staat nicht mehr billigen, er muß ihn ablehnen. Denn in ihm kann der Einzelne zwar glücklich werden, nicht aber wahrhaft frei. Auf Glück aber kommt es nicht an, sondern auf sittliche Freiheit. Der Einzelne darf einen solchen Handel gar nicht abschließen, daß er um der äußeren Sicherheit und Ordnung, um seines irdischen Glückes willen einen Teil seiner Selbstbestimmung abtritt. Selbstbestimmung ist kein Tausch- und Handels37
objekt, sondern heilig. Und sei der abgetretene Teil auch klein, er bedeutet eine Verletzung der freien Selbstbestimmung, das ist unwürdig, unsittlich. Rousseau betont immer wieder: Solange du gehorchst, weil du mußt — wie im absolutistischen Staate — bist du ein bedauernswerter Knecht, der eben nicht anders kann. Solange du gehorchst, weil es sich rentiert, weil du Ruhe und irdisches Glück damit erkaufst — wie im rationalistischutilitarischen Staate — bist du auch ein Knecht, ein spießiger und bequemer Knecht, der seine Freiheit verkauft, damit er seine Ruhe hat. Auf seine Freiheit verzichten aber heißt, darauf verzichten, ein Mensch zu sein, heißt auf seine Pflichten und auf die Sittlichkeit verzichten. Rousseau hat eben einen ganz anderen, viel tieferen und daher auch anspruchsvolleren Freiheitsbegriff als die Aufklärer. Diese meinten, Freiheit sei ein natürliches Recht des Einzelnen, über das er verfügen, das er vernünftigerweise abtreten oder doch einschränken könne; dieser aber, Rousseau, weiß: Freiheit ist eine sittliche Pflicht, die man erfüllen muß, und als Sittlichkeit ist sie uneinschränkbar. Statt: Du hast ein natürliches Recht zur Freiheit, laß dir deren Genuß nicht schmälern ! heißt es jetzt: Du hast eine sittliche Pflicht zur Freiheit, erfülle sie ! Man sieht, dieser neue Freiheits- und Persönlichkeitsbegriff sprengt den alten Staat; sowohl den absolutistischen, der als ein Zwangsverband erscheint, nicht mehr bloß als unvernünftig wie bisher, sondern jetzt auch als unsittlich; er sprengt auch den utilitarisch-eudämonistischen Idealstaat eines Locke etwa, den Interessenverband, der zwar vernünftig sein mag, aber auch nicht mehr als sittlich und frei gelten kann. Rousseau muß daher für seinen neuen freien Menschen einen neuen freien, sittlichen Staat postulieren und konstruieren. Es stellt sich ihm das alte Problem der Versöhnung individueller Freiheit mit staatlicher Notwendigkeit in einem neuen, vertieften Sinne, wie es vor dem Genfer noch niemand gesehen hatte. „Eine Form der Gesellschaft zu finden, die mit der ganzen gemeinsamen Macht die Person und die Güter eines jeden Mitgliedes verteidigt und schützt" — bis hierher ist es bloß der alte militärische Staatszweck, aber nun folgt das Neue — „eine Form der
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Gemeinschaft, . . . durch welche ein jeder, indem er sich mit allen vereint, trotzdem nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie zuvor". — Man erkennt die typisch Rousseausche Forderung aus dem firmle wieder, gehorche nur dir selbst, keinem fremden Willen, die jetzt auch im Staat Erfüllung finden soll. Wir wollen nun nicht verfolgen, wie Rousseau das Kunststück fertig bringt, seine höchst empfindliche und sperrige Persönlichkeit so in den Staat hineinzuführen, daß sie dem Staate und doch wieder nur ihrem eigenen Willen gehorcht. Es sei erlaubt, den Vorgang, den Übergang an dem Bild eines förmlichen Saltomortale zu verdeutlichen: Die Einzelnen, die bis dahin jeder für sich gelebt haben, springen sozusagen, sich am eigenen Zopfe hochziehend, aus ihrem „Naturzustand" ab, machen ein paar schwindelerregende Umdrehungen und — landen alle miteinander drinnen im Staat, gesund und unversehrt. Aber, die Einzelnen sind jetzt nicht mehr Einzelne wie zuvor, sie haben sich gleichsam während ihres Luftsprungs gegenseitig die Hand gegeben und stehen nun da Hand in Hand wie die Kinder beim Ringelreihen. Jeder ist ganz und unverletzt, aber jeder ist nur noch ein Glied dieses Kreises, der Gemeinschaft, nicht mehr für sich allein, sondern nur noch Teil des entstandenen Ganzen, Teil der Gemeinschaft, freilich nicht einer Spielgemeinschaft wie bei den Kindern, sondern der Volksgemeinschaft, des Staates. Erst dieser Endzustand, das Ergebnis des „Luftsprunges" interessiert uns wieder: das entstandene Volk, der Staat, die Nation Rousseaus. — Die drei Begriffe fallen nämlich für ihn in einem einzigen zusammen, er kennt nur das politische, staatliche Volk oder eben die Nation. Was er nun unter einer Nation versteht, setzt er höchst mühsam und umständlich, mit höchst komplizierten und abstrakten Überlegungen stammelnd auseinander, so daß man ihn tatsächlich nur schwer begreifen kann. Das ist immer so, wenn ein neuer Gedanke zum ersten Male dargestellt werden soll. Pythagoras hat eine ganze Abhandlung schreiben müssen, um seinen Lehrsatz für die Weisen seiner Zeit zu erklären — heute stellen wir ihn in einem Satze dar und jedes Kind versteht ihn. Ahnlich muß Rousseau einen Gedanken des 39
19. Jahrhunderts in den Worten, in der Sprache des 18. Jahrhunderts unter größten Schwierigkeiten ausdrücken. Uns ist er heute, sofern wir ihn nur richtig begreifen, eine Selbstverständlichkeit geworden und jeder kennt ihn, ohne daß wir uns freilich erinnern, wie mühsam er einst errungen werden mußte und wem wir ihn verdanken. Übersetzen wir also Rousseaus Überlegungen in unsere Sprache, dann heißt es: Eine Summe von Individuen ist noch kein Volk. Auch wenn diese Individuen durch die Macht eines Herrschers in gemeinsamem Gehorsam zusammengezwungen werden, sind sie noch keine Nation, sondern ein Aggregat. Die Nation ist nicht auf Gewalt begründet. Sie ist auch nicht auf Nutzen begründet, die Summe der Interessen der Individuen kann einen Interessenverband bilden, aber noch keine Nation. Eine Nation kann nur auf den freien Willen aller Volksgenossen gegründet sein. Eine Nation ist eine Willensgemeinschaft. Jeder Volksgenosse will zu dieser Gemeinschaft gehören, er will nicht für sich sein, sondern nur ein Teil des Ganzen. In jedem Einzelnen steckt der Wille zum Ganzen, er strebt nicht nach seinem privaten Vorteil, sondern nach dem Vorteil des Ganzen. Einer tritt für Alle ein, Alle für Einen. Derselbe Wille geht durch alle durch, erfaßt sie ganz, mit allem was sie sind und haben. Eine Nation ist also viel mehr als die Summe der Individuen, mehr als die Summe ihrer Interessen, sie ist der Zusammenklang, die Einheit ihres Willens. Die Nation hat nur einen Willen, der in allen ihren Gliedern steckt: den Gemeinwillen, den Nationalwillen, die volonté générale. Diesem Gemeinwillen, dieser volonté générale, gehorcht der Einzelne im Staat, nur ihr, ihr aber restlos, bedingungslos, bis in den Tod. Indem er ihr gehorcht, gehorcht er nur sich selbst; die gestellte Aufgabe ist damit erfüllt, der Einzelne gehorcht im Nationalstaate nur sich selbst, er ist daher sittlich und politisch frei — Selbstbestimmung der Persönlichkeit und Gehorsam gegen den Staat sind in Einklang gebracht, die Antinomie ist aufgehoben. Hier erhebt sich der übliche Einwand, der bis heute nicht verstummt ist. Das sei ein Syllogismus, ein bloßer Taschenspielertrick. Denn wenn der Einzelne bedingungs40
los dem Gemeinwillen, der volonté générale, gehorcht, dann hat er doch auf seine Selbstbestimmung verzichtet und sich fremdem Willen untergeordnet — was er doch gerade nicht durfte. Der Einwand ist falsch und Rousseau erwidert mit Recht: Der Gemeinwille, der Wille zur Gemeinschaft, die volonté générale, ist gerade in jedem Einzelnen lebendig als sein eigener freier Wille und wenn er der volonté générale bedingungslos gehorcht, gehorcht er tatsächlich seinem eigenen Willen, der allerdings auch zugleich der Wille aller anderen Bürger ist und dadurch eben Allgemeinwille. Oder, falls diese abstrakte Formulierung nicht überzeugt, eine ganz selbstverständliche praktische Verdeutlichung: Der einzelne Deutsche gehört zur deutschen Nationalgemeinschaft, nicht weil er dazu gezwungen wird, nicht weil es sich rentiert, sondern weil er es will, wie die anderen Deutschen auch. Er wie die anderen Deutschen wollen das Beste ihrer nationalen Gemeinschaft. Das ist ihre volonté générale, wir nennen es nationale Gesinnung, Staatsgesinnung, Gemeinschaftsgesinnung, Patriotismus u.a. Diesem seinen eigenen und zugleich allgemeinen nationalen Willen gehorcht der einzelne Deutsche. Wenn nun das Wohl der Volksgemeinschaft von dem einzelnen Deutschen ein Opfer verlangt und er bringt dieses Opfer, so tut er das nicht, weil er dazu gezwungen wird, nicht weil es sich für ihn rentiert, sondern weil er als Deutscher selber, frei das Wohl Deutschlands will, auch auf Kosten seines privaten Wohls. Indem er nicht nach Eigennutz, sondern nach Gemeinnutz strebt, gehorcht er nicht als ein Knecht fremdem Willen, sondern seinem eigensten, wahren, seinem sittlichen Willen und damit ist er frei, sittlich und politisch frei. Wir rühren hier an einem weiteren Punkt, in dem Rousseau das Denken des 18. Jahrhunderts überwunden hat. Für den Aufklärer steht es fest, daß das Individuum in sich geschlossen und sich selbst genügend als ein Ganzes für sich selbst lebt, und daß sein Wille lediglich auf sein eigenes, individuelles Glück gerichtet sein kann. Rousseau dagegen hat entdeckt, daß der Einzelne, daß seine Persönlichkeit nicht in sich geschlossen ist, daß er ein Gemeinschaftswesen ist, daß er in der Gemeinschaft lebt, ohne diese unvollkommen und unglücklich wäre, daß in dem 41
Ich immer schon das Wir steckt. Die Persönlichkeit trägt also das Allgemeine schon in sich, sie erweitert sich, indem sie über die Grenzen des Ich hinausreicht, verbunden ist mit der Gemeinschaft. Der Wille der Persönlichkeit ist auch, wie Rousseau bemerkt hat, gar nicht nur auf das eigene Wohl des Ich gerichtet, sondern auf das Wohl des Wir, der Gemeinschaft, in die sie hineingehört. Rousseau entdeckt also das Überindividuelle in der Persönlichkeit, genauer in dem sittlichen Willen der Persönlichkeit, welcher über diese hinaus auf das Gemeinwohl gerichtet ist. Wir heute wissen zwar, daß der Einzelne keineswegs nur durch seinen überindividuellen sittlichen Willen mit der Gemeinschaft verbunden ist, sondern noch durch eine ganze Reihe anderer Momente. Davon wird später noch die Rede sein. Aber schon diese erste Entdeckung des Überindividuellen genügt, um den entscheidenden Schritt vom Individualismus zum Kollektivismus zu tun. Gerade dieses Überindividuelle, das Gemeinschaftliche, das Kollektive, Hegel würde sagen, das Allgemeine, das Rousseau in der Persönlichkeit gefunden hat, benutzt er, um damit den Staat, den Nationalstaat aufzubauen. Denn jener Gemeinschaftswille, jene Gemeinschaftsverantwortung, die volonté générale, die in jedem Volksgenossen lebt, bildet aus ihnen allen zusammen erst eine Einheit, ein geschlossenes Ganzes, die nationale Gemeinschaft. Nicht mehr der einzelne Mensch also ist ein Ganzes, sondern erst die nationale Gemeinschaft, in welcher und durch welche und für welche der Einzelne lebt. Die Nation ist also etwas, das weit über die Einzelpersönlichkeiten hinausgeht und über ihre bloße Summe. Sie ist ein überindividuelles moralisches Wesen mit eigenem Willen, eigenem Bewußtsein, eigenem Leben, mit einem Wort, die Nation ist eine Kollektivpersönlichkeit höherer, sittlicher Natur. Der Einzelne ist nur ein Glied dieser Kollektivpersönlichkeit, er ist in ihr, wie sie in ihm ist, aber der Einzelne stirbt, die Nation lebt weiter. Was nun von der Einzelpersönlichkeit gilt, gilt ebenso von der Kollektivpersönlichkeit der Nation. Sie hat die Pflicht zur Selbstbestimmung, sie gehorcht nur sich selbst, das heißt sie ist souverän. Sie gehorcht weder einem tran42
szendenten Sittengesetz außer ihrer selbst, noch einem fremden Willen oder Zwang, sondern ausschließlich ihrem eigenen Willen, der aus ihr selbst kommt. Dieser eigene Wille der Nation ist nun wiederum die volonté générale. Wir haben sie schon kennen gelernt âls Wille zur Gemeinschaft, jetzt lernen wir sie kennen von einer anderen Seite als Wille der Gemeinschaft, d. h. als das Gesetz. Der Gemeinwille, die volonté générale als Gesetz herrscht im Staate, niemals aber der Wille eines Einzelnen, etwa des Fürsten, über den Willen der anderen — das wäre nicht Gesetz, sondern Gewalt — während die Nation sich ihr Gesetz selber gibt; dem allein gehorcht sie, dadurch ist sie frei. Daß die Nation sich selbst bestimmt, indem sie sich ihr Gesetz selbst gibt, heißt nun keineswegs, daß etwa ein parlamentarischer Mehrheitsbeschluß das Gesetz macht. Da würde ja der Mehrheitswille über den Minderheitswillen herrschen, die nationale Kollektivpersönlichkeit, die doch gerade Willenseinheit ist, wäre gespalten. Nein, am besten macht man sich den Begriff der volonté générale als Gesetz klar, indem man die Kollektivpersönlichkeit mit der Einzelpersönlichkeit vergleicht. So wie der Einzelpersönlichkeit ihr wahrer Wille, insbesondere ihr Gewissen das Sittengebot diktiert, so diktiert der Kollektivpersönlichkeit der wahre, unverfälschte Kollektivwille, das Kollektivgewissen das Gesetzesgebot. Die volonté générale ist gewissermaßen die Stimme des Gewissens in bezug auf den Staat, diese Stimme ist Gesetz. Und so, wie die Einzelpersönlichkeit frei ist, indem sie ihrem eigenen Gewissensgebot gehorcht, so ist die Kollektivpersönlichkeit frei, indem sie ihrem Gesetzesgebot des Kollektivgewissens gehorcht. Hier erhebt sich der übliche Einwand und sagt: Die Nation mag wohl frei sein, indem sie ihrem eigenen Willen und Gesetz gehorcht, der Einzelne aber ist nicht frei, denn er muß dem Gesetz gehorchen auch wenn er nicht will. Das ist das Gegenteil von Selbstbestimmung, auch im freien Staat gibt es Polizei und Gefängnisse. Darauf die Antwort: Das Gesetz in seiner allgemeinsten Fassung läßt sich auf die Formel bringen, Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Von ihm folgen die einzelnen Gesetze als Einzelanwendungen, 43
etwa Bestrafung des Diebstahls, allgemeine Wehrpflicht u. a. Nun spricht in jedem Volksgenossen das Kollektivgewissen und befiehlt ihm: Zum Besten des Vaterlandes mußt du und jeder andere Gemeinnutz vor Eigennutz stellen, darfst du ebensowenig wie die anderen stehlen oder desertieren. Das fühlt und weiß jeder ganz genau, jeder trägt dieses Gesetz in sich, und in der Regel gehorcht er dem Gebot seines Gewissens, welches zugleich das Gebot des Gesetzes ist. Wenn er aber statt dessen trotzdem sich einen Privatvorteil auf Kosten der Allgemeinheit verschafft, wenn er etwa stiehlt und desertiert und meint, die anderen sollen ehrlich sein und dienen, dann freilich holt ihn der Arm des Gesetzes und zwingt ihn zum Gehorsam. Zum Gehorsam gegen wen ? Zum Gehorsam gegen sich selbst. Der Staat zwingt den Dieb oder Deserteur das zu tun, was er selber als Pflicht erkannt hat, er zwingt ihn statt seinem gemeinen Triebe seinem wahren Willen zu gehorchen, zwingt ihn, den Sklaven seiner Leidenschaften, zur Sittlichkeit, ja zur Freiheit. Freiheit ist nichts anderes als der Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selbst gegeben hat. Wer nicht selber frei sein kann, dem wird eben nachgeholfen. Man erkennt hier, der Staat Rousseaus ist eine sittliche, nicht mehr eine auf Nutzen gerichtete Einrichtung. Er ist das organisierte sittliche Gemeingewissen, das in jedem Bürger lebt, er ist konkrete Sittlichkeit. Man sieht ferner: in jedem Volksgenossen oder Bürger sind gewissermaßen zwei Willen vorhanden. Der Eigenwille und der Gemeinwille. Der Eigenwille, der nach Eigennutz strebt und der Gemeinwille, der nach Ordnung und Gemeinnutz strebt. Jeder trägt in Gestalt des Gemeinwillens, seines wahren Willens, das staatliche Gesetz in sich, jeder trägt aber auch in Gestalt des Eigenwillens, des verirrten, ungezügelten Willens, des egoistischen Triebes, der Leidenschaft, die Lust und Versuchung in sich, das Gesetz zu mißachten. Dem Eigenwillen folgen ist gemein, unsittlich, dem Gemeinwillen folgen edel und sittlich. Wer nach dem Triebe lebt, ist ein Sklave seiner Leidenschaften und unfrei, nur wer dem Gesetze gehorcht, das in ihm spricht, das er sich selbst gegeben, der bestimmt sich selbst, der ist frei. Nun wissen wir endlich, was es heißt: werde selber Staat. Das 44
ist nur die letzte und höchste Stufe der ewigen Rousseauschen Forderung: Sei du selbst, gehorche deinem wahren Willen, sei eine freie, sich selbst bestimmende Persönlichkeit. Wir wissen jetzt aber auch, daß diese Selbstbestimmung der freien Persönlichkeit nur im Staate erfüllt werden kann, nicht ohne den Staat. „In den Tiefen eines Waldes geboren hätte der Mensch glücklicher und freier gelebt, aber da nichts ihm in der Befriedigung seiner Neigungen entgegenstand, wäre er gut gewesen ohne Verdienst und jetzt ist er es trotz seiner Leidenschaft. Das öffentliche Wohl lehrt ihn, sich zu bekämpfen, sich zu besiegen, das eigene dem allgemeinen Interesse zu opfern." Diese Spannung aber zwischen dem primitiven tierischen Triebe und dem sittlichen Triebe zum Allgemeinwohl, dieser Dialog gleichsam zwischen dem Ich und dem Wir in der Brust des Einzelnen, das macht das Wesen der Persönlichkeit überhaupt aus. Die Spannung aber ist erst durch die staatliche, nationale Gemeinschaft, daher gibt es ohne den Staat keine Persönlichkeit, keine Sittlichkeit, keine Freiheit, sondern nur den tierischen, egoistischen Trieb ohne Gesetz. Rousseau ist da sehr deutlich, wenn er sagt, daß erst das Leben im Staat gegen den Instinkt die Gerechtigkeit setzt, gegen moralfreies, moralgebundenes Handeln, gegen den physischen Trieb, die sittliche Pflicht, gegen die Gier, das Recht, gegen die Neigungen, die Vernunft, daß erst im Staate die Fähigkeiten des Menschen sich üben und entwickeln, seine Gedanken sich erweitern, seine Gefühle sich veredeln, seine ganze Seele sich erhebt, ja daß erst der Staat aus einem dummen und beschränkten Tiere ein geistiges Wesen macht, einen Menschen. Wir sehen jetzt auch, wie der Einzelne mit dem Staate verhaftet, unlösbar verschmolzen ist: durch das Höchste, was in ihm lebt, durch seine Sittlichkeit, durch seine Menschenwürde. Sie verdankt er der staatlichen oder nationalen Gemeinschaft. Ohne diese ist er bloß ein Tier, ein Knecht seiner Triebe und Instinkte, durch sie aber, als Teil der Kollektivpersönlichkeit, empfängt er ein neues Leben, sittliches Wesen und sittliche Würde. Nur als Teil der nationalen Kollektivpersönlichkeit ist, lebt und erfüllt sich die freie, sich selbst bestimmende Einzelpersönlichkeit. 45
Fassen wir nochmals zusammen und ermessen den Abstand, der den Rousseauschen Staat vom Vernunftsstaat seiner Zeit trennt, um so, vergleichend, zu erkennen, wie sich das Verhältnis des Einzelnen zum Staate grundlegend verändert hat. Wir haben gesehen, der rationalistische Staat ist ein Macht- oder Interessenverband, der Rousseausche ist Gemeinschaft, Willensgemeinschaft; der alte Staat ist ein vernunftgemäßer Mechanismus, eine kunstvolle Maschine, ein Apparat; der neue ist eine Persönlichkeit, ein Wesen höherer Art mit eigenem Leben, eigenem Willen, mit einer eigenen Seele gewissermaßen. Der alte Staat dient dem Vernunftgebot, der neue dient nicht, er ist selber Sittengebot; der alte hat einen praktischen Zweck, den Nutzen, das Glück der Menschen, der neue hat darüber hinaus einen ethischen Zweck, die Freiheit der Menschen. Der alte Staat ist begrenzt in seiner Wirksamkeit, Tätigkeit, der neue unbegrenzt, er kann alles, was er will; der alte hat als Grenze den Freiheitsbezirk des Individuums, der neue kennt diese Grenze nicht, da er selber Freiheit ist; der alte erfaßt nur einen Teil des Menschen, der neue erfaßt den ganzen Menschen, mit dem Höchsten und Edelsten was er ist und hat. Der alte ist ein notwendiges Übel, der neue das höchste Gut. Der alte ist im Prinzip für alle Menschen gleich, paßt für alle, ist nicht an den Ort gebunden, der neue Staat paßt nur für eine einzige Gemeinschaft, ist mit dieser unlösbar verbunden. Jede nationale Willensgemeinschaft hat ihren eigenen besonderen Nationalstaat, ist ein besonderer Nationalstaat. Denn der neue Staat ist selber Volk, während der andere als Herrschaftseinrichtung über dem Volke steht oder als Sicherheits- und Ordnungseinrichtung unter dem Volke, immer aber von ihm getrennt und trennbar. Der alte Staat ist für das Individuum da und für dessen Wohl, der neue Staat ist für sich selber da, für das Wohl nicht des Einzelnen sondern der Gemeinschaft, die er selber ist. Der alte Staat gehorcht — wenigstens in der theoretischen Forderung — einem überstaatlichen, übernationalen Vernunftrecht, der neue gehorcht nur sich selbst, ist autonom. Nun der Einzelne: Früher gibt es den Menschen isoliert, jetzt nicht mehr, der Mensch isoliert ist nur ein „dummes und beschränktes Tier". Früher gibt es den atomistischen 46
Menschen als ein in sich geschlossenes, sich selbst genügendes Ganze ohne den Staat, das Individuum. Jetzt gibt es den Menschen nur als einen Teil eines größeren Ganzen, als Glied der staatlichen Gemeinschaft, die Persönlichkeit. Das Individuum ist „an sich" da, ohne den Staat, abstrakt, jetzt ist die Persönlichkeit nicht an sich, sondern als Bürger eines besonderen Staates, konkret. Das Individuum ist ein selbständiges Ich. Die Persönlichkeit ist die Spannung des Ich und Wir im Menschen. Das Individuum will sich, das Eigenwohl, die Persönlichkeit will die Gemeinschaft, das Gemeinwohl. Das Individuum ist ein Einzelwesen, die Persönlichkeit ein Kollektivwesen. Das Individuum lebt in der staatsfreien, menschlichen Gesellschaft, die Persönlichkeit in der staatlichen Gemeinschaft, nicht in der Menschheit, sondern in der Nation. Das Individuum gehört der ganzen Menschheit an und ist ein Weltbürger, die Persönlichkeit gehört seiner besonderen staatlichen Gemeinschaft an und ist ein Staatsbürger. Das Individuum hat eine Vernunftsmoral, die unabhängig vom Staate gilt, die Persönlichkeit hat nur durch den Staat Sittlichkeit. Dem Individuum sind alle Menschen Brüder, die Persönlichkeit gibt dem Volksgenossen den Vorzug. Das Individuum ist frei ohne den Staat und gegen den Staat, die Persönlichkeit ist ohne den Staat unfrei, frei nur durch den Staat. Das Individuum gehorcht im Staate dem Willen des Herrschers, ist Untertan, die Persönlichkeit gehorcht sich selbst im Staat, ist Bürger. Diese ganze Litanei von Unterschieden läßt sich zurückführen auf und zusammenfassen in den einen Unterschied: Im rationalistischen Denken sind Einzelner und Staat getrennt, bei Rousseau sind Einzelner und Staat vereint, gehen ineinander auf, sind verschmolzen. Im Rationalismus kann der Einzelne, individualistisch in sich abgeschlossen und abgekapselt, nicht aus sich heraus und der Staat kann nicht in das Individuum hinein. Die beiden müssen miteinander verhandeln, grenzen ihre Rechte gegeneinander ab, die Grenze kann verschoben werden zugunsten des Individuums oder zugunsten des Staates, aufgehoben aber wird sie nie. Der Staat bleibt immer letztlich ichfremd, wie das Individuüm immer letztlich staatsfremd bleibt. — Bei
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Rousseau dagegen ist der Dualismus Einzelner — Staat aufgehoben, die Grenze zwischen beiden geschwunden. Die Persönlichkeit trägt den Staat in sich, wie der Staat die Persönlichkeit in sich trägt. Der Staat ist verinnerlicht, vergeistigt, sozusagen verpersönücht, wie anderseits die Persönlichkeit verstaatlicht, durch und durch politisiert, nationalisiert ist. Der Staat ist nicht mehr außerhalb des Einzelnen als ein Fremdes, sondern in das Innere und Innerste des Einzelnen hineinverlegt. Der Einzelne ist als Persönlichkeit selber Staat geworden. Die Bedeutung dieser sozusagen kopernikanischen Wendung im staatlichen Denken für das Erwachen des Nationalismus ist gar nicht zu überschätzen. Denn jetzt findet der Einzelne im Staate nicht bloß die äußere Sicherheit und Ordnung, die ihm jeder Staat, auch der fremde, geben kann, ohne daß er sich sonderlich um das Geschäft zu kümmern bräuchte, sondern die staatgewordene Persönlichkeit findet im Staate die letzte und höchste Verwirklichung ihrer selbst. Die aber vermag sie nicht in jedem Staate zu finden, sondern nur in dem, den die Persönlichkeit selber will, an dem sie restlos teil hat, in dem sie aufgeht, nur im eigenen, nur im nationalen Staat. Fremdherrschaft im weitesten Sinne, für das Individuum prinzipiell tragbar, ist für die freie Persönlichkeit untragbar, unsittlich, eine Verletzung ihres eigensten Wesens. Eine Veranschaulichung der Bedeutung von Rousseaus Staatsidee an praktischen Beispielen müssen wir uns versagen. Das hieße nahezu die gesamte Staatspraxis, die Kabinettspolitik des Absolutismus im 18. Jahrhundert mit fast der gesamten inneren und äußeren Politik und Struktur unserer modernen Nationalstaaten vergleichen. Hier genügt es, wenn bei den notwendigerweise abstrakten und mitunter etwas schwierigen Überlegungen, die der Genfer vor 175 Jahren angestellt hat, gelegentlich Aufgaben und Fragen aufgefallen und eingefallen sind, die unsere heutige Zeit bewegen. Statt den späteren Auswirkungen Rousseaus für den Nationalgedanken nachzugehen — das wird ohnedies bei den meisten der Männer geschehen müssen, die im folgenden behandelt werden sollen — fragen wir zum Schlüsse 48
lieber, ob und wieweit denn Rousseau selber ein Nationalist war, ob er selber seine neue Staatsidee auch wirklich national verstanden hat. Denn zunächst scheint es ja, daß seine Persönlichkeitslehre und sein Contrat Social für alle Staaten gelte und keine spezifisch nationale Sonderfärbung habe, also doch wieder anational sei. Das scheint nur so, in der Anwendung ist Rousseaus Staatsgedanke ganz eindeutig und für seine Zeit in unerhörter Weise national. Das merkt man nicht nur an gelegentlichen allgemeineren Äußerungen, wie etwa an der Sympathie für den damaligen Freiheitskampf der Korsen gegen die Franzosen, an welche jene 1768 von Genua verkauft worden waren. Aufschlußreicher schon ist eine Stelle, wo der Genfer die westlerischen Reformen Peters des Großen ablehnt. „ E r hat", heißt es da, „zuerst Deutsche und Engländer machen wollen, wo man damit hätte anfangen sollen, Russen zu machen. Er hat seine Untertanen verhindert, je das zu werden, was sie sein könnten, indem man ihnen eingeredet hat, zu sein, was sie nicht sind." Hier sieht man, wie die Rousseausche Forderung des „sei du selbst" eine ausgesprochen nationale Bedeutung annehmen kann in dem Sinne von „sei deiner nationalen Eigenart treu". Weiter ausgeführt hat Rousseau diesen äußerst fruchtbaren Gedanken in einer Schrift „Über die Regierung Polens und seine beabsichtigte Reformierung". Da sagt er den Polen, die ihn gebeten hatten, für sie eine Verfassung zu entwerfen, das kann ich nicht, ich bin ja kein Pole, kenne Polen nicht einmal. Es kommt auch nicht darauf an, daß eine Verfassung an sich gut sei, sondern sie muß zu der Nation passen, für die sie bestimmt ist. Eine Verfassung, die für die eine Nation ausgezeichnet ist, ist oft für eine andere völlig unbrauchbar. Denn sie muß mit den besonderen Sitten, Gebräuchen, Neigungen, .Vorurteilen und Tugenden eines Volkes, kurz mit dem Nationalcharakter übereinstimmen. Es gibt nur nationale Verfassungen, nicht eine Allerwelts- und Einheitsverfassung für alle Völker. Daher könne er ihnen keine Verfassung, sondern nur grundsätzliche Ratschläge geben. Und da will er ihnen nicht etwa dogmatisch die Regierungsform des Contrat Social aufreden, überhaupt seien nicht gesetzliche Bestimmungen das Wesentliche, die Rettung könne nur V o s s l e r , Nationalgedanke
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dadurch kommen, daß die Polen ihr Vaterland lieben, sich durchdringen mit Nationalgeist. Dazu empfiehlt er ihnen: „jeux d'enfants", Kinderspiele ! Er meint vaterländische Jugenderziehung, Jugendverbände, vaterländische Wettspiele, gemeinsame Körperertüchtigung durch Sport, Pflege nationaler Spiele, nationaler Tänze und Bräuche, Versammlung des Volkes zu nationalen Festen. Er erinnert die Polen, was die Heldenepen Homers, die nationalen Tragödien eines Äschylus, Sophokles und Euripides für die Erziehung der Griechen zu patriotischen, heldenhaften Männern bedeutet haben. So solle man es machen, die nationalen Erinnerungen wachhalten. Es sei ein Vorzug, ein Glück, daß die Polen eine Nationaltracht haben, jeder solle es sich zur Pflicht machen, sie zu tragen, keiner, am wenigsten wer im Amte ist oder zu Hofe geht, solle es wagen, in der französischen, internationalen Kleidung zu erscheinen, wie das Peter der Große von seinen Höflingen verlangt hatte. Kurz, in allem, bei den täglichsten Beschäftigungen müsse der Pole an das Vaterland erinnert werden, das Vaterland vor Augen haben und es lieben lernen, überall solle das spezifisch Polnische betont, hochgehalten, die fade, falsche und oberflächliche internationale, kosmopolitische Gleichmacherei, insbesondere die Nachahmung des damals herrschenden französischen Geschmackes bekämpft werden. Besinnt euch auf euer Polentum, das ist sein Rat. — Man sieht an diesen merkwürdig modern anmutenden Vorschlägen, wie Rousseau nicht etwa in den Höhen seiner Abstraktionen hängen bleibt, sondern einen ungewöhnlich feinen Sinn dafür hat, wie man in der Wirklichkeit die Gemeinschaftsgesinnung, den Nationalwillen, jene volonté générale erwecken und stärken muß, daß er sehr wohl die Zusammenhänge kennt, welche den sittlichen Willen zur Selbstbestimmung mit den allgemein kulturellen, wir sagen den völkischen Gütern einer Nation verbinden. Am klarsten freilich zeigt sich Rousseaus Nationalismus da, wo es sich um sein eigenes Vaterland, um seine eigene Nation handelt. Das ist die Schweiz, insbesondere aber Genf. Es ist ganz verkehrt, Rousseau für einen Franzosen, seine Staatslehre für typisch französisch zu halten. Er ist bewußter, betonter, stolzer Genfer Nationalist, seine politische Lehre 50
ausgesprochen genferisch. In Frankreich hat er sich lediglich als Gast gefühlt, zu Hause ist er nur bei seinen Landsleuten. Obwohl er selber, wie schon gesagt, keine politische, keine aktive und praktische Natur ist, sondern eine kontemplative, hat er, soweit er nur konnte, mit seinem Satze ernst gemacht: „Sobald einer von den öffentlichen Angelegenheiten sagt, was geht's mich an ? ist der Staat in Gefahr." Aus dieser Gesinnung ist außer dem Contrat Social eine merkwürdige und für seinen Patriotismus ergiebige Schrift entstanden, die „Lettre sur les Spectacles". Da hatte die große Enzyklopädie harm- und ahnungslos angeregt, man möge in Genf ein Theater einführen. Rousseau hört von dem fürchterlichen Anschlage, sieht sein Vaterland bedroht und eilt ihm zu Hilfe und zieht nun wild und wütend übet die höchst sittenverderbende Einrichtung des Theaters her. Oder genauer gesagt, er setzt auseinander, daß das Theater wohl nach Frankreich passen mag, nach Paris, wo doch nichts mehr zu verderben ist, in Genf aber sei nie eines gewesen, nach Genfer Gesetzen ist es verboten, da passe es nicht hin und solle es nicht hin. In der ganzen Schrift kommt immer wieder die Gegenüberstellung Genf — Frankreich, ein Gegensatz, der für Rousseau selber ja persönliches und entscheidendes Erlebnis gewesen ist. Die Franzosen mit ihrer sogenannten feinen Gesellschaft von reichen Müßiggängern, mit ihrem geistreichen Getue ohne solide Sitten, die mögen ruhig ins Theater gehen und den Schauspielerinnen nachlaufen. Der biedere Schweizer aber will nichts Derartiges im Haus, er will ehrliche Gemeinschaft, eine ehrliche, arbeitsame Jugend; ein Theater paßt nicht zur guten altgenfer Einfachheit, zu Genfer Schlichtheit, Genfer Strenge, zum Genfer Ernst, zur Genfer Religion, zur Genfer Verfassung, mit einem Wort, das Theater widerspricht dem Genfer Nationalcharakter, der eben anders, Gott sei Dank sehr anders sei als der französische. Dann kommt ein Preislied auf die wahre Volksgemeinschaft seiner Heimat, die sich in Männerbünden, Schützenvereinen, Waffenübungen, Volksfesten, gemeinsamen Wanderungen übt und kräftigt, ja sogar das Trinken fürs Vaterland und die sittenerhaltende Wirkung der Weiberkränzchen wird gerühmt und idealisiert. Das sind typisch-schweizerische 4*
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Töne, so sehr, daß man sich oft aufs lebhafteste an das „Fähnlein der Sieben Aufrechten" von Gottfried Keller gemahnt fühlt. Es ist echt Schweizer Biedersinn und Gemeinsinn, der da spricht, ehrlich und aufrecht, ausgesprochen bürgerlich-republikanisch. Auch die Verbindung mit der Natur, mit der heimischen Landschaft, ist Rousseaus Patriotismus bekannt. Die Nouvelle Heloise spielt nicht umsonst am Genfer See und man kann wohl sagen, daß sie mit ihren berühmten und begeisterten Landschaftsbeschreibungen die Schweiz erst recht in Mode gebracht hat. Aus gleicher vaterländischer Gesinnung „nationalisiert" Rousseau auch schon die Sprache, wenn er mit lokalgenfer Ausdrücken kokettiert und sie den französischen „Ausländern" in Fußnoten erklärt. Sehr deutlich ist auch der protestantische Zug im Nationalgedanken von Rousseau. Er preist neben einem Lykurg und Solon, den Staatengründern der Antike, Calvin als den großen Gesetzgeber seines Vaterlandes, und sein Genfer calvinistisches Bekenntnis hat er bei aller religiösen Toleranz stets als das beste und freieste gerühmt. Bezeichnend, wenn er etwa in der Heloise ganz nebenbei von einem Ehrenmann bemerkt: Freund der Freiheit, obwohl Savoyarde, tolerant, obwohl katholischer Priester. Es ist bekannt und von der Forderung des restlosen, ungeteilten Aufgehens des Individuums im Staate aus auch konsequent, daß Rousseau wiederholt bedauert hat, daß die christliche Religion, die er freilich stets verteidigt und hochhält, im Gegensatz zur Religion der Griechen und Römer nicht national und nicht politisch sei. Nun, sein Vaterland Genf hat im Calvinismus doch eine Art Staatsreligion, die es von den Nachbarnationen Frankreich und Savoyen unterscheidet und trennt. Um aber zurückzukehren zu den Ausführungen der Spectacles, so lautet da Rousseaus stetige Mahnung an seine Landsleute: Bleibt euren heimischen Sitten, den heimischen Bräuchen, dem vaterländischen Geiste treu. Besinnt euch auf euer Genfertum und äfft nicht die Franzosen nach. Seid stolz, daß ihr Genfer seid. Die Franzosen mögen glänzen durch ihre vielbewunderte Kultur, dafür sind sie unfrei, bloße Untertanen ihres Herrn. Wir Genfer aber in unserem bescheidenen, kleinen Staat, in unserem e i g e n e n Staat, wir sind frei, wir sind Bürger. Solche, so modern anmutende 52
„nationale" Gesinnung ist für jene Zeit gar bei einem „aufgeklärten" Menschen im höchsten Grade ungewöhnlich. Wie ungewöhnlich sie ist, das mag man am ehesten ermessen, wenn man sie der Haltung des typischsten und führenden Aufklärers gegenüberstellt, der Haltung Voltaires. Voltaire hat sich in Ferney, an einem Dreiländereck, einen wahren Fuchsbau angelegt, um allen Vaterländern, allen rohen Staatsgewalten jederzeit entweichen zu können, als Herrscher des Geistes und Bürger der Welt. Rousseau drängt zurück, vom Geist, der ihn frieren macht, von der Welt, die ihm fremd ist, zurück zur Heimat, zur Ordnung, zum Staat, zum Vaterland: Genf. Erst wenn man diese seiner Zeit vorauseilende Gesinnung des ersten Bahnbrechers des Nationalismus kennt, würdigt man den einzigen Ehrentitel, den er sich angelegt hat: Jean-Jacques Rousseau, Citoyen de Genève.
