Der Mensch zwischen Weltflucht und Weltverantwortung: Lebensmodelle der paganen und der jüdisch-christlichen Antike 3161530918, 9783161530913, 9783161530920

Die Beiträge des vorliegenden Bandes leuchten die kulturellen, historischen und religiösen oder philosophischen Muster u

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Der Mensch zwischen Weltflucht und Weltverantwortung: Lebensmodelle der paganen und der jüdisch-christlichen Antike
 3161530918, 9783161530913, 9783161530920

Table of contents :
Cover
Inhaltsverzeichnis
Heinz-Günther Nesselrath / Meike Rühl: Einleitung
Adolf H. Borbein: Bürger in der Polis. Das Menschenbild der klassischen griechischen Kunst
Heinz-Günther Nesselrath: Ein homerischer Held in Konflikt mit der Welt? Achill zwischen Flucht und Verantwortung in der Ilias und in späterer griechischer Rhetorik
1. Einleitung
2. Weitere Verweigerung oder Rückkehr in die Verantwortung? Die Debatte im neunten Buch der Ilias
3. Die große Nachwirkung dieser Debatte in der späteren Rhetorik
4. Der Appell an den Gemeinsinn: Die 16. Rede des Aelius Aristides
5. Das geschädigte Individuum beharrt auf seinem Recht: Libanios’ 5. Deklamation
6. Schluss
Michael Erler: Weltverantwortung und Weltflucht bei Platon und im Platonismus
1. Einleitung
2. Transformation des Politikbegriffes
3. θεωρία, ein politischer Begriff
4. Sokratische Weltverantwortung
5. Zusammenfassung
Bibliographie
Primärquellen
Sekundärquellen
Henrik Mouritsen: ‘Pagane Lebensmodelle?’ Gods, pietas, and maiores in the Roman republic
Bibliography
Meike Rühl: Flucht nach vorne. Politische und literarische Positionierungen am Ende der römischen Republik
1. Methodische Überlegungen
2. Das Ende eines Fluchtversuchs
2.1. Kopf und Hände: Die Relikte eines Cicero
2.2. Flucht oder Verantwortung? Wort oder Tat?
3. Flucht nach Athen
3.1. Die Iden des März und die litterae
3.2. Inoffizielles Offizielles
3.3. Die res publica ruft
4. Der präsente Cicero
4.1. Ciceros Kunst des Selbstbildnisses
4.2. Vom Selbstbild zum Vorbild
5. Fazit: Ausstellungsstücke
Bibliographie
Jula Wildberger: Simus inter exempla! Formen und Funktionen beispielhafter Weltflucht in der frühen Kaiserzeit
1. Einleitung: Unheroische Heroen
2. Rückzugsgründe
3. Kommunikation aus der Mitte konzentrischer Kreise
4. Therapeutische Funktionen
Bibliographie
Philip Davies: Halakhah and Apocalyptic
1. ‘Two streams’
2. Halakhah as an all-embracing perspective
3. Apocalyptic and the culture of manticism
4. Instructions, mantic wisdom and empiricism
5. Halakhic and apocalyptic in opposition
6. The final perfection?
Bibliography
Samuel Vollenweider: Weltdistanz und Weltzuwendung im Urchristentum
1. Zum Auftakt: Bürger zweier Welten
2. Begriffsklärungen
3. Schlaglichter auf urchristliche Entwicklungen
4. Lichtwerdung und Verfinsterung: Das Johannesevangelium
5. Der Raum des Kosmokrators: Kolosser- und Epheserbrief
6. Schluss
Bibliographie
Andreas Müller: Weltflucht und Weltverantwortung im spätantiken Mönchtum nach der Historia Lausiaka des Palladios von Helenopolis
1. Einleitung
2. Einleitung zur Historia Lausiaka
3. Aspekte von Weltverantwortung in der Historia Lausiaka
3.1. Asketen als Verteiler von Gaben
3.2. Institutionen für Fremde und Bedürftige
3.3. Der Asket als Anwalt
3.4. Asketen als Wunderheiler
3.5. Zu den Motivationen der Wohlfahrt
3.6. Verzicht auf Reichtum insbesondere bei Frauen
4. Der Adressat der Historia Lausiaka
5. Die Intentionen der Historia Lausiaka
6. Schluss
Bibliographie
Claudia Rapp: Die unvollständige Weltflucht des frühen Mönchtums
1. Unvollständige Weltflucht im täglichen Leben
2. Unvollständige Weltflucht im Seelenleben
3. Unvollständige Abwendung von der Welt der klassischen Antike
4. Weltflucht als Ideal
Bibliographie
Martin Tamcke: Das Menschenbild der kirchlichen Synoden bei den Ostsyrern zwischen Weltverantwortung und Weltflucht
Indices
1. Index nominum
2. Index rerum

Citation preview

Studien und Texte zu Antike und Christentum Studies and Texts in Antiquity and Christianity Herausgeber/Editors Christoph Markschies (Berlin) Martin Wallraff (Basel) Christian Wildberg (Princeton) Beirat/Advisory Board Peter Brown (Princeton) · Susanna Elm (Berkeley) Johannes Hahn (Münster) · Emanuela Prinzivalli (Rom) Jörg Rüpke (Erfurt)

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Der Mensch zwischen Weltflucht und Weltverantwortung Lebensmodelle der paganen und der jüdisch-christlichen Antike Herausgegeben von

Heinz-Günther Nesselrath und Meike Rühl

Mohr Siebeck

Heinz-Günther Nesselrath ist Professor für Klassische Philologie an der Universität Göttingen. Meike Rühl vertritt die Professur für Klassische Philologie mit dem Schwerpunkt Latein/ Mittellatein an der Universität Osnabrück.

e-ISBN PDFF 978-3-16-153092-0 ISBN 978-3-16-153091-3 ISSN 1436-3003 (Studien und Texte zu Antike und Christentum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2014 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

Inhaltsverzeichnis Heinz-Günther Nesselrath / Meike Rühl Einleitung ..................................................................................................... 1 Adolf H. Borbein Bürger in der Polis. Das Menschenbild der klassischen griechischen Kunst ................................ 7 Heinz-Günther Nesselrath Ein homerischer Held in Konflikt mit der Welt? Achill zwischen Flucht und Verantwortung in der Ilias und in späterer griechischer Rhetorik .................................................................... 13 Michael Erler Weltverantwortung und Weltflucht bei Platon und im Platonismus ............ 31 Henrik Mouritsen ‘Pagane Lebensmodelle?’ Gods, pietas, and maiores in the Roman republic ...................................... 47 Meike Rühl Flucht nach vorne. Politische und literarische Positionierungen am Ende der römischen Republik ............................................................... 63 Jula Wildberger Simus inter exempla! Formen und Funktionen beispielhafter Weltflucht in der frühen Kaiserzeit .............................................................................. 85 Philip Davies Halakhah and Apocalyptic ........................................................................ 111

VI  Samuel Vollenweider Weltdistanz und Weltzuwendung im Urchristentum ................................. 127 Andreas Müller Weltflucht und Weltverantwortung im spätantiken Mönchtum nach der Historia Lausiaka des Palladios von Helenopolis ...................... 147 Claudia Rapp Die unvollständige Weltflucht des frühen Mönchtums ............................. 167 Martin Tamcke Das Menschenbild der kirchlichen Synoden bei den Ostsyrern zwischen Weltverantwortung und Weltflucht ........................................... 181 Indices ..................................................................................................... 189

Einleitung Heinz-Günther Nesselrath / Meike Rühl Der hier vorgelegte Band vereinigt Beiträge des 12. Internationalen Symposions des an der Georg-August-Universität Göttingen beheimateten Graduiertenkollegs „Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder: Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike“, das unter dem Titel „Menschenbilder zwischen Weltverantwortung und Weltflucht“ am 10. und 11. November 2011 stattfand. Die meisten der auf diesem Symposion gehaltenen Vorträge sind im vorliegenden Band versammelt; der Beitrag von Heinz-Günther Nesselrath wurde hinzugefügt, um auch der Literatur der klassischen griechischen Antike und ihren Nachwirkungen in späteren antiken Epochen einen Platz zu geben. Das so entstandene Panorama reicht von den Epen Homers bis zu den Fährnissen der christlichen Kirche der Ostsyrer im 7. und 8. Jahrhundert n. Chr. Im ersten (hier in verkürzter Form1 wiedergegebenen) Beitrag („Bürger in der Polis: Das Menschenbild der klassischen griechischen Kunst“) zeigt Adolf H. Borbein, wie die Entwicklung der Darstellung des Menschen in den Statuen und auf den Vasenbildern der klassischen griechischen Kunst Rückschlüsse auf das Verständnis vom Einzelmenschen und seinem Platz in der Gesellschaft der griechischen Polis zulässt; die Erfindung des Kontraposts lässt sich dabei als Wiedergabe der dialektischen Aufeinanderbezogenheit zweier Grundkonstanten menschlichen Daseins verstehen, nämlich Gebundenheit und Freiheit. Die Kunst namentlich der griechischen Hochklassik wird so zum Ausdruck sowohl eines Gemeinschaftsgefühls als auch individuellen Selbstbewusstseins. Eine vergleichbare Spannung – diesmal im Medium homerischer Epik und ihrer Fortwirkung durch die ganze Antike hindurch – behandelt der Beitrag von Heinz-Günther Nesselrath („Ein homerischer Held in Konflikt mit der Welt? Achill zwischen Flucht und Verantwortung in der Ilias und in späterer griechischer Rhetorik“). Am Beispiel des Helden Achill wird hier zu zeigen versucht, wie bereits bei Homer ein bedeutendes Individuum in Konflikt mit der Gemeinschaft gerät, der es angehört, und sich von dieser Gemeinschaft 1

  Zum Publikationsort der ausführlichen Fassung vgl. unten S.Seite 7 Anm. 1.

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Heinz-Günther Nesselrath / Meike Rühl

zurückzieht (zumindest für eine bestimmte Zeit), weil es sich von dieser schlecht behandelt fühlt. Ob dieser Rückzug berechtigt ist, wird bereits in der Ilias lebhaft diskutiert, und diese Diskussion wird durch einen der wichtigsten Träger höherer antiker Bildung, der Rhetorik, bis in die Spätantike hinein fortgeführt, wie der Beitrag an zwei Beispielen rhetorischer Kompositionen (einer aus dem 2. und einer aus dem 4. Jahrhundert n. Chr.) erläutert. Dass auch die antike Philosophie sich an der Diskussion, ob der Mensch sich aktiv am gemeinschaftlichen Leben beteiligen oder aber sich von diesem abwenden und eine individuelle Selbstvervollkommnung verfolgen sollte, lebhaft beteiligte, führt zum einen der Beitrag von Michael Erler („Weltverantwortung und Weltflucht bei Platon und im Platonismus“) am Beispiel der von Platon entwickelten und vom Platonismus durch die ganze Antike weitergetragenen Denkrichtung vor.2 Er macht deutlich, dass trotz eines starken Transzendenzbezugs, eines Fortstrebens aus dieser Welt hin zur Welt der Ideen, der platonische Sokrates zugleich aktiven Anteil an den Dingen dieser Welt nimmt und sich geradezu verpflichtet sieht, seinen Mitbürgern als ‚wahrer Politikos‘ zur Verfügung zu stehen. Der Beitrag zeigt ferner, dass auch der spätere Platonismus – bis zu dem im Kerker gestorbenen Boethius – dieser Auffassung treu geblieben ist. Henrik Mouritsen diskutiert in seinem Beitrag „‚Pagane Lebensmodelle?‘ Gods, pietas, and maiores in the Roman republic“, welche Autoritäten und Lebensmodelle das Leben des Bürgers während der römischen Republik bestimmen. Der Römer ist in seiner Selbstwahrnehmung ein essentieller Bestandteil des Gemeinwesens; der zentrale Begriff, der in diesem Gemeinwesen Beziehungen zu übergeordneten Autoritäten charakterisiert, ist der der pietas. Darunter fällt zwar auch die Anerkennung der Götter, sie sind für die römische Kultur jedoch keine normative Instanz. Diese Funktion übernimmt in Rom der mos maiorum, ein Kollektiv von Normen und Werten, die auf vorbildliches individuelles und gemeinschaftliches Handeln in der Vergangenheit zurückgeführt werden. Der Bestand der maiores wird wie das kollektive Gedächtnis jeweils mit dem Fortschreiten der Gesellschaft erneuert und an die aktuellen Lebensumstände angepasst. Bezeichnend ist, dass mit der Etablierung des Prinzipats die normative Kraft der maiores schwindet und alternative Lebensformen und autoritative Instanzen an ihre Stelle treten. Während der mos maiorum eingesetzt werden kann, um Handlungen der Gegenwart durch das Vorbild der Vergangenheit zu legitimieren und die Idee der Kontinuität und des Kollektivs aufrecht zu erhalten, zeigt der Beitrag von Meike Rühl („Flucht nach vorne: Politische und literarische Positionierungen am Ende der römischen Republik“), wie zu einer Zeit des politischen Umbruchs, in der tradierte Werte und Rollen in Frage gestellt werden, der Einzelne zum Maßstab vorbildlichen Handelns stilisiert werden kann. Am 2

  Vgl. hierzu auch unten den Beitrag von Jula Wildberger.

Einleitung

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Beispiel einer geplanten Reise Ciceros kurz nach den Iden des März und der eigenen medialen Inszenierung und der Interpretation wie Rezeption dieses Unternehmens zwischen Flucht und Verantwortung wird vorgeführt, welche Rolle schriftliche Kommunikation bei der Positionierung im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft spielt. Mit philosophisch motivierter Weltflucht und ihrer literarischen Darstellung im frühen Prinzipat beschäftigt sich Jula Wildberger in ihrem Beitrag „Simus inter exempla! Formen und Funktionen beispielhafter Weltflucht in der frühen Kaiserzeit“ und knüpft dabei an die Fragen der Legitimation und Inszenierung menschlichen Handelns der beiden vorangehenden Essays an. Anders als für die Römer der Republik, die sich an dem Vorbild der maiores und an der Gemeinschaft als Handlungsraum orientierten, wird in der Philosophie der Kaiserzeit der Philosoph selbst zum virtuellen Exemplum. Denn er orientiert sich an einem vorbildhaften und von der Gesellschaft zurückgezogenen Selbst, indem er immerfort imaginiert, wie er in einer entsprechenden Situation exemplarisch zu denken und zu handeln hätte. Die Kommunikationsform par excellence für den zurückgezogenen Philosophen ist der Brief, denn er bietet Nähe und Distanz zugleich, da über ihn mit einem direkten Adressaten interagiert, in der Distanz jedoch auch noch mit dem allgemeinen Leser kommuniziert werden kann, und der Philosoph so an der Öffentlichkeit teilhat, ohne den Rückzug von der Gesellschaft aufgeben zu müssen. Unter dem Titel „Halakhah and Apocalyptic“ untersucht Philip Davies zwei Strömungen im antiken Judentum der Zeit nach dem babylonischen Exil; während die Halacha die Auslegung (vor allem) der in der Bibel fixierten Gesetzesvorschriften betrifft, um den Juden in dieser Welt ein Zusammenleben nach Gottes Geboten zu ermöglichen, geht es in der Apokalyptik (die Verwandtschaft mit der Mantik hat) um himmlisch-überirdische Phänomene, die den oft schwer verständlichen Dingen dieser Welt zugrundeliegen. Die unterschiedlichen Sichtweisen dieser beiden Strömungen zeigen sich beispielsweise in ihrer jeweiligen Erklärung des Bösen in der Welt: Während dieses in der Sicht der Halacha durch menschlichen Ungehorsam gegenüber den Geboten Gottes entsteht, führt die apokalyptische Sichtweise es auf eine übernatürliche Kraft zurück, die in die eigentlich gute Schöpfung eingedrungen ist. In Genesis 1–11 stehen bereits beide Sichtweisen nebeneinander und spiegeln ihren Konflikt wider; in anderen Texten (Daniel 9, das „Damascus Document“) werden sie konstruktiv miteinander verbunden. Alle diese Texte sind Zeugen für eine bemerkenswerte geistige Auseinandersetzung zwischen Sichtweisen, die sich um eine Verbesserung dieser Welt bemühen oder aber die Ankunft einer anderen besseren Welt erwarten. Dass es auch im frühen Christentum eine Spannung zwischen einer mehr oder wenigen aktiven Beteiligung an dieser Welt und einer zum Teil sehr radikalen Abwendung von ihr gab, macht der Beitrag von Samuel Vollenwei-

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Heinz-Günther Nesselrath / Meike Rühl

der („Weltdistanz und Weltzuwendung im Urchristentum“) deutlich. Nach einem Blick auf die eloquente Formulierung dieser Spannung im Diognetbrief (spätes 2. Jh. n. Chr.) wird die je unterschiedliche Koexistenz der beiden Tendenzen in verschiedenen Teilgebieten und Nachbarbereichen des Neuen Testaments (Evangelien, Paulusbriefe, Johannes-Apokalypse, Gnosis) skizziert und in zwei abschließenden Fallstudien (zum Johannesevangelium und zu den in der Paulus-Tradition stehenden Briefen an die Kolosser und die Epheser) genauer beleuchtet. Wie mit einer solchen Spannung in wichtigen Bereichen des spätantiken Christentums umgegangen wird, zeigt der Beitrag von Andreas Müller („Weltflucht und Weltverantwortung im spätantiken Mönchtum nach der Historia Lausiaka des Palladios von Helenopolis“). Nach Vorstellung der um 420 n. Chr. entstandenen Historia Lausiaka und ihres Verfassers wird vorgeführt, wie die in diesem Werk dargestellten Asketinnen und Asketen eine Distanzierung von dieser Welt mit einem bewundernswerten sozialen Engagement verbinden und wie gerade ihre Distanz zu dieser Welt ihnen ein besonders effektives uneigennütziges Engagement dieser Art erst ermöglicht. Im Schlussteil werden die intendierten Adressaten des Werkes diskutiert: einflussreiche Angehörige der aristokratischen Hofgesellschaft von Konstantinopel, denen Vorbilder für ein eigenes christliches Lebensideal nahegebracht werden sollen. Die Spannungen und Brüche zwischen eremitischem Mönchtum und der Interaktion mit der Welt thematisiert Claudia Rapp, die ihren Aufsatz deswegen programmatisch mit „Die unvollständige Weltflucht des frühen Mönchtums“ übertitelt. Sie fächert am Beispiel des Mönchtums zwischen dem 3. und 7. Jh. n. Chr. jeweils die soziale Seite und die ideelle Seite einer Flucht vor der Welt in unterschiedlichen monastischen Lebensformen auf. Diese erstrecken sich von vollständiger Zurückgezogenheit über ein semi-eremitisches Leben bis hin zu einem Mönchtum in Gemeinschaft. Diese Ausprägungen tragen in unterschiedlicher Gewichtung den Vorschriften einer religiösen Lebensform auf der einen und den gesellschaftlichen wie ökonomischen Notwendigkeiten auf der anderen Seite Rechnung und haben entsprechende Konsequenzen in Rechtfertigung und Kritik an dieser Lebensform. Dem Verhältnis zwischen realer und göttlicher Welt und des Menschen Platz darin, wie sie in den ostsyrischen Synodalakten des 5. bis 8. Jh.s dargestellt werden, widmet sich schließlich der Beitrag von Martin Tamcke („Das Menschenbild der kirchlichen Synoden bei den Ostsyrern zwischen Weltverantwortung und Weltflucht“). Er erörtert zunächst die Vorstellung einer dichotomen Welt, die in Entsprechung zur ostkirchlichen Christologie etabliert und deren zwei Teile temporal oder räumlich einander gegenübergestellt, in jedem Fall aber klar voneinander getrennt sind. Der gläubige Mensch antizipiert nun bereits in seinem Handeln und Denken die ewige Welt, die re-

Einleitung

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ale Welt mit ihren Fährnissen und zu bewältigenden Notwendigkeiten gilt lediglich als Testfall für die Vernunft des Menschen. Wie im Falle des frühen Mönchtums hat auch dieses Verständnis weitreichende Folgen für eine Uminterpretation sozialer Interaktion: Diesseitiges Handeln findet vor allem in der Kirche einen Ort der Vorbereitung und hat eine Abgrenzung von gesellschaftlich und kulturell etablierten Lebensweisen zur Folge. Insgesamt bieten die elf hier versammelten Beiträge eine Reihe von Einblicken in verschiedene Lebenswelten der klassischen und der nachklassischen, der paganen und der jüdisch-christlichen Antike. Je nach Ort und Zeit sind die Orientierungspunkte unterschiedlich gesetzt und offenbaren Spannungen zwischen Individuum und Gemeinschaft, Distanz und Nähe, Diesseits und Jenseits, Vergangenheit und Gegenwart oder gar Zukunft. Was dabei vielleicht das überraschendste ist und bei aller Unterschiedlichkeit der Zugänge und behandelten Epochen jedoch allen gemeinsam ist, ist der Umstand, dass Flucht vor oder Distanz von der Welt einerseits und Offenheit zur oder Engagement in der Welt oft gar keine sich ausschließenden Gegensätze, sondern immer wieder in je verschiedener Weise verbunden und miteinander gelebt worden sind. Der Mensch braucht offenbar beides: eine Besinnung (und gelegentlich auch einen Rückzug) auf die eigene Individualität und ein Zugehen auf und Sich-Engagieren für oder zusammen mit anderen.3

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  Für Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage sei Christoph Buhl herzlich gedankt.

Bürger in der Polis Das Menschenbild der klassischen griechischen Kunst1 Adolf H. Borbein Die Darstellung des Menschen war das zentrale Thema der bildenden Kunst der alten Griechen. Diese durchaus nicht selbstverständliche Tatsache hängt zusammen mit dem evidenten Anthropozentrismus der griechischen Kultur; nicht zufällig sind das Erfassen der Natur mit menschlichen Begriffen (Aufklärung) und die Analyse menschlichen Verhaltens (Ethik) von griechischen Denkern entwickelt worden. Da die Griechen den Menschen gern nach seinem Verhältnis zu anderen Menschen definierten (als ‚politisches Wesen‘, so Aristoteles) und weniger nach seiner Beziehung zu Göttern, ist die Wiedergabe des Menschen in der Kunst in hohem Maße repräsentativ für gesellschaftliche Vorstellungen und deren Wandel. In der Auseinandersetzung mit der menschlichen Gestalt lassen sich also epochenspezifische Darstellungsinter­ essen fassen, die über das Ästhetische weit hinausgehen – in ihnen drückt sich der Geist der Zeit aus. Den vergleichsweise raschen Wandel des Menschenbildes in ihrer Kunst haben die Griechen offenbar selbst schon beobachtet. Platon hat ihn als keineswegs positiv der weniger neuerungssüchtigen Kunst der Ägypter gegenübergestellt. Durch die Gymnastik muss die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper entscheidend gefördert worden sein. Ziel der Gymnastik war der funktionstüchtige, der kriegstaugliche männliche Körper, und ein solcher Körper war auch ‚schön‘: gut (agathos) im Sinne von Tauglichkeit und schön (kalos) im Sinne von funktionsgerechter Harmonie der äußeren Erscheinung. Allen griechischen Menschenbildern gemeinsam ist daher das Bemühen, den Körper als ein gegliedertes Gebilde, einen organischen Zusammenhang aus einzelnen Elementen zu verstehen und darzustellen.   Kurzfassung. Eine ausführliche Fassung des Beitrags wird erscheinen in den Akten des Internationalen Symposiums „Menschenbilder – Menschenrechte“ , Regensburg, 19.–21. Januar 2012. Ein früherer Versuch zum Thema: Borbein, A. H.: Plastik – das Bild des Menschen in der Kunst, in: Das alte Griechenland. Geschichte und Kultur der Hellenen, hg. v. A. H. Borbein, München 1995, 241–289. 1

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Adolf H. Borbein

Das wird am besten am unbekleideten Körper evident. Die männliche Figur ist daher die Leitform der Menschendarstellung der Griechen. Sie allein kann ohne besondere Begründung nackt präsentiert werden. Dass die Männer sich – bei der Gymnastik – in der Öffentlichkeit nackt zeigten, diese erst in historischer Zeit eingeführte Sitte hielten die Griechen selbst für eine Eigentümlichkeit ihres Volkes. In der griechischen Kunst hat die männliche Nacktheit daher durchaus einen Bezug zur Lebensrealität. Andererseits ist sie eine Darstellungskonvention, die über sich hinausweist: Der nackte Mann ist körperlich tüchtig und schön und darüber hinaus einer von vielen derart Tüchtigen; er ist Mitglied einer Gemeinschaft, die gleichen Idealen verpflichtet ist. Die unbekleidete (männliche) Figur wird so zur Trägerin abstrakter, idealer Vorstellungen. Die griechische Frau zeigte sich vor Fremden niemals entblößt. In der griechischen Kunst begegnen daher ganz oder weitgehend nackte Frauen nur in seltenen und erklärbaren Ausnahmefällen wie Spartanerinnen, die gymnastisch ausgebildet wurden, Hetären, Frauen beim Baden. Die Bekleidung der Frauen in der Kunst ist ebenfalls zunächst als solche gemeint, darüber hinaus hat auch sie eine verweisende Funktion: Der soziale Rang, selbst die Schönheit einer Frau spiegelt sich in ihrer Kleidung. Schon bei Homer beziehen sich rühmende Aussagen über Männer vorwiegend auf deren Körper, auch ihre Rüstung, rühmende Epitheta von Frauen auf deren Tracht. Der eigentliche Körper der Frau aber wird bis in die Epoche der Klassik in Analogie zum Körper des Mannes gestaltet. Erst im 4. Jahrhundert v. Chr. wird – zunächst am Beispiel der Göttin Aphrodite – der spezifisch weibliche Körperbau ein Thema der Bildkunst. Die Darstellung des Menschen als ein artikuliertes Gebilde lässt sich innerhalb der griechischen Kultur bis in die minoisch-mykenische Kunst, ja bis zu den Kykladenidolen zurückverfolgen. Die Kunst der geometrischen Epoche konzipiert (seit dem 8. Jahrhundert v. Chr.) das Bild des Menschen aber neu: In zunächst ‚abstrakter‘ Weise erscheint der Körper als Summe isolierter Einzelglieder – vergleichbar der Beschreibung von Menschen bei Homer –, betont werden die Funktionen der Körperteile und dementsprechend die Gelenkstellen zwischen ihnen. Bereits hier beginnt eine Tendenz zur Ausdifferenzierung der Menschendarstellung, eine Tendenz, die die Entwicklung der griechischen Kunst bis in den Hellenismus begleitet. Auch wenn es scheinen mag, dass ein Streben nach immer naturgetreueren Formen die Entwicklung vorangetrieben hat, wäre es doch falsch, das Erreichen von Naturwahrheit als Ziel und höheren Zweck der Geschichte der griechischen Kunst zu begreifen. Vielmehr hat jede Epoche vollgültige, also nicht defizitäre Kunstwerke geschaffen, und insbesondere die Auseinandersetzung mit der menschlichen Gestalt reflektiert und realisiert eine jeweils zeitspezifische Weltsicht.



Bürger in der Polis

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Erstaunlich ‚realistische‘ Details finden sich bereits bei vielen archaischen Skulpturen unmittelbar neben ‚abstrakten‘ Stilisierungen. Die Kunst der archaischen Epoche zeigt den Menschen nicht mehr bloß als die Summe isolierter Teile; die Einzelglieder und ihre Funktionen sind jetzt eingebunden in ein übergreifendes Ganzes. Deutlicher tritt der Körper als ein Gebilde von eigenem Gewicht in Erscheinung, und dadurch wird auch seine Besonderheit gegenüber anderen Körpern besser erkennbar. Die Gleichartigkeit der geometrischen Figuren wird abgelöst durch stärker differenzierte, individuellere Gestalten. In dieser Zeit ist die Polis als Organisation ihrer Bürger stärker geworden, und ihr Siedlungsraum hat sich verdichtet. Zugenommen hat auch die soziale Differenzierung und damit das Spannungsverhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Im letzten Drittel des 6. Jahrhunderts v. Chr. lässt sich ein gesteigertes Interesse am menschlichen Körper und seinen Fähigkeiten beobachten. Attische Bildhauer und Vasenmaler lieben es, unterschiedlichste Körperstellungen und Bewegungshaltungen vorzuführen. Die Vasenmalerei registriert jetzt auch andere Aspekte der Realität erstmals oder genauer als zuvor: die Landschaft, das Leben auf dem Markt und am Brunnen, die Werkstätten von Handwerkern und weitere Alltagsszenen. Eine neue Sicht der Welt kündigt sich an, eine neue Beurteilung auch der damaligen Lebensumstände. Bisher gültige Konventionen werden infrage gestellt, es beginnt jener Prozess der Umwälzung, der in Staat und Gesellschaft zur Demokratie führt. Um 500 v. Chr. oder kurz danach wird – wahrscheinlich in Athen – jene Erfindung gemacht, die die Darstellung des Menschen in der Kunst revolutioniert: der ‚Kontrapost‘ oder die ‚Ponderation‘. Funktionstüchtigkeit, insbesondere Bewegungsfähigkeit ist wie bei der geometrischen und archaischen Figur auch hier das Ziel der Darstellung. Aber diese Eigenschaften werden nicht mehr zeichenhaft veranschaulicht, sondern unmittelbar sinnfällig gemacht: Wird die Last des Körpers von einem Bein, dem Standbein, getragen, während das andere, das Spielbein, unbelastet am Boden aufruht, entsteht zunächst ein Ungleichgewicht. Es kommt zum Konflikt zwischen der natürlichen Körperschwere, die die Gestalt zu Boden ziehen möchte, und dem gegen die Schwerkraft sich behauptenden Lebensimpuls, also zwischen zwei Grundbedingungen menschlicher Existenz. Dieser Konflikt wird im Körper selbst sichtbar ausgetragen: Verschiebungen, Dehnungen, Kontraktionen und gegenläufige Bewegungen fangen das Ungleichgewicht auf allen Seiten der Gestalt auf, der Mensch behauptet sich gegen die Schwerkraft – er lebt. Muskeln und Glieder erscheinen hier als klar umgrenzte Funktionsteile, die folgerichtig ineinander greifen. Damit ist es gelungen, den Körper in neuer Weise als Funktionsgefüge zu beschreiben: Erstmals werden die Bestandteile des Organismus in ihrem Zusammenwirken vorgeführt, werden ihre Eigenheit und ihre Abhängigkeit voneinander anschaulich gemacht. Bewegungspotenz

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Adolf H. Borbein

und Unterworfensein unter die Schwerkraft, also Freiheit und Gebundenheit, erscheinen wechselseitig aufeinander bezogen. Durch das entlastete Stehen öffnet sich die ponderierte Figur, so dass sie gleichsam Kontakt aufnimmt und bereit scheint zum Dialog. Dialog mit dem Betrachter, aber auch untereinander: Ponderierte Figuren können sich in Aktion und Reaktion sinnfällig miteinander verbinden, ohne ihre Selbständigkeit aufzugeben; sie sind auf Kommunikation hin angelegt. Die dem Kontrapost zugrunde liegende Konzeption steht in einem engen Zusammenhang mit der Revolution des griechischen Denkens und Lebens seit dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. Als repräsentativ dafür können gelten: Heraklit, die Atomisten, die demokratische Verfassung und die hippodamische Stadtplanung. Bei Frauenfiguren zeigt sich die neue Art der Menschendarstellung nicht nur im Kontrapost, sondern auch im Wechsel der Tracht: Der schwere wollene Peplos ersetzt den leichteren Leinenchiton und das reich gefältelte Mäntelchen der archaischen Koren. Dieser Wandel der Mode zeigt einen Wandel des Lebensgefühls an. Einfachheit und Ernst – auch in den Gesichtszügen – bestimmen ein neues Selbstbewusstsein. Es ist die Zeit des ‚Strengen Stils‘. Die Tendenz zu einem insgesamt mehr ‚realistischen‘, auch physiognomische Besonderheiten erfassenden Menschenbild bricht um die Mitte des 5. Jahrhunderts ab. Sie wird in der Epoche der Hochklassik (ca. 450-430 v. Chr.) abgelöst durch ein Bild des Menschen, für das die Statuen des Bildhauers Polyklet repräsentativ sind. Die künstlerische Absicht zielt nicht auf Individuelles, sondern auf Allgemeines, ein homogenes Menschenbild. Polyklet systematisiert den Kontrapost bis in die Haarlocken hinein und steigert ihn zu einer Idealform. Wie die erhaltenen Fragmente seiner Schrift „Kanon“ nahelegen, muss er zudem davon überzeugt gewesen sein, moralische Werte zu veranschaulichen, wenn er ästhetische konstruierte. Ähnlich wie gleichzeitige Sophisten vernünftiges Handeln für lehrbar erklärten oder Staatstheoretiker das politische Leben auf rationale Grundsätze zurückzuführen versuchten, unternahm es Polyklet, ein auf Körpermessungen beruhendes, doch mathematisch bereinigtes Proportionssystem zu entwickeln und zu einem mittleren, alles Zufällige unterdrückenden Maß zu gelangen. Es ging offenbar darum, Leitbilder zu begründen und sie in der sichtbaren künstlerischen Form zu beglaubigen. Die Kunst der griechischen Hochklassik beruht wesentlich auf dem Willen, Exemplarisches zu verwirklichen, und auf der Überzeugung, etwas auch für künftige Generationen Wichtiges zu schaffen. Daraus folgt auch, dass die Kunst sich sehr bewusst in eine Distanz zum täglichen Leben begibt, dass sie Ideale konzipiert, die die Realität überhöhen, ja verbessern sollen. Man versteht dies besser, wenn man bedenkt, dass die politische Situation in Griechenland und speziell in Athen seit etwa der Mitte des 5. Jahrhunderts be-



Bürger in der Polis

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trächtliche Anstrengungen zur Selbstrechtfertigung erforderte. Nachdem die Bedrohung durch die Perser zuende war, bedurfte die Vorherrschaft von Athen wie von Sparta einer neuen Begründung. Athen etwa benutzte die Parole von der Freiheit der Griechen, um innerhalb des Seebundes Unterwerfung zu rechtfertigen. Am Fries des Parthenon und auf gleichzeitigen attischen Vasenbildern erscheinen Figuren mit stark geneigten Köpfen, in leicht schwingender Körperhaltung und mit wie gebremst wirkenden Gesten. Sie lassen den Eindruck einer einheitlichen, wenn auch undefinierten ‚Stimmung‘ entstehen, die die dargestellte Handlung gleichsam überlagert. Zum Ausdruck kommen soll hier wohl die Gleichgestimmtheit derer, die gleichen Idealen verpflichtet sind. Die Reden des Perikles, wie sie Thukydides überliefert, müssen dasselbe bezweckt haben: in Zeiten äußerer und innerer Gefahr ein die Realität verklärendes Gemeinschaftsgefühl und Selbstbewusstsein zu erzeugen. Die Hochklassik hat die Aussage über den Menschen, die die frühe Klassik mit der Erfindung des Kontraposts gemacht hatte, nicht verändert, sondern perfektioniert und zum Ideal, ja zur Utopie gesteigert. Das erleichterte die Herauslösung des klassischen Menschenbildes aus seinem historischen Kontext, seine Rezeption und Wirkung. Diese Rezeption setzte unmittelbar nach dem Ende der Hochklassik ein. Im 4. Jahrhundert v. Chr., im Hellenismus sowie auch in Kultur Roms waren die Menschenbilder der griechischen Kunst des 5. Jahrhunderts Muster und Maßstab. Obwohl das klassische Menschenbild Produkt und Ausdruck einer einmaligen geschichtlichen Konstellation ist, reichte seine Wirkung über die Antike hinaus und bis in die Neuzeit. Sein utopischer Gehalt ist einer der Gründe dafür.