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BURKE
Ist der Genfer im tiefsten revolutionär, so ist der Engländer Edmund Burke (1728—1797) der Begründer des konservativen Denkens. Er ist bekannt als der größte Feind und klassische Gegner Rousseaus. Während dieser mit seinem flammenden Proteste und Aufruf zur sittlichen Freiheit die alten Staaten nicht als reformbedürftig gelten läßt, sondern als unsittlich verwirft, ist jener der große Verteidiger des bestehenden, insbesondere des bestehenden englischen Staates, den er für vollkommen' erklärt, soweit es Vollkommenes gibt. Dieser sieht nur in einer radikalen Neuschöpfung des Staates eine Rettung aus der Verderbnis, in einem so radikalen Umsturz, daß er an seiner Möglichkeit selber zweifelt — jener lehnt jede Neuschöpfung auf politischem Gebiete geradezu als Gotteslästerung ab, nur im Anschluß an das Bestehende läßt sich vorsichtig, umsichtig, langsam der Staat weiter entwickeln, nicht aber gewissermaßen aus dem Nichts konstruieren. Rousseau beschäftigt sich mit der sittlichen Forderung und tritt mit ihr fordernd an den Staat heran. Burke geht vom Staate aus und findet in ihm eine neue Welt der Vernunft und Sittlichkeit, die schon längst vernünftig und moralisch ist. Rousseau gilt als einer der Väter der Französischen Revolution — ob oder wie weit mit Recht, haben wir hier nicht zu untersuchen, Burke betrachtet ihn als solchen — und Burke ist weitaus der größte, gewaltigste und genialste Gegner der Französischen Revolution, der sogenannten Ideen von 1789. Er haßt, verachtet, verabscheut Rousseau aus tiefstem Herzen als einen eitlen und geschmacklosen, verlogenen und lasterhaften Verführer, als den Zerstörer aller Ordnung und Sittlichkeit. Seinen allmächtigen Staat, der keine Grenzen seiner Gewalt, keine übergeordnete Macht und keine Schranke seines Tuns kennt, betrachtet er als den vollendeten Despotismus, den abscheulichsten, den es gibt, den 54
Despotismus der Masse, das Ende jeder wahren Freiheit. Er hat auch die kulturfeindliche Tendenz einer so restlosen Politisierung des Menschen, wie sie Rousseau durchführen will, herausgefühlt und verklagt. Kurz, die beiden, der weltfremde, spekulierende „homme de lettres" und der praktische Staatsmann mit seiner langen Erfahrung und mit seinem einzigartigen Blick für die politische Wirklichkeit stellen in der Tat zwei Gegenpole im politischen Denken dar, wie man sie gespannter sich kaum vorstellen kann. Um so merkwürdiger, überraschender und bedeutsamer ist es, daß sie auf ihren so verschiedenen, ja entgegengesetzten Wegen doch zum selben Ziele streben, an derselben Aufgabe arbeiten — gerade an der Aufgabe, die uns hier beschäftigt. Beide stehen im Kampfe gegen das rationalistische, individualistische, mechanistische, utilitaristische und universalistische Denken ihrer Zeit, beide ebnen den Weg für den Nationalismus. Beide haben das Irrationale im menschlichen Leben entdeckt, Rousseau im Gefühl, im Herzen des Menschen, in der Persönlichkeit, Burke in der politischen Wirklichkeit, im Staate. Das Wort „irrational" ist dabei mit Vorsicht und Vernunft zu verstehen, nicht in dem modisch ausgeweiteten Sinne, in dem der Ausdruck gern und viel mißbraucht wird. Von einer Verdächtigung des Geistes und Aufweichung des kritischen Sinnes, wie sie denkfaulen, denkschwachen und denkfeigen Leuten gerade recht kommen könnte und bequem wäre, sind sowohl Rousseau, wie man wohl gesehen haben dürfte, wie auch Burke sehr weit entfernt. Beide bekämpfen nicht etwa die Vernunft überhaupt, sondern nur die falsche, viel zu enge und magere, mathematische, kurz abstrakte Vernunft, die aus den exakten Wissenschaften herstammt und dort auch am Platze ist, die aber von den Rationalisten auf die Wissenschaft vom Menschen, auf Psychologie, Moral-, Rechts-, Staats-, Geschichtslehre und Politik übertragen worden war und dort eben nicht mehr am Platze ist, nicht ausreicht. Diese falsche Vernunft allein, oder genauer gesagt, lediglich diese verkehrte Übertragung und Anwendung einer mathematisch-physikalischen Methode auf den Menschen haben der Genfer und der Engländer bekämpft, indem sie das Irrationale betont haben, 55
das von jener mathematisch abstrakten Vernunft übersehen oder verworfen worden war, weil es in ihr keinen Platz finden konnte. Rousseau und Burke aber haben gerade in jenem Irrationalen eine „wahrere", weitere, höhere Vernunft entdeckt, nicht Unvernunft. Sie haben nicht daran gedacht, die Vernunft zu verdächtigen, einzuengen oder gar totzuschlagen, sondern sie haben sie aufs allerfruchtbarste vertieft und bereichert, indem sie da Vernunft gefunden haben, wo die Rationalisten sie nie gesucht haben, indem sie an Stelle der mathematischen Vernunft der Abstraktion eine historische und konkrete Vernunft der Wirklichkeit gesetzt haben, eine Vernunft, die nicht nur Zahlen und toten Körpern, sondern dem Menschen und seinem edelsten Streben gerecht wird. Das aber vollbrachten sie nicht, indem sie auf das kritische Denken verzichteten, sondern im Gegenteil, indem sie schärfer, sauberer und weit kritischer dachten als das die Rationalisten zu tun gewohnt waren. So viel zur Klärung des Begriffes „irrational", den wir oft gebraucht haben und noch oft gebrauchen werden. Nehmen wir die Frage auf, wie nun Burke, ähnlich Rousseau, den politischen Rationalismus des 18. Jahrhunderts angreift, wie er also jenes Irrationale, jene tiefere Vernunft im Staate entdeckt und damit schließlich den Nationalismus fördert. Wir wollen dabei nicht systematischdeduktiv vorgehen, wie wir das bei Rousseau getan haben, ausgehend vom Begriff der Vernunft, dann der Persönlichkeit, der Freiheit usf. Das würde der Art des Engländers sehr wenig entsprechen. Er hat ja kein System der Staatslehre geschrieben. Im Gegenteil, er ist gerade der klassische Gegner und Überwinder der spekulativen und deduktiven systematischen Methode, soweit sie auf die Politik angewendet wird. Da gehöre sie nicht hin, da stifte sie nur Verwirrung und Unheil. Wie schon gesagt, Burke ist praktischer Staatsmann, und zwar ein hervorragender Staatsmann, vielleicht der beste Kopf im englischen Parlament. Er hat bewiesen, daß er etwas kann und sehr deutlich ist bei ihm die Überlegenheit und der Ärger, die Ungeduld, Verachtung und schließlich der wilde Haß des politischen Fachmanns im besten Sinne gegen die philosophierenden und spekulierenden Dilettanten, die ihm ins Handwerk pfuschen, von dem
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sie keine Ahnung haben. Freilich ist Burke nicht nur praktischer Staatsmann. Er ist Staatsmann und Staatsdenker in einer Person — trotz Locke und Hobbes wohl der bedeutendste und am typischsten englische seines Landes. Er hat sich nicht etwa damit begnügt, die philosophierenden Amateurpolitiker roh beiseite zu stoßen und zu beschimpfen, er hat sie widerlegt und gezeigt, wie man es besser macht. Indem man nämlich, statt mit einer fertigen, erklügelten Theorie an die Wirklichkeit heranzutreten, um sie danach zurecht zu stutzen und zu biegen oder zu zerschlagen, umgekehrt, ehrfurchtsvoll die bestehende Wirklichkeit beobachtet, verfolgt, versteht und dem konkreten staatlichen Leben die in ihm wirkenden Prinzipien abzulauschen sucht, also die Theorie der Praxis entnimmt. Seine Theorie ist „geronnene Erfahrung". So läßt sich denn auch aus den politischen Schriften Burkes — sie sind mit einer Ausnahme sämtlich Gelegenheits- und Streitschriften, in denen er zu jeweils aktuellen, konkreten politischen Fragen Stellung nimmt — sehr wohl eine eigene, höchst charakteristische, burkesche Staatsauffassung und Staatslehre herausziehen. Wir tun daher am besten, die schrittweise Vertiefung, Bereicherung und Klärung seiner Staatsauffassung zu verfolgen, wie sie sich in der zeitlichen Reihenfolge jener Gelegenheitsschriften entwickelt. Dabei können wir als Ausgangspunkt einen Lieblingsausdruck und die unermüdlich wiederholte Forderung dieses Staatsmannes wählen, die „expediency" — ein schwer zu übersetzender Ausdruck; er bezeichnet das, was füglich, schicklich, ratsam, dienlich, nützlich, zuträglich, zweckentsprechend, eben was praktisch politisch richtig ist. Ein sehr unbestimmter Begriff also, denn was Machiavelli empfiehlt, ist auch expediency und doch etwas sehr anderes als was der Engländer meint. Was dieser darunter versteht, darüber geben seine Schriften Auskunft. Die früheste von ihnen und die einzige, die nicht einen aktuellen Anlaß hat, „ A Vindication of natural society" 1756, ist eine Satire auf die rationalistische, naturrechtliche Staatslehre, eine Verspottung des abstrakten Politisierens nach einem dogmatisch abgeleiteten Begriff. Was man aus ihr entnehmen kann, ist, daß das philosophierende, Burke 57
sagt gerne „metaphysische" Politisieren keineswegs expedient ist, sondern barer Unsinn. Wir halten uns dabei nicht auf, da Burke diesen Gedanken später weit besser und feiner ausgeführt hat. Dann folgt eine Trilogie von Streitschriften zur Amerikanischen Revolution. Da war über der neueingeführten Besteuerung der amerikanischen Kolonien durch die Reichsregierung in London der Konflikt ausgebrochen; von beiden Parteien wird in einer bitteren Diskussion mit juristischen Argumenten gefochten. Die Amerikaner leugnen, die Engländer behaupten die Rechtmäßigkeit, die Verfassungsmäßigkeit der neuen Maßnahmen, auch mit naturrechtlichen Thesen arbeiten sie, während die englische Regierung versucht, mit fiskalischen Maßnahmen, mit neuen Verordnungen und Gesetzen der Lage Herr zu werden. Burke dagegen, einer der wenigen Engländer, die dauernd für die Kolonien Partei ergreifen, verlegt die Frage auf eine grundsätzlich andere Ebene. „Ich will mich hier — ruft er der englischen Regierung zu — nicht mit der spitzfindigen Unterscheidung von Rechten abgeben, noch will ich versuchen, ihre Grenzen zu bestimmen. Ich lasse mich in solche metaphysische Unterscheidungen nicht ein, ihr bloßer Klang ist mir verhaßt. Laßt die Amerikaner, wie sie vor alters standen, und diese Unterscheidungen, die aus unserem unseligen Zwist entstanden sind, werden mit ihm verschwinden. Sie und wir, ihre Ahnen und die unseren, sind unter diesem Regierungssystem glücklich gewesen. Laßt die Erinnerung an alle Handlungen, die in Widerspruch stehen zu diesem guten alten Brauch, auf beiden Seiten für immer vergessen sein. Seid zufrieden, Amerika durch Handelsgesetze zu binden: ihr habt das immer getan. Das soll euer Grund sein, ihren Handel zu binden. Belastet sie nicht mit Steuern: ihr habt das nicht von Anfang an getan. Das soll euer Grund sein, keine Steuern zu erheben. Das sind die Argumente von Staaten und Königreichen. Das übrige überlaßt den Schulen, denn dort allein kann darüber ohne Gefahr disputiert werden. Wenn ihr aber unbedacht, töricht, verhängnisvoll Sophistereien treibt und die Quelle aller Herrschaft vergiftet, indem ihr aus der unbegrenzten und unbegrenzbaren Natur der Souveränität Folgerungen und
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Schlüsse ableitet, die denen, über die ihr herrschen sollt, verhaßt sind, so werdet ihr sie auf diese Weise lehren, diese Souveränität selbst in Frage zu ziehen. Wenn man ihn hart bedrängt, wendet sich der Eber um und stürzt sich auf die Jäger. Wenn diese Souveränität und ihre Freiheit sich nicht vereinen lassen, was werden sie da wählen ? Sie werden euch eure Souveränität ins Gesicht schleudern. Niemand läßt sich in die Knechtschaft hineinargumentieren." Hier ist schon ziemlich deutlich, in welcher Richtung Burke seine „expediency" entwickelt. Er will sagen, daß das staatliche Leben nicht einer juristisch starren oder philosophisch-abstrakten Logik gehorcht, daß es nicht durch rationale Schlußfolgerungen und kalte Vernunft gelenkt werden kann, daß sich das Handeln des Staatsmannes nicht nach den Kriterien der abstrakten Vernunft, sondern nach der konkreten Erfahrung zu richten hat. Gewohnheit, alte Bewährung, Anhänglichkeit, vertraute Vorurteile, Tradition, lauter irrationale aber sehr wirksame und wirkliche Kräfte, das sind die Dinge, die der Staatsmann kennen und beachten muß. Weiter führt Burke noch aus, daß sich die englische Regierung verhängnisvoll täusche, wenn sie glaube, durch ihre Gesetze und Verordnungen, durch Befehle und Verbote, durch fiskalische Mittel und materielle Interessen, durch Beamte, Soldaten und schließlich Gewaltanwendung das Britische Reich zusammenzuhalten. So könnten nur phantasielose Bürokratenseelen denken. Nicht diese materiellen und sichtbaren Dinge, sondern irrationale, geistige Kräfte halten das Reich zusammen, der alte britische Geist, in erster Linie der edle Geist der stolzen britischen Freiheit, der auf beiden Seiten des Ozeans lebt und weiter leben soll. Wer ihn zerstört, zerstört das Reich um einiger lumpiger Steuern willen. Hören wir lieber Burke selber, wie er sich warnend und mahnend an die Reichsregierung wendet: „Bildet euch nicht ein, daß eure amtlichen Depeschen und eure Instruktionen und eure Ausnahmeverfügungen die Dinge sind, die den großen Bau dieses geheimnisvollen Ganzen zusammenhalten. Diese Dinge machen nicht eure Herrschaft aus. Tote Instrumente sind sie, passive Werkzeuge, aber der Geist der e n g l i s c h e n G e m e i n s c h a f t ist es, der ihnen all ihr Leben und ihre 59
Wirksamkeit verleiht. Es ist der Geist der englischen Verfassung, der, die gewaltige Masse erfüllend, jeden Teil des Empires bis herab zum geringsten Gliede durchdringt, nährt, eint, kräftigt, belebt. All das, ich weiß es wohl, mag wild und phantastisch klingen für die gemeinen und mechanischen Politiker, die da glauben, daß nur existiert, was grob ist und materiell. . . Mein Mittel, die Kolonien festzuhalten, ist die enge Neigung, die aus gemeinsamen Namen, aus verwandtem Blut, aus ähnlichen Vorrechten und aus gleichem Schutze hervorwächst." Und dann die berühmten, zukunftsvollen, oft zitierten Worte: „These are ties, which, though light as air, are as strong as links of iron — das sind Bande, die zwar leicht wie Luft, stark sind wie Glieder aus Eisen. Sorgt dafür, daß die Kolonisten den Gedanken ihrer bürgerlichen Rechte immer verbunden sehen mit eurer Herrschaft: sie werden an euch hangen und halten und keine Gewalt unter dem Himmel wird die Macht haben, sie von ihrem Treubund zu reißen. . . So lange ihr so klug seid, die souveräne Autorität dieses Landes als die Freistätte der Freiheit zu erhalten, als den heiligen Tempel geweiht unserem gemeinsamen Glauben, so lange werden — wo in der Welt das erwählte Blut und die Söhne Englands die Freiheit verehren, sie ihre Augen auf euch richten. . . Verweigert ihr ihnen diese Teilnahme an der Freiheit, so zerreißt ihr das einzige Band, das ursprünglich gemacht hat und weiter erhalten muß die Einheit des Reichs." In diesen Sätzen ist auf klassische Weise die Seele, das Lebensprinzip des Britischen Imperiums erkannt und ausgedrückt, wie wir es heute vor uns haben. Dieses Reich hat einen verschwindend kleinen, unfaßbar lockeren organisatorischen Apparat, es wird trotzdem fest zusammengehalten in erster Linie durch den stolzen Glauben an die alte, spezifisch englische Freiheit, der in allen so gut wie unabhängigen Dominions lebendig ist und sie zu einer festen Einheit, zu einem Ganzen, zur weltweiten britischen Nation zusammenschließt. Burke ist der erste, der das klar erkannt hat, er hat als Erster das Britische Imperium nicht als bloße Interessengemeinschaft, als Apparat und Instrument gesehen, von außen her gewissermaßen, sondern als historisch-geistige Einheit, als die Glaubensgemeinschaft 60
einer erdumspannenden Nation. Es ist zwar richtig, daß in jenem verhängnisvollen Streit mit den Kolonien Burke, dem oppositionellen Whig, die Freiheit näher am Herzen liegt, als das eigentlich nationale Moment. Indes stehen bei den Engländern die Dinge so, daß Stolz auf die englische Freiheit und Stolz auf die englische Nationalität ganz untrennbar zusammengehören, sie sind nahezu das gleiche. Ohne englische Freiheitsrechte gibt es keine Engländer. Das wissen die Amerikaner und das weiß am allerbesten Burke und sein Kampf für die britische Freiheit in den amerikanischen Kolonien ist ein Kampf um das höchste Nationalgut, um den britischen Nationalgeist selbst. Ihn will er erhalten, pflegen, schützen und durch ihn das Imperium und umgekehrt will er durch das Imperium den Geist der britischen Freiheit erhalten. Kurz, man sieht, Burke entwickelt gelegentlich des Konflikts mit den Kolonien einen Staatsbegriff, der über den seiner Zeitgenossen hinausweist, viel reicher und voller, wirklichkeitsnäher und tiefer ist als dieser. Er will den Staat nicht auf abstrakte „metaphysische" Rechte und Deduktionen gegründet wissen, noch auf den engen Geist der Paragraphen, noch auf einen äußeren Apparat, noch auf Gewalt, sondern auf lange Gewohnheit, Anhänglichkeit, Vertrauen, ererbten politischen Glauben und Brauch, auf das feste Fundament einer altbewährten, ehrfurchtsvoll zu achtenden Tradition. So betont Burkes Staatsauffassung die Rolle des Irrationalen, des Gefühls, der Gewohnheit und des Glaubens im politischen Leben und sie schafft damit erst Platz für das Nationalgefühl. Weniger ergiebig für unsere Fragestellung sind die nächstfolgenden Schriften des Whigs, die sich mit Irland und vor allem mit Indien beschäftigen. Die ersteren treten ein für eine gerechtere und freiere Behandlung der irischen Katholiken — Burke selber ist Ire, aber anglikanischer — die letzteren sind ein leidenschaftlicher Protest gegen die Mißbräuche der noch jungen englischen Herrschaft in Indien. Trotz mancher Irrtümer und Übertreibungen bedeuten sie ein großmütiges und vornehmes Eintreten für die Rechte der Eingeborenen, der Eroberten. England müsse zum Besten der Inder in Indien sein oder überhaupt nicht. Die Forderung einer nationalen Befreiung und Selb61
ständigkeit für Irland oder Indien darf man freilich nicht erwarten. Was aber für unseren Zusammenhang interessant ist, ist die starke und ehrliche Betonung des moralischen Momentes in Burkes Staatsauffassung. Herrschaft ist nicht nur ein Recht, Herrschaft bedeutet eine moralische Verpflichtung. Der Staat ist eine moralische Einrichtung, es wird sich bald 2eigen, er ist für Burke sogar eine religiöse, letzten Endes eine göttliche Ordnung. Die reichste, vollste und beredteste Entwicklung der politischen Erkenntnisse, der tiefsten Einsichten des Staatsmannes in das Wesen des Staates bringen erst die berühmten Schriften über oder besser gegen die Französische Revolution. Das klassische Werk, das weit über die Grenzen Englands einen ungeheuren und dauernden Eindruck gemacht hat, und das eine bleibende Bereicherung des politischen Denkens aller Völker gebracht hat, sind seine „Betrachtungen über die Französische Revolution", die „Reflections on the Revolution in France" vom Jahre 1790 — also noch vom Anfang jener Umwälzung. Bei uns hat sie kein anderer als Friedrich Gentz übersetzt und erläutert. Diesem Hauptwerk folgen noch einige weitere, ergänzende Schriften von ähnlicher Tendenz und bis zu seinem Tode setzt Burke in unverminderter, ja mit steigender Leidenschaftlichkeit den Kampf gegen die Revolution fort. Warum diese Feindschaft, warum dieser wilde Haß gegen eine Bewegung, die doch zu Anfang wenigstens von den größten Geistern Europas mit freudiger Erwartung begrüßt worden ist ? Burke erkennt die Umwälzung von 1789 als eine Bewegung, die nicht auf Frankreich allein beschränkt bleiben kann, als inter- und übernationale Bewegung. Denn die Franzosen handeln da nicht aus nur französischen politischen Verhältnissen oder Notwendigkeiten heraus und nicht mit umgrenzten Absichten, die sich nur auf das eigene Land beziehen, denn sie handeln überhaupt nicht eigentlich politisch, sondern weltanschaulich. Es dreht sich hier nicht nur um eine praktische Neuordnung, die sich in bloß praktischen Reformen des bourbonischen Staates erschöpfen kann; der Bruch geht tiefer, dem Tun der Revolutionäre liegen Maximen und Prinzipien zugrunde, die grundsätzlich alle staatliche Ordnung alten Stils in Frage 62
stellen. Es ist ein neuer Glaube, der da in Frankreich durchbricht, ein Glaube, der seiner Natur nach Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben muß. Die neuen Grundsätze von den Menschenrechten, von Freiheit und Gleichheit, von Volkssouveränität und wie sie alle heißen, können nicht in Frankreich richtig sein, in Preußen aber falsch. Sie sind entweder überall richtig oder überall falsch. Sie sind internationale Gedanken, übernationale Wahrheiten oder Irrtümer, sie wenden sich an alle Menschen gleichermaßen ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit und Nationalität, sie kennen keine irdischen Grenzen. Burke vergleicht den Zustand, in den die Französische Revolution Europa stürzen werde, prophetisch und treffend mit dem Zustande des Abendlandes zur Zeit der Religionskriege. So wie damals die übernationalen Glaubenssätze ganz Europa in zwei feindliche Lager gespalten haben, quer durch die bestehenden Staaten den Riß auftaten und diese in eine Kette von Glaubens- und Bürgerkriegen stürzten, so werde es auch jetzt wieder in ganz Europa, in allen Ländern eine einheitliche, internationale „französische" Partei der Anhänger des „neuen Evangeliums" von Paris geben mit dem unvermeidlichen Bürgerkrieg, mit der Bedrohung oder Zerstörung der bestehenden, überkommenen staatlichen Ordnung. Die Querspaltung hat ja schon begonnen, ja der Anlaß zu den „Reflections" ist gerade eine solche, wenn auch noch sehr harmlose Sympathiekundgebung einer kleinen Gruppe englischer Freunde der Französischen Revolution. Es ist die „französische" Partei in England, gegen die sich Burke warnend und anklagend wendet, weil er durch sie die ehrwürdige englische Verfassung, die Ruhe, die Einheit, die Zukunft der englischen Nation gefährdet sieht. Der Feind, den Burke bekämpft, ist also ein „religionsähnlicher Glaube", es sind die übernationalen, universalen Ideen von 1789 oder, wie es höhnisch heißt, es ist „das neue Evangelium" — ein Irrglaube nach der Überzeugung des Engländers, eine Häresie. Der Haupteinwand, wenn man von den wilden moralischen Invektiven absieht, mit dem Burke die Revolutionslehren trifft, ist der, daß sie abstrakt seien, spekulativ, deduktiv, metaphysisch; jene wenigen klaren simplen Lehr-
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sätze mögen vielleicht unter sich in einwandfreier logischer Ordnung stehen, praktisch aber sind sie unbrauchbar, das genaue Gegenteil von „expediency"; in ihrer praktischpolitischen Anwendung sind sie vermessene, verhängnisvolle Pfuscherei. Diesen Protest des erfahrenen Staatsmannes, der einen ungewöhnlich wachen Sinn für die Kompliziertheit und Vielverschlungenheit des staatlichen Lebens hat, gegen den Theoretiker und Dilettanten, der da glaubt, nach ein paar simplen Vernunftsätzen dogmatisch die Wirklichkeit umgestalten zu können, dieser Protest ist uns bei Burke schon bekannt von früher her. Nur daß er jetzt seine Gedanken ungleich schärfer und genauer, feiner und eindringlicher, beredter und bitterer ausführt gegenüber dem ungeheuerlichen Experiment der französischen politisierenden „Philosophes", auf einer tabula rasa ihren Staatsbau ganz von vorne nach ihrem fertigen Rezept aufzuführen. „Die eingebildeten Rechte dieser Theoretiker sind lauter Extreme und je mehr sie im metaphysischen Sinne wahr sind, desto mehr sind sie im moralischen und politischen falsch." „Diese Leute sind so voll von ihren Theorien über die Rechte des Menschen, daß sie seine Natur gänzlich vergessen haben." Das zeige die ganze erste Revolutionsverfassung, die Burke durchnimmt und erbarmungslos zerzaust. Ihre Hersteller hätten sich keiner besseren Werkzeuge als der Metaphysik eines Halbgelehrten und der Mathematik und Arithmetik eines Akzise-Einnehmers bedient. Dabei hatten sie es doch mit Menschen zu tun und waren verpflichtet, die menschliche Natur zu studieren. Statt dessen „haben sie die Menschen nicht einmal in Ziffern . . ., sondern in bloße Zahlpfennige verwandelt, um sich das Rechnen abzukürzen . . . als gäbe es in der intellektuellen Welt nicht noch andere Kategorien als nur Substanz und Größe." Wir brauchen hier auf die Kritik Burkes an jener Verfassung nicht einzugehen; sie führt in immer neuen Wendungen den Gedanken aus, jene Verfassung sei abstrakt, aber nicht praktisch, mathematisch, aber nicht politisch, spekulativ, nicht empirisch, unnatürlich, ja widernatürlich, statt „natürlich". Der letztere Punkt, die Bedeutung von natürlich, naturgemäß, der Naturordnung entsprechend, interessiert uns wieder. 64
Für den Aufklärer sind „nature" und „raison" aufs engste verwandt, ja das Natürliche und das Vernunftgemäße deckt sich geradezu. So sind für ihn alle Menschen „natürlich" gleich, die Unterschiede des Standes, der Geburt, der Religion, des Besitzes, der Nationalität, der Erziehung usw. sind „unnatürlich", künstlich, sind Vorurteil, Erbe einer finsteren Vergangenheit, sie müssen abgeschafft werden, um die ursprüngliche, natürliche und vernunftgemäße Gleichheit wieder herzustellen. Ganz anders Burke: „Uns Engländern", sagt er stolz, „uns Engländern schlagen wahre Herzen von Fleisch und Blut im Busen. Wir fürchten Gott, wir ehren die Könige, wir lieben die Parlamente, wir gehorchen der Obrigkeit, wir sehen die Geistlichkeit mit Ehrerbietung, den Adel mit Hochachtung an. Fragt ihr, warum? Weil das natürlich i s t ! " Man sieht, der Engländer stellt hier dem Naturbegriff der Franzosen und des 18. Jahrhunderts einen neuen Naturbegriff entgegen, der ins 19. Jahrhundert weist. Jener ist spekulativ, drückt ein SeinSollen aus, ist revolutionär; dieser dagegen ist empirisch, ist dem Sein entnommen, ist konservativ. Jener sucht das Natürliche vor und außerhalb der historisch gewordenen Gesellschaft, betrachtet diese Gesellschaft als ein Netz von Vorurteilen und Künstlichkeit; dieser dagegen sucht die Natur gerade innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung selbst und sieht gerade in den angeblichen Vorurteilen und Künstlichkeiten das Natürliche, erkennt da das Wirken der Natur des geselligen und zivilisierten Menschen. Also nicht die Gleichheit, die Ungleichheit ist natürlich. Mit dieser Erkenntnis wird ein wichtiger Ausgangspunkt der revolutionären Doktrin in Frage gestellt, die Vorstellung des vorhistorischen Naturmenschen mit seinen Rechten und Fähigkeiten, die immer und überall gleich und unverjährbar seien. Jener Naturmensch, der abstrakte Mensch, der nun wieder in seine ursprünglichen Rechte eingesetzt werden soll, erscheint dem Engländer als ein sehr blasses und sehr fernes, als ein abstraktes Wesen. Ob es ihn jemals tatsächlich gegeben habe, wisse er nicht, das aber wisse er, daß man es heute nicht mit imaginären, vorhistorischen, isolierten Naturmenschen zu tun hat, sondern mit den konkreten Menschen nicht vor, sondern in der Gesellschaft, V o s s l e r , Nationalgedanke
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mit den Menschen, die durch das gesellige und staatliche Leben geformt und gebildet sind zu unterschiedlichen Wesen, die nicht schlechthin „Menschen" sind, sondern Angehörige eines besonderen Standes, einer besonderen Klasse, eines besonderen Berufes, eines besonderen religiösen Bekenntnisses, einer besonderen Provinz, eines besonderen Staates, einer besonderen Kultur, einer besonderen Zeit, einer besonderen Nation, Menschen, die dementsprechend in ihren besonderen Bräuchen, Sitten, Erfahrungen, Gewohnheiten, Neigungen und Abneigungen, Hoffnungen und Ansprüchen, Vorstellungen und Vorurteilen leben. All diese Dinge aber sind wesentlich und wertvoll, sind natürlich. Also das abstrakte Individuum gibt es in Wirklichkeit gar nicht, sondern nur das konkrete, und dessen Dasein ist konkret bedingt durch das Ganze, aus dem es alle die erwähnten Eindrücke und Formungen und Eigenschaften und Güter und Kräfte erhält. Der Einzelne ist daher gar nicht ganz in sich selber, ist sozusagen nicht nur innerhalb seiner Haut enthalten, sondern er hängt zusammen mit dem konkreten größeren Ganzen, in das er hineingeboren wurde, mit der Gesellschaft und all den zahllosen Umständen, die er in ihr vorfindet und von ihr übernimmt. Der Einzelne ist aber nicht nur seitlich verbunden, gewissermaßen verfilzt mit der Gesellschaft, sondern auch nach rückwärts und nach vorne, zeitlich, mit Vergangenheit und Zukunft. Mit der Vergangenheit, aus der er kommt — wie seine Zeitgenossen — und von der er die höchsten menschlichen Güter, alle Kulturgüter, Sprache, Sitte, Wissenschaft, Kunst, Religion, Recht und Staat geerbt, übernommen hat. Diese Dinge hat nicht der Einzelne geschaffen, sondern die Gesamtheit heutiger und vor allem vergangener Zeiten. Durch diese Dinge hängt der Einzelne auch zusammen mit der Zukunft, durch die Verantwortung nämlich, die ererbten Güter unvermindert, gereinigt und gesteigert der Nachwelt, seinen Kindern, weiterzugeben. Erst alle diese Verbindungen, alle diese konkreten außer- und überindividuellen Umstände machen den einzelnen Menschen zu dem, was er ist, zu einem höchst komplizierten Wesen, zu einem Mosaik vielfacher Erbgüter und Einrichtungen; er ist gewissermaßen der Kreuzungspunkt zahlloser Linien, 66
die Umwelt und Vergangenheit und Zukunft verbinden. Reißt man ihn aber aus diesen Verbindungen heraus, zerschneidet man diese Fäden, versucht man ihn isoliert, atomistisch, abstrakt — das heißt ja „losgelöst" — zu erfassen, so bleibt gar nicht ein wirklicher Mensch mehr übrig. Für sich allein genommen wäre der Mensch ein unglückliches, armes, frierendes, lebensunfähiges, ja gar nicht denkbares Wesen. Der Mensch ist eben nicht loslösbar aus seiner Umwelt, er ist ein Gemeinschaftswesen, das Ich ist nur ein Teil der Gemeinschaft, ein Stück Wir. An dieser Stelle berührt sich Burke in auffallender Weise mit seinem Gegner Rousseau. Wir erinnern uns, daß auch der Genfer im Ich das Wir entdeckt hatte, daß er den Einzelnen nur noch als Teil der Gemeinschaft, als Persönlichkeit, nicht aber als ein in sich geschlossenes und sich selbst genügendes Ganzes, als Individuum, auffaßte, wie die Rationalisten. Burke und Rousseau stimmen in diesem entscheidenden Gedanken überein, daß der Einzelne ein Gemeinschaftswesen ist, nur ein Teil eines überindividuellen Ganzen, aus dem er das Höchste, was er hat, bezieht. Der Weg freilich, den beide zu dieser großen Erkenntnis finden, ist ein ganz verschiedener. Rousseau, der Calvinist, hatte die Brücke vom Ich zum Wir nur in seiner unerbittlich strengen sittlichen Forderung gesehen, daß der Einzelne das Wohl der Gemeinschaft über das eigene zu stellen hat. Nur durch die Sittlichkeit erhebt und erweitert sich der Einzelne über sich selbst, geht auf und verschmilzt mit der Gemeinschaft, die eben eine sittliche Willensgemeinschaft ist. Burke dagegen braucht nicht so sehr diese ethische Verpflichtung gegen das Ganze zu betonen, denn er hat erkannt, daß der Einzelne sowieso schon ein Stück Gemeinschaft ist, ob er will oder nicht; die Umgebung, die Gesellschaft, die Vergangenheit, in die man einmal hineingeboren ist, steckt in dem Einzelnen unausrottbar und unauslöschlich drin. Durch seine Sprache schon, seine Religion, Sitten, kurz durch seine gesamte Kultur ist jedem schon das Überindividuelle, das Gemeinschaftliche, Mit-den-anderen-Menschen-Verbindende einfach angeboren, mitgegeben — von selbst. Man braucht in eine Gemeinschaft gar nicht erst mehr oder weniger krampfhaft hinein zu w o l l e n , da man 5*
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schon von Geburt, ja schon vor der Geburt in ihr ist. Kurzum, Burke sieht den Menschen historisch, d. h. von vornherein im Zusammenhang. Er sieht den Zusammenhang des Kindes mit den Eltern, des Einzelnen mit der Gesellschaft, mit der Vergangenheit und Zukunft, er sieht den Zusammenhang der Generationen untereinander, er sieht die historische Kontinuität im Leben des Einzelnen wie im Leben des Ganzen. Sie verbindet Menschen zu einer Gemeinschaft, nicht erst und nur ein Willensentschluß, sondern eine reiche Fülle gemeinschaftlicher überkommener Güter. Freilich, wenn man diese Güter, sagen wir ruhig, diese nationale Kultur, von selber erbt, so erbt man mit ihr auch die heilige Pflicht, dieses Erbe zu erkennen, zu erhalten, zu pflegen, zu mehren. „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen." Weh dem, der gleich den französischen Revolutionären sein Erbe verkennt, verleugnet, vernichtet, sich vermessen unterfängt, die heilige Hinterlassenschaft der Väter zu zerstören, um von vorne anzufangen, als habe er keine Eltern, als sei er ein Bettler; weh dem, der sich vermißt, diesen gewaltigen Strom der Kontinuität, in dem wir alle leben, wie die Fische im Wasser, abzubrechen, auszutrocknen. Denn ohne diesen Strom, der aus jahrhundertelanger Arbeit und Erfahrung unserer Vorväter zusammengeflossen und auf uns gekommen ist, können wir gar nicht leben. Wer uns diese Kontinuität nimmt, wirft uns zurück in einen primitiven Zustand von Barbarei und Anarchie. Denn nur den Vätern verdanken wir den Segen von Kultur und Ordnung, nicht uns selbst, nicht der eigenen Kraft eines Tages. Der Träger nun und Hüter dieser segensreichen, heiligen Kontinuität ist für Burke, den Staatsmann, in allererster Linie der Staat. Damit kommen wir zu seiner Staatsauffassung. Gewiß sei der Staat auf Vertrag gegründet, aber nicht so, wie eine Kaufmannssozietät, die mit Pfeffer und Kaffee handelt, oder mit Kaliko und Tabak, in die man je nach seinem Vorurteil eintreten und austreten kann. „Der Staat ist eine Verbindung von ganz anderer Art und ganz anderer Wichtigkeit und muß mit ganz anderer Ehrfurcht betrachtet werden. Er ist nicht bloß eine Gemeinschaft in Dingen, deren die grobe, tierische Existenz des vergäng68
liehen Teils unseres Wesens bedarf. Er ist eine Gemeinschaft in allem, was wissenswürdig, in allem, was schön, in allem was schätzbar und gut und göttlich ist im Menschen. Da die Zwecke einer solchen Verbindung nicht in einer Generation zu erreichen sind, so wird daraus eine Gemeinschaft nicht zwischen den Lebenden, sondern eine Gemeinschaft zwischen den Lebenden und den Toten und zwischen den Lebenden und den Ungeborenen." Man sieht, der Staat ist nicht ein bloßer Zweckverband, eine rationale, gemachte Einrichtung für abgegrenzte, praktische, materielle Aufgaben und Dienste. Er ist ein Wesen eigener und höherer Art mit einem eigenen Leben. Er greift weit hinaus über das kurze Dasein des einzelnen Menschen mit seinem beschränkten Streben. Der Staat ist eine Kollektivpersönlichkeit, sie erst verbindet das kleine, winzige Individuum mit seinen Zeit- und Volksgenossen, mit seinen Ahnen und Enkeln. Erst in diesem gewaltigen Zusammenhang, in den der Einzelne voll Ehrfurcht und voll Verantwortung sich gestellt weiß, gewinnt der Mensch seine Würde. Hier ist wieder ein ganz entscheidender Gedanke, in dem Burke und Rousseau sich begegnen. Für beide ist der Staat Gemeinschaft. Für beide ist der Staat eine überindividuelle, eine Kollektivpersönlichkeit, von der der Einzelne nur ein Teil ist, unlöslich mit ihr verknüpft durch sein höchstes Streben. Aber der Unterschied: Für den Genfer ist der Staat Willensgemeinschaft, für den Engländer eine Traditionsgemeinschaft, für jenen handelt es sich um eine ethische Kollektivpersönlichkeit, für diesen um eine historische Kollektivpersönlichkeit. Nun endlich der dritte Punkt, in dem sich die beiden Gegner wieder treffen, und zwar wieder auf ganz verschiedenen Wegen kommend: das Verhältnis oder die Verbindung, Verschmelzung des Einzelnen mit dem Staate. Wir erinnern uns, wie es Rousseau gemacht hatte, durch seine sittliche Forderung, sei du selbst, gehorche keinem fremden Willen, sondern nur dir selbst, deinem wahren Willen; dein wahrer Wille ist nicht der triebhafte Eigenwille, sondern der Gemeinwille in dir, die volonté générale. Folgst du ihr, so bist du selbst Staat, eine freie Persönlichkeit. — Burke
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macht es wieder gelassener, zwangloser. Für ihn tritt gar nicht mehr, wie für den Rationalisten das Individuum, der abstrakte oder natürliche Mensch mit der Tafel seiner angeborenen, natürlichen, unverletzlichen Rechte dem Staate gegenüber, dem Vernunftstaate, mit der unvermeidlichen Notwendigkeit staatlicher Ordnung, staatlichen Gehorsams usw., so daß beide ihre jeweilige Rechtssphäre säuberlich gegeneinander abzirkeln und trennen müssen. Burke hat ja schon ausgeführt, daß man es heutzutage ebensowenig mit dem abstrakten Menschen wie mit dem abstrakten Staate zu tun hat, sondern es gibt praktisch nur jeweils den konkreten, geformten, historischen, besonderen Menschen und den konkreten, schon geformten, historischen, besonderen Staat. Beide aber, der Einzelne wie der Staat, stehen unter demselben höheren Gesetz, beide sind Erzeugnis derselben unausweichlichen Gewalt, nämlich der Vergangenheit, beide sind Kinder derselben (nationalen) Geschichte. Es steht daher nicht der Mensch gegen den Staat, sondern der englische Mensch steht in seinem englischen Staate. Beide kommerj aus derselben historischen Wurzel, aus demselben historischen Boden, sie haben dieselben Vorfahren, dieselbe Tradition. Diese gemeinsame Geschichte hat den englischen Menschen und den englischen Staat im selben Sinne geformt, mit dem gleichen Geist der Väter erfüllt, sie sind miteinander, füreinander geworden, sie gehören zusammen, sie passen zusammen, sie sind füreinander da. Schon längst; denn derselbe Geist, der da die Lebenden mit den Toten verbindet, verbindet auch den Einzelnen mit seinem Staate. Kurz, die nationale Geschichte, sie formt aus dem Einzelnen und seinem Staate eine harmonische Einheit. Wenn man nun Burke fragt: wie steht es hier aber mit dem Freiheitsproblem, welche Rechte und Freiheiten hat der Einzelne, welche Rechte hat der Staat ? So antwortet er: unsere individuellen Rechte und Freiheiten haben wir auch geerbt von unseren Voreltern, wir Engländer sind gottlob schon lange frei, unsere Freiheit brauchen wir nicht heute erst abzugrenzen, als kämen wir eben erst taufrisch aus dem Urwald. Das ist für uns kein Problem. In unserer Verfassung, die der Niederschlag von jahrhundertelangen Kämpfen, von jahrhundertealter Erfahrung ist, da steht es 70
ganz genau, welche Rechte und Pflichten wir haben. Wir werden mit der Arbeit doch nicht von vorne anfangen. Die Lösung des Freiheitsproblems ist bei uns Engländern eine nationale, d. h. eine englisch-liberale. Damit sind wir zufrieden. Die Rousseausche Lösung: restloses Aufgehen des Einzelnen im allmächtigen Staat lehnt Burke natürlich ab, das empfindet er als einen Despotismus der Masse, der den Einzelnen völlig zermalmt; der Einzelne hat schon seine genauen Rechte, die der Staat nicht verletzen darf, die hat die englische alte Verfassung ganz genau geregelt, diese Rechte sind auch nicht für alle gleich. Freiheit ist also für Burke nur die verfassungsmäßige, die in alten Privilegien sinnreich gesicherte, die traditionelle, ererbte, spezifisch englische Freiheit, kurz die historische, nicht aber die „natürliche", revolutionäre Freiheit der Franzosen. Soweit die Staatsauffassung Burkes. Es hat sich gezeigt, daß sie sich, wenn auch ganz anderen Ursprungs, doch in entscheidenden Punkten mit der Rousseauschen trifft: Der Mensch nicht ein in sich geschlossenes Ganze, sondern nur Teil eines notwendigen größeren Ganzen, der Mensch als Gemeinschaftswesen, der Staat nicht als rational-utilitarischer Zweckverband, sondern als überindividuelle Persönlichkeit höherer Art, und schließlich drittens die unauflösliche engste Verbindung des Menschen mit seinem Staate. Aber während Rousseau sich zuerst mit dem zu engen Vernunftbegriff der Aufklärungszeit auseinandersetzt und dann erst, in dieser Richtung gesichert, seinen Staat aufbaut, geht Burke umgekehrt, empirisch, vom Staate aus, entwickelt seinen historisch-organischen Staatsbegriff; er muß aber hinterher noch sich mit der obersten Instanz im Denken seiner Zeit auseinandersetzen, eben mit der Vernunft. Dann erst ist seine Erkenntnis gesichert. Denn seine Gegner, die Rationalisten und Revolutionäre können noch — und das haben sie auch getan — folgenden Einwand erheben. Sie sagen: Die große Rolle der Gewohnheit, der Tradition, der Geschichte im staatlichen Leben ist auch uns bekannt. Wir aber halten sie nicht wie Burke für segensreich und verehrungswürdig, sondern für unheilvoll. Unsere Väter haben geirrt, sie kannten noch nicht wie wir die klare, reine Wahrheit, sie waren in Vor71
urteilen befangen. Sollen wir nun Irrtümer, Vorurteile, offensichtliche Mißbräuche nur deshalb, weil sie alt und ererbt sind, unbesehen beibehalten und gar noch verehren ? Sollen wir auf den Gebrauch unserer gesunden Vernunft verzichten ? Haben wir nicht das Recht und die Pflicht, die ererbte Wirklichkeit nach den eindeutigen Geboten der Vernunft umzugestalten und zu bessern ? Sollen wir etwa gegen die Vernunft handeln ? Wozu haben wir denn unseren Kopf von Gott bekommen ? Und schließlich: Wenn die Geschichte, so wie Burke es will, die Richtschnur unseres Handelns sein soll, dann muß die Geschichte vor der Kritik der Vernunft bestehen I Die letzte Forderung ist richtig, unausweichlich. Wie erfüllt sie Burke, was hat er zu entgegnen ? Sein, des Praktikers, Hauptargument ist die Berufung auf die Praxis. Er appelliert gegen die Vernunft einfach an die Erfahrung. Die rationalistischen politischen Doktrinen versagen in der Wirklichkeit und den französischen Revolutionären prophezeit Burke 1790 schon, daß sie mit ihrem „vernunftgemäßen" neuen Evangelium scheitern, ein abscheuliches Durcheinander anrichten und statt in einem tausendjährigen Reiche der Freiheit unter einer Militärdiktatur enden werden. Die Voraussage ist eingetroffen und der Gegensatz der hochfliegenden Ideen von 1789, der Theorie, mit der ganz anders gearteten Praxis, der Wirklichkeit von 1792, des Terrors und der napoleonischen Herrschaft, hat dem Glauben an jene Ideen einen Stoß versetzt, der bis heute nachwirkt. So schwer aber dieses Burkesche Argument des Versagens in der Praxis wiegt und wiegen muß, es ist nur ein negatives Argument und die oft wiederholte Erklärung Burkes: Die rationalistische Staatslehre ist in der Theorie richtig, in der Praxis aber falsch, diese Erklärung ist philosophisch der bare Unsinn. Was in der Wirklichkeit falsch ist, ist in der Theorie ganz genau ebenso falsch. Da muß eben eine neue, bessere Theorie gefunden werden. Hat sie Burke gefunden ? Zunächst schränkt er ein. Er sagt: Die Theorie, die abstrakte Vernunft stimmt allerdings in Mathematik und Physik, aber in Politik und Geschichte stimmt sie nicht. — Gut, oder vielmehr nicht gut. Denn es erhebt sich wieder die Frage: Welches ist dann die Theorie, welches ist die Vernunft, die in Politik 72
und Geschichte stimmt ? Als Antwort diene am besten ein Zitat Burkes: „Sie sehen, mein Freund", sagt er, halb verärgert, halb herausfordernd, „Sie sehen, daß ich dreist genug bin, um in diesem aufgeklärten Jahrhundert frei zu gestehen, daß wir Engländer statt alte Vorurteile wegzuwerfen, sie vielmehr mit Zärtlichkeit lieben, und was noch strafbarer sein mag, daß wir sie eben darum lieben, weil sie Vorurteile sind, und nur um so wärmer, je länger sie geherrscht und je allgemeiner sie sich verbreitert haben. — Wir wagen es nicht, den Menschen mit seinem Privatvermögen, mit seinem eigenen, selbstgesammelten Kapital von Erfahrung und Weisheit in die geschäftige Szene des Lebens zu werfen. Denn dieses Kapital möchte bei jedem Einzelnen gar unbeträchtlich sein, und der Einzelne muß unendlich gewinnen, wenn er das allgemeine Kapital aller Zeiten und Völker benutzen kann." Aus dieser Stelle läßt sich ziemlich gut erkennen, wo die Lösung zu suchen ist. Burke hält jedenfalls nicht allzuviel von der Vernunft des einzelnen Menschen — sicherer wird die Vernunft erkannt von der Gemeinschaft, von der Gesamtheit. Also an Stelle der individuellen Vernunft, die jeder selbstherrlich und selbstsicher für sich allein, aus sich allein entwickeln und finden könnte, hätte eine Gattungsvernunft zu treten, die erst durch die Beihilfe und Mitarbeit der Vielen, erst durch die Gesellschaft erkannt und geträgen wird. Und zwar von der Gesellschaft nicht nur eines Augenblickes, sondern in der zeitlichen, historischen Abfolge der Generationen. Erst das gemeinsame Werk, das da von Generation zu Generation weitergegeben, weiterbearbeitet und vervollkommnet wird, in erster Linie das gemeinsame Werk des ererbten Staates, das ist die verkörperte, gesicherte Vernunft. Für Burke ist der stolze und ehrwürdige und vielverschlungene Bau der englischen Verfassung die angesammelte Erfahrung und Weisheit der Vorfahren, man könnte sagen, sie ist konkrete Vernunft. An Stelle einer abstrakten, zeitlosen, transzendenten Vernunft, die über der Wirklichkeit schwebt und nach der die Wirklichkeit zu formen ist, hat man sich eine konkrete, eine historische, eine immanente Vernunft vorzustellen. In der historisch gewordenen Wirklichkeit steckt die Vernunft schon drin, sie ist selber vernünftig. 73
Diese Gedanken freilich, die hier nur eben angedeutet werden, hat der Engländer mehr geahnt, dunkel gefühlt, als scharf durchdacht bis zum Ende. Die philosophische Fundierung und die geschichtswissenschaftliche Sicherung der Burkeschen Beobachtungen ist erst das Werk einer späteren Zeit und eines anderen Volkes — der Deutschen. Da hat Hegel die „Vernunft in der Geschichte" aufgedeckt mit seiner grandiosen Vorstellung des gesamten Geschichtsprozesses als der Selbstbefreiung des Geistes; die Geschichte ist ein dialektischer Prozeß, in dem die Vernunft, selbstverständlich die immanente, nicht mehr die ewig gleich und ewig fertig über den Wolken schwebende, sondern die immanente Vernunft sich erst entwickelt, von Stufe zu Stufe sich durchdenkt, durchkämpft zu immer größerer Klarheit und Reinheit und Höhe. Hegel erst erklärt, wie denn eigentlich das Wirkliche vernünftig ist, darunter vor allem auch das Wirkliche des bestehenden Staats vernünftig ist. Dieselbe Grundidee führt Ranke durch, wenn er die Völker, Staaten, Nationen, deren Werden und Wachsen er verfolgt, als „Gedanken Gottes" erkennt, also auch wieder als immanente, fleischgewordene, volkgewordene Vernunft. Es wird von dieser späteren Entwicklung des Gedankens noch die Rede sein — hier soll nur daran erinnert werden, in welche Richtung Burke den Weg weist, den Weg, den freilich nicht mehr er selbst gegangen ist, sondern den erst die philosophisch kräftigeren und historisch feineren Denker unserer deutschen Blütezeit durchschritten haben. Sie erst gelangen ans Ziel. Burke selbst hat sich mit einer viel kürzeren, einfacheren Lösung begnügt. Er hat die immanente Vernunft in der Geschichte und im Staate nicht wie Hegel philosophisch unterbaut, sondern religiös geglaubt. Der tiefreligiösen Natur des Engländers ist es schlechterdings unvorstellbar, daß die Geschichte so wie die Rationalisten es behaupteten, nur das Werk finsteren Vorurteils, unaufgeklärten Irrtums und blinden Zufalls sei. Nein, die Schicksale der Menschen, Völker und Staaten sind gelenkt von einer göttlichen Vorsehung. Und insofern, als Werk der höheren Vorsehung ist die Geschichte vernünftig, ist sie gerechtfertigt vor der Vernunft, freilich nicht vor der Vernunft der selbstherrlichen Rationalisten, aber vor der höheren, zu ehrenden und zu
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glaubenden, zu ahnenden, aber nie ganz zu entschleiernden Vernunft Gottes. Ebenso ist für Burke der überlieferte Staat, insbesondere seine geliebte alte englische Staatsverfassung, diese angesammelte, teure Weisheit der Ahnen, nicht bloß Menschenwerk. Auch die überlieferte staatliche Ordnung, die da die Franzosen frech niederzureißen sich unterfangen, sie ist ein Teil der umfassenden, gottgewollten, gottgesetzten Weltordnung, die das All in seiner Harmonie erhält. So fällt auch auf den Staat ein Strahl der göttlichen Weisheit und Güte und erhebt ihn und heiligt ihn. D a h e r letzten Endes die leidenschaftliche Verteidigung und die scheue Verehrung Burkes für die überlieferte, bestehende staatliche Ordnung gegen die „häretischen" Absichten der gottesleugnerischen Revolutionäre in Frankreich. Burkes historisch-organische Staatsauffassung ist religiös fundiert und daher im tiefsten konträr, ewig feindlich der rationalistischen Staatsauffassung der Männer von 1789. Ist nun diese Staatsidee Burkes eigentlich national ? Die Frage scheint doch nicht überflüssig. Merkwürdigerweise ist unseres Wissens nur einmal in einem kleinen Essay untersucht worden, wie der Engländer zum Nationalgedanken steht. Da werden seine Äußerungen über den Freiheitskampf der Korsen, über die Teilung Polens, über Indien zusammengetragen und das Ergebnis ist ziemlich mager, eigentlich enttäuschend. Das ist kein Wunder, denn da ist der wahre Nationalgedanke Burkes übergangen worden, denn sein wahrer Nationalgedanke ist weder korsisch noch polnisch oder indisch, sondern englisch. Da aber, wenn es sich ums eigene Vaterland handelt, von elementarer Kraft. Es hat keinen Sinn, ist auch gar nicht nötig, die zahllosen Stellen aus den „Reflections" und anderen Schriften zusammenzubringen, aus denen ein prächtiger Nationalstolz spricht. „We English do . . ., We English think . . ., We English have . . . " so heben mit eindringlicher Wiederholung seine Sätze an, die fast ungeduldig an die selbstverständliche Überlegenheit englischer Art mahnend erinnern. Solcher Stolz ist zwar schon längst vor Burke bei den Engländern sehr lebendig, schon im Mittelalter ist die Gegenüberstellung englischen und nichtenglischen Wesens geläufig und beliebt. Vierhundert Jahre vor dem großen 75
Gegner der Französischen Revolution vergleicht Fortescue die gute alte englische Freiheit mit der Unfreiheit und Knechtschaft des Nachbarvolks der Franzosen. Damals ist es die französische Unfreiheit unter dem Absolutismus, später ist es die französische Unfreiheit unter der revolutionären Demokratie, die der Engländer verwirft und bekämpft. — Beide Male aber und immer wird die englische Verfassung und englische Freiheit gerühmt als das Vorrecht, der Stolz und das Kennzeichen des Engländers. Soweit also ist Burke nur Fortsetzer einer alten, kräftigen Tradition. Neu aber ist die vertiefte, über Montesquieu, De Lolme und Blackstone hinausgehende Erkenntnis von der historisch-organischen Natur dieses Staates, dieser Verfassung. Früher war die gepriesene Verfassung eine abgeschlossene Sache für sich, ein geschätzter „Besitz", den die Engländer „hatten" — Burke dagegen lehrt, daß englische Verfassung, englische Geschichte und englische Menschen ineinander „sind" und „leben". Dieses unlösliche Ineinandersein erst ist die nationale Persönlichkeit.
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JEFFERSON
CJehr bedeutend und bis heute mächtig nachwirkend, bei uns freilich nur wenig bekannt, ist die Rolle, die Thomas Jefferson in der amerikanischen Geschichte gespielt hat. E r gehörte zu den Vorkämpfern der Unabhängigkeitsbewegung, die berühmte Unabhängigkeitserklärung von 1776 hat er verfaßt, dann war er Gouverneur seines Heimatstaates Virginia und von 1784 bis 1789, also bis in die Anfänge der großen Revolution befand er sich als Gesandter in Paris. In die Heimat zurückgekehrt war er zuerst Außenminister unter Washington, aber nicht lange; er geriet in Opposition gegen die Regierung und wurde der Gründer und Führer der Republikanischen Partei, die man als die Vorgängerin der heutigen Demokratischen Partei eines Wilson und Rooseveldt betrachten mag. Diese Partei hat er in der sogenannten „Revolution von 1800" zum Siege geführt und von da an ist er acht Jahre lang Präsident der Vereinigten Staaten gewesen. In diese Zeit fällt die glückliche Erwerbung von Louisiana, des riesigen Gebiets im Westen der Union zwischen Mississippi und Rocky Mountains, fällt auch der seerechtliche Konflikt mit England und Frankreich zugleich. — Aber die Bedeutung des Mannes liegt keineswegs ausschließlich auf dem Gebiete der praktischen Politik; da hat er gelegentlich ziemlich versagt, er hatte die typischen Schwächen des Idiologen, des Dogmatikers und Theoretikers — seine Bedeutung liegt in hohem Maße auf dem Felde der politischen Lehre. Da ist er der Erzieher seines Volkes gewesen und drüben nennt man ihn gerne den Vater des politischen Denkens von Amerika. Als solcher interessiert er hier, besonders wieder was seine Stellung zum Nationalismus angeht. Hier nimmt er und nimmt überhaupt Amerika einen sehr merkwürdigen Platz ein. Jefferson steht als politischer Denker fast gänzlich außerhalb der fortschreitenden Reihe der anderen Männer, die hier behandelt werden. Wenn wir von 77
Rousseau und Burke zu Jefferson übergehen, so schreiten wir zwar chronologisch, kalendarisch vorwärts — er ist erst 1826 gestorben — historisch aber, was die geistesgeschichtliche Entwicklung angeht, führt er uns einen Schritt zurück, ins 18. Jahrhundert zurück, in die Gedankenwelt vor Rousseau und vor Burke. Jefferson ist Utiütarier, Eudämonist, Individualist, Aufklärer, kurz Rationalist reinsten Wassers. Er gehört in den Kreis der französischen Enzyklopädisten, der „Philosophes", mit denen er in Paris freundschaftlich verkehrt; auch zu den dortigen Physiokraten hat er mancherlei Beziehungen; die Führer der Französischen Revolution, die des ersten Stadiums, insbesondere Lafayette und Brissot, hat er sehr gut gekannt. Als Gesandter in Paris war er nicht nur ein bewundernder und begeisterter Zuschauer des großen Umsturzes, man muß ihn schon als Teilnehmer bezeichnen; er hat versucht, in die Ereignisse aktiv einzugreifen und an der berühmten Erklärung der Menschenund Bürgerrechte hat er durch seinen Intimus Lafayette selber mitgearbeitet. Die Partei, die er dann später in seinem Yaterlande gegründet hat, die Republikanische, betrachtete sich als die „französische" Partei im Gegensatz zu der Föderalistischen Partei von Alexander Hamilton, welche als die „englische", im Sinne Burkes etwa, galt. Jefferson vertritt also gerade die Staatsauffassung, welche Rousseau und Burke überwunden hatten. Von ihm stammen die berühmten Sätze, die drüben jedes Schulkind auswendig lernt: „Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, daß alle Menschen gleich geboren sind, daß sie von ihrem Schöpfer mit angeborenen und unveräußerlichen Rechten begabt sind, daß unter diesen sind Leben, Freiheit und Streben nach Glück; daß um diese Rechte zu sichern unter den Menschen Regierungen eingerichtet sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Zustimmung der Regierten ableiten; daß, sobald eine Regierung diese Zwecke vernichtet, es das Recht des Volkes ist, eine neue Regierung einzurichten, wobei es ihre Grundlagen auf die Prinzipien stellt und deren Gewalten in der Weise organisiert, welche ihm am geeignetsten erscheinen, sein Glück zu bewirken." Das ist eine knappe Zusammenstellung der wohlbekannten und geläufigen rationalistischen Staatslehre mit ihrer Vertragstheorie, nach wel78
eher der Staat bloß ein dienender Apparat zum irdischen Besten der Individuen ist. Jefferson geht sogar noch weiter, wenn er meint, gar keine Regierung wäre am allerbesten, so wie bei den Indianern, wo die bloße öffentliche Meinung statt der Gesetze gilt. „Wenn ich zu wählen hätte", schreibt er, „ob wir eine Regierung ohne Zeitungen haben sollten oder Zeitungen ohne eine Regierung, ich würde keinen Augenblick zögern, das letztere zu wünschen." Bei größerer Bevölkerungszahl freilich sei ein Staat doch unvermeidlich, aber da müsse man immer darauf bedacht sein, daß er die sehr engen Grenzen seiner Aufgaben nicht überschreite. Eine Regierung, von der man möglichst wenig spürt, erscheint ihm als das Ideal wahrer Staatskunst. Die Regierung, der Staat, gilt ihm als ein „technisch bedingtes ausführendes Organ des Volkswillens, eigentlich als ein bloßes Instrument ohne eigenen Willen, ohne eigene Macht, und man könnte fast sagen, ohne eigenen Verstand; denn Wille, Macht und Einsicht gehören den Individuen, dem souveränen Volke an, nicht der Maschinerie, die es sich zur Regelung seiner Angelegenheiten konstruiert hat". Am auffallendsten zeigt sich der rationalistische, atomistische, geometrisch-mathematische Charakter dieser Staatsauffassung in einer Überlegung, die Jefferson in Paris wohl unter dem Eindrucke des 4. August anstellt. Laut Statistik, so entdeckt er, sei die Mehrheit der Bevölkerung eines Landes nach 34 Jahren tot. Die Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung sei schon nach 19 Jahren tot. Daraus folge aber, daß jeder Regierungsbeschluß nach Verlauf von 19 Jahren nicht mehr auf dem Willen der — inzwischen zu über 50% verstorbenen — Mehrheit beruhen könne. Also, heißt es, verliere jedes Gesetz nach 19 Jahren automatisch seine Gültigkeit, wenn nicht die inzwischen neu herangewachsene Mehrheit ausdrücklich die verjährte Bestimmung erneuere. Keine Regierung, kein Volk habe daher das Recht, Gesetze, Verträge, Verfassungen, Schulden zu machen, die eine Geltungsdauer von mehr als 19 Jahren haben sollen. Denn anderenfalls würden ja die Toten über die Lebenden herrschen, die früheren Generationen könnten die willkürlichsten Tyrannen der späteren werden und die Volkssouveränität der Lebenden würde ein bloßer Schein. — Man kann 79
sich in der Tat kaum einen extremeren Gegensatz vorstellen zu Burkes Gedanken, zu dessen Auffassung des Staates als eines heiligen Erbes der Toten, als der die Individuen und Generationen verbindenden Geschichte, als der Kontinuität, in der wir alle leben, der wir alles verdanken. Mit der Geschichte weiß dieser Amerikaner nur sehr wenig anzufangen, sie ist ihm lediglich eine abschreckende Sammlung trauriger Irrtümer, Vorurteile, sinnloser Gewalt von Seiten weltlicher und geistlicher Despoten einer Zeit, über die man, Gott sei Dank, hinaus sei. Die Vorstellung, daß man aus der Geschichte etwas lernen könne, tut er kurzerhand ab. „Der gotische Gedanke, daß wir nach dem Fortschritte des Menschengeistes rückwärts statt vorwärts schauen müssen, daß wir in den Annalen unserer Vorfahren nach der Vollkommenheit in Politik, Religion und Wissenschaft zu suchen haben, ist jener Frömmler in Religion und Politik würdig, die diesen Gedanken empfehlen, der ihren Plänen dient." Das geht auf Burke. Nein, die klare, helle Vernunft allein, der gesunde Menschenverstand, wie ihn jedermann hat, genügt vollkommen, um einen vernünftigen Staat einzurichten. Jedermann weiß am besten, was ihm nützt, er braucht niemand, der das angeblich besser versteht als er selbst, der ihn bevormundet, beherrscht. Der Mensch braucht keinen Herrn, weder tote noch lebende Herren, er steht frei und fest auf eigenen Füßen, er hilft sich selbst. Aristokratie ist ein sinnloses Überbleibsel einer finsteren Vergangenheit, man braucht, sie nicht, die Menschen sind gleich. Auch die Kirche schneidet schlecht genug ab bei Jefferson, der ein — freilich vorsichtiger — Freigeist war. „Das Geheimnis alles Pfaffentums ist in vier Worten gelöst: Ubi Panis, ibi Deus. •—- W o das Brot ist, dort ist Gott." Was hat nicht religiöser Fanatismus für Unheil auf der Welt angerichtet! Wozu ? Zum Vorteil gewissenloser Herren, die die Dummheit des irregeführten Volkes auszunutzen verstanden für ihre Zwecke. Soll doch jeder glauben, was er will, aber Staat und Kirche sollen nichts miteinander zu tun haben. Denn „es bricht mir doch kein Bein und stiehlt mir keinen Heller aus der Tasche, ob mein Nachbar glaubt, es gebe e i n e n Gott oder zwanzig Götter oder gar keinen". Die Moral versteht sich von selbst, was vernünftig ist, ist auch gut und was gut ist, 80
ist auch nützlich. Das weiß ein Bauer gerade so gut wie der gelehrteste Philosoph. Traut dem Menschen, laßt ihn frei und ungehindert im Gebrauch seiner angeborenen Vernunft, er macht es schon richtig, er braucht keine Führung, keine Autorität, keinen Zwang. Unglück und Zwist kommt nicht von der Freiheit des Volkes, sondern immer nur von den Mächtigen, den Herrschsüchtigen, insbesondere von den Königen. Könige sind für Jefferson samt und sonders Despoten, sie sind die Geißel der Menschheit. Wenn man nur „diese Klasse von Löwen, Tigern und Mammuts in Menschengestalt, die man Könige nennt", aus der Schöpfung ausrottet, herrscht Ordnung und Friede von selber. Denn die Tyrannen sind die erblichen Träger des politischen Machtstrebens, welches unvernünftig, böse und gefährlich ist. Aus dem demokratischen und republikanischen Staate will es Jefferson verbannt wissen. Er ist fest überzeugt, daß alle Konflikte ohne Machtanwendung durch den aufgeklärten gesunden Menschenverstand friedlich beigelegt werden können. Der Krieg ist ein veraltetes Vorurteil, „er ist immer eine teure und unselige Sache, und manchmal verliert man ihn". Das ist die aufgeklärte, friedfertige, bescheidene und bis zur Spießigkeit harmlose Staatsidee des Rationalismus, es ist der reine Vernunftstaat, atomistisch, utilitaristisch, rationalistisch und abstrakt-konstruiert. Er ist nichts weiter als ein Apparat, den sich eine Summe von Individuen nach freier Ubereinkunft eingerichtet hat — so etwa wie man einen Verein gründet und einrichtet — um gewisse gemeinsame Angelegenheiten besser erledigen zu lassen. Irgendwelchen Eigenwert hat er nicht, er hat kein eigenes Leben und Lebensgesetz, nicht eigenes Lebensrecht und eigenen Lebenswillen, nicht historische Kontinuität und Eigenart. Er ist nur ein an sich totes Instrument, nur ein subalternes, ein gemachtes Hilfsmittel, das der souveränen Vernunft dient, oder genauer gesehen, dem vernünftigen Eigennutz und Glückstreben der Einzelnen. Aus dieser Auffassung folgt mit logischer Notwendigkeit ein merkwürdiger Gedanke. Wenn es der vernünftige Eigennutz und das Glück der Individuen verlangt, kann man den Staat einfach zerschneiden und zwei neue, unabhängige Staaten daraus Vossler, Nationalgedanke 5
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machen. Jefferson mutet diese Operation nicht etwa in egoistischer Absicht einem anderen Staate zu, sondern seinem eigenen Vaterlande und zwar zur Zeit, da er selber Präsident der Vereinigten Staaten ist und für deren Wohl die höchste Verantwortung trägt. Damals schreibt er, „ob wir Amerikaner in einer Konföderation vereint bleiben, oder ob wir uns spalten in eine Atlantische und eine Mississippi-Konföderation, das scheint mir nicht sehr wichtig für das Glück des einen wie des anderen Teiles". Er meint eben, in jedem Staate kann man sein Glück verwirklichen, wenn er nur vernünftig und frei ist; auf den Menschen und sein Wohlergehen kommt es an, auf die Menschheit, aber nicht auf den Staat. Umgekehrt ist Jefferson zur Zeit der Französischen Republik statt einer Spaltung einer Vereinigung von Staaten nahegekommen. Hinter dem Rücken der amerikanischen Regierung, der er selber als Außenminister angehörte, hat er mit den Franzosen zusammengearbeitet. Die beiden Staaten, den seinigen und den französischen identifizierte er beinahe schon, denn beide waren doch nur Ausdruck und Diener derselben gemeinsamen höchsten Sache, des Kampfes um die lange unterdrückte allgemeine Menschenfreiheit auf Erden. Als ein äußeres Zeichen dieser Gemeinschaft der letzten Aufgabe hat er einen amerikanischfranzösischen Austausch des Bürgerrechts vorgeschlagen. — Die Sache der Menschheit stand ihm eben über der Treue zum eigenen, „bloß nationalen" Staat. Das alles empfinden wir als das genaue Gegenteil nationalen Denkens, es handelt sich offensichtlich um übernationale, universale, für alle Menschen gleichermaßen gültige Ideen. Die Ideale, für die Jefferson eintritt, sind ihrer Natur und ihrem Ansprüche nach keineswegs an einen bestimmten Boden gebunden, an ein bestimmtes Land oder Volk oder an einen bestimmten Staat, an eine bestimmte Geschichte und Vergangenheit oder Nation — sie sind das ebensowenig wie die Vernunft selbst, aus der diese Ideale abgeleitet sind. Die Forderungen der natürlichen Menschenrechte, der natürlichen Freiheit und Gleichheit, des natürlichen Glückstrebens der Individuen, das daraus folgende Verlangen nach Volkssouveränität und Demokratie wendet sich nicht an ein einziges, besonderes Volk, etwa das amerikanische 82
Volk allein, kann nicht auf einen besonderen Staat beschränkt bleiben, es wendet sich an die Menschen als solche, an die gesamte Menschheit, an alle Staaten und Völker, denn alle müssen nach den Geboten der Vernunft und Natur frei sein. Jeffersons Staatsgedanke ist also über Zeit und Raum erhaben, er will nicht einen nationalen Staat, sondern einen rationalen, den absoluten Vernunft- und Idealstaat. Er kämpft nicht eigentlich für die Befreiung seines Volkes, sondern für die Befreiung der Menschheit, für die Freiheit überhaupt. Kurz, sein Ziel ist universal, nicht national, menschheitlich, nicht völkisch. Trotzdem aber: Jefferson ist ausgesprochener Nationalist, er ist sogar der erste konsequente, bewußte amerikanische Nationalist, er ist nicht nur der Vater des politischen Denkens von Amerika, sondern auch der Vater des amerikanischen Nationalismus. Wie geht das zu, wie ist das möglich ? Da scheint doch ein Widerspruch vorzuliegen. Man sollte meinen, entweder Jefferson kämpft für die gesamte Menschheit, dann muß das besondere Interesse seines Staates und Volkes hinter diesem universalen Ziele zurücktreten, sich dem höheren Zwecke unterordnen, sogar opfern, oder aber er kämpft für das Eigenrecht seiner Nation, dann muß er seine universalen Ansprüche aufgeben. Rousseau hatte sich entschieden: erst kommt die Verpflichtung gegen den eigenen Staat, dann die Verpflichtung gegen die Menschheit. Burke hatte sich auch entschieden: es gibt nicht den Menschen, es gibt nicht die Menschheit als solche, das sind bloße Abstrakta; in der Wirklichkeit gibt es die historisch gewordenen verschiedenen Staaten, jeder mit seinem eigenen Leben, mit seinem eigenen Lebensgesetz. Diese Verschiedenheit der Staaten ist sinnvoll, in höherem Sinne vernünftig, sie muß erhalten werden und darf nicht abstrakten, allgemein gültigen, universalen Forderungen aufgeopfert werden. Dementsprechend verteidigt Burke die englische Freiheit gegen die absolute „Menschen"Freiheit. Jefferson verwirft sowohl Rousseaus wie Burkes Glauben; für ihn kommt erst das Individuum, der Mensch und die Summe der Menschen, die Menschheit — der Staat ist bloß ihr Diener und Instrument, der Staat hat kein Eigenrecht, hat kein Eigenleben, keine Eigenart, die natio6*
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nale Verschiedenheit der Staaten, wie sie eine sinnlose Geschichte hinterlassen hat, ist vernunftswidrig, muß abgeschafft oder doch vergessen werden, damit überall die gleiche Freiheit herrsche. Trotzdem, ja gerade auf Grund seiner rationalistischen und universalen Ideale wird Jefferson zum Nationalisten. Das geht einfacher und glatter als man denken sollte. Die Lösung des Widerspruches von universalem und nationalem Denken, der Übergang von den allgemein menschheitlichen zu den spezifisch amerikanischen Forderungen stellt sich im Prinzip folgendermaßen dar: Gewiß gelten die Jeffersonschen universalen Ideale für alle Menschen, Völker und Länder gleichermaßen, in der Praxis aber sind diese allgemeingültigen absoluten Ideale ausschließlich in den Vereinigten Staaten von Amerika tatsächlich verwirklicht. Oder anders, knapper ausgedrückt: überall sollen die Menschen frei sein, in Amerika allein sind sie frei. Das ist der Vorzug Amerikas, das ist seine Eigenart, das ist sein nationales Kennzeichen. Amerika ist das besondere Land der allgemein gültigen, allgemein menschlichen Freiheit. Wie mit der Freiheit geht es mit den anderen universalen, übernationalen Idealen, der Gleichheit, der Menschenwürde, des Fortschrittes, der Toleranz, der Gerechtigkeit und Moral, der Aufklärung, des Glücks der Individuen, der Selbstregierung, der Demokratie, der Republik usf. Alle diese Güter, die für die Menschheit insgesamt bestimmt sind als höchstes Ziel, in Amerika allein sind sie Wirklichkeit. Immer wieder erscheinen die Vereinigten Staaten als die Heimat, die Verkörperung der menschlichen Ideale, man könnte sagen, die Union ist die Nation der übernationalen Güter; sie hat den Vernunftstaat, den Idealstaat schlechtweg. Nur in Amerika kann der Mensch frei seine höchste Bestimmung erreichen. Das gilt von den einheimischen Bürgern wie auch von den Eingewanderten. Die Neue Welt soll das gastliche Asyl sein für die Armen, für die Verfolgten und Unterdrückten aus allen Ländern, die der Knechtschaft der alten Heimat entfliehen wollen, um teilzuhaben an dem Glück und der Freiheit des Vernunftstaates. Hier setzt Jefferson in wirkungsvoller, freilich auch selbstgefälliger Weise die Neue Welt der Vernunft und Gerech84
tigkeit und Freiheit ab gegen die Alte Welt des Vorurteils, der Gewalt, der Knechtschaft, des Unglücks und der Verderbnis. Zwar, das wurde schon angedeutet, als die Franzosen darangingen, ihrerseits auch den Vernunftstaat aufzurichten, da war das Privileg, das Monopol der Union, alleiniger Vorkämpfer der Menschheitsbefreiung zu sein, gestört worden; ja Frankreich hatte sogar die Führung übernommen und Jefferson hatte die engste Verbindung und Zusammenarbeit der beiden Schwester republiken empfohlen. Das hatte aber nicht lange gedauert, denn sobald in Paris die Republik abgelöst worden war durch die napoleonische Herrschaft, war die Scheidung eines durchweg geknechteten Europa auf der einen und eines freien Amerika auf der anderen Seite des Ozeans in Jeffersons Vorstellung wieder ganz eindeutig hergestellt. Jefferson konnte jetzt die aus der Revolutionszeit bekannte und beliebte Gegenüberstellung einer möglichst finster und fürchterlich gezeichneten Vergangenheit des Ancien-Régime und —- als Gegenbild — einer blendend leuchtend gezeichneten Zukunft des eben ausgebrochenen Millenniums der Vernunft, er konnte diese fertige Gegenüberstellung, wie sie war, übertragen vom Zeitlichen aufs Örtliche. Die finstere Vergangenheit, das ist einfach Europa, die leuchtende Zukunft, nicht das Zeitalter, sondern das Land der Vernunft, das ist Amerika. Man braucht wohl nicht erst zu betonen, wie eine solche Kontrastierung und mitleidig herablassende Betrachtung des armen, verderbten Europa das Selbstbewußtsein, das nationale Selbstbewußtsein und Überlegenheitsgefühl des Amerikaners stärken muß. Man findet diese Auffassung drüben heute noch sehr verbreitet. „Europe is a madhouse" heißt es da, Europa ist ein Irrenhaus. So dachte auch schon Jefferson. „Die europäischen Verbrecher", die „Verrücktheiten und Verbrechen Europas" sind ihm selbstverständliche Begriffe gewesen. „Es gibt nichts in der Natur, das dem Menschen von Europa entspräche, ausgenommen der Tiger von Afrika." Das muß ja so sein, nachdem unser Kontinent der Kontinent der finsteren Vergangenheit, des Vorurteils, der Knebelung der Vernunft ist und daher der Unfreiheit, der Ungleichheit, der Gewalt und der allgemeinen Knechtschaft. In Europa gibt es eine
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privilegierte Aristokratie, eine privilegierte Kirche, und am allerschlimmsten: Könige — alle miteinander geschworene Feinde der Vernunft, Verdummer und Unterdrücker des Volks, Verehrer der rohen Gewalt. Europa ist der Erdteil des Machiavellismus, der ewigen, selbstverständlich rein dynastischen Kriege. Amerika ist das genaue Gegenteil von alledem, Amerika ist alle diese Geißeln der Menschheit los, es hat keinen Adel, hat keine bevorrechtete Kirche, hat keine Könige. Da kann die Vernunft sich ungehindert zeigen und entfalten und wo Vernunft ist, da ist Freiheit. Dort herrscht das vernünftige Volk selber, dort herrscht die Tugend und Gerechtigkeit, dort herrscht das Glück und der Friede, während der alte Kontinent sich in sinnlosen Kriegen zerfleischt. Dieser beneidenswerte Zustand des Vernunftstaates ist freilich nicht einfach ein Privileg, ein satter Genuß, er ist auch eine Verpflichtung. Amerika hat eine Mission zu erfüllen, eine menschheitliche Mission. Es ist in Jeffersons Worten „the worlds best hope", die beste Hoffnung der Welt. Es muß seinen universalen Idealen der Vernunft, des Rechts, der Freiheit und des Fortschritts treu bleiben und dienen nicht nur zu seinem eigenen Vorteil, sondern um der gesamten Menschheit willen. Die Union hat die heilige Aufgabe, den leidenden und unterdrückten Völkern aller Länder zu zeigen, vorzuleben durch sein Beispiel, durch die Tat zu beweisen, daß der Mensch frei ist und keinen Meister braucht, daß er sein eigener Herr sein kann und daß das Volk ohne die Bevormundung oder, wie es wirklich ist, die Knechtung durch Kirche, Adel, Krone sich selbst regieren kann in einer freien Republik; daß in einer freien Republik der Mensch endlich ungehemmt die Freiheit, die Würde, das Glück erreicht und genießt, die sein Recht sind und seine Bestimmung von Gott; daß Zwang und Gewalt nicht nötig sind, wo jeder Bürger sich als Teil der Regierung fühlt, daß nicht List und Trug und Schläue, sondern Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Freiheit und Vernunft das Geheimnis der Staatskunst sind; daß es noch eine Zufluchtsstätte gibt auf der Welt, rettend geöffnet den Opfern der Tyrannen; daß ein aufgeklärtes Volk, fern den sinnlosen Kriegen der Könige, ohne Haß selbst gegen seine Feinde, 86
ohne den wilden Ehrgei2 verderblicher Herrschsucht, erhaben über den traurigen Ruhm des Mords und der Macht in innerem und äußerem Frieden lebt und gedeiht im Dienst an den edelsten Zwecken der Menschheit. So soll die amerikanische Republik „ein ewiges Denkmal und Vorbild sein für das Streben und Nacheifern anderer Länder", ihr Trost und ihr Leitstern auf dem Wege des Fortschritts. Diesen Gedanken der menschheitlichen Mission seines Vaterlandes baut Jefferson weiter aus in einer Geschichtsdeutung oder Umdeutung der Geschichte. In Wirklichkeit hatten die 13 amerikanischen Kolonien sich 1776 vom Mutterlande losgelöst und selbständig gemacht, um ihre alten, ererbten, spezifisch-englischen Rechte und Freiheiten zu erhalten, die sie innerhalb des alten Britischen Weltreichs bedroht sahen. Jefferson will von den historischen, nur englischen Rechten nichts mehr wissen, er sieht den Unabhängigkeitskampf anders, in einem nicht britischen, sondern universalen Rahmen. Während dumpfe Knechtschaft noch über der ganzen Erde lastete, war sein Vaterland 1776 aufgestanden und entstanden im Kampfe für die heilige Sache der Menschenfreiheit gegen jahrtausendealtes Unrecht. Amerikas Triumph war in Wahrheit der erste Triumph der Menschenrechte, Amerikas Eintreten in die Weltgeschichte hat ein neues Zeitalter eröffnet, das Zeitalter der Freiheit, des Rechts und des Glücks unter den Menschen. Nicht erst in der Französischen Revolution, sondern in der Amerikanischen „ist die Kugel der Freiheit in Bewegung gesetzt worden, die . . . um die ganze Erde rollen wird". So beginnt erst mit dem Eintritt Amerikas in die Geschichte nach der Epoche des Irrtums und der Knechtschaft die Epoche des Lichts und der Freiheit auf Erden. So erscheinen dem Amerikaner die nationale Selbständigkeit seines Vaterlandes und die universale Befreiung der Menschheit als Zwillingsschwestern derselben welthistorischen Stunde. Nicht genug damit. Diese Verbindung, Verschmelzung des Nationalen mit dem Universalen steigert sich bei Jefferson zum Gedanken des auserwählten Volkes. Die Amerikaner sind das auserwählte Volk Gottes, des Gottes der Natur und der gütigen Vorsehung. Die Vorsehung selbst hat den neuen Kontinent getrennt durch einen Ozean von der 87
Alten Welt, damit er von dieser nicht verderbt, angesteckt und gestört werde in seiner heiligen Aufgabe. Die Vorsehung selbst hat ein großes, reiches, fruchtbares Land aufgehoben, sie hat es freigehalten von der erdrückenden Last einer langen und unglücklichen Vergangenheit, damit dort auf jungfräulichem Boden das amerikanische Volk wie kein anderes begünstigt und bestimmt unter den glücklichsten Auspizien die Geschichte von vorne anfange, lediglich nach den Geboten der Vernunft seinen freien Staat baue und das große Experiment einer neuen und vollkommeneren Menschheit wage und vollbringe. Man sieht, Menschheitsglaube und Nationalismus — meistens Gegensätze — sind hier die engste Verbindung eingegangen, gerade und nahezu ausschließlich aus den universalen Idealen hat Jeffersons Nationalismus seine Kraft gesogen. Die Verpflichtung gegen die Menschheit, welcher sein Vaterland nur dient, welcher es untergeordnet ist, bedeutet nicht eine Schwächung, sondern eine außerordentliche Stärkung seines Nationalgefühls. Ja, es wird sogar zu stark und zu kräftig davon und wächst hinaus in einen hemmungslosen Expansionismus, einen wilden Imperialismus. Schon zu einer Zeit, da man an der Lebensfähigkeit der eben geborenen amerikanischen Nation noch sehr zweifeln mußte, stellte Jefferson mit der größten Selbstverständlichkeit ein imperialistisches Programm auf, gegen das die kühnsten Träume eines Napoleon fast idyllisch anmuten: „Unsere amerikanische Konföderation, sagt er, muß als das Nest betrachtet werden, von dem ganz Amerika, Nord und Süd, bevölkert werden muß." Ebenso selbstverständlich steht es für ihn fest, daß Spanien seinen riesigen amerikanischen Kolonialbesitz noch so lange unter seiner schwachen Herrschaft aufheben soll, bis die Amerikaner „bereit" sind, ihn Stück für Stück „entgegenzunehmen". Dieser elementare, vermessene Eroberungs- und Expansionsdrang des Jeffersonschen Vernunftstaates hat seine gedanklichen Wurzeln wieder in den universalen Idealen, denen jener Staat dient. Denn wenn er sich ausbreitet, fremde Länder und Menschen sich einverleibt, so tut er solches nicht aus nationaler Selbstsucht, aus sündhaftem Egoismus und Machttrieb wie die bösen europäischen 88
Staaten, sondern er handelt da mit bestem Gewissen selbstlos im Namen und als Instrument allgemein menschheitlicher Güter und Pflichten, als Streiter Gottes gewissermaßen. Er erobert nicht für sich, sondern für seinen Herrn, für das Recht, die Freiheit, den Fortschritt, die Vernunft, deren Reich er hienieden darstellt und ausbreitet zum Besten der Besiegten selbst. Aus solcher Ideologie erklärt sich zum Teil jenes in der amerikanischen Geschichte oft zu beobachtende unvermittelte Wechselspiel von vorbildlichem Pazifismus der segensreichen Vernunft und von Kampf und heiligem Kreuzzug für die Segnungen der Vernunft. Der amerikanische Vernunftstaat ist der Staat des Friedens und des Rechtes — zugleich aber hat er auch die Mission, die messianische Aufgabe, seinen Frieden, sein Recht, sein Glück zu verbreiten. Und wenn er in dieser seiner Funktion als Streiter Gottes und Befreier der Menschheit einhertritt, ist der sonst so harmlose und anspruchslose Staat plötzlich von unerhörter, geschlossener Macht und Wucht. Wer sich da der Union entgegenstellt, der stellt sich dem auserwählten Volke, der Sache der Menschheitsbefreiung, ja der Vernunft selbst entgegen, er ist ein Feind der Menschheit und Freiheit überhaupt. Wer gegen den Vernunftstaat ist, ist entweder verführt oder verrückt oder aber ein Feind alles Rechts, ein Anbeter der rohen Gewalt, ein bloßer Verbrecher. Man darf nicht vergessen, Jefferson ist im Besitze der alleinseligmachenden Lehre; daher betrachtet er seine und seines Landes Feinde als „Häretiker", „Apostaten", „Götzendiener", „Verbrecher", nicht eigentlich als politische Feinde. Sie sind für ihn nicht gleichen Rechtes, ebensowenig wie für den rechtgläubigen Spanier der Gegenreform der ungläubige Muselmane oder der ketzerische Protestant gleichen Rechts sein kann mit dem Streiter für die wahre Lehre — ebensowenig wie für einen Cromwell der papistische Ire oder Spanier gleichen Rechts sein kann mit dem englischen Kämpfer Gottes. So sieht Jefferson seine amerikanische Nation der übernationalen Ideale erhaben über alle anderen Nationen, die dem wahren Menschheitsglauben nicht dienen wie sie.