Ein homerischer Held in Konflikt mit der Welt? Achill zwischen Flucht und Verantwortung in der Ilias und in späterer griechischer Rhetorik Heinz-Günther Nesselrath

1.  Einleitung Die homerische Ilias lässt sich auf weite Strecken als eine „Achilleis“ verstehen: Schon in den ersten Versen des Epos wird der „Zorn des Achill“ als das handlungsleitende Thema eingeführt, und das Epos endet ja auch damit, dass dieser Zorn – der im späteren Teil des Gedichts bereits deutliche Wandlungen durchmacht – schließlich auch selber an sein Ende kommt. Aber weshalb ist Achill zornig? Er gerät im ersten Buch des Gedichts in Streit mit dem griechischen Oberfeldherrn Agamemnon, der sich in einer von Achill einberufenen Heeresversammlung gezwungen sieht, sich von einer sehr von ihm begehrten Kriegsgefangenen zu trennen, um das Heer nicht weiter dem Zorn des Gottes Apollon auszusetzen; doch holt sich Agamemnon sogleich zum Ersatz eine andere Kriegsgefangene – und zwar ausgerechnet von Achill (den er als den Einberufer der Volksversammlung für seinen Verlust verantwortlich macht). Achill sieht sich durch Agamemnons Übergriff entehrt und verweigert fortan die Teilnahme am Kampf gegen Troja; dies aber lässt die Griechen in solche Bedrängnis geraten, dass sie im neunten Buch einige Anstrengungen unternehmen, Achill wieder in ihre Reihen zurückzuholen. Das misslingt jedoch, und dadurch spitzt sich die Lage weiter zu; zu Beginn des sechzehnten Buches erklärt sich Achill wenigstens dazu bereit, seinen besten Freund Patroklos und seine Soldaten in den Kampf ziehen zu lassen. Patroklos aber fällt im Kampf gegen Hektor, und damit hat Achill für seine Verweigerungshaltung einen sehr hohen Preis bezahlt: das Leben des ihm liebsten Menschen. Um ihn zu rächen, zieht er nun doch wieder in den Kampf und kehrt damit in die Heeresgemeinschaft zurück. Wie ist Achills Verhalten zu bewerten? Ist seine Verweigerung, seine Flucht aus der Heeresdisziplin berechtigt? Oder ist sie es nicht und findet deshalb mit dem Tod des Patroklos ihre gerechte Strafe? Darf ein Individuum einer Gemeinschaft den Rücken kehren, wenn es sich von ihr ungerecht behandelt

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und entehrt fühlt? Oder ist es gehalten, dieser Gemeinschaft weiter zur Verfügung zu stehen, gerade wenn sein Beitrag vielleicht entscheidend sein könnte? Die erste Debatte um diese Fragen wird bereits in der Ilias selbst geführt, nämlich in dem erwähnten neunten Buch, wo drei Achill sehr nahestehende Mitglieder des griechischen Heeres den Versuch machen, ihn zum (für das griechische Heer dringend notwendigen) Wiedereintritt in den Kampf zu bewegen. Da aber die homerischen Epen spätestens seit der sogenannten klassischen Zeit Grundtexte der griechischen Bildung sind und dies für die gesamte Antike bleiben – bereits Platon stellt im zehnten Buch seiner Politeia (606e) fest, dass Homer als „Erzieher Griechenlands“ gilt –, hat die Debatte des neunten Ilias-Buchs auch später interessante Ableger gefunden, in denen sie gewissermaßen weitergeführt wird. Zwei dieser Ableger sollen im Folgenden etwas näher betrachtet werden; zuvor aber noch ein einführender Blick in die „Urfassung“ der Debatte im neunten Buch der Ilias.

2.  Weitere Verweigerung oder Rückkehr in die Verantwortung? Die Debatte im neunten Buch der Ilias Dieses neunte Buch ist eines der spannendsten Bücher des ganzen Epos, obwohl in ihm weder ein physischer Kampf stattfindet noch ein einziger Held in der Schlacht fällt. Zu Beginn dieses Buches nämlich stehen die Griechen, die vor mehr als neun Jahren ausgezogen waren, um Troja zu erobern, buchstäblich am Rand des Abgrunds: Unmittelbar zuvor (im achten Buch) haben sie eine große Feldschlacht gegen die Trojaner eindeutig verloren – so eindeutig, dass die siegreichen Trojaner und ihre Verbündeten sogar erstmals außerhalb der Stadt übernachten und der siegesgewisse Hektor noch auf dem Schlachtfeld eine Versammlung seiner Truppen abhält, in der er den bald von ihm erwarteten Gesamtsieg ankündigt; mit einem Mal sind die bisherigen Verteidiger zu Angreifern und die bisherigen Belagerer selbst zu Belagerten geworden. Mit dem Beginn des neunten Buches wechselt des Dichters Blick ins Griechenlager: Hier herrscht nach diesem Tag große Niedergeschlagenheit, und in der abendlichen Heeresversammlung versteigt sich der Oberfeldherr Agamemnon sogar zu dem Vorschlag, man möge jetzt am besten doch die Flucht übers Meer ergreifen; immerhin erfährt er deutlichen Widerspruch (durch den jungen Diomedes), und der alte Nestor schlägt vor, an diesem Abend noch einen Rat der ‚Alten‘ einzuberufen; in diesem rät er dann dazu, Achill durch entsprechende Angebote zum Wiedereintreten in den Kampf zu bewegen. Damit kommen wir zu dem, dessen Handeln (oder genauer: Nichthandeln) die katastrophale Lage der Griechen herbeigeführt hat: Im ersten Buch hat sich Achill voller Zorn über seine schlechte Behandlung durch Agamemnon



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– dieser nahm ihm, wie erwähnt, die geliebte kriegsgefangene Briseïs weg – vom Kampfgeschehen völlig zurückgezogen, und die Quittung dafür haben die Griechen in der verlorenen Schlacht des vergangenen Tages bekommen. So ist Nestors Ratschlag, Achill müsse unbedingt dazu gewonnen werden, sich wieder am Kampf zu beteiligen. Agamemnon ist zu einem entsprechend großzügigen Entschädigungsangebot bereit, um Achill wieder zur Teilnahme am Kampf gegen die Trojaner zu bewegen, und drei der bedeutendsten griechischen Helden – der große Aias, der kluge Odysseus und der alte Phoinix – sollen als Gesandte dieses Angebot überbringen. Ihre Gesandtschaft nimmt mit fast fünfhundert Versen den größten Teil des 9. Buches ein (V. 182–668) und besteht zum größten Teil aus einem spannenden Ringen in hin- und hergehenden Reden. Als erster spricht Odysseus; in seiner ziemlich langen Rede (V. 225–306) unterbreitet er Achill die Vorschläge Agamemnons in großem Detail. Bereits zu Anfang betont er die entscheidende Rolle Achills an der Rettung oder am Untergang der Griechen (V. 230 f.): „Zweifelhaft ist’s, ob errettet sind oder verloren / uns die gebogenen Schiffe, wo du nicht mit Stärke dich gürtest!“1 Odysseus erläutert dies durch den katastrophalen Verlauf der vorangegangenen Schlacht und die dadurch entstandene jetzige Lage (V. 232–246) und leitet daraus geradezu Achills moralische Verpflichtung ab, hier für Abhilfe zu sorgen, bevor es zu spät ist (V. 247 f. 251): Aber wohlauf! wenn das Herz dir gebeut, die Männer Achaias / jetzt, wenn auch spät, zu befrein aus der drängenden Troer Getümmel / … / Sinne danach, wie du wendest den schrecklichen Tag der Achaier!2

Er erinnert3 ihn an das, was ihm sein Vater Peleus aufgetragen habe: nicht seinen individualistischen Emotionen zu frönen, sondern sich solidarisch ins Heer einzufügen (V. 255–258): Nur bändige du dein erhabnes / stolzes Herz in der Brust; denn freundlicher Sinn ist besser. / Meide den bösen Zank, den verderblichen, dass dich noch höher / ehre das Volk der Argeier, die Jünglinge so wie die Greise.4

Danach zählt er ihm in vierzig Versen auf, was Agamemnon ihm alles zu geben bereit ist, wenn er wieder in den Kampf eintritt (V. 260–299). Für den Fall jedoch, dass alle diese Remunerationen Achills Herz nicht bewegen soll1   Ilias 9,230 f.: ἐν δοιῇ δὲ σαωσέμεν ἢ ἀπολέσθαι / νῆας ἐϋσσέλμους, εἰ μὴ σύ γε δύσεαι ἀλκήν. Hier und an späteren Stellen sind die deutschen Übersetzungen von Johann Heinrich Voß übernommen und zum Teil leicht modifiziert. 2   Ilias 9,247 f. 251: ἀλλ’ ἄνα εἰ μέμονάς γε καὶ ὀψέ περ υἷας Ἀχαιῶν / τειρομένους ἐρύεσθαι ὑπὸ Τρώων ὀρυμαγδοῦ / … / φράζευ ὅπως Δαναοῖσιν ἀλεξήσεις κακὸν ἦμαρ. 3   Oder er gibt zumindest vor, dies sei eine Erinnerung. 4   Ilias 9,255–258: σὺ δὲ μεγαλήτορα θυμὸν / ἴσχειν ἐν στήθεσσι· φιλοφροσύνη γὰρ ἀμείνων· / ληγέμεναι δ’ ἔριδος κακομηχάνου, ὄφρά σε μᾶλλον / τίωσ’ Ἀργείων ἠμὲν νέοι ἠδὲ γέροντες.

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ten – weil ihm Agamemnon vielleicht zu sehr verhasst sei –, solle er wenigstens sich der übrigen Griechen erbarmen, die es ihm mit entsprechender Ehre vergelten würden (V. 301–303): so schau doch der andern Achaier / drängende Nöte im Heer und erbarm’ dich! Wie einen der Götter / ehren werden sie dich …5

Und als abschließenden Köder stellt er ihm in Aussicht, dass er jetzt endlich den größten Helden der Feinde, Hektor, werde zur Strecke bringen können, weil der sich nun endlich in vorderste Front gewagt habe (V. 304–306). So geschickt diese Rede zu sein scheint, sie hat geradezu die gegenteilige Wirkung zu dem, was sie eigentlich bezwecken sollte: In seiner noch längeren Antwort nämlich (V. 308–429) zeigt sich Achill völlig ungerührt und kündigt sogleich an, dass er sich nicht überreden lassen werde (V. 315 f.): All sein unablässiges Kämpfen für die Sache der Griechen habe ihm nichts eingebracht, sondern nur dazu gedient, die Truhen des beutegierigen (und selber dem Kampf fern bleibenden!) Agamemnon zu füllen (V. 316–333); ihn, Achill, habe dieser Mann sogar besonders schlecht behandelt (V. 335 f.). Achill steigert sich durch diese Betrachtungen soweit in Rage, dass er den Sinn des ganzen Krieges in Frage stellt – es geht ja doch nur um die Frau eines der beiden Hauptanführer (V. 337–341)! Dann zählt er fast genüsslich auf, was Agamemnon alles für Anstrengungen unternommen habe, um die Trojaner vom griechischen Lager fernzuhalten, und es sei ja alles umsonst gewesen, da er, Achill, nicht mitmachte (V. 348–355)! Und es kommt noch schlimmer: Jetzt droht Achill sogar, noch am folgenden Tag für immer das Griechenlager zu verlassen und mit seinen Myrmidonen in seine Heimat zurückzukehren (V. 356–363). Der Gedanke an die Beute, die er mitnehmen werde (V. 364–367) führt ihn assoziativ wieder zu dem, was ihm Agamemnon genommen hat (V. 367–369) und veranlasst ihn zu einem neuerlichen Wutausbruch gegen diesen (V. 369–377); und von seinen vielen Geschenken will er selbstverständlich auch nichts wissen, und wären sie auch ein Vielfaches des tatsächlichen Angebots (V. 378–392). Dann wird er sogar grundsätzlich: Der ganze Krieg und alle Reichtümer Trojas seien es nicht wert, dafür sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen (V. 401–409). Seine Mutter habe ihm zwei grundsätzliche Lebensalternativen aufgezeigt (V. 410–416): ein kurzes ruhmvolles Leben mit Tod im Kampf oder aber ein langes friedliches, wenn er sich vom Krieg abwende. Zu der zweiten Alternative fordert er nun auch die zu ihm gekommenen Helden und alle anderen Griechen auf (V. 417–420); und diese Botschaft sollen sie auch dem übrigen Heer überbringen. Wie ernst Achills Gesprächspartner diese Worte nehmen, zeigt ihre gleich anschließende Reaktion (430–433); in der Tat würde die Wahrmachung von 5   Ilias 9,301–303: σὺ δ’ ἄλλους περ Παναχαιοὺς / τειρομένους ἐλέαιρε κατὰ στρατόν, οἵ σε θεὸν ὣς / τίσουσ’ …



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Achills Drohung für die Griechen die Katastrophe bedeuten, wie die Kämpfe der Bücher 11 bis 15 zeigen, und zu diesem Zeitpunkt ist Achill offenbar völlig dazu entschlossen, sie tatsächlich wahrzumachen und seinen bisherigen Rückzug vom Heer sogar noch zu steigern, indem er nicht nur die Teilnahme am Kampf verweigert, sondern nunmehr das Herr sogar völlig verlassen will. In dieser zugespitzten Krisensituation meldet sich der alte Phoinix, Achills Lehrer, zu Wort und hält die längste Rede dieser Verhandlungen (V. 434–605): Wenn Achill aufgrund seines großen Zornes wirklich abfahren und nicht von den griechischen Schiffen das Verderben abwenden wolle, dann wolle er, sein alter Lehrer, ihn auf jeden Fall begleiten (V. 434–446). Warum, begründet er mit einem umfänglichen Rückblick auf seine eigene Vergangenheit (V. 447– 484): weil er nach einem schrecklichen Zerwürfnis mit seinem eigenen Vater bei Achills Vater Peleus gastliche Aufnahme gefunden habe. Dadurch sei er auch für Achill zu einem zweiten Vater geworden (V. 484–495), und aus dieser Art von Autorität leitet er jetzt die Legitimation zu einem eindringlichen Appell an Achill ab: Achill müsse von seinem großen Zorn ablassen, denn das täten selbst Götter,6 die sich durch Opfer und Gebete wieder gnädig stimmen ließen (V. 499–501). An dieser Stelle folgt die berühmte Allegorie von den Litai („Bitten“) als Töchtern des Zeus, die nach Akten der Verblendung (Ate) tätig würden und einer gütlichen Bereinigung der Situation den Weg zu ebnen versuchten; jeder, der ihnen folge, sei gut beraten (V. 502–512). Ähnlich wie zuvor Odysseus weist Phoinix nun auf die Verständigungs- und Wiedergutmachungsbereitschaft Agamemnons hin (V. 515–519) und auf die Vorzüglichkeit der Männer, die als Vertreter von Agamemnons Anliegen zu ihm gekommen seien (V. 520–523). Auch in der Vergangenheit hätten große zürnende Männer sich einer Verständigung zugänglich gezeigt (V. 524–526), und als ebenso eindringliches wie warnendes Beispiel dafür erzählt er die Geschichte vom verderbensvollen Kampf zwischen Kureten und Aitolern (V. 527–599), in dem der zürnende Held Meleager sich ebenso wie jetzt Achill lange weigerte, seinen in schwerer Bedrängnis befindlichen Landsleuten zu Hilfe zu kommen, und erst einlenkte, als bereits sein eigenes Haus unter Beschuss stand – da aber dankten es ihm seine Landsleute nicht mehr, weil er es eben so weit hatte kommen lassen. Achill – so beschließt Phoinix seine lange Rede – möge es nicht so weit kommen lassen, sondern zur Tat schreiten, solange ihm noch der Dank seiner Landsleute gewiss sei (V. 600–605). Auf diese Rede antwortet Achill erheblich kürzer (V. 607–619) und auch weniger zornig als auf die des Odysseus. Zwar fordert er auch Phoinix auf, nicht die Partei des ihm verhassten Agamemnon zu ergreifen; zugleich aber bittet er ihn, bei ihm zu bleiben – die anderen könnten seine Ablehnung dem   Ilias 9,496 f.: „Zähme dein großes Herz, o Achilleus! Nicht ja geziemt dir / unerbarmen­ der Sinn; selbst Götter können sich wenden …“ (ἀλλ’ Ἀχιλεῦ δάμασον θυμὸν μέγαν· οὐδέ τί σε χρὴ / νηλεὲς ἦτορ ἔχειν· στρεπτοὶ δέ τε καὶ θεοὶ αὐτοί). 6

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Griechenheer überbringen –, und am folgenden Morgen würden sie dann entscheiden, ob sie abführen oder blieben (V. 618 f.). Dies kommt immerhin einem ersten Einlenken gleich, denn nach Odysseus’ Rede hatte Achill an seinem Abfahrwillen keinen Zweifel gelassen. Als Achill dann seinem Freund Patroklos durch Zunicken den Auftrag gibt, Phoinix ein Lager aufschlagen zu lassen, scheint die Besprechung beendet; doch ergreift nun unerwartet als Dritter der große Aias – der eigentlich nicht als großer Redner bekannt ist – das Wort, und seine kurzen, aber eindringlichen Worte (V. 625–642) ringen Achill sogar das weitestgehende Zugeständnis ab. „Gehen wir!“ sagt Aias zu Odysseus; sie müssten den wartenden Griechen wohl oder übel die ungute Kunde überbringen, dass ihre Mission gescheitert sei (V. 625–628). Er tadelt aber gleich daran anschließend mit klaren Worten Achills völlig starren Sinn, der sich nicht einmal von seinen besten Freunden erweichen lasse – und dies allein wegen einer Frau, wo er doch noch sieben andere und viele weitere Geschenke bekommen solle (V. 636–639). Zuvor hat er darauf hingewiesen, dass selbst Leute, denen man den Bruder oder Sohn getötet habe, sich durch entsprechende Wiedergutmachung besänftigen ließen (V. 632–636); und er schließt mit dem nochmaligen deutlichen Hinweis, dass es Achills beste Freunde und Kampfgefährten seien, die ihn bäten einzulenken (639–642). Diese kurzen aber klaren Worte ringen Achill in seiner Antwort (V. 644– 655) das bis jetzt größte Zugeständnis ab: Zwar sei für ihn der Gedanke an die ihm durch Agamemnon zugefügte Erniedrigung immer noch ein unüberwindliches Hindernis, auf die Appelle der Gesandten einzugehen (V. 646–648), aber er stellt nun wenigstens in Aussicht, wieder in den Kampf einzutreten – erst dann allerdings, wenn sich Hektor bereits an seinem eigenen Zelt und Schiff befinden sollte (650–655). Den Rückzug Achills aus der Gemeinschaft des griechischen Heeres konnte also keine der drei vorgetragenen Reden der Gesandten beenden; doch fällt immerhin auf, dass die Reden, die stärker an Achills Gemeinsinn und Freundes-Solidarität appellieren, zumindest einen relativ gesehen größeren Erfolg haben. Die Rede, die am stärksten die materiellen Vorteile betonte, die Achill von einem Einlenken haben werde – diejenige des Odysseus –, hätte Achill fast dazu gebracht, seinen Rückzug noch zu verstärken und umumkehrbar zu machen; als aber Phoinix stärker auf Achills Verpflichtungen gegenüber der Heeresgemeinschaft hinweist (und zugleich die Gefahr einer dauerhaften Exklusion zumindest andeutet, falls Achill zu lange in seiner Verweigerungshaltung verharren sollte), kann er zumindest die bereits verkündete Entscheidung zur Abfahrt wieder rückgängig machen; und als Aias auf die Freundschaftsbande hinweist, die Achill mit denen verbinden (oder zumindest verbinden sollten), die jetzt gekommen sind, um ihn zur Umkehr zu bewegen, stellt er auch einen – wenn auch ziemlich späten – Wiedereintritt in



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den Kampf in Aussicht. So spielt in dieser Redenabfolge das Motiv, dass ein Mensch private Kränkungen und Emotionen seinen Bindungen gegenüber einer Gemeinschaft unterordnen sollte, zunächst nur eine untergeordnete, aber immer stärker werdende Rolle.

3.  Die große Nachwirkung dieser Debatte​ in der späteren Rhetorik Soviel zur großen Debatte um und mit Achill im neunten Buch der Ilias. Wie schon gesagt, sorgte die überragende Stellung der homerischen Epen in der griechischen literarischen Bildung dafür, dass ihre Inhalte seit der klassischen Zeit jedem auch nur halbwegs gebildeten Griechen stets präsent waren.7 Gerade in demjenigen Bereich der Bildung, der für die Formation der Funktions-Eliten zunächst des griechischen Sprachraums und später des gesamten Römischen Reichs besonders wichtig war, war die Bedeutung Homers buchstäblich fundamental: in der Rhetorik. In ihren Schulen spielte Homer als Vorbild, Muster und Inspirationsquelle seit den Zeiten des Gorgias und Isokrates eine gar nicht zu überschätzende Rolle, die im Lauf der Jahrhunderte auch nicht abnahm, wie zwei exemplarische Stimmen aus dem 1. und 2. Jh. n. Chr. zeigen können: Der bedeutendste Redelehrer der lateinischen Antike, Quintilian, bezeichnet Homer am Beginn seines Überblicks über diejenige griechische und lateinische Literatur, die für angehende Redner besonders geeignet ist, als Ursprung aller Redekunst (10,1,46): „Dieser Dichter … gab allen Teilen der Redekunst Beispiel und Ursprung; ihn dürfte niemand in großen Dingen an Erhabenheit und in kleinen Dingen an Angemessenheit übertreffen.“8 Dabei räumt er gerade dem neunten, dem ersten und dem zweiten Buch der Ilias (in dieser Reihenfolge) besonders große Bedeutung in Hinsicht auf Rhetorik ein (10,1,47): „Entwickeln nicht zum einen das neunte Buch, das die an Achill geschickte Gesandtschaft enthält, zum anderen im ersten Buch jener berühmte Streit zwischen den Heerführern und dann auch die im zweiten Buch vorgetragenenen Meinungen alle Künste der Streitund Beratungsrede?“9 Auf griechischer Seite vertritt ähnliche Ansichten die 7   Achills Rückzug aus der Heeresdisziplin war ein wichtiges Thema offenbar auch in der (nicht erhaltenen) Tragödie Myrmidones des Aischylos, wo gleich zu Beginn des Stücks der Chor den Helden in folgender Weise anspricht (fr. 131,1–4 Radt): τάδε μὲν λεύσσεις, φαίδιμ’ Ἀχιλλεῦ, / δοριλυμάντους Δαναῶν μόχθους, / οὓς εἴσω / κλισίας … 8   Quint. Inst. 10,1,46: Hic … omnibus eloquentiae partibus exemplum et ortum dedit. Hunc nemo in magnis rebus sublimitate, in paruis proprietate superauerit. 9   Quint. Inst. 10,1,47: nonne uel nonus liber, quo missa ad Achillem legatio continetur, uel in primo inter duces illa contentio uel dictae in secundo sententiae omnis litium atque consiliorum explicant artes?

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Plutarch zugeschriebene, aber wohl nicht von ihm stammende Schrift „Über Homer“, die Homer als vor allem für die Aneignung des politikos logos besonders geeignete Quelle herausstellt (161): „Wenn nämlich die Rhetorik die Fähigkeit ist, überzeugend zu sprechen, wer hat dann in dieser Fähigkeit einen besseren Stand als Homer, der durch seinen erhabenen Stil alle übertrifft und in seinen Gedanken die gleiche Kraft wie in seinen Worten zeigt?“10 Und kurz darauf später bietet uns diese Schrift auch eine bemerkenswerte Analyse gerade der Gesandtschaftsreden im neunten Buch (169). Nicht nur im antiken Rhetorik-Unterricht aber, sondern auch bei öffentlichen rhetorischen Präsentationen spielten die Inhalte Homers eine große Rolle. In der Zeit der sogenannten Zweiten Sophistik (1. bis 3. Jh. n. Chr.) traten Star-Redner mit Deklamationen auf, deren Themen gern der griechischen klassischen Geschichte oder dem Mythos entnommen waren und in denen ein Redner gewissermaßen die Rolle eines der an diesen der Geschichte oder dem Mythos entnommenen Situationen Beteiligten übernahm. Dass dabei auch die Gesandtschafts-Situation des neunten Buchs der Ilias ein dankbares Setting bot, können die beiden Deklamationen zeigen, die im Folgenden etwas genauer vorgestellt werden.

4.  Der Appell an den Gemeinsinn: Die 16. Rede des Aelius Aristides Die erste der beiden stammt von einem der bedeutendsten Vertreter der Zweiten Sophistik im 2. Jh. n. Chr., Aelius Aristides (117 – etwa 180). Von ihm ist – im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen im gleichen Metier – noch ein umfangreiches Oeuvre erhalten, in dem sich neben epideiktischen und symbuleutischen Reden zu verschiedenen Themen (Reden anlässlich öffentlicher Feste, Huldigungs- und Begrüßungsreden, Städtereden) auch Deklamationen der gerade erwähnten Art finden und unter diesen eben auch eine, die uns direkt in die Situation des neunten Buchs der Ilias versetzt, in das Zelt Achills, wo Odysseus, Phoinix und Aias versuchen, Achill zum Wiedereintritt in den Kampf zu bewegen (or. 16 Lenz-Behr). Diese Rede ist also gewissermaßen in die Debatte des neunten Buchs der Ilias hineingeschrieben, und zwar muss man sie sich just an dem Punkt gehalten vorstellen, an dem Achill mit seiner langen Replik auf Odysseus endet, denn Aristides’ Rede geht in vielen Punkten auf die Replik Achills ein. Aristides lässt nirgendwo erkennen, wer genau hier der Sprecher ist; man könnte sich aber vorstellen, dass es noch einmal Odysseus ist, der hier gewissermaßen eine zweite Chance erhält,   [Plut.] De Homero 161: εἰ γάρ ἐστιν ἡ ῥητορικὴ δύναμις τοῦ πιθανῶς λέγειν, τίς μᾶλλον Ὁμήρου ἐν τῇ δυνάμει ταύτῃ καθέστηκεν, ὃς τῇ τε μεγαλοφωνίᾳ πάντας ὑπεραίρει ἔν τε τοῖς διανοήμασι τὴν ἴσην τοῖς λόγοις ἰσχὺν ἐπιδείκνυται; 10



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die Ungeschicklichkeiten seiner ersten („echten“) Rede auszubügeln (in den Überschriften der Deklamation in manchen Handschriften wird die Rede in der Tat explizit dem Odysseus zugewiesen). Die Deklamation beginnt sogleich mit einem Kernpunkt: Achills Zorn war verständlich und berechtigt, solange Agamemnon nicht eingelenkt hat; das aber ist jetzt anders (1). Verharrt Achill in seinem Zorn, dann bestraft er die Griechen insgesamt anstelle Agamemnons (2), und dies könnte sich in entsprechenden negativen Reaktionen der Griechen gegen ihn auswirken (3; hier kommt also bereits die Gemeinschaftskomponente ins Spiel). Es ist vielmehr Achills Pflicht, nach Handlungsmöglichkeiten zu suchen, „damit die Gemeinschaft gerettet wird“ (ὅπως τὸ κοινὸν σωθήσεται, 4). Achills Kampfverweigerung kommt in ihren negativen Auswirkungen geradezu einem Angriff der Barbaren gleich (5); auch dieser Gedanke hebt Achills Verhalten aus einer privaten Sphäre heraus und spricht ihm weitreichende die Gemeinschaft betreffende Auswirkungen zu. Auch der gleich anschließende Vergleich von Achills Verhalten mit feigem Verrat, der schlimmer sei als offene Feindschaft (6), betont deutlich die Gemeinschaftskomponente. Die folgenden Gedanken variieren bereits angedeutete Motive: Achills Verhalten kommt einer Begünstigung der trojanischen Feinde gleich (7), und die Griechen werden gleichsam kollektiv für Agamemnons Fehlverhalten bestraft (8); dabei könnte Achill gerade durch ein „sozialverantwortliches“, die Gemeinschaft förderndes Verhalten Agamemnon nur umso schlechter aussehen lassen (9). Die folgenden Ausführungen arbeiten ein Paradoxon heraus: indem sie zeigen, wie Achills Zorn überhaupt erst aus einer Besorgnis um das Gemeinwohl der Griechen entstand (10): Im ersten Buch der Ilias war es in der Tat Achill, der eine Volksversammlung einberief, als die Griechen so sehr unter dem Zorn (und den dadurch ausgelösten Pestpfeilen) des Gottes Apollon litten. Wenn dies aber so war, dann ist es nur umso widersprüchlicher, dass Achills eigenbrötlerischer Zorn die Griechen jetzt ins Verderben führt (11). Dabei soll Achill durchaus nicht sein eigenes Interesse (Rückgewinnung der Briseis) zugunsten des Gemeinwohles (Rettung der Griechen) vernachlässigen; vielmehr könnte er beides durch sein Nachgeben befördern (12). In seiner langen Antwortrede auf Odysseus in der Ilias hatte Achill kritisch auf den scheinbar rein privaten Kriegsgrund (die Entführung Helenas) hingewiesen (Il. 9,338 f.); der Sprecher von Aristides’ Deklamation macht ihn jetzt darauf aufmerksam, dass diese Entführung als Unrecht gegen alle Griechen aufgefasst werden muss, also eine deutlich überindividuelle Komponente hat (13); und dieser Kriegsgrund ist immer noch gültig (14). An diesem Punkt werden einige mehr „private“ Argumente genannt, die für Achills Einlenken sprechen (14 f.: er wird Briseis gleichsam „mit Zinseszins“ zurückbekommen; 16: Agamemnon ist schon jetzt bestraft genug; 17: Achill verhält sich widersprüchlich, wenn er früher so begierig in den Krieg woll-

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te, jetzt aber sich diesem Krieg fernhalten möchte). Dann geht der Sprecher auf die zwei von Achill erwähnten Lebensschicksale ein (vgl. Il. 9,410–416) und legt dar, dass seiner Ansicht nur das ruhmreiche Leben eines Helden für Achill zählen könne (18 f.). So aber, wie er jetzt handle, stelle er den Wert der einen Briseis über sich selbst und auch über den der Griechen insgesamt (20); er gleiche durch seine Kampfverweigerung einem Deserteur (21; hier werden also wieder die sozialen Folgen und Aspekte von Achills Handeln ins Auge gefasst). Zwar sei Frieden grundsätzlich erstrebenswerter als Krieg, aber man müsse in jedem Fall eingegangene Treueverpflichtungen einhalten und dürfe nicht gegebene Treueversprechen brechen (τὰς πίστεις παραβαίνειν), nur um Frieden zu haben (22). Im folgenden werden die sozialen Komponenten noch stärker hervorgehoben: Es geht nicht um Geschenke (vgl. Il. 9,378–392), sondern darum, das Richtige zu tun (23 f.), und das Heer muss mehr zählen als die eine Frau (25). Es ist völlig absurd (ἀτοπώτατον), dass Achill im Zorn verharrt, wo ihm so viel angeboten wird (26); dies soll auch der Vergleich mit dem Apollonpriester Chryses zeigen, dem von Agamemnon ähnliches Unrecht widerfuhr wie Achill, der aber bei entsprechender Wiedergutmachung einlenkte (26 f.). Durch sein Verhalten bringt Achill alle Griechen in tödliche Gefahr (28); und es ist einfach unmöglich, dass Achill so sehr am Leben hängt, wie er behauptet (29; dies wieder als Replik auf Il. 9,401–409). Sollte Achill am morgigen Tag wirklich zurück übers Meer fahren, also fliehen wollen (so wie er in Il. 9,356–363 ankündigt; vgl. auch 9,428 f.), müsste er sich auch vor den Nereidenschwestern seiner Mutter schämen (30); das von ihm darzubringende Abfahrtsopfer wäre seiner völlig unwürdig (31); und sein Wegfahren würde auf jeden Fall als feige Flucht interpretiert (32). Die folgenden Ausführungen gehen noch auf einen anderen Aspekt ein (und „antizipieren“ damit auch etwas die weitere Entwicklung der Verhandlungen in Ilias 9): Achill sollte nicht bis zum letzten Augenblick mit seiner Hilfe warten (33; davor warnt ihn ja auch Phoinix in Ilias 9, vgl. o.); eine zu späte Hilfe wäre zu egoistisch (34; ähnlich wie eben die von Phoinix geschilderte des Meleager), und Achill könnte zuvor zu viele teure Freunde verlieren (35; hier denkt der Ilias-kundige Leser natürlich an Patroklos, dem genau dies in Ilias 16 widerfährt). Achill sollte auch daran denken, was gerade seiner geliebten Briseis durch ein solches Hinauszögern der Hilfe widerfahren könnte – sie könnte mit dem ganzen Heer untergehen (36). Dann präsentiert der Sprecher einen Rat des weisen Kentauren Chiron, der ja einmal Achills Lehrer war: Zorn sollte Grenzen haben (37); das ist eine Variation zur Einführung der Ermahnung Achills durch seinen Vater Peleus, die der homerische Odysseus vornimmt (vgl. Il. 9,252–259). Ferner sollte sich Achill vor den Göttinnen Nemesis und Dike in Acht nehmen (38). Es wäre



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besser, wenn er seinen Zorn gegen Hektor und die Trojaner wenden würde (39; dies wird er nach Ilias 16 dann auch wirklich tun). Die Schlussgedanken der Deklamation betonen noch einmal Achills große Verantwortung: So wie einst in der Hand seines Großvaters Aiakos liegt auch in seiner nun das Wohl der Griechen (40), und so lautet der abschließende Appell: Achill möge zugunsten der Griechen seinen Zorn endlich aufgeben (41): Bring zusammen mit uns Zeus dem Retter eine Trankspende dar, dass diese jetzige nicht die letzte sei, sondern zeige Respekt vor dem Bedürfnis der Allgemeinheit, vor uns, den Gesandten, vor dem Zeitpunkt unserer Gesandtschaft und vor den gemeinsamen Göttern und Heroen der Griechen, leg deinen Zorn wie eine Krankheit ab und tritt zusammen mit der (aufgehenden) Sonne vor den Barbaren in Erscheinung!11

Insgesamt ist in Aristides’ Deklamation die „soziale Komponente“ von Achills Verhalten und Handeln viel stärker hervorgehoben und in immer neuen Aspekten beleuchtet, als dies in den Reden der homerischen Helden in Ilias 9 der Fall ist. Der hier imaginierte Sprecher hat offensichtlich zur Kenntnis genommen, wie gereizt Achill auf die auf den ersten Blick so verführerische Geschenkeliste reagiert, die Odysseus vor ihm ausbreitet, und sie gegenüber dem Appell an seinen Gemeinsinn klar in den Hintergrund gestellt.