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FICHTE
A u f Jefferson Fichte folgen zu lassen, mag merkwürdig erscheinen. Es geschieht aber nicht ohne Absicht; die beiden werden zwar nicht deshalb nebeneinander gestellt, um etwa den Kontrast ihrer Charaktere zu zeigen, um am Gegensatze des zwar sehr moralischen Amerikaners mit seinen braven und ehrenwerten und praktischen und tätigen, aber doch vor lauter gesundem Menschenverstände gelegentlich bis ans Banausische grenzenden Lehren um so deutlicher das völlig anders geartete Temperament des Deutschen sich abheben zu lassen, seine hohe und hinreißende Leidenschaftlichkeit, seinen radikalen, rücksichtslosen, geradezu despotischen Willen zur Wahrheit und Sittlichkeit, seine um das irdische Wohl — dessen Wert der Amerikaner kennt — großartig unbekümmerte, heroische Einstellung. Das alles ließe sich sehr schön und nutzbringend vergleichen, aber es fällt nicht in den Rahmen unserer Aufgabe und außerdem muß die strenge Größe des Deutschen ohnedies bekannt sein. Nein, was uns zur Gegenüberstellung des Amerikaners und des Deutschen bewegt hat, ist nicht ihre Verschiedenheit, sondern — wenn es auch paradox klingen mag — ihre Ähnlichkeit. So entgegengesetzt die beiden sind in ihrem Charakter und damit auch in ihrem Denken, in ihrer Weltanschauung, so stimmen sie doch aufs merkwürdigste; überein in ihrer Stellung zur Nation — gerade in der Frage, die uns hier beschäftigt. Das mag überraschen und mag auch mit dem Bilde, das man von Fichtes Nationalismus kennt, schlecht zusammenpassen. Und doch ist es so: sowohl Fichte wie Jefferson gehen aus von internationalen Idealen; sowohl Fichte wie auch Jefferson bleiben ihrem menschheitlichen Glauben bis zum Ende treu und beide anerkennen die Nation gerade auf Grund ihrer universalen, übernationalen Ideale: dadurch nämlich, daß sie in ihrem Volke die gesamte Menschheit umarmen, daß sie 90
ihre Nation als die Menschheitsnation erkennen, als das auserwählte Volk, das alle anderen Völker führt zu dem allgemeinen, menschheitlichen Ziele. Besser und reiner den Zwecken der Menschheit zu dienen als andre Nationen, das ist der Vorzug, die Aufgabe und das Vorrecht, das Jefferson den Amerikanern, Fichte den Deutschen zuweist. Hierin also liegt bei aller Verschiedenheit die grundsätzliche Übereinstimmung der beiden. Fichte geht aus von universalen Ideen. Wenn er auch nur mit starkem Vorbehalte ein Rationalist genannt werden kann, insofern ist er doch immer Rationalist gewesen und geblieben, als er unverbrüchlich an die Herrschaft der Vernunft geglaubt hat. Die Vernunft soll herrschen, immer reiner und bewußter, nach ihr soll der Mensch und der Staat handeln. Fichte hat auch die Aufrichtung des Vernunftstaates, wie ihn die Französische Revolution versprach, freudig begrüßt — ähnlich wie Jefferson. Er hat sich zu ihr bekannt, auch dann noch, als nach dem Terror die allermeisten sich erschreckt abgewendet hatten. In zwei Schriften, „Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die Französische Revolution" und „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas" (beide 1793), ist er rücksichtslos eingetreten für die weltbürgerliche Freiheit, für die Menschenrechte, die unveräußerlichen Urrechte der Freiheit, der Gleichheit, des Eigentums, er hat die Abschaffung des Adels verlangt, die Trennung von Staat und Kirche, die Einziehung der Kirchengüter. Er hat die Vertragslehre vertreten, die Abgrenzung einer unverletzlichen Freiheitssphäre des Einzelnen, das Recht zum Widerstand, zur Revolution. Kurz, Fichte hätte ohne weiteres die berühmten Sätze Jeffersons unterschrieben „Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, daß alle Menschen gleich geboren sind, daß sie von ihrem Schöpfer mit angeborenen und unveräußerlichen Rechten begabt sind; daß unter diesen sind Leben, Freiheit und Streben nach Glück; daß um diese Rechte zu sichern unter den Menschen Regierungen eingerichtet sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Zustimmung der Regierten ableiten" usw. und Fichte ist nur konsequent, wenn er als weiteres Ziel den Völkerbund aufstellt und den ewigen Frieden als Sicherung und 9i
Bestätigung der Herrschaft der Vernunft und Gerechtigkeit auf Erden. Das alles sind die geläufigen Forderungen jener individualistischen und rationalistischen Zeit, es sind durchweg universale Forderungen, die sich an den Menschen als solchen und an die Menschheit insgesamt wenden, nicht aber an einen besonderen Staat oder eine besondere Nation. Das sind lauter bekannte Gedankengänge, die nicht erst ausgeführt zu werden brauchen. Allerdings unterscheidet sich Fichte schon in diesen ersten Anfängen von Jefferson und von der Mehrzahl der französischen Revolutionäre durch die eigenartige, tiefere, edlere Begründung, die er den allgemeinen Freiheitsforderungen gibt. Man kann es so ausdrücken: die Urrechte und die individuelle Freiheitssphäre sind für Fichte niemals Selbst- oder Endzweck, sondern sie sind nur Mittel, allerdings unentbehrlichstes Mittel zu einem höheren Zweck, nämlich zur sittlichen Freiheit der Persönlichkeit. Der Mensch muß seine Urrechte unverletzt behalten — nicht zum Genuß, sondern damit er seine Pflicht tun könne, damit er dem Sittengebot in seiner Brust gehorche und nicht fremdem Gebot, damit er seine sittliche Bestimmung, und das ist freie Selbstbestimmung, erfülle. Also auf das Heil kommt es an, nicht auf das Wohl. — Hier liegen übrigens auch die Wurzeln von Fichtes Sozialismus. Tätigkeit, Arbeit, ist nicht nur ein Recht, sondern ist sittliche Pflicht des Menschen. Deshalb hat der Staat dafür zu sorgen, daß jeder Bürger Arbeit habe; jeder hat ein Recht auf Arbeit, nicht eigentlich, damit er Geld verdiene und sich sattessen könne, sondern damit er seine Pflicht erfüllen kann. Diesen Gedanken baut Fichte aus, radikal wie immer, bis zu seinem geschlossenen Handelsstaat, der konsequent darauf eingerichtet ist, jedem Bürger sein Recht auf Arbeit zu sichern, auf daß jeder tätig seine Pflicht tun könne und sittlich frei sei. Das nur nebenbei — man sieht aber, ebenso wie seine allgemeinen Freiheitsforderungen leitet Fichte auch seine sozialistischen Forderungen ab aus dem Kantischen Freiheitsbegriff, aus der Bestimmung des Menschen zur sittlichen Freiheit. Aus diesem selben ethischen Freiheitsbegriff ist auch Fichtes Staatsauffassung zu verstehen. Sie hat sich 92
zwar ziemlich gewandelt, man kann sich aber an das Allgemeinste und Grundsätzlichste halten und das ist wohl am leichtesten zu erkennen, wenn man sich an Fichtes Geschichtsphilosophie erinnert. Wie der Einzelne, so ist auch die Menschheit, die Gattung zur Ausbildung der Vernunft bestimmt — der Vernunft freilich nicht als steriler, nur theoretischer Erkenntnis, sondern als Lenkerin des praktischen, sittlichen Tuns; durch sie erst wird die freie Selbstbestimmung, sittliche Freiheit, möglich. Diese Vernunft aber ist nicht von Anfang fertig und vollendet da, sondern sie muß erst von der Menschheit erkannt, entwickelt, ausgebildet, erkämpft werden. Das ist nach Fichte der Inhalt der Weltgeschichte, sie erscheint ihm als eine Erziehung, oder besser eine Selbsterziehung des Menschengeschlechts zur Vernunft und sittlichen Freiheit. Diese fortschrittliche Entwicklung der Vernunft teilt er ein in Stufen, in Epochen. Am Anfang steht das Zeitalter des Vernunftinstinktes, da wirkt die Vernunft in der Gestalt des Instinktes, dem Menschen unbewußt und unerkannt; darauf kommt die Herrschaft der Vernunftautorität, bis diese Autorität als Zwang empfunden und gestürzt wird im Zeitalter der Befreiung. Fichte nennt es auch das Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit, denn mit der Vernunftautorität ist da jede Vernunftherrschaft abgeschüttelt, auch die frühere des Instinktes und es wird eine Freiheit entfesselt, die überhaupt nichts Bindendes mehr anerkennt; die Menschheit lehnt sich auf gegen den Gattungszweck, es herrscht statt der Vernunft die Selbstsucht des Individuums. Gemeint ist das Zeitalter der späten Aufklärung, des Utilitarismus und Eudämonismus. Erst die kommende Epoche der Vernunftwissenschaft erkennt wieder den Gattungszweck, macht ihn bewußt und im Zeitalter der Vernunftkunst endlich wird die Vollendung sein. Da herrscht die Vernunft frei, restlos, der Mensch tut freiwillig und im klarsten Bewußtsein, was er selber als das Vernunft- und Sittengebot erkannt hat. So läuft also die Entwicklung von einem Zeitalter der blinden Vernunftherrschaft zu einem Zeitalter der sehenden Vernunftherrschaft und erst im letzten erreicht der Mensch und die Gattung die vollendete freie Sittlichkeit. An diesem Zwecke der Menschheit mitzuarbeiten ist 93
Aufgabe und Pflicht eines jeden Einzelnen. Dazu aber brauchen die Einzelnen den Staat. Der Einzelne kann nicht ins Leere hinein arbeiten, in eine vage, unorganisierte Menschheit hinein. Erst der Staat vereinigt die Individuen unter einem gemeinschaftlichen Zweck und macht sie dadurch zu einem geschlossenen Ganzen, zu wirklichen Repräsentanten der Gattung. Der Staat ist also das unentbehrliche Zwischenglied, gewissermaßen der Rahmen, innerhalb dessen der Einzelne für die gesamte fortschreitende Menschheitsentwicklung mitwirkt. Daraus folgt, daß der Einzelne dem Staate mit allen seinen Kräften zu dienen hat, so wie er der Gattung selbst zu dienen hat. Der Zweck des isolierten Individuums ist bloßer Genuß, der Zweck der Gattung — wie sie im Staate repräsentiert ist — ist Kultur, Vernunftherrschaft, Sittlichkeit, völlige Vergeistigung des Menschen. Fichte sagt daher, „daß es gar keinen Kosmopolitismus überhaupt wirklich geben könne, sondern daß in der Wirklichkeit der Kosmopolitismus notwendig Patriotismus werden müsse". Das heißt, der Weg vom Einzelnen zur Menschheit, zum Gattungszweck führt durch den Staat. Daher die strenge Pflicht gegen den Staat. — Anderseits aber ergibt sich aus dieser Auffassung, daß der Staat nun auch seinerseits und tatsächlich dem Gattungszwecke dienen muß. Er ist ja nicht Selbstzweck, er ist auch nur Mittel zu dem menschheitlichen Zwecke, auf den die Einzelnen und die Staaten und der gesamte Verlauf der Weltgeschichte zustreben. Ein Eigenrecht des Staates — wie Rousseau — eine historische Eigengesetzlichkeit des Staates — wie Burke — hat Fichte nicht anerkannt. Um genau zu sein: er ist der Autonomie des Staates zwar einmal sehr nahegekommen in seinem merkwürdigen Aufsatze über Machiavelli, der, wie treffend gesagt worden ist, „den Punkt der größten Erdennähe" bezeichnet. Der Machiavelli-Aufsatz bleibt aber mehr Episode. Der „wahre" Fichte betrachtet den Staat nur als Mittel, wenn auch als sehr hohes Mittel zu der letzten, allgemein menschheitlichen Aufgabe. Es verbleibt also eine höhere Instanz über ihm und deshalb ist die Bindung des Einzelnen an den Staat eben doch keine unbedingte. Der Staat kann der menschheitlichen Aufgabe untreu werden, ja sogar sie hemmen und hindern — der Einzelne aber bleibt trotzdem letztlich der Menschheit, 94
dem Gattungszweck, der Sittlichkeit verpflichtet als der höchsten Instanz. Wie es daher mit Fichtes Patriotismus steht und stehen muß, mag man aus seinen eigenen Worten erkennen: „Welches ist denn das Vaterland des wahrhaft gebildeten Europäers ? Im allgemeinen ist es Europa, insbesondere ist es in jedem Zeitalter derjenige Staat in Europa, der auf der Höhe der Kultur steht.. . . Mögen die Erdgeborenen, welche in der Erdscholle, dem Flusse, dem Berge ihr Vaterland erkennen, Bürger des gesunkenen Staates bleiben [d. h. des Staates, der in der sittlichen Menschheitsaufgabe zurückbleibt oder gar hemmt]. Sie behalten was sie wollten und was sie beglückt: der sonnenverwandte Geist wird unwiderstehlich angezogen werden und hin sich wenden, wo Licht ist und Recht." Man sieht hier, daß die kosmopolitische, die universale Seite in Fichte stärker ist und seinem gesamten Denken nach stärker sein und bleiben muß als die patriotisch-nationale. Sein letztes Ziel ist eben ein menschheitliches und sittliches, nicht ein nationales und politisches und sein „Vaterland" ist jeweils der Führerstaat der Menschheit. Deshalb kann er weiterfahren mit den Worten: „Und in diesem Weltbürgersinne können wir denn über die Handlungen und Schicksale der Staaten uns vollkommen beruhigen, für uns selbst und für unsere Nachkommen bis ans Ende der Tage." Das war 1804 — dreieinhalb Jahre später, Winter 1807/08 hält derselbe Mann die Reden an die Deutsche Nation. Mit unerhörtem persönlichen Mut, vorbereitet und entschlossen, wenn nötig das Schicksal zu teilen, das Palm in Braunau erlitten hat, verkündet er unter den Augen der Franzosen die gewaltigste Verherrlichung des Deutschen Volkes. Leidenschaftlich wendet er sich gegen alles Ausländische, insbesondere gegen das Französische, das Ganze ist ein flammender Aufruf zur nationalen Befreiung. Wir denken, hoffen, die Reden sind bekannt, und insbesondere dürften diejenigen Stellen schon bekannt sein, die uns so auffallend modern anmuten. Wenn er etwa sagt, „daß allenthalben, wo eine besondere Sprache angetroffen wird, auch eine besondere Nation vorhanden ist, die das Recht hat, selbständig ihre Angelegenheiten zu besorgen und sich selber zu regieren", wenn er im selben Zusammenhange ausführt, daß
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Sprache und Literatur eines Volkes entarten würden durch den Verlust der politischen Selbständigkeit; oder wenn er erklärt: „Die geistige Natur vermochte das Wesen der Menschheit nur in höchst mannigfaltigen Abstufungen an Einzelnen, und an der Einzelheit im großen Ganzen, an Völkern darzustellen. Nur wie jedes dieser letzten, sich selbst überlassen, seiner Eigenheit gemäß . . . sich entwickelt und gestaltet, tritt die Erscheinung der Gottheit in ihrem eigentlichen Spiegel heraus." Diese Verteidigung des Eigenrechts der Nation tritt noch deutlicher, extremer hervor, wenn es sich um die Deutsche Nation handelt. Da scheint eine Kluft das deutsche Volk von allen anderen zu trennen, himmelhoch ragt es über die anderen hinaus. Sein Volk betrachtet Fichte als das Volk schlechthin, als das Urvolk, er preist ausführlich die Ursprünglichkeit der Deutschen. Sie allein haben eine Ursprache, eine wirkliche, ungebrochene, eigene, ursprüngliche Sprache. Die Deutschen haben nicht nur die Ursprache, sie haben auch die wahre, die einzig freie Philosophie entwickelt. Sie haben gegen das kaiserliche Rom und gegen das päpstliche Rom gekämpft und die Freiheit gerettet. — Wir können und brauchen nicht alles aufzuzählen, was in den Reden zur Verherrlichung der Deutschen gesagt ist — das Erwähnte mag genügen, um den Eindruck zu erwecken, daß hier ein völlig anderer Fichte spricht als noch der Fichte von 1804, daß aus dem Weltbürger plötzlich ein radikaler Nationalist geworden ist. Man hat auch oft gesagt und wiederholt, es liege hier eine gewaltsame Wendung vor oder ein Bruch und man hat diesen Bruch erklärt mit dem tiefen Schmerze über die inzwischen eingetretene Katastrophe von Jena und über die Schmach der Fremdherrschaft. Nun, Fichte selbst sagt ausdrücklich, er kenne jenen Schmerz, er habe ihn gefühlt wie Einer und es kann auch gar kein Zweifel sein über die Bedeutung jener Erschütterung für sein philosophisches Denken. Aber Fichte behauptet auch in demselben Zusammenhange, seine Reden an die Deutsche Nation seien „eine Fortsetzung" seiner Vorlesungen von 1804 über das Gegenwärtige Zeitalter — eine Fortsetzung also seiner geschichtsphilosophischen Lehre von der allgemein menschheitlichen Aufgabe, von der Vernunft96
herrschaft, welcher die Weltgeschichte und der einzelne Staat in den verschiedenen Epochen zustrebt. Kurz, Fichte selbst leugnet den Bruch, und ein Mann wie er weiß, was er sagt. Es ist auch tatsächlich so, daß sich die Reden an die Deutsche Nation eng anschließen an seine Vorlesungen über das Gegenwärtige Zeitalter; Fichte hat sein früheres universales Denken auch in den Reden nicht aufgegeben oder gar abgeleugnet. Im Gegenteil, sein Nationalismus der Reden empfängt seine Lebenskraft, seinen Sinn und Schwung und seine höchste Rechtfertigung gerade aus dem alten Universalismus; gerade an den allgemein menschheitlichen, übernationalen Idealen von weltweiter Vernunftherrschaft und von sittlicher Freiheit ist Fichtes Patriotismus gewissermaßen aufgehängt, auf diese seine alten ethischen Ideale hin ist sein ganzes nationales Denken und Wollen ausgerichtet. Die Stellen aus den Reden an die Deutsche Nation, die oben zitiert wurden, müssen, für sich genommen und aus dem Zusammenhange gerissen, in modernen Ohren mißverstanden werden, sie müssen, wenn sie nicht mehr im ursprünglichen Zusammenhange gesehen werden, einen Sinn annehmen, den ihnen Fichte niemals beigelegt hat. Sehen wir uns die Frage näher an, versuchen wir zu erkennen, wie der Kosmopolitismus und der Nationalismus Fichtes zusammengehören, wie der letztere von ersterem bedingt ist. Dann erst wird man begreifen, was er eigentlich unter Volk, Staat und Nation wirklich verstanden hat. In der ersten Rede heißt es, das Zeitalter der ziellosen Freiheit oder der vollendeten Sündhaftigkeit, der Selbstsucht sei nun zu Ende. Durch eigene Schuld habe es sich selbst zerstört — Fichte erkennt das an dem Zusammenbruche des alten Reichs und Preußens. Jetzt aber hebe das neue Zeitalter an, das Zeitalter der Vernunftwissenschaft, der klar erkannten, der selbst und bewußt gewollten sittlichen Freiheit, da statt der gescheiterten individualistischen Selbstsucht der vernunftgemäße Gattungszweck erkannt sei und zur Herrschaft gelangen müsse. Es sei jetzt der welthistorische Moment eingetreten, in dem die Gattung diese neue, höhere Stufe der Entwicklung erkämpfen müsse. Für diese menschheitliche Aufgabe aber ist ausersehen das deutsche Volk. V o s s l e r , Nationalgedanke
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Warum gerade das deutsche Volk ? Weil es als einziges noch ein ursprüngliches, ein Urvolk ist. Der Zusammenhang zwischen ursprünglichem Volk und vernunftgemäßer Menschheitsmission ist allerdings nicht ohne weiteres klar. Wir denken doch bei Ursprünglichkeit an derbe, primitive Kraft, an historisch fest verwurzelte Zustände, nicht aber an Vernunftherrschaft. Fichte dagegen — wenn man näher hinsieht — versteht darunter so ziemlich das Gegenteil dessen, was wir meinen. Ursprünglich ist für ihn gerade das Geschichtslose, das durch die Geschichte nicht Gebildete, sondern vernunftgemäß Gebliebene. Fichte sagt einmal ausdrücklich — nicht in den Reden, sondern später — „die Deutschen sind gewachsen ohne Geschichte". Also ursprünglich bedeutet geschichtslos, was nicht durch den Zufall der Geschichte seinem ursprünglichen Selbst entfremdet worden ist. Sein Urvolk würden wir heute als Vernunftvolk bezeichnen. Es ist klar, daß Fichte für die Aufgabe, das Vernunftreich zu gründen, nicht ein historisch schon festgelegtes, sondern ein Vernunftvolk braucht. Und der Rationalist Fichte begeistert sich an dem Gedanken, daß in den Deutschen das einzige geschichtsfreie Volk erhalten geblieben sei, das noch unverderbt und imstande sei, jenes Vernunftreich' zu verwirklichen, welches er, Fichte, in seiner Wissenschaftslehre als die nächste Aufgabe der Menschheit erkannt hat. Den historischen Nationalgeist, den geschichtlich gewordenen Nationalcharakter, wie ihn etwa Franzosen und Engländer hatten und wie auch wir ihn heute verstehen, lehnt Fichte ab. Von dem will er nichts wissen; er gehöre der Welt der Unfreiheit an, er sei blind und unbewußt geworden, nicht aber, wie sichs gehöre und wie es den Deutschen zustehe, ein mit klarstem Bewußtsein und freiem Willen nach der Vernunft selbst gesetzter Nationalgeist. Vielleicht wird sein Gedanke klarer durch einen Vergleich mit Jefferson. So wie Jefferson glaubt, die Vorsehung habe seinem Volke einen unberührten, jungfräulichen Kontinent vorbehalten, damit es dort als das Vernunftvolk frei und ungehindert von der drückenden Last einer verderblichen Vergangenheit, lediglich nach den Geboten der Vernunft den Idealstaat errichte, der gesamten Menschheit zum Heil und Vorbild — ebenso glaubt Fichte, daß die Vorsehung sein deutsches Volk 98
ursprünglich und geschichtsfrei bewahrt habe, auf daß es nach dem Vernunft- und Gattungszwecke so wie ihn seine Wissenschaftslehre kündet, die neue Herrschaft der Vernunft auf Erden verwirkliche, das neue sittliche Zeitalter, allen Menschen zur Rettung. Aus diesem menschheitlich-vernünftig-sittlichen, kurz geistigen aber unpolitischen Ziele, das Fichte dem Volke und der Menschheit zuweist, ergibt sich auch, daß sein Begriff der Nation ein sittlich-geistiger und nicht ein historischpolitisch-konkreter ist. Oder vielmehr, diese Fichtesche Nation schillert unbestimmt hin und her zwischen der realen Gesamtheit der deutschen Menschen, so wie wir sie verstehen, und zwischen einer gänzlich unirdischen, im Utopischen liegenden rein geistigen Gemeinschaft der Rechtgläubigen, derjenigen, die die wahre Philosophie der Wissenschaftslehre begreifen und zu verwirklichen entschlossen sind, oder auch der Bürger des neuen Zeitalters, der Erfüller des neuen Sollens, der Vorkämpfer der gänzlich neuen Weltordnung, der Diener an der fortschreitenden Menschheit, der „Edeldenkenden" schlechthin. Wenn man die Fichtesche zugleich nationale und universale sittliche Aufgabe im Auge behält, versteht man, wie er zu einer Definition des Deutschen kommen konnte, wie dieser: „Der eigentliche Unterscheidungsgrund [zwischen deutsch und undeutsch] liegt darin, ob man an ein absolut Erstes und Ursprüngliches im Menschen selber, an Freiheit, an unendliche Verbesserlichkeit, an ewiges Fortschreiten unseres [Menschen-] Geschlechts glaube, oder ob man an alles dieses nicht glaube . . . Was an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt, und die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren sei und in welcher Sprache es rede, ist unsers Geschlechts, es gehört uns an und wird sich zu uns tun. Was an Stillstand, Rückgang und Zirkeltanz glaubt, oder gar eine tote Natur an das Ruder der Weltregierung setzt, dieses, wo es auch geboren sei und welche Sprache es rede, ist undeutsch und fremd für uns." Das ist ein so vergeistigter Nationalbegriff, daß er offensichtlich von dem irdischen Vaterlande und der Sprache unabhängig ist. Das ist schließlich unvermeidlich, denn der deutsche Nationalgeist, den da Fichte predigt, gründet sich nicht auf das 7*
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konkrete historische Leben, sondern er ist ein Postulat der Vernunft; er entstammt der Wissenschaftslehre Fichtes, nicht der Vergangenheit Deutschlands. Zwar finden sich in den Reden auch Sätze, die man versucht wäre, doch wieder historisch und konkret auszulegen, Sätze von „Volk und Vaterland als Träger und Unterpfand der irdischen Ewigkeit und als dasjenige, was hienieden ewig sein kann", Sätze von der Nation als der Bürgschaft der Kontinuität unseres Wirkens, des Vererbens unseres Strebens von Generation zu Generation, als des Ganzen, in dem unsere Werke über die kurze Spanne des Lebens des Einzelnen fortleben im Strome der Zeit bis ans Ende der Tage. Das erinnert an Burke, wenn auch dieser — mit sehr bezeichnendem Unterschiede — in der Gemeinschaft der Toten, Lebenden und Ungeborenen viel mehr nach rückwärts gewendet erscheint, demütig dankbar das heilige Erbe der Väter aufnehmend und pflegend, während die Willensnatur des Deutschen entschlossen nach der Zukunft gerichtet den Söhnen sein Werk, fast möchte man sagen, seinen Befehl weitergibt. Sieht man genauer zu, so erweist sich freilich der Unterschied als noch viel tiefer und die Ähnlichkeit als eine fast zufällige. Denn sobald man versucht, die nationale Kontinuität Fichtes festzuhalten, gewissermaßen ihren irdisch-historischen Körper zu fassen zu kriegen, verflüchtigt sie sich, vergeistigt sie sich zu der Kontinuität nicht einer nationalen Geschichte, sondern der Kontinuität einer sittlichen Aufgabe, die erhaben über jeder Nation steht, dem ganzen Menschengeschlecht innigst verknüpft. In diesem Sinne dauert die römische Nation heute noch, denn was wirklich ewig war in der ewigen Roma, lebt in unserer Mitte fort. Dementsprechend ist auch Fichtes Stellung zum deutschen Nationalstaat eine sehr distanzierte und unpolitische. Letztlich ist ihm die staatliche Form gleichgültig, es kommt ihm auf den Geist an, nicht auf die politische Organisation der Deutschen. Soviel aber weiß er und sagt er ausdrücklich, einmal: daß ein deutscher Einheitsstaat unerwünscht wäre, er würde die individuelle Freiheit und Eigentümlichkeit erdrücken — wohingegen der Zustand vor 1806, das alte Reich ihm ganz erträglich erscheint. Und zweitens, der 100
Deutsche Staat oder die Deutschen Staaten der Zukunft müssen Erziehungsstaaten sein. Das heißt, sie müssen in staatlichen Schulen die gesamte Nation, nicht nur einen besonderen Stand erziehen zur neuen, sittlichen Freiheit, zu Trägern der neuen Menschheitsepoche nach einem ausführlich beschriebenen pädagogischen System Fichte-Pestalozzi. Ist einmal diese Nationalerziehung in Ordnung, welche unfehlbar die sittliche Wiedergeburt herbeiführen wird, dann ergibt sich das Staatlich-Politische schon von selber. Fichtes Aufruf an die deutsche Jugend in den Reden heißt ja nicht „Zu den Waffen !", nicht „Auf die Straße !", sondern „In die Schule !" Sollte aber der Staat sich weigern, das große Erziehungswerk in die Hand zu nehmen, so mögen reiche Privatleute einspringen — und wenn die Eltern sich weigern, ihre Kinder in die neuen Schulen zu geben, nun, so sollte man eben Waisen und Findelkinder nehmen. Mit ihnen also, mit Waisen und Findelkindern gedenkt Fichte im Notfall die wahre Deutsche Nation zu bilden, mit ihnen will er das Vaterland retten und die gesamte Menschheit. Aus diesem letzten, merkwürdigen Plane erkennt man wieder, was schon oft zu beobachten war: Fichtes letztes Ziel ist und bleibt ein geistig-sittliches, nicht ein politisches, ein universal-menschheitliches, nicht ein eingeschränkt nationales. Aber gerade aus den höchsten universalen ethischen Idealen gewinnt Fichtes Patriotismus seine leidenschaftliche Kraft und seine Würde. Dem Gattungszwecke sollen die Deutschen dienen, sie müssen es, sie allein können es; diese gewaltige Aufgabe erhebt sie, mit der letzten menschheitlichen, sittlichen Pflicht der Deutschen Nation begründet Fichte das Recht, die Freiheit, ja die Existenz dieser Nation. Ihm ist Nation Pflichterfüllung gegenüber der Menschheit. Hier endlich berührt sich der Deutsche wieder mit dem Amerikaner. So wie Jefferson sein Volk als das auserwählte erkennt, als den Fackelträger im Fortschritt der Menschheit zu Freiheit und Vernunft, als die beste Hoffnung der Welt — so ruft Fichte, noch radikaler, noch ausschließlicher, seinen deutschen Hörern zu: „Es ist daher kein Ausweg: wenn ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung." 101
HUMBOLDT
B e i Wilhelm von Humboldt (1767—1835) läßt sich die Auseinandersetzung von Geistigem und Politischem, von Weltbürgerlichem und Nationalem, die Verknüpfung der allgemein menschheitlichen Ideale mit dem Bekenntnisse zum eigenen Volk in einzigartiger Weise erkennen, jener Dialog gewissermaßen, den wir immer wieder vernommen haben, zwischen dem, was wir mit den Schlagworten Rationalismus und Nationalismus oder 18. und 19. Jahrhundert bezeichnet haben. Ähnlich wie Fichte, ja wie seine ganze Generation geht auch Humboldt seinen Weg, freilich einen eigenen Weg, von individualistischer Staatsfeindlichkeit zu sittlich-begründeter Staatsbejahung. Aber das bedeutet bei ihm nicht nur einen logischen, einen Denkprozeß, eine Entwicklung der Lehre allein, sondern eine Entwicklung seines Lebens, seiner Persönlichkeit selbst. Die Staatslehre Humboldts, so zart und feinfühlig sie sein mag, ist längst nicht so originell und kräftig wie die eines Rousseau, Burke oder Fichte. Sie ist auch wenig bekannt geworden. Die Jugendschrift von 1792 über „Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates", seinerzeit kaum beachtet, hat erst einen posthumen Ruhm erlangt und seine späteren politischen Gedanken sind in einer Reihe von dienstlichen Denkschriften niedergelegt, die für einen kleinen Kreis höherer Beamter oder von Freunden verfaßt waren und die nie ein großes Publikum gefunden haben. Aber trotzdem sie schwer zu fassen und zu umreißen ist, ist die Wirkung Humboldts auf den deutschen Geist und den deutschen Staat unermeßlich tief und weit. Er selbst sagt einmal, „mir heißt ins Große Ganze wirken, auf den Charakter der Menschheit wirken, und darauf wirkt jeder, sobald er auf sich und bloß auf sich wirkt. Man habe nur viel zu geben, so werden die Menschen es genießen und der Genuß wird Vater neuer Kraft sein. Der wahrhaft große Mann wirkt schon dadurch allein mehr als alle anderen, daß 102
ein solcher Mann einmal unter den Menschen ist oder gewesen ist". Dieser Gedanke läßt sich auf Humboldt selbst anwenden. Er wirkt mehr durch das, was er ist, als durch das, was er tut. Sein Name ist nicht mit einer einzelnen großen Leistung, mit einem einzelnen, überragenden, repräsentativen Werke verbunden, in dem er ganz wäre oder gar sich selbst überträfe — seine eigentliche Leistung ist sein Sein, sein Leben, man könnte sagen: das Kunstwerk seiner Persönlichkeit. Es ist sehr bezeichnend, daß die heute meistgelesenen, fast die einzigen noch gelesenen seiner Schriften, seine Briefe sind, insbesondere die Briefe an seine Frau und auch die ziemlich bekannten „Briefe an eine Freundin". Mit Recht; denn gerade in diesen intimen, höchst persönlichen, nicht für die Welt und Wirkung geschriebenen Bekenntnissen zeigt sich am Schönsten und Reinsten der wahre und der ganze Humboldt. Und was von diesem Manne überhaupt gilt — auch von seinen wissenschaftlichen, insbesondere sprachwissenschaftlichen Arbeiten zum Beispiel, die bis heute außerordentlich fruchtbar geblieben sind für die gesamte Philologie, mehr durch ihren Geist und ihre Methode, als durch die einzelnen Ergebnisse, so daß man sie jetzt kaum mehr liest und auch gar nicht zu lesen braucht — was von diesem Manne überhaupt gilt und was er selber in die Worte gefaßt hat, daß im Leben „die Resultate an sich nichts sind, alles nur die Kräfte, die sie hervorbringen und die aus ihnen entspringen", das gilt ebenso von Humboldts Stellung zum Staat und zur Nation. Das heißt anders ausgedrückt: jene Verbindung, Aussöhnung, Verschmelzung von Einzelnem und Gemeinschaft, von Persönlichkeit und Staat, von Volk und Regierung, von universaler Vernunft und konkreter Wirklichkeit, von Sittlichkeit und Politik — eben das Problem, aus welchem die Nation ersteht — dieses Problem hat Humboldt zwar auch theoretisch behandelt, vor allem aber, und darauf kommt es bei ihm an, er hat es selbst erlebt, vorgelebt. Er ist Hellene und Preuße, er ist durch das französische Blut seiner Mutter, durch sein Leben im Auslande, vor allem aber durch den universalen Reichtum seiner weitgespannten Gedankenwelt Weltbürger im besten Sinne des Wortes — und in der schwersten Stunde seines Lebens, nach seiner Ent103
lassung, konnte er schreiben: „Nie gibt es ein Vaterland, dem man lieber angehören möchte als Deutschland." Er ist Diener der Wissenschaft und Diener des Staates, er ist der Schüler Kants, der Freund von Wolff, von Schiller und Goethe — den stillen Gesellschafter unserer Klassiker hat man ihn genannt — und er ist Gesandter, Minister, politischer Reformer, Staatsmann. Er ist eine der schönsten Verkörperungen des deutschen idealistischen Humanismus und zugleich einer der Vorkämpfer unserer nationalen Befreiung, einer der Gründer des neuen Preußen. Wenn man es mit einem Schlagwort ausdrücken will, kann man sagen, er hat die feste Brücke geschlagen zwischen Weimar und Potsdam. Er hat die deutsche Bildung und den deutschen Staat, die sich noch gleichgültig und fremd gegenüberstanden, zusammengeführt, vereint, oder besser gesagt, er hat diese Vereinigung vorgelebt, er selber ist die klassische Verschmelzung von Bildung und Politik, von deutschem Geist und deutschem Staat. Aus dem Gesagten erkennt man, daß Humboldts Stellung zu Staat und Nation in hohem Maße ein biographisches Problem ist, auch ein psychologisches. Es hängt aufs engste zusammen mit seinem nie ganz entschiedenen Schwanken, mit der nie ganz geglückten Verschmelzung von vita activa und vita contemplativa dieses Menschen. Eine solche biographisch-psychologische Untersuchung können wir hier freilich nicht anstellen — sie würde uns zu weit abführen. Aber wir wollen doch — ganz knapp wenigstens den äußeren Verlauf von Humboldts Leben skizzieren, dann etwas genauer das Anfangsstadium und das Endstadium seines politischen Denkens betrachten, vergleichen, um den zurückgelegten Weg oder auch die durchgehenden Verbindungslinien zu erkennen. Der junge Humboldt, der sich schon während seiner Studienzeit viel mehr mit philosophischen und ästhetischen Fragen beschäftigt hatte, als mit dem Fach- und Brotstudium der Rechtswissenschaft, gibt schon nach sehr kurzer Zeit — 1791 — die eben erst als Referendar aufgenommene Beamtenlaufbahn auf, tritt aus dem Staatsdienste aus. Es ist eine Absage des preußischen Junkers an den Staat, ein Sichzurückziehen auf sich selbst. Für eine lange Reihe von Jahren 104
lebt er „privat", völlig ungebunden, er arbeitet getreu seiner Maxime an seiner eigenen Bildung, an seinem Ideale der vielseitigen Harmonie aller Kräfte der vollendeten Persönlichkeit; sei es durch mancherlei wissenschaftliche Beschäftigung •—- auch die „Grenzen der Wirksamkeit des Staates" gehören hierher, während die meisten seiner großen, allzu weit gespannten Pläne von damals unausgeführt oder Bruchstück geblieben sind — sei es durch Verkehr mit auserlesenen Freunden — er hat sich Schiller zu Liebe zeitweise in Jena niedergelassen —- sei es endlich durch längere Reisen nach Paris, wo er mehrere Jahre verbringt, und nach Spanien. Für den Staat als solchen und die großen Weltbegebenheiten interessiert er sich dabei weniger als für die allgemein menschliche und historische Bildung. Gerade aus dem revolutionär bewegten Paris schreibt er an Goethe: „Um das Politische, wissen Sie, bekümmere ich mich nicht." Als er 1802 die Stelle des preußischen Residenten in Rom übernimmt, kann man noch kaum von einer Rückkehr in den Staat sprechen. Die bequeme Sinecure ist ihm vor allem ein Mittel, den längst geplanten Aufenthalt auf dem klassischen Boden Italiens zu verwirklichen. Erst Winter 1808/09, also nach der Katastrophe von Jena, kehrt er aus dem sorgenfreien Süden in die völlig veränderte Heimat zurück. Da folgt er halb zufällig, halb widerstrebend dem Rufe des Freiherrn vom Stein, mitzuarbeiten am Aufbau des neuen Preußen, des Preußen der Reform. Es ist nicht so, daß die nunmehr gereifte Persönlichkeit nach dem Wirken im Staate verlangte, vielmehr ist es der Staat, der die Kräfte der freien, in der Unabhängigkeit fern von ihm selbst gebildeten Persönlichkeit braucht zu seiner eigenen Erneuerung. Freilich findet Humboldt in den nächsten anderthalb Jahren die denkbar glücklichste Wirkungsmöglichkeit, die sich einem Manne seiner Art überhaupt öffnen kann. Als Unterrichtsminister, so würden wir heute sagen, wird er zum Erneuerer des preußischen Schulwesens, insbesondere zum Schöpfer der Universität Berlin und damit überhaupt zum Schöpfer der freien deutschen Hochschule. Das Beste, was er, das Beste, was die Blütezeit unserer Bildung zu geben hatte, stellt er in den Dienst des gefallenen Staates. Von da an zieht es ihn immer tiefer in das politische Treiben, in die
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großen Kämpfe des Völkerlebens hinein. Er, der frühere Staatsgegner, rühmt es als sein besonderes Verdienst während seiner Wiener Gesandtschaft, daß Österreich 1813 den Bund mit Rußland und Preußen geschlossen hat, und während der Freiheitskriege endlich gibt er seine bis dahin gewahrte Distanz, seine Reserve gegenüber der Wirklichkeit auf, er läßt sich bewußt ergreifen vom Strome des Völkerschicksals; im Kampfe gegen Napoleon wird er völlig eins mit seinem Staat, mit seinem Volk. „Wozu kann man das Leben besser anwenden", schreibt er 1815, als der letzte Krieg gegen Napoleon ausbricht, und „es fehle ihm nicht am schlichten Willen, seine ganze Existenz daran zu setzen". Beim Pariser Frieden und beim Wiener Kongreß treifen wir Humboldt als Vertreter Preußens, dann als Gesandten in London, in Frankfurt. Er arbeitet in diesen Jahren zusammen mit Stein verschiedentlich an der deutschen Einheit, dem Deutschen Bunde. Zuletzt Minister für Verfassungsfragen gerät er durch seine zu freiheitlichen Pläne in Konflikt mit Hardenberg; nach den Karlsbader Beschlüssen tritt er in Opposition und muß 1819 endgültig den Staatsdienst aufgeben. Zwei Jahre vorher hatte er geschrieben: „Ich hätte gern, ehe ich stürbe, einige Jahre bloße Ruhe, reine Abgezogenheit von den irdischen Dingen der Welt. Es ist nicht schön, so ins Grab zu taumeln aus allen äußeren Verhältnissen und Verwirrungen." Der Wunsch ist ihm erfüllt worden; noch 15 Jahre hat er in dem stillen Schinkelbau von Tegel in tätiger Muse mit Chinesisch, Malaiisch, Sanskrit beschäftigt, fruchtbar verbracht. So schließt der weite Kreis dieses Lebens. Es bezeichnet symbolisch für jene ganze Generation und Zeit und insbesondere für Deutschland die Entwicklung vom Unpolitischen zum Politischen, von der freien, ungebundenen, in den Sphären des rein Geistigen lebenden Persönlichkeit zum tätigen Bürger im Staate. Betrachten wir nun etwas genauer, wie sich Anfangsund Endpunkt dieser Entwicklung darstellen. Am Anfang, in der Zeit der reinen Theorie, steht noch vor den „Grenzen der Wirksamkeit des Staates" ein Essay „Ideen über die Staatsverfassung, durch die neue französische Konstitution veranlaßt" (1791). Es ist eine äußerst gescheite, freilich mehr philosophische als eigentlich politische Schrift von nur 106
wenigen Seiten. Mit verblüffender Sicherheit führt der erst Dreiundzwanzigj ährige den ganzen Komplex der Probleme der Französischen Revolution auf die eine Grund- und Kardinalfrage zurück, „ob ein Staatsgebäude nach den bloßen Grundsätzen der Vernunft aufzuführen sei". Und seine Antwort lautet: Nein. „ E s kann keine Staatsverfassung gelingen, welche die Vernunft nach einem angelegten Plan gleichsam von vorneherein gründet; nur eine solche kann gedeihen, welche aus dem Kampf des mächtigeren Zufalls mit der entgegenstrebenden Vernunft hervorgeht. — Staatsverfassungen lassen sich nicht auf Menschen wie Schößlinge auf Bäume pfropfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, da ist es, als bindet man Blüten mit Fäden an, die erste Mittagssonne versengt sie. — Für eine nach bloßen Grundsätzen der Vernunft systematisch entworfene Staatsverfassung kann nie eine Nation reif genug sein." Die Nationen seien eben niemals rational, d. h. vollkommen, allseitig, harmonisch; „wie mit einzelnen Menschen, so mit ganzen Nationen. Sie nehmen auf einmal nur einen Gang. Daher ihre Verschiedenheit untereinander, daher ihre Verschiedenheiten in ihnen selbst in verschiedenen Epochen." Aus diesen Sätzen erkennt man, daß Humboldt auch in seiner Jugend durchaus nicht ein reiner Rationalist ist. Neben oder gegen die Vernunft, die er freilich nicht aufgibt, stellt er das, was er „Zufall" oder „Zeit und Natur" nennt, was wir einfach „Geschichte" nennen — ohne freilich sich restlos dieser Geschichte zu verschreiben. Und in der Nation entdeckt er neben der vernunftgemäßen die irrationale Seite, neben dem bewußten, den unbewußten Faktor, den historischen, das Naturhafte, das Erbe der Vergangenheit, die Tradition. Das sind Gedanken, die an Burke erinnern — den Humboldt aber damals noch nicht kannte. Also der junge Humboldt sieht da, wenn auch noch unklar und längst nicht so sicher wie Burke, die Nationen als historisch gewordene Individualitäten. Später erst, in einer Rede über die „Aufgaben des Geschichtsschreibers" hat er diese Gedanken reifen lassen. Wer nun meint, daß Humboldt aus dieser Erkenntnis gleich fortschreiten werde zu der Forderung, daß jede nationale Individualität statt des utopischen, allgemein gültigen 107
rationalen Staates ihren eigenen, auf sie eigens zugeschnitten, individuellen, kurz nationalen Staat haben müsse, der sieht sich getäuscht. Diesen Schritt geht Humboldt nicht, er ist ihm verwehrt und zwar deshalb, weil er dem Staate überhaupt höchst mißtrauisch und ablehnend gegenübersteht. Schon in seiner Erstlingsschrift heißt es: „Das Prinzip, daß die Regierung für das Glück und das Wohl, das physische und moralische, der Nation sorgen muß. Gerade der ärgste und drückendste Despotismus." Man sieht, Staat und Nation finden nicht zusammen, Volk und Regierung kommen nicht zueinander in einer höheren Einheit. Warum gelingt das nicht ? Nun, der historische Grund liegt darin, daß der Staat, den Humboldt kennt, der erstarrte fridericianische Staat ist, der absolutistische ObrigkeitsStaat mit seiner scharfen Trennung in Herrschende und Beherrschte. Diesen Staat empfindet Humboldt als etwas Fremdes, Mechanisches, Geistloses, Äußerliches, rational und praktisch Bedingtes. Mit diesem Staate will er sich nicht einlassen, in diesen Staat soll und kann die Nation nicht eingehen. Er bedeutet ihm Despotismus. Und der allmächtige französische Staat der Revolution bedeutet, ihm auch Despotismus. Despotismus von unten her statt von oben. Allerdings, das kann man den Briefen jener Zeit entnehmen, dem demokratischrevolutionären Staat billigt er doch mehr Möglichkeiten zu als dem alten absolutistischen. Der ideelle Grund, der freilich von dem konkret-historischen nicht zu trennen ist, liegt darin, daß sich Humboldt für den Menschen interessiert, für das Individuum, besser für die allseitig gebildete Persönlichkeit, nicht eigentlich für den Staat. So ist es denn nicht überraschend, daß in der nächsten Schrift, den schon erwähnten „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" 1792 die Kluft zwischen Persönlichkeit und Staat, zwischen Nation und Staat nur noch tiefer und weiter wird. Die Tendenz dieser Untersuchung gibt schon der Titel deutlich genug an: es handelt sich darum, dem Staate Grenzen zu setzen, und zwar möglichst enge Grenzen. Er soll auf seine eigentliche und einzig legitime Funktion beschränkt werden: innere und äußere Sicherheit — sonst nichts. Alles andere, was er tut, alle Versuche positiver Förderung der Unter108
tanen sind störend, Usurpation. Nachtwächterstaat also. Wenn man aber genauer hinsieht, handelt die Schrift eigentlich viel weniger vom Staate als vom Menschen, genauer vom Humboldtschen humanistischen Bildungsideal. Ausgangspunkt ist die Grundmaxime, „der letzte Zweck jedes Menschen ist die höchste und proportionierlichste Ausbildung seiner Kräfte in ihrer Eigentümlichkeit". Nach diesem Maßstab — einem ausgesprochenen Bildungsideal, nicht einem politischen Prinzip — wird der Staat beurteilt und eingerichtet. Es kommt noch die weitere, echt Humboldtsche Forderung hinzu: „Was im Menschen gedeihen soll, muß aus seinem Inneren entspringen, nicht ihm von außen gegeben werden." Steht man einmal auf diesem Standpunkt, dann ist es nur folgerichtig, die Wirksamkeit des Staates, sogar das im Ergebnis wohltätige „Geben von außen" durch den Staat abzulehnen bzw. zurückzudrängen auf das Allerunumgänglichste. Je schwächer der Staat, je weniger er tut und sich einmischt, je weniger man von ihm spürt, desto besser; denn desto besser, desto freier können sich die Kräfte der Persönlichkeit ungehemmt, beglückend entfalten ohne äußeren Zwang, nur aus dem eigenen Inneren ersprießend. Humboldt weiß sehr wohl aus seiner preußischen Heimat, daß ein energisch eingreifender Staat mit Disziplin und Gehorsam zu Macht und Größe gelangen kann, er weiß, daß nicht nur der Herrscher, sondern auch der Untertan aus seiner Zugehörigkeit zu einem solchen machtvollen Ganzen Freude und Stolz schöpfen kann. Allein sein Wunsch ist das nicht. Es kommt ihm nicht auf Resultate an, sondern nur auf die bewegende Kraft aus dem eigenen Inneren. „Ohne sie", sagt er, „wird der Mensch Maschine. Man bewundert, was er tut, man verachtet, was er ist." Es wäre nun freilich sehr verkehrt, wenn man meinen wollte, mit dieser extremen Einschränkung, ja geradezu schon Verneinung des Staates zugunsten der tüchtigen und kraftvoll entwickelten Persönlichkeit sei für ihn die Sache erledigt. Zunächst muß man sich erinnern, daß der Staat, den er solchermaßen zurückweist, im Grunde eben doch nur der besondere, ich-fremde, mechanische, äußerliche Staat des aufgeklärten Absolutismus ist, der Staat, der damals tatsächlich schon überholt war, nicht aber der Staat 109
überhaupt. Humboldt erwähnt zwar allerdings auch den demokratischen Staat mit dem Repräsentativsystem und lehnt ihn ab, ohne aber sich genauer mit ihm auseinanderzusetzen. Ferner weiß er, wie bei den Griechen der Staat, die Teilnahme am staatlichen Leben, die Persönlichkeit gebildet und gehoben hat, nicht gehindert. Und schließlich sieht er auch in seiner Zeit und in seinem so wenig geliebten Staate doch eine Möglichkeit, wo der Staat für die volle Entfaltung der Persönlichkeit nicht störend, sondern fördernd sein kann; nämlich durch den Krieg. „Außer der Freiheit", meint er, „erfordert die Entwickelung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes: Mannigfaltigkeit der Situationen." Wie wenig Humboldts Staatsfeindlichkeit mit egoistischem, banausischem Genießertum und faulem Seine-Ruhe-habenwollen zu tun hat, beweist schon der eine Satz: „Mir ist der Krieg eine der heilsamsten Erscheinungen zur Bildung des Menschengeschlechts." Da gibts nun „Mannigfaltigkeit der Situationen", „wo die Krieger das Höchste im Auge, das Höchste aufs Spiel setzen. Alle Situationen, in welchen sich die Extreme gleichsam aneinanderknüpfen, sind die interessantesten und bildendsten, wo aber ist dies mehr der Fall als im Kriege, wo Neigung und Pflicht, und Pflicht des Menschen und des Bürgers in unaufhörlichem Streite zu sein scheinen — und wo dennoch, sobald nur die gerechte Verteidigung die Waffen in die Hand gab, alle diese Kollissionen die vollste Auflösung finden." Nun, ich glaube: Ein Mensch, der in einer Zeit, da die sittliche Verbindung zwischen Volk und absoluter Regierung tatsächlich abgerissen war, noch so denkt, daß er den Tod fürs Vaterland verherrlicht, ein Mensch, dessen Staatsfeindlichkeit im Grunde eine Verteidigung der frischen und gesunden Kräfte der mündig gewordenen Persönlichkeit gegen die schulmeisterliche Bevormundung durch eine vergreiste, volksfremde Bürokratie ist, der kann und der muß den Weg zum Nationalstaat finden, sobald er nur frei ist, sobald sich der Staat dem Volke öffnet. Humboldt hat auch diesen Weg gesucht, noch ehe er durch die Reformen freigemacht war und er hat noch in denselben „Grenzen der Wirksamkeit" von 1792 einen A u s w e g gefunden, den man paradox als 110
den Versuch eines Nationalstaates ohne Staat bezeichnen könnte. Humboldt ist nämlich auch insofern kein rechter Rationalist, als er an die Selbstgenügsamkeit des isolierten Individuums nicht glaubt. Im Gegenteil, er ist sich der unerläßlichen Verbindung des Einzelnen mit der Gemeinschaft von vorneherein sehr bewußt. In einem erläuternden Brief an Forster führt er aus: „Der Bürger ist am besten daran, wo er durch möglichst viele Bande mit seinen Mitbürgern vereint ist, aber durch möglichst wenige an die Regierung gekettet. Denn das Individuum kann sich in der Isolierung ebensowenig entwickeln wie eines, dessen Freiheit gefesselt ist." Also Humboldt, schon der Humboldt der „Grenzen" will die Gemeinschaft, will „das freie Wirken der Nation untereinander", aber nicht die staatliche Gemeinschaft — wir wissen warum. Und da unterscheidet, ja trennt er zwischen „Staatsverfassung" und „Nationalverein". Unter Staatsverfassung versteht er den Obrigkeitsstaat mit Macht, Gewalt, Gewohnheit und Gesetz, die unerläßliche Ordnung schaffend. Daneben aber gibt es noch den Nationalverein, ein „freiwillig von den Bürgern gewähltes, unendlich mannigfaltiges und oft wechselndes Verhältnis. Und dies letztere, das freie Wirken der Nation untereinander ist es eigentlich, welches alle Güter bewahrt, deren Sehnsucht die Menschen in eine Gesellschaft führt." D a also, neben der bloßen Sicherheitseinrichtung des alten Staates lebt die Nation, da, in dieser Sphäre vollzieht sich die freie, spontane, befruchtende und bildende Wechselwirkung des Einzelnen und der Gemeinschaft: „Das meiste", heißt es, „bleibt immer den freiwilligen einstimmigen Bemühungen der Bürger zu tun übrig." Er meint damit Vereine für Bildungszwecke, Wohlfahrtseinrichtungen, Handelsgesellschaften usw. All das soll die Nation spontan schaffen. Gewiß ist diese „Nation", der „Geist und Charakter der Nation", der sich da auswirkt, keine — um mit Meinecke zu sprechen — „keine den Einzelnen leitende oder erfüllende Lebens m a c h t , sondern Lebens g ei st vielmehr, der sich ungesucht entwickelt aus dem zusammenströmenden Hauche der vielen Einzelseelen". Gewiß ist das keine politische, keine Staatsnation in unserem heutigen Sinne — aber es ist doch schon die Nation als überindividuelle Persönlichkeit mit aller Klarheit Iii
erkannt. Hören wir weiter einige an Burke gemahnende Sätze aus dem Jahre 1795. „Der Mensch ist allein genommen schwach und vermag durch seine eigene kurzdauernde Kraft nur wenig. Er bedarf einer Höhe, auf die er sich stellen, einer Masse, die für ihn gelten, einer Reihe, an die er sich anschließen kann. Diesen Vorteil aber erlangt er unfehlbar, je mehr er den Geist seiner Nation, seines Geschlechts, seines Zeitalters auf sich fortpflanzt." Diese nationale Kollektivpersönlichkeit ist nicht nur als geistige Kraft nur kulturell wirksam, sondern im Nationalverein neben dem Staate schon in allerhand Verbindungen und in Vereinen auf vielerlei Gebieten praktisch tätig. Und man kann jetzt schon fragen, ob denn nicht einmal der Fall eintreten könnte, da jenes spontane Zusammenwirken der freien Persönlichkeiten der Nation den Staat selber erfassen, erobern wird, einen neuen, einen lebendigen, einen wahren Nationalstaat aus ihm machen wird, so daß Staatsverfassung und Nationalverein zusammenschmelzen. — Aber gerade das ist es doch, was nach 1806 und was in den Freiheitskriegen den gefallenen preußischen Staat erhoben hat. Jener Satz „Das Meiste bleibt immer den freiwilligen einstimmigen Bemühungen der Bürger zu tun", 1792 in staatsfeindlichem Sinne geschrieben, er hat 1813 durch den Umschwung der Ereignisse einen ganz anderen, einen staatsbejahenden, einen tief nationalen Sinn angenommen, einen Sinn, den Humboldt früher nicht ahnen konnte, nicht wagen durfte zu hoffen. Wir wollten vom Ausgangsstadium sprechen und dann erst vom Endstadium, und nun sehen wir, daß das Ende schon im Anfang enthalten ist, wenigstens potentiell enthalten. Der späte, nationale Humboldt ist im frühen, liberalen Humboldt schon ganz deutlich sichtbar. Die Nation als historische Kollektivindividualität, als Verkörperung einer Idee, hat er schon klar erkannt und bejaht — daß ihm aber diese Nation 1792 nicht in den Staat eingehen konnte, sondern in den Nationalverein, in die Gesellschaft abgedrängt blieb, das lag viel weniger an ihm als vor allem am Staate jener Zeit. Man kann immer wieder hören, Humboldt habe eine Wendung vollzogen, ja eine Bekehrung durchgemacht vom Universalen zum Nationalen, von Staatsverneinung zur 112
Staatsbejahung. Gewiß hat sich Humboldt gewandelt, entwickelt, wie sollte er auch nicht, und sein Weg vom Unpolitischen zum Politischen ist augenfällig genug. Aber diese oft betonte Beobachtung geht unserer Meinung nach am Wesentlichen vorbei. Denn die entscheidende, grundsätzliche Wendung, die wahre Bekehrung hat nicht so sehr Humboldt durchgemacht als der preußische Staat. Das Preußen, dem 1791 der junge Referendar gleichgültig den Rücken kehrt, ist ein grundsätzlich anderer Staat als das Preußen der Reform, das der Kultusminister aufrichten hilft. Jenes war ein erstarrter, volksfremder Staat, dieses ist ein Staat, der sich dem Volke, dem Geiste deutscher Bildung geöffnet hat. Daher aber erklärt sich die veränderte Stellung Humboldts in allererster Linie. Er selber aber ist seinem frühen Ideale viel genauer treu geblieben, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Man sieht immer einen ironischen Widerspruch darin, daß derselbe Mann, der früher jede staatliche Erziehung abgelehnt hatte, gerade Kultusminister wird. In Wirklichkeit handelt es sich nur um einen äußerlichen Widerspruch der Mittel, das Ziel, das Bildungsideal aber der staatsfreien wie der staatlichen Schule ist dasselbe geblieben. Humboldt hat eben gerade verhindert, daß die neue deutsche Universität eine staatliche Dressuranstalt wurde. Seine Universität soll lediglich Kräfte wecken, nicht Resultate schaffen, sie will nur Gelegenheit geben zu freier, selbsttätiger Bildung des Menschen. Daß aber die harmonisch gebildete Persönlichkeit von selber ein Gewinn ist für den Staat, dazu hatte er einfach das Vertrauen, das bewies ihm sein eigenes Wirken, das bewiesen ihm ein Fichte, die Studenten von 1813 und eine lange Reihe hervorragender Beamter des neuen Preußen. Erzwingen aber wollte er es nicht. Ganz analog steht es mit seinem großen Entwurf zu einer preußischen Ständeverfassung: sie soll lediglich freie Selbsttätigkeit, freie Entwicklung, Bildung der Persönlichkeit durch Mitarbeit an öffentlichen Aufgaben ermöglichen, gewissermaßen „die Mannigfaltigkeit der Situationen" bieten. Darin freilich hat sich Humboldt gewandelt: während er früher den alten Staat nur als ein Hindernis seines Bildungsideals betrachtet hatte, erkennt er jetzt für sich und andere, daß erst und gerade durch V o s s 1 e r, Nationalgedanke 8
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die freie Mitarbeit am neuen staatlichen, politischen Leben die Persönlichkeit ihre vollendete harmonische Ausbildung zu erreichen vermag. Dazu, deshalb bejaht, verlangt er den Staat. Dieser Gedanke findet in dem schönen, oft zitierten Satze von Ende 1813 Ausdruck: „Deutschland muß frei und stark sein, nicht bloß, damit es sich gegen diesen oder jenen Nachbarn verteidigen könne, sondern deswegen, weil nur eine auch nach außen hin starke Nation den Geist in sich bewahrt, aus dem auch alle Segnungen im Innern strömen. Es muß frei und stark sein, um das, auch wenn es nie einer Prüfung ausgesetzt würde, notwendige Selbstgefühl zu nähren, seiner Nationalentwicklung ruhig und ungestört nachzugehen." Er bejaht jetzt den Staat, den Nationalstaat, er bejaht sogar die Macht — aber nicht um der Macht und der Resultate willen, sondern um des Geists, des Selbstgefühls, der Nationalentwicklung, kurz um der vollendeten, nun auch um das Politische erweiterten Bildung willen. Blicken wir mit Humboldt selbst zurück auf den Weg, den er und seine Zeit gegangen sind, von einem Jahrhundert ins andere: „Ich weiß nicht", so schreibt er seiner Frau, als er 1818 die Briefe wiederliest, die er mit Schiller gewechselt hatte, „ich weiß nicht, ob es jetzt noch Leute geben mag, die so offen über sich selbst reden und so tief in ihre Individualität eingreifen. Ich möchte es bezweifeln. Man hat auch jetzt gar nicht mehr die Zeit, sich so mit sich zu beschäftigen. Es ist mir sehr merkwürdig aufgefallen. In einer Reihe von Briefen, die durch mehr als ein Jahr geht, ist auch nicht ein Wort über öffentliche Begebenheiten. Schreibt man jetzt, auch nicht bloß ich in meiner Lage, wohl einen einzigen Brief ohne dies ? Ich will nicht behaupten, ob es besser ist, jetzt oder damals. Damals sah man alles, was dahin einschlug, als Geschäfte an, die vom wissenschaftlichen Leben getrennt waren und es nur gestört haben würden. Jetzt glaubt man, daß der Mensch nicht seine wahre Vollendung, seinen eigentlichen Wert haben kann, wenn er nicht, in welcher Lage er sei, lebhaften Anteil an allem nimmt, was im Staate vorgeht. Wissenschaft und Literatur, auch der denkende Geist in der Nation gewannen bei jenem, darüber ist keine Frage. Allein allerdings mag die Zeit etwas anderes fordern, und der Charakter der Nation jetzt gewonnen 114
haben, und für die Wissenschaft die Frucht nachkommen. Jedenfalls kann man den Strom jetzt nicht aufhalten. Er ist einmal dahin gerichtet, und man muß also nur die gehörigen Mittel finden, ihn auch so würdig, und ohne daß jenes zu sehr leidet, zu leiten. Jetzt unterdrücken, über die verlorene alte schöne Zeit, so sehr ich sie dafür erkenne, jammern zu wollen, hieße das jetzige Streben ersticken und das vorige nicht zurückbringen. Das Vergangene ist vergangen, und niemand zaubert es zurück."
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ITALIEN UND DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION
Einmal wenigstens soll ein Abschnitt aus der Geschichte eines Volkes die Reihe der nationalen Denker unterbrechen — nicht nur als Zwischenspiel, sondern als mahnende Erinnerung und Korrektur. Denn allzuleicht möchte sonst der Eindruck entstehen, als sei der Nationalgedanke wirklich nichts als Gedanke, als sei er fern „bloß irdischer Wirklichkeit" in den „höheren Sphären des reinen Geistes" nur durch konsequente Überlegung entstanden. Zwar haben wir schon gehört, daß eine solche Trennung von Geist und Wirklichkeit gerade durch den Nationalismus geleugnet und überwunden worden ist, wir haben auch gehört, daß dieser Gedanke Wille ist und Tat, oder sonst überhaupt nicht existiert. Trotzdem aber ist es gewiß nicht überflüssig, daß man einmal auch sehe, wie gewissermaßen von der anderen Seite her, vom politischen Erlebnis her der Wille und Gedanke der Nation erwacht, daß man sehe, wie ein ganzes Volk in der Dialektik der Ereignisse die selbe Entwicklung durchlebt, die der einzelne Denker durchdacht hat. — Als Beispiel soll ein verhältnismäßig einfach gelagerter Fall dienen, der zudem bei uns weniger bekannt ist als die eigene Befreiung, das Italien von der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. Es wird sich zeigen, daß die südliche Nation unter dem Eindrucke ihrer bewegten Schicksale in der revolutionären und napoleonischen Epoche den nämlichen entscheidenden Wandel durchmacht, den zuletzt Humboldt auf seine Weise vollzogen hatte: den Wandel vom Unpolitischen zum Politischen, die Verschmelzung des früher getrennten privaten und des öffentlichen, des kulturellen und des staatlichen Lebens in der neuerwachten Einheit des nationalen Willens. Als 1789 aus Frankreich der Aufruf zur Freiheit erging und die Völker aufhorchen machte, kam aus Italien nur ein 1x6
auffallend schwaches Echo, viel schwächer als etwa aus Deutschland, aus England oder Amerika. Die wenigen Stimmen des Beifalls verhallten in der überwiegenden Abneigung oder besser gesagt, in der allgemeinen Gleichgültigkeit und bis zum Einmarsch der Franzosen im Jahre 1796 fand die Freiheitslehre nur ganz wenige und vereinzelte Anhänger in der Halbinsel. Die übliche Erklärung dafür weist auf die jahrhundertealte Fremdherrschaft und Knechtung Italiens und meint, daß die Nation so zurückgeblieben und bereits so tief unter einem übermächtigen Despotismus gesunken ist, daß sie aus ihrer hoffnungslosen Apathie nicht mehr aufgerüttelt werden kann. Etwas Richtiges steckt in dieser Erklärung, aber mindestens ebenso viel Richtiges steckt in der entgegengesetzten These: Nicht weil sie zurückgeblieben und unfrei sind, sondern weil sie vielfach freier und fortgeschrittener sind als die Franzosen, deshalb bleiben die Italiener beim revolutionären Aufruf so gleichgültig. Nun herrscht zwar in Italien, abgesehen von den oligarchisch regierten Republiken, Genua, Lucca und Venedig absolute Monarchie. Aber während die französischen Könige versäumt haben, in ihrem Lande die Reformen der Aufklärung durchzuführen, haben verschiedene italienische Staaten aufgeklärte Herrscher und Minister gehabt. Geradezu ein Musterland des aufgeklärten Fürstentums ist die Toskana unter Peter Leopold, dem Bruder und später Nachfolger von Kaiser Joseph II., und ähnlich fortschrittliche und mustergültige Einrichtungen haben Maria Theresia und Joseph II. in der Lombardei geschaffen. Auch Parma und Modena sind im Geist der Aufklärung und gut verwaltet. Wesentlich ungünstiger liegen die Dinge im Königreich Neapel und Sizilien, das unter der spanischen Herrschaft arg heruntergekommen und zurückgeblieben ist. Zwar fehlen auch dort nicht Reformversuche gegen Kirchenherrschaft und gegen den Feudalismus, der im Süden weit stärker ist als im Zentrum und Norden, aber sie sind unsystematisch und ungenügend geblieben. Die Regierungen der übrigen Staaten, des Kirchenstaates, des Königreichs Sardinien-Piemont und der drei Republiken sind nur wenig oder auch gar nicht vom Reformeifer des Jahrhunderts er-
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griffen. Aber selbst in diesen Staaten sind die Überreste des mittelalterlichen Feudalsystems geringer und weniger drückend als in Frankreich. Man darf nicht vergessen, daß der neuzeitliche Staat, wie schon der Name Staat, „stato", verrät, eine italienische Schöpfung ist, und schon die Stadtrepubliken und die Tyrannen, die ja manche Züge von aufgeklärten Despoten tragen, haben die Herrschaft des Feudalismus im wesentlichen gebrochen. Das ist schon im späten Mittelalter geschehen. In anderer Hinsicht freilich sind die italienischen Staaten auffallend zurückgeblieben. Das französische Königtum hat die Verwaltung stark zentralisiert und sich ein großes Beamtentum und ein großes stehendes Heer geschaffen. In Italien sind diese Machtmittel, die den neueren Staat kennzeichnen, außerordentlich schwach entwickelt. Abgesehen von dem halbfranzösischen Piemont, das durch seine alte dynastische Tradition, seinen militärischen und „bürokratischen" Charakter eine Ausnahme bildet, hat nur Neapel ein Heer, das aber traditionslos und herzlich schlecht ist. Im übrigen ist so gut wie ganz abgerüstet und auch das Beamtentum ist unglaublich gering an Zahl. In dieser mangelhaften Entwicklung des Staatsapparates und der Staatsgewalt liegt der Hauptgrund der Schwäche der italienischen Staaten, nicht in der angeblichen, in Wirklichkeit gar nicht bestehenden Abneigung gegen die Fremdherrschaft, die ja nur in der Lombardei eine wirkliche Fremdherrschaft ist, die aber auch dort nicht als solche und als Unrecht empfunden oder gar bekämpft wird. Nein, es gibt eben in Italien keine staatsdienende und staatserhaltende, politisch denkende und disziplinierte Klasse, die die Verbindung zwischen Volk und Regierung herstellen könnte. Dem Italiener ist die Staatskarriere versperrt. Natürlich steht die Nation dem notgedrungen matten und schwachen staatlichen Leben mit einer profunden Gleichgültigkeit gegenüber und auch die Reformtätigkeit der Aufklärungszeit hat die traditionelle Apathie gegenüber der Politik nicht zu überwinden vermocht. Aber man läßt sich die hergebrachten Regierungen anderseits wieder ganz gern gefallen, denn mit ihren paar Beamten kosten sie sehr wenig, sie verlangen von der Masse 118
des Volkes gar keine, von den Begüterten nur sehr geringe Steuern, sie tun nichts positiv Böses und lassen die Untertanen hübsch in Ruh. Vor allem aber haben sie die alten, meist aus der Renaissance2eit stammenden Freiheiten und Privilegien der Städte respektiert, unter deren Schutz die Bürgerschaft eine oft sehr weitgehende Freiheit und Selbständigkeit gegenüber der Zentralmacht genießt. Da ist zum Beispiel Bologna, das zwar zum Kirchenstaat gehört, aber nahezu unabhängig ist, keine direkten Steuern nach Rom zahlt und so ziemlich sämtliche Regierungsgeschäfte bis zum Münzwesen durch die alte städtische Selbstverwaltung erledigt, abgesehen von der Außenpolitik, in der sowieso nichts allzu Wichtiges geschieht. Der Papst begnügt sich damit, in seine Legation einen Legaten zu schicken, der mindestens drei Jahre, meistens länger im Amte bleibt. Dieser lebt sich sehr gemütlich ein, steht mit der Bevölkerung zumeist in einem charmanten Verhältnis und manchmal vergeht seine ganze mehrjährige Amtszeit, ohne daß er auch nur eine einzige Depesche aus Rom geöffnet hätte. Ähnlich locker ist die Herrschaft Venedigs über die Terra Ferma und ähnliche, wenn auch nicht ganz so weitgehende Selbständigkeiten genießen die anderen Städte. Jede von ihnen bildet mit dem umliegenden Landgebiet einen kleinen Staat, gewissermaßen eine kleine Welt für sich. In ihr, in der Stadt, hat sich die klassische italienische Staatsform, eben die Stadtrepublik, nur wenig verändert und geschmälert erhalten, sie ist die lebendige politische Zelle, und so schwach die Zentralgewalt ist, so lebendig die lokale. Was in der Theorie und auf der Landkarte aussieht wie zehn zentralisierte und absolutistische Staaten, das ist in Wirklichkeit eher ein ziemlich lockeres Nebeneinander von zahllosen, fast unabhängigen kleinen Stadtrepubliken. Der Süden und die beiden Inseln, Sizilien und Sardinien, bilden freilich eine Ausnahme. Nun kommen die Freiheiten und Privilegien der Städte in allererster Linie dem Adel zugute, der das Stadtregiment in der Hand hat. Aber die Stellung des Adels und überhaupt die soziale Struktur ist wiederum sehr verschieden und wiederum sehr viel spannungsloser als in Frankreich. Der 119
fran2ösische Adel hat seine alten Vorrechte, darunter solche drückender und aufreizender Natur beibehalten, seine Pflichten aber hat der zentralisierte mächtige Staat übernommen. Beim italienischen Adel ist es fast umgekehrt: er hat keine drückenden, vor allem keine unmittelbar drückenden Privilegien, keine eigene Gerichtsbarkeit, keine Ansprüche auf Leibeigenschaft oder Frondienste und auch keine oder nur eine unwesentliche Steuerfreiheit, dagegen Fideikommis, Primogenitur und die bevorzugte Behandlung vor Gericht. Sein Hauptprivileg aber schließt eine Pflicht in sich, eben die ehrenamtliche Handhabung des Stadtregiments und die Besetzung der öffentlichen Ämter in der Stadt. Dadurch rechtfertigt er seine privilegierte Stellung, die ihm auch nach Bildung und Besitz zukommt. Mit der Landbevölkerung, den Pachtbauern, lebt der adlige Grundherr in dauerndem Kontakt — kann er doch leicht von der nahen Stadt auf die Güter hinausfahren — und er steht in einem guten und patriarchalischen Verhältnis mit den Untergebenen. Das liegt wohl großenteils an dem eigenartigen, noch heute üblichen Pachtsystem, der Mezzadria, bei dem sich der Pächter nicht schlecht steht und zu mehr als 50% mit dem Besitzer Teilhaber am Unternehmen ist. Schließlich wirkt auch Charakter und Sitte des Volkes sozial ausgleichend; der italienische Adlige ist gar nicht eingebildet und hochnäsig und er versteht es, ohne sich oder seinem Stande etwas zu vergeben, mit den anderen Klassen in einem taktvollen, menschlichen und natürlichen Tone zu verkehren, was diese mit treuer Anhänglichkeit zurückzahlen. Es ist denn auch den revolutionären Franzosen in Italien nicht gelungen, die Bauern gegen die Herren, die „Hütten" gegen die „Paläste" auszuspielen. Neben der Aristokratie steht ebenso begütert und ebenso einflußreich die zweite privilegierte Klasse, die Geistlichkeit. Vom Kirchenstaat abgesehen, wo ihre Privilegien eher die allgemeine Rechtsregel als die Rechtsausnahme sind, hat auch sie, besonders im Norden, keine übermäßigen und drückenden Vorrechte. Die kirchliche Gerichtsbarkeit ist im allgemeinen gewissenhaft ausgeübt, die tote Hand wird nicht als ungerecht empfunden, um so weniger als die reichen Kirchengüter die bestgehaltenen des Landes 120
sind und dem Klerus erlauben, den Zehnten entweder ganz abzuschaffen, oder doch auf ein Minimum zu reduzieren. Ihre Pflichten übt die Geistlichkeit mit geringen Ausnahmen, die leicht verziehen werden, zur Zufriedenheit des strenggläubigen Volkes aus, sie pflegt nicht nur die Seelsorge, sondern sie ist auch in den weltlichen großen und kleinen Sorgen ihrer Schutzbefohlenen Berater, Vertrauter, Helfer und nicht selten übernimmt der Geistliche auch das Amt des Vermittlers und Schiedsrichters in Rechtshändeln. Eine aufklärerische antiklerikale Stimmung ist kaum vorhanden. Zwischen den beiden privilegierten Klassen und den Pachtbauern bleibt endlich als Mittelschicht das Bürgertum. Dieses steht aber hinter dem französischen weit zurück an Zahl, Reichtum, Rührigkeit und Bildung, es ist nicht der mächtige, selbstbewußte und aufstrebende Stand, der bereit und gewillt ist, die Macht im Staate an sich zu reißen. Bürgerliche Familien, die es zu Reichtum gebracht haben, rücken ziemlich leicht in den Adel auf, und lediglich die noch recht kleine, gebildete und aufgeklärte Oberschicht des Bürgertums könnte sich zurückgesetzt fühlen; aber selbst diese einzige Spannung im sozialen Aufbau ist noch kaum spürbar. Nach dem politischen und sozialen bleibt das geistige Leben der Nation kurz zu betrachten. Einzelne bedeutende Männer hat Italien immer gehabt und hat es auch im späteren 18. Jahrhundert: die Naturforscher Volta und Galvani, die Staats-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler Filangieri, Beccaria und Galiani, der Maler Appiani, der Bildhauer Canova und in der Dichtkunst Parini, Alfieri und Monti. An der Aufklärung hat Italien teilgenommen und kräftig mitgearbeitet. Aber alle diese Männer stehen vereinzelt und einsam da, ohne ein geistesverwandtes großes Publikum wie in Frankreich. Die literarische Produktion ist streng geschieden in die wissenschaftliche Literatur einerseits, die nur von wenigen Fachgenossen gelesen wird, und andererseits in die schöne Literatur, die mit wenigen Ausnahmen eine gedankenlose und kraftlose Formkunst nach klassischen Mustern, zumeist kleine, aber äußerst zahlreiche Gelegenheitsdichtungen produziert. Aber eine Literatur wie die Frankreichs, die sich durch einen Voltaire
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oder Rousseau oder durch die Enzyklopädisten in gemeinverständlicher Form an ein großes Publikum wendet, um aufzuklären, aufzurütteln, um zu streiten und zu kämpfen, die gibt es in Italien nicht. Man erkennt in dieser Verschiedenheit einer kämpferischen und tendenziösen dort, und hier einer ruhig gelehrten oder tändelnden Literatur, ohne Schwierigkeit die entsprechende Verschiedenheit des jeweiligen politischen und sozialen Zustandes wieder. Ebenso sind die weiteren Charakteristika der italienischen Geisteshaltung als Ausdruck der erwähnten, konkreten Zustände zu verstehen: Ein absoluter Mangel an Staatsgesinnung und politischem Interesse — mit Ausnahme von Piemont — dafür aber ein außerordentlich starker, geradezu lächerlicher städtischer Lokalpatriotismus, unter dem auch der alte nationale Gedanke bedenklich leidet. Der Italiener reist nicht, auch im eigenen Lande nicht, und so ist sein Horizont ein Kirchturmhorizont. Was draußen in der Welt vorgeht, interessiert ihn nicht, weiß er nicht und der kleinliche Gegensatz zur Nachbarstadt erscheint ihm bedeutender als der nationale Gegensatz zum Ausland. Freilich, in diesem engen Kreise der Vaterstadt läßt sich ein entzückendes Leben führen, leicht, mühelos, sorglos, friedlich und heiter verbringt, wer nur irgend kann, den Tag im Kaffee, mit Besuch, auf dem Corso, im Theater, im Circolo, bei Festen, mit Wein, Spiel, Liebe, Tanz, Dichtelei und nicht allzu viel Arbeit. Aber auch das kleine Volk, fleißig, neidlos und genügsam, „spensierato" wie die Großen nimmt bis herab zum Bettler mit ganzem Herzen teil an den zahllosen Volksfesten, die in einem tollen Karneval gipfeln. Jedermann ist zufrieden, nach fünfzig Jahren Frieden scheint alles wie von selbst seinen althergebrachten Gang in alle Zukunft weitergehen zu müssen, und kaum ein Mensch denkt daran, daß die Dinge auch anders sein könnten oder gar sein sollten, als sie sind. Die Nation genießt ein idyllisches, unbeschwertes, verführerisches Dasein, aber schließlich doch ohne eine große Idee, ohne einen großen Zug, ohne sittlichen Gehalt und Willen — kurz, sie stagniert. Man sieht, wie Italien einerseits fortgeschrittener, anderseits zurückgebliebener ist als Frankreich, wie aber beides, Fortgeschrittenes und Zurückgebliebenes zusammenwirkt, 122
einen spannungslosen Zustand zu schaffen, einen Boden, auf dem die fran2ösische Revolutionslehre nur schlecht gedeihen kann. Die Nation bleibt denn auch gegenüber den Ereignissen in dem Nachbarlande fast vollkommen gleichgültig — bis 1796 die französischen Heere unter dem jungen General Buonaparte die Revolution mit Gewalt ins Land tragen. Nachdem sie die Piemontesen und Österreicher besiegt haben, liegen die italienischen Staaten als leichte Beute vor ihnen und sie besetzen sie einen nach dem anderen, gleichviel, ob sie feindlich sind oder neutral, bis über Neapel hinaus. Diese schwachen Staaten sind ja geradezu geschaffen zum Erobertwerden, sie sind Objekt, nicht Subjekt im europäischen Ringen und finden vor den französischen Waffen ein ruhmloses Ende. Wie fern ihnen der Gedanke der Selbstverteidigung liegt, zeigt der päpstliche Legat, der die Gelder, die ihm aus Rom geschickt worden sind, damit er gegen den heranrückenden Feind die Verteidigung vorbereite, nicht besser verwenden zu können glaubt, als indem er sie an die Klöster verteilt, die durch ihr Gebet die Gefahr abwenden sollen. Wo die Franzosen erscheinen, wird republikanisiert, die alte Obrigkeit wird gestürzt und es entsteht das bekannte revolutionäre Bild: Freiheitsbäume, Clubs, Zeitungen, eine lärmfende Rhetorik, neuer Kalender, man redet sich per Cittadino an, wer früher Giggi hieß oder Pippo, nennt sich jetzt Brutus oder Mucius Scaevola, kleidet sich nach der französischen Mode und schneidet sich den Zopf ab. Auch neue Regierungen entstehen mit Verfassungen nach dem neuesten Pariser Muster und neue Staaten mit schönen klassischen Namen, in denen schleunigst die französischen Reformen eingeführt werden: Abschaffung der Privilegien, Judenemanzipation, Presse- und Glaubensfreiheit und gelegentlich auch schüchterne Versuche zur Schaffung eines revolutionären Heeres. Aber all das geht nicht tief und macht verhältnismäßig wenig Eindruck; nur ganz wenige Italiener tun bei dieser Revolution mit und von ihnen sind wiederum eine winzige Minderheit, vor allem die Intellektuellen ernst und aufrichtig. Was Eindruck macht ist die schrankenlose, zynische Militär- und Gewaltherrschaft, die sich hinter der dürftigen republikanischen Fassade schlecht genug versteckt, ist das unglaublich viele
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Geld, das die Franzosen brauchen, die Inflationswirtschaft, der Verkauf der Kirchengüter. Die Befreier holen aus dem Lande, was nur herauszuholen ist, stehlen, plündern und rauben in der schamlosesten Weise, Offiziere und Kommissare, die als arme Schlucker über die Alpen gekommen sind, kehren als Millionäre heim und in kürzester Zeit ist das blühende Land völlig ausgesogen und ruiniert. Der schmerzlichste Verlust endlich und die tiefste Demütigung ist die Entführung der Kunstwerke. Die Sammlungen und Kirchen von Mailand, Parma, Bologna, Florenz, Rom, Neapel müssen ihre schönsten und teuersten Schätze an Paris ausliefern. Das ist eine sehr krasse Lehre, daß das kulturelle Leben einer Nation doch nicht so unabhängig und unberührt von seinem staatlichen Dasein und Schicksal bleibt, wie man früher sorglos wähnte. Nach drei Jahren machen die Siege der Österreicher und Russen der ganzen revolutionären Herrlichkeit ein Ende, und überall, sogar in der friedlichen Toskana, ist der Rückzug der französischen Heere von wilden Aufständen des mißhandelten, erbitterten, in seinen religiösen Gefühlen verletzten Volkes begleitet. Die italienischen Jakobiner und Patrioten verschwinden oder binden sich schleunigst einen falschen Zopf* an. Nur die wenigsten von ihnen kämpfen für ihren republikanischen Glauben oder fallen, wie in Neapel, als Opfer einer blutigen Reaktion. So scheitert der erste Versuch der Revolutionierung Italiens. Die Nation wünscht mit verschwindenden Ausnahmen nichts anderes als die Rückkehr zum alten Regime. Und doch hat schon die kurze erste Invasion eine höchst bedeutsame Wirkung. In das friedliche, spannungslose, unrevolutionäre Land bringen die Franzosen selber durch ihre Eroberung und Gewaltherrschaft die Spannung hinein, in der ihre Freiheitslehre zünden kann — freilich ganz anders als sie denken und wünschen. Sie, die Eroberer, schaffen den neuen Gegensatz zwischen der Willkür der fremden Sieger, die weit schlimmer drückt als alle alten Privilegien, und der Knechtung, Demütigung, Ausbeutung der entrechteten italienischen Besiegten. In dieser neuen Situation, in dieser neuen Spannung, bekommen die revolutionären Lehren, die die Eroberer mitgebracht haben und 124
laut verkünden, einen neuen Sinn, eine neue Anwendung. Die italienischen Patrioten fordern Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, aber nicht mehr für das entrechtete Individuum gegen das privilegierte Individuum wie in Frankreich, sondern für ihre unterdrückte Nation gegen die privilegierte Nation. Diese außerordentlich bedeutungsvolle Umdeutung geschieht wie von selbst und sehr schnell: schon 1797 stellt eine ganze Reihe von italienischen Patrioten mit den französischen Theorien die Forderung eines einigen und freien Italien auf, das gleichberechtigt neben Frankreich stehen soll. Praktische Bedeutung haben solche Pläne natürlich noch nicht, aber sie haben höchste Bedeutung als Symptom, sie bezeichnen mit ihrer Politisierung des nationalen Gedankens die ersten Anfänge des Risorgimento, und damals schon entsteht durch Verwendung und Veränderung der französischen Farben die grün-weiß-rote italienische nationale Trikolore. Schon 13 Monate nach Abschluß der ersten, wesentlich mißglückten Invasion folgt die zweite Periode der französischen Herrschaft, die von Marengo bis zum Sturze Napoleons ein halbes Menschenalter dauert. — Im Süden allerdings beginnt sie erst später. Nach allerhand dynastischen und territorialen Verschiebungen und Umgruppierungen ist die Halbinsel schließlich nur noch in drei Gebiete geteilt: die von Frankreich unmittelbar annektierten, Savoyen, Piemont, Genua, Parma, Lucca, Toskana und der südliche Kirchenstaat; zweitens Neapel unter Joseph und dann unter Murat; der Rest gehört zur Cisalpinen Republik, die bald den verheißungsvollen Namen Italienische Republik erhält und dann in das Königreich Italien umgewandelt wird. Mailand ist hier die Hauptstadt. Wichtiger als die territoriale Zusammenfassung ist die durchgreifende innere Neuordnung des Landes. Sehr verschieden von der ersten, mißglückten, durch das Direktorium ist sie diesmal ganz vom Geist und Willen Napoleons diktiert, der aus Italien ein Abbild des konsularischen und kaiserlichen Frankreich macht. Charakteristisch für den neuen Kurs ist die Verfassung der neuen italienischen Republik mit 300 Vertretern des Großgrundbesitzes, 200 des Klerus, xoo des Handels und der Industrie und 100 der Wissen-
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schaft und Künste. Die neue Herrschaft sucht sich also nicht, wie das Direktorium auf die hergelaufenen, turbulenten oder doktrinären Jakobiner zu stützen, sondern auf die altbewährte, einflußreiche Führerklasse des Adels und der Kirche, sie zieht aber gleichzeitig die neue Klasse des oberen Bürgertums zur Mitarbeit heran. Weiterhin wird ein neuer Verwaltungsapparat aufgebaut, ganz nach französischem Muster mit Präfekten, Unterpräfekten, Bürgermeistern, kurz einem zahlreichen und disziplinierten Beamtentum, das den Willen der Zentralregierung pünktlich und genau bis ins letzte Bergdorf auszuführen hat. Ferner wird in dem Lande, dessen militärische Untauglichkeit geradezu sprichwörtlich ist, die Dienstpflicht eingeführt. Es ist der schwierigste Teil des Aufbauwerkes, und doch gelingt Napoleon, was niemand für möglich gehalten hat und was einen ungeheuren Eindruck macht: er bringt in Italien ein Heer von dreimal hunderttausend Mann auf die Beine, das sich unter seinen Fahnen von Spanien bis Rußland ehrenvoll schlägt. Schließlich wird auch das ganze Rechtswesen reformiert und uniformiert, indem an Stelle der zahllosen und verworrenen partikularen Rechte der Code Napoléon in Kraft gesetzt wird, der einen wesentlichen Teil der revolutionären Neuerungen einführt. Der neugeschaffene Staat macht sich sofort mit einer erstaunlichen Energie an die Arbeit. Er regelt in seinem Sinne die Stellung der Kirche, hebt eine Menge Klöster, Pfarreien, Bistümer auf, stellt durch eine einheitliche Polizeitruppe die öffentliche Sicherheit wieder her, führt das Dezimalsystem ein, arbeitet einen Kataster aus, legt ein großzügiges Straßensystem an, es entstehen Kanäle, Brücken, Wasserleitungen, öffentliche Gärten, Waisenhäuser, Spitäler, Schulen, Forschungsinstitute, Akademien, Bibliotheken, archäologische Ausgrabungen. Auch die Bodenkultur wird bereichert und verbessert und Handel und Industrie auf vielfache Weise, nicht zuletzt durch die Kontinentalsperre, mächtig gefördert. Kurz, es wird unter französischer, napoleonischer Führung, aber unter aktiver Mitarbeit der Italiener eine ganz ungeheure Arbeit geleistet, es wird entschlossen versucht, das Versäumnis von Jahrhunderten in wenigen Jahren aufzuholen und die Nation bekommt einen 126
zentralisierten, kräftigen, tüchtigen, aufgeklärten, ganz modernen Staat, der so ziemlich in allen Punkten das gerade Gegenteil dessen ist, den sie früher gehabt hatte. Trotz mancher Fehlgriffe und Härten bekommt er ihr sehr gut. Sie gewöhnt sich besonders im Adel und Bürgertum ziemlich schnell an das neue System, sie erlebt einen raschen und frischen, wirtschaftlichen, politischen und vor allem moralischen Aufstieg. Das Interessante ist nun, daß dieses napoleonische Regime, das in Frankreich etwa dasselbe ist wie in Italien, hier eine andere und zwar umgekehrte Funktion erfüllt als dort. In Frankreich ist das Kaisertum wesentlich Vollendung und Vollstreckung der Revolution, in Italien bringt erst Napoleon die Revolution und er erst setzt sie durch. In Frankreich macht das aufstrebende Bürgertum den Umsturz, in Italien entsteht erst durch den Umsturz ein aufstrebendes, aufgeklärtes und selbstbewußtes Bürgertum. Bei den Franzosen geht das gespannte politische Interesse, der unbefriedigte Staats- und Machtwille der Revolution voraus, bei den Italienern wird erst durch die napoleonische Revolution von oben und außen das innerliche, politische Interesse, der Staats- und Machtwille geweckt. In den Köpfen der Franzosen ist die Revolution schon fertig, ehe sie sich in die Wirklichkeit umsetzt, in Italien werden zuerst die revolutionären Einrichtungen geschaffen und dann erst setzt sich auch in den Köpfen der revolutionäre Geist dieser Einrichtungen durch, dann erst entsteht in dem neugeschaffenen Beamtentum und Heer und weiterhin im erstarkten Bürgertum und in einem großen Teil des Adels eine politisch denkende Schicht mit einem aufgeklärten und freiheitlichen politischen Willen. Aber, je weiter und tiefer auf der einen Seite der neue fortschrittlich-freiheitliche und politische Geist der napoleonischen Herrschaft eindringt, und je freiheitsfeindlicher auf der anderen Seite diese Herrschaft auf die Dauer wird und werden muß, desto allgemeiner, desto deutlicher und kräftiger wird jene Umdeutung der individuellen Freiheit und Gleichheit in die nationale Freiheit und Gleichheit gegenüber den Eroberern. Damit wird der italienische Nationalgedanke nicht etwa erst begründet. Im Gegenteil, 12 7
schon die italienischen Humanisten haben die geographische, sprachliche, kulturelle und über die römische Antike auch historische Einheit ihrer Halbinsel erkannt und sogar als die ersten in Europa die Nationalität gefeiert. Wir erinnern nur an die bekannte Ode Petrarcas „Italia mia benché il parlar sia indarno . . in der schon diese Momente anklingen. Aber dieser humanistische Nationalgedanke ist aus den bekannten historischen Gründen wesentlich kulturell, wesentlich literarisch und theoretisch oder gar bloß rhetorisch geblieben und solange die Italiener — was sehr verständlich ist — Staat und Politik als eine sittlich indifferente Sache betrachten, als eine Angelegenheit, die nur die Regierung angeht, für das Volk, die Nation und ihre Kultur aber gleichgültig ist, solange empfinden sie gar nicht das Bedürfnis — können sie es gar nicht empfinden —- ihre nationale Idee auch politisch zu gestalten und auszudrücken. Die französische Invasion zeigt ihnen nun zuerst durch schmerzliche Erfahrungen und dann durch positiven Nutzen, daß der Staat alle angeht, und sie bringt zugleich eine Ideologie, welche politische Indifferenz aufs schärfste bekämpft. Denn was die Italiener vom revolutionären Geist übernehmen, sind nicht bloße Theorien, nicht einzelne Gedanken oder Konstruktionen und verfassungstechnische Neuerungen, sondern allgemein das politische Interesse, die politische Leidenschaftlichkeit der Revolution, d i e teilt sich ihnen mit, das Gefühl der Verantwortung und Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Allgemeinheit, der Wille durch den Staat Recht zu schaffen, den Staat, das öffentliche Leben nach dem Gebot der Gerechtigkeit für alle einzurichten, die Allgemeinheit vorwärts zu bringen und zu fördern. Und gleichzeitig gibt Napoleon, der halbe Landsmann, den Italienern Gelegenheit, diesen neuen, diesen ethischen Staatsgedanken zu betätigen und zu zeigen, daß sie nicht nur in Kunst und Literatur, sondern auch in der praktischen Politik und im Felde etwas leisten. Was die Italiener leidend und handelnd von den revolutionären Franzosen lernen, oft gegen deren Willen und Absicht, ist also nicht nur die theoretische Erkenntnis, als vielmehr die unmittelbare Erfahrung, das Erlebnis, daß der Einzelne und der Staat nicht mehr getrennt sein können, nicht 128
getrennt sein dürfen und sollen, sondern zusammengehören. Zum ersten Male seit Jahrhunderten kehren italienische Truppen unter italienischen Fahnen siegreich in die Heimat, aus Spanien, Deutschland, Österreich, von Valencia, Jena, Wagram, oder sie ziehen aus mit der Großen Armee nach Rußland, wo sie fast alle bleiben. Sechzigtausend Italiener sollen in den napoleonischen Kriegen gefallen sein; diese Toten verpflichten die Überlebenden. Wohl streiten und sterben sie für eine fremde Sache, und doch ist es richtig, was ein italienischer Offizier aus dem Lager in Boulogne schreibt: Es macht nichts aus, für wen wir kämpfen, jetzt kommt es darauf an, daß wir uns an militärische Zucht gewöhnen und überhaupt erst kämpfen lernen. Aus der früheren kleinlichen Enge befreit, nehmen die Italiener tätig teil an den gewaltigen Ereignissen und am Ruhm der Kaiserzeit, sie sitzen im Pariser Senat und gesetzgebenden Körper, auf französischen Richterstühlen, gehören zur Ehrenlegion, und vor allem arbeiten sie im Königreich Italien als Minister, Präfekten und Richter, als Abgeordnete und Verwaltungsbeamte, als Lehrer, Ärzte und Künstler, als Offiziere und Soldaten selbständig an dem großen napoleonischen Aufbauwerke, das ihrem Lande ein neues Leben einzuhauchen scheint. Mit hoffnungsfrohem Stolz kann ein Mailänder Patriot behaupten, daß man jetzt den müßigen Helden von Parinis Satire auf das schlappe Leben eines jungen Adligen in „II Giorno" vergebens suchen werde, daß die früher berechtigte Satire nunmehr zur Verleumdung geworden sei, nachdem der lombardische Adel sich dem Dienste der Waffen und des Staates gewidmet habe und sich wohl messen könne mit der englischen und französischen Aristokratie. Bezeichnend für diesen sittlichen Aufschwung der Nation ist auch der ungeahnte, allgemeine Beifall, den jetzt Alfieris Dramen finden mit ihrer stolzen Verkündung einer strengen und unerbittlichen Heldenmoral. So begründet und erzieht Napoleon das politische Verantwortungs- und Selbstgefühl, den politischen Stolz und Willen der Italiener und gleichzeitig feuert er ihren nationalen Ehrgeiz an, wenn er ihnen die Größe Roms vor Augen Vossler, Nationalgedanke 9
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hält. Indem er schließlich ihrem neugeschaffenen Staatsgebilde den Namen der „Italienischen Republik" gibt, in dem eine Hoffnung, ein Versprechen liegt, fördert und bestätigt er selber die grundlegende Verbindung der neuen, von ihm geweckten politischen Gesinnung mit der alten nationalen Idee. Kurz, die französische Herrschaft weckt den sittlichen und politischen Willen der Italiener, und aus ihrem literarischen und kulturellen, theoretischen, nationalen G e d a n k e n wird jetzt ein ethisch-politischer nationaler Wille. Darin liegt das entscheidende und bleibende Ergebnis der französischen Herrschaft. Es ist kein Zufall, daß die ersten Aufstände des Risorgimento in Neapel und Piemont 1820 und 1821, gerade vom Heer und auch von den Beamten ausgehen, von den Klassen also, die am unmittelbarsten und gründlichsten vom Kaiser erzogen worden sind, und daß anderseits der politische Geheimbund der Carboneria während der Franzosenzeit entsteht. Vorerst freilich kann sich dieser neue nationale Wille auf unmittelbar politischem Gebiete noch nicht auswirken; um so kräftiger tut er es auf geistig-politischem. Besonders gegen Napoleons Versuch, die annektierten italienischen Provinzen auch in Kultur und Sprache Frankreich anzugleichen und zu entnationalisieren, erhebt sich in ganz Italien ein geschlossener und heftiger Widerstand. Die vor kurzem noch so gleichgültige, matte und hohle Literatur wird fast plötzlich leidenschaftlich, aktiv, politisch, erzieherisch, moralisch, kämpferisch und patriotisch-tendenziös; es gibt kaum noch einen Dichter oder Schriftsteller, der nicht teilnimmt an dem Kampfe um die bedrohte Nationalität, der nicht das Vaterland feiert und seine großen Erinnerungen und nicht seine große Zukunft besingt und die Landsleute anfeuert zu heldenhaften Taten, die die vergangene Macht und Herrlichkeit und Freiheit wiederbringen sollen. Alfieri, der sich schon vor der Revolution entfranzösisiert, entpiemontisiert und entsklavt hatte, um ein freier Italiener zu sein, wird jetzt aus einem unverstandenen Vorläufer und Außenseiter zum nationalen Helden und Vorbild. Seinem Beispiel folgt der junge Ugo Foscolo, der Dichter der „Sepolcri" und des „Jacopo Ortis", in dem 130
Goethes Werther zu einem italienischen Patrioten geworden ist, der an der Schmach und Schande des verratenen und verderbten Vaterlandes zugrunde geht. Den Dichtern schließen sich die Kritiker an in der Verteidigung des ererbten nationalen Kulturgutes, es entsteht ein neuer Dantekult, der den großen Florentiner als den ersten Künder italienischer Einheit und Größe verehrt. Selbst die Philologen und Grammatiker stürzen sich in den Kampf und reinigen ihre Sprache von allen Gallizismen, und im Bewußtsein, daß es um das Vaterland geht, streiten sie mit zähem Eifer um ein Wort, eine Silbe, wie Staatsmänner um eine Provinz. Diese große, geistig-politische Aktion endet mit einem vollen Siege der Italiener. Während noch die französischen Heere im Lande stehen, brechen sie die Hegemonie der französischen Bildung und werfen sie zurück weit hinter die Stellung, die sie vor der Revolution bei ihnen eingenommen hatte. Ihr italienisches Nationalbewußtsein ist gewaltig erstarkt und ehe der Kaiser im Felde besiegt ist, haben sie gegen ihn im Reich des Geistes ein gemeinsames, freies und einiges ideales Italien aufgerichtet, das das Vorbild sein soll für das zukünftige. Mit dem Sturze Napoleons bricht auch sein Werk auf der Halbinsel zusammen. Aber die alten Regierungen, die nach dem Wiener Kongreß wieder einziehen, finden doch ein anderes Italien vor als sie vor fast zwanzig Jahren verlassen haben. Die große Masse des niederen Volkes freilich ist noch apathisch und unpolitisch wie zuvor und wird es noch lange bleiben. Im Bürgertum und Adel aber ist es nicht mehr das Volk von früher, das abgeschieden und abgewendet von der politischen Bewegung Europas im engen Kreise seiner Städte zufrieden, heiter, idyllisch und willenlos dahinlebt, ohne sittliche Kraft, ohne politische Verantwortung, ohne gemeinsames, nationales Streben. Unter der strengen Zucht Napoleons ist in einer auserlesenen Oberschicht ein neues, ernsteres, stolzeres, männlicheres Geschlecht entstanden, das arbeiten, kämpfen und die Freiheit lieben gelernt hat, das die alten Regierungen nicht mehr achtet, die Fremdherrschaft haßt und das einig ist im Willen zum Wiederaufstieg des Vaterlandes, einig im Willen zum Risorgimento. 9*