5.  Das geschädigte Individuum beharrt auf seinem Recht: Libanios’ 5. Deklamation Aristides’ Rede ist nicht das einzige erhaltene Beispiel, das uns noch gut zeigt, wie Inhalte der Ilias in späterer griechischer Rhetorik erneut fruchtbar gemacht wurden. Ungefähr zweihundert Jahre nach Aristides, um die Mitte des 4. Jh.s (und damit bereits in der Zeit, die wir als Spätantike zu bezeichnen pflegen), hat Libanios, der damals wohl bedeutendste Redelehrer der östlichen Hälfte des Römischen Reiches, der mehr als 35 Jahre lang in seiner Heimatstadt Antiochia in Nordsyrien eine Rednerschule betrieb, die von überall aus den östlichen Reichsprovinzen Zulauf hatte und sogar späteren christlichen Bischöfen Kenntnisse in der griechischen Rhetorik vermittelte, die sie dann in ihren Predigten nutzbringend anwenden konnten – dieser Libanios hat ebenfalls einmal eine Deklamation (vielleicht zunächst für die Zwecke seines Unterrichts) geschrieben, die uns erneut in die Gesandtschafts-Situation des neunten Ilias-Buchs hineinversetzt. Libanios lässt jedoch nicht (wie Aristides) einen der Gesandten des griechischen Heeres sprechen, um Achill 11   Aristid. or. 16,41: σπεῖσον μεθ’ ἡμῶν τῷ Διὶ τῷ σωτῆρι, μὴ τὴν τελευταίαν τὴν [coni. Reiske] νῦν εἶναι, ἀλλ’ αἰσχυνθεὶς τήν τε χρείαν τὴν κοινὴν καὶ τοὺς πρέσβεις ἡμᾶς καὶ τῆς πρεσβείας τὴν ὥραν{, νύκτα ταύτην, ἢ καὶ ἄστρα ταυτὶ} καὶ θεοὺς καὶ ἥρωας τοὺς κοινοὺς τῶν Ἑλλήνων, ἐκδὺς τὴν ὀργὴν ὥσπερ νόσον φάνηθι τοῖς βαρβάροις ἅμα τῷ ἡλίῳ.

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von seiner Verweigerungshaltung abzubringen, sondern er gibt gerade Achill das Wort, um seine Verweigerungshaltung zu begründen; dabei richtet sich der libanianische Achill nicht nur gegen den homerischen Odysseus (wenn auch gegen diesen in erster Linie, denn er geht Punkt für Punkt auf die Odysseus-Rede ein, die sich im neunten Buch der Ilias findet), sondern wenigstens implizit auch gegen das von Aelius Aristides entworfene Plädoyer; dazu muss man wissen, dass Libanios gerade Aristides als Vorbild für die eigene rhetorische Tätigkeit gesehen und auch noch in anderen Fällen Themen des Aristides aufgegriffen hat,12 um zu ihnen Gegenentwürfe zu schreiben (das bekannteste Beispiel ist Libanios or. 64, eine Rede zur Verteidigung der Pantomimentänzer, gegen die Aristides eine Anklagerede geschrieben hatte). Von Anfang an lässt der libanianische Achill keinen Zweifel daran (ebenso wenig wie bereits der homerische), dass er nicht einen Augenblick daran denkt, auf das Ansinnen der ihn besuchenden Gesandten einzugehen: Eigentlich – so leitet er seine Rede ein – habe er erwartet, dass die Gesandten sich auf seine Seite und gegen Agamemnon stellen würden (1), und die Enttäuschung dieser Erwartung hat ihm nun noch größeren Schmerz bereitet (2). Solche Art von Rhetorik hätte sich Odysseus besser für die Trojaner aufsparen sollen (die ihn aber freilich fast umgebracht hätten, als er sie an ihnen ausprobierte); offenbar halte er Achill also für noch minderwertiger als Barbaren (3)! Schon dass Odysseus jetzt von Agamemnon kommt, verstimmt Achill (4). Durch diese Gesandtschaft werde Agamemnons Freveltat sogar noch größer gemacht, denn sie zeige ja, dass er etwas tat, was er nie hätte tun dürfen (5). Explizit: Agamemnon hätte sich nie gegen einen so wichtigen Mann wie ihn, Achill, vergehen dürfen (6). Achill hätte fürwahr gern geschwiegen, sieht sich aber nun gerade durch die Gesandtschaft (und speziell durch Odysseus) zu einer klaren Darlegung des Unrechts veranlasst, das er erlitten hat (7; hier lässt sich ein Ende des Prooemiums von Achills Rede ansetzen). Ein erster großer narrativer, aber auch argumentativer Block legt nun Achills bisherige große Verdienste um das griechische Heer dar (8–13): Es ist ihm zu verdanken, dass die Griechen Troja überhaupt gefunden haben, weil er bei der ersten Expedition Telephos verwundete und diesen dadurch zwang, zu den Griechen zu kommen und ihnen für seine Heilung seine Führung nach Troja anzubieten (8–10). Ferner hat er Entscheidendes geleistet bei der Bezwingung des Umlandes von Troja, was die Trojaner erst richtig zu Belagerten gemacht hat (11–13).

 Vgl. hierzu Cribiore, R.: Vying with Aristides in the fourth century. Libanius and his friends, in: Aelius Aristides between Greece, Rome, and the Gods, ed. by W. V. Harris/​ B.  Holmes, Leiden/Boston 2008, 263–278, sowie demnächst Nesselrath, H.-G.: Libanius and the literary tradition, in: The Cambridge Companion to Libanius, ed. by L. Van Hoof, Cambridge 2014 (forthcoming). 12



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Ein nächster Block (14–24) legt die Entwicklung des Zerwürfnisses mit Agamemnon dar und demonstriert erneut die geradezu lebenswichtige Rolle Achills für das griechische Heer: Agamemnons Frevel gegen den Priester Chryses führte zum Zorn Apollons, gegen den Agamemnon nichts unternahm; vielmehr musste Achill eingreifen und Kalchas dazu ermutigen, den wahren Grund für die Notlage des Heeres zu nennen; erst dann konnten sich entsprechende Rettungsmaßnahmen anschließen. In 25–27 fasst Achill seine großen Verdienste um das griechische Heer noch einmal zusammen – und für diese wurde er dann in empfindlichster Weise bestraft (25): Beraubt bin ich meiner Auszeichnung, weggenommen ist mir die Ehre, über die Ehrlosen hinaus bin ich beleidigt und misshandelt!13

Die Vergegenwärtigung der Abführung der Briseis führt bei ihm zu einer neuerlichen Aufwallung von Empörung und Zorn (27). Der nächste Abschnitt (28–34) nimmt zu den von Odysseus gemeldeten schlechten Nachrichten aus dem Krieg (vgl. Il. 9,230–246) Stellung: Sie betrüben Achill nicht nur nicht, sondern erfreuen ihn sogar. Hektor zeigt durch sein Verhalten, dass er nur Achill gefürchtet hat (31); Odysseus aber hat sich durch sein Lob des Hektor gegenüber Achill verrechnet (32). In 33 kommt als Achills zentraler Wesenszug gut die φιλοτιμία (Ehrgeiz, Streben nach Ehre) zum Ausdruck: Eines Menschen Streben nach Ehre dürfte gegenüber denen, die in Vorzüglichkeit handeln, etwas empfinden und davon angestachelt werden; die aber, die (lediglich) durch glückliches Gelingen etwas vermocht haben, dürfte er nicht für nacheifernswert halten, da er ihre Taten der Göttin (Tyche) anrechnet, die sie ihnen gegeben hat. Wir beurteilen ja auch die Guten, die Unglück hatten, nicht wegen ihrer Misserfolge als schlecht.14

Und durch Odysseus’ Erwähnung des Wohlwollens des Göttervaters Zeus für die Trojaner (vgl. Il. 9,236 f.) sieht sich Achill sogar entlastet, denn Zeus denkt ja offenbar genauso wie er (34)! Danach geht Achill auf die von Odysseus vorgebrachte Ermahnung Achills durch seinen Vater Peleus (vgl. Il. 9,252–259) ein (35–39): Mit der Erinnerung an sie hat Odysseus Peleus’ Worte verzerrt, denn dieser hat ihn nicht zum Stillhalten gegenüber ungerechter Behandlung ermahnt (37): Der aber, der offensichtlich die Milde für etwas Schönes hält, aufgrund der Ehre, die aus ihr entsteht – wie hätte der versucht, mich zu überreden, gefühllos gegenüber Entehrung zu sein? Nein, wie ich schon sagte: Er versuchte, mich davon abzuhalten, als erster einen Frevel zu   Lib. decl. 5,25: ἐστέρημαι τοῦ γέρως, ἀφῄρημαι τὴν τιμήν, ὑπὲρ τοὺς ἀτίμους ὕβρισμαι.   Lib. decl. 5,33: φιλοτιμία δὲ ἀνθρώπου πρὸς μὲν τοὺς ἀρετῇ χρωμένους κἂν πάθοι τι καὶ παροξυνθείη, τοὺς δ’ εὐπραξίᾳ τι δυνηθέντας οὐκ ἂν ζηλωτοὺς ἡγήσαιτο τῇ δούσῃ θεῷ λογιζόμενος τὰ ἔργα, ἐπεὶ καὶ τοὺς ἀγαθοὺς ἀτυχοῦντας οὐ φαύλους παρὰ τὰ πταίσματα κρίνομεν. 13 14

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begehen, nicht aber, mich daran zu hindern, betrübt zu sein, wenn ich Schlechtes erfahren hätte; ja, er hätte mich von vornherein nicht (hierher) gesandt, wenn er gewusst hätte, dass ich dies erleiden würde.15

Im Gegenteil: gerade durch sein Nicht-Abfahren, nachdem er Unrecht erlitten hat, könnte Achill die Worte des Peleus vergessen zu haben scheinen (39): Wenn ihm nämlich jemand meldete, was ich erlitten habe und mit welchen Reden ich daraufhin konfrontiert bin, dürfte er laut aufstöhnen in dem Glauben, ich hätte meinen Stolz verloren.16

Die Gesandten sollten vielmehr prüfen, ob Achills Zorn nicht sehr berechtigt ist (wie auch der der Griechen, als sie gegen Troja ausfuhren; 40 f.). Und Achill macht sie auf widersprüchliches Verhalten aufmerksam: Man könne nicht gleichzeitig Bitten für Agamemnon vortragen und Achill Vorwürfe machen (42). Dann geht Achill auf die von Odysseus so ausführlich hergezählten von Agamemnon versprochenen Geschenke ein (vgl. Il. 9,260–299; 43–50): Sich auf diese Weise kaufen zu lassen, wäre der Beginn von Knechtschaft (44) und würde den Empfänger zu einem ehrlosen Besitzgierigen abstempeln (46). Zudem ist das Versprechen künftiger Geschenke einfach lächerlich, denn Achill ist es ja bestimmt, vor Troja zu fallen, wenn er wieder am Kampf teilnimmt (47; vgl. Il. 9,410–416). Die aber schon für jetzt versprochenen Geschenke hat Agamemnon doch überhaupt nur durch die Taten und Mühen Achills in seine Verfügungsgewalt bekommen (48): Durch die Gefahren, die ich auf mich genommen habe, wurden sie erworben und durch meine Großzügigkeit der Gemeinschaft anheimgegeben; wenn ich sie nun nehme, werde ich nur das, was eh das meine ist, genommen haben!17

Davon also etwas abzugeben kann man nun wirklich nicht „Schenken“ nennen (49). Ferner können Geschenke, die man nicht bewundert (und außerdem freiwillig preisgegeben hat18) auch keinen Zorn besänftigen (50). Auch den Vorschlag einer Verschwägerung mit Agamemnon (51–55; vgl. Il. 9,283–289) weist Achill mit bemerkenswerter Argumentation zurück. Zunächst einmal hält er ihn für völlig unglaubwürdig (51): 15   Lib. decl. 5,37: ὁ δὴ τὴν πρᾳότητα καλὸν ἡγούμενος διὰ τὴν ἀπ’ αὐτῆς τιμὴν πῶς ἂν οὗτος ἔπειθεν ἀνάλγητον εἶναι πρὸς ἀτιμίαν; ἀλλ’, ὅπερ ἔφην, ἄρχειν μὲν ὕβρεως ἀπέτρεπε, λυπεῖσθαι δὲ παθόντα κακῶς οὐκ ἐκώλυεν, ἀλλ’ οὐδ’ ἂν τὴν ἀρχὴν ἔπεμψεν, εἰ ταῦτ’ ᾔδει πεισόμενον. 16   Lib. decl. 5,39: εἰ γὰρ αὐτῷ τις ἀγγείλειεν, οἷα παθὼν οἵους δέχομαι λόγους, μέγα ἂν οἰμώξειεν ὡς ἀπολωλότος μοι τοῦ φρονήματος. 17   Lib. decl. 5,48: τοῖς μὲν ἐμοῖς κινδύνοις ἐκτήθη, μεγαλοψυχίᾳ δὲ εἰς τὸ κοινὸν ἀφείθη. ἢν οὖν λάβω, τἀμαυτοῦ λαβὼν ἔσομαι. 18   Lib. decl. 5,50: „Und da habe ich, was ich in Händen hatte, leicht preisgegeben und soll es jetzt, wo es nicht da ist, suchen?“ (εἶτ’ ἐν χεροῖν μὲν ὄντα ῥᾳδίως ἐξέβαλον, ζητῶ δ’ ἀπόντα;).



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Der, der mir die Frau wegnimmt, die ich habe, wird mir seine Tochter geben, und der, der mir die Kriegsgefangene neidete, wird mir sein Kind aushändigen? Und wird, wenn der Krieg zu Ende ist, derjenige anständig sein [d.h. sein Wort halten], der nicht einmal in der Notlage vernünftig sein konnte? Das ist nicht möglich!19

Und selbst wenn Agamemnon sein Versprechen hielte, können die damit verbundenen Vorteile Achill nicht locken (52). Agamemnons eigenes Geschlecht zeichnet sich nämlich vor allem durch Übeltäter aus (53): „Agamemnon möge seine Vorfahren unter die Lupe nehmen, und er wird feststellen, dass alle aufgrund von unrechten Taten verschrieen sind“20 (was dann im einzelnen vorgeführt wird); außerdem ist Agamemnon barbarischer Abstammung (54). Das Versprechen, Achill genauso wie den eigenen Sohn Orest zu ehren (vgl. Il. 9,284), kommt eher einer Entehrung gleich, denn Achill müsste als Agamemnons Retter natürlich mehr geehrt werden (55). Ausführlich geht Achill sodann auf die Aussicht ein, Briseis zurückzuerhalten (56–70; vgl. Il. 9,273 f.): Dies ist keine wirkliche Wiedergutmachung, denn der ursprüngliche Frevel ist damit nicht aus der Welt geschafft (57); die Rückgabe ist vielmehr sogar der Beweis für das geschehene Unrecht (59). Danach fragt Achill sehr geschickt Odysseus direkt, ob er denn Ähnliches (also zeitweiligen Raub, dann Rückgabe) im Fall seiner Frau Penelope für gut befunden hätte (61). Würde eine solche Rückgabe nach Wegnahme zu allgemeiner Praxis im griechischen Heer, würde das zu nichts Gutem führen (63). Selbst wenn sich Menelaos mit einer ähnlichen Rückgabe seiner Helena zufriedengäbe und den Krieg damit beendet sein ließe, ist dies nicht vergleichbar (65), denn Achill wurde nicht von Barbaren, sondern von Griechen Unrecht zugefügt, und Menelaos erlitt kein Unrecht von seinem Wohltäter (wie dies Achill von Agamemnon widerfuhr, 66): Ich aber wurde als Grieche von einem Griechen entehrt, als Teilnehmer an der Fahrt, als Mitfeldherr, als einer, der sich für die Dinge, die jenem wichtig waren, schinden ließ, der einerseits am Kriegsrat teilnahm, andererseits in den Waffengängen sich allein zu placken hatte und dann noch die Beute aus ihnen der Allgemeinheit zur Verfügung stellte. Um wieviel ich also mich aufrieb, da ich Gutes tat, um soviel mehr empfinde ich jetzt Schmerz.21

Außerdem begehrt Menelaos seine Helena zurück, um sie bestrafen zu können; Achill aber hat seiner Briseis nichts vorzuwerfen (67). Schließlich aber 19   Lib. decl. 5,51: ὁ τὴν οὖσαν ἀφαιρούμενος τὴν αὑτοῦ δώσει καὶ τῆς αἰχμαλώτου φθονῶν ἐγχειριεῖ τὴν παῖδα; καὶ τοῦ πολέμου τελευτὴν εἰληφότος ἔσται χρηστὸς ὁ μηδ’ ἐν τῇ χρείᾳ σωφρονῶν; οὐκ ἔστιν. 20   Lib. decl. 5,53: ἐξεταζέτω τοὺς προγόνους Ἀγαμέμνων καὶ πάντας ἐκ τῶν ἀδικημάτων βεβοημένους εὑρήσει. 21   Lib. decl. 5,66: ἐγὼ δὲ Ἕλλην ὑφ’ Ἕλληνος ὑβριζόμην σύμπλους, συστράτηγος, ὑπὲρ τῶν ἐκείνῳ διαφερόντων κοπτόμενος, τῆς μὲν βουλῆς κοινωνῶν, τὰ δ’ ἐν τοῖς ὅπλοις μόνος μοχθῶν, τὰς δ’ εὐπορίας εἰς μέσον παρέχων. ὅσῳ τοίνυν εὖ ποιῶν ἠλαυνόμην, τοσούτῳ πλέον ἀλγῶ.

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will Agamemnon Briseis nur aufgrund seiner gegenwärtigen Notlage zurückgeben, nicht weil er das moralisch Bessere erkannt hätte (68); letztlich hat ihn Achill sogar dazu gezwungen, indem er durch seinen Rückzug aus dem Kampf die Griechen in die gegenwärtige Lage versetzt hat (69). Außerdem gibt Agamemnon nur etwas zurück, was er beim morgigen Angriff der Trojaner wahrscheinlich ohnehin verloren hätte (70). Der nächste Punkt ist Agamemnons angekündigter Schwur, er habe Briseis nicht angerührt (71–81; vgl. Il. 9,274–276), worauf Achill effektvoll zunächst mit der Frage kontert: Wofür hat er sie sich dann überhaupt genommen? Sein Ziel war offenbar nur die Entehrung Achills (71). Selbst wenn Agamemnon keinen Meineid leisten sollte, wird der Verdacht, dass er genau dies tue, immer bleiben, weil sein Eid nur durch eine Zwangslage zustande gekommen ist (73–75). Agamemnon hat sich auch in der Vergangenheit als ein Götterverächter erwiesen (76); man denke nur an seine Hybris gegen die Göttin Artemis in Aulis (77) und gegen den Apollonpriester Chryses vor Troja (78); ein solcher kann vor Eiden einfach keinen Respekt haben (79 f.). Außerdem war ja nicht der Geschlechtsverkehr mit Briseis Agamemnons eigentlicher Frevel, sondern sein Wegnehmen des Mädchens (81): „Er ist wohl um nichts weniger ein Frevler, auch wenn er nicht mit der Tochter des Brises schläft.“22 Am interessantesten aber gerade für unsere Fragestellung ist die Art und Weise, wie Libanios’ Achill in einem längeren Abschnitt (82–93) auf den Schlussappell des homerischen Odysseus eingeht, Achill möge sich – auch wenn er Agamemnon weiterhin verabscheue – doch wenigstens der übrigen Griechen erbarmen (vgl. Il. 9,300–303). In diesem Punkt nämlich sieht Achill auch und gerade die übrigen Griechen eindeutig im Unrecht: Sie haben sich durch ihr damaliges Nichthandeln auf Agamemnons Seite gestellt; sie hätten sich nämlich seinem unrechten Ansinnen ohne weiteres widersetzen können (84). Agamemnon wurde der Oberbefehl von den anderen griechischen Fürsten freiwillig zugestanden (86); auch als er (in Ilias 2) das Heer auf die Probe stellte, zeigte sich, dass er bei weitem nicht alles und alle im Griff hat (88). So hätte damals (als Agamemnon die Wegnahme der Briseis anordnete) ein beherzter Widerspruch von seiten der Griechen diesen Frevel verhindern können (89: „Nun aber wurde ich entehrt, sie aber haben geschwiegen!“23) – und dabei wurde Achill nur deswegen entehrt, weil er sich um die Belange der Allgemeinheit kümmerte! Die Griechen haben Achill also im Stich gelassen und sind damit zu Mitträgern des Unrechts gegen ihn geworden; ja sie sind sogar schuldiger als Agamemnon, weil sie ihn hätten aufhalten können (90): Wer nämlich dem Übeltäter Freiraum gibt, Unrecht zu tun, obwohl die Möglichkeit bestünde, ihn zu stoppen, der hat noch in höherem Maße selbst das getan, was getan wurde.24   Lib. decl. 5,81: οὐδὲν ἧττον εἴη ἂν ὑβριστὴς καὶ μὴ συγκαθεύδων τῇ Βρισέως.   Lib. decl. 5,89: νῦν δ‘ ἐγὼ μὲν ἠτιμαζόμην, οἱ δὲ ἐσιώπων. 24   Lib. decl. 5,90: ὁ γὰρ τῷ πονηρῷ δοὺς ἀδικεῖν παῦσαι παρὸν μᾶλλον αὐτὸς εἴργασται 22 23



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Gegen dieses Unrecht setzt sich Achill nun zur Wehr, indem er sich der Griechen eben nicht erbarmt (91). Mit seiner Hilfe für sie würde er zudem nur Agamemnon einen Gefallen tun, und genau das will er nicht (92). Die Griechen können die Hilfe der Myrmidonen bekommen, wenn es ihnen um die eigene Rettung geht; wenn sie aber um der Atriden willen zittern, brauchen sie Achills Kampfesbeteiligung nicht (93). Danach geht Libanios’ Achill auch noch auf Odysseus’ abschließenden Hinweis ein, dass er gerade jetzt Hektor zur Strecke bringen könnte (94 f.; vgl. Il. 9,304–306): Dies ist für ihn unerheblich, denn Hektor hat sich durch sein Verhalten stets als Achill unterlegen (und feige) erwiesen (94); sobald er merken werde, dass Achill wieder am Kampf teilnehme, werde er selbstverständlich wieder Reißaus nehmen (95). In seiner Peroratio (96 f.) hebt Libanios’ Achill noch einmal deutlich hervor, dass nicht die trojanischen Priamiden, sondern die griechischen Atriden ihm Unrecht getan haben; es wäre widersinnig, seinerseits denen Schaden zuzufügen, die ihm keinen zufügten (96). Daraus formuliert er in abschließenden knappen Sätzen die folgende Konsequenz: Agamemnon hat Hektor mobilisiert und soll den Mann (jetzt auch) im Kampf stellen. Mich hat er aus dem Geschehen vertrieben; er soll (jetzt) nicht den Entehrten (wieder) rufen. (97) Schon ziehe ich die Schiffe ins Meer; er aber (Agamemnon) mag das Feuer löschen. Besser nämlich, ja besser ist Klugheit als Stärke für den erfolgreichen Abschluss eines Krieges, Odysseus. Idomeneus mag von euch als Bollwerk gegen die katastrophale Situation gefunden werden; jetzt zeige Nestor seinen Verstand, jetzt du deine Wohlberatenheit, jetzt zusammen mit euch Diomedes seinen Speer!25

Die Deklamation bringt den Lesern und Hörern meisterhaft die tiefe Verletztheit Achills zum Ausdruck, wie sie bereits in der homerischen Rede Achills zum Ausdruck kam; das Ethos des homerischen Achill ist hier ausgezeichnet getroffen. Was Libanios’ ‚ré-écriture‘ der homerischen Rede aber vor allem auszeichnet, ist der viel systematischere Zugriff: Libanios’ Achill geht die Argumente des Odysseus Punkt für Punkt durch und widerlegt jeden von ihnen nach allen Regeln der rhetorischen Kunst. Während der homerische Achill bereits mitten in seiner Rede mit seiner Drohung herausplatzt, er werde morgen einfach kurzerhand abfahren, behält sich der Achill des Libanios diesen Paukenschlag bis ganz zuletzt vor. Insgesamt, könnte man sagen, ist die Wut und Empörung des libanianischen Achill eine überlegtere und logischer vor-

τὸ πραχθέν. 25   Lib. decl. 5,96 f.: ἤσκηκεν Ἀγαμέμνων Ἕκτορα καὶ δεχέσθω τὸν ἄνδρα. ἐξελήλακεν ἐμὲ τῶν πραγμά­των, μὴ καλείτω τὸν ἄτιμον. (7) ἤδη καθέλκω τὰς ναῦς, ὁ δὲ σβεννύτω τὸ πῦρ. κρείττων γάρ, κρείττων σοφία ῥώμης εἰς πολέμου τέλος, Ὀδυσσεῦ. Ἰδομενεὺς παρ’ ὑμῶν εὑρεθήτω τοῖς δεινοῖς τὸ κώλυμα. νῦν δεικνύτω Νέστωρ τὴν σύνεσιν, νῦν σὺ τὴν εὐβουλίαν, νῦν μεθ’ ὑμῶν ὁ Διομήδης τὸ δόρυ.

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gehende als die seines homerischen Vorbildes, die ihre starken Emotionen gerade in der assoziativen Sprunghaftigkeit ihres Aufbaus deutlich macht.

6.  Schluss Und wie steht es mit dem Verantwortungsgefühl des libanianischen Achill? Es ist seiner tiefen Überzeugung, unverdientes Opfer eines himmelschreienden Frevels zu sein, klar untergeordnet. Den meist mehr impliziten Appellen der homerischen Redner und den wiederholten expliziten Appellen des Odysseus des Aristides stellt er vor allem im letzten größeren Abschnitt seiner Rede seinen ganz individuellen Anspruch auf gerechte und faire Behandlung kompromisslos entgegen: Die Griechen haben es – aus Bequemlichkeit, aus Gleichgültigkeit oder aus welchen Gründen auch immer – einfach zugelassen, dass ihm Agamemnon seine Ehre nehmen konnte; damit haben sie jeden Anspruch auf seine Solidarität und Unterstützung in ihrer eigenen inzwischen eingetretenen Notlage verwirkt. Man kann die Rede des Libanios daher sehr gut auch als Aufbegehren eines Individuums gegen eine Gesellschaft lesen, die zwar von ihm Solidarität erwartet, ihrerseits aber bei dem Schutz dieses Individuums gegen den Übergriff eines anderen – zumindest in der subjektiven Wahrnehmung des geschädigten Individuums – eklatant versagt hat. Hier tun sich Konfliktpotentiale auf, die heute noch genauso aktuell sind wie im Griechenland der Epen Homers oder der tausend Jahre späteren Spätantike des Libanios.

Weltverantwortung und Weltflucht bei Platon und im Platonismus Michael Erler

1.  Einleitung Aber zu den Göttern zu beten, das geht doch wohl und das ist auch geboten, damit die Reise von hier ins Jenseits unter einem guten Stern steht.1

‚Von hier nach dort‘ (ἐνθένδε ἐκεῖσε). Was Sokrates hier in seinen letzten Stunden gegenüber seinen Freunden anspricht – die erwartete Reise der unsterblichen Seele aus der Welt des Werdens in den geistigen Bereich der ‚Ideen‘ –2 diesen Ausdruck ‚von hier nach dort‘ verwendet Platon wiederholt in seinen Dialogen;3 am eindrücklichsten vielleicht im Theaitet,4 wo in diesem Zusammenhang sogar von der Flucht aus dem Diesseits als Merkmal eines wahrhaft philosophischen Lebens die Rede ist: Der Ausdruck ‚von hier nach dort‘ wird oftmals geradezu als Signum platonischen Philosophierens bezeichnet.5 Denn er scheint zu bestätigen, was von vielen Interpreten betont wird: Platonismus sei eine Philosophie der Jenseitigkeit, ihr Ziel die Angleichung an Gott, ihr Mittel eine Flucht aus einer Welt, die als Hindernis empfunden wird, das überwunden werden muss – Weltzugewandtheit, ja Weltverantwortung scheint da nicht ins Bild zu passen. Nicht nur die philosophische Jenseitsorientierung platonischen Denkens, sondern auch manches Verhalten des So­krates, das die Dialoge illustrieren oder das ihm dort zumindest unterstellt wird, passt in dieses Bild – z. B. seine notorische Unfähigkeit, sich mit den Dingen des täglichen Lebens abzugeben, die so weit geht, dass er noch nicht einmal in der Lage zu sein scheint, sich selbst vor Gericht zu ver-

  Vgl. Phd. 117 C. Übersetzung aus Platon. Phaidon. Üb. und Komm. von Th. Ebert, Platon Werke I/4, Göttingen 2004. Die Hervorhebung stammt vom Autor. 2   R. 502 C–518 C. 3   Vgl. Phd. 107 E. 117 C; Phdr. 250 E; R. 529 A. 619 E. 4   Tht. 176 A. 5   Vgl. Phd. 117 C; s. auch R. 502 C–518 C; Tht. 176 A–B und dazu Erler, M.: Platon, München 2006, 143–145. 1

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teidigen6 – wer die Apologie liest, wird diesen Vorwurf zunächst in der Tat nicht ganz von der Hand weisen wollen. Ein Engagement für die Politik der Polis findet man weniger, ja sie wird in der Apologie geradezu abgelehnt. So­ krates beruft sich hierfür auf seine göttliche Stimme.7 Bestenfalls Akzeptanz der Gesetze, die man nun einmal akzeptiert hat, – wie der Kriton lehrt – ist zu erwarten und Pflichterfüllung im Krieg.8 Sokrates’ Verhalten mag Platons persönliche Frustration über Athener Realpolitik und die Möglichkeiten spiegeln, den Zustand der Lebenswelt zu verbessern. Die Gründung der Akademie außerhalb der Mauern der Polis Athen mag geradezu als Symbol für eine platonische Distanzierung von Verantwortlichkeit in der Welt und für Konzentration auf das unsterbliche Selbst des Menschen verstanden werden, mit dem Ziel, das Diesseits zu überwinden und sich dem Jenseits anzugleichen.9 Der Platonismus der Kaiserzeit wirkt in der Tat bisweilen als philosophisches Manifest von Weltflucht.10 Schließlich ist der Mensch für Platon ein Wesen, das seine Wurzeln im Himmel hat und dessen Ziel eine Angleichung an Gott ist, wie es im Timaios heißt.11 Doch Platon rechnet im Timaios auch mit der Möglichkeit, dass man ebenfalls sein sterbliches Selbst pflegen will und er konzediert sogar, dass man dabei eine gewisse Perfektion im Diesseits erreichen kann. Auch folgert Sokrates aus der Zurückhaltung gegenüber dem Diesseits gerade keine Lizenz für Selbstmord, sondern fordert, in der Welt dort auszuharren, wo der Gott einen hingestellt hat.12 Zu bedenken ist schließlich, dass das Höhlengleichnis, das oft nur mit Blick auf den Aufstieg aus der Höhle und als Manifest für Weltflucht betrachtet wird, die Rückkehr des Philosophen in die Höhle nicht nur darstellt, sondern auch fordert. Denn der Rückkehrer soll Verantwortung und Fürsorge für andere in der Welt überneh-

  Vgl. Grg. 486 A–B und Tht. 174 C–E.   Vgl. Ap. 31 D. 8   Zu Kriton und Politik vgl. Flashar, H.: Überlegungen zum platonischen Kriton, in: Beiträge zur antiken Philosophie. Festschrift für Wolfgang Kullmann, hg. von H.-Ch. Günther / A. Rengakos, Stuttgart 1997, 51–58. ND in: ders., Spectra. Kleine Schriften zu Drama, Philosophie und Antikerezeption, hg. von S. Vogt, Tübingen 2004, 135–144; NeschkeHentschke, A.: Der Ort des ortlosen Denkens. Über Platons Politik, ZPhF 42, 1988, 597–619; Neschke-Hentschke, A.: Platonisme politique et théorie du droit naturel, 2 Bde., Louvain-laNeuve  / Paris 1995/2003. Überblick mit weiterer Lit. zu Politik bei Platon vgl. Platon, in: Erler, M.: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von F. Ueberweg, hg. von H. Flashar, Die Philosophie der Antike II/2, Basel 2007, 441–449. 9   Zu Akademie und Politik vgl. Trampedach, K.: Platon. Die Akademie und die zeitgenössische Politik, Stuttgart 1994. 10   Zum Doppelaspekt vgl. Alt, K.: Weltflucht und Weltbejahung. Zur Frage des Dualismus bei Plutarch, Numenios, Plotin, Mainz 1993. 11   Vgl. Ti. 90 A. C–E; R. 500 C–D; Tht. 176b. 12   Vgl. Ti. 90 C–D; Phd. 61 B–62 C. 6

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men.13 Platons Dialoge bieten also nicht nur Anlass, seine Lehre mit einer Art von Weltflucht in Verbindung zu verbinden. Es gibt Passagen, die gleichwohl als Aufforderungen verstanden werden können, Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Auf diesen Aspekt hat kürzlich Dominic O’Meara in einem Buch hingewiesen und daran erinnert, dass es bei späteren – dem Jenseits sich verpflichtet fühlenden Platonikern – durchaus politische Konzeptionen gegeben habe, verbunden freilich mit einem besonderen Verständnis von Politik.14 Hieran sei im Folgenden angeknüpft und etwas genauer nach der Art dieser Weltzugewandtheit gefragt. Dabei soll sie mit dem besonderen Verständnis in Verbindung gebracht werden, das Platon für das πρᾶγμα des Sokrates geprägt hat – eine Transformation, die nicht nur Aristoteles beeindruckt hat, sondern in der weiteren platonischen Tradition eine Rolle spielt. Deshalb sei die These vertreten, dass Weltflucht und Weltverantwortung bei Platon und im Platonismus unter diesem Gesichtspunkt in der Tat nicht im Sinne einer ausschließenden Alternative verstanden werden muss. Es sei deshalb zunächst an die Transformation des Politikbegriffes erinnert, Sokrates als wahrer Politiker vorgestellt und dann gezeigt, dass dieses sokratische Element in der Tat im Platonismus eine Rolle spielt.