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MAZZINI
Iheoretisch ausgebaut zu einer eigenen Weltanschauung, ja zu einer Religion erhoben hat den Nationalismus der Genuese Giuseppe Mazzini. Er wird von den Italienern verehrt als einer der vier Heroen des Risorgimento: neben Viktor-Emanuel, dem Monarchen der Einigung, Garibaldi, dem verwegenen Soldatenführer, Cavour, dem genialen Staatsmanne, steht Mazzini als der große Verschwörer und Revolutionär, Agitator und politische Erzieher. Er ist der unbeugsame Idealist, der trotz Not und Verfolgung, Verbannung und Enttäuschung und hoffnungslosem Mißerfolg seinen zagenden und zweifelnden Landsleuten klar und kühn das hohe Ziel eines freien und einigen Italien kündet, der unbeirrbar, zähe, ja starr an diesem seinen Glauben ans Vaterland festhält und rastlos den Willen zur nationalen Wiedergeburt anfeuert. Dieser große Prophet der italienischen Einigung ist einer der kräftigsten und bedeutendsten Vertreter des nationalen Gedankens überhaupt und als solcher soll er hier betrachtet und ausgefragt werden. Er unterscheidet sich allerdings grundsätzlich in seiner Stellung zum Nationalismus von den Männern, von denen bisher die Rede war. Ein Rousseau, ein Fichte oder Humboldt, sie alle müssen die Nation erst entdecken oder schaffen, sie alle gehen aus von übernationalem, universalistischem Denken und stoßen erst nachträglich auf die Realität der Nation, müssen sich mit ihr mühsam und auf Umwegen auseinandersetzen, müssen sie in ein sich auswachsendes oder schon fertiges Gedankensystem aufnehmen und einfügen, kurz, sie gehen den Weg von der Philosophie zur Politik, vom universalen zum nationalen Gedanken. Mazzini dagegen geht den umgekehrten Weg. Er geht aus von der Politik, von der Nation, und von da aus und erst hinterher stößt er immer weiter und froher vor in die Philosophie. 132
Dieser Unterschied ist schon durch die Zeit gegeben. Der Italiener gehört einer späteren Epoche an als die eben genannten Männer — er lebt von 1805 bis 1872, die für sein Denken entscheidenden Jahre liegen etwa um 1830. Wir wissen schon, daß die bedeutsame Umwandlung des alten, humanistischen, kulturellen, kurz literarischen nationalen Gedankens in einen politischen nationalen Willen sich bei den Italienern unter den Eindrücken der französischen Invasion vollzogen hat, daß noch in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts die Forderung nach einem einigen, gesamt-italienischen Staate erhoben worden war. So ist für den später geborenen Mazzini der Wille zur Nation überhaupt kein Problem mehr, zu dem er sich erst durchringen müßte, sondern er wird einfach von diesem Willen erfaßt. Soweit man den jungen Mazzini überhaupt zurückverfolgen kann, steht für ihn das Ziel, seine spätere Lebensaufgabe der Befreiung und Einigung Italiens von vorneherein fest. Der nationale Gedanke und Wille ist also von Anfang an gegeben, und um diesen festen Kern herum legen sich, ihn zu schützen, zu festigen,- zu nähren, erst später, nacheinander Gedanken und Gedankengruppen mancherlei Art und Ursprungs, bis schließlich eine ganze Weltanschauung daraus geworden ist. Theoretisch und dem Scheine nach spielt der Wille zur Nation in diesem umfassenden Gedankensysteme nur noch eine untergeordnete Rolle — er ist Instrument und Diener höherer Mächte geworden — in Wirklichkeit aber ist er die Seele, die der logisch nur locker gefügten theoretischen Konstruktion erst wahrhaft Sinn und Kraft, Einheit und Leben verleiht. Es handelt sich also nicht um ein wirkliches philosophisches System, denn nicht der strenge Wille zur Erkenntnis, sondern ein praktischer, politischer Wille liegt ihm zugrunde. Mazzini selbst ist sich dieses Umstandes sehr wohl bewußt; in seinem Briefe an Ludmilla Assing, die Übersetzerin seiner Schriften ins Deutsche, entschuldigt er die philosophische Schwäche seiner Werke. „Trotzdem", fährt er fort, „ist es vielleicht nicht überflüssig, daß man sehe, wie ein Ziel zu dem Streben veranlaßt, den Gedanken der Tat dienen zu lassen, dem einzigen Ziele, welches in der Zeitepoche, in welcher wir geboren wurden, wahrhaft wichtig
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ist." Dieses „einzige Ziel" dem der Gedanke dienen soll, ist die Einheit und Freiheit der Nation, für den Genuesen das einige, freie Italien. Gerade das nun, die Verwendung unpolitischer, weltanschaulicher Momente für das nationale Befreiungswerk, das Hinaufsteigern des nationalen Wollens zu einer ganzen Weltanschauung, ja Religion des Nationalismus, ist es, was wir hier verfolgen wollen. — Dazu empfiehlt es sich, zuvor in den Grundzügen das unmittelbar politische Programm Mazzinis kennenzulernen. Die nationale Einigung soll radikal in einem Einheitsstaat erfolgen, in einer gesamtitalienischen Republik — also kein Staatenbund oder Bundesstaat, wie ihn damals die meisten Patrioten fordern. Als nationaler Feind wird Österreich erkannt, das alle italienischen Gebiete räumen muß. Mit Österreich sollen auch Monarchie und Adelsherrschaft verschwinden, an ihre Stelle hat die souveräne Nation zu treten mit Demokratie, Gleichheit, Freiheit. Statt einer einzelnen Person oder Sekte oder Klasse soll das gesamte Volk Träger der Einheitsbewegung sein; auch die unteren Klassen sollen gewonnen werden, ihnen werden soziale oder sozialistische Reformen durch den Nationalstaat in Aussicht gestellt. Nur aus der eigenen Kraft der Nation kann und soll die Freiheit des Vaterlandes errungen werden, niemals mit Hilfe eigener oder fremder Regierungen; auch von der revolutionären Initiative des Auslandes, d. h. Frankreichs und der französisch orientierten Freimaurerei soll die italienische nationale Erhebung völlig unabhängig sein. Nur der gleichzeitige Aufstand des gesamten Volkes zur Vertreibung der fremden Herren kann die Freiheit und Einheit erstreiten. — Als Künder dieses Programms und Vorkämpfer im nationalen Krieg wird 1831 die „Giovine Italia", das „Junge Italien" geschaffen, ein Geheimbund wie schon die Carbonaria, jedoch mit wesentlichen Vereinfachungen und Verbesserungen. Das ist in der Hauptsache das unmittelbar politische Programm, an dem Mazzini trotz aller Wechsel der politischen Situationen bis zu seinem Tode festgehalten hat. Praktisch ist dabei nicht mehr herausgekommen als eine lange Reihe von Putschen, die alle miteinander mißglückt sind, die aber doch den Wert gehabt haben, die 134
nationale Agitation wachzuhalten. Wegen dieser praktischen Mißerfolge Mazzini für einen weltfremden Utopisten zu halten, wäre trotzdem verfehlt. Vielmehr muß man anerkennen, wenn damals, in den dreißiger, vierziger Jahren das Freiheitssehnen der italienischen Nation überhaupt ernst genommen und überhaupt verwirklicht werden sollte, so konnte man kein politisch klügeres Programm dazu finden, als es der Verschwörer entworfen hat, keinen Weg weisen, der unter den gegebenen Umständen bessere Aussichten auf Erfolg gehabt hätte. Weltfremd, Utopist ist Mazzini erst später geworden, als sich die Lage der Halbinsel schon völlig verändert hatte und er draußen in der Verbannung immer noch starr und dogmatisch an seinem politischen Programm der dreißiger Jahre festhielt, das ihm inzwischen zu einem Glaubensbekenntnis geworden war. Mazzini begnügt sich aber keineswegs mit der unmittelbar politischen Aktion allein, es genügen ihm nicht die Verschwörungen, Putsche, Bandenkriege seiner Anhänger, sondern er fordert, sucht und findet unentbehrliche Hilfe für seines Vaterlandes Sache im Reiche des Gedankens. Nicht nur kämpfen, auch lehren soll der Giovane Italiano, getreu dem Wahlspruche seines Bundes „Pensiero e Azione", Gedanke und Tat soll er wie sein Führer Verschwörer und Erzieher sein in einer Person. So läuft also neben der praktisch-politischen Arbeit der geistig-politische Kampf, der Ausbau einer eigenen Lehre mit dem Ziele der Wiederaufrichtung des Vaterlandes. Auf diesem Gebiete der Lehre, als der große Erzieher seiner Landsleute hat Mazzini erfolgreicher gewirkt denn als Staatsmann. Die Tendenz, geistige, moralische, unpolitische Mittel in patriotischer Absicht zu verwenden, ist nicht neu — Mazzini setzt damit eine für Italien charakteristische Tradition fort, er bezeichnet freilich den Höhepunkt dieser besonderen Tradition. Der italienische Nationalgedanke ist ja wie kein anderer humanistisch-literarischer Herkunft; nachdem er endlich in der französischen Invasion politisiert worden war, war Vinter Napoleon und dann unter der Herrschaft der restaurierten Mächte seine Verbindung mit der Literatur nicht etwa abgerissen oder überflüssig, sondern nur noch stärker geworden. Konnten doch die italienischen 135
Patrioten über keine Regimenter und Kanonen verfügen, der Weg zur unmittelbaren, praktischen Tat war ihnen immer noch versperrt, so daß sich ihr neu erwachter nationaler Wille nur um so kräftiger und leidenschaftlicher auf das Reich des Gedankens werfen mußte. Es ist schon erwähnt worden, wie sie gegen den Versuch des Korsen italienisches Land zu französisieren, den ersten, eindrucksvollen Sieg des neuerstarkten Nationalgedankens erstritten hatten. Damals schon hatten sie auch eine getarnte geistigpolitische Kampfesweise ausgebildet und erprobt, die noch lange verwendet werden sollte, ehe endlich Italien, wie man gesagt hat „a forza di sonetti" befreit war. So sind denn auch zur Zeit des jungen Mazzini die mächtigsten Künder des nationalen Gefühls Literaten und Dichter gewesen und von ihnen, besonders von Alfieri und Foscolo hat der spätere Verschwörer wie seine ganze Generation die erste und unmittelbarste vaterländische Erziehung erfahren. Nachdem also die Poeten die Führer im Kampfe fürs Vaterland waren und die Dichtung das mächtigste Mittel patriotischen Wirkens bot, fängt auch Mazzini — noch ehe er seine „Giovine Italia" gegründet hat — seinen Dienst fürs Vaterland damit an, daß er, statt Jurist zu werden, Literat wird. Er dichtet nicht selber Dramen und Romane — dazu hat er weder die Begabung noch die Geduld; er, dem es nicht eigentlich auf künstlerische, sondern auf politische Betätigung ankommt, wählt als geeignetstes Mittel für seine Zwecke die periodische Literaturkritik. Denn von seinem Kritikerposten aus kann er gleich einem Feldherren den patriotischen Kampf der italienischen Dichterscharen lenken. So sind es denn literarische Gedanken, die Mazzini als erste „der Tat dienen läßt", die als erste mit dem nationalen Wollen sich verbünden. Sehen wir ein Beispiel dieser Methode. Da nimmt der Genuese den Gedanken der Romantiker auf, daß ein Dichter aus dem Zusammenhange mit seiner Zeit, seinem Lande, seiner Kultur, seiner Religion, seinem Volk, seinem Stande, kurz aus seiner historischen Umgebung verstanden werden müsse, daß die Dichtkunst nicht unabhängig von Zeit und Raum gleichsam über den Wolken schwebe, daß sie nicht zeitlosen, immer und überall geltenden Regeln einer ein136
zigen klassischen Schönheit gehorche, sondern daß sie verbunden sei mit den Problemen, den Aufgaben, den Leistungen, Vorstellungen, Hoffnungen, Gewohnheiten, den gesellschaftlichen und politischen Zuständen einer bestimmten Epoche, eines bestimmten Volkes, daß sie dadurch in ihrer historischen und nationalen Verschiedenheit bestimmt und gerechtfertigt sei. Dieser außerordentlich fruchtbare Gedanke ist deutschen, insbesondere Herderschen Ursprungs, er hat die historische Literaturbetrachtung erst begründet und unser Verständnis für fremde und frühe und auch für die eigene volkstümliche Dichtung unendlich bereichert und verfeinert. Während nun bei dem unpolitischen Herder der Gedanke vom Verbundensein von Literatur und Zeitumgebung zum Verstehen, Nachempfinden, Aufnehmen fremder Art und Kunst führt, den Stimmen der Völker zu lauschen lehrt, wendet der Italiener den selben Gedanken um zu einem politisch-orientierten Postulat: Die Dichtung soll nicht mehr zeitlos, wirklichkeitsfern in idealen Regionen wandeln, sie soll nicht mehr einer unveränderlichen Norm verhaftet, volksfremd, höfisch, klassisch-ästhetisch ein eitler Kitzel sein für müßige Ohren, sie soll verbunden sein mit dem Hier und Heute, verbunden mit dem Volk, mit seinem Sorgen und Sehnen, soll ihm Ausdruck, Richtung, Hilfe geben, sie soll einen großen, erhebenden, positiven, erzieherischen, moralischen Inhalt haben, sie soll für die Nation leben, nicht in steriler Vornehmheit für sich selbst, sie soll wirken, erziehen, kämpfen, führen. So biegt der italienische Patriot Herders historische Literaturbetrachtung aktivistisch um in eine Rechtfertigung und Forderung der nationalen Tendenzliteratur. Engherzig, pedantisch ist er dabei nicht, aber konsequent, er weiß, daß es gerade um der praktischen Wirkung Willen — und außerdem auch wegen der Zensur — nicht gut ist, dem Leser oder Hörer eine ganz bestimmte, einzelne Lehre vorzuhalten; es kommt vielmehr darauf an, daß der Dichter die allgemeine Gesinnung ausdrücke und wecke, die zu Hoffnung, zur Tat, zur Freiheit begeistert. Als Muster dieser „romantischen" oder wie es später heißen wird „sozialen" Dichtung feiert Mazzini unseren Schiller, und unter dessen Gestalten wieder ist es der Marquis Posa, den er ganz besonders liebt und der ihn stark beeindruckt 137
hat. Denn Schiller, so erklärt der Italiener seinen Landsleuten, habe es verstanden, seine Personen nicht als bloß individuelle Wesen zu zeichnen, sondern als Verkörperung ewiger Ideen, als Repräsentanten der Menschheit, er habe statt eines bloßen Abklatsches der Natur, statt der „Wirklichkeit der Tatsachen" die „Wirklichkeit der Prinzipien" gezeigt und er habe in seinen Dramen die ewigen Gesetze anschaulich gemacht, die den Gang der Weltgeschichte zur Freiheit führen. Diese letzte Forderung, daß der Dichter nicht nur „Ausdruck der Gesellschaft", sondern ihr Führer und gar Prophet sein solle, indem er einen geschichtsphilosophischen Anschauungsunterricht gibt, hängt damit zusammen, daß Mazzini inzwischen auch die Geschichtsphilosophie für die nationale Aufgabe nutzbar gemacht hat. Wieder ist es Herder, den er zu Hilfe nimmt, genauer, es ist Herders Fortschritts- und Entwicklungsidee. Der Deutsche sieht die Geschichte der. Menschheit als eine von Gott gelenkte, unaufhaltsame, stufenweise fortschreitende Entwicklung zur Humanität, als ein ewiges Vergehen und Werden, als „die sich immer verwandelnde, wieder gebärende Schöpfung". „Immer verjüngt in seinen Gestalten, blüht der Genius der Humanität auf, und ziehet palingenetisch in Völkern, Generationen und Geschlechtern weiter." Ewige Erhaltung, Stillstand, gar Rückkehr zum Alten ist in diesem Prozesse unmöglich, „was geboren ward, muß sterben," was seinen Zweck im Weltplan erfüllt hat, muß weichen vor dem Jungen und Neuem. Es lebt weiter in seinem ewigen Bestandteile, in seinem Beitrage zur Entwicklung der Humanität, in seiner einmaligen, historischen Verkörperung aber ist es für immer vergangen und niemals kann es wiederkehren in der veränderten Zeit. Solche Gedanken kann Mazzini sehr gut brauchen. „Grausenvoll ist der Anblick, in den Revolutionen der Erde nur Trümmer auf Trümmern zu sehen, ewige Anfänge ohne Ende, Umwälzungen des Schicksals ohne dauernde Absicht !" Gegen solchen, gerade in dem Italien der Restaurationszeit weitverbreiteten müden Pessimismus gewinnt er für sich und die Seinen die bestärkende Gewißheit, daß die Geschichte einen gewaltigen göttlichen Plan hat, daß 138
daher auch unser Leben, das Arbeiten und Kämpfen für Freiheit und Fortschritt, einen Sinn hat; ja er weiß, daß Freiheit und Fortschritt nach dem sicherschreitenden Willen einer höheren Macht siegen wird und siegen muß. Er weiß sich und sein Streben in Einklang mit dem unaufhaltsamen Gang der gesamten Weltgeschichte. Wenn auch die irdischen Mächte noch gegen ihn stehen, sein „Junges Italien" ist verbündet mit den ewigen Mächten, mit dem Weltgeist, es ist der Vorkämpfer des von Gott gelenkten Menschheitswerkes. Gegen seine Feinde aber läßt sich der Entwicklungsgedanke wieder ausgezeichnet benutzen. Herder selber legt solche politische Verwendung sehr nahe, wenn er sagt: „Glaube doch niemand, daß, wenn alle Regenten der Erde . . . sich zusammen verbänden, das Heute zum Gestern zu machen, und die fortziehende Entwicklung des gemeinsamen Menschengeschlechts auf immer zu hindern, daß sie damit jemals zum Zwecke kämen." Das klingt gerade so, als habe Herder den Bund der Könige in der Heiligen Allianz gemeint und als habe er ihren Versuch „das Heute zum Gestern zu machen" verurteilen wollen. Alle „wiederhergestellten" Mächte, die italienischen Partikularstaaten, die weltliche Macht des Papstes, die zurückgekehrten Könige, die zurückgekehrten Österreicher, das ganze reaktionäre und antinationale System der Restaurationszeit, gegen das Mazzini zu kämpfen hat, erscheint aus der Perspektive der Herderschen Geschichtsphilosophie gesehen als „elender Aufputz eines toten Leichnams". Jene feindlichen Mächte haben ihre Aufgaben in der Menschheitsentwicklung früher einmal gehabt, jetzt aber längst erfüllt, ihre Zeit ist abgelaufen, der Geist hat sie verlassen, heute kämpft er auf Seiten der jungen Mächte der freien Nation, der Giovine Italia. „Werden, da der Gang Gottes unter die Nationen mit Riesenschritten fortgeht, kindische Rückpfade von Menschenkräften bewirkt werden können ?" Etwas später hat Mazzini diese ins Politische umgedeutete und umgebogene Herdersche Geschichtsphilosophie noch weiter abgeändert und eindrucksvoll zusammengerafft unter dem Einflüsse der Saint-Simonisten. Von ihnen hat er gelernt, statt nur diesen oder jenen einzelnen Gegner herauszugreifen als überlebt, dann hier einen besonderen 139
Zustand als schädlich zu bekämpfen und dort wieder eine Verkehrtheit oder Schwäche seiner Freunde und Landsleute zu bedauern, zusammenfassend gleich die gesamte Gegenwart und sämtliche Gegner mit einem einzigen Urteile zu verdammen, sie als das grauenhafte Ende einer absterbenden, überholten Epoche zu erkennen, und ihr möglichst schroff und leuchtend die kommende Epoche der Weltgeschichte gegenüberzustellen, in der alles Streben der Giovine Italia mit Notwendigkeit zum Siege gelangen wird. Alles das, was Mazzini früher getrennt gesehen und einzeln bekämpft hatte, die Müdigkeit, Resignation der Patrioten, die Lauheit, Glaubenslosigkeit, Selbstsucht, Uneinigkeit im Volk, den Kampf der Klassen, die sterile Leere einer alten Dichtung, die Verlogenheit der Regierungen, das geistlose Unterdrückungs- und Gewaltregiment der reaktionären Mächte, ihr kindischer Versuch, die Welt vergangener Zeiten zurückzurufen und festzuhalten, alles dieses erkennt jetzt Mazzini als Ausdruck einer einzigen tödlichen Krankheit: des Individualismus. Die jahrhundertelange Epoche, der die Befreiung des Individuums zur Aufgabe gesetzt war, ist erfüllt, sie hat in der Französischen Revolution ihren letzten Triumph gefeiert, den Einzelnen von allen Fesseln gelöst — seither aber hat sie kein Ziel und keinen Sinn mehr, sie stirbt und verfault. Die Gegenwart ist im tiefsten krank und unglücklich, denn ohne eine verbindende höhere Aufgabe, ohne einen verbindenden Glauben und Sinn fahren die freigewordenen Kräfte der Individuen wirr, ziellos, trostlos in einem höllischen, sich selbst vernichtenden Chaos durcheinander. Die Menschheit wäre verloren, wenn sie in dieser Auflösung weiter verharren wollte, wenn sich nicht nach der vollendeten und überholten negativen, „individualistischen" oder „kritischen Epoche" die neue „soziale" oder „organische Ära" ankündigte, die im Zeichen der Gemeinschaft die kommende Aufgabe und damit die Rettung bringt. In ihr werden sich die Ideale der Giovine Italia unaufhaltsam verwirklichen, vor allem die höchste Form der „associazione", der Gemeinschaft, nämlich die Nation, und durch diese wiederum Einheit, Freiheit, Recht, Friede und gemeinsame fortschreitende Arbeit an den Menschheitszwecken. So also steigert Mazzini seinen Kampf gegen die reaktionären Gewalten und für die 140
Befreiung seines Vaterlandes zu einem unversöhnlichen, prinzipiellen Kampfe zwischen zwei Zeitaltern, zu einem für die gesamte Menschheit entscheidenden Ringen zwischen Vergangenheit und Zukunft, Skepsis und Glaube, Materialismus und Idealismus, Egoismus und Altruismus, Recht und Pflicht, kritischer Auflösung und organischem Aufbau, Untergang und Aufstieg der Kultur, und alle diese Gegensatzpaare führt er in wirkungsvoller Weise zurück auf eine einzige, alles umfassende Grundantithese: Individualismus und Gemeinschaft. Das ist dieselbe Antithese, mit der schon Rousseau und Burke, Fichte und Humboldt sich auseinandergesetzt hatten, es ist das zentrale Problem des Nationalismus, den Einzelnen und das Ganze zu verschmelzen, das hier auch Mazzini aufgreift und das er vergröbernd, aber propagandistisch wirksam, gewissermaßen materialisiert und dramatisiert als das Ringen zweier Weltalter darstellt. Die Führung in diesem säkularen Kampfe um Fortschritt und Rettung der Menschheit fällt nach der neuen Geschichtskonstruktion nicht mehr Frankreich zu, sondern Italien. Frankreich galt damals allgemein als der berufene Vorkämpfer aller revolutionären, liberalen, demokratischen, nationalen, kurzum freiheitlich-fortschrittlichen Bewegungen in Europa. Gerade auch die italienischen Revolutionäre und Patrioten dachten so zum tiefsten Verdrusse von Mazzini. Dieser dagegen zeigt jetzt, daß Frankreich und seine Revolution von 1789 gar nicht ein Anfang sind, sondern ein Ende, daß sie der vergangenen Epoche angehören, nicht der kommenden. Frankreich hat durch „Freiheit und Gleichheit" das Individuum konstituiert und damit die individualistische Ära abgeschlossen. Italien dagegen hat eine neue und höhere Aufgabe: die Nation zu konstituieren und es eröffnet damit die kommende Ära der Gemeinschaft. Daher sind jetzt nicht die Franzosen, sondern die Italiener das auserwählte, das Führervolk der Menschheitsgeschichte. Im Wechseltakt der kritischen und organischen Epochen ist zweimal schon Rom das Zentrum der universalen Einheit gewesen — jetzt endlich in der neuen Weltenwende ist nach dem Rom der Cäsaren und nach dem Rom der Päpste das „Dritte Rom", die „Terza Roma" ausersehen, zum dritten Male im dritten organischen Zeitalter die 141
Menschheit in der Gemeinschaft der freien Nationen zu einen. „In Italien also liegt der Knoten des europäischen Problems. Denn von Rom allein kann zum dritten Male das Wort der modernen Einheit ausgehen." So erscheint Rom als der Angelpunkt der Zeitenwende, der „Giovine Italiano", der um die Ewige Stadt, die Hauptstadt seines geeinten Vaterlandes streitet, streitet um die Hauptstadt der kommenden Welt, er kämpft nicht nur um ein enges nationales Ziel, sondern um die Rettung der gesamten, heillos zerrissenen und gequälten Menschheit. Das ist das Vorrecht und die heilige Pflicht Italiens. Das dergestalt geschichtsphilosophisch ausgebaute nationale Wollen erhebt sich noch weiter zu einer religiösen und ethischen Lehre, wobei übrigens die religiöse Seite die schwächste, die sittliche dagegen die persönlichste und überzeugendste ist. Kurz gesagt wäre die stufenweise Menschheitsentwicklung als der Wille eines persönlichen oder auch als die Offenbarung und Selbstbefreiung eines immanenten Gottes aufzufassen, vielmehr zu glauben, und ferner wäre das in den Entwicklungsprozeß eingereihte, nur „individualistische" und daher überholte Christentum durch eine neue „soziale" Religion der Gemeinschaftsepoche zu ersetzen. Aufs engste mit diesen Vorstellungen hängt die Sittenlehre zusammen. Die Erkenntnis, daß der Einzelne nicht isoliert für sich selbst leben kann, sondern nur als Teil der Gesamtheit, führt zu der Forderung des Dienstes und der Pflicht gegenüber der Gesamtheit — das ist letztlich die Menschheit, zuvor aber die Nation. Sinn und Zweck des Lebens ist es also, für den Fortschritt des Ganzen im großen Weltenplan zu kämpfen, die gottgewollte Entwicklung der Geschichte vorwärts zu treiben hin zur Bildung freier Nationen. Für diese Aufgabe wird restlose Selbstaufopferung verlangt nach der ausgesprochen kämpferischen und heldischen Moral des italienischen Verschwörers, der sich hier, weniger philosophisch als psychologisch mit Kant und mit Fichte nahe berührt. Schließlich ist auch ein soziales Programm in die nationale Lehre aufgenommen, das nach zwei Seiten, sowohl gegen den individualistischen und kapitalistischen Liberalismus wie auch gegen den klassenkämpferischen und volksspaltenden Marxismus Front macht. Den Kern und Höhe142
punkt der wachsenden Lehre bilden endlich Staat und Nation. Schon aus der Geschichtskonstruktion ergibt sich, daß Mazzini, so sehr er auch demokratisch und tyrannenfeindlich an der innerpolitischen Freiheitsforderung für den Einzelnen festhält, doch nicht die rationalistische Staatslehre der Französischen Revolution übernehmen kann. Praktisch und historisch liegen die Dinge so, daß sein letztes Ziel nicht ein innerpolitisches ist wie 1789, sondern ein außenpolitisches. Für den Italiener der dreißiger Jahre steht die erst noch zu erstreitende Einheit der Nation — die für den Franzosen von 1789 kein Problem mehr ist — vor und über der Freiheit des Individuums. Das ist der konkrete Untergrund und Sinn seiner Behauptung, daß die „associazione", die Bildung der Nation die neue und die höchste Aufgabe der Zeitepoche ist, welche die bloß individuelle Freiheit von 1789 überholt, unterordnet dem neuerkannten höheren sozialen, nationalen Ziele. Wo aber die Gesamtheit über dem Einzelnen steht und der Dienst an ihr als erste Pflicht verkündet wird, da bleibt für die absoluten, angeborenen, unverletzlichen Menschenrechte, so wie sie 1789 aufgefaßt worden waren, kein Platz mehr; sie müssen ihre Rolle und ihren Charakter ändern, wenn sie bestehen sollen. Freiheit, Gleichheit, Demokratie, überhaupt die ganzen demokratischen Forderungen werden für Mazzini — so wie sie es schon bei Fichte geworden waren — zu Mitteln, freilich unentbehrlichen Mitteln der Pflichterfüllung des Einzelnen gegenüber der Gesamtheit, der Menschheit und der Nation — damit werden sie selber zu sittlichen Forderungen. Der Staat Mazzinis ist also nicht mehr der rationalistische Mechanismus eines Jefferson etwa, eingerichtet zum Schutze der präexistenten individuellen Freiheit der Bürger — sondern der Staat hat, ebenso wie der Einzelne, eine höhere Aufgabe, hat die sittliche Pflicht der gottgewollten, fortschrittlichen Menschheitsentwicklung zu dienen. Er ist selbst Mittel zu dieser Pflichterfüllung. Er ist dazu da, das vereinzelte, gehinderte oder ohnmächtige Streben der Bürger so zu ermöglichen, zu ordnen und zusammenzufassen, daß jeder seine Mitarbeit an der großen Menschheitsaufgabe frei und wirksam leisten kann. Auf denselben Gedanken des Ziels, der sittlichen Auf-
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gäbe des Staates im Weltenplane richtet Mazzini auch seine Rechtfertigung der Demokratie und Republik aus; nicht weil das Individuum Grundrechte hat und wahren muß, sondern weil die Richtung des weltgeschichtlichen Weges, der göttliche Plan und Wille in der Menschheitsentwicklung sich im ganzen Volke und durch das ganze Volk offenbart, nicht aber dem einzelnen Könige, deshalb soll das Volk frei sein und herrschen. Nur die Freiheit und Gleichheit machen es möglich, daß das Ziel des Fortschritts richtig erkannt wird und daß alle zur Erreichung des Ziels mitwirken können, wie es ihre Bestimmung ist. Kurzum, die praktischen Forderungen und Einrichtungen des demokratischen Staates behält Mazzini bei — muß er nach Lage der Dinge beibehalten — aber ihren Sinn verändert er völlig durch einen neuen sittlich-religiösen Freiheitsbegriff, „dessen Wesen nicht individualistisch, egoistisch und passiv ist, sondern durchaus sozial, altruistisch und aktivistisch — statt der Freiheit des Genusses, der Ruhe, oder gar der persönlichen Willkür fordert er die Freiheit der Arbeit, der Pflichterfüllung, des sittlichen Dienstes am Ganzen". Ganz ähnlich wie den Staat rechtfertigt Mazzini auch die Nation. Sie ist nicht eine Summe von Individuen, die etwa durch irdische Interessen geeint werden — das wäre bloß „volgo", nicht „popolo" zu nennen. Auch die Gemeinschaft der Sprache, der Geschichte, des Bodens, des Blutes, des Staates macht noch nicht die Nation aus — Mazzini will sie nur als ihre üblichen, aber nicht einmal notwendigen Kennzeichen gelten lassen, nicht als ihr Wesen. Das Wesen der Nation wird wiederum nicht von unten her „begründet", sondern — wie das schon mit dem Staate und den Freiheitsrechten geschehen ist — nach oben hin, dem Ziele zu „ausgerichtet" und damit teleologisch, nicht kausal bestimmt. Nation ist also wieder nicht autonom, nicht Selbstzweck, sondern auch nur Mittel, Mittel zu dem bekannten höchsten Ziele der gottgewollten Menschheitsentwicklung. „In den Fragen der Nationalität, wie in allen anderen, ist nur das Ziel souverän." Dann wird genauer bestimmt: „Die Nationalität, das ist die Rolle, die Gott einem Volke in der Menschheitsarbeit zugewiesen hat. Das ist seine Mission, seine Aufgabe, die es auf Erden erfüllen muß, auf daß sich 144
der Gedanke Gottes in der Welt verwirklichen könne: das Werk, das ihm das Bürgerrecht gibt in der Menschheit: die Taufe, die ihm einen Charakter verleiht und ihm seinen Rang anweist unter den Völkern, seinen Brüdern." „Jedes Volk hat eine besondere Mission, die zur Verwirklichung der allgemeinen Mission der Menschheit mitwirkt. Diese Mission macht seine Nationalität aus. Die Nationalität ist heilig." So wird auch die Nation eingereiht in die Menschheitsentwicklung, die da nichts anderes ist als Wille und Offenbarung Gottes. Als letzte und höchste Form der Gemeinschaft dient sie dem menschheitlichen, sittlichen und göttlichen Zwecke und wird so selber als „Mission" zum sittlichen, religiösen und heiligen Prinzip. Diese Auffassung der Nation ist im Schema auch bei Fichte zu finden — dem Mazzini überhaupt merkwürdig nahesteht — auch bei Schiller und den Frühromantikern liegt sie vor und ähnlich bei Jefferson. Sie alle betrachten die Nation nicht als autonom, nicht als Selbstzweck und letzten Wert, sondern als untergeordnet der höheren Instanz, der Menschheit, und sie unternehmen es gerade durch diesen übernationalen Begriff der Menschheit die Nation zu rechtfertigen. Man glaube aber nicht, daß durch diese Mediatisierung oder „Degradierung" die Nation an Kraft und Würde verliert; im Gegenteil, gerade dadurch, daß sie den denkbar höchsten Zwecken dient, wird sie erhoben und geadelt, gerade dadurch wandelt sich für den Einzelnen wie für das Volk das bloß passive Recht zur Nation in die fordernde, unausweichliche sittliche Pflicht zur Nation. Nation ist also nicht ein Haben, sondern ein Sollen. Auch der stolze Gedanke des Primats des eigenen Volkes — sei es der Vernunftsnation Jeffersons, oder der Menschheitsnation Fichtes oder des „Dritten Rom" des Italieners — ist verknüpft mit der übernationalen Vorstellung und Forderung, besser, reiner und edler als andre Nationen den Zwecken der Menschheit zu dienen. So legt es denn die Lehre Mazzinis nahe, das Verhältnis nationaler und universaler Begriffe nochmals zu überprüfen. Bisher hatten wir immer das übernationale Denken als das „Frühere" kennengelernt, als das zu Anfang Gegebene, aus dem der nationale Gedanke und Wille erst mühsam und V o s s l e r , Nationalgedanke
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allmählich sich herausentwickelt und herausschält, von dem er sich mehr und mehr entfernt. Man könnte daraus den Eindruck gewinnen, als bestehe die Entwicklung des Nationalismus vor allem eben in dem Heraustreten aus dem „Befangensem" in unpolitischen, menschheitlichen, weltbürgerlich-allgemeinen Idealen, die ins 18. aber nicht mehr ins 19. Jahrhundert paßten, um sich von ihnen schließlich ganz loszulösen und rein und selbständig dazustehen als der autonome und nur politische, der „wahre" Nationalismus. — Eine solche Auffassung würde die Entwicklungslinie doch allzu einfach und nicht mehr richtig zeichnen. Sieht man ja gerade am Beispiele Mazzinis, daß auch der umgekehrte Weg beschritten worden ist, daß nicht das universalistische Denken, sondern der klare politische nationale Wille zuerst da ist Und daß dieser sich später immer weiter und höher in übernationale und unpolitische Vorstellungen hineinentwickelt und sich mit ihnen verbindet. Daß aber das eine Verunreinigung und Störung oder gar eine Aufweichung oder einen Rückschritt des ursprünglichen nationalen Wollens bedeutet hätte, wird niemand behaupten mögen. Findet doch Mazzini in den literarischen, geschichtsphilosophischen, ethischen, religiösen, kurzum unpolitischen, übernationalen, universalistischen Ideen gerade die Hilfe, die Stütze und Festigung, die sein nationales Wollen braucht, gibt ihm doch gerade die Liebe zur Menschheit die Kraft, fürs Vaterland zu streiten. Das Verhältnis des nationalen und des universalistischen Gedankens muß also doch ein anderes sein als es auf den ersten Blick scheinen mochte. Wenn auch jener aus diesem sich erst — negativ, feindlich — herausentwickeln mußte, so können die beiden doch nicht in dem Sinne feindlich gegeneinanderstehen, daß der eine den anderen leugnet und ausschließt. Sie. haben bei Mazzini einander geholfen, also müssen sie sich vertragen und vereinigen lassen. Mit anderen Worten, nachdem die Nation sich von der Menschheit abgesondert hat und aus ihr herausgetreten ist, das eigene Wesen zu erkennen und zu behaupten, kann sie nicht „draußen" stehen bleiben — das würde uns mit einem starren Entweder-Oder vor die heillose Wahl stellen, unser Vaterland aufzugeben oder unser Geschlecht. So entsteht aus der 146
Unterscheidung des Nationalen vom Universalen das neue Problem, die unterschiedene, bewußt gewordene Nation wieder zurückzuführen zur Menschheit oder auch die Menschheit zur Nation und die beiden zu versöhnen und zu verschmelzen in einer neuen und höheren Einheit. Daß diese Aufgabe lösbar sein muß, läßt schon Mazzini erkennen — wie sie gelöst werden kann, das hat uns Hegel gezeigt.
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HEGEL
i. H egels Denken ist die Überlegenheit eigen, daß es die früheren Philosophien nicht einfach verwirft, sondern in dem positiven Sinne widerlegt, daß es ihre Schranke überschreitet, daß es ihr bestimmtes Prinzip zu einem ideellen Moment herabsetzt; dadurch aber erhält und enthält es die früheren Philosophien, an ihre richtige Stelle gesetzt und eingeordnet, untergeordnet und mithin aufgenommen, wie die Götter in einem Pantheon vereint und doch überwölbt unter einem neuen, höheren, alle umfassenden System. „Die letzte Philosophie", so heißt es am Ende der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, „die letzte Philosophie ist das Resultat aller früheren, nichts ist verloren, alle Prinzipien sind erhalten". So verhält es sich auch mit Hegels Stellung zum Problem des Nationalismus. Alle die neuen, mühsam errungenen Gedanken über die Nation, die wir bisher kennengelernt haben von Rousseau bis Humboldt oder Mazzini, wir finden sie sämtlich bei Hegel wieder. Er hat sie alle aufgenommen, er hat sie aufgehoben, wie sein Lieblingsausdruck lautet; aufgehoben in dem dreifachen Sinne von negare, conservare, elevare; er hat sie vereint und aufbewahrt zugleich und zu einem Höheren erhoben. Kurz, das Problem, an dem die früheren Denker gearbeitet und vorgearbeitet haben, findet durch Hegel seine Klärung und Lösung, er faßt die bisherigen Teillösungen oder Vorlösungen der Aufgabe, sie miteinander verbindend, sie vertiefend, in einem einzigen System zusammen und bringt sie zum Abschluß. Um nun Hegels Endlösung zu verstehen, ist es gut, wenn man zuerst zu der Ausgangsstellung zurücksteigt ins 18. Jahrhundert, dann die vorhegelischen Lösungsversuche rekapituliert, um zuletzt ihre abschließende Vereinigung und Vollendung eben durch Hegel zu verfolgen. — 148
Wir erinnern uns, daß im zweiten Kapitel die Frage aufgeworfen wurde, warum es im 18. Jahrhundert keinen Nationalismus gibt und geben kann. Als Antwort fand sich: das liegt am Rationalismus, an dem Glauben an eine absolute, ewige, immer und überall gleichermaßen gültige, über die Welt herrschende Vernunft und an der daraus folgenden Auffassung von Mensch und Staat und dem entsprechenden Verhältnisse der beiden zueinander. Der Mensch, das Individuum als Träger der Vernunft ist autonom, genügt sich selbst; er lebt kosmopolitisch in der Gesellschaft, in der Menschheit. Der Staat dagegen dient nur dem souveränen Individuum und seinen Bedürfnissen, ist ihm untergeordnet, er ist ein notwendiges Übel. Er soll dem Vernunftgebot gehorchen, er soll sich auf das enge Gebiet des Nützlichen beschränken, nur Ordnung halten und schön brav und tugendhaft sein als ein Nachtwächerstaat. In Wirklichkeit aber gehorcht der Staat eben nicht jenem friedlichen Vernunftsgesetz, er beschränkt sich nicht, er kann es nicht, wegen seiner eigensten Machtnatur und er bricht sich in Krieg und Gewalt wilde Bahn. Daher wird das rein utilitarisch äußerliche Verhältnis des Individuums zum Diener oder Mechanismus Staat vollends zu einem feindlichen, sei es zu einem nutzlos moralpredigenden, sei es zu einem empört verdammenden oder endlich zu einem resigniert sich abwendenden Verhältnis zu dem unverbesserlichen Ungeheuer Staat. Theorie und Praxis klaffen hier heillos auseinander, das vernünftige Individuum und der bestenfalls nur nützliche, meistenfalls unvernünftige und böse Staat stehen einander fremd gegenüber; solange das so bleibt, solange der Staat auf die untergeordnete Sphäre des Nützlichen oder die illegale Sphäre der wilden Macht beschränkt ist und nicht teilhat an den höheren und höchsten Gütern des Menschen, an der Sittlichkeit und Kultur, solange können auch die nationalen Werte, solange kann auch das Nationalbewußtsein, das seit den Tagen der Humanisten auf kulturellem Gebiete erwacht ist, nicht eingehen in die politische und staatliche Sphäre. Es fehlt die Verbindung, die Brücke vom Geistig-Kulturellen zum Irdisch-Allzuirdisch-Politischen. Der Nationalgedanke kann nicht zum Nationalwillen werden, er kann auch gar keine Lust dazu verspüren. 149
Soll ein nationaler Staat entstehen, so muß zuerst die Verbindung des Einzelnen mit dem Staate eine ganz andere, viel engere und innigere werden. Der Einzelne darf nicht mehr außerhalb des Staates stehen und nur äußerlich und utilitarisch nur durch die praktischen, unentbehrlichen Vorteile öffentlicher Ruhe und Sicherheit mit dem Staate zusammenhängen, sondern muß ihm verbunden werden durch das Beste und Höchste was er hat. Individuum und Staat müssen sich erst finden, die Kluft zwischen beiden muß überbrückt oder geschlossen werden. Wenn aber das geschieht, wenn Einzelner und Staat wirklich zueinander kommen, ineinander eingehen, miteinander verschmelzen, dann gehen zugleich mit dem Einzelnen ganz von selber auch die spezifisch nationalen Momente in den Staat ein, verschmelzen mit diesem, dann ist der Nationalstaat schon da. Zuerst aber muß, wir wiederholen es, der Mensch aus der weltbürgerlichen Gesellschaft heraus über eine trennende Kluft in den Staat hineingeführt werden. Das ist die Aufgabe. Die Lösungen dieses Problems, die wir bisher kennengelernt haben, lassen sich unterscheiden in drei Grundtypen. Die eine ist die sittliche Staatsauffassung, die andere die historische und die letzte ist die Vorstellung von der Menschheitsnation. Die sittliche Staatsidee finden wir vertreten vor allem durch Rousseau, die historische durch Burke, den Gedanken der Menschheitsnation endlich durch Jefferson oder Fichte. Rufen wir uns die drei Lösungen in Erinnerung. Rousseau — er ist der wahre Bahnbrecher — hat als Erster die: alte verderbliche Kluft überwunden zwischen Einzelnem und Staat, zwischen Moral und Politik, zwischen Recht und Macht, zwischen Freiheit und Zwang. Er hebt diese Antithese, sie zusammenfassend, in dem berühmten Satze scharf heraus: Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten. Vor Rousseau hatte man sich aus diesem Widerspruch dadurch herauszuhelfen versucht, daß man entweder das Individuum und seine Freiheit und sein Recht bejahte und festhielt, dann kam der Staat zu kurz, wurde der Staat und seine Macht verneint und hatte keinen Platz mehr — oder aber man versuchte es umgekehrt, bejahte den Staat und den Zwang, die Macht, die Politik wie es Hobbes getan 150
hatte, dann aber war es mit dem Recht und der Freiheit des Individuums aus. Beide Lösungen führten nicht zum Ziele, das Recht kann nicht die Macht aus der Welt schaffen, wie die Aufklärer es wollten, ebensowenig wie die Macht das Recht aus der Welt schaffen kann, wie Hobbes es wollte. Man kann weder das eine noch das andere unterdrücken, versucht mans, so sieht man immer wieder aus dem Ersten, das man festhält, das Zweite heraus springen und vice versa. Rousseau dagegen findet die richtige Lösung, indem er beide Momente zugleich bejaht und vereint, indem er sie versöhnt, aufhebt in dem dritten höheren Begriffe der freien Sittlichkeit. In der Sittlichkeit sind Freiheit und Zwang, Einzelner und Staat aufgenommen, verschmolzen, eins. Erinnern wir uns, wie Rousseau das .fertiggebracht hatte. Er setzt an Stelle des rationalistischen, abstrakten, d. h. losgelösten Individuums die Persönlichkeit, d. h. an Stelle des autonomen, in sich geschlossenen, abgeschlossenen Ich tritt die Persönlichkeit, die in ihrem Ich das Wir schon enthält, die der Dialog ist zwischen Ich und Wir. Die Persönlichkeit enthält das Wir, enthält den Willen des Wir, die volonté généralé, d. h. sie enthält das Gesetz, den Staat in sich. Und der Gehorsam der Persönlichkeit gegenüber dem wahren, höheren, dem allgemeinen und staatlichen Willen in ihrer Brust, der Gehorsam gegen das Gesetz, das sie sich selbst gegeben hat, ist Freiheit. Daher ist von jetzt an Freiheit nicht mehr g e g e n den Staat als gegen einen äußeren und fremden, ich-fremden Willen zu denken, sondern umgekehrt, Freiheit ist nur möglich im Staat und durch den Staat. Die Persönlichkeit kann nur im Staate sich vollenden und ihre höchste Bestimmung verwirklichen, nämlich die Bestimmung, sich selbst zu gehorchen. Auf der anderen Seite ist der Staat Rousseaus nicht mehr ein untergeordneter, bloß dienender utilitaristischer Apparat und Mechanismus zur Erledigung praktischer Aufgaben, wie Straßenreinigung und Sicherheit, sondern er ist Wille, der allgemeine, der sittliche Wille der Persönlichkeiten, er ist selber wesentlich Sittlichkeit. Die Sittlichkeit ist gewissermaßen in den Staat hineingefahren bzw. Staat geworden. Während früher, im Rationalismus, die Moral abstrakt über dem Staate schwebt, oder gegen ihn steht, ihn unterdrückt und das Individuum 151
gegen den Staat schützt oder aufhetzt, ist jetzt die Sittlichkeit im Staate konkret und Wirklichkeit geworden und erhebt und heiligt ihn und sie zieht die Persönlichkeit in den Staat hinein. Deshalb, in dem Sinne von „sei du selbst, gehorche deinem wahren, nämlich deinem allgemeinen, deinem sittlichen, deinem staatlichen Willen" ruft Rousseau oder besser ruft das Gewissen der Persönlichkeit zu: Werde selber Staat. — Das ist die erste Brücke vom Einzelnen zum Staat, die Brücke der Sittlichkeit. Die zweite Brücke, die Brücke des historischen Denkens, wird von Burke geschlagen. Während der Genfer sittlich fordert: Werde selber Staat, konstatiert der Engländer empirisch : du bist schon selber Staat, ob du willst oder nicht, du bist in die Gemeinschaft hineingeboren, gehörst da hinein, trägst sie in dir selbst. Was der Einzelne ist, das verdankt er nicht sich selbst und eigener Kraft und Entscheidung, sondern dem historischen Zusammenhange, in den er gestellt wurde. Der Einzelne ist nur ein Glied in der großen Aufeinanderfolge der Generationen, nur ein Teil in einem überindividuellen Gesamtorganismus, der räumlich und zeitlich weit über den Einzelnen hinausgeht. Das Individuum ist gleichsam nur der Kreuzungspunkt, in dem zahllose überindividuelle Einflüsse und Güter aus der Vergangenheit sich treffen und weiterleben, damit er sie erhalte und weitergebe an die kommenden Geschlechter. Die Sprache, die Religion, die Wissenschaft, die Kunst, das Recht, die Sitte, den Staat, das alles hat nicht der Einzelne selber gemacht, sondern er hat es ererbt, oder besser noch, umgekehrt, das alles erst hat den Einzelnen zu dem gemacht, was er wirklich ist, es hat ihn geformt, gebildet zu einem konkreten wirklichen Menschen. Nur mit dieser reichen Tradition im Leibe, die er in sich trägt und die sein wahres und höchstes Wesen ausmacht, ist der Mensch wirklich ein Mensch. Versucht man aber diese überindividuellen Güter aus sich auszuscheiden — was übrigens gar nicht gelingen kann — oder reißt man den Menschen aus dem sinnvollen Zusammenhange, aus dem großen Organismus, in den er eingeordnet ist, heraus, so hat man nur einen losgelösten, einen abstrakten, d. h. aber einen unwirklichen, gar nicht lebensfähigen Menschen. Nicht einmal der Wilde ist ein abstraktes, autonomes, sich 152
selbst genügendes, souveränes Individuum, von dem die Rationalisten sprechen; denn selbst der Wilde trägt in Gestalt seiner Sprache, seines Glaubens, seiner Sitte, seines Stammes usw. seine, wenn auch primitive Gemeinschaft in sich. In viel höherem Maße der gebildete Europäer, der das Erbe von Jahrtausenden in sich aufgenommen hat. Dieses Erbe aber, diese von den Rationalisten leichtfertig als sinnlos und unvernünftig verschrieene Geschichte und Tradition ist gut, sie ist vernünftig. Wenn der Einzelne glaubt, nur kraft seiner persönlichen und privaten Vernunft den altehrwürdigen Bau des Staates niederreißen zu können, um einen neuen hinzustellen nach seinem ausgeklügelten abstrakten Rezept, so ist das verbrecherische Pfuscherei. Der Staat ist gerade die angesammelte Erfahrung und Weisheit der Ahnen, er ist der Hüter und Bewahrer des großen Erbes, von dem wir alle leben und das in uns allen lebt. Das im Staate durch die Arbeit von Jahrhunderten niedergelegte Kapital von Weisheit, diese konkrete Vernunft, ist unendlich überlegen der überheblichen abstrakten Vernunft eines kurzen Menschenlebens. Von diesem gemeinsamen unerschöpflichen Kapital zehren wir, durch dieses gemeinsame Erbe, das in uns und im Staate weiterlebt, durch die gemeinsame Geschichte, die uns und unseren Staat füreinander geformt und gebildet hat — nicht einen beliebigen Menschen für einen beliebigen Staat, sondern einen besonderen Menschen oder ein besonderes Volk, für einen, für seinen besonderen Staat — dadurch sind Einzelne und Staat miteinander verknüpft und unauflöslich verschmolzen. — Das ist die zweite Brücke, die historische — wesentlich breiter und bequemer als die erste. Denn während bei Rousseau der Einzelne nur durch einen bewußten Willensakt, nur durch die Sittlichkeit in den Staat eingeht, ist er bei Burke unauflöslich durch alle Güter der Tradition und Geschichte wie durch zahllose Fäden seines Wesens, mit einem Wort, durch seine Kultur mit dem Staate verbunden. Die dritte Brücke endlich ist die kürzeste: die Idee der Menschheitsnation. Sie erspart sich die umständliche Auseinandersetzung mit den allgemein gültigen, menschheitlichen, kosmopolitischen, abstrakten Geboten der universalen Vernunft — sie behält sie einfach bei. Fichte und noch 153
viel deutlicher Jefferson, so haben wir gesehen, sind Rationalisten, sie bleiben den alten übernationalen Idealen treu. Z u Nationalisten werden sie einfach dadurch, daß sie kurzerhand das Ziel der absoluten Vernunft und der gesamten Menschheit gleichsetzen mit dem Streben oder gar mit dem Tun der eigenen Nation. Was alle Menschen gleichermaßen tun sollten, das eigene Volk tut es wirklich, darin liegt sein Vorrang, seine Rechtfertigung und Eigenart. Was alle Staaten sein sollten, der eigene Staat ist es wirklich, nämlich der absolute Vernunftsstaat. Was alle Völker verwirklichen sollten, nämlich die Herrschaft der Vernunft auf Erden, das eigene Volk verwirklicht es tatsächlich, es ist das Vernunftsoder Urvolk oder die Menschheitsnation. Hier wird gewissermaßen in der eigenen, der auserwählten Nation die gesamte Menschheit umarmt. Und um der Menschheit willen ergeht da an den Einzelnen die Forderung: Gehe ein in deinen Staat, gehe ein in deine Nation, denn nur durch sie, die auserwählten, kannst du, mußt du den höchsten Zwecken der Menschheit dienen. Dein Volk ist Vorkämpfer der Menschheitsbefreiung — steh nicht abseits ! Kämpfe mit, reihe dich ein ! Das sind die drei Brücken, über welche Einzelner und Staat zueinander finden; damit finden auch — wie von selbst — Nation und Staat zueinander. Wir haben ja auch beobachten können, daß jedesmal, wenn eine solche Brücke geschlagen war, automatisch die Forderung des Nationalstaates aufstand. Aber es handelt sich in allen drei Fällen doch nur um Teillösungen oder vorläufige Lösungen. Denn keine der Lösungen vermag ganz zu befriedigen. Wir wollen hier nicht negative Kritik an ihnen üben und ihre Mängel und Lücken aufweisen. Es sind ihrer viele und es steht zu hoffen, daß dem Leser schon selbst mitunter Zweifel und Fragen aufgestiegen sind, daß er nicht einfach alles, was Rousseau und Burke und Jefferson und Fichte zu sagen hatten, gläubig hingenommen hat. Das wäre ein schlechtes Zeichen. Denn der einzige, kürzeste, aber, wie uns scheint, schwerste Einwand, den wir gegen alle drei zugleich machen können, ist der: Sie vertragen sich nicht miteinander. Entweder Rousseau hat recht, dann können Burke und Jefferson und Fichte nicht mehr recht haben oder aber Burke hat recht, 154
dann haben Rousseau und Fichte und Jefferson geirrt oder endlich die letzten beiden haben mit ihrer Vorstellung der Menschheitsnation das Wahre getroffen, dann aber ist die Stellung der ersten beiden, des Schweizers und des Engländers unhaltbar geworden. Man denke es durch, die drei Thesen, so wie sie ursprünglich aufgestellt worden sind, schließen einander aus. Wir haben sie zwar einmal alle drei brüderlich vereint gesehen bei Mazzini. Der verwendet sowohl die sittliche wie die historische, wie auch die, sagen wir, menschheitliche Staats- und Nationalidee. Aber ihre Verbindung war doch nur eine willensmäßig-praktische gewesen, insofern nämlich, als sie alle auf dasselbe praktische Ziel des Wiederaufstiegs von Italien hinstrebten — dagegen ihre logische Verbindung untereinander in einer ziemlich grobschlächtigen Geschichtskonstruktion war entschieden weniger befriedigend. Mazzini war ein großer Agitator, der alles, was für seinen Zweck brauchbar war, propagandistisch geschickt zu wenden und verwenden verstand — aber ein großer Philosoph, der die disparaten Elemente seiner Lehre auch gedanklich sauber und konsequent miteinander in Einklang gebracht hätte, das war er nicht — wie er übrigens selber wußte. Und doch haben wir das Gefühl, daß die drei Teillösungen zueinander. und zusammen gehören, daß sie sich nicht gegenseitig ausschließen dürfen, sondern vielmehr gegenseitig verbinden, ergänzen und stützen müssen. Dieses Gefühl ist auch ganz richtig. Wir wissen ja auch, daß in unserem modernen Nationalgedanken die sittliche und die historische und die menschheitliche Nationalidee zugleich enthalten sind. Und es müßte schlimm um diesen unseren Nationalgedanken stehen, wenn in ihm tatsächlich kontradiktorische Brocken nebeneinander liegen sollten. Sie sind auch nicht kontradiktorisch oder genauer, sie sind es nicht mehr. Sie waren es wohl in der ursprünglichen Gestalt, in der wir sie kennengelernt haben, aber sie sind es nicht mehr in ihrer umgebildeten, verfeinerten, heutigen Gestalt. Sie umgebildet und verfeinert, versöhnt und vereint, zusammengefaßt und erhalten: aufgehoben zu haben in einem einzigen geschlossenen System, das gerade ist das Verdienst von 155
Hegel. Bei ihm schießen die drei Thesen 2usammen zu einer einzigen. Wie hat er das gemacht ? oder genauer: gibt es einen Punkt, an dem die drei ursprünglich einander ausschließenden Thesen sich treffen, einen Punkt, von dem aus man sie alle drei zu fassen kriegt, um sie dann unter einen Hut zu bringen, gibt es einen Generalnenner gewissermaßen, auf den man sie bringen kann ? Ja, den gibt es. Er ist aber nicht — das müssen wir gleich ausschließen — er ist selbstverständlich nicht der Nationalstaat, oder die Verbindung des Einzelnen mit dem Staate. Da, am Ende, im praktischen Ergebnis treffen sich selbstverständlich die drei Thesen vom Nationalstaat, das ist klar. Da hatte auch Mazzini, dem es auf unmittelbare Wirkung ankam, zugegriffen und zusammengeleimt, aber für die innere, gedankliche Verbindung und Aussöhnung der drei Thesen untereinander war von da aus nicht viel zu gewinnen. Nicht am Ende, sondern am Anfang und Ausgang, möglichst weit „oben" ist der gemeinsame Ursprung der auseinandergehenden Thesen zu suchen. Da ist er auch zu finden in einem allgemeinen Problem, das weit hinter und über das hier behandelte spezielle Problem von Staat und Nation zurückgreift, in einem allgemeinen Problem, von dem das unsere oder die drei unseren nur Einzelfälle sind. Welches Problem ? Wenn man genauer hinsieht, erkennt man, daß sowohl Rousseau, wie Burke, wie auch Fichte in ihren ganz verschiedenartigen Bemühungen um eine neue und nationale Staatsidee trotz aller Verschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit sich doch einig sind in ihrem Kampfe gegen das Abstrakte. Darin stimmen sie überein, hier enthüllt sich zuerst ihre tiefere Gemeinsamkeit. Rousseau stürzt das abstrakte Recht, die abstrakte Moral, es gibt für ihn kein absolutes, vorstaatliches Naturrecht. Es gibt keine abstrakten Menschenrechte und keine abstrakte Moral. Recht und Sittlichkeit gibt es nur konkret im Staat, nicht vor oder über oder außer ihm. Burke stürzt die abstrakte Politik, die abstrakte Verfassungslehre. Es gibt keine abstrakten politischen Regeln und Vorschriften, es gibt keine abstrakte, absolute Verfassung, die immer und überall gilt, der sich alle Verfassungen anzugleichen hätten. Es gibt nur historische,
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konkrete Verfassungen und die kümmern sich nicht um die abstrakte Idealverfassung der Rationalisten. Fichte endlich stürzt die abstrakte Menschheit durch eine Gewaltlösung, indem er gewissermaßen einen Kurzschluß Nation—Menschheit herstellt. In seinen Reden kämpft er nicht für die abstrakte Menschheit, sondern die allgemeine Menschheit wird ihm zur besonderen, in seinem deutschen Volk sieht er die wahre, die wirkliche, die konkrete Menschheit. Damit leugnet er die abstrakte Menschheit. Gehen wir einen Schritt weiter, dieses Gemeinsame zu ergründen. Wir haben eben gefunden, die drei Vorkämpfer des nationalen Denkens sind zugleich Gegner des abstrakten Denkens. Aber woran liegt das ? Ist das ein bloßer Zufall oder stehen nationales und abstraktes Denken etwa in einem tieferen, zwangsläufigen, prinzipiellen Gegensatz ? Das tun sie allerdings. Die drei Thesen oder Brücken, wie wir sie auch genannt haben, verbinden Einzelnen und Staat oder Nation und Staat, so daß der Nationalstaat entsteht. Aber um Einzelnen und Staat miteinander zu verschmelzen, hatte es nicht genügt, den Einzelnen als solchen und den Staat als solchen, wie sie beide eben waren, gleichsam beim Schopf zu packen und mit den Köpfen gegeneinander zu schlagen, wie zwei unartige Kinder; sondern, um Einzelnen und Staat miteinander zu verschmelzen, hatten unsere drei Vorkämpfer noch sehr viel mehr miteinander versöhnen und verschmelzen müssen als bloß den Einzelnen und den Staat. Wir zählen wieder rekapitulierend auf. Rousseau hatte Freiheit und Zwang, Sittlichkeit und Notwendigkeit, Recht und Macht miteinander versöhnt und dadurch erst Einzelnen und Staat zueinander geführt. Er hatte gefunden, daß Freiheit, Sittlichkeit, Recht nicht über dem Staat, außerhalb desselben oder gar gegen ihn existieren, sondern in ihm und nur in ihm. Die Sittlichkeit ist in den Staat hineingefahren, der Staat ist selber Sittlichkeit, konkrete Sittlichkeit. Deshalb gehört der sittliche Mensch in den Staat. Burke hatte das Recht und die bestehende Verfassung, Weisheit und Staat, Kultur und Tradition, kurz Vernunft und Geschichte zueinander geführt. Er hat entdeckt, daß Kultur, Recht, Weisheit, Vernunft, nicht außer, über oder gegen Staat und
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Geschichte stehen im Widerspruch zu ihnen, sondern die Vernunft ist in den historischen, bestehenden Staat hineingefahren, der Staat ist selber Vernunft, konkrete Vernunft. Deshalb gehört der vernünftige Mensch in den Staat. Und Fichte endlich hatte — wieder durch seinen gewaltsamen Kurzschluß — die ganze Menschheit und all ihr Streben und Sollen ohne weiteres mit seiner Nation und ihrem Streben und Sollen gleichgesetzt. Da war sozusagen die Menschheit, das gesamte Menschheitsgut und die Menschheitsbildung in die Nation hineingefahren. Die Deutsche Nation ist selber Menschheit, ist die konkrete Menschheit, da und nicht außerhalb ihrer ist sie zu finden. Deshalb gehört der wirkliche, nach dem Höchsten strebende, „menschheitliche" Mensch in diese Nation. Jetzt endlich können wir gleichsam einen Strich ziehen und addieren, dann werden wir den gesuchten Generalnenner auch bald haben. Da finden wir auf der einen Seite: den Einzelnen mit: Freiheit, Sittlichkeit, Recht, Weisheit, Kultur, Vernunft, Menschheit und Menschheitsgut, Menschheitsbildung. Auf der anderen stehen: der Staat mit: Zwang, Notwendigkeit, Macht, die bestehende Verfassung, die Geschichte, Tradition, Politik, Volk, Nation, Streben der Nation. Diese beiden Gruppen, nicht nur Einzelner und Staat waren miteinander versöhnt worden. Der Generalnenner ergibt sich jetzt von selbst. Auf der einen Gruppe steht: das Allgemeine — auf der anderen: das Besondere. Oder auch: dort die Vernunft, hier die Wirklichkeit. Und jetzt endlich zeigt sich, daß die drei Vorkämpfer des Nationalismus letzten Endes alle dasselbe geleistet und entdeckt haben. Indem der Erste behauptet: die Sittlichkeit ist im Staate, der Zweite: die Vernunft ist in der Geschichte, der Dritte: die Menschheit ist in der Nation, sprechen sie übereinstimmend in drei Einzelanwendungen oder Sonderfällen die eine höhere, umfassende Erkenntnis aus: das Allgemeine ist im Besonderen, die Vernunft ist in der Wirklichkeit. Die drei finden sozusagen Lokallösungen eines einzigen umfassenderen Problems. Jetzt endlich, hinterher zeigt sichs, daß Röusseau, Burke und Fichte, der Eine indem er Sittlichkeit und Staat, der Andere indem er Vernunft und Geschichte, der Letzte indem er Mensch158
heit und Nation zusammenbringt, daß sie alle drei sich mit demselben übergeordneten oder Grundproblem herumschlagen, Vernunft und Wirklichkeit zusammenzubringen. Mit anderen Worten, sie alle arbeiten daran, daß transzendente Denken, das dualistische Denken selber zu überwinden, jeder an einer anderen Stelle. Da also liegt ihre tiefste Gemeinsamkeit, da ist der Generalnenner. Aber keiner war sich bewußt gewesen, daß er versuchte, das transzendente und dualistische Denken zu überwinden, daß er am Problem Vernunft—Wirklichkeit, am Problem der Immanenz rang. Und deshalb waren ihre Lösungen nur Teillösungen geblieben, umständlich, lückenhaft, mit allerhand Rückfällen in den Dualismus behaftet, aber keine vollen und endgültigen Lösungen. Denn es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man einen Einzelfall eines Problems anfaßt oder ob man das Problem selber erkennt, anpackt und löst. Bisher waren nur einzelne Brücken geschlagen worden über die Kluft vom Einzelnen zum Staat. Hegel dagegen hat erkannt, um was es wirklich geht, er hat erkannt, daß jene Kluft zwischen Einzelnem und Staat in Wahrheit nichts anderes ist, als die große Kluft zwischen dem Allgemeinen und Besonderen, zwischen Idealem und Realem, zwischen Vernunft und Wirklichkeit; es ist die Kluft des dualistischen Denkens selbst. Und da, am Riß zwischen Denken und Leben, zwischen Himmel und Erde packt er an, nicht um die Kluft bloß zu überbrücken an dieser oder jener Stelle, sondern um sie überhaupt ein für allemal zu schließen, so daß fortan das Leben ungehindert herüberund hinüberströmen könne in ewigem Wechsel. Hegel findet die erlösende Erkenntnis: Was wirklich ist, das ist vernünftig, und was vernünftig ist, das ist wirklich. (Wirklich, nicht existent 1) Hegel setzt Vernunft und Wirklichkeit einander gleich, er schließt im Ernste und für immer den Hiatus zwischen Himmel und Erde, zwischen dem Ewigen und Vergänglichen, dem Unveränderlichen und Veränderlichen, dem Unsterblichen und dem Sterblichen, kurz dem Absoluten und Relativen. Sie sind jetzt völlig eins. Indem er an Stelle des abstrakten, dualistischen, das konkrete, dialektische Denken setzt, fuhrt er alle transzendenten Werte in immanente über. Nach dem, was wir ge159
hört haben, ist es wohl klar, daß in dem einen Satze: was wirklich ist, das ist vernünftig, und was vernünftig ist, das ist wirklich, die drei Teil- oder Vorlösungen des Problems Einzelner und Staat sich vereinen, zusammenströmen und sich versöhnen zu einer einzigen Lösung. Jetzt sieht man, wie Hegel die Gedanken Rousseaus, Burkes und Fichtes in sein System zusammengezogen und aufgenommen hat. Jetzt sieht man, daß erst und allein durch das immanente Denken, das nationale Denken wahrhaft vollendet und gesichert ist. Diese letzte Behauptung mag abstrakt klingen, vielleicht auch wird sie als Überschätzung philosophischen Denkens empfunden. Wir glauben durchaus nicht, das sei abstrakt, wie wir auch nicht glauben, die Philosophie bleibe eine Angelegenheit harmlos abseitsstehender Käuze. Alle wahrhafte Philosophie ist Wirklichkeit und Leben. So steht das dualistische Denken nicht nur in den Büchern, es steht mit Blut und Eisen in der abendländischen Geschichte geschrieben. Der Gegensatz von Vernunft und Wirklichkeit drückt sich aus als der Gegensatz von Kirche und Staat, als der große Kampf zwischen Papst und Kaiser im Mittelalter, als die Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert. Da ist in einer dualistisch gespalten gedachten Welt der Kirche die Sorge um die Seele und das Jenseits, dem Staat die um den Leib und das Diesseits zugewiesen, da ist der Staat der „weltliche Arm", die nur zeitliche und irdische oder gar die brutale und sündhafte Macht, welche von der Wahrerin und Spenderin der ewigen Güter, der Kirche, gezähmt erst Richtung und Weihe empfängt. Transzendentes Denken äußert sich im „Recht" des Widerstandes gegen den Staat unter Berufung auf eine überstaatliche, höhere Instanz. Es ist noch im 18. Jahrhundert die weltbürgerliche Staatsfeindlichkeit des Aufklärers oder endlich der vermessene Versuch, den nur historischen Staat zu zerschlagen im Namen des ewigen Natur- und Menschenrechts. — Immanentes Denken dagegen haben wir täglich und leibhaftig um uns im modernen Nationalstaate, der zugleich Recht ist und Macht, geistig und weltlich, Gedanke und Tat, der sein eigenes Gesetz in sich trägt und keinen Herrn kennt über sich in dieser einigen Welt.
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II. Es hat sich gezeigt, daß sowohl der sittliche, wie der historische, wie auch der menschheitliche Nationalgedanke in dem übergeordneten Hegeischen Gedanken von der Einheit des Vernünftigen und des Wirklichen zusammengefaßt, in ihn eingegangen und in ihm enthalten sind. Es bleibt aber noch zu untersuchen, zunächst, was denn Hegel unter der Identität von Vernunft und Wirklichkeit versteht, wie diese aufzufassen sei, was also Immanenz bedeutet. Ferner ist der Satz: das Wirkliche ist vernünftig, doch etwas allgemein gefaßt; er enthält zwar den oder die nationalen Gedanken, wir haben sie ja selbst in ihn gewissermaßen hineinschlüpfen und eingehen sehen — also sind sie in ihm enthalten. Er enthält den nationalen Gedanken in sich, wie der Kern den ganzen Baum enthält. Aber der Kern ist noch nicht der Baum. Man muß also den Hegeischen Kernsatz erst sich entfalten, besondern, auseinanderlegen lassen, damit er zu dem vielfältig einigen Nationalgedanken sich wiederum entwickle. Wir gehen damit den umgekehrten Weg als im vorigen Abschnitt. Dort wurden die verschiedenen Momente des Nationalismus in den einen Kemsatz zusammengeführt, hier werden wir aus dem einen Kernsatz die verschiedenen Momente herausführen, herauswachsen lassen. Das ist die Aufgabe. Was nun den ersten Punkt, die Immanenz angeht, sind wir zu dem Schlüsse, daß die Vernunft in der Wirklichkeit ist, nicht außer oder über ihr, dadurch gekommen, daß wir die Erkenntnisse von Rousseau, Burke und Fichte einfach addiert und zusammengefaßt haben zu dem Hegelschen Gesamtergebnis. Das ist aber durchaus nicht der Weg, den Hegel selbst gegangen ist. Er ist statt unseres vereinfachten, einen sehr viel schwierigeren, längeren aber sichereren Weg gegangen, den der Logik. Vielleicht weiß der Leser schon von seiner Entdeckung, daß die Gegensätze zwar Gegensätze sind unter sich, aber nicht gegen die Einheit, von der Grundtriade Sein — Nichtsein — Werden, von der dialektischen Methode. Sonst mag er sich darüber unterrichten, bei Hegel selbst oder bei Cuno Fischer oder bei Benedetto Croce. Unsere Aufgabe hier kann es nicht sein, Hegels Logik kennenzulernen, das würde denn doch V o s s l e r , Nationalgedanke
II
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zu weit abführen. Es ist außerdem aber insofern gar nicht nötig, als ohnedies in jedem Teile von Hegels System sein ganzes System enthalten ist. Was also heißt: das Vernünftige ist wirklich ? Zunächst heißt es negativ, wie wir schon wissen, die Vernunft ist nicht außer oder über der Wirklichkeit. Das vorhegelsche und überhaupt das übliche Denken ist abstrakt. Der Verstand zieht von der Menge des Gegebenen einzelne Momente ab, „abstrahiert" sie und bewahrt diese starren Abstraktionen auf. Mit diesen, etwa „das Gute", „das Wahre" usw. operiert er, baut er durch Vergleichen, durch Ein- und Unterordnen und Folgern Systeme auf. Für unser Gebiet die wichtigste dieser ausgebauten Abstraktionen ist das Naturrecht und der Vernunftstaat. Mit ihnen aber und überhaupt mit allem abstrakten Denken ist der Riß da zwischen Ideal und Leben. Der Mensch lebt in einer gedoppelten Welt, einer idealen, die seine wahre Heimat ist, der er durch die ewigen, absoluten, unfehlbaren Gebote unbedingt verbunden ist, und anderseits einer bloß realen Welt der äußeren Notwendigkeit, des Zufalls, der Unvollkommenheit. Sein-Sollen und Sein stehen auseinander. Eine praktische Auswirkung dieses abstrakten Denkens besteht darin, daß der Mensch, als Bürger jener vollkommenen Welt des Geistes niemals aufgehen kann in dem bloß irdischen Staat. Er kann nur versuchen, diese Welt, diesen Staat dem ewigen Vorbild jener Welt, jenes Vernunftsstaates anzugleichen, anzunähern, ohne aber hoffen zu dürfen, jemals damit zum Ziele zu gelangen. Den größten Versuch dieser Art, die Französische Revolution, hatte Hegel miterlebt, und auch was dabei herausgekommen war. Und er hat daraus gelernt, dieses Erlebnis zittert in seiner gesamten Philosophie nach. Vor allem eben indem er immer wieder ablehnt, ein abstraktes Sollen dem konkreten Sein gegenüberzustellen. „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören" lautet eines seiner berühmtesten Worte. Der Gedanke gilt nicht nur im Politischen, sondern auch im Sittlichen. Das starre, das abstrakte du sollst 1 des Kantischen Imperativs hat er verworfen. Eine Forderung, die niemals Wirklichkeit wird, ist eben nicht wirklich, nicht vernünftig, sondern Unsinn, ja Hegel bezeichnet die dualistische Kantische 162
Ethik geradezu als unsittlich. Wie er im Einzelnen den Beweis führt, geht uns hier nichts an. Soweit die negative Seite. Positiv heißt nun der Satz, das Wirkliche ist vernünftig, das Vernünftige ist wirklich, zunächst: die Welt ist beseelt, sie ist durchgeistigt, anderseits, der Geist ist verweltlicht, die Seele ist verkörpert. Das darf man sich aber nicht getrennt oder auch nur trennbar vorstellen, Idee und Wirklichkeit sind eins, ein und dasselbe, eine gediegene Einheit aus einem Guß, nur eben das eine Mal von innen gesehen, das andere Mal von außen gesehen. Idealismus und Realismus werden hier eins. Es gibt keinen „reinen Geist", etwa im luftleeren Raum, in der Abstraktion, über den Wolken, anderseits gibt es nichts, das rein materiell wäre, die Materie für sich allein würde auseinanderfallen, auseinanderstäuben, nur der Geist hält sie zusammen, formt, bildet sie. Es laufen keine Leiber ohne Seele herum, ebensowenig wie Seelen ohne Leiber. Das wissen wir alle; man übertrage nur diese Wahrheit auf die gesamte Welt, und man kommt Hegels Gedanken näher. Überträgt man den Gedanken auf den Staat, so kann man jetzt schon sagen: der Staat ist ein Geistiges, oder richtiger ein Körperlich-Geistiges, aber niemals nur materiell, nur diesseitig, niemals irgendeinem höheren, geistigen Ideellen dienend, untergeordnet, das außer ihm wäre. Er ist selber Verkörperung des Geistes; welchen Geistes wird sich noch zeigen. Diese Beseelung der Welt darf man sich nun nicht polytheistisch vorstellen, so daß in jedem Bach eine Najade, in jedem Baum eine Dryade, in jedem Staat eine Athene oder Roma webt. Es ist vielmehr immer ein und derselbe Geist, der die gesamte Welt durchdringt: es ist die Idee oder das Lebendige, der schöpferische Geist, der Logos, die Vernunft, der Weltgeist, der sich überall offenbart, im Stein, im Tier, im Menschen, im Staat — durchgehend derselbe. — Und doch nicht derselbe. Der Weltgeist, der sich in der Welt verwirklicht — weshalb die Welt denn auch nichts anderes ist als die Verwirklichung des Geistes — er muß sich, um zur Verwirklichung zu kommen, entfalten, zerlegen, besondern, individualisieren. Er ist also eins und doch uneins, vieles, er ist das Allgemeine und doch das ii*
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Besondere. Das ist schon etwas schwieriger, helfen wir uns mit dem bekannten Beispiele der Lilie. Die Lilie ist eins, eine klare Einheit, jeder ihrer Teile gehört zu dieser einen „Persönlichkeit" Lilie. Ebenso ist der Staat eins, geschlossene Individualität, ebenso ist die Welt eins. Die Lilie ist aber zugleich auseinandergefaltet in Teile, in Verschiedenheit, sie ist also zugleich auch Vieles, Wurzel, Stengel, Blatt, Blüte, Stempel usw. Das Eins der Lilienpersönlichkeit und das Viele ihrer Besonderungen ist also ganz dasselbe. Analog ist auch der Staat entfaltet und auseinandergelegt in Mannigfaltigkeit, ist auch der Staat Vieles. Er ist der Fürst, das Parlament, die Richter, das Heer, die Schulen, die Korporationen, schließlich die Bürger, jeder mit seiner Eigenart. Ebenso ist endlich auch die Welt Mannigfaltigkeit und Einheit, Vieles und Eines zugleich. Das Eins der Lilie, des Staats, der Welt hat das Viele, die Besonderung nötig, denn anders als durch sie kann es gar nicht die einige Lilien- oder Staatspersönlichkeit ausdrücken, entwickeln, darstellen, verwirklichen. Wenn man das Beispiel von der Lilie einmal ganz begriffen hat, hat man den Hegeischen Gedanken schon erfaßt. Er sagt, daß man immer nur das Viele, die Besonderung leibhaftig sehen und berühren kann. Sie bekommen wir unmittelbar vor die Sinne, den Geist aber, der in allen den verschiedenen Besonderungen, in Wurzel, Stengel, Blatt usw. wirkt und lebt, kriegen wir nicht vor die Sinne. Er ist als Geist nicht unmittelbar faßbar, so wie man auch die Staatsidee oder die Weltidee, die Weltseele nicht sehen und mit dem Finger berühren kann. Anderseits kann man sie doch wieder berühren. Denn der Geist lebt, und leben heißt für ihn nicht irgendwo oben schweben oder in den Tiefen kauern, sondern sich ganz, völlig, restlos nach außen werfen, heraustreten ins Sinnliche, in die Erscheinung treten, sich entfalten und dauernd offenbaren. Da der Lilienlogos, wie aller Geist, leidenschaftlich leben will, entfaltet, verwirklicht, besondert er sich als Wurzel, Blatt, Blüte und da, in der Besonderung, als Farbe, Härte, Duft können wir den Lilienlogos sehen, berühren, riechen. Ebenso schleudert der Staatsgeist sich selber heraus in die sinnliche Welt, um alles zu entwickeln, herauszustellen, 164
zu entfalten, zu verwirklichen, was in ihm an Möglichkeiten enthalten ist, um in dieser Vielheit und Mannigfaltigkeit ganz herauszutreten, sein ganzes Selbst darzustellen und so zu seiner höchsten Einheit zu gelangen. Da sehen und fühlen wir den Staatsgeist, die Staatsidee, im Fürsten, Staatsmann, Beamten, Soldaten, Bürger, in den Verfassungseinrichtungen, Verordnungen, Gesetzen, Kriegen, Verhandlungen, kurz eben in sämtlichen Äußerungen des Staates. Die Staatsidee entfaltet sich — ebenso wie der Weltgeist sich entfaltet in der gesamten Schöpfung, die er selber ist. Von jener Lilie läßt sich so viel lernen, daß der Staat ein Organismus ist, ein lebendiges Individuum mit schöpferischem Geist. Er ist kein Mechanismus, der sich zusammensetzen, zusammenaddieren oder konstruieren ließe, wie auch eine Lilie nicht zusammenaddiert oder -geleimt ist von außen, sondern von innen heraus einig gewachsen. Der Staat ist nicht nur die Verwirklichung, sondern genauer er ist der Organismus einer Idee. Aus äußeren Momenten wie Not, Schutzbedürfnis, Gemeinsamkeit der Interessen, Geselligkeitstrieb, Herrschaftstrieb u. dgl. läßt er sich nicht ableiten, nicht kausal beweisen. Alle jene Dinge spielen zwar mit, sie sind unentbehrlich für den Staat, ohne sie könnte er nicht bestehen — wie auch eine Lilie die chemischen Substanzen des Bodens, das Sonnenlicht, das Regenwasser unbedingt braucht, aber Lilie wie Staat sind von diesem Material weder mechanisch noch kausal zusammengesetzt, sondern umgekehrt, der schöpferische Lilienlogos wie der Staatslogos benutzen und verwenden das vorhandene Material für ihre Zwecke, zum Aufbau ihrer Entfaltung — sei es Licht und Regen, sei es Not, Furcht, Hoffnung, Liebe, Trieb, Interesse, Gewalt, Einsicht der einzelnen Menschen. Darum ist der Staat nur von innen heraus, aus seiner sich verwirklichenden Idee, seinem Prinzip oder Logos heraus zu verstehen. Aus dem Lilienbeispiel müssen wir noch ein Weiteres entnehmen. Nämlich, die Vernunft, die in der Wirklichkeit ist, ist nicht fertig, sie ist nicht, sie wird. Die abstrakte Vernunft der Rationalisten ist, ist fertig und vollkommen, von Ewigkeit zu Ewigkeit unveränderlich, sich selber gleich 165
schwebt sie über der Erde. Hegels Weltvernunft dagegen, welche statt über in der Wirklichkeit lebt, ja, diese Wirklichkeit selber ist, kann schon deshalb nicht fertig sein und stillestehen, weil sonst mit ihr gleich die ganze Welt und Wirklichkeit fertig wäre und stille stünde, wie das Schloß mit allen seinen Bewohnern im Märchen von Dornröschen. Die Welt als fertige Vernunft hätte gar nichts mehr zu tun, sie wäre tot. Dagegen die Welt als werdende Vernunft hat immer zu tun, sie ist Leben, ist dauernde Schöpfung. Mit anderen Worten, die immanente Vernunft ist nicht starr, sondern Bewegung, Fließen, Entwicklung, Werden, Schöpfen, kurz sie ist ein Prozeß. Nichts steht stille. Übertragen wir das auf den Staat, so erkennen wir, auch der Staat ist nicht, sondern wird, entwickelt sich, lebt, auch er ist ein Prozeß. Er entsteht, wächst, reift, altert, stirbt. Wenn er die ihm innewohnende Idee ganz verwirklicht hat, tritt er ab. In allen seinen Entwicklungsstufen, Altersstufen ist er aber derselbe, es wirkt und äußert sich immer der selbe Geist in ihm, nur eben in verschiedenen Stufen der Verwirklichung, und es sind jeweils die früheren Stufen in den späteren enthalten. Oder, die Idee, die Vernunft, das Prinzip eines Staates — und das ist ein Prozeß — ist nichts anderes als die Geschichte dieses Staates. Will man einen Staat verstehen, so muß man sein Werden, seine Geschichte nachdenken, den Prozeß seiner Verwirklichung. Da, in der Geschichte sieht man den Geist eines Staates in seiner Tätigkeit ganz konkret, in seiner Vielfältigkeit, seiner Entfaltung, in allen seinen Möglichkeiten. So wie der Charakter eines Menschen nichts anderes ist als sein Leben, seine Taten, seine Geschichte; aber der Charakter ist nicht, wie man sich das gerne vorstellt, eine fertige Summe abstrakter Eigenschaften, die man wie in einem Kasten durchs Leben trägt, wobei die allerschönsten Eigenschaften meistens leider keine Gelegenheit finden, sich zu äußern, zur Tat zu werden — das heißt aber auf gut deutsch, sie sind überhaupt nicht vorhanden. Was sich nicht historisch verwirklicht, das heißt, was nicht zur Tat wird, ist nicht da, ist bloß eine leere, hohle Abstraktion. So auch beim Staat — der Staat ist ein historischer Prozeß, daher historisch zu verstehen. So auch beim. Weltgeist, seine Verwirklichung ist 166
die Weltgeschichte, in ihr offenbart er sich in seiner Entwicklung. Noch ein letztes Wort zur Immanenz. Hegel sagt, es ist ein und dieselbe Vernunft, die die gesamte Wirklichkeit durchdringt, ja ist, wenn auch in sehr verschiedenen Besonderungen, Individualisierungen; dort etwa als Pflanze, dort als Mops, hier als denkender Mensch. Darauf beruht aber überhaupt das Verstehen der Wirklichkeit. Wenn der Botaniker die Pflanze versteht, sie nachdenkt, so begegnen sich das Verwandte: die unbewußte Vernunft der Pflanze wird da von der bewußten Vernunft des Botanikers erkannt, wiedererkannt, die Vernunft erkennt, daß sie sich selber gleich ist, sie kommt als Botaniker hinter ihre eigenen, sehr klugen Schliche, die sie als Pflanze vollführt hat und freut sich dieses Wiedersehens, daß sie sich selber bewußt wird. Genau so verhält es sich, wenn man über den Staat nachdenkt. Da handelt es sich darum, daß die subjektive Vernunft in ihrer Gestalt als Staatstheoretiker die objektive Vernunft in ihrer Gestalt als Staat wiedererkennt, sich selbst erkennt als mit sich selbst identisch. Oder, nachdem die Vernunft in meinem Kopf — die subjektive — dieselbe Vernunft ist, die objektiv im Staate verwirklicht ist, gilt es zu zeigen, daß die von mir vernünftig ausgedachte Staatsidee dieselbe ist, wie die objektive Staatsidee der sogenannten Wirklichkeit. Das heißt, ich komme zum Ergebnis, daß der wirkliche Staat vernünftig ist, meiner subjektiven Vernunft entspricht. Diese Vernunft macht mich frei — indem ich der Staatsvernunft gehorche, gehorche ich jetzt meiner eigenen Vernunft. Hier und dort, in meinem Kopfe und Staate ist dieselbe Vernunft. Beim Historiker endlich kommt die ganze Sache in Bewegung, wird zum Prozeß. Da heißt es dann, der logische Prozeß im Kopf des richtigdenkenden Historikers und der historische Prozeß der sogenannten Wirklichkeit decken sich, sind sich gleich. Der Historiker findet die Vernunft in der Geschichte, wie der Staatswissenschaftler die Vernunft im Staate findet, eigentlich: wiederfindet. Soviel über die Immanenz. Wir mögen aus diesen Andeutungen eine ungefähre Vorstellung bekommen haben, was und wie 167
unendlich viel der eine Gedanke bedeutet, die Vernunft ist in der Wirklichkeit, nicht außer ihr. Er bedingt eine grundsätzlich neue Weltbetrachtung und eine grundsätzlich neue Art des Denkens selbst. Was uns aber hier unmittelbar angeht, ist, daß schon die bloße allgemeine Entwicklung des Satzes, was wirklich ist, das ist vernünftig, und was vernünftig ist, das ist wirklich, auch über den Staat schon eine Reihe grundlegender Erkenntnisse bringt. Der Staat erkennt keine Instanz über sich — wie etwa Moral, Vernunftrecht u. dgl. — sie sind als hohle Abstrakta alle gefallen, bzw. sie sind immanent geworden und in den Staat eingegangen. Der Staat ist damit wirklich souverän, autonom, er trägt sein eigenes Gesetz in sich selbst. Ferner, der Staat ist die Verwirklichung einer Idee, eine geschlossene Individualität. Der Staat ist ein Organismus; weiter, der Staat ist ein historisches Wesen, lebendiger Prozeß. Endlich — zum Ausgangspunkte zurückkehrend — der Staat ist vernünftig und als vernünftig erkennbar. Dieser letztere Gedanke ist es, den Hegel ausgeführt und ausgearbeitet hat in seiner Rechtsphilosophie. Damit gehen wir zum zweiten Teile unserer Aufgabe über. Da heißt es gleich in der Vorrede: „So soll denn diese Abhandlung . . . nichts anderes sein, als der Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen. Als philosophische Schrift muß sie am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu wollen. Die Belehrung, die in ihr liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie er, das sittliche Universum, erkannt werden soll — Hic Rhodus, hic saltus. — Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft." Und nun entwickelt er aus der Vernunft den ganzen Staat, baut ihn streng logisch auf aus e i n e m Begriff, dem Begriff der Freiheit, der Sittlichkeit. Der Ausgangspunkt ist das Dasein der Intelligenz als Individuum. Die Intelligenz trägt in sich die Allgemeingültigkeit und Freiheit. Das Individuum ist also zugleich, und besonders in Rücksicht auf seinen Willen als ein Allgemeines anzuerkennen. „Der Einzelne ist nach seinem reinen Willen ein allgemeines Wesen", heißt es. Das erinnert sehr an Rous168
seau, der ja auch gesehen hatte, daß der Einzelne nicht in sich ein- und abgeschlossen ist, sondern einen allgemeinen Willen, eine volonté générale in sich hat, durch welche er über die Grenzen seines Ichs hinausragt, mit der Gemeinschaft verbunden ist, selber ein Stück Gemeinschaft ist. Der allgemeine Wille ist das Überindividuelle im Einzelnen, durch ihn werden die Einzelnen zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen. Dasselbe sagt auch Hegel. Aber — und da ist der Unterschied — bei Rousseau wird dieser allgemeine Wille erst durch den Einzelnen gesetzt, von ihm geschaffen und die Einzelnen verbinden sich erst durch Vertrag bewußt und künstlich hinterher zur Gemeinschaft, zum Staate, zu einer von ihnen allen ausdrücklich anerkannten, gutgeheißenen, geschaffenen Willensgemeinschaft. Bei Hegel dagegen tritt das individualistische Moment viel mehr zurück. Das Allgemeine wird nicht erst von den paktierenden Einzelnen übereinstimmend gesetzt, sondern es ist gewissermaßen vorher da, es ist die Voraussetzung der Wirklichkeit der Einzelnen, von diesen unabhängig. Oder vielleicht deutlicher so : die Übereinstimmung im Urteilen, Handeln, Willen der Vielen kommt nicht durch Übereinkunft und Vertrag zustande, sondern sie rührt daher, daß die Vielen nur Individualisierungen, Besonderungen ein und derselben Vernunft, ein und desselben Vernunftwillens sind, der sich in den Einzelnen verwirklicht. Also nicht der Einzelne schafft den vernunftgemäßen Allgemeinwillen, sondern umgekehrt, der vernunftgemäße Allgemeinwille schafft die Einzelnen, verkörpert, verwirklicht sich in den Einzelnen. So wie Lilienblatt, Lilienstengel und Lilienwurzel nicht erst übereinkommen, daß sie sich in einem gemeinsamen Lilienwillen zu einer einigen Lilienpersönlichkeit erst zusammenschließen wollen, sondern umgekehrt, weil der eine Lilienlogos sich in Blatt, Stengel und Wurzel verwirklicht, individualisiert hat, deshalb ist in Blatt, Stengel, Wurzel derselbe, der allgemeine Lilienlogos, Lilienwille gegenwärtig; daher, vom Einen und Ganzen, nicht erst von den Teilen stammt die Einheit, das Verbindende, das Allgemeine in den Vielen. Hegel sagt: „Die Besonderheit oder Einzelheit des Menschen steht der Allgemeinheit des Willens nicht im Wege, sondern ist ihr 169
untergeordnet. Eine Handlung, die rechtlich oder moralisch oder sonst vortrefflich ist, wird zwar von einem Einzelnen getan, aber alle stimmen ihr bei: sie erkennen also sich selbst oder ihren eigenen Willen darin." Das heißt, der Einzelne, der eine gute, vernünftige Tat vollbringt, ist nur Organ, Tätigkeit der einen Vernunft, des einen Allgemeinwillens, der in uns allen lebt, dessen Verkörperung wir alle sind. Mit dieser Allgemeinheit des Willens ist die Grundlage gegeben, auf der die gesamte Rechtsordnung bis hinauf zum Staate sich erheben kann. Es geht bei Hegel ziemlich genau so weiter wie bei Rousseau. Das Entscheidende, das Wesentliche und das Ewige im Staate ist immer wieder die Übereinstimmung des Einzelwillens mit dem Allgemeinwillen, des subjektiven Willens mit dem objektiven Willen, des Besonderen mit dem Allgemeinen. Daraufkommt alles an. Der Satz, mit dem Rousseau den Zwiespalt von individueller Freiheit und staatlichem Zwange versöhnt: der Gehorsam gegen das Gesetz, das du dir selbst gegeben, ist Sittlichkeit, ist Freiheit, dieser Satz drückt auch Hegels Gedanken von Sittlichkeit, Freiheit und Staat aus. Allerdings, er vertieft ihn wieder so, daß das individualistische Moment, der Subjektivismus, wie er bei dem Schweizer noch nachwirkt, gedämpft wird. Denn nicht der Einzelne gibt sich aus eigener Machtvollkommenheit das Gesetz, sondern die im Staate wirkende überindividuelle Vernunft gibt das Gesetz, ist selber das Gesetz. Für den Einzelnen und dessen Freiheit genügt es, daß er das Gesetz als vernünftig erkennt, auch wenn es ein anderer für ihn aufgestellt hat. So will denn auch Hegel von Volkssouveränität nichts wissen, nicht das Volk, sondern der Staat ist souverän, „der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Ideen", „der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens . . . das an und für sich Vernünftige". „Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit." „Der Staat ist Organismus, das heißt Entwicklung der Idee zu ihren Unterschieden. Diese unterschiedenen Seiten sind also die verschiedenen Gewalten und deren Geschäfte und Wirksamkeiten, wodurch das Allgemeine sich fortwährend . . . hervorbringt und . . . erhält. Dieser Organismus ist die politische Verfassung, sie geht ewig aus dem Staate hervor, wie er sich 170
durch sie erhält." Hegel meint also, nicht das Volk als amorphe Masse, ebensowenig etwa der Fürst, aber auch nicht die nackte, abstrakte Idee der Freiheit, sondern die verwirklichte, verkörperte, organisierte Idee der Freiheit und Sittlichkeit, der Staat als Organismus ist souverän, nicht seine Teile und auch nicht seine von dem Organismus getrennte Idee oder Seele. In diesem großen, geschlossenen geistig-irdischen Organismus steht der Einzelne drin, unlösbar verbunden, als ein kleines Organ an seine bestimmte Stelle gesetzt, wie eine einzelne Zelle im Organismus der Lilie. Gewiß lebt der Einzelne für das Ganze, ist dem Irdisch-Göttlichen des Staates unbedingt untergeordnet — aber das Verhältnis, die Verbindung des Einzelnen zum Ganzen ist damit nicht erschöpft, ist nicht einseitig, nicht nur Pflicht, sondern ebenso Recht. Denn so wie der Einzelne nur durch das Ganze lebt, die Zelle nur durch die Lilie, so lebt auch umgekehrt das Ganze nur durch die Einzelnen, die Lilie nur durch die Zellen. Denn nur durch die Einzelnen kann sich das Ganze verkörpern, verwirklichen, entfalten. Das Wesentliche — und damit kommen wir zum Ausgangspunkt zurück — sowohl für den pflanzlichen Organismus der Lilie wie für den sittlichen Organismus des Staates besteht darin, daß der Lebenswille, die volle Entfaltung der Einzelzelle übereinstimmt mit dem Lebenswillen, der vollen Entfaltung des Ganzen, daß das Besondere mit dem Allgemeinen harmoniere. Es handelt sich also nicht um die Zermalmung, Unterdrückung des Einzelnen durch den Staat, sondern um die Entfaltung des Staates durch die Entfaltung des Einzelnen. Nur dadurch, daß die Wurzelzelle die Freiheit hat, sich zur Wurzel zu entwickeln, und die Blattzelle zum Blatt, dadurch entwickelt sich der Lilienlogos zur Lilie. Die Eigenentfaltung steht da nicht g e g e n die Gesamtentfaltung, sondern sie sollen zusammenfallen in eines. „Das Wesen des neuen Staates ist, daß das Allgemeine verbunden sei mit der vollen Freiheit und Besonderheit und dem Wohlergehen der Individuen. Das Allgemeine muß also getätigt sein, aber die Subjektivität auf der anderen Seite ganz und lebendig entwickelt werden. Nur dadurch, daß beide Momente (d. h. Gemeinwohl und Privatwohl) 171
in ihrer Stärke bestehen, ist der Staat als ein gegliederter und wahrhaft organisierter anzusehen." Kommen die Einzelnen mit ihren Einzelzwecken nicht auf ihre Rechnung, so hängt der Staat in der Luft. Bis hierher, in der Rechtsphilosophie, zeichnet Hegel den Staat überhaupt, den vernünftigen, modernen Staat an sich, aber nicht diesen oder jenen besonderen Staat, daher noch nicht eigentlich den nationalen Staat. Letzteres geschieht erst in der Geschichtsphilosophie. — Hegel lehrt, die Weltgeschichte ist die Verwirklichung, Entwicklung der Weltvernunft. So wie sich nun die Lilienvernunft, um sich zu verwirklichen und zu entwickeln, besondert, so besondert, individualisiert sich der Weltgeist, und zwar in diesem Falle in Volksgeister, Nationen. Die Volksgeister ihrerseits entfalten sich wieder, blühen, entwickeln und verwirklichen sich. Der Staat bildet da gleichsam den Körper, den sich ein besonderer Volksgeist gibt. „Da der Geist eines Volkes, das alle seine Verhältnisse durchdringende Gesetz, die Sitte und das Bewußtsein seiner Individuen ist, so hängt die Verfassung eines bestimmten Volkes überhaupt von der Weise und Bildung des Selbstbewußtseins desselben ab. Jedes Volk hat deswegen die Verfassung, die ihm angemessen ist und für dasselbe gehört." In dem Volksgeist spricht sich ein einheitliches geistiges Prinzip aus, das sich gleichmäßig durch alle Lebensäußerungen des Volkes, seinen staatlichen Organismus, wie seine geistigen Hervorbringungen realisiert. Aber nicht auf einmal, plötzlich, sondern im Lauf der Geschichte entwickelt sich der eine Volksgeist von der Jugend zu Reife und Alter, zu einer Nationalkultur inklusive Nationalstaat. Das hängt also alles zusammen durch denselben Nationalgeist, ist alles aus demselben Volksgeist hervorgewachsen. „Der Geist handelt wesentlich, er macht sich zu dem, was er an sich ist (d. h. in seiner Möglichkeit, potentiell ist) zu seiner Tat, zu seinem Werk. So der Geist eines Volkes; sein Tun ist, sich zu einer vorhandenen Welt zu machen, die auch im Räume besteht. (D. h., sich zu verwirklichen, wie der Kern zum Baum.) Seine Religion, Kultus, Sitten, Gebräuche, Kunst, Verfassung, politische Gesetze, der ganze Umfang seiner Einrichtungen, seine 172
Begebenheiten und Taten, das ist sein Werk, — das i s t d i e s V o l k . " „Was ihre Taten sind, das sind die Völker." Hier also verbindet Hegel Kultur und Politik, Nationalkultur und Nationalstaat aufs engste und tiefste miteinander durch den Gedanken, daß beides, Kultur und Staat eines Volkes, Ausdruck, Emanationen, nur verschiedene Seiten ein und desselben Volksgeistes sind. Sie gehören zusammen nicht wie Leib und Seele nach der christlichen Vorstellung und auch der des rationalistischen Dualismus, wobei die Seele das Göttliche und Herrschende, der Leib nur das Irdische und Dienende ist, sondern sie gehören zusammen wie Rosenblatt und Rosendorn. Beide sind gleichermaßen notwendige Verwirklichungen ein und desselben Rosen- bzw. Volksgeistes. Also eine fremde Verfassung, einen fremden Staat, einem Volke aufzwingen, überstülpen, geht nicht, denn die Verfassung ist geschichtlich bedingt, sie ist die Arbeit von Jahrhunderten, der Ausdruck einer bestimmten Altersstufe eines bestimmten Volksgeistes und nur dieses einen Volks. Der Volksgeist einer Nation hat das Recht, die Pflicht, den Willen, zu leben, sich zu leben, sich auszudrücken, bis er sich ganz ausgedrückt hat. Das ist seine Mission in der Weltgeschichte: sich zu verwirklichen, restlos, rücksichtslos. Hat er das getan, stirbt er. Über sich einen Herrn erkennt er nicht an. Und doch gibt es einen solchen Herren: den Weltgeist, die Weltgeschichte, die das wahre Weltgericht über die Nationen ist. Denn der Volksgeist, der sich souverän verwirklicht in seinen Taten, ist seinerseits wieder nur eine Verwirklichung, Besonderung des Weltgeistes. Jede Nation drückt e i n e Seite, ein Prinzip, eine Entwicklungsstufe des Weltgeistes aus. Indem eine Nation sich selbst verwirklicht, verwirklicht sie daher den Weltgeist selbst — aber nicht den ganzen Weltgeist, nur eine bestimmte Entwicklungsstufe desselben. Hat sie das vollbracht im Kampf gegen die anderen Nationen, so tritt sie ab und die nächst höhere Vernunftstufe verkörpert sich in einem anderen, überlegenen, siegreichen Volk. Auf diese Weise, durch den Aufstieg, Kampf, Untergang der souveränen Nationen in der Weltgeschichte verwirklicht, entwickelt sich die Weltvernunft fortschreitend von Stufe zu Stufe der Freiheit 173
entgegen. Dasjenige Volk, das jeweils die letzte und höchste Bewußtseinsstufe des Geistes ausdrückt, sie vollstreckt, ist das welthistorische Volk, das „herrschende" seiner Epoche in Hegels, die Menschheitsnation in unserer Sprache. In diesem Sinne ist nach Hegel die Menschheit in der Nation. Die Nation ist die höchste und souveränste Individualisierung des allgemeinen Welt- und Menschheitsgeistes. Dieser verwirklicht sich nicht in einer allgemeinen, amorphen, abstrakten Summe von Menschen, sondern in der organischen Besonderung der Nationen, oder besser, in dem Wechselspiele, dem Kampfe und der Aufeinanderfolge der souveränen Nationen. Allerdings — und das ist eine offenkundige und oft getadelte Gezwungenheit in Hegels großartiger Konzeption von der Weltgeschichte als der fortschreitenden Selbstverwirklichung der Weltvernunft vermittelst der' sich bekämpfenden und ablösenden Nationen — Hegel will nur vier Völker als die Träger der vier aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen des Weltgeistes anerkennen: das orientalische, das griechische, das römische und das germanische Volk. Hier liegt noch eine Gewaltsamkeit vor, wenn auch gemildert gegenüber Fichtes Auffassung. Unserem heutigen Empfinden jedoch — und wohl auch dem wahren Geiste der Hegeischen Philosophie — entspricht es nicht, nur vier auserwählte Völker, sondern alle großen Nationen als einmalige, unersetzliche, unverlierbare Besonderungen, Individualisierungen des einigen Menschheitsgeistes, ' der einigen Menschheitsbildung anzuerkennen. Jede große Nation, nicht nur die außerwählte, drückt die Menschheit aus auf ihre eigene Weise und jede ist insofern Menschheitsnation.