2.  Transformation des Politikbegriffes Was also versteht Paton unter ‚Zuwendung zur Welt‘ oder Weltverantwortung? Es ist hilfreich, zunächst daran zu erinnern, dass Platons Sokrates durchaus darüber spricht, was er unter einem nützlichen Engagement für oder in der Welt versteht. Denn wie so oft bei Platon, lässt sich auch hier zum einen Skepsis gegenüber traditionellen Vorstellungen erkennen, eine Skepsis, die freilich nicht in einer bloßen Ablehnung besteht, sondern zu einer Transformation bekannter Vorstellungen führt, die er in sein philosophisches Konzept integriert und die für die Folgezeit wichtig geworden ist. Aufschlussreich für die platonische Position und scheinbar eine Bestätigung für die verbreitete Auffassung, dass Platon weltliche Verantwortung ablehnt, ist, was Sokrates in der Apologie zum Thema sagt. Dort äußert sich Sokrates nämlich folgendermaßen: Sie (sc. die göttliche Stimme) ist es, die sich mir widersetzt, politisch tätig zu sein, und mir scheint, es ist sehr gut, dass sie mich daran hindert. Denn wisset wohl, Bürger von Athen,

13   Unter Todesgefahr (R. 517 A) soll derjenige, der die Wahrheit gesehen hat, zurückkehren (τις). 14  Vgl. O’Meara, D. J.: Platonopolis. Platonic Political Philosophy in Late Antiquity, Oxford 2003.

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wenn ich mich der Politik zugewandt hätte, dann wäre ich längst umgekommen und hätte weder euch noch mir genützt.15

Platons Dialoge bestätigen, dass Sokrates dem Rat des Daimonions gefolgt ist und sich nicht der Welt der Realpolitik zugewandt hat. Zwar beansprucht Sokrates durchaus, politischen Rat geben zu können.16 Doch kennt er sich in weltlichen Institutionen, wie z. B. politischen Einrichtungen oder Gerichten, nach eigenen Angaben nicht recht aus. Eine solche Unkenntnis entspricht seinen idealen Vorstellungen vom Philosophen, wie er im Theaitet erkennen lässt.17 Denn der wirkliche Philosoph erregt Gelächter. Ein Umgang mit weltlichen, politischen Institutionen ist ihm, wie es dort heißt, nicht vertraut – er kennt nicht einmal den Weg auf die Agora.18 Es ist kein Zufall, dass bei der Diskussion über die Grundlagen von Platons Idealstaat Kallipolis, Institutionen oder ein richtiger Umgang mit ihnen, keine Rolle spielen – und wenn dies in den Nomoi in Magnesia doch der Fall ist, dann ist dieses nicht die Folge eines Gesinnungswandels auf Seiten Platons, sondern dem Umstand geschuldet, dass diese ‚realistische‘ Auffassung von Fürsorge für die Gemeinschaft für ein Modell gilt, das als zweitbeste Lösung annonciert ist, also für eine andere Perspektive steht.19 Gleichwohl kann man nicht sagen, dass Sokrates ein weltabgewandtes Leben führt. Denn er verbringt, wie er selbst sagt und wie die Dialoge illustrieren, seinen Tag zumeist in der Öffentlichkeit auf der Agora. Den Weg auf die Agora kennt Sokrates zwar genau. Freilich dient dieser Weg nicht alltäglicher Politik, sondern der Überprüfung seiner Mitbürger.20 Diese besteht darin, seine Mitbürger mit Fragen zu testen, sie zu irritieren und ihnen ihr Unwissen vor Augen zu führen. Für diese Weltzugewandtheit und Fürsorge reklamiert Sokrates göttliche Legitimation, bezeichnet sich als gottgesandt und seine Tätigkeit als Gottesdienst.21 Offenbar sieht er zwar nicht in Realpolitik, wohl aber in dieser Fürsorge für die Personen einen wirklichen Nutzen. Eine Erklärung für diese Einschätzung erhalten wir nun in jener Partie in Platons Œuvre, die für den Aspekt der Weltflucht oft herangezogen wird, die aber auch den Aspekt der Weltverantwortung legitimiert und erläutert: im Höhlengleichnis. 15   Vgl. Ap. 31 D–E. Übersetzung aus Platon. Apologie des Sokrates. Üb. und Komm. von E. Heitsch, Platon Werke I/2, Göttingen 22004. 16   Vgl. Ap. 32 E. 17   Vgl. Tht. 174 C. 18   Vgl. Tht. 173 C. 19   Zu den unterschiedlichen Perspektiven vgl. Görgemanns, H.: Beiträge zur Interpretation von Platons Nomoi, München 1960; Laks, A.: The Laws, in: The Cambridge history, hg. von Ch. J. Rowe / M. Schofield, 258–292. 20   Vgl. Ap. 21 B–22 E. 21   Diese Tätigkeit wird nicht durch das Orakel initiiert, sondern legitimiert; vgl. hierzu Platon. Apologie des Sokrates. Üb. und Komm. von E. Heitsch, Platon Werke I/2, Göttingen 2 2004, 78.



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Das Höhlengleichnis, das Sokrates an zentraler Stelle in der Politeia bietet,22 schildert die Menschen im Zustand der Ferne vom Ursprung allen Wissens. Die Menschen sitzen gefesselt in einer Höhle und sehen bewegte Schatten an der Wand vor sich. Da sie wegen der Fesseln den Kopf nicht drehen können, halten die Höhlenmenschen die Schattenbilder für Wirklichkeit, diskutieren die Art ihrer Bewegung und schreiben den Schatten auch Stimmen zu. Um sich von der Illusion zu befreien und die Wirklichkeit kennen zu lernen, muss man die Höhlenmenschen von den Fesseln lösen,23 ihren Nacken umdrehen und sie zwingen, gegen das Licht zu sehen. Dann ist der mühsame Aufstieg ins Freie bis an das Licht der Sonne möglich. Wie kommt die Umkehr in der Höhle zustande? Das Höhlengleichnis ist hier eindeutig: Ein Impuls von außen, ein Lehrer, ist unabdingbar. Denn Loslösung von der Fessel und Aufstieg werden als passiver Vorgang geschildert, der unter Zwang und Schmerzen nur mit Hilfe von außen und dazu noch gegen den Willen des Gefesselten vollzogen werden kann und muss.24 Was nun ist mit diesem Zwang, dieser Anklage gemeint? Auch hierüber macht das Höhlengleichnis eine Andeutung. Die Umwendung des ganzen Menschen, die Hilfe von außen, geht demnach von einer nicht näher spezifizierten Person (τις) aus, die die Gefesselten mit Frage und Antwort in Aporien führt und sie durch derartige Irritation von ihrer Illusion zu befreien versucht, und die dies unter Lebensgefahr tut, wie es heißt. Die Stichworte: ‚Frage und Antwort‘, ‚Aporie‘, ‚Lebensgefahr‘ machen klar: Notwendig als Hilfe und Lehrer ist kein anderer als Sokrates. Vor allem aber wird deutlich: Der Zwang, den es für die Befreiung von Illusion braucht, besteht in einer Art des Fragens und Antwortens, die für Sokrates typisch ist. ‚Zwang‘ meint hier also die Anwendung der elenktischen Untersuchungsmethode des Sokrates.25 Und mit der Lebensgefahr antizipiert Sokrates als Erzähler zum dramatischen Datum im 5. Jh., was Platon als Autor im 4. Jh. wie jeder Leser wusste. Diese Lebensgefahr für den τις – für Sokrates – ist real, wir haben es hier mit einem Beispiel für tragische Ironie im platonischen Dialog zu tun.26 Klar wird aber auch und ist für uns jetzt festzuhalten: Es handelt sich bei dem Umwendungszwang um die Methode des Sokrates, also um das, was in den Dialogen vorgeführt wird. Doch Platon hat noch mehr über Nutzen und Funktion des sokratischen πρᾶγμα zu sagen: Denn an andere Stelle gibt er zu verstehen, dass er unter seinem πρᾶγμα nicht nur ein Gottesgeschenk, 22   Vgl. R. 515 A; Szlezák, Th. A.: Das Höhlengleichnis (Buch VII 514 A–521 B und 539 D–541 B), in: Platon. Politeia, hg. von O. Höffe, Berlin 1997, 205–228. 23   Vgl R. 515 C–D. 24   Vgl. R. 515 C. 25   Vgl. R. 515 D; vgl. auch Erler, M.: Paideia, Peitho und Bia, in: Augustinus – Recht und Gewalt. Beiträge des V. Würzburger Augustinus-Studientages am 15./16. Juni 2007, hg. von C. Mayer, Würzburg 2010, 13–28. 26  Vgl. Clay, D.: Platonic questions. Dialogues with the Silent Philosopher, University Park (PA) 2000, 43; Erler, M.: Platon 2007, 70.

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einen Gottesdienst und wahren Nutzen für seine Partner, sondern ein neues Modell für Politik sieht – eine Politik, deren Nutzen eben nicht auf Institutionen zielt, sondern auf die Personen, die von Institutionen Gebrauch machen. Dieses gleichsam transformierte Verständnis von Fürsorge für die Welt oder von Politik verdeutlicht Sokrates im Gorgias. Dort entwickelt Sokrates in der Auseinandersetzung mit Kallikles die Frage nach dem richtigen Leben, nach Vor- und Nachteilen des politischen Lebens – für das Kallikles steht – und des philosophischen Lebens – das Sokrates repräsentiert. ‚Politisches Leben‘ steht dabei für eine Lebensform, die sich am common sense und alleine an der Durchsetzung eigener Interessen orientiert. Sie wird konfrontiert mit einer philosophischen Lebensweise, die die Seele des Handelnden ins Zentrum rückt und den Glücksbegriff dadurch gleichsam verinnerlicht. Philosophie und dieser Art von Politik gemeinsam ist die Sorge um Ordnung in der Seele und in der Gemeinschaft als Quelle für Gerechtigkeit und damit für individuelles und staatliches Glück. Umkehr des Menschen, Re­ sti­tution der Ordnung in Seele und Staat: Dies zu befördern ist Ziel einer Lebensform, in der Philosophie und Politik keine Gegensätze sind, und deren herausragender Repräsentant Sokrates ist. Ich glaube, dass ich als einer von wenigen Athenern, um nicht zu sagen als Einziger, die wahre politische Kunst anpacke und dass ich als Einziger von allen Zeitgenossen Politik treibe.27

Einem wahren Politiker wie Sokrates geht es also nicht um Macht und Institutionen, sondern darum, bei den Menschen die Voraussetzung zu schaffen, mit Macht, Institutionen und anderen Menschen richtig umzugehen. Voraussetzung ist Ordnung in der Seele als Grundlage für Ordnung im Staat. Es gibt bei Platon also durchaus Weltverantwortung und Weltzugewandtheit, dies jedoch auf eine besondere und transformierte Weise, die eine starke pädagogische Komponente enthält. Manche Interpreten empfinden Sokrates’ Anspruch, der wahre Politiker zu sein, weil er sich um die Seelen der Mitbürger kümmert, als merkwürdig und weltfremd. Doch ist daran zu erinnern, dass Sokrates’ Anspruch, wahre Politik habe sich nicht um Institutionen, sondern um Personen und deren Seele zu kümmern, mit Blick auf das antike Polisverständnis keineswegs weltfremd ist. Denn Polis meint ja zunächst gerade nicht die institutionelle Organisation eines Territoriums, sondern einen Personenverband.28 Deshalb ist es sinnvoll, wenn Sokrates sein philosophisches πρᾶγμα, die ἐπιμέλεια τῆς ψυχῆς, als wahre Politik bezeichnet.29 Sokrates’ Auffassung von wahrer Politik ist 27   Vgl. Grg. 521 D. Übersetzung aus Platon. Gorgias. Üb. und Komm. von J. Dalfen, Platon Werke VI/3, Göttingen 2004. 28   Vgl. Lg. 829 B; Arist. Pol. Γ,1,1274b41. Aristoteles. Politik. Buch 1. Üb. und erl. von E. Schütrumpf, Darmstadt 1991, 86ff.; Blößner, N.: Dialogform und Argument. Studien zu Platons Politeia, Stuttgart 1997, 189ff.; Trampedach, K.: Platon, 166–169. 29   Vgl. Grg. 521 D; vgl. dazu Erler, M.: Platon 2006, 175–178.



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also nicht weltfremd, sondern vielmehr Ausdruck einer besonderen Weltzugewandtheit und Weltverantwortung. Gleichsam um dies zu unterstreichen, transferiert Platon wiederholt Konzepte oder Begriffe aus dem traditionell politischen Leben in sein philosophisches Konzept. Erinnert sei an Konzepte wie Rhetorik, wie Scham (αἰδώς), wie Wohlwollen (εὔνοια),30 wie Strafe im Sinne einer Reinigung von Irrtum oder Homologie im Sinne einer rechtlichen Absprache, die gerade im Kontext der sokratischen Dialektik eine so wichtige Rolle spielen. Derartige Begriffe werden von Platon reflektiert, transformiert und in die sokratisch-platonische ‚wahre Politik‘ integriert, d. h. sie werden Element des platonischen philosophischen Diskurses. Aus Rhetorik als Fähigkeit einer Verteidigung eigener Interessen wird in diesem Transformationsprozess eine Kunst therapeutischer Anklage und Seelenreinigung bei den Partnern;31 aus Strafe als Mittel der Vergeltung wird ein seelentherapeutisches Element des elenktisch-dialektischen Diskurses, dem es um Besserung der Partner geht; aus traditioneller Rücksichtnahme auf Personen (αἰδώς) wird eine Scheu vor als richtig erkannten Thesen. Wenn für Sokrates in der Politeia kein Mensch über die Wahrheit geht, dann hat dieses Prinzip freilich in seiner Radikalität bei Späteren keinen Bestand, wie Ciceros Bekenntnis in den Tusculanen zeigt, wo er lieber mit Platon irren als mit anderen das Wahre denken möchte.32 Eine solche Transformation realpolitischer Konzepte und Begriffe beobachten wir schließlich auch bei der Parrhesie als einem Grundbegriff athenischer Demokratie, den Sokrates zur Grundregel dialektisch-elenktischer Auseinandersetzung macht.33 Denn nur wer sagt, was er denkt, kann im ἔλεγχος von Illusion befreit werden. Durch die Integration ‚politischer Konzepte‘ in seine ‚wahre Politik‘ signalisiert Platon, dass er es mit Weltverantwortung durchaus ernst meint.

3.  θεωρία, ein politischer Begriff Sokrates also als wahrer Politiker, dessen philosophisches πρᾶγμα Ausdruck jener Weltverantwortung ist, die dem Philosophen aufgegeben ist, wie das Höhlengleichnis zeigt. Es stellt sich die Frage, warum der Philosoph Verantwortung in der Welt übernehmen soll und nicht nur bei der Schau der 30  Vgl. Geiger, R.: Dialektische Tugenden. Untersuchungen zur Gesprächsform in den Platonischen Dialogen, Paderborn 2006, 108–119. 31   Vgl. Prt. 324 A; vgl. auch Platon. Protagoras. Üb. und Komm. von B. Manuwald, Platon Werke VI/2, Göttingen 1999, 207. 32   Vgl. Pl. R. 595 B–C; Cic. Tusc. I 39 f. 33   Vgl. Grg. 487 A–E; vgl. dazu auch Erler, M.: Parrhesie und Ironie. Platons Sokrates und die epikureische Tradition, in: Ironie. Griechische und lateinische Fallstudien, hg. von R.F. Glei, Trier 2009, 59–75.

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Wahrheit verharren darf. Hier spielen philosophische Gründe, aber auch Transformation eines politischen Konzeptes eine Rolle. In der Tat lehrt das Höhlengleichnis, dass man nach der Schau (θέα) der Wahrheit und des Guten geradezu verpflichtet ist, in die Höhle zurückzukehren und den Menschen an seiner Erkenntnis Anteil zu geben, d. h. also ‚wahre Politik‘ zu praktizieren, auch wenn man sich nur zögerlich von dem Anblick der Schau der Wahrheit und des Guten trennen will.34 Warum aber gibt es diesen Zwang zu Weltzugewandtheit? Philosophisch lässt sich diese Notwendigkeit aus dem Wesen des Guten selbst erklären, das der Philosoph erkannt hat.35 Denn im Timaios lernen wir, dass es offenbar zum Wesen des Guten dazugehört, sich selbst mitzuteilen. Wie das Verhalten des Demiurgen im Timaios zeigt,36 ist ein Wesensmerkmal des Guten die Bereitschaft, an diesem Guten Anteil zu geben, d. h. die Welt gut zu machen. Der Dialog Euthyphron zeigt, dass nach Platons Verständnis das Wesen der Frömmigkeit darin besteht, Mensch und Welt gut zu machen und wir lernen auch, dass dies geschieht, indem man den Göttern wohlgefällig redet und handelt und dadurch bei dem Werk der Götter mithilft, die Welt besser zu machen.37 Eben dies aber ist Ziel und Zweck von Sokrates’ Politik. Denn seine Prüfungen befreien die Mitmenschen von Illusionen und Irrtümern, und dies geschieht mit Billigung des Gottes in Delphi.38 Wieder zeigt sich, dass es also geradezu Aufgabe des Philosophen ist, die Welt nicht zu fliehen, sondern sich ihr zuzuwenden, um sie besser zu machen. Es ist deshalb konsequent, wenn Sokrates sein πρᾶγμα in der Apologie als Gottesdienst bezeichnet. Die Notwendigkeit der Rückkehr wird aber nicht nur durch Platons Philosophie begründbar. Er erklärt sie zudem wiederum durch die Transformation eines Begriffes aus dem Kontext zeitgenössischer Politik. Platon lässt nämlich im Höhlengleichnis den ursprünglich gefangenen Menschen zu einer Schau – θέα – aus der Höhle aufbrechen. Wenn er ihn dann aber wieder absteigen, zurückkehren und das Gesehene den Menschen kommunizieren lässt, macht er diesen Menschen zu einem θεωρός und evoziert damit gleichsam, was der Begriff θεωρία oder θεωρός im politischen Kontext bedeutet.39 Mit θεωρός wird nämlich ein Mitglied einer Gemeinschaft bezeichnet, das im Auftrag dieser Gemeinschaft in eine Region außerhalb der eigenen Polis   Vgl. R. 517 B. 519 C–520 A. 525 A–C.   Vgl. R. 519 C–520 A; vgl. auch O’Meara, D. J.: Platonopolis, 73. 36   Vgl. Ti. 29 E–30 A. 37   Vgl. Euthphr. 14 C; Phdr. 274 B; vgl. dazu Erler, M.: Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons. Übungsstücke zur Anleitung im philosophischen Denken, Berlin  / New York 1987, 164 f. 38   Vgl. Ap. 28 E. 39  Vgl. Nightingale, A. W.: Spectacles of Truth in Classical Greek Philosophy. Theoria in its Cultural Context, Cambridge 2004, 98; Boyancé, P.: Le culte des muses chez les philosophes grecs. Études dʼhistoire et de psychologie religieuses, Paris 1937, 326 f. 34 35

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reist, um dort z. B. einem religiösen Fest beizuwohnen, etwas in Erfahrung zu bringen, dann zurückzukehren und das Erfahrene in der eigenen Polis zu berichten. In der Tat verwendet Platon den Begriff bisweilen, um eine Teilnahme am Festspiel und der religiösen Veranstaltung zu charakterisieren und greift damit jene traditionelle Bedeutung von θεωρία auf, welche die Betrachtung religiöser Ereignisse in anderen Gemeinden und die Pflicht meint, nach der Rückkehr in der eigenen Gemeinde davon zu berichten. Im 12. Buch der Nomoi berichtet Platon davon, dass θεωροί von Magnesia ausgesandt wurden, damit sie Feste, göttliche Menschen und interessante Dinge sehen und davon, wenn sie in die eigene Polis heimgekehrt sind, berichten.40 Aus diesem religiösen Kontext wurde das Wort zur Bezeichnung empirischen Wissenserwerbes zum Merkmal des Weisen und zum Kennzeichen einer Lebensform, die sich am Diesseits orientiert und der es um Wissenserwerb geht. Von hier übernahm Platon den Begriff θεωρία und transformierte und integrierte ihn in den Kontext seiner Philosophie.41 θεωρία wird in Platons Philosophie zu jener Schau des intelligiblen Bereiches, in dem es keine Unstetigkeit, sondern Stetigkeit gibt, wo die πλάνη beendet wird durch die Schau der Ideen, wie es im Phaidon heißt. Der Mensch kommt demnach zur Ruhe, wenn er das Diesseits gerade verlässt, wenn er von hier – der Welt der Phänomene – zur Welt der intelligiblen Wirklichkeit und zur Schau der Ideen gelangt.42 Dieser politische Brauch der θεωρία liegt offenbar auch jenem Bild der Reise des Menschen zugrunde, von der das Höhlengleichnis berichtet. Vor diesem Hintergrund wird jedenfalls die Notwendigkeit zur Rückkehr und zur Mitteilung des Gesehenen verständlich, von dem im Höhlengleichnis die Rede ist. Einmal mehr wird deutlich, dass Platon die ‚wahre‘, d. h. philosophische, Politik mit Konzepten und Terminologie aus der realen politischen Sphäre beschreibt und dadurch unterstreicht, dass es ihm mit dem Postulat der Weltzugewandtheit ernst ist.

4.  Sokratische Weltverantwortung Platons Philosophie also als Verpflichtung für Engagement in der Welt. Natürlich kann man beklagen, dass Platon Politik auf einen Teilaspekt der Ethik verengt und zu stark mit dem πρᾶγμα der Sokrates-Figur verbindet. Doch gewinnt die Frage nach dem Verhältnis von Weltflucht und Weltverantwortung bei Platon und im Platonismus mit Blick auf dieses platonische Verständnis von ‚Politik‘ an Profil. Zudem hat Platons Verständnis von wahrer Politik   Vgl. Phd. 58 B; R. 556 C; Lg. 951 B. 952 B.   Vgl. Solon bei Hdt. I 30; Lg. 952 D; Nightingale, A. W.: Spectacles, 66. 42   Vgl. Pl. Phd. 61 D–E. 79 B; Nightingale, A. W.: Spectacles, 101. 107 ff. 40 41

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Schule gemacht, und für das Fortleben des sokratischen Elements im Platonismus gesorgt. Aristoteles bezieht sich in der Nikomachischen Ethik auf den platonischen Aspekt der ‚wahren Politik‘ und dabei offenbar auf die GorgiasStelle, an der sich Sokrates zum wahren Politiker erklärt, wobei Aristoteles die Frage stellt, ob dies im und durch den Staat zu leisten ist oder nicht durch einen eher privaten Kreis. Aristoteles entscheidet sich für den privaten Kreis.43 Man mag dabei auch an die Institution der Akademie denken, sollte aber beachten, dass dieser ‚Rückzug‘ nicht Selbstzweck, sondern Grundlage für die Besserung der Gemeinschaft ist. Immerhin sind aus der Akademie viele Politikberater erwachsen.44 Vor allem ist Platons Konzept der ‚wahren Politik‘ im Platonismus der Kaiserzeit aufgegriffen worden. Dies wird nicht zuletzt darin manifest, dass das sokratische Element trotz gegenteiliger Behauptungen auch weiterhin eine Rolle im Platonismus spielt und nicht zuletzt den Aspekt der Weltzugewandtheit signalisiert.45 Es ist bezeichnend, dass Plotin z. B. die berühmte Theaitet-Stelle, an der Platon die Angleichung (ὁμοίωσις) an Gott mit einer Flucht aus der Welt verbindet, in dem Sinne interpretiert, dass unter dieser Flucht nicht ein Ortswechsel, sondern ein Wechsel der Lebensweise gemeint ist. Da Gott gut und gerecht sei, bedeute Angleichung an Gott, ‚hier‘ in der Welt gerecht und gut zu sein.46 Wie Sokrates kümmert sich Plotin dementsprechend um die Seelen der anderen und gründet in Rom eine Schule. Freilich bleibt bei Plotin der ‚politische‘ Aspekt der Weltzugewandtheit im Hintergrund. Die sogenannten politischen Tugenden gelten ihm als für die Erkenntnis der Wahrheit zweitrangig, insofern sie zwar das soziale Leben im Diesseits betreffen und auf die Metropathie zielen. Diese bürgerlichen Tugenden gehören zu den eigentlich unphilosophischen Seelen, die nur durch Übung und Gewohnheit zu angemessenen Menschen werden. Allerdings sind sie Voraussetzung für die oberen, geistigen, reinigenden Tugenden, die auf Apathie zielen und zur eigentlichen Philosophie gehören.47 Diese Dichotomie: unphilosophisch-politische und philosophisch-kathartische Tugend wird   Vgl. Aristoteles. Politik. Buch 1. Üb. und erl. von E. Schütrumpf, Darmstadt 1991, 80ff. bes. 90. 44   Trampedach, K.: Platon, 93–101; Schofield, M.: Plato and practical politics, in: The Cambridge history, hg. von Ch. J. Rowe / M. Schofield, 293–302. 45  Vgl. Beierwaltes, W.: Selbsterkenntnis als sokratischer Impuls im neuplatonischen Denken, in: Sokrates. Geschichte, Legende, Spiegelungen, Sokrates-Studien II, hg. von H. Kessler, Zug 1995, 97–116; Erler, M.: Hilfe der Götter und Erkenntnis des Selbst. Sokrates als Göttergeschenk bei Platon und den Platonikern, in: Metaphysik und Religion. Zur Signatur spätantiken Denkens. Akten des internationalen Kongresses vom 13.–17. März 2001 in Würzburg, hg. von M. Erler / Th. Kobusch, München / Leipzig 2002, 387–413. 46   Vgl. Tht. 176 B; Plot. I 8 [51] 6,9–13. 47   Vgl. Pl. Phd. 83 D; vgl. Erler, M.: Hellenistische Philosophie als ,praeparatio Platonica‘ in der Spätantike (am Beispiel von Boethius’ consolatio philosophiae), in: Zur Rezeption, hg. von M. Erler / Th. Fuhrer, 105–122. 43



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von späteren Platonikern aufgegriffen, systematisiert und ins philosophische Curriculum integriert.48 Die ‚politischen‘ Tugenden erhalten dabei eine wichtige Rolle als Vorbereitung für den philosophischen Erkenntnisaufstieg, aber auch als Orientierung im Diesseits.49 In diesem Zusammenhang begegnen wir im spätantiken Platonismus auch Sokrates, dem Didaktiker, wieder, der sich den Menschen didaktisch zuwendet – sich also als ‚wahrer Politiker‘ verhält. Der spätantike Platoniker und Phaidros-Kommentator Hermeias z. B. erkennt beim Philosophen zwei Aspekte: den des wahren Philosophen und den des ‚wahren Politikers‘. Beides sei nicht zu trennen, sondern beides seien zwei Seiten einer Medaille: Allgemein nämlich ist der Philosoph, wenn er sich im Bereich des noetischen Seins und der Betrachtung des Noetischen und des Gottes aufhält … , Philosoph im primären Sinne. Wenn er sich aber von jener Schau umwendet hin zur Sorge um die Stadt und im Sinne der Schau jener Dinge die Stadt ordnet, dann wird er zum philosophischen Staatsmann.50

Man sieht, dass hier das Höhlengleichnis den Rahmen vorgibt. Der Aufstieg macht zum Philosophen und der Abstieg macht zum Politiker im Sinne des Sokrates im Gorgias. Denn mit diesem Engagement ahmt Sokrates die Götter nach, die notwendig die Welt gut machen wollen – was wir oben Platon entnahmen, wird vom spätantiken Kommentator Olympiodoros ausdrücklich in seinem Gorgias-Kommentar formuliert.51 Denn er unterscheidet dort zwei Arten von Zwang, einen materiellen und einen göttlichen Zwang: Göttlichen Zwang aber meinen wir – sagt Olympiodoros – wenn wir sagen, dass der Gott notwendig die Welt gut macht und – so Olympiodoros weiter – es ist dieser Zwang, von dem sich auch Sokrates bei seinem πρᾶγμα leiten lässt. Hier wird also ausdrücklich gesagt, was wir oben andeuteten. Die wahre Politik als Hinwendung zum Diesseits findet ihre Legitimation aus der Nachahmung göttlichen Verhaltens der Welt gegenüber, insofern sie am göttlichen Plan, dass die Welt gut werden soll, mitarbeitet. Platon spricht in der Politeia vom Zwang für den Philosophen, anderen Tugend mitzuteilen.52 Der wahre Politiker Sokrates ahmt also die Götter nach und hilft bei ihrem Werk mit. Und das gilt für jeden Sokratesschüler, z. B. Platon, der seinerseits Sokrates, den 48  Vgl. Thiel, R.: Stoische Ethik und neuplatonische Tugendlehre. Zur Verortung der stoischen Ethik im neuplatonischen System in Simplikiosʼ Kommentar zu Epiktets Enchiridion, in: Zur Rezeption, hg. von M. Erler / Th. Fuhrer, 93–103. 49   Zintzen, C.: Römisches und Neuplatonisches bei Macrobius (Bemerkungen zur πολιτικὴ ἀρετή im Comm. in Somn. Scip. I 8), in: ders., Athen-Rom-Florenz, hg. von D. Gall / P. Riemer, Hildesheim / Zürich / New York 2000, 285–302. 50   Herm. in Phdr. 221,15ff. p. 376 Bernard [Hermeias von Alexandrien. Kommentar zu Platons Phaidros. Üb. und Komm. von H. Bernard, Tübingen 1997]. Die Hervorhebung stammt vom Autor. 51   Vgl. Olymp. in Grg. 12,3 p. 71 f. Westerink [Olympiodorus. In Platonis Gorgiam commentaria. Ed. L. G. Westerink, Leipzig 1970]. 52   Vgl. Pl. R. 500 D; dazu O’Meara, D. J.: Platonopolis, 80.

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Protopolitiker, nachahmt, von dem Hermeias zu Beginn des Phaidros-Kommentars schreibt: Sokrates wurde zum Zweck der Wohltätigkeit am Geschlecht der Menschen und an den Seelen der Jugend ins Werden geschickt. Da es aber große Unterschiede hinsichtlich der Charaktere und der Beschäftigungen der Seelen gibt, ist er auf unterschiedliche Weise für einen jeden wohltätig, auf die eine Weise für die Jugend, auf eine andere für die Sophisten, indem er allen die Hand reicht und sie der Philosophie zuwendet.53

Hermeias greift also das religiös überhöhte Bild des gottgesandten Sokrates der Apologie auf, dessen Tätigkeit ein Gottesdienst ist. Andere Platoniker wie Hierokles unterscheiden zwischen dem wahren Philosophen als Liebhaber der Schau ohne politische Aktion und einem Liebhaber, der die Menschen mit praktischen Tugenden liebt und der als wahrer Politikos das Göttliche nachahmt.54 Eben diese Aspekte waren für den Platoniker Boethius offenbar Anlass, sich als Platoniker keineswegs von der Realpolitik fernzuhalten und zwar nicht obwohl, sondern weil er Platoniker war. Als er 524 seine Hinrichtung erwartet, denkt er über eine Rechtfertigung seines innerweltlichen Engagements nach und schreibt in der Consolatio philosophiae: Doch hast du durch Platons Mund diesen Satz bekräftigt: ‚Glücklich würden die Staaten sein, wenn die Philosophen sie lenkten, oder ihre Lenker sich der Philosophie befleißigten [R. 473 C–D].‘ Aus desselben Mannes Munde hast du erklärt, dass es zwingender Grund für die Weisen sei, die Staatsleitung zu ergreifen, damit nicht Schurken und Verbrecher das Steuer der Städte überlassen und dadurch den guten Bürgern Unheil und Verderben bereitet werde. Diesem Geheiß bin ich gefolgt und was ich von dir in abgeschiedener Muße gelernt habe, habe ich in die Aktivität der Staatsverwaltung zu übertragen gesucht …: nichts anderes hat mich zum Amte geführt, als das Gemeinwohl aller Guten.55

5.  Zusammenfassung Commune bonorum omnium studium. Allen Anteil am Guten zu geben: Diese ‚politische Intention‘ mag allgemein gängige Münze sein; für einen Platoniker aber fügt sie sich in seine Philosophie ein, entspricht dem, was Platon unter ‚fromm‘ versteht, formuliert, was Sokrates mit ‚wahrer Politik‘ meint, als Gottesdienst anspricht und mit seiner Seelentherapie anbietet. Gewiss, für den Platoniker ist diese politische Tätigkeit nur eine erste Stufe auf dem Weg ‚von hier nach dort‘. Doch wie Erkenntnis nach Platon nicht ohne Hinwendung zu den Phänomenen möglich ist, so ist auch die Zuwendung zu und   Herm. in Phdr. I,1 p. 1 Couvreur [Hermeias von Alexandrien. In Platonis Phaedrum scholia. Ed. P. Couvreur, Paris 1901]. 54   Vgl. Phot. Bibl. 251. 464 B. 55   Vgl. Boeth. cons. I 4,5–8. Übersetzung aus Boethius. Trost der Philosophie. Lateinisch und Deutsch. Hg. und üb. von E. Gegenschatz / O. Gigon, Stuttgart 1969. 53



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Verantwortung für die Welt und die Mitmenschen integraler Teil dieses Weges. Diese platonische Auffassung ermöglicht es Macrobius, platonische und römische Wertvorstellung einander anzunähern – im Sinne der von ihm propagierten conspiratio in unum – und es mit Blick auf Platon für vertretbar zu halten, Politiker wie Scipio wie die Philosophen zu homines beati zu erklären und allen, qui patriam conservaverint, adiuverint, auxerint, einen Platz im Himmel zuzugestehen.56 Mag dies aus römischer Sicht in letzter Konsequenz dann vielleicht doch überspitzt sein, so ist gleichwohl festzuhalten, dass Macrobius aufgreift, was im Platonismus in der Tat angelegt war: Die Flucht von ‚hier nach da‘ ist mit Plotin und anderen als geistige Disposition zu verstehen und als Teil jener platonischen θεωρία, die im Menschen einen θεωρός erkennt, der nach Erkenntnis strebt, aber gleichzeitig andere daran teilhaben lässt. Diese Weltzugewandtheit ist integraler Bestandteil platonischer Philosophie und als solche mit Jenseitsstreben verbunden; getrennt werden beide erst, als Augustinus sich vom Platonismus auch in dieser Hinsicht lossagt. Nun hat Sokratesʼ ‚wahre Politik‘ in einer Welt, in der die Menschen nicht aus eigener Kraft in die Stadt Gottes gelangen können, seinen Platz verloren, den er im Platonismus immer hatte.57

Bibliographie Primärquellen Aristoteles: Politik. Buch 1. Üb. und erl. von E. Schütrumpf, Darmstadt 1991. Boethius: Trost der Philosophie. Lateinisch und Deutsch. Hg. und üb. von E. Gegenschatz / O. Gigon, Stuttgart 1969. Hermeias von Alexandrien: In Platonis Phaedrum scholia. Ed. P. Couvreur, Paris 1901. ND Hildesheim 1971. Hermeias von Alexandrien: Kommentar zu Platons Phaidros. Üb. und Komm. von H. Bernard, Tübingen 1997. Macrobius: Ed. F. Eyssenhardt, Leipzig 1893. Olympiodorus: In Platonis Gorgiam commentaria. Ed. L. G. Westerink, Leipzig 1970. Platon: Apologie des Sokrates. Üb. und Komm. von E. Heitsch, Platon Werke I/2, Göttingen 2 2004. –: Gorgias. Üb. und Komm. von J. Dalfen, Platon Werke VI/3, Göttingen 2004. –: Phaidon. Üb. und Komm. von Th. Ebert, Platon Werke I/4, Göttingen 2004. –: Protagoras. Üb. und Komm. von B. Manuwald, Platon Werke VI/2, Göttingen 1999.

56   Vgl. Macr. somn. I 4,4 p. 490 Eyssenhardt [Macrobius. Ed. F. Eyssenhardt, Leipzig 1893] certum esse in caelo definitum locum ubi beati aevo sempiterno fruantur; vgl. dazu Zintzen, C.: Römisches und Neuplatonisches, bes. 293 ff. 57  Vgl. O’Meara, D. J.: Platonopolis, 154 ff.

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‘Pagane Lebensmodelle?’ Gods, pietas, and maiores in the Roman republic Henrik Mouritsen The title of this essay, ‘Pagane Lebensmodelle?’, may require some explanation.1 It was initially suggested to me by the organisers of the Göttingen seminar as an invitation to consider whether it is possible to identify in the Roman world ‘Lebensmodelle’ (here understood broadly as ‘guides to life’) that were directly rooted in ancient polytheism. A question mark was from the outset appended to the proposed topic and it will probably come as no surprise that I have found little trace of religiously sanctioned or inspired ‘guides to life’. The gods mentioned in the title will therefore make only a relatively brief appearance, since there is no evidence they were themselves regarded as ‘role models’, certainly not in the way we later find in Christianity. However, the real difficulty of this assignment of course lies in the slippery nature of ‘religion’ itself, which did not exist as a discrete sphere of public or private life. It therefore seems appropriate, indeed necessary, to cast the net more widely and look at aspects of ‘religion’ that might at first appear tangential to the question but on closer inspection could reveal interesting connections between the ‘divine’ and ‘secular’ codes of behaviour. Here the concept of pietas may be particularly promising, suggesting as it does that relationships with gods, humans and collectives could be assimilated in the Roman mind, thus binding the individual into multiple interlocking forms of authority. These patterns of control in turn draw our attention to the real ‘role models’ of the Roman republic, the maiores, to whom the second part of the essay will be devoted. It is the powerful example they provided which brings us back to the overarching theme of the seminar, ancient ideals of ‘Weltflucht’ and ‘Weltverantwortung’. The Roman gods were generally not, anymore than the Greek, held up as models for the mortals to emulate. Stories about Roman gods, albeit much   I would like to thank Hugh Bowden, William Fitzgerald, Sophie Lunn-Rockliffe, Lucy Jones, and John North for their valuable comments on drafts of this paper. I am also indebted to Jörg Rüpke for the kind invitation to the Göttingen seminar. 1

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fewer in number compared to the Greek pantheon, did not on the whole offer uplifting and edifying examples of how to live one’s life, as illustrated by the adulterous liaison between Mars and Rhea Silvia, or Romulus’ killing of his own brother. While Roman gods were powerful and immortal – and of course also the object of intense personal devotion, that did not necessarily make them suitable role models. There was, in other words, little possibility of a pagan imitatio Christi, in which the life of the deity acted as a template for believers to follow. Neither does there seem to have been any formalised code of conduct, defined and enforced by direct reference to the gods; for although there is no shortage of moralisation in our surviving sources, there is little sign that this morality was founded on specifically religious precepts. As Liebeschuetz noted in his illuminating discussion of this issue, ‘there is nothing to compare with the Ten Commandments or the Sermon on the Mount. It also appears that Roman morality was sanctioned to only a very limited extent by expectations of divine reward or punishment’.2 There was a normative aspect to Roman religion, albeit a very narrowlydefined one; for in some well-defined instances the gods did indeed punish human transgression. These misdemeanours were almost exclusively those committed against the gods themselves or the temples dedicated to them. In addition, the breaking of oaths sworn to the gods and fundamental crimes such as incest were considered religious offences incurring divine retribution. The gods, however, appear to have played no general role in policing the behaviour of mortals. For example, in the second book of the De legibus Cicero linked fear of the gods primarily to the sanctity of formal agreements and oaths.3 Liebeschuetz also observed that Cicero thought ‘the gods in a vague way prefer morally pure worshippers’, and that he expected the Romans to approach the gods with purity of mind, caste … animo4, which might imply that religion somehow was seen as having a positive effect on morals and behaviour. But as tutelary deities the gods naturally took an interest in the welfare of the community for which they had assumed the roles of protectors and patrons, including issues of morality.5 Still, despite the presence of this 2   Liebeschuetz, J. H. W. G.: Continuity and Change in Roman Religion, Oxford 1979, 39 ff. 3   E. g. 2.41 f. In Leg. 2.16 Cicero discusses fear of the gods as a tool of social control, mostly in relation to religious affairs, but he also asks: quam multos divini supplici metus a scelere revocarit?, how many persons are deterred from crime by the fear of divine punishment?. 4   Leg. 2.24: ‘Caste iubet lex adire ad deos, animo videlicet, in quo sunt omnia’. Schröder, B.-J.: Römische pietas – kein universelles Postulat, Gymnasium 119, 2012, 335–58, also stresses the importance of the worshippers’ attitude for the gods’ acceptance of their offerings. 5  As Levene, D. S.: Religion in Livy, Leiden 1993, 7, observed, ‘… the Romans tended to



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somewhat hazy moral imperative, Liebeschuetz doubted that ‘thoughts of the gods’ loomed ‘largely in the minds of the individual Roman when he was wondering whether to perform or to omit a particular action. The moral effect of religion was moderated by the absence of a formulated code of divine commandments’; in short, ‘fear of divine displeasure was very rarely a motive when a Roman decided on a course of action’.6 Thus, when Lucretius argued there was no reason to dread punishment in the underworld one might suspect him of being engaged in a Greek-inspired debate; certainly there is little evidence this was a widely shared anxiety among his Roman contemporaries.7 It would therefore seem that from a pagan point of view morality and social norms were not underpinned by the divine in any way comparable to that found in the later Christian world, but rather than finishing our discussion on this negative note, we might explore whether there are other, more oblique avenues of investigation that might reveal a religious dimension to the ‘Lebensmodelle’ of the Roman republic. In the remainder of this essay I will therefore consider one of the key Roman concepts defining the relationship between mortals and gods, which is that of pietas in the hope of shedding some further light on the conceptual pairing ‘Weltflucht/Weltverantwortung’, which provides the theme of this seminar. What makes pietas so fascinating to a modern observer – and relevant in this context – is the surprisingly wide range of relationships which it covers, including some that to a contemporary sensibility would appear to be of an essentially different nature. It appears to have been a uniquely Roman concept which has no direct modern equivalent and hence poses basic questions of definition and translation. Pietas can be briefly summarised as the duty of respect and reverence that was owed not just to the gods but also to country, parents, patrons, as well as brothers and in some cases spouses and other relatives.8 Augustus famously made it a central slogan of his self-proclaimed restoration of ancient morality, as reflected in Virgil’s pius Aeneas.9 This particular emphasis made sense treat morality as a fundamentally secular question; however, there was often an underlying if ill-defined notion that any form of unjust or immoral behaviour is subject to divine penalty’, but perhaps the key word here is ‘ill-defined’. 6   Liebeschuetz: Continuity and Change, ibid. 7   In Leg. 2.43 f Cicero deals with divine punishment in general, which he describes as being ‘mental tortures during life and such ignominy after death that the living not only approve of the destruction of the guilty but even rejoice thereat’, constet ex vexandis vivorum animis et ea fama mortuorum, ut eorum exitium et iudicio vivorum et gaudio conprobetur. 8   Cf. e. g. Ad Her. 3.4: …, si quod ius in parentes, deos, patriam natura conparavit, id religiose colendum demonstrabimus; si hospitia, clientelas, cognationes, adfinitates caste colenda esse dicimus, …. On pietas in general see Dörrie, H.: Pietas, AU 4.2, 1959, 5–27; Thome, G.: Zentrale Wertevorstellungen der Römer II: Texte – Bilder – Interpretationen, Bamberg 2000, 29–51, with further literature. 9   Generally on pietas in Augustan propaganda Wagenvoort, H.: Pietas, in: Pietas. Selected studies in Roman religion, Leiden 1980 [first published 1924], 1–20. His claim, pp.

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because pietas was regarded as the foundational virtue from which all others flowed. For example, in his speech for Plancius Cicero describes Plancius’s relationship with his father and declares that in his opinion pietas is the basis for all virtues.10 Thus should pietas disappear so would all those qualities that sustain human and divine relations. The same point was later repeated in the De natura deorum, where Cicero noted that: ‘if there is no pietas, sanctitas and religio will disappear’, and continued: ‘When these are gone life becomes a welter of disorder and confusion; and in all probability the disappearance of pietas towards the gods will entail the disappearance of fides and societas generis humani, and iustitia, the excellentissima virtus’.11 The question is how we understand the nature of this concept, whose wide application suggests that the Romans believed all these personal as well as impersonal relationships somehow were of a similar nature and shared the same essential quality. In his recent attempt at defining pietas Charles King identified three key characteristics which may form a useful point of departure for our discussion.12 1. pietas was a reciprocal, if not necessarily symmetrical bond 2. pietas was a binding and long term, often permanent relationship 3. pietas could combine multiple links simultaneously, individual as well as collective and they might be of unequal strength and ranked hierarchically. While the last two characteristics seem fairly uncontroversial, the first is perhaps more surprising. King’s insistence on the element of reciprocity appears to be heavily influenced by Richard Saller’s work on the role of the pater familias, which he sought to redefine in less intimidating and authoritarian terms.13 The pursuit of this particular argument led Saller to insist that 8 f., based on Cic. Fin. 3.73; Nat. deor. 1.3, 116; Top. 90; Off. 3.28, that pietas was clearly distinguished from religio until the 40s BCE does not match the evidence, cf. e. g. Cic. Dom. 107; Har. 19; Red. Quir. 18. Schröder: Römische pietas, also argued that the gods were not themselves object of pietas (‘Die Götter sind nicht Objekt der pietas von Menschen …’, 340) but merely appreciated it in their worshippers. However, her own discussion pp. 353–56 suggests that this was not the case, as does the evidence assembled in TLL s. v. Pietas X.2 2088 f, 2238 f. 10   Planc. 29: … primum cum parente (nam meo iudicio pietas fundamentum est omnium virtutum), quem veretur ut deum … 11   Nat. deor. 1.3 f: In specie autem fictae simulationis sicut reliquae virtutes item pietas inesse non potest, cum qua simul sanctitatem et religionem tolli necesse est; quibus sublatis perturbatio vitae sequitur et magna confusio, atque haud scio an pietate adversus deos sublata fides etiam et societas generis humani et una excellentissima virtus iustitia tollatur. In Rep. 1.2, we find the same hierarchy of virtues … unde enim pietas aut a quibus religio? followed by ius, iustitia, fides, aequitas, pudor, continentia, and others. 12   King, C.: The organization of Roman religious belief, Classical Antiquity 22, 2003, 275–312. 13   Saller, R. P.: Pietas, obligation and authority in the Roman family, in: Alte Geschichte und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Christ, Darmstadt 1988, 293–410, follo-



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parents owed their children pietas in the same way as children did towards their parents. However, explicit references to parental pietas, as opposed to the common-place filial variety, are in fact quite unusual, especially under the republic, Plautus’ reference to a father who showed pietas when rescuing his daughters being a rare exception, Poen. 1137. In the Ad Herennium we are told that ‘there is a natural law, observed ‘cognationis aut pietatis causa’, by which parents are esteemed by children and children by parents’.14 This particular passage is open to interpretation, however, since it may be seen as a chiastic construction where ‘pietas’ refers to the children and ‘cognatio’ to the parents. Notably, Valerius Maximus heads his section on parental affection for their children ‘De parentium amore et indulgentia in liberos’, without reference to pietas, 5.7.15 The concept of parental pietas appears largely to be a development of the empire when the meaning gradually came to approach that of clementia and caritas. Thus later legal sources could describe parental obligations towards children, e. g. when writing a will, in terms of pietas, although the phrase pietatis ratio also occurs, perhaps in order to distinguish it from pietas itself.16 An element of mutuality was clearly present in pietas, at least at this stage, but the question is whether that was an essential feature. Great favours may be implicit in the bond, but are they returned in full, reducing it to a simple quid pro quo? In the case of the gods, the inequality is obvious, and the fact that sacrifices and prayers were considered in some way pleasing to the gods hardly constitutes genuine reciprocity.17 Cicero’s De natura deorum, 1.3, is a key text on this issue. The passage is part of an argument against the deism of some forms of Epicureanism which held that gods exercised no control over human affairs. Cicero asks how pietas, sanctitas, religio can exist in such a world? Because these are offered to the gods’ numen on the assumption that wed by e. g. Bannon, C. J.: The Brothers of Romulus. Fraternal pietas in Roman law, literature, and society, Princeton 1997, 4, cf. 12 f. Also TLL s. v. Pius, X.2 2229–48, 2230 f, describes it as a reciprocal bond. 14   Ad Her. 2.19: Natura ius est quod cognationis aut pietatis causa observatur, quo iure parentes a liberis et a parentibus liberi coluntur. 15   Valerius Maximus’ much-quoted story of the breastfeeding daughter who saved her imprisoned mother, condemned to starvation, would seem to be a straightforward case of pietas owed to a parent, rather than, as it has been argued, an illustration of role-reversal and reciprocity, 5.4.7. Aspects of pietas in Valerius Maximus and its reception are discussed in Danese, R. M. / Lanciotti, S. / Raffaelli, R. (Hrsgg.): Pietas e allattamento filiale. La vicenda, l’exemplum, l’iconografia. Colloquio di Urbino, 2–3 maggio 1996, Urbino 1997. 16   According to Saller: Pietas, there are more references in the Digest to paterna and materna pietas than to pietas without epithets, although it must be emphasised that pietas in essence was a moral rather than legal concept and therefore fairly rare in these sources. 17   The Oxford Latin Dictionary, s. v. Pietas, lists as one of its meanings ‘the reciprocal feeling of gods towards human beings’, but since both references are to Vergil, Aen. 2.536, 5.688, it is doubtful whether it was common usage.

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they take notice of them and that they have offered some service to humans. If gods cannot or will not interfere in human affairs, there is no reason for cultus, honores, preces’.18 Cicero here seems to be less concerned with reciprocity than with the possibility of maintaining a meaningful communication between gods and mortals, which would be precluded if the gods took no interest in human affairs. Insisting on such a communication is not the same as saying they always listen or return favours. From a different perspective John Scheid pointed out that although the Roman gods had formed a ‘pact’ with the Romans and even accepted the ‘tutelle’ of priests/magistrates their superiority was still indisputable; indeed, he concluded: ‘la piété consiste précisement à reconnaître cette supériorité des dieux’.19 Thus, it could be argued that it was the very absence of equality and symmetry that formed the core of Roman pietas; it was ultimately a power relationship and one that could never fully be reversed. The pietas owed by freedmen towards their patrons sums up very clearly the nature of the relationship, which was one of moral debt and obligation rooted in a favour of fundamental importance; for while the patron also carried some duty of care towards his former slave, that was largely because he had become a member of his familia and hence remained under his authority. Crucially, this duty was not conceptualised as pietas which in principle was directed only upwards, not downwards towards dependants. Showing pietas could therefore be seen as the open and public recognition and acceptance of debt and obligation in relation to the other party. As such there was also a clear link between pietas and officium. For example, Cicero could praise his close associate Milo with the phrase, ‘nullum pietatis officium defuit’, no duty of pietas was missing – again indicating both familiarity and hierarchy, Mil. 100. One type of relations governed by pietas stands out since it implies equality rather than hierarchy and that is the pietas between brothers. Fraternal relationships are also frequently associated with affection, and there is a sense that this type of pietas somehow was not a typical expression of this value. Thus Cicero could link pietas to the son, consilium to the father and amor to the brother, Post red. sen. 37. Occasionally the Romans themselves noted this peculiarity; Valerius Maximus’ section on fraternal pietas explained it by its common source, that is, the shared lineage, parents and responsibility, 5.5. 18   Cic. Nat. deor. 1.3: Sunt enim philosophi et fuerunt qui omnino nullam habere censerent rerum humanarum procurationem deos. Quorum si vera sententia est, quae potest esse pietas, quae sanctitas, quae religio? Haec enim omnia pure atque caste tribuenda deorum numini ita sunt, si animadvertuntur ab iis et si est aliquid a deis immortalibus hominum generi tributum. Sin autem dei neque possunt nos iuvare nec volunt, nec omnino curant nec quid agamus animadvertunt, nec est quod ab iis ad hominum vitam permanare possit, quid est quod ullos deis immortalibus cultus honores preces adhibeamus? 19   Scheid, J.: Religion et piété à Rome, Paris 2001, 74.



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Moreover, it could be argued that it may have been the sheer strength of that particular bond which seemed to the Romans to merit the august designation of pietas, despite – and not because of – its equal nature and lack of clear hierarchy. These factors also made it more important than conjugal pietas which is rarely attested, probably because marriage generally lacked a formal power relationship; Plautus’ Stichus 7a, is an exception but that text dates from a period when many wives were still in manu.20 Neither was it based on exchange of favours nor, of course, on any shared lineage. Pietas relations contained a strong element of gratitude, but that did not make them entirely transactional, since there was also an implied expectation of affection and emotional attachment. In a striking passage Cicero tells us that Plancius revered his father like a god and even allowing for some rhetorical hyperbole, it nevertheless suggests a perception of filial pietas as a dutiful response to enormous benefits, rather than a two-way relationship.21 The fact that children owed their parents their life placed them in an ever-lasting and unbreakable bond. Cicero could therefore logically go on to identify pietas as a grateful disposition (voluntas grata) shown to one’s parents, asking: For what is pietas unless it is a grateful disposition towards one’s parents? Who are the good citizens, who are the ones worthy of their country both at home and at war if they are not those who have remembered the services of their country? Who are the pious ones, attentive to religion, unless they are those who give due thanks to the immortal gods with just honours and thoughtful memory? What pleasures can there be in life if friendships are taken away? Moreover, what friendship can exist between ungrateful people? Who amongst us who has been freely educated does not gratefully recall his tutors, teachers and instructors, or even the lifeless place itself where he was raised or taught?22

This passage highlights the perception of pietas as an expression of gratitude for inherited and communal bonds. As such the concept embodied the thankfulness naturally expected of all citizens, inasmuch as they owed gratitude to their parents, the gods, and the community. What is most remarkable about this type of bond is its all-encompassing nature, covering as it did a wide continuum which comprised divine as well as human relations and spanned the entire social scale, from the entire nation down to individual family units.

20   Tellingly it was used more often about the devotion of wives towards their husbands than vice versa, TLL s. v. Pietas, X.2 2086–2105, 2094 3a. 21   Cic. Planc. 29: primum cum parente … quem veretur ut deum. 22   Cic. Planc. 80 f.: Quid est pietas nisi voluntas grata in parentes? qui sunt boni cives, qui belli, qui domi de patria bene merentes, nisi qui patriae beneficia meminerunt? qui sancti, qui religionum colentes, nisi qui meritam diis immortalibus gratiam iustis honoribus et memori mente persolvunt? Quae potest esse iucunditas vitae sublatis amicitiis? quae porro amicitia potest esse inter ingratos? Quis est nostrum liberaliter educatus cui non educatores, cui non magistri sui, atque doctores, cui non locus ipse ille mutus ubi altus aut doctus est, cum grata recordatione in mente versetur?

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At this point we might ask what the implications were of that uniquely Roman construction of divine and human relations. Most obviously, a variety of relationships which we today would categorise as ‘secular’ were endowed with a moral imperative otherwise associated with the divine. For example, on his return from exile Cicero solemnly promised a public meeting that the pietas towards the immortal gods displayed by the greatest exemplars of pietas should always mark his dealings with the Roman people, and that in his judgement the majesty of the Roman people should be as venerable and as inviolable as that of the immortal gods.23 From a Christian viewpoint the likening of divine and human relations would have been disturbing, but that was of course not the case in Rome, where the worship demanded by deities was not considered to be of a fundamentally different nature from the respect owed to parents or the loyalty demanded by the state. Indeed it has been argued that observance of the gods might be interpreted as the highest level of esteem and veneration rather than a fundamentally different type of relationship.24 As a result, a wide range of relations were in effect placed on a similar footing, and importantly so were violations against them; impietas in any of its many manifestations verged on sacrilege and could be construed as a threat to the community in the same way as offences committed directly against the gods.25 It would go too far to say that the concept of pietas led to a blurring of essential categories, the Romans always distinguishing sharply between the eternal Olympic gods and mere mortals. Nevertheless, one could argue that it brought them closer together in some respects, not least because there existed between the pietas owed to gods, country, parents, and patrons a normative category which shared in all these aspects of authority. They were the maiores, the personal and collective ancestors of the Romans, and it is with the maiores that we finally approach the ‘models for living’. The pivotal role of the mos maiorum, the custom of the ancestors, as a key reference point for Roman identity and public discourse requires little elaboration. Every political action had to be justified in relation to the maiores, whose example provided a shared ideological space within which all moral, philosophical and political arguments took place. The weight and authority held by the mos maiorum has been linked to the particular status and identity 23   Cic. Red. Quir. 18: primum, qua sanctissimi homines pietate erga deos immortales esse soleant, eadem me erga populum Romanum semper fore numenque vestrum aeque mihi grave et sanctum ac deorum immortalium in omni vita futurum. 24  See Gradel, I.: Emperor Worship and Roman Religion, Oxford 2002. 25   The notion of impietas, defined as ‘that which cannot be expiated’, Varr. LL 6.29–30, casts a revealing light on the positive concept, and particularly the religious aspect of pietas, which was recently questioned by Schröder: Römische pietas, since the element of religious transgression suggests an instinctive linkage between pietas and duties towards the gods. For impietas see Scheid: Religion, 35–45.



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of these maiores, itself a much debated subject.26 The following observations on this matter are much indebted to the work of Lucy Jones, who recently completed a doctoral thesis on collective memory in republican Rome.27 She drew attention to the elusive nature of the maiores, also noting that while each family – not least those of the elite – may have counted and paraded their own personal maiores, the Roman people as a collective also celebrated their maiores, who were therefore not the sole prerogative of a small (patrician?) elite. As Jones obsereves, the category is surprisingly vague, since no Roman ancestor is in fact described as a maior. A study of its application further suggests that it broadly comprised those who lived before nostra memoria, living memory, which roughly equalled three generations. As such the maiores had no fixed temporal location but moved with the progress of time. Importantly this also made them distinct from the named ancestors who featured in exempla, instructive anecdotes from the past. That may have been part of their strength; for when an ancestor is named and associated with a particular deed he also becomes a potential object of discourse which may call his exemplarity into question. On the other hand, the collective of the maiores, forever untainted by specificity, could continue to offer moral guidance without the possibility of dispute or subversion, reducing any debate to one of the correct interpretation of the mos. The generalised nature of their example also allowed them to be invoked by all sides of a dispute, thus reinforcing the authority and unifying role of the moral code they embodied. The mos maiorum might be seen as a typical example of the ‘conservatism’ prevalent in many traditional societies which tend to look to the past for solutions to current problems. But there may have been a ‘quasi-religious’ aspect to the power of the ancestors, whose prescriptive mos can be seen as a continuation of the paternal authority that governed the lives of the living, in a sense representing filial deference to the pater familias extended beyond the grave and into the distant past. This process may have been furthered by Roman notions of the afterlife, which implied the dead entered an existential grey zone where some form of continued existence was envisaged. Little is known about the intriguing di parentes, the parental deities, who received domestic worship, or of the equally elusive di manes, spirits of the dead, but these entities hint at a certain boundary crossing at the point where deceased authority figures joined their ancestors in the spirit world. Annual festivals were celebrated within each family to placate the spirits of the dead, who   See the essential collection of papers in Linke, B. / Stemmler, M. (Hrsgg.): Mos Maiorum. Untersuchungen zu den Formen der Identitätsstiftung und Stabilisierung in der römischen Republik, Stuttgart 2000. 27   Jones, L.: Memoria nostra. Collective memory in the late Roman republic, Ph.D. thesis, King’s College London 2012. 26

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were credited with the power both to harm and to assist the living. Therefore, although the Romans did not practice ancestor cult in the conventional sense, they clearly continued to engage with the dead, recognising their claim to respect and remembrance. While the maiores were not themselves the object of pietas, they did become inextricably associated with this concept. Their very antiquity placed the maiores nearer to the gods, and Cicero could describe domestic rites as having been handed down almost from the gods themselves, ancient times somehow being closer to the divine.28 They were, moreover, credited with the creation of the res publica, its institutions and empire, its religious practices and by implication also the pax deorum that sustained the community. Thus Cicero praised the wisdom of the maiores ‘who had themselves paid strict observance to worship and rites and auspices, and handed them on to us their descendants’.29 The immense legacy of the maiores commanded the Romans’ lasting respect and devotion, the patria being in a sense the patrimonium bequeathed from the maiores and binding the living in debt and gratitude. Through their collective efforts the maiores had laid down a ‘guide to life’, which ensured the continuation of their legacy and in a sense gave them a mediating role between gods and humans who were able to maintain pietas by emulating their example. It could therefore be argued that the veneration of the maiores may have contained a quasi-religious element, partly because they themselves, in a vague and ill-defined way, shared in the timeless existence of the divine, but above all because they had first devised the proper forms of interaction between the populus Romanus and its gods. The mos maiorum and the example of the ancestors occupied the critical ideological point where key aspects of Roman pietas intersected, the gods, the patria, and the domestic authority of the father. As such it was underpinned by pietas in all its central manifestations, above all by the immense gratitude they commanded from the living, the very quality which, as Cicero noted, formed the core of pietas. It was the ancestors who became the mod­ els for the living in a way the eternal gods did not and never could do. The respect they enjoyed derived from their position at the pivotal spot where the spiritual world, the nation and the hierarchical Roman family came together. The result was a ‘conservative’ moral code, ostensibly derived from past experience but in reality something far more complex and pervasive. The moral code in Rome went beyond a mere system of shared social values; it was part of a normative totality that encompassed the divine and human spheres, past and present, the nation as well as the family. As such it defined the outlook 28   Leg. 2.27: Iam ritus familiae patrumque servare id est quoniam antiquitas proxume accedit ad deos, a dis quasi traditam religionem tueri. 29   Mil. 83: … maiorum sapientia, qui sacra, qui caerimonias, qui auspicia et ipsi sanctissime coluerunt et nobis, suis posteris, prodiderunt.



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and world view of the Romans in a way that is perhaps difficult to imagine today. Moreover, it was not just an abstract set of ideals but manifested itself in the physical reality that surrounded the Romans in their everyday lives. The city of Rome, its buildings, sites and associated stories and myths, had become an expression of the timeless reality of the past and the duty owed to the maiores and their legacy. The city itself stood as a monumentum, literally a reminder, of the greatness of those whose collective effort had laid the foundation for her later glory.30 Like other pre-modern societies the Romans did not operate with a linear sense of time comparable to that prevalent in modern societies. Comparative studies of oral societies have revealed a typical tripartite division of time into living memory, which covers roughly three generations, a poorly-defined ‘middle’ period, and the distant age of the mythical founders. The Dutch theorist Vansina famously described the ‘middle’ period between myth and personal memory as the ‘floating gap’, and it was, as noted above, to this vague and ever-moving ‘gap’ that the nebulous maiores belonged.31 The monuments to their memory, though constantly visible, therefore formed no single narrative or chronology. Instead the past and its relics acted as a kind of backdrop to the lives of the living, ever present but with little order, depth or detail. In short, the mos maiorum formed a universal reference point, indisputable because it embodied all the fundamental values of society, and underpinned by obligations of an almost religious nature. It was, moreover, difficult to query its precise tenets, detached as it was from any single individual or specific group of role models. But that merely made the central message so much clearer and unambiguous; it was one of submission to familial authority, service to the state and the collective, obedience to hierarchical powers, above 30   On Rome as a place of shared cultural memories see Walter, U.: Memoria und res publica. Zur Geschichtskultur im republikanschen Rom, München 2004, esp. chs. 4–5; Hölkeskamp, K.-J. /Stein-Hölkeskamp, E. (Hrsgg.): Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt, München 2006, 75–122; Hölkeskamp, K.-J.: Capitol, Comitium und Forum. Öffentliche Räume, sakrale Topographie und Erinnerungslandschaften in der römischen Republik, in: Senatus, populusque Romanus. Die politische Kultur der Republik – Dimensionen und Deutungen, hg. von K.-J. Hölkeskamp, Stuttgart 2004, 137–68; Hölkeskamp, K.-J.: Images of power. Memory, myth and monuments in the Roman republic, SCI 24, 2005, 249–71.. 31   Vansina, J.: Oral Tradition. A Study in Historical Methodology, London 1965, cf. Jones: Memoria nostra. This model is of course only partly applicable to Rome which certainly by the middle and later republic was no longer a purely oral society. Written records existed which retained more detailed memories going back more than three generations, as illustrated by the ability of historians such as Livy to present relatively full accounts of the third and second centuries. The extent to which the (limited) availability of historical records influenced the lived experience of time is an open question, however. For an attempt to apply the model to Roman historiography see Ungern-Sternberg, J. von: The tradition on early Rome and oral history, in: Greek and Roman Historiography. Oxford Readings in Classical Studies, hg. von J. Marincola, Oxford 2011, 119–149.

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all the divine.32 To reject those values was to place oneself outside not just society, but almost the natural order. It was a form of impietas and as such a danger to society, the family, and ultimately the pax deorum. The maiores, in other words, tied all members of society into a dense web of duties and obligations, within the family and the familia, in the community, and in relation to the gods. The mos maiorum and the associated ideals of pietas defined the roles of high and low in equal measure. At the top the senatorial class was bound in service to the patria in capacities befitting their elevated status, Cicero famously extolling the virtue of public service and claiming that those who ‘governed cities by wise counsel and authority are to be deemed far superior, even in wisdom, to those who take no part at all in the business of government’.33 But all male citizens whatever their standing had obligations towards their country, most obviously to carry arms and defend/expand her power, while at domestic level dependent members of the familia, ordered in a strict hierarchy, were required to obey and respect their pater familias, patronus and dominus. Therefore, returning to the theme of the Göttingen seminar, it might be argued that what is termed ‘Weltflucht’ was not an option that could be mea­ ningfully contemplated among the citizens of the free res publica, for whom ‘Weltverantwortung’ represented a moral imperative. Questioning the ideals of service and submission to the collective, let alone acting upon these impulses, would mean turning their back to the world they knew and the values with which they had been inculcated since childhood.34 In principle it could be done only by physically leaving the city behind, itself the living embodiment and reminder of these ideals. Perhaps it is therefore not incidental that Cicero’s friend Atticus, a natural member of the political class had he wished to, lived out much of his detached, non-political life far from Rome, in Athens. Viewed against this background the radical and potentially subversive innovation marked by the arrival of Greek philosophical schools also becomes apparent, since they for the first time put the focus firmly on the individual, his preferences and guiding values. The most obvious challenge came from Epicureanism with its elevation of the non-political life and retreat into the 32   The Roman model of a public life in service of the res publica is discussed in Mutschler, F.-H.: Happiness, life models and social order in republican and Augustan Rome, Symb. Osl. 85, 2011, 134–60. 33   Rep. 1.3: qui his urbibus consilio atque auctoritate praesunt, his qui omnis negotii publici expertes sint, longe duco sapientia ipsa esse anteponendos. 34   On the socialisation of sons in the elite see Scholz, P.: Teilhabe, Nachnahmung und Bewährung. Formen und Wege der Aneignung und Vermittlung einer vita honesta in der römischen Republik, in: Von der militia equestris zur militia urbana. Prominenzrollen und Karrierefelder im antiken Rom, hg. von W. Blösel / K.-J. Hölkeskamp, Stuttgart 2011, 137–56.



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private sphere of friendship and pursuit of personal happiness.35 But even stoicism, supposedly more congenial to the ethos of the Roman ancestors, involved a personal choice that was in principle at variance with traditional mores. As a social totality inseparable from Roman identity, descent, domicile and soil the essence of the mos maiorum was precisely its non-negotiability which put it beyond the questioning of individual members of society. In this context it is perhaps indicative that Greek-inspired philosophical discourses invariably were set outside the city of Rome, in luxurious country- or sea­ side villas, which themselves reflected personal withdrawal as well as foreign, Hellenised tastes. These observations have all focused on the republic and the unique quality of this period becomes apparent when one considers what happened after the arrival of the principate and the end to collective aristocratic government. Despite the new regime’s claim to restoring republican values, it was obvious to all observers that the world had changed and that fundamental tenets of the mos maiorum had been redefined, certainly for the ruling class. It meant that for the first time withdrawal from public life became a conceivable, even attractive life choice, and right from the inception of the principate there are signs of a new kind of elite, one that was more ambivalent about public service at the highest level, now increasingly considered devoid of honour. The disillusion may partly have been a straightforward response to the loss of power, but it also seems to have been accompanied by a sense that the glorious past of the maiores had come to an end and was no longer being continuously expanded and built upon. Whereas in the republican era members of the elite could hope to join the maiores of the future, after the great caesura of the civil wars and the collapse of the republic there were, as Tacitus deplored, little greatness and few uplifting events for the historian to depict, Ann. 4.32. This lament goes beyond conventional nostalgia and suggests a real sense of loss and disjunction between past and present. Similarly, when the younger Pliny invokes republican models in his listing of Trajan’s virtues and achievements, it also seems clear that he does not believe these values are otherwise 35   See for example Lucr. 2.1–19, on the joy of a life without struggles for wealth and power. According to Schiesaro, A.: Lucretius and Roman politics and history, in: The Cambridge Companion to Lucretius, hg. von S. Gillespie / P. Hardie, Cambridge 2007, 41–58, Cicero saw Epicurean voluptas as a threat that ‘would destroy the very essence of the res publica as a community backed by metaphysical values’ (51). The perceived incompatibility of Epicureanism with traditional Roman values is nicely illustrated by the case of T. Albucius, who was exiled for repetundae in 103 BCE and settled in Athens where he was able to live openly as an Epicurean, Cic. Fin. 1.9; Tusc. 5.108; cf. Mutschler: Happiness, 139. Likewise, Cicero was adamant that no Roman who openly professed his Epicureanism stood any chance of gaining public office, Fin. 2.74–6. In general on Epicureanism in republican Rome see Sedley, D.: Epicureanism in the Roman Republic, in: The Cambridge Companion to Epicureanism, hg. von J. Warren, Cambridge 2009, 29–45, esp. 43 f.

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active and alive.36 The feeling of being part of a single social and temporal continuum that characterised the republic appears to have been irretrievably lost and it is perhaps not least in this perspective that the overriding emphasis Augustus placed on pietas should be viewed, that is, as a tacit recognition of the vital role this quality played in holding Roman society together, linking gods to humans and connecting past and present. However, the growing gulf between the imperial reality and evermore distant republican models was undeniable, and as a result the moral imperative of history, the past and the maiores became increasingly detached from the lives of the elite. In that respect it set the elite free and allowed them to c­ hoose or reject what had previously been given; for while the social force of the mos remained undiminished, its practical implication were now a matter of interpretation. One could follow directly in the footstep of the ancestors and serve the patria in the traditional manner through honores and office-holding; or one could adopt an alternative, purely moral interpretation and withdraw from a political world that no longer respected the freedom and dignity of those involved. For example, already Cornelius Nepos emphasised Atticus’ adherence to the mos maiorum and his personal dignitas, which would have been compromised in the world of politics, thereby subverting the conventional notion of dignitas as a status acquired through honores.37 It was, in other words, increasingly up to the individual to give meaning to their lives in ways that would have been foreign to members of the old republican aristocracy.38 Whereas the world of the free republic had been one in which past, present and future seemed to blend seamlessly together, the advent of monarchy had brought with it a sense of rupture and discontinuity, which introduced a fundamental ‘before and after’ that located the ideal of social and political enga  E. g. Pan. 11.4; 12.4; 28.1; 57.5; 61.7; 63.2; 69.4–6; 81.2; 83.5   Nepos was of course keen to suppress any hint of Atticus’ Epicurean leanings and tried to reframe his life in Stoic terms. See also the interesting discussion in Leppin, H.: Atticus – zum Wertewandel in der späten römischen Republik, in: Res publica reperta. Zu Verfassung und Gesellschaft der römischen Republik und des frühen Prinzipats. Festschrift für Jochen Bleicken zum 75. Geburtstag hg. von J. Spielvogel, Stuttgart 2002, 192–202. 38   Levick, B.: The politics of the Early Empire, in: Roman Political Life 90 B.C. – A.D. 69, hg. von T. P. Wiseman, Exeter 1985, 45–68, esp. 60–3, noted that ‘each member of the senatorial class had to make up his mind how to behave in the face of the Principate’, 46, and that ‘these posts had in truth lost their intrinsic attraction’, 61. See also Burton, G. / Hopkins K.: Ambition and withdrawal: the senatorial aristocracy under the emperors, in: Death and Renewal, hg. von K. Hopkins, Cambridge 1983, 120–200, 166–71, on the shortage of candidates, which is recorded not just under the first emperor (13 and 12 BCE, Dio 54.26, 30), but also later, e. g. 38 CE, Dio 59.9. Most recently the question has been discussed in depth by Stein-Hölkeskamp, E.: Zwischen Pflicht und Neigung? Lebensläufe und Lebensentwürfe in der römischen Reichsaristokratie der Kaiserzeit, in: Von der militia equestris zur militia urbana. Prominenzrollen und Karrierefelder im antiken Rom, hg. von W. Blösel / K.-J. Hölkeskamp, Stuttgart 2011, 175–95. 36 37



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gement, ‘Weltverantwortung’, in a different temporal context and effectively reduced it to one option among others.

Bibliography Bannon, C. J.: The Brothers of Romulus. Fraternal pietas in Roman law, literature, and society, Princeton 1997. Burton, G. / Hopkins K.: Ambition and withdrawal: the senatorial aristocracy under the emperors, in: Death and Renewal, hg. von K. Hopkins, Cambridge 1983, 120–200. Danese, R. M. / Lanciotti, S. / Raffaelli, R. (Hrsgg.): Pietas e allattamento filiale. La vicenda, l’exemplum, l’iconografia. Colloquio di Urbino, 2–3 maggio 1996, Urbino 1997. Dörrie, H.: Pietas, AU 4.2, 1959, 5–27. Gradel, I.: Emperor Worship and Roman Religion, Oxford 2002. Hölkeskamp, K.-J.: Capitol, Comitium und Forum. Öffentliche Räume, sakrale Topographie und Erinnerungslandschaften in der römischen Republik, in: Senatus, populusque Romanus. Die politische Kultur der Republik – Dimensionen und Deutungen, hg. von K.-J. Hölkeskamp, Stuttgart 2004, 137–68. –: Images of power. Memory, myth and monuments in the Roman republic, SCI 24, 2005, 249–71. Hölkeskamp, K.-J. /Stein-Hölkeskamp, E. (Hrsgg.): Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt, München 2006, 75–122. Jones, L.: Memoria nostra. Collective memory in the late Roman republic, Ph.D. thesis, King’s College London 2012. King, C.: The organization of Roman religious belief, Classical Antiquity 22, 2003, 275–312. Levick, B.: The politics of the Early Empire, in: Roman Political Life 90 B.C. – A.D. 69, hg. von T. P. Wiseman, Exeter 1985, 45–68. Leppin, H.: Atticus – zum Wertewandel in der späten römischen Republik, in: Res publica reperta. Zu Verfassung und Gesellschaft der römischen Republik und des frühen Prinzipats. Festschrift für Jochen Bleicken zum 75. Geburtstag hg. von J. Spielvogel, Stuttgart 2002, 192–202. Linke, B. / Stemmler, M. (Hrsgg.): Mos Maiorum. Untersuchungen zu den Formen der Identitätsstiftung und Stabilisierung in der römischen Republik, Stuttgart 2000. Levene, D. S.: Religion in Livy, Leiden 1993. Liebeschuetz, J. H. W. G.: Continuity and Change in Roman Religion, Oxford 1979. Mutschler, F.-H.: Happiness, life models and social order in republican and Augustan Rome, Symb. Osl. 85, 2011, 134–60. Saller, R. P.: Pietas, obligation and authority in the Roman family, in: Alte Geschichte und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Christ, Darmstadt 1988, 293–410. Scheid, J.: Religion et piété à Rome, Paris 2001. Schiesaro, A.: Lucretius and Roman politics and history, in: The Cambridge Companion to Lucretius, hg. von S. Gillespie / P. Hardie, Cambridge 2007, 41–58. Scholz, P.: Teilhabe, Nachnahmung und Bewährung. Formen und Wege der Aneignung und Vermittlung einer vita honesta in der römischen Republik, in: Von der militia equestris zur militia urbana. Prominenzrollen und Karrierefelder im antiken Rom, hg. von W. Blösel / K.-J. Hölkeskamp, Stuttgart 2011, 137–56. Schröder, B.-J.: Römische pietas – kein universelles Postulat, Gymnasium 119, 2012, 335– 58.

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Sedley, D.: Epicureanism in the Roman Republic, in: The Cambridge Companion to Epicureanism, hg. von J. Warren, Cambridge 2009, 29–45. Stein-Hölkeskamp, E.: Zwischen Pflicht und Neigung? Lebensläufe und Lebensentwürfe in der römischen Reichsaristokratie der Kaiserzeit, in: Von der militia equestris zur militia urbana. Prominenzrollen und Karrierefelder im antiken Rom, hg. von W. Blösel / K.-J. Hölkeskamp, Stuttgart 2011, 175–95. Thome, G.: Zentrale Wertevorstellungen der Römer II: Texte – Bilder – Interpretationen, Bamberg 2000, 29–51. Ungern-Sternberg, J. von: The tradition on early Rome and oral history, in: Greek and Roman Historiography. Oxford Readings in Classical Studies, hg. von J. Marincola, Oxford 2011, 119–149. Vansina, J.: Oral Tradition. A Study in Historical Methodology, London 1965. Wagenvoort, H.: Pietas, in: Pietas. Selected studies in Roman religion, Leiden 1980, 1–20 [first published 1924]. Walter, U.: Memoria und res publica. Zur Geschichtskultur im republikanschen Rom, München 2004.

Flucht nach vorne Politische und literarische Positionierungen am Ende der römischen Republik Meike Rühl Der Titel der Tagung „Menschenbilder zwischen Weltflucht und Weltverantwortung“ suggerierte, dass Weltflucht und Weltverantwortung die Extrempunkte einer Wahl der aktiven Beteiligung am Weltgeschehen sind. Der vorliegende Beitrag stellt die Frage nach den Möglichkeiten einer Positionierung zwischen diesen beiden Polen und der damit verknüpften Darstellung der Akteure am Ende der römischen Republik. Am Fallbeispiel eines biographischen Details im Leben des Marcus Tullius Cicero – einem gescheiterten Fluchtversuch vor den politischen Gegnern in der Zeit nach Caesars Tod – und dessen unterschiedlicher literarischer Abbildung soll untersucht werden, welchen Mechanismen die Darstellung unterliegt und wie der Entwurf des Porträts an die jeweiligen Umstände angepasst werden kann.

1.  Methodische Überlegungen Der Titel „Menschenbilder zwischen Weltflucht und Weltverantwortung“ lässt selbst mehrere Deutungen seiner Komponenten zu. Ich präzisiere im folgenden zunächst, wie ich diese Begriffe verstehe und welche methodischen Schlussfolgerungen ich daraus ableite: Erstens, zum ‚Menschenbild‘: Bilder geben nie die Wirklichkeit wieder, sie stellen vielmehr etwas dar, was sie selbst nicht sind und verweisen nur auf etwas.1 Man hat es bei einem Bild demnach mit einem Konstrukt zu tun, das durch verschiedene Faktoren beeinflusst wird. Dies gilt auch, wenn wie im vorliegenden Fall ‚Bild‘ nur im übertragenen Sinne verwendet wird. Auch bei der mehrfachen Porträtierung eines Objekts handelt es sich folglich um Kon-

1   Vgl. z. B. Schulz, Martin: Ordnungen der Bilder. Eine Einführung in die Bildwissenschaft, München 22009, 89 f.

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strukte.2 Ferner braucht jedes Bild einen Urheber. Die gilt sowohl für Porträts anderer als auch für Selbstporträts. Will man die Metapher des Menschenbildes mit einem antiken Äquivalent koppeln, das den Prozess der Selbstdarstellung umreißt, liegt der Begriff der persona nahe, dessen Bedeutungsspektrum sowohl Maske als auch Person bzw. Persönlichkeit umfasst.3 Die semantische Verbindung zu einem Theaterutensil deutet bereits darauf hin, dass die Römer bei der Konstituierung der Persönlichkeit von der Möglichkeit individuellen Rollenspiels ausgingen. Eine entsprechende Theorie der persona wird in Anlehnung an die Lehre der Stoa in Ciceros De officiis entworfen. Besonders relevant für die Überlegungen des vorliegenden Beitrages ist, dass die persona durch mehrere Faktoren bestimmt wird. Davon sind einige unveränderbar (etwa die persönliche Veranlagung und Disposition eines jeden oder die Determiniertheit durch das aktuelle persönliche Umfeld). Ein Mensch ist also nicht vollkommen frei, seine eigene Rolle zu wählen, er kann sie lediglich anpassen. Ein Faktor in der persona-Theorie ist jedoch auch der individuelle Einfluss, den ein jeder hat, um sich im Rahmen der vorgegebenen Möglichkeiten zu positionieren.4 Cicero nimmt damit bereits in Ansätzen vorweg, was Stephen Greenblatt in seinem Werk ‚Renaissance Self-Fashioning‘ über die Möglichkeiten und Mechanismen einer Selbstdarstellung im Text äußert: Literatur basiert demnach auf der Interaktion zwischen individuellem Urheber, kulturellen Mustern und der Reflexion dieser Muster.5 Zweitens, zu ‚Flucht und Verantwortung‘. Beide Begriffe lassen sich aus einer soziokulturellen Perspektive nur in einer Konstellation mit jeweils zwei Aktanten denken: Wer flieht wovor und übernimmt Verantwortung wofür. Beide Objekte können konkret (Personen) als auch auch abstrakt (Institutionen) gedacht werden. Wer vor der ‚Welt‘ flieht und keine Verantwortung für sie übernimmt, ist nicht soziabel. Eine Weltflucht kommt damit einer Verweigerung der herrschenden kulturellen Praktiken gleich, ohne sich jedoch ganz außerhalb dieser Praktiken stellen zu können. Auch eine Negation des Systems ist immer noch Teil des Systems. Eine Flucht vor der Welt ist in der römischen Republik für die meisten Mitglieder der Nobilität nicht denkbar. Denn ihr Status ergibt sich aus ihrer Sichtbarkeit und ihrem Einfluss innerhalb der Gesellschaft; und dieser ergibt sich zunächst aus vornehmlich politischer und gesellschaftlicher, zunehmend   Die antike Literatur kennt eine Reihe von Künstleranekdoten, deren Werk so echt aussah, dass es die Betrachter täuschen konnte (etwa Plin. nat. 35,23); als besonders erfolgreich in dieser Hinsicht galt Zeuxis (vgl. Cic. inv. 2 praef. oder Plin. nat. 35,64–66). 3   ThLL s. v. persona (Dubielzig 1998). 4   Vgl. Cic. off. 1,107 ff. Mehr dazu in Kap. 4.1. 5   Greenblatt, Stephen: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 2005, 4. 2



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aber auch kultureller Interaktion. Selbst der Rückzug ins otium, einer dezidiert kultivierten suburbanen Lebensform in Gesellschaft Gleichgesinnter, das dem durchaus produktiven Studium der Literatur und Philosophie gewidmet ist und das im 1. Jh. v. Chr. zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist unter diesem Aspekt als Aussage zur ‚Welt‘ zu werten:6 Er schließt die Welt nicht aus, sondern transferiert sie. Dass zu dieser Zeit das otium kein exklusives, sondern ein inklusives Konzept ist, zeigt sich daran, dass die gesellschaftlichen Kontakte und Interaktionen über die Grenzen des otium hinausreichen und dass die Themen des negotium, mit dem der Römer seinen aktiven Einsatz für das Gemeinwesen bezeichnet, auch die Literaturproduktion des otium durchziehen. Um soviel übertragene Bedeutungen fassen zu können, geht der vorliegende Beitrag von zwei ganz konkreten angetretenen, aber letztlich nicht durchgeführten Fluchtversuchen aus. Beide Male versucht Cicero seinen politischen Gegnern, namentlich Marcus Antonius, aus dem Weg zu gehen und dessen Häschern zu entkommen. Die Untersuchung stellt zunächst die Frage, ob die Hinwendung Ciceros zum otium tatsächlich als Flucht zu werten ist, bevor sie sich mit den Strategien beschäftigt, die den Fluchtversuch in Ciceros Selbstporträt einfügen.

2.  Das Ende eines Fluchtversuchs 2.1.  Kopf und Hände: Die Relikte eines Cicero Beginnen wir mit Ciceros Ende. Im Geschichtswerk des unter Augustus schreibenden Titus Livius liest man folgende Beschreibung der Umstände seines Todes:7 Cicero sub adventum triumvirorum urbe cesserat, pro certo habens, id quod erat, non magis Antonio eripi se quam Caesari Cassium et Brutum posse; primo in Tusculanum fugerat, inde transversis itineribus in Formianum ut ab Caieta navem conscensurus proficiscitur. Unde aliquotiens in altum provectum cum modo venti adversi rettulissent, modo ipse iactationem navis caeco volvente fluctu pati non posset, taedium tandem eum et fugae et vitae cepit, regressusque ad superiorem villam, quae paulo plus mille passibus a mari abest, „moriar“ inquit „in patria saepe servata.“ Satis constat servos fortiter fideliterque paratos fuisse ad dimicandum; ipsum deponi lecticam et quietos pati quod sors iniqua cogeret iussisse. Promi6  Zum otium allgemein André, Jean-Marie: L’Otium dans la vie morale et intellectuelle romaine des origines à l’époque augustéenne, Paris 1966; zur Entwicklung im Prinzipat Krasser, Helmut: Imagines vitae oder Lebensführung als Programm. Neue Formen biographischer Selbstkonstruktion in der Kaiserzeit, in: Römische Werte und römische Literatur im frühen Prinzipat, hg. v. Andreas Haltenhoff u. a., BzA 275, Berlin 2011, 145–166; zum otium als Voraussetzung für Textproduktion Stroup, Sarah Culpepper: Catullus, Cicero, and a society of patrons. The generation of the text, Cambridge 2010. 7   Überliefert bei Sen. suas. 6,17 (= Liv. frg. 59,4).

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nenti ex lectica praebentique inmotam cervicem caput praecisum est. Nec satis stolidae crudelitati militum fuit: manus quoque scripsisse aliquid in Antonium exprobrantes praeciderunt. Ita relatum caput ad Antonium iussuque eius inter duas manus in rostris positum, ubi ille consul, ubi saepe consularis, ubi eo ipso anno adversus Antonium quanta nulla umquam humana vox cum admiratione eloquentiae auditus fuerat; vix attollentes lacrimis oculos humentes intueri truncata membra cives poterant. Marcus Cicero verließ bei der Ankunft der Triumvirn die Stadt, weil er sich sicher war (wie es dann auch war), dass er Antonius genauso wenig würde entkommen können wie Cassius und Brutus. Zunächst floh er auf seine Villa bei Tusculum, dann auf Umwegen auf sein Formianum, um von Caieta aus ein Schiff zu nehmen. Nachdem er ein wenig aufs Meer hinausgefahren war und widrige Winde ihn erst zurückgetrieben hatten, er selbst bald auch das Schaukeln des Schiffes durch den hohen Wellengang nicht vertrug, da wurde er schließlich seiner Flucht und seines Lebens überdrüssig, kehrte zu seiner etwas höher gelegenen Villa zurück, die nur eine knappe Meile vom Meer entfernt liegt, und sprach zu sich: „Dann will ich sterben in meinem Vaterland, das ich so oft gerettet habe.“ Es steht außer Frage, dass seine Sklaven tapfer und treu bereit waren, bis zum äußersten zu kämpfen. Er selbst soll angeordnet haben, die Sänfte abzusetzen und in Ruhe zuzulassen, wozu ein ungerechtes Schicksal sie zwinge. Als er aus der Sänfte schaute und seinen Hals unbeweglich nach vorne streckte, schlug man ihm den Kopf ab. Doch das war noch nicht genug für die brutale Vorgehensweise der Soldaten: Auch die Hände schlugen sie ihm ab mit dem Vorwurf, sie hätten etwas gegen Antonius geschrieben. So wurde sein Haupt zu Antonius gebracht und auf dessen Befehl zwischen seinen beiden Händen auf der Rednertribüne auf dem Forum ausgestellt, wo man Cicero als Consul, als ehemaligem Consul, wo man ihm selbst in jenem Jahr noch gegen Antonius mit Bewunderung für seine Redegewandheit zugehört hatte, wie man noch nie einer menschlichen Stimme gelauscht hatte. Kaum konnten die Menschen mit tränenvollen Augen hinaufsehen auf die Gliedmaßen ihres ermordeten Mitbürgers.

Gleich mehrere Zeichner eines Cicero-Bildes sind hier am Werk: Da ist zum einen der Erzähler, der Cicero aus Rom und vor seinen mutmaßlichen Häschern zunächst fliehen, ihn sich dann seinem Schicksal aber stellen lässt. Der Erzähler kommentiert indirekt Ciceros Verhalten, indem er ihm ein der Situation angemessenes Urteilsvermögen attestiert (er flieht, weil er die Situation richtig eingeschätzt und vorausgesehen hat, vgl. id quod erat). Flucht heißt Bewegung: Dass Cicero seinen Platz in der gegenwärtigen Situation nicht findet, illustrieren nicht nur die Umwege, die er macht (transversis itineribus), sondern auch die ungünstige Wetterlage und das unwirtliche Meer, das ihn wegen körperlichen Unwohlseins zur Rückkehr zwingt, schließlich durch Fokalisierung auf Ciceros Empfinden der Überdruss zunächst an der Flucht und dann in einer die folgenden Ereignisse antizipierenden Konsequenz an seinem Leben. Mit dem Entschluss, wieder zurückzukehren, scheint Cicero buchstäblich bei sich selbst angekommen, dies verdeutlicht die einzige wörtliche Rede dieser Episode, komprimiert auf einen Satz, der – wie wir später sehen werden – als Quintessenz Ciceronianischer Selbstdarstellung gelesen werden kann. Verdeutlicht wird der gefundene Platz in der Welt auch durch den Ort der Ereignisse: Cicero hält in einiger Entfernung vom Meer (dem letzten, mit



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Flucht assoziierten Ort) an, auf seinem eigenen Grund und Boden. Interessanterweise steht villa als räumliche Angabe direkt neben dem von Cicero geäußerten patria. Aus dieser Junktur ergibt sich, dass auch die Villa als Ort von Ciceros produktivem otium als Aktionsfläche gewertet werden kann.8 Ferner ergibt sich durch die Wertung und Beschreibung von Ciceros Sklaven eine indirekte Charakterisierung Ciceros: Alle stellen sich bereitwillig der Situation, die Sklaven mit der Waffe, Cicero mit dem Wort (iussisse). Paradoxerweise besteht die aktive Beteiligung an der Situation jedoch darin, nichts zu tun, sondern das Unvermeidliche hinzunehmen (aber aktiv gedacht: prominenti, praebenti, immotam). Ciceros Charakterisierung erfolgt nicht nur durch den Erzählerkommentar und seine ‚eigenen‘ Worte in der Mitte der Episode, sondern auch durch die Stimmen der Soldaten, die ihm vorwerfen, gegen Antonius, der sie geschickt hat (und dessen Cicero-Bild sie damit auch wiedergeben) vorgegangen zu sein. Antonius schließlich gibt den Befehl, Hände und Kopf auszustellen. Ferner ist da die Perspektive ‚der Römer‘, die Cicero für seine Eloquenz bewundern. Die Sympathien des Erzählers sind eindeutig auf Ciceros und ‚der Römer‘ Seite. Dies macht allein schon die Gegenüberstellung des Anklagepunktes deutlich, der aus Antonius’ Perspektive formuliert in einem unspezifischen scripsisse aliquid in Antonium besteht, aus Perspektive der insinuierten einhelligen Meinung der Römer das mündliche Komplement liefert mit einer zweifachen die Rostra und Ciceros politische Biographie räumlich umfassenden Beschreibung (ubi …, ubi …, ubi … adversus Antonium quanta nulla umquam humana vox cum admiratione eloquentiae auditus fuerat). Mund bzw. Kopf und Hände werden so zum Zeichen für den mündlichen und schriftlichen Auftritt Ciceros.9 Das vorgestellte Livius-Fragment ist überliefert in der Sammlung von sua­ soriae, beratenden Beispielreden, die der ältere Seneca zusammengestellt hat. Sie bieten ein zusätzliches Spektrum der Cicero-Rezeption und des CiceroBildes aus mehreren Jahrzehnten nach seinem Tod. Der betreffende Abschnitt steht unter der Ausgangsfrage deliberat Cicero an Antonium deprecetur (Cicero überlegt, ob er Antonius um Vergebung bitten solle, suas. 6). In den meisten der aufgeführten Redebeispiele wird abgeraten. Die darauf folgende Aufgabenstellung ist für unsere Untersuchung als Fragestellung ebenfalls von Interesse und lautet: deliberat Cicero an scripta sua conburat, promittente Antonio incolumitatem si fecisset (Cicero überlegt, ob er seine Schriften verbrennen solle, wenn Antonius ihm unter dieser Bedingung Straffreiheit zusa-

8 9

  Auch dies ist für die späteren Überlegungen bereits wichtig, vgl. unten Kap. 3.2.   Vgl. dazu auch Butler, Shane: The Hand of Cicero, London u. a. 2002, 103–123.

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ge). Alle von Seneca angeführten Beispiele raten fast ausnahmslos ab, meistens mit der Begründung, Cicero lebe schließlich in seinen Schriften weiter.10 Aus diesem Tableau ergibt sich, dass zum Zeitpunkt von Ciceros Tod und in den Jahrzehnten nach seinem Tod das Cicero-Bild also nicht nur Cicero den Redner, sondern auch Cicero den Schriftsteller umfasst. Mündliche und schriftliche Performanz Ciceros sind komplementär. Dass seine Proskription durch Antonius auch und gerade aufgrund des Vorwurfes erfolgte, er habe etwas gegen diesen geschrieben, zeigt, dass schriftliche Äußerungen am Ende der Republik ein ebenso wirkmächtiges Medium waren wie mündliche. 2.2.  Flucht oder Verantwortung? Wort oder Tat? Entgegen der gerade herausgestellten Komplementarität schriftlicher und mündlicher Äußerungen, ging die Literaturgeschichtsschreibung im Fall Ciceros bis in die jüngste Zeit von zwei medial entgegengesetzten Polen aus. Sie griff häufig das bei Livius geschilderte Bild des flüchtenden Cicero auf, das Bild eines Cicero, der den politischen Auseinandersetzungen der späten Republik nicht gewachsen schien. Ein Bild, das sich, im Gegensatz zu dem Caesars oder Antonius’ und anderer zeitgenössischer Politiker (und dies ist m. E. ein entscheidender Punkt), in weiten Teilen auf Ciceros eigenes Werk stützt: So pendelt ein an Ciceros Schriften biographisch entwickeltes Porträt beständig zwischen den Polen Flucht und Verantwortung, je nachdem, wie politische Ereignisse und Ciceros Schriften verteilt sind. Besonders frappierend scheint dies an den philosophischen Werken Ciceros abzulesen zu sein, die sich in zwei Perioden in Ciceros Leben massieren, in denen Cicero politisch inaktiv scheint (während des ersten Triumvirats und unter Caesars Diktatur).11 Die Vorstellung, die sich hinter der Bewertung der Schriften vor dem Hintergrund politischer Aktivität zu verbergen scheint, ist exklusiv, ein Entweder– Oder: entweder Anwalt und Politiker oder Philosoph, entweder politisch-öffentlich aktiv und verantwortlich oder politisch (gezwungenermaßen) inaktiv und philosophisch vertieft. Eine solche Vorstellung wertet den literarischen 10   Etwa Cestius Pius: Intellexit Antonius salvis eloquentiae monumentis non posse Ciceronem mori (Sen. suas. 7,2,1). 11   Eine einschlägige Deutung dieses Befundes (zu finden in der Literaturgeschichte von Fuhrmann, Manfred: Geschichte der römischen Literatur, Stuttgart 2011, 213) lautet etwa wie folgt: „Wenn Cicero in Griechenland gelebt hätte, wäre er vielleicht Philosoph geworden. … Es war Cicero von Jugend auf ein Bedürfnis, sich mit Philosophie zu befassen, doch als Medium öffentlichen Wirkens kam sie für ihn, den Römer, nur in Ermangelung von forensischer und politischer Tätigkeit in Betracht. Die philosophische Schriftstellerei hatte für ihn Ersatzfunktion, und so oblag er ihr in zwei Phasen seines Lebens: während der Herrschaft der Dreimänner, in den quälenden Jahren der politischen Abhängigkeit (56–51 v. Chr.), und unter Caesars Diktatur (46–44 v. Chr.).“ Im Sinne des vorliegenden Beitrags dagegen argumentieren bereits Butler: The Hand of Cicero und Steel: Reading Cicero.



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Befund vom historisch-politischen Standpunkt aus. Sie übernimmt die antike Dichotomie zwischen otium und negotium, zwischen politisch und gesellschaftlich offensichtlicher und in Ämtern institutionalisierter Aktivität. Dabei ändert sich just in der späten Republik dieser Diskurs signifikant. Zwar bestimmt und strukturiert diese Dichotomie weiterhin das Denken und Schreiben über den eigenen Platz in der Welt. Doch zeigt allein die Tatsache, dass sich die Verwendung des Wortes otium in dieser Zeit besonders häuft, dass gerade die Implikationen dieses Begriffs neu ausgehandelt werden. An dieser Neuorientierung ist Cicero maßgeblich beteiligt.12 Ich möchte in meinem Beitrag eine komplementäre Perspektive einnehmen und untersuchen, ob die Philosophie tatsächlich ein Zufluchtsort ist für einen Cicero, der sich in der Krise der Republik resigniert ins Privatleben zurückzieht. Um das Untersuchungsfeld einzuschränken, wähle ich dazu exemplarisch die Zeit nach der Ermordung Caesars: Sie bietet sich deswegen an, weil hier quasi die Krise der Republik im finalen Bürgerkrieg gipfelt, und weil Ciceros literarisches Œuvre hier in seiner vollen Breite vertreten ist: In diese Zeit fallen an philosophischen Schriften u. a. De officiis, drei Bücher über ‚Pflichten und Verpflichtungen‘, zwei der ‚Philippischen‘ genannten Reden gegen Antonius und eine ganze Menge Briefe an Atticus und andere Adressaten an. Die zeitgleiche Existenz von Werken, die man nach oben dargelegter Bewertung der Literaturgeschichte mit politischer Aktivität (Reden) und politischer Inaktivität (Philosophie, Briefe) assoziieren würde, erlaubt es, vergleichend die literarischen und politischen Strategien des jeweiligen Mediums auszuloten: Meine These ist, dass die unterschiedlichen Text- und Publikationsformen durchaus ergänzend zu lesen sind. Cicero arbeitet auch und gerade durch die Nutzung verschiedener Medien am self-fashioning des auf allen Gebieten bewanderten Römers. Cicero ‚flüchtet‘ damit nicht in bestimmte Literaturformen, sondern nutzt sie vielmehr ebenfalls, um seine Interessen und Standpunkte durchzusetzen und sich selbst literarisch wie politisch zu positionieren.

3.  Flucht nach Athen Als exemplarische Situation für die Untersuchung der medialen Präsentation mag folgendes Ereignis dienen: Im Frühjahr des Jahres 44 ist Ciceros Sohn Marcus in Athen auf Bildungsreise, die ein Studium der Philosophie einschließt. Cicero hatte wohl schon länger geplant, seinen Sohn zu besuchen und nach dem Rechten zu sehen und wollte sich dafür von Caesar eine offi  ThLL s. v. otium, zur Häufigkeit bei Cicero: „saepissime“ (Baer 1980; vol. 9,2 p. 1175 l. 20). Die Bedeutungsentwicklung bei Cicero skizziert Stroup: Catullus, Cicero, and a society of patrons, 37–65. 12

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zielle ‚Dienstreisegenehmigung‘ geben lassen.13 Diese Pläne wurden durch Caesars Ermordung zunächst durchkreuzt. Die Legatio erhielt Cicero später von Caesars Konsulatsnachfolger Dolabella. Mit der Ermordung Caesars stellte sich aber offensichtlich nicht nur die Frage, wer die ‚Dienstreise‘ genehmigen sollte, sondern auch, ob Cicero überhaupt fahren und die unklaren politischen Verhältnisse in Rom ignorieren konnte. Durch die veränderten Umstände erhielt die geplante Reise plötzlich Zeichencharakter: Sie konnte als väterlicher Besuch oder als Ausweichen vor der Situation in Rom gedeutet werden. Cicero hielt sich daraufhin zwischen dem 6. April und Ende August nicht in Rom, sondern auf seinen Landgütern im südlichen Italien auf; schließlich fuhr er doch nicht, sondern kehrte Anfang September nach Rom zurück.14 Zum Politikum werden Ciceros Reisepläne, als er sich für die Senatssitzung am ersten September mit Reisemüdigkeit entschuldigen lässt und daraufhin von Antonius diesbezüglich in der Sitzung gerügt wird. Cicero erscheint tags darauf im Senat und reagiert mit einer Rede gegen die Vorwürfe.15 Ciceros Reisepläne werden interessanterweise in allen von ihm verantworteten Medien thematisiert: In der gehaltenen Rede gegen Antonius, in seiner philosophischen Schrift De officiis und in Briefen an Atticus und den Caesarianer Lucius Munatius Plancus. Ich möchte diese in chronologischer Reihenfolge durchgehen. Das Ziel ist dabei immer ein zweifaches: Zum einen soll untersucht werden, welche Funktion die Erwähung im betreffenden Medium und Kontext erfüllt und wie sie instrumentalisiert wird. Zum anderen soll nach dem transportierten ‚Menschen‘ bzw. im konkreten Falle dem präsentierten Cicero-Bild gefragt werden. 3.1.  Die Iden des März und die litterae Es beginnt mit einem Brief, den Cicero Ende April 44 an Atticus sendet:16 13   Eine sog. legatio libera, die alle Privilegien einer offiziell im Auftrag Roms unternommenen Reise umfasst, jedoch keine konkreten Verpflichtungen. Zu den Details Suolahti, Jaakko: Legatio libera, Arctos 6, 1969, 113–119. 14   Zur politischen Situation nach Caesars Ermordung Lintott, Andrew: Cicero as Evidence. A historian’s companion, Oxford 2008, 339–407; Blom, Henriette van der: Officium und res publica. Cicero’s Political Role after the Ides of March, C & M 54, 2004, 287–320; und v. a. zum Verhältnis Cicero/Antonius Gotter, Ulrich: Der Diktator ist tot! Politik in Rom zwischen den Iden des März und der Begründung des zweiten Triumvirats, Historia ES 110, Stuttgart 1996, 16–20 und 126–130; zur Abfassung der im Folgenden erwähnten Werke Dyck, Andrew R.: A Commentary on Cicero, De officiis, Ann Arbor 1996, 8–10. 15   Cic. Phil. 1,11 f. 16   Cic. Att. 14,13,1–4, Übersetzung von Helmut Kasten, Düsseldorf 1998.



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Septimo denique die litterae mihi redditae sunt quae erant a te XIII Kal. datae; quibus quaeris, idque etiam me ipsum nescire arbitraris, utrum magis tumulis prospectuque an ambulatione ἁλιτενεῖ delecter. est mehercule, ut dicis, utriusque loci tanta amoenitas ut dubitem utra anteponenda sit. ἀλλ’ οὐ δαιτὸς ἐπηράτου ἔργα μέμηλεν, ἀλλὰ λίην μέγα πῆμα, διοτρεφές, εἰσορόωντες δείδιμεν· ἐν δοιῇ δὲ σαωσέμεν ἢ ἀπολέσθαι. Quamvis enim tu magna et mihi iucunda scripseris de D. Bruti adventu ad suas legiones, in quo spem maximam video, tamen, si est bellum civile futurum …, quid nobis faciendum sit ignoro. neque enim iam licebit, quod Caesaris bello licuit, neque huc neque illuc. quemcumque enim haec pars perditorum laetatum Caesaris morte putavit (laetitiam autem apertissime tulimus omnes), hunc in hostium numero habebit; quae res ad caedem maximam spectat. restat ut in castra Sexti aut, si forte, Bruti nos conferamus, res odiosa et aliena nostris aetatibus, incerto exitu belli – et nescio quo pacto tibi ego possim, mihi tu dicere τέκνον ἐμόν, οὔ τοι δέδοται πολεμήια ἔργα, ἀλλὰ σύ γ’ ἱμερόεντα μετέρχεο ἔργα λόγοιο. Sed haec fors viderit, ea quae talibus in rebus plus quam ratio potest. nos autem id videamus quod in nobis ipsis esse debet … nosque cum multum litterae tum non minimum Idus quoque Martiae consolentur. Suscipe nunc meam deliberationem qua sollicitor; ita multa veniunt in mentem in utramque partem. proficiscor, ut constitueram, legatus in Graeciam, caedis impendentis periculum non nihil vitare videor, sed casurus in aliquam vituperationem quod rei publicae defuerim tam gravi tempore. sin autem mansero, fore me quidem video in discrimine, sed accidere posse suspicor ut prodesse possim rei publicae. iam illa consilia privata sunt, quod sentio valde esse utile ad confirmationem Ciceronis me illuc venire; nec alia causa profectionis mihi ulla fuit tum cum consilium cepi legari a Caesare. tota igitur hac de re, ut soles si quid ad me pertinere putas, cogitabis. Deinen Brief vom 19. habe ich erst nach sechs Tagen erhalten. Du fragst, und meinst, ich wüßte es wohl selbst nicht, ob ich an den Bergen und dem herrlichen Panorama mehr Vergnügen fände als an den Strandpromenaden. Es ist tatsächlich so: beides ist so lieblich, daß ich nicht recht weiß, welchem ich den Vorzug geben soll. „Doch lockt uns nicht die liebliche Mahlzeit, sondern die bittere Not, du Göttlicher, läßt uns verzagen; zweifeln wir doch, ob den wohlgeordeten Schiffen die Rettung oder Verderben winkt.“ Denn was Du mir da schreibst von D. Brutus’ Erscheinen bei seinen Legionen, ist ja gewiß nicht gleichgültig und mir hocherfreulich, und ich erwarte allerhand davon; aber wenn es zum Bürgerkriege kommt … dann weiß ich nicht, was ich machen soll. Denn jeden, der nach Ansicht dieser Verbrecherbande Caesars Ermordung freudig begrüßt hat – und wir alle haben unsere Genugtuung offen zur Schau getragen –, werden sie für einen Hochverräter erklären, und die Folge wird ein furchtbares Blutbad sein. Bleibt also nur, daß wir ins Feldlager zu Sextus gehen oder – vielleicht – zu Brutus. Aber das wäre scheußlich und bei unsern Jahren nicht ratsam, zumal man nicht wissen kann, wie der Krieg ausläuft, und nicht mit Unrecht könnte ich Dir und Du mir das Wort entgegenhalten: „Mein Kind, dein Geschäft sind nicht die Werke des Krieges; ordne du lieber hinfort die lieblichen Werke der Rede.“ Aber darüber muß das Schicksal entscheiden, das in solchen Dingen mehr tut als der Verstand. Halten wir uns immer vor Augen, zu welcher seelischen Haltung wir verpflichtet sind … und suchen wir Trost vor allem in der Literatur und nicht zum wenigsten auch in den Iden des März!

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Jetzt versetze Dich einmal in meine Lage und stelle die Erwägungen an, die mich in Unruhe stürzen: zu vieles kommt mir in den Sinn, dafür und dawider. Gehe ich, wie ich ursprünglich beabsichtigt, als Legat nach Griechenland, dann würde ich mich wahrscheinlich der Gefahr des bevorstehenden Blutbades bis zu einem gewissen Grade entziehen, mir aber den nicht unberechtigten Tadel zuziehen, in schwerer Zeit das Vaterland im Stiche gelassen zu haben. Bleibe ich jedoch, so setze ich mich bestimmt der Gefahr aus, kann mich dann aber vermutlich dem Vaterlande nützlich erweisen. Im übrigen sprechen auch meine persönlichen Beweggründe mit: ich weiß, es wäre sehr angebracht, wenn ich einmal hinkäme, um Cicero ins Gewissen zu reden, und das war ja auch ursprünglich der einzige Grund, als ich mich entschloß, von Caesar eine freie Gesandtschaft zu erbitten. Laß Dir also die ganze Sache durch den Kopf gehen, wie stets, wenn Du siehst, daß es mich angeht.

Da Ciceros Briefe an Atticus aufgrund ihres Detailreichtums an Informationen dazu verleiten, sie als ‚ungeschminkte‘ Äußerungen ihres Verfassers zu lesen, lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die Gestaltungsform des Textes zu werfen: Anknüpfungspunkt für Ciceros Brief ist Atticus’ letztes Schrei­ben, das Cicero erst mit Verspätung erhalten hat. Eine dort offenbar von Atticus gestellte Frage nach den touristischen Reizen Puteolis bildet den vordergründigen Aufhänger für Ciceros Antwort. Die Unentschlossenheit Ciceros, der sich nicht zwischen Bergpanorama und Strandpromenade, also zwischen Festland und Meer entscheiden kann, antizipiert bereits das folgende Thema des Briefes. Der ambivalente Einstieg, dessen Doppelsinnigkeit sich jedoch erst erschließt, wenn man den Brief zu Ende gelesen hat, deutet bereits darauf hin, dass dies kein einfacher, ‚ungeschminkter‘ Brief ist, der den besten Freund um Rat fragt. Eine Schilderung der Situation und eine Frage wie „Atticus, sag mir, was soll ich bloß tun?“ hätten in diesem Falle auch genügt. Das ist ein Brief, der das Entweder–Oder sublimiert, der das Bleiben oder Reisen in der Konkurrenz zwischen Griechenland und Rom abwägt und dies auch in seiner Form kundtut: Gleich zu Beginn spiegelt das Landschaftsbild zwei Extreme und Ciceros Unentschlossenheit, auf der einen Seite Berge, auf der anderen Seite Strand und Meer, letzteres bereits mit griechischem Attribut versehen, bestens geeignet, um von dort aus in See zu stechen. Im darauf folgenden Zitat aus der Presbeia der Ilias17 steht die Wahl zunächst zwischen Essen und Reden: Im ursprünglichen Kontext des Epos ist das eine durchaus angenehm, das andere weniger, denn der Sprecher dieser Verse, Odysseus, ist zusammen mit Aias und Nestor mit der unangenehmen Aufgabe zu Achill gekommen, diesen, der sich, von Agamemnon um seine Sklavin betrogen, gekränkt in sein Zelt zurückgezogen hat, wieder zum Kampf zu bewegen. Ein Zitat impliziert jedoch immer doppelte Deixis und so sind neben der Verankerung im Ausgangskontext auch mehrfache Referenzpunkte im Hinblick auf Cicero möglich: Durch die sprachlich-logische Verknüpfung mit dem nächsten Absatz (enim) lässt sich das „wir“ des Zitates auf Cicero selbst beziehen, also: Cicero in Notlage zweifelt, ob eine Fahrt mit 17

  Hom. Il. 9, 228–230.



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dem Schiff nach Griechenland gut oder schlecht ist. Im übertragenen Sinne könnte man die Schiffe auch durch die res publica ersetzen.18 Dies wären die Referenzpunkte innerhalb des aktuellen Textes. Darüber hinaus jedoch verweist ein Zitat immer auch auf den ursprünglichen Kontext: Beide Sprecher können somit gleichgesetzt werden, Cicero und der nie um einen klugen Rat verlegene und wortgewandte Odysseus. Durchaus doppeldeutig zu beziehen ist auch das zweite Zitat aus dem fünften Buch der Ilias: In dieser Szene wurde Aphrodite gerade im Kampf von Diomedes mit einem Pfeil verletzt, Athene findet Aphrodites Auftritt unangemessen, und der Göttervater Zeus sieht sich genötigt, die Zuständigkeitsbereiche seiner Kinder zu ordnen. Bei Homer steht natürlich nicht „… und ordne die lieblichen Werke der Rede“, sondern im Hinblick auf Aphrodite „… und ordne die lieblichen Werke der Ehe“, γάμοιο wurde durch λόγοιο ersetzt. Im übertragenen Sprechersinn weisen sich nun auch Cicero und Atticus jeweils durch die Stimme des anderen sowie auch durch Atticus’ und Homers (und Zeus’) Stimme zurecht, bei ihren eigentlichem Aufgabengebiet zu bleiben, nämlich dem Wort. Halten wir für das bisherige Cicero-(und Atticus-)Porträt fest: Der briefliche Austausch erfolgt zwischen zwei Gesprächspartnern, die ihre Stärken weniger im militärischen Bereich sehen als vielmehr in wortgewaltigem Auftreten, diese Stärken auch ‚privat‘ wie in diesem Brief performieren und um einen Ratschlag (es darf auch bevorzugt in elaborierter Form sein) nicht verlegen sind. Die Dichotomie Wort gegen Waffe ist für Cicero repräsentativ und man könnte sie beinahe als ‚Lebensmotto‘ bezeichnen. Geprägt hat er sie in den Catilinarischen Reden und in seinem Epos über sein eigenes Consulat hat er sie auf die griffige Formel gebracht: cedant arma togae, concedat laurea laudi. – Waffengewalt solle vor der Toga des Consuls weichen, der allein durch seine Redegewalt Catilina besiegt hat, der Lorbeer des triumphierenden Feldherren soll weichen vor der Anerkennung durch die Öffentlichkeit.19 Ciceros Wort und Ciceros Reden stehen damit auch immer im Dienst des Staates. Nicht wortgewaltig für das Wohl des Staates einzutreten, käme für jemanden, der schon einmal Rom auf diese Weise gerettet hat, einem Versagen gleich (quod rei publicae defuerim tam gravi tempore): Interessanterweise zitiert Cicero sich an dieser Stelle des Briefes selbst: In seiner ersten Catilinarischen Rede macht er gleich zu Beginn das Verhalten der Consuln, zu denen er selbst gehört, als eigentliches Problem aus: nos, nos, dico aperte, consules desumus (Wir selbst, ich sage es ganz offen, wir Consuln sind nicht

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  Von Cicero selbst häufiger als Metapher verwendet: Cic. fam. 12,25,5; fam. 2,5,1.   Zitiert in Cic. Pis. 73, Waffen gegen Rede auch in fam. 12,20 an Cornificius.

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auf unserem Posten).20 Durch sein entschlossenes Auftreten und nicht zuletzt durch seine Reden gegen Catilina vor Volk und Senat konnte Cicero diesen dazu bewegen, Rom zu verlassen. Auch die Wortwahl an dieser Stelle ist durchaus ambivalent: deesse bedeutet zunächst einmal ‚nicht da sein, fehlen‘, im übertragenen Sinne dann aber auch ‚für jemanden oder etwas nicht da sein, nicht einsatzbereit sein‘.21 Während Cicero im Jahre 63 im Senat anwesend war und so mit seiner entschlossenen Rede seiner Aufgabe als Consul nachkam, stellt sich in der gegenwärtigen Situation ebenfalls die Frage zunächst nach der geographischen Anwesenheit und in dieser Folge auch nach dem rhetorischen Einsatz. Eine Möglichkeit, die verzwickte Situation zu lösen, skizziert Cicero im zitierten Brief im Absatz davor selbst: nos cum multum litterae tum non minimum Idus quoque Martiae consolentur. Zwei Dinge bieten ihm also Halt: die Erinnerung an die Iden des März und die litterae – schriftliche Erzeugnisse aller Art, darunter auch dieser Brief. Das vorläufige mediale Fazit lautet: Die Beschäftigung mit Texten ist für Cicero eine Möglichkeit der Verarbeitung von Wirklichkeit. Auch in den privat scheinenden Briefen an Atticus findet sich neben Scheidungsgeschichten und trivialen Nachrichten von eingestürzten Mietshäusern die Beteiligung an den tagespolischen Ereignissen in sublimierter und stilisierter Form. Das Cicero-Bild, auf das der Leser in diesem Brief trifft, ist das des gewesenen Consuls, der unter persönlichem Einsatz den Staat allein durch sein Wort zu erhalten vermag. 3.2.  Inoffizielles Offizielles Ciceros Anwesenheit bzw. Abwesenheit von Rom scheint Gesprächsthema gewesen zu sein. Dies legt der Hinweis in einem Brief an Atticus nahe, die Caesarmörder Cassius und Brutus hätten eine Vollversammlung des Senats am 1. September geplant und entsprechende Einladungsbriefe an alle ehemaligen Consuln und Praetoren versandt. Der Brief an Cicero deutete unter anderem an, dass man ihn vermisse und dass man ein wenig ungehalten sei über seine Abwesenheit. Cicero nahm dies nach eigener Aussage zum Anlass, um seine Reisepläne nach Griechenland fahren zu lassen und nach Rom zurückzukehren.22 20   Habemus senatus consultum in te, Catilina, vehemens et grave, non deest rei publicae consilium neque auctoritas huius ordinis: nos, nos, dico aperte, consules desumus. (Cic. Cat. 1,3). 21   Vgl. ThLL s. v. desum (Bögel 1911). 22   Cic. Att. 16,7,1: addebant etiam me desiderari, subaccusari.  Quae cum audissem, sine ulla dubitatione abieci consilium profectionis, quo mehercule ne antea quidem delectabar.



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Im Vergleich zu dem im vorangegangenen Abschnitt zitierten Brief fällt die Begründung der Griechenlandreise insgesamt viel prosaischer aus, wenn man die entsprechende Passage aus der ersten Philippischen Rede vom 2. September dagegenhält: Ciceros Reisepläne bilden den Rahmen für seine Ausführungen und werden gleich am Anfang der Rede thematisiert, quasi als Voraussetzung und Klärung für ein Statement des Politikers Cicero:23 Antequam de re publica, patres conscripti, dicam ea, quae dicenda hoc tempore arbitror, exponam vobis breviter consilium et profectionis et reversionis meae. Ego cum sperarem aliquando ad vestrum consilium auctoritatemque rem publicam esse revocatam, manendum mihi statuebam, quasi in vigilia quadam consulari ac senatoria. Bevor ich mich zur politischen Lage äußere, versammelte Väter, wie es mir die gegenwärtigen Umstände zu fordern scheinen, will ich euch kurz die Gründe meiner Abreise und Rückkehr darlegen. Solange ich annehmen konnte, daß die Politik endlich wieder von eurem Rat und Einfluß abhängen solle, war ich fest entschlossen, hier zu bleiben, gleichsam auf dem Beobachtungsposten eines ehemaligen Konsuls und eines Senators.

Aufschlussreich ist auch hier Ciceros Wortwahl: Er spricht von einem consilium profectionis et reversionis. Damit wird zum einen unterstrichen, dass Cicero aufgrund reiflicher Überlegung handelte, zum anderen verwendet er das Wort reversio, das eine Umkehr auf dem Weg, noch bevor man sein Ziel erreicht hat, impliziert.24 Ferner verschleiert die Vokabel manere, die eine Fortbewegung ausschließt,25 dass er aus Rom bereits abgereist war und dehnt somit seinen Präsenzort auf ganz Italien aus. Außerdem hat Cicero nur darauf gewartet, dass die res publica „zurückgerufen ist“26 (revocatam), damit ist zunächst einmal die Wiederherstellung der Funktion des Senats gemeint; allerdings ist es nicht schwierig, das zwischen ego und manendum eingefügte revocatam auch auf die auctoritas eines Cicero zu beziehen, der stets bereit ist, als erfahrener Ratgeber seine Meinung zu äußern. Somit hätte Cicero nur darauf gewartet, dass er gebraucht wird und dass man sich seiner Qualitäten besinnt. Wir notieren ferner die Formulierung in vigilia quadam consulari ac senatoria, eine zusätzliche Retusche, die negiert, dass räumlicher Abstand mit Desinteresse gleichzusetzen sei. Für das Cicero-Porträt ergibt sich nach zwei Sätzen das Bild des immer noch wachsamen Consuls, der nie wirklich weg war. Die Rede endet ringkompositorisch wie sie begann (Cic. Phil. 1,38): Dass Ciceros Abwesenheit von mehreren Personen diskutiert wurde, geht aus Äußerungen wie etwa in Att. 16,1,3; 16,2,4 u. ä. hervor. 23   Cic. Phil. 1,1. Alle Übersetzungen von Manfred Fuhrmann (München 1993). 24   Vgl. hierzu Georges s. v. und Ramsey, John: Cicero. Philippics I–II, Cambridge 2003, ad loc. 25   Vgl. ThLL s. v. maneo A „i. q. locum tenere“ (Tietze 1937). 26   Der Infintiv Perfekt bezeichnet hier einen zum Zeitpunkt von sperabam bereits abgeschlossenen Vorgang (vgl. KS II.1.689 Anm. 1).

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Cepi fructum, patres conscripti, reversionis meae, quoniam et ea dixi, ut quicumque casus consecutus esset, exstaret constantiae meae testimonium, et sum a vobis benigne ac diligenter auditus. Ich bin, versammelte Väter, für meine Rückkehr reichlich belohnt worden, weil ich aussprechen durfte, was – wie immer sich die Dinge jetzt entwickeln werden – als Zeugnis meiner unwandelbaren Grundsätze bestehen bleibt, und ihr mir freundlich und aufmerksam zugehört habt.

Ciceros Umkehr war also ein Gewinn, denn sie kulminierte in der Rückgewinnung seiner eigentlichen Rolle als Redner und Ratgeber. Aus dem negativen Beigeschmack seiner Abwesenheit ist eine positive Darstellung seiner Anwesenheit geworden. Wir kehren noch einmal kurz zurück zur Begründung seiner Umkehr. In medialer Hinsicht ist überaus interessant, welches Ereignis angeblich Ciceros vorzeitige Rückkehr motivierte (Cic. Phil. 1,8): municipes Regini complures ad me venerunt, ex iis quidam Roma recentes; a quibus primum accipio M. Antoni contionem, quae mihi ita placuit, ut, ea lecta, de reversione primum coe­ perim cogitare. Da fanden sich mehrere Bürger von Regium bei mir ein, darunter einige, die soeben aus Rom gekommen waren. Von diesen Leuten erfahre ich zum ersten Mal, daß M. Antonius gesprochen habe, und seine Rede gefiel mir so gut, daß ich, sobald ich sie gelesen hatte, an meine Rückkehr zu denken begann.

Uns interessiert hier allerdings weniger die um Konsens bemühte Geste, allein Antonius’ Rede habe Anlass zur sofortigen Umkehr gegeben, sondern vielmehr der Hinweis, dass Cicero Antonius’ Rede gelesen hat (ea lecta): Antonius nutzt also ebenfalls die Möglichkeit, Statements schriftlich kursieren zu lassen und sie so einem größeren als dem aktuell hörenden Publikum bekannt zu geben. Ob Antonius mit der Publikation seiner Rede beabsichtigte, dass bestimmte Personen (darunter Cicero) sie lesen, oder ob dies lediglich ein von Cicero instrumentalisiertes Zufallsprodukt ist, lässt sich nicht entscheiden. Wichtig bleibt jedoch festzuhalten, dass es im Aushandeln politischer Standpunkte noch einen schriftlichen Nebenschauplatz gibt. Dies bestätigt eine Passage aus der zweiten Philippischen Rede, die erst mit Verzögerung schriftlich publiziert, mündlich aber nie gehalten wurde.27 In ihr wirft Cicero Antonius vor, die Grenzen des Anstandes überschritten zu haben, als er einen Brief, den Cicero an ihn adressiert hatte, in der Senatssitzung vorgelesen und somit das Briefgeheimnis verletzt habe.28 – Ein 27   Zur Diskussion der möglichen Publikation und des Publikationsdatums Ramsey: Cicero, 158 f. 28   Cic. Phil. 2,7: At etiam litteras, quas me sibi misisse diceret, recitavit homo et humanitatis expers et vitae communisignarus. Quis enim umquam qui paulum modo bonorum consuetudinem nosset, litteras ad se ab amico missas offensione aliqua interposita in medium protulit palamque recitavit?



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fadenscheiniger Vorwurf, denn beide Briefe sind erhalten, sie wurden nämlich von Cicero höchstselbst kopiert und an Atticus weitergeschickt.29 Von Briefgeheimnis kann also auf beiden Seiten keine Rede sein, zumal Cicero im Fortgang seiner Rede betont, er selbst sei die Verschwiegenheit in Person, um kurz darauf Antonius’ Schreiben ausführlich zu paraphrasieren.30 Was man dem kleinen medialen Schlagabtausch entnehmen kann, ist dies: Sobald man sich in Rom schriftlich äußert, muss man damit rechnen, dass diese Äußerung auch von Personen wahrgenommen wird, die nicht zu den primären Adressaten zählen. Andersherum formuliert: Wer Schreiben nicht mit dem strengsten Hinweis auf Geheimhaltung weiterleitet, kann damit rechnen, auch ein größeres Publikum zu erreichen und seine Texte als ‚Kommunikationsplattform‘ nutzen. Und auch die mediale Präsentationsform kann zum Argument werden. 3.3.  Die res publica ruft Unter dieser Prämisse wenden wir uns einem Brief an Lucius Munatius Plancus zu. Plancus war enger Anhänger Caesars und von diesem für das Jahr 42 zum Consul bestimmt worden. Im Jahr 44 war er Proconsul31 in Gallien. Nach Caesars Tod nahm er zunächst eine vermittelnde Position ein, um sich dann auf Antonius’ Seite zu stellen. Cicero schreibt ihm Mitte September folgenden Brief:32 Et afui proficiscens in Graeciam et, postea quam de meo cursu rei publicae sum voce revocatus, numquam per M. Antonium quietus fui; cuius tanta est … immanitas non modo ut vocem sed ne vultum quidem liberum possit ferre cuiusquam. itaque mihi maximae curae est non de mea quidem vita, cui satis feci vel aetate vel factis vel, si quid etiam hoc ad rem pertinet, gloria, sed me patria sollicitat in primisque, mi Plance, exspectatio consulatus tui, quae ita longa est ut optandum sit ut possimus ad id tempus rei publicae spiritum ducere. … Sed et te aliquanto ante, ut spero, habebimus et, praeterquam quod rei publicae consulere debemus, tamen tuae dignitati ita favemus ut omne nostrum consilium, studium, officium, operam, laborem, diligentiam ad amplitudinem tuam conferamus. ita facillime et rei publicae, quae mihi carissima est, et amicitiae nostrae, quam sanctissime nobis colendam puto, me intellego satis facturum. Ich bin fortgewesen, wollte nach Griechenland reisen, und nachdem mich der Ruf des Vaterlandes mitten vom Wege zurückgeholt hatte, ließ mir Antonius keine Ruhe. Seine Brutalität   Cic. Att. 14,13 A/B.   Cic. Phil. 2,9: At ego tuas litteras, etsi iure poteram a te lacessitus, tamen non proferam. quibus petis ut tibi per me liceat quendam de exsilio reducere, adiurasque id te invito me non esse facturum; idque a me impetras. … 31   Vgl. Werner Eck, [I 4] M. Plancus, L. Consul 42 v.Chr., in: DNP s. v. Munatius. 32   Cic. fam. 10,1,1–3. Übersetzung der Briefe Ad familiares von Helmut Kasten (Düsseldorf 1997). 29

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geht so weit, daß er kein freies Wort, ja, nicht einmal einen freien Blick von jemandem ertragen kann. So mache ich mir ernste Sorgen; nicht um mein Leben – ich habe lange genug gelebt, genug geleistet und, wenn auch das etwas zu bedeuten hat, genügend Ruhm geerntet; nein, das Vaterland macht mir Sorgen, und vor allem, mein Plancus, das Warten auf Dein Konsulat, das in so weiter Ferne liegt, daß wir nur hoffen wollen, uns bleibt das Leben bis zu diesem für den Staat entscheidenden Augenblick erhalten. … Aber ich hoffe doch, wir sehen Dich beträchtlich eher wieder hier, und wenn ich mich auch ganz dem Staate widmen muß, so behalte ich doch Deine Würde im Auge; … So glaube ich am besten dem Vaterlande, das ich über alles liebe, und unsrer Freundschaft, in deren Pflege ich eine heilige Verpflichtung sehe, gerecht zu werden.

Aufhänger für den Brief bildet abermals Ciceros Griechenlandreise. Bemerkenswerterweise beginnt dieser Brief vollkommen unvermittelt mit einem et afui, das gekoppelt ist mit et … numquam quietus fui, beides Seins-Zustände, innerhalb und außerhalb von Rom, offenbar gleichermaßen unbefriedigend. Dieses Mal war nicht Antonius’ Rede der Grund für seine Rückkehr, sondern es war die res publica in Person, die Cicero zurückrief.33 Aber Antonius ist der Grund für Ciceros Unzufriedenheit, denn er erträgt niemandes freie Stimme, also auch nicht die Ciceros (die erste Philippische Rede muss zur Abfassungszeit schon gehalten worden sein) und schon gar nicht die der einen Cicero zurückrufenden res publica, so folgert man im Rückschluss. Cicero wie res publica sind gleichermaßen unerwünscht. Das Cicero-Bild, das im Brief erzeugt wird, hängt einerseits am produzierten Antonius-Bild, der laut Brief nicht nur die libera res publica, sondern damit auch Cicero als deren Vertreter aus dem Weg räumen will. Andererseits wird der Eindruck erweckt, hier spreche der ‚elder statesman‘, der auf sein Leben zurückblickt; als Kriterien werden in diesem Moment in die Waagschale geworfen: Ciceros Leben (aetate), seine Taten (factis) und schließlich gloria, die Anerkennung, die er dafür erhalten hat. Der letzte Aspekt ist von den dreien der mit dem größten Gewicht, denn er begründet Ciceros Ansehen und verweist darauf, dass hier jemand spricht, dessen Autorität man folgen muss. Neben der Agitation gegen Antonius übernimmt der Brief also auch die Funktion, Plancus moralisch aufzurichten und ihn an seine Pflicht als römischer Bürger zu erinnern. Ciceros Aufforderung, Plancus möge den Zustand des Staates nicht aus den Augen lassen (meint implizit natürlich, auf Ciceros Seite zu stehen), wird dabei im Folgenden kombiniert mit einem Hinweis auf Ciceros Verbindung zu Plancus von dessen Kindheit an: Hier setzt Cicero erneut auf die eigene Autorität, die auf einer Verpflichtung durch die gesellschaftliche Beziehung zu einem Älteren beruht. Der zitierte Brief an Plancus ist repräsentativ, denn die meisten der Schrei­ ben, die Cicero in den Monaten nach den Iden des März verfasst, sind in einem ähnlichen Tenor gehalten. Da wird ermahnt, da werden Ratschläge ge33   Vgl. dazu auch die Formulierung rem publicam esse revocatam und meine Ausführungen in Abschnitt 3.2.



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geben. Eine Fülle von Briefen geht an die Caesar-Mörder Cassius und Brutus, daneben an Quintus Cornificius, zu dieser Zeit Proconsul in Africa und auf Seiten der Caesarmörder.34 Aus einem an ihn adressierten Brief seien noch zwei Sätze zitiert, um das Bild zu ergänzen bzw. zu bestätigen (Cic. fam. 10,22): Nos hic cum homine gladiatore omnium nequissimo, collega nostro, Antonio, bellum gerimus, sed non pari condicione, contra arma verbis. … ego autem acta ad te omnia arbitror perscribi ab aliis; a me futura debes cognoscere, quorum quidem nunc est difficilis coniectura. … quid futurum sit plane nescio; spes tamen una est aliquando populum Romanum maiorum similem fore. ego certe rei publicae non deero … Ich liege hier mit dem nichtswürdigsten Gladiatoren, mit unserem Kollegen Antonius im Kampfe; aber die Bedingungen sind nicht gleich: Worte gegen Waffen. … Über alle Tagesereignisse erhältst Du wahrscheinlich von anderer Seite auführliche Nachrichten; von mir lass Dir sagen, wie es weitergehen wird. … Immerhin gibt es noch eine Hoffnung: daß das Römische Volk sich einmal seiner Vorgänger würdig erweist. Ich für meine Person werde mich jedenfalls dem Staate nicht versagen …

Die Quintessenz: Antonius wird zum unrömischen Hazardeur degradiert, aber anders als bei einem Gladiatorenkampf scheint es in der Auseinandersetzung mit ihm keine Regeln zu geben – wie immer, wenn Cicero in die Arena tritt, möchte man sagen: gegen Waffen Worte; wie gegen Catilina, so auch gegen Antonius allein Ciceros Redegewalt. Ferner wird Cicero als weitsichtiger und pflichtbewusster Staatsbürger dargestellt. Der Hinweis auf die maiores im Anschluss kommt nicht von ungefähr: Cicero ist einsatzbereit für die res publica, wie er es immer war, und erwartet dies auch von den jüngeren Kollegen und Adressaten. Durch die unmittelbare Nebeneinanderstellung wird er unversehens selbst zum nachahmenswerten Vorbild. Halten wir als Cicero-Bild für die Briefe Ad familiares also fest, dass bereits Bekanntes neu akzentuiert wird: Wir lesen den Cicero, auf den sich die res publica verlassen kann, weil er durch mehrfachen Einsatz für sie Standkraft bewiesen hat, und zwar nicht nur durch Taten, sondern auch durch Worte. Dadurch erhält der Politiker Cicero auch für andere Vorbildcharakter und die Autorität eines erfahrenen Ratgebers. Durch persönlich adressierte Briefe ist es nicht nur möglich, abwesende Personen zu informieren, sondern auch (und dies im Gegensatz zu einer Rede, die sich an eine allgemeine Senatsöffentlichkeit richtet), diese Personen namentlich zu nennen und sie mit Worten zu binden, indem ausdrücklich die Beziehung zwischen Absender und Empfänger unterstrichen wird.

34   Zu den Briefen nach Caesars Tod White, Peter: Cicero in Letters. Epistolary Relations of the Late Republic, Oxford 2010, 137–165.

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4.  Der präsente Cicero In den vorangegangenen Textbeispielen war zu sehen, dass Cicero sich stets als Mann präsentierte, der es als seine Aufgabe ansah – koste es, was es wolle – sich für das Wohlergehen des Staates einzusetzen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich eines seiner letzten philosophischen Werke mit den Erwartungen, Aufgaben und Verpflichtungen eines Römers auseinandersetzt.35 4.1.  Ciceros Kunst des Selbstbildnisses Gewidmet sind die drei Bücher De officiis dem in Athen weilenden Sohn Marcus. Hier finden sich die Themen, die prägend waren für Ciceros Selbstporträt, noch einmal wieder: Im Vorwort zum ersten Buch, das sich ausdrücklich an den Sohn wendet, hebt Cicero hervor, dass er sich selbst nicht nur im Lateinischen wie im Griechischen perfekt ausdrücken könne, sondern auch in der Philosophie annähernd so bewandert sei wie in der Rhetorik. Insbesondere unterstreicht er seine Ausdrucksfähigkeit und Eloquenz und fordert ausdrücklich zur Nachahmung auf. Adressiert ist das Werk an den in Athen weilenden und die Vorlesungen berühmter Philosophen hörenden Sohn. Mit Ciceros Werk erhält dieser nun das schriftliche Komplement zur mündlichen Unterweisung. Es ergibt sich quasi eine Konkurrenzsituation zwischen dem Vorbild Vater und dem Vorbild Philosophie-Lehrer; im Endeffekt beansprucht Cicero jedoch beide Rollen für sich, indem er universalen Anspruch auf Kenner- und Könnerschaft auf sämtlichen Gebieten erhebt und betont, damit der erste und einzige der Griechen und Römer mit diesen Kompetenzen zu sein.36 Auch inhaltlich versucht Cicero sämtliche Bereiche unter der Überschrift officia abzudecken; hat er nach eigener Aussage (1,4) doch ein Thema gewählt, das sowohl das private wie das öffentliche Leben durchzieht. Eine zentrale Frage des Werkes ist, wie man Ruhm (gloria) erlangen kann und welche Grenzen der Ruhmesentfaltung gesetzt sind. Cicero skizziert dabei das Streben nach Macht auf Kosten anderer als eigentliches Problem seiner Zeit. Als Gegenmittel versucht er, den Konsens und die nötige Anerkennung durch das soziale Umfeld als Korrektiv einzusetzen. Gleichzeitig wird der Bereich, in dem Anerkennung stattfindet, von ihm merklich ausgeweitet: Denn der politischen, militärischen und auf finanziellem Vermögen basierenden Anerken  Zur Einordnung von De officiis in den politischen Kontext van der Blom: Officium und res publica; Long, A.A.: Cicero’s politics in the De officiis, in: Justice and Generosity. Studies in Hellenistic Social and Political Philosophy. Proceedings of the Sixth Symposium Hellenisticum, hg. v. André Laks / Malcolm Schofield, Cambridge 1995, 213–240; Scholz, Peter: Den Vätern folgen. Sozialisation und Erziehung der republikanischen Senats­aristokratie, Berlin 2011, 59–63. 36   Cic. off. 1,3. 35



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nung fügt Cicero auch ‚soft skills‘ wie sprachliche Ausdrucksfähigkeit und Eloquenz hinzu. Um zu verdeutlichen, wie man seinen angemessenen Platz in der Welt findet, bemüht Cicero im ersten Buch seines Werkes die Metapher der persona.37 Dabei unterscheidet er mehrere Faktoren, die die Rollen bestimmen, in die man ‚hineinschlüpft‘ (induere, off. 1,107). Hierzu zähle zunächst das Menschsein an sich, die körperlichen und geistigen Fähigkeiten, mit denen man von Natur aus ausgestattet sei, schließlich die soziale Position, die man innehabe. Im Rahmen dieser Veranlagung komme es nun darauf an, sich selbst zu ‚verwirklichen‘. Zur in Metaphern formulierten Theorie passt die Illustration mit dem Beispiel des Schauspielers, der sich Rollen wähle, die seinem Fach entsprächen. Übertragen wir dies auf das Thema des Sammelbandes, so kommt es nach Cicero darauf an, für sich selbst genau den Punkt zwischen Weltverantwortung und Weltflucht zu finden, der den gegebenen gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen entspricht. Das ‚Finden‘ wäre aber demnach ein Prozess, an dem der Einzelne aktiv beteiligt ist. So verwundert es nicht weiter, wenn Cicero im Folgenden von den möglichen Bereichen, in denen man sich ‚verwirklichen‘ kann, vor allem diejenigen anführt, in denen er selbst am präsentesten ist. Auf diese Weise wird das Bild des eloquenten Staatsmannes Cicero auch schriftlich weiter untermauert. Man mag Ciceros Überlegungen zu Lebensumständen und deren Gestaltung direkt auf die skizzierte Situation des ‚Fluchtversuchs‘ übertragen: An der Tatsache der Abwesenheit kann sich nichts ändern; auf deren Begründung lässt sich jedoch, wie in den vorangegangenen Textbeispielen gesehen, sehr wohl Einfluss nehmen. 4.2.  Vom Selbstbild zum Vorbild Auch das Ende der drei Bücher De officiis macht die flexible Darstellung des ‚Fluchtversuchs‘ noch einmal deutlich, indem sie Funktion und Intention zusammenfasst:38 Habes a patre munus, Marce fili, mea quidem sententia magnum, sed perinde erit, ut acceperis. Quamquam hi tibi tres libri inter Cratippi commentarios tamquam hospites erunt recipiendi, sed, ut, si ipse venissem Athenas, quod quidem esset factum, nisi me e medio cursu clara voce patria revocasset, aliquando me quoque audires, sic, quoniam his voluminibus ad 37   Vgl. oben S. Seite 64. Zur ‚persona-Lehre‘ Fuhrmann, Manfred: Persona, ein römischer Rollenbegriff, in: Identität, hg. v. Odo Marquard / Karl-Heinz Stierle, Poetik und Hermeneutik 8, München 1979, 83–106; Gill, Christopher: Personhood and Personality. The Four-Personae-Theory in Cicero, De officiis I, OSAPh 6, 1988, 169–199 und Dyck: A Commentary on Cicero, De officiis, ad loc. 38   Cic. off. 3,121. Übersetzung von Rainer Nickel (Düsseldorf 2008).

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te profecta vox est mea, tribues iis temporis, quantum poteris, poteris autem quantum voles. Cum vero intellexero te hoc scientiae genere gaudere, tum et praesens tecum propediem, ut spero, et dum aberis, absens loquar. Vale igitur, mi Cicero, tibique persuade esse te quidem mihi carissimum, sed multo fore cariorem, si talibus monumentis praeceptisque laetabere. Du, mein lieber Sohn Marcus, hast von deinem Vater meiner Meinung nach ein großes Geschenk bekommen, aber es wird darauf ankommen, wie du es aufnimmst. Allerdings wirst du diese drei Bücher unter deine Aufzeichnungen aus den Vorlesungen des Kratippos sozusagen als Gäste aufnehmen müssen; aber wie du auch mich einmal hättest hören können, wenn ich selbst nach Athen gekommen wäre, – was bestimmt geschehen wäre, wenn mich das Vaterland nicht von unterwegs mit lauter Stimme zurückgerufen hätte –, so wirst du diesen Buchrollen, mit denen ja meine Stimme die Reise zu dir angetreten hat, so viel Zeit widmen, wie du kannst; du wirst es in dem Maße können, wie du willst. Sobald ich aber merke, dass du an dieser Art von Wissenschaft deine Freude hast, werde ich, wie ich hoffe, sehr bald persönlich mit dir darüber sprechen, und solange du nicht da bist, in Abwesenheit. Lass es dir also gut gehen, mein Cicero, und sei überzeugt davon, dass ich dich zwar schon sehr liebe, aber bestimmt noch viel mehr lieben werde, wenn du an Aufzeichnungen und Lehren wie diesen deine Freude haben wirst.

De officiis ist also ein munus magnum, ein großartiges Geschenk, das Cicero seinem Sohn macht: Das semantische Spektrum des Begriffes umfasst jedoch nicht nur die Bedeutung ‚Geschenk‘, sondern auch ‚Aufgabe‘ bzw. ‚Verpflichtung‘, und zwar die Verpflichtung zur Anerkennung und Nachahmung des Vorbildes Cicero.39 Mit der gleichzeitigen sprachlichen Etablierung seines Traktats als monumentum sichert Cicero das Andenken der Nachwelt an das eigene Werk. Was zeichnet das Werk jedoch aus? Es ist beinahe ein zweites Ego Ciceros, das dann zur Verfügung steht, wenn Cicero gerade selbst nicht abkömmlich ist: Als hospes, ein guter Bekannter, den man selbstverständlich beherbergt, wenn er auf Reisen ist, quartiert sich Ciceros Werk beim Adressaten und Leser ein. Die Buchrollen mit Ciceros Schrift enthalten zugleich auch seine Stimme (his voluminibus … profecta vox est mea), decken also das ganze mediale Spektrum eines Cicero ab. Die Stimme gehört zum schriftlichen Text wie zur mündlichen Rede. Und wenn Cicero selbst nicht kommen kann, so doch immer noch seine Stimme. Einerlei, ob schriftlich oder mündlich (et praesens tecum … et … absens loquar), im Wort ist Cicero stets präsent. Was die Abwesenheit von Rom und den ‚Fluchtversuch‘ betrifft, so erscheint dieser in De officiis in der Variation, die wir bereits aus dem Brief an Plancus kennen: Die res publica höchstpersönlich hat Cicero nach Rom zurückgerufen. Und so erscheint die gegenwärtige Situation, die Cicero daran hindert, nach Athen zum Sohn zu reisen, weniger als misslicher Umstand, sondern als Multiplikator eines ubiquitären Cicero: Dort, wo er gebraucht wird, ist er in irgendeiner (medialen) Form verfügbar. De officiis vereint damit den mündlichen und schriftlichen Cicero, den Redner und den Publizisten. 39

  Vgl. ThLL s. v. munus I A „officium“ und I B „donum“ (Lumpe 1966).



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Beide existieren in Ergänzung: Denn während der eine, mündliche Cicero zurück nach Rom eilt, reist der andere, schriftliche Cicero nach Griechenland. In schriftlicher Form ist er überall verfügbar, kann überall gehört werden. Cicero leistet damit einen ubiquitären Dienst an der römischen Gesellschaft.

5.  Fazit: Ausstellungsstücke Der Durchgang anhand eines Themas durch unterschiedliche mediale Exponate der virtuellen Cicero-Ausstellung hat in Abhängigkeit von der jeweils gewählten Textform mehrere Selbstporträts ergeben, in denen jedoch ein bestimmter Urheber erkennbar wurde: In unterschiedlichen und je nach Funktion variierend akzentuierten Charakterzügen schaute immer der wortgewaltige und waffentrotzende, die politischen Vorgänge wachsam beobachtende und um keinen guten Ratschlag in allen Lebenslagen verlegene elder statesman hervor. Je nach Adressatenkreis wurden Anlass und Status der aktuellen Abwesenheit Ciceros von Rom variiert. Aus der möglicherweise als Flucht auslegbaren Griechenlandreise war unversehens ein Musterbeispiel für Verantwortungssinn geworden. Um dieses Bild zu erzeugen, nutzt Cicero ein ganzes Spektrum ihm verfügbarer Medien – auch Textformen, die man nicht auf den ersten Blick als dafür zweckdienlich interpretieren würde, wie etwa seine philosophische Schriften. Aus dieser Strategie ergab sich eine stete Präsenz in Tat und vor allem im Wort, die ein vielfältiges Publikum adressierte. Dass dieses breite Spektrum durchaus von Ciceros Zeitgenossen wahrgenommen wurde, zeigt die Reaktion des Antonius: Er hatte offenbar sehr wohl den Eindruck, dass der schriftliche Cicero genauso präsent und entscheidend ist wie der mündliche und ließ nicht nur den Kopf des toten Cicero, sondern auch dessen Hände auf dem Forum ausstellen.40

Bibliographie André, Jean-Marie: L’Otium dans la vie morale et intellectuelle romaine des origines à l’époque augustéenne, Paris 1966. Blom, Henriette van der: Officium und res publica. Cicero’s Political Role after the Ides of March, C & M 54, 2004, 287–320. Butler, Shane: The Hand of Cicero, London u. a. 2002. Dyck, Andrew R.: A Commentary on Cicero, De officiis, Ann Arbor 1996.

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  Vgl. Text auf Seite 66.

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Gotter, Ulrich: Der Diktator ist tot! Politik in Rom zwischen den Iden des März und der Begründung des zweiten Triumvirats, Historia ES 110, Stuttgart 1996. Fuhrmann, Manfred: Persona, ein römischer Rollenbegriff, in: Identität, hg.  v. Odo Marquard / Karl-Heinz Stierle, Poetik und Hermeneutik 8, München 1979, 83–106. Gill, Christopher: Personhood and Personality. The Four-Personae-Theory in Cicero, De officiis I, OSAPh 6, 1988, 169–199. Greenblatt, Stephen: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 2005. Krasser, Helmut: Imagines vitae oder Lebensführung als Programm. Neue Formen biographischer Selbstkonstruktion in der Kaiserzeit, in: Römische Werte und römische Literatur im frühen Prinzipat, hg. v. Andreas Haltenhoff u. a., BzA 275, Berlin 2011, 145–166. Lintott, Andrew: Cicero as Evidence. A historian’s companion, Oxford 2008. Long, A.A.: Cicero’s politics in the De officiis, in: Justice and Generosity. Studies in Hellenistic Social and Political Philosophy. Proceedings of the Sixth Symposium Hellenisticum, hg. v. André Laks / Malcolm Schofield, Cambridge 1995, 213–240. Ramsey, John: Cicero. Philippics I–II, Cambridge 2003. Scholz, Peter: Den Vätern folgen. Sozialisation und Erziehung der republikanischen Senats­ aristokratie, Berlin 2011. Schulz, Martin: Ordnungen der Bilder. Eine Einführung in die Bildwissenschaft, München 2 2009. Steel, Catherine: Reading Cicero. Genre and Performance in the Late Republican Rome, London 2005. Stroup, Sarah Culpepper: Catullus, Cicero, and a society of patrons. The generation of the text, Cambridge 2010. Suolahti, Jaakko: Legatio libera, Arctos 6, 1969, 113–119. White, Peter: Cicero in Letters. Epistolary Relations of the Late Republic, Oxford 2010.

Simus inter exempla! Formen und Funktionen beispielhafter Weltflucht in der frühen Kaiserzeit Jula Wildberger

1.  Einleitung: Unheroische Heroen Die Fragestellung dieses Beitrags lässt sich vielleicht am besten mit zwei Zitaten veranschaulichen. Unter den Epistulae morales ad Lucilium findet sich ein Brief, in dem Seneca seinen unpässlichen Freund mit einem kleinen therapeutischen Traktat über das Ertragen von Krankheiten aufmuntert. Eine der Unannehmlichkeiten, mit denen es fertig zu werden gilt, ist die erzwungene Untätigkeit, und hier weiß Seneca Rat. Ein Hemmnis bestehe nämlich nur für die körperlichen Tätigkeiten; der Geist sei in seinem Wirken keineswegs behindert.1 Quid porro? nihil agere te credis si temperans aeger sis? Ostendes morbum posse superari uel certe sustineri. Est, mihi crede, uirtuti etiam in lectulo locus. Non tantum arma et acies dant argumenta alacris animi indomitique terroribus: et in uestimentis uir fortis apparet. Habes quod agas: bene luctare cum morbo. Si nihil te coegerit, si nihil exorauerit, insigne prodis exemplum. O quam magna erat gloriae materia, si spectaremur aegri! Ipse te specta, ipse te lauda. Und überhaupt, glaubst Du denn, Du tust nichts, wenn Du ein selbstbeherrschter Kranker bist? Du wirst der lebende Beweis sein, dass man ein Leiden überwinden oder ihm doch jedenfalls standhalten kann. Glaube mir, auch im Bett hat Mannhaftigkeit ihren Platz! Nicht nur Waffen und Schlachtgetümmel sind eine Gelegenheit, Kampfgeist und nicht zu bezwingende Unerschrockenheit zu beweisen. Auch unter der Bettdecke zeigt sich der Schneid eines Mannes. Du hast etwas zu tun: Liefere der Krankheit ein gutes Ringen. Wenn sie dich zu nichts zwingt, dich nicht erweicht, trittst du hervor als herrliches Beispiel. Oh, wieviel Material gäbe es, um Ruhm daraus zu wirken, wenn man uns beim Kranksein zuschauen würde! Sei dein eigener Zuschauer, dein eigener Lobredner.

In einer der Diatriben Epiktets wird das Bild des idealen Kynikers gezeichnet. Ein solcher Mann – der übrigens ein durchaus stoisches Wertesystem vertritt – predige seine philosophischen Überzeugungen nicht nur. Als von Zeus ge1

  Sen. ep. 78,20 f.

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sandter Bote werde er vor allem mit seinen Taten zeigen, dass ein gutes Leben auch ohne äußere Zufallsgüter errungen werden könne.2 Der wahre Kyniker sei ein Athlet, der nicht in Olympia, sondern vor den Augen der ganzen Welt seinen Kampf bestreiten und klaglos, ja sogar freudig fürchterliche Schläge einstecken müsse. Wie Herakles von Zeus ertüchtigt und geprüft, werde er sich würdig erweisen, den Herrscherstab des Diogenes zu führen.3 Folgendes Beispiel illustriert nun einen solchen königlichen Auftritt.4 Ἄκουε, τί λέγει ἐκεῖνος πυρέσσων πρὸς τοὺς παριόντας· „Κακαί“, ἔφη, „κεφαλαί, οὐ μενεῖτε; Ἀλλ’ ἀθλητῶν μὲν ὄλεθρον ἢ μάχην ὀψόμενοι ἄπιτε ὁδὸν τοσαύτην εἰς Ὀλυμπίαν· πυρετοῦ δὲ καὶ ἀνθρώπου μάχην ἰδεῖν οὐ βούλεσθε;“ Höre, was [Diogenes] im Fieber zu den Vorbeigehenden sagt: „Elendes Pack, wollt ihr nicht stehen bleiben? Um Sportlern beim Untergang oder Kampf zuzuschauen, macht ihr euch auf die lange Reise nach Olympia, aber hier, wo Fieber und Mensch miteinander ringen, wollt ihr nicht zuschauen?“

Es ist bemerkenswert, wie beide Autoren bis an die Grenze der unfreiwilligen Komik gehen, um das Bild eines Heroismus in unheroischer Form zu entwerfen. Die Tugend des Kranken ist bei Seneca Selbstbeherrschung (σωφροσύνη, temperantia).5 Er leistet etwas, wenn er es schafft, selbstbeherrscht (temperans) zu bleiben und sich von keinem aus der Krankheit erwachsenden Impuls überwältigen oder verführen zu lassen.6 Interessanterweise wird nun diese Tugend bei der Ausarbeitung des Gedankens ins Kriegerische gewendet. Virtus ist nicht mehr nur ein Gattungsbegriff, sondern speziell die Tugend des tapferen Mannes (uir fortis). Der Kranke überwindet seine Krankheit oder hält ihr stand und ringt jedenfalls mit ihr. Wie ein Held in der Schlacht beweist er, dass ihn kein Schrecken in die Knie zwingen kann. Da Krankheit oft mit starken Schmerzen verbunden ist und viele antike Behandlungsmethoden durchaus erschreckend waren, überrascht eine solche Militarisierung der Krankentugend eigentlich nicht.7 Verblüffend ist allerdings, dass hier gleichzeitig mit der Heroisierung des Kranken gerade die unkriegerische Seite seines Zustandes herausgestellt wird. Anstatt zu beschreiben, wie er quälende   Arr. Epict. III 22,23 ὅτι ἄγγελος ἀπὸ τοῦ Διὸς ἀπέσταλται; 46 δείξοντα ἔργῳ.   Arr. Epict. III 22,50–53 (Athlet vor den Augen der Welt); 56 f. (trainiert von Zeus; Vergleich mit Herakles). Mit dem Zepter des Diogenes (τὸ σκῆπτρον τὸ Διογένους) wird auf den Wander- und Bettelstab angespielt, der zum Habit der Kyniker gehörte. 4   Arr. Epict. III 22,58. 5   Als Terminus für die Kardinaltugend Selbstbeherrschung erscheint das Wort temperantia z. B. ep. 90,46; 115,3; 120,11. Zu temperantia als Krankentugend vgl. ep. 66,5 in morbo gravi temperantia; ep. 123,17 Nullam habet spem salutis aeger quem ad intemperantiam medicus hortatur. 6   Sen. ep. 78,21 Si nihil te coegerit, si nihil exorauerit. 7   Zur Militarisierung des per definitionem eigentlich friedvollen otium in den Epistulae morales insgesamt siehe André, J.-M.: Otium et vie contemplative dans les Lettres à Lucilius, REL 40, 1962, 125–128. 2

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Beschwerden lächelnd erduldet oder sich ungerührt schneiden und brennen lässt, zeigt uns Seneca den Kranken im Bett – wörtlich sogar im diminutiven „Bettchen“ (lectulo) – und eingehüllt in warme Decken (in uestimentis). Selbst in der direkt vorangehenden Passage, in der die zu ertragenden Schmerzen Thema sind, beobachtet man diese Tendenz. Dort findet sich das Beispiel „jenes Mannes“, der sich, natürlich ohne Betäubung, Krampfadern herausoperieren ließ und dabei unbeirrt seine Lektüre fortsetzte.8 Ein berühmtes Beispiel gerade dieser Art von Standhaftigkeit war C. Marius. Wie Cicero und Plutarch erzählen, ließ der alte General als erster Mensch überhaupt diese Operation unfixiert über sich ergehen.9 Seneca dagegen evoziert einen unbeugsamen Stubengelehrten. Selbst die schlimmsten Qualen des Kranken sind in ep. 78 geringer als diejenigen, die man unter echter Folter erleidet. An einer auch durch wörtliche Anklänge parallelen früheren Stelle (ep. 14,6) wurden sie dagegen ausdrücklich als gleichrangig beurteilt.10 Es geht hier nicht darum, eine bewusste Anspielung mit variatio nachzuweisen, die vom Leser auch registriert werden sollte. Die genannten Belege stammen jeweils aus einem therapeutischen Kontext. Es werden keine philosophischen Lehrmeinungen vorgestellt und in nüchterner Argumentation bewiesen. Vielmehr erhält der Adressat Anweisungen, was er sich gerade vorstellen soll. Zur Angsttherapie ist es hilfreich, das Beängstigende (Folter) klein zu reden; bei der Therapie von Schmerz hilft es, sich der Erträglichkeit seiner Qualen durch den Vergleich mit etwas noch Schlimmerem (Folter) zu vergewissern. Der Verweis auf die Parallelstellen soll vielmehr eine Auswahl und die damit einhergehende Gewichtung, eine Betonung des Privaten und Unspektakulären sichtbar machen. Gerade dem Zurückgezogenen und prinzipiell Unauffälligen soll die Aufmerksamkeit gelten. Eine ähnliche Gewichtsverschiebung wird in der Diatribe Epiktets vorgenommen. Diogenes im Ringen mit dem Fieber war eine Anekdote aus der kynischen Chreia-Tradition. Dies ist nicht nur an der Form des Stücks erkennbar (einer kurzen Szene, die in einem Ausspruch gipfelt). Es ist uns außerdem eine vollere Version parallel bei Hieronymus belegt.11 Danach war der bereits

  Sen. ep. 78,18 ille qui dum uarices exsecandas praeberet legere librum perseuerauit.   Cic. Tusc. II, 35 und 53; Plu. Mar. 6. 10   Sen. ep. 14,6 famem … et sitim et praecordiorum suppurationes et febrem uiscera ipsa torrentem; ep. 78,19 destillationes et uim continuae tussis egerentem uiscerum partes et febrem praecordia ipsa torrentem et sitim et artus in diuersum articulis exeuntibus tortos. Eine Gleichsetzung von Folter und Krankheitsqualen geschieht auch in ep. 24,14. 11   Adversus Iovinianum 2,14, PL XXIII, p. 318 f. (Orthographie und Zeichensetzung geändert) Nam cum ad agonem Olympiacum, qui magna frequentia Graeciae celebrabatur, iam senex pergeret, febri in itinere dicitur apprehensus accubuisse in crepidine uiae uolentibusque eum amicis aut in iumentum aut in uehiculum tollere non acquieuit, sed transiens ad arboris umbram locutus est: „Abite, quaeso, et spectatum pergite: haec me nox aut uictorem 8

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betagte Diogenes zusammen mit Freunden auf der Reise nach Olympia, als er erkrankte. Weil er ja zu Fuß unterwegs war, boten sie ihm an, ihn auf einem ihrer Wagen oder Reittiere mitzunehmen, was er ablehnte, um stattdessen am Straßenrand die Krankheit entweder zu besiegen und dann nachzukommen oder um von ihr besiegt in die Unterwelt einzuziehen, wie es dann auch geschah. Sowohl bei Hieronymus als auch in Epiktets Diatribe liegt Diogenes am Straßenrand und hat Fieber. Weitere Gemeinsamkeiten sind der Bezug zu den olympischen Spielen und der Vergleich der Krankheit mit einem Kampf. Auch der Gedanke, dass sich der Kyniker nicht von Freunden versorgen lassen soll, wenn er krank ist, findet sich in der Diatribe, allerdings erst im Anschluss an die Chreia, als Antwort auf die Frage eines fiktiven Interlokutors (III 22,62–66). Dies könnte ein Hinweis sein, dass der Autor der Diatribe die Chreia ebenfalls in einer Langversion ähnlich der bei Hieronymus kannte und für seine Zwecke anpasste. Wie immer sich dies verhalten mag, auch hier deutet ein Vergleich mit der Parallelstelle auf eine bewusste Auswahl unter verschiedenen Möglichkeiten und eine entsprechende Darstellungsabsicht hin. Epiktet beschreibt Diogenes als einsam und unbeachtet am Straßenrand. Er hat kein Reiseziel und keine Freunde, die ihn umsorgen möchten. Er ist für die Passanten einfach nicht von Interesse. Wir erfahren auch nicht, wie es dem Kranken ergeht, ob er stirbt oder wieder gesund wird. Wichtig ist seine Interaktion mit dem Beobachter, seine Beispielhaftigkeit und die Tatsache, dass er selbst sich in der Rolle eines beispielhaften Schicksalskriegers sieht. Während bei Hieronymus die Reisenden tatsächlich nach Olympia unterwegs sind, hält Diogenes in Epiktets Diatribe den Passanten nur vor, dass sie, um Wettkämpfe zu sehen, den weiten Weg nach Olympia auf sich nähmen, wo doch der wirklich spannende Kampf gerade jetzt hier vor ihren Augen stattfinde. Gerade der Einsame, das kümmerliche Häufchen Elend, an dem man achtlos vorbeigeht, wandelt sich in der Person des Diogenes zu etwas Großem und Exemplarischem. Bei Hie­ ronymus ist es Diogenes gleichgültig, ob er Zuschauer hat. Ja, er ermuntert die Freunde sogar, ohne ihn weiter zu reisen. Mit vielen verschiedenen Einzelheiten wird ein kontingentes Ereignis aus Diogenes’ Leben erzählt: In einem bestimmten Alter, auf einer bestimmten Reise mit bestimmten Personen erkrankt er und stirbt. Während der Geschehnisse entscheidet er sich immer konsequent für das seiner Rolle gemäße Verhalten, weswegen er auch die angebotenen Transportmittel ablehnt. In Epiktets Diatribe ist dagegen alles auf das Wesentliche reduziert, und wir erhalten eine idealtypische, prägnante Szene: ein Mensch am Straßenrand, vor Passanten mit dem Fieber ringend. Manch einem Leser mögen solche Paradoxien zu weit gehen, wie etwa dem Anonymus, der im Exemplar von E. Phillips Barker’s Übersetzung der Epistulae morales (Oxford 1932) in der Bibliothek der Universität Glasgow probabit aut uictum. Si febrem uicero, ad agonem ueniam; si me uicerit febris, ad infera descendam.“ Ibique per noctem eliso gutture non tam mori se ait quam febrem morte excludere.



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im Text von ep. 78,21 die Worte „Believe me, there’s room for the display of virtue even in bed. … the brave man is evident even under the bed-clothes. There’s something for you to do“ unterstrich und am Rand notierte „PRAECLARAM SENTENTIAM!“ Auch die Vignette mit dem fiebrigen Diogenes, wie er die Vorübergehenden anbellt und schimpfend Beachtung verlangt, hat etwas Absurdes. Doch gerade in dieser Absurdität ist die Kernfrage, um die es in allen hier zu diskutierenden Beispielen geht, auf den Punkt gebracht: Wie kann man sich in einem nach philosophischen Prinzipien gestalteten Leben exemplarisch aus der „Welt“, aus dem öffentlichen Leben zurückziehen? Es gibt wohl keine privatere Situation als die Krankheit, wenn ein Mensch auf sich selbst zurückgeworfen und so geschwächt ist, dass er seine übliche Leistungsfähigkeit und damit auch die Fähigkeit eingebüßt hat, als tätiges Mitglied der Gemeinschaft aktiv zu sein. Ausgerechnet dieser Zustand wird in den beiden Textstellen in das Licht der Öffentlichkeit gerückt. Anstatt sich still und einfach gesund zu pflegen, will der Kranke beachtet werden. Selbst jetzt kann er es nicht lassen, nach den Blicken der anderen zu heischen. Solch ein Wichtigtuer scheint er zu sein. Ist es nicht pure Heuchelei, wenn der Kyniker erst der Gesellschaft demonstrativ den Rücken kehrt und so tut, als sei er in seiner Autarkie auf die anderen nicht angewiesen, dann aber schimpfend am Wegesrand liegt und noch nicht einmal ohne Publikum krank sein kann? Wenn Seneca sich aus der Öffentlichkeit und seiner Tätigkeit bei Hofe zurückzieht, aber dann alle Fieberschübe und Anfälle seiner kränkelnden Seele in wohlformulierten Episteln der Nachwelt und seinen Zeitgenossen zur Kenntnis bringt, ist das dann nicht doch nur der Ausdruck einer Geltungssucht, die einen neuen Weg gefunden hat, sich zu verwirklichen? Das ist es jedenfalls, was Plutarch dem größten Propagandisten des Rückzugsgedankens vorwirft: Epikur habe sich „durch die Ermahnung zur Ruhmlosigkeit unverdienten Ruhm erschleichen“ wollen, indem er so tat „als sei er jemand, der Höheres im Sinn habe“.12 Ohne hier solche persönlichen, nur allzu menschlichen Motive bei den antiken Autoren grundsätzlich ausschließen zu wollen, möchte ich im Folgenden die gerade beschriebenen Intuitionen doch lieber ohne biographische Spekulationsversuche auf ihre Berechtigung überprüfen. Was könnten die Gründe dafür sein, dass ein Philosoph in seiner Zurückgezogenheit von der Außenwelt beachtet werden will, und auf welchen Wegen kann er mit ihr aus seiner Zurückgezogenheit heraus in Kontakt treten? Dieser Aufsatz behandelt 12  Plu. De latendo 1128a–b Ἀλλ’ οὐδ’ ὁ τοῦτ’ εἰπὼν λαθεῖν ἠθέλησεν· αὐτὸ γὰρ τοῦτ’ εἶπεν, ἵνα μὴ λάθῃ, ὥς τι φρονῶν περιττότερον, ἐκ τῆς εἰς ἀδοξίαν προτροπῆς δόξαν ἄδικον ποριζόμενος. („Aber nicht einmal [Epikur], der dies [= λάθε βιώσας] sagte, wollte im Verborgenen bleiben. Er sagte das nämlich, damit er gerade nicht verborgen bliebe. Durch die Ermahnung zur Ruhmlosigkeit – so als sei er jemand, der Höheres im Sinn habe – wollte er sich unverdienten Ruhm erschleichen.“)

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somit nicht nur philosophische Konzeptionen und Praktiken, sondern auch eine bestimmte Form der sozialen Interaktion. Allerdings ist es unmöglich, in diesem bescheidenen Rahmen, die sozialgeschichtliche Realität selbst zu fassen.13 Stattdessen werden Erscheinungsweisen dieser Realität, wie sie in Texten der Prinzipatszeit gestaltet sind, Gegenstand der Analyse sein. Auch ein solcherart gebrochenes Bild ist dennoch aufschlussreich, insofern es sich um verwandte Sichtweisen innerhalb eines begrenzten zeitlichen und thematischen Rahmens handelt und somit beispielhaft zeigt, wie zeitgenössische Akteure eines bestimmten Typs solche Interaktionsformen aus ihrer Perspektive erlebt haben mögen.14   Grundlegend hierzu Hahn, J.: Der Philosoph und die Gesellschaft. Selbstverständnis, öffentliches Auftreten und populäre Erwartungen in der hohen Kaiserzeit, Stuttgart 1989.Vgl. außerdem z. B. Trapp, M.: Philosophy in the Roman Empire. Ethics, Politics and Society, Aldershot/Burlington 2007. 14   Beispielhaftigkeit wird für gewöhnlich unter dem Gesichtspunkt der durch exempla tradierten römischen Wertbegriffe diskutiert. Umfangreich ist auch die Literatur zum Gebrauch von exempla durch römische Autoren, nicht zuletzt der Kaiserzeit. Zu Seneca siehe etwa Mayer, R. G.: Roman Historical Exempla in Seneca, in: Sénèque et la prose latine, hg. von P. Grimal, Vandoeuvres-Genève 1991, 141–176. Selbstdarstellung und Selbstgestaltung („self-fashioning“) von kaiserzeitlichen Autoren werden diskutiert z. B. von Gleason, M.: Making Men. Sophists and Self-Presentation in Ancient Rome, Princeton 1995; Habinek, T.: The Politics of Latin Literature. Writing, Identity, and Empire in Ancient Rome, Princeton 1998, z. B. 139: „Thus the use of self as exemplum