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RANKE
Gerade das Bedenken, das zuletzt noch gegen Hegels Lehre erhoben werden mußte, daß nämlich alle Nationen, nicht nur vier als Besonderungen der Menschheit und insofern als Menschheitsnation zu gelten haben, bezeichnet den Einwand, den Ranke gegen den Philosophen macht. Ranke schiebt an dieser einen Stelle das universale Moment, das bei Hegel im letzten Augenblicke doch wieder das Nationale zu drücken schien, weiter zurück und er läßt dem nationalen Moment freieren Raum, mehr Selbständigkeit gegenüber dem immer noch zu starren und zu schematischen Gange der Hegelischen Weltvernunft. Wegen diesen Unterschiedes, der freilich tief in dem geistigen Charakter und Temperament der beiden begründet liegt und auch ins Persönliche hinüberspielte — Hegel und Ranke waren Kollegen in Berlin — glaubte sich der Historiker in einem prinzipiellen Gegensatze zum Philosophen. Er, mit seiner scheuen, heiligen Ehrfurcht vor der Wirklichkeit glaubte die Empirie verteidigen zu müssen gegen die spekulative Methode, mit der Hegel die objektive Wirklichkeit vergewaltigt habe. Etwas Richtiges ist an diesem Gegensatze ohne Zweifel; aber er ist von den Historikern in treuer Verehrung für ihren großen Meister so oft nachgesprochen und gar vergröbert worden zu einer öde antiphilosophischen Haltung, daß man sich nachgerade daran gewöhnt hat, Hegel und Ranke als Antipoden zu betrachten. Das aber sind der geniale Philosoph und der geniale Historiker in Wirklichkeit durchaus nicht. Gottlob — denn es müßte wahrhaftig schlimm stehen um die Philosophie oder um die Geschichtswissenschaft oder um beide, wenn wirklich ein solcher Gegensatz zwischen ihnen vorläge. Es ist vielmehr auch so, daß da, wo Ranke von Hegel abweicht und ihn übertrifft, indem er tatsächlich der historischen Wirklichkeit besser und freier zu ihrem Recht, zur Anerkennung 175
verhilft, daß er da einfach noch Hegelischer ist als Hegel selber. Er hat eben noch feiner, noch zarter und geschmeidiger die Vernunft eingehen lassen in die historische Wirklichkeit als jener es vermocht hatte. So kann man denn ruhig sagen — trotz der Proteste Rankes — daß die Hegelische Philosophie ihre glänzendste Anwendung auf die Geschichtswissenschaft und ihre fruchtbarste Bewährung gerade durch diesen größten Historiker aller Zeiten erfahren hat. Die klassische Rankesche Geschichtschreibung ist eine geniale Anwendung Hegelischer Erkenntnisse. Und so wird man auch Hegels Staats- und Nationalgedanken, der schon die vorhergehenden einzelnen nationalen Thesen in sich aufgenommen hatte, bei Ranke vollständig und noch weiter verfeinert wiederfinden. Eine grundsätzlich neue These hatte der Historiker dem Nationalismus nicht mehr hinzuzufügen. Wohl aber hat er ihm die lebendige Anschauung gegeben, wie keiner vor ihm und nach ihm. Was die früheren Denker erst mühsam und angestrengt Stück um Stück hatten entdecken, deduzieren, konstruieren und postulieren müssen und was Hegel endlich in einer Synthese zu Einem gefügt hatte, Ranke sieht es, er schaut es an. Er zeigt es uns mit gelassener Sicherheit, wie es frei, leicht und kräftig sich regt und einhertritt, streitet und wächst, tätig ins wirkende Leben verstrickt, seines Ursprungs kaum noch gedenkend. Jetzt erst hat der Nationalismus seine wahre Vollendung erreicht, da er Wirklichkeit geworden ist, da nicht mehr einseitig von dem nationalen Gedanken die Tat gefordert wird, sondern auch umgekehrt die nationale Tat den nationalen Gedanken offenbart. Nicht so sehr durch die vorausgegangene und durch bewußte Theorie als durch die Wirklichkeit seiner Zeit kann Ranke den nationalen Gedanken erkennen, ablesen, wie er wirklich ist. Zuerst erhebt sich die Frage, wo, in welchen Werken und ferner, bei welcher Gelegenheit zeigt sich die nationale Auffassung des Historikers ? Rankes Nationalidee ist selbstverständlich in allen seinen Schriften enthalten, und das nicht nur nebenbei, sondern als tragendes, bestimmendes Moment seiner Forschung. Nur freilich können wir hier jene großen Werke nicht untersuchen. Besonders heraus176
gestellt dagegen, konzentriert gewissermaßen und ausdrücklich erörtert hat Ranke seine Staats- und Nationalidee vor allem in vier Aufsätzen, „Frankreich und Deutschland", „Über die Trennung und Einheit von Deutschland", „Politisches Gespräch" und endlich „Die Großen Mächte". Alle vier sind in den dreißiger Jahren entstanden, zwischen 1832 und 1836 und alle sind geschrieben für Rankes „HistorischPolitische Zeitschrift". Damit kommen wir auf die Gelegenheit, deutlicher, auf die Absicht dieser Abhandlungen. Die politische Lage in den dreißiger Jahren ist dadurch gekennzeichnet, daß das Abendland noch einmal wie zu Zeiten der Revolutionskriege sich in zwei geschlossene Lager zu spalten droht, in das demokratisch-liberale auf der einen, das konservativ-autokratische auf der anderen Seite. Jenes vertreten durch das Frankreich der Juli-Revolution, durch das England der Reform-Bill, durch das unabhängig gewordene Belgien — dieses durch Österreich, Preußen und Rußland, eben erst siegreich in der Unterdrückung der polnischen Freiheitsbewegung. Das Wichtige aber und Bedrohliche gerade in Rankes Augen ist, daß diese beiden großen Parteien über die Staatsgrenzen hinweg quer durch ganz Europa hindurchgehen wollen, daß es übernationale, internationale Parteischeidungen sind, daß sie in allen Staaten und Nationen dieselbe Spaltung hervorrufen. Überall steht die freiheitliche Partei des Volkes gegen die autokratische Partei der Fürsten. Diese Spaltung fängt auch schon an, in Deutschland zu erscheinen, insbesondere infolge der Pariser JuliRevolution, die in Kassel, Braunschweig, Sachsen und anderswo Echo und Nachahmung gefunden hat. Dagegen nun, gegen die internationale Parteischeidung innerhalb Deutschlands wendet sich Ranke — und zwar, was schon durch den Standort bedingt ist, ausdrücklicher gegen die liberaldemokratische „Internationale" mit ihrer „unwiderstehlich furchtbaren Gewalt" als gegen die reaktionär-autokratische „Internationale", die er aber auch nicht billigen kann. Gegen den Gedanken der übernationalen liberal-autokratischen Spaltung stellt nun Ranke als Gegenkraft den Gedanken der staatlichen Geschlossenheit, der nationalen Autonomie und Eigengesetzlichkeit. „Wenn man sich überredet hat, die Interessen der Fürsten seien allenthalben den bourbonischen Vossler, Nationalgedanke 12
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gleich, die Interessen der Völker dem Interesse der Französischen Revolution, so ist das ein ungeheurer, der Wahrheit der Dinge schnurstracks zuwiderlaufender Irrtum." „Unsere Lehre ist, daß jedes Volk seine eigene Politik habe." Das also ist, aus der politischen Situation der Jahre nach der Juli-Revolution erwachsen, das fundamentale Gegensatzpaar, in dem Ranke Stellung nimmt: Nationales Denken gegen übernationale Ideale, Verteidigung der deutschen Nationalunabhängigkeit auf dem Gebiete der politischen Lehre gegen die Ansteckung durch die menschheitlichen Gedanken, die im Juli 1830 noch einmal von Paris ausgezogen sind und Deutschland zu überschwemmen drohen. Das ist in einer konkreten historischen Situation und in einer neuen Abwandlung der alte, uns von Anfang an beschäftigende Zwiespalt Rationalismus — Nationalismus, der noch einmal ausgetragen wird. Sehen wir also den Nationalgedanken an, den Ranke dem universalistischen Denken seiner liberalen und auch reaktionären Feinde entgegenstellt. Dabei äber folgen wir nicht dem jeweiligen Gedankengange der vier Aufsätze, sondern ordnen lieber zusammenfassend nach unserem Interesse und nach dem uns geläufigen Schema des sittlichen, des historischen und des menschheitlichen Momentes. Daß Ranke die erste These, den sittlichen Nationalgedanken, überhaupt aufnimmt, könnte überraschen. Ist doch mit dem zuerst von Rousseau entwickelten Gedanken des Werde selber Staat, Nehme Teil an ihm, Gehe ein in ihn, Gehorche dem Gesetz, das du dir selbst gegeben, oder nach Hegel, das in dir selber spricht, vollende deine Selbstbestimmung und Persönlichkeit in der Mitarbeit an der politischen Gemeinschaft, der Staat ist in dir selbst, nicht außerhalb — ist doch darin eine demokratische Note unlösbar enthalten. Und Ranke ist nun gewiß nicht ein Freund der Demokratie, der Volkssouveränität oder des Parlamentarismus. Um so auffallender ist es, daß er trotzdem den sittlichen Staatsgedanken ergreift und daß er sogar sehr entschlossen den Einzelnen mit dem Staate verschmilzt. Die allgemeine theoretische Staatslehre freilich, wie sie etwa Rousseau entwickelt, die Doktrin vom Naturzustand, vom Ursprung des Staates, vom Gesellschaftsvertrag usw. läßt der Historiker einfach 178
weg. Diese Dinge, meint er, liegen jenseits unserer Wahrnehmung. „Echte Politik muß eine historische Grundlage haben, auf Beobachtung der mächtigen und in sich selbst zu namhafter Entwicklung gediehenen Staaten beruhen." Kurz, er geht induktiv, nicht deduktiv, empirisch, nicht spekulativ vor — aber er kommt dabei zu einer ebenso innigen Verbindung des Einzelnen mit dem Ganzen wie der Genfer, der dreiviertel Jahrhunderte zuvor diese Verbindung erst allgemein hatte fordern müssen, nicht aber anschauen können, wie das der spätere, im inzwischen verwirklichten Nationalstaat lebende Deutsche tun kann. Und indem Ranke einfach versucht, „den Staat zu begreifen, den wir vor Augen haben", stellt er fest: „Das reine Privatleben ist schon nicht mehr vorhanden. Unsere Thätigkeit gehört an und für sich hauptsächlich dem Gemeinwesen an." Darauf die Frage im Politischen Gespräch: „Was empfängt aber der Privatmann hinwieder für alle seine Theilnahme ?" „In dem rechten Staat ist sie selbst seine Belohnung; er denkt nicht daran, sich ihr zu entziehen: er sieht die Nothwendigkeit ein; es giebt für ihn keine rein private Existenz. Er würde nicht sein, der er ist, wenn er nicht diesem bestimmten Staate, als seinem geistigen Vaterlande, zugehörte." — „Ist aber, frage ich dich, diese Freiwilligkeit der Hingebung wohl auch in demselben Grade in der Welt vorhanden wie jene Forderung ?" — „Ich bin weit entfernt, das zu behaupten. Ich sehe Länder, w o man seine Pflicht ungern, widerstrebend erfüllt, — z. B. Italien. Der Staat macht auch da . . . starke Anforderungen persönlicher und realer Leistung; unglücklicherweise kann er es nicht dahin bringen, daß man ihm eine freiwillige Thätigkeit widmet. Der Bürger fühlt die Verpflichtungen, die ihm aufgelegt sind, als eine Last; er sieht sich als überwältigt und bezwungen an: dem Dienste entzieht er sich so viel wie möglich; eben darum kann es zu jener Einheit privater und öffentlicher Bestrebungen nicht kommen, die den wahren Staat charakterisirt; — ich fürchte, dadurch tritt zuletzt selbst in der moralischen Energie eine Hemmung ein; auch die private Thätigkeit entwickelt sich nicht, wie sie könnte und sollte. .. .Daher",so geht es weiter, „muß das vornehmste Bestreben der inneren Politik dahin gerichtet sein, alle Theile in freiwilliger Einheit zusammen12*
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zufassen." „ — Und worauf scheint dir diese Verbindung . . . jedes Einzelnen mit dem Ganzen zu beruhen ?" — „ A m Ende doch darauf, daß die Idee des Staates einen Jeden ergreife, daß er von dem geistigen Leben desselben etwas in sich fühle, daß er sich als ein Mitglied des Ganzen betrachte und Liebe dazu habe, daß das Gefühl der Gemeinschaftlichkeit stärker sei als das G e f ü h l . . . lokaler oder individueller Absonderungen." So werde sich „die Zwangspflicht zur Selbsttätigkeit, das Gebot zur Freiheit erheben". — „Auch in gewöhnlichen Tagen würdest du Patriotismus fordern ?" — „Da muß er gepflegt werden, damit er in den ungewöhnlichen nicht fehle; in gewissem Sinne muß er das Princip der Thätigkeit überhaupt sein." — „Du machst den ganzen Menschen zu einem politischen Geschöpf." — „Ich bin überzeugt, von der Wahrheit des Antheils, den man, ich sage nicht an den Formen der Verfassung, aber an dem Fortgange der öffentlichen Wohlfahrt, an dem gemeinen Wesen nimmt, hängt die Entwickelung auch der persönlichen Eigenschaften ab." Ranke führt dann gegen den etwas skeptischen aber schließlich doch zum Überzeugt-Werden prädestinierten Frager aus, daß eine unmittelbare, formelle Teilnahme, Mitberatung, Mitbeschluß der Einzelnen am Staate, also die parlamentarische Form nicht nötig sei — wenigstens nicht in Deutschland — und daß es genug andere Formen der Mitarbeit gebe. Freiwilligkeit der Mitarbeit aber sei das Entscheidende. „Diese Freiwilligkeit vergütet jede Leistung. Überhaupt fallen private und öffentliche Bestrebungen von höherer Ansicht aus wieder zusammen. Die privaten bekommen Schwung und Antrieb durch den Fortgang der öffentlichen; das öffentliche Glück entspringt aus dem privaten. In Allen muß das geistige Selbst des Staates leben." Wir wollen nun gewiß nicht behaupten, daß Ranke, um diese hier zitierten Sätze zu schreiben, erst im Contrat Social von Rousseau habe nachlesen müssen. Es sind zwischen dem Schweizer spekulativen Revolutionär und dem deutschen historisierenden Konservativen sehr tiefgehende Unterschiede, ja Gegensätze vorhanden, so offensichtliche, daß sie gar nicht erst aufgezeigt zu werden brauchen. Um so bedeutender ist es, daß trotzdem die beiden gerade in dem Gedanken übereinstimmend sich treffen, 180
auf den es uns hier ankommt und den wir als den wesentlichen betrachten müssen, nämlich in dem Gedanken der sittlichen Verschmelzung von Einzelnem und Staat. Wenn Ranke trotz seiner Ablehnung demokratischer Verfassungsformen erkennt oder fordert, daß der Widerpsruch von Zwangspflicht und Selbsttätigkeit, von Gebot und Freiheit versöhnt und aufgehoben werde in der freiwilligen, eingesehenen und selbstgewollten Hingabe an den Staat, wenn er sagt, daß der Einzelne nur ein Teil der Gemeinschaft ist, daß er sie und deren Gebot und Prinzip in sich selber trage, daß die Persönlichkeit ihre moralische Kraft nur in der Mitwirkung am gemeinen Wesen vollenden könne, daß der wahre Staat die Einheit privater und öffentlicher Bestrebungen sei, daß in Allen derselbe Geist des Staates leben müsse, ich meine, da ist es nicht schwer, solche Sätze in die Sprache Rousseaus zurückzuübersetzen, denn man hört noch deutlich genug die Grunderkenntnisse des Genfers durchklingen. Wir wiederholen, an eine Abhängigkeit des Historikers von dem Schweizer braucht man durchaus nicht zu glauben, es soll nur behauptet werden, daß die ersten Grundforderungen des Nationalismus, die 1762 unerhört revolutionär aufgetreten waren, 75 Jahre später selbst im konservativen Lager heimisch geworden, legitim und anerkannt sind. Sie haben gesiegt. Im Einzelnen umgestaltet, gewiß, vor allem aber entscheidend vertieft, verfeinert und außerordentlich bereichert. Damit kommen wir zum zweiten, zum historischen Moment in Rankes Nationalidee. Das ist bei Ranke selbstverständlich die am kräftigsten, klarsten und originellsten ausgearbeitete Seite. Ranke, wiederum empirisch von der Anschauung ausgehend, unterscheidet — ohne sie zu trennen — was wir Kulturnation und Staatsnation genannt haben. Das ist schon dadurch gegeben, daß die damalige deutsche Kulturnation eine Mehrzahl von Staatsnationen enthält oder trägt. Die Kulturnation, bei uns vor allem durch die Blüte unserer Literatur zu stolzem Glanz erhoben, geeint und bewußt geworden, betrachtet Ranke als den Ausdruck, die Äußerung und das Werk des Volksgeistes — ähnlich Hegel, ähnlich den Romantikern. Dieser Volksgeist wirkt unbewußt, er durchdringt alle Tätigkeiten seiner Kinder bis ins kleinste. 181
Als Beispiel wird ein französischer Diener erwähnt, der weit in der Welt herum verschlagen nun in Berlin lebt, und trotz seines kosmopolitischen Lebenslaufs „ist er nicht in jeder seiner Bewegungen ein alter Franzos ? So bewegt er die Arme, wenn er auf der Straße geht, so faßt er die Lampe an; so gebehrdet er sich, wenn ihm etwas Unerwartetes begegnet; so sind seine Gefühle, vielleicht (Ranke ist vorsichtig) seine Gedanken." Dieses erste kleine Beispiel aufs Große angewandt, heißt es weiter: „Unser Vaterland ist mit uns, in uns. Deutschland lebt in uns, wir stellen es dar, mögen wir wollen oder nicht, in jedem Lande, dahin wir uns verfügen, unter jeder Zone. Wir beruhen darauf von Anfang an und können uns nicht emancipiren. Dieses geheime Etwas, das den Geringsten erfüllt, wie den Vornehmsten, — diese geistige Luft, die wir aus- und einathmen, — geht aller Verfassung vorher, belebt und erfüllt alle ihre Formen." Dieses deutsche Vaterland, das in uns ist, von welchem hier Ranke spricht, dieses geheime Etwas, diese geistige Luft, sagen wir, diese nationale Tradition, in der wir mit allem unserem Tun stehen, die uns alle von vornherein erfüllt, sie bedeutet ein geistiges Wesen, ein geistiges aber völlig unpolitisches Vaterland; ihm gegenüber spielt der subjektive Wille, ja sogar das subjektive Bewußtsein, gar keine Rolle — es lebt und wirkt, ob wir wollen oder nicht. Um einen Staat — der wesentlich Wille ist — handelt es sich bei diesem geheimen Etwas ganz und gar nicht, es ist nicht nur ein geistiges, sondern ein sehr zartes, unbestimmtes, nicht zu fassendes und nur in seinen Auswirkungen, Schöpfungen anzuschauendes oder hinter ihnen zu ahnendes Wesen subtilster Natur. Ranke wehrt sich auch dagegen, diesen alles durchdringenden Volksgeist etwa zu bestimmen, zu definieren, zu abstrahieren. „Wer will jemals in den Begriff oder in Worte fassen, was deutsch sei ? Wer will ihn bei Namen nennen, den Genius unserer Jahrhunderte, der vergangenen und der künftigen? Es würde nur ein anderes Phantom werden, das uns nach anderen falschen Wegen verführte." Man solle sich daher hüten, „die Fahne einer eingebildeten Deutschheit aufzustecken." Daher weist Ranke diejenigen, die zu seiner Zeit auf Grund des deutschen Volksgeistes, Nationalgeistes gleich unmittelbar einen 182
entsprechenden deutschen Nationalstaat haben wollen, vorsichtig mahnend zurück. Dieser verborgen wirkende Volksgeist mache nicht allein und unmittelbar den Staat; mit anderen Worten, jene Vergröberung des nationalen Gedankens, die wir im ersten Kapitel erwähnt und abgelehnt haben, daß nämlich jede Kulturnation ihren entsprechenden Nationalstaat habe, daß Sprachgrenze und politische Grenze sich decken sollen, weist auch Ranke zurück — wieder — nach seiner Art, auf Grund historischer Beobachtung. „Es scheint", so lautet die Frage im Politischen Gespräch, „als fielen dir Nationalität und Staat zusammen." — „Das ist doch weniger der Fall, als man glauben sollte. Die Nationen haben eine Tendenz, Staat zu sein; doch wüßte ich keine einzige, die es wirklich wäre." Und er nennt Beispiele, Frankreich, England, Deutschland, wo jedesmal die Grenzen der Kulturnation und die des Nationalstaates differieren. „Woher leitest du diese Erscheinung ab ? Auf Nationalität (wir würden sagen Nationalkultur) müßte doch, deiner Idee zufolge, der Staat sich gründen." — „Der Staat ist seiner Natur nach bei weitem enger geschlossen als die Nation; er ist eine Modification wie des menschlichen so auch des nationalen Daseins." Damit geht Ranke über vom Volksgeist, von der Kulturnation zur Staatsnation, zum eigentlichen Nationalstaat. Er kennt sehr wohl die staatsbildende Kraft des Volksgeistes, der Nationalkultur, aber er kennt ebensowohl, ja noch besser, die nationbildende Kraft des Staates. Die nicht bloß erdachte und chimärische, sondern wesentliche und vorhandene ist ihm die im Staate ausgesprochene Nationalität. Nun kommt die Frage, wodurch diese Modifikation zustande komme, diese Modifikation der Kulturnation durch den engeren Nationalstaat, die sich — Ranke denkt dabei vor allem an das Verhältnis Deutschland—Preußen — verhalten wie das Genus zur Species. „Nur in der Species erscheint das Genus, es hat keine andere Möglichkeit der Erscheinung." Nun, die Modifikation des Nationalen im Staate, in Staaten, ist historisch zu betrachten, zu verstehen. Staaten sind, soweit wir sehen, immer schon da. Z u ihrem Entstehen, Wachsen, Vergehen wirken „Natur der Dinge und Gelegenheit, Genius und Glück" zusammen. Vor allem 183
im Kampfe nach außen, um sich gegen seine Nachbarn zu behaupten und durchzusetzen, bildet sich der Charakter, die Eigenart eines Staates. Also die auswärtige Politik, das Zusammenleben mit seinesgleichen in Kampf, Sieg und Niederlage spielt für die Besonderung des Staates eine ausschlaggebende Rolle — auch für seine innere Organisation. „Das Maß der Unabhängigkeit giebt einem Staate seine Stellung inderWelt; es legt ihm zugleich die Notwendigkeit auf, alle inneren Verhältnisse zu dem Zwecke einzurichten, sich zu behaupten. Dies ist sein oberstes Gesetz." Also bis hierher sind Staaten in dem Ringen der Geschichte entstandene und ausgebildete, durchgebildete, Kampf- und Machtorganisationen mit dem obersten Gesetze der Selbstbehauptung. Und da kommt die Frage, die sehr naheliegende Frage: „ D u scheinst mir eine militärische Tyrannei zu begünstigen." — »Wie wäre es möglich, daß jemals eine großartige Stellung erworben würde, ohne freiwilliges und vollkommenes Zusammenschließen aller Glieder !" Das also weist zurück auf die sittliche Staatsidee, die hier in den Machtstaat hineinfließt und ihn durch ihre moralische Kraft erst wahrhaft mächtig macht. Dann geht es aber weiter in der Antwort — „Durch die geheime Wirksamkeit zusammenhaltender Ideen bilden sich allmählig die großen Gemeinschaften." Also nicht nur Macht, nicht nur Sittlichkeit, sondern auch die geheime Wirksamkeit zusammenhaltender Ideen bilden den Staat im Verlauf der Geschichte. „Alle die Staaten, die in der Welt zählen und etwas bedeuten, sind erfüllt von besonderen, ihnen eigenen Tendenzen. . . . Diese Tendenzen sind geistiger Art und der Charakter aller Mitbürger wird dadurch bestimmt, ihnen unauslöschlich aufgeprägt. Durch die Verschiedenheiten, welche hieraus entspringen, werden die Formen der Verfassung .. allenthalben anders modificirt. Von der obersten Idee hängt alles ab. Das will es sagen, wenn auch die Staaten ihren Ursprung von Gott herleiten. Denn die Idee ist göttlichen Ursprungs. — Jeder selbständige Staat hat sein eigenes ursprüngliches Leben, das auch seine Stadien hat und zugrunde gehen kann, wie alles, was lebt, aber zunächst seinen ganzen Umkreis erfüllt und beherrscht und mit keinem anderen gleich ist." — „In diesem Sinne verstehst du es, daß die Staaten 184
Individuen seien ?" „Individualitäten, eine der anderen analog, — aber wesentlich unabhängig von einander . . . geistige Wesenheiten, originale Schöpfungen des Menschengeistes, — man darf sagen, Gedanken Gottes." Ursprünglich, primär ist demnach das eigentümlich geistige Dasein des individuellen Staates, sein Prinzip, welches Prinzip aber nicht eine Abstraktion, sondern das innere Leben des Staates ist. Man braucht hier wohl nicht erst an Hegel zu erinnern, an seine Lehre vom Staate als der Verwirklichung einer besonderen Idee. Und nun zuletzt noch die Menschheitsnation. Das ist bei Ranke nicht mehr e i n auserwähltes Volk vor allen anderen, sondern die Menschheit kann sich gar nicht anders ausdrücken als in Nationen, wie das Genus nur in den Species zur Erscheinung kommt. Lassen wir lieber Ranke selber sprechen: „Warum gibt es endlich verschiedene Staaten? Ist es nicht darum, weil es verschiedene gleichgute Möglichkeiten derselben gibt ? Die Idee der Menschheit, Gott gab ihr Ausdruck in den verschiedenen Völkern. — Ein großes Volk sowie ein selbständiger Staat wird nicht allein daran erkannt, daß es seine Feinde von den Grenzen abzuwehren wisse. Die Bedingung seiner Existenz ist, daß es dem menschlichen Geiste einen neuen Ausdruck verschaffe, ihn in neuen, eigenen Formen ausspreche und ihn neu offenbare. Das ist sein Auftrag von Gott." So sieht Ranke die Menschheit geordnet und verwirklicht nicht durch entschiedenes Vorwalten einer einzigen Nation, noch auch durch die Vermischung aller, denn sie würde das Wesen einer jeden vernichten. Aber „aus Sonderung und reiner Ausbildung wird die wahre Harmonie hervorgehen. Eine Harmonie freilich nicht der fertigen Vollkommenheit und Ruhe, sondern der sinnvollen Bewegung, wie sie die Geschichte zeigt". „Fasse aber auch diese Wesenheiten in ihrer vollen Bedeutung ins Auge I So viel gesonderte, irdischgeistige Gemeinschaften, von Genius und moralischer Energie hervorgerufen, in unaufhaltsamer Entwickelung begriffen, mitten in den Verwirrungen der Welt durch innern Trieb nach dem Ideal fortschreitend, eine jede auf ihre Weise. Schaue sie an, diese Gestirne, in ihren Bahnen, ihrer Wechselwirkung, ihrem Systeme 1" 185
NACHWORT
M i t Ausnahme eines Kapitels sind die Ausführungen dieses Buches aus einer Vorlesung an der Leipziger Universität hervorgegangen. Sie wollen ihre Entstehungsart nicht verleugnen, weshalb denn auch die sprachliche Form nur wenig verändert erscheint. Wenn darauf verzichtet worden ist, gelegentliche didaktische Überspitzungen zu mildern, flüchtige Andeutungen auszuführen und Noten und Belege einzufügen, so deshalb, weil dieser Umriß auch nicht zum Scheine Ansprüche erheben soll, die ihm nicht anstehen. Der durchgehende Gedanke — der, auf den es ankommt —hätte durch solche Einzelkorrekturen weder an Klarheit, noch an Festigkeit wirklich gewonnen. Da aber, wo Belege ernstlich notwendig gewesen wären, nämlich zu der von den überkommenen Auffassungen abweichenden Deutung Rousseaus, hätten bloße Noten und Zusätze niemals genügt. Da kann nur auf eine umfassendere und eingehende Sonderunter suchung des Genfers vertröstet werden, die der Verfasser noch zu geben hofft. Der Leser wird vielleicht fragen, warum Moser und Herder nicht zu Worte kommen. Sind sie doch die großen Entdecker und Künder des Volkstums, das bei uns Deutschen eine so innige und wesentliche Verbindung mit dem Nationalgedanken eingegangen ist wie bei kaum einem anderen Volke; sucht man doch heute bewußter denn je das staatliche Leben auf die ewigen Quellen des Volkstums zurückzuführen; auch auf die hohe Bedeutung Herders für das nationale Denken der slavischen Völker ließe sich hinweisen. Allein, gerade das, was unseren Nationalbegriff kennzeichnet, ja ausmacht, nämlich die Verknüpfung des Volkstums mit dem politischen Willen, der Durchbruch des Völkischen in die staatliche Sphäre stammt nicht von Herder, dessen staatsferne, gelegentlich gar staatsfeindliche Haltung ihn eindeutig genug tn die Kulturgeschichte verweist. Auch 186
Moser trennt noch zu sehr das eigentlich politische Moment von dem kulturellen, als daß er 2u den großen Erweckern des neuen Willens gezählt werden könnte. Es ist vermieden worden, bei der Betrachtung des Vergangenen die Beziehungen zur Gegenwart jeweils ausdrücklich hervorzuheben. Denn nicht durch „Parallelen", durch abgezogene „Lehren" oder „Nutzanwendungen" im Einzelnen soll eine künstliche und äußerliche Verbindung mit unseren Tagen gesucht werden — sondern dadurch, daß die Fragestellung selbst aus dem Erleben der Zeit erwächst, soll die Geschichte Gegenwart, Leben und Fruchtbarkeit gewinnen. Dann aber bleibt es dem Leser überlassen, aus der geschichtlichen Erkenntnis seinen Gewinn fürs Heutezu ziehen. Dabei möge er. freilich bedenken, daß die Antworten, die er hier zu hören bekommt, ein volles Jahrhundert und meist noch länger zurückliegen, daß er einen historischen Rückblick nur auf die Anfänge des Nationalgedankens vor sich hat. Der Rückblick endet mit Ranke, die Entwicklung des Nationalgedankens aber geht weiter bis heute. Leipzig, Dezember 1936. O.V.
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aWajjittiS Vulitifrf)cö ^ e n f e i t »ttb S o l l e n in bctt geizigen Strömungen feinet fteit VON OTTO
VOSSLER
94 Seiten. 8°. 1927. RM. 3.60 I n h a l t : Praktischer Grundzug von Mazzinis System und Plan der Untersuchung - Das unmittelbare Programm Mazzinis - Ursprung von Mazzinis politischem Programm aus der Situation der beginnenden Dreißigerjahre Geistige Grundlage von Mazzinis System; der italienische Nationalgedanke vor Mazzini - Die Literatur im Dienste der Politik Mazzinis - Die Literatur als Quelle politischer Ideen - Die Geschichte im Dienste der Politik Mazzinis Die Geschichtsphilosophie - Herders Einfluß auf Mazzini - Die Geschichtsphilosophie der Saint-Simonisten - Das soziale Programm im Dienste der Politik Mazzinis - Die Religion im Dienste der Politik Mazzinis - Die Ethik im Dienste der Politik Mazzinis - Der Staat Mazzinis - Die Nationalitätslehre Mazzinis - Mazzini und Fichte - Zeittafel - Literaturverzeichnis. „Die Arbeit hat unsere Kenntnis der geistesgeschichtlichen Entwicklung Mazzinis, auch gegenüber der bisherigen italienischen Forschung, wesentlich erweitert."
Historixbe Zdtsdmfi
aittcrtfaiiifdjcii iWeliolutimitfi&eaie in intern »erljättntö $u ben etm>4>äiföett untetfudjt an Sljontaä ^efferfon VON OTTO
VOSSLER
201 Seiten. 8°. 1929. RM.7.50 I n h a l t : Der Geist der amerikanischen Revolution - Die zeitgenössische radikale Auffassung der Amerikanischen Revolution in Europa - Jeffersons politisches Denken vor dem Pariser Aufenthalt (Vor 1784) - Jefferson in Paris (1784-1789): Der Wandel seines politischen Denkens - Eindringen der französischen Revolutionsideen in Amerika und Jeffersons Sieg - Text der Unabhängigkeitserklärung in Jeffersons Entwurf - Literaturverzeichnis. „Wer amerikanische Politik zu verstehen sucht, muß immer wieder zu den beiden Männern zurückgehen, die im Kampf gegeneinander am Anfang der amerikanischen Staatenbildung stehen: Hamilton und Jefferson . . . Der Verfasser öffnet uns mit seiner sorgfältigen und feinsinnigen Arbeit den Blick in die Werkstatt der Jeffersonschen Ideologien. Es sp. icht für ihn, daß er an einem Gegenstand, der schon so abgegriffen schien, noch so viel Licht aufblitzen lassen kann" . . . Historische Zeitsdmfl
R. O L D E N B O U R G • M Ü N C H E N 1 U N D B E R L I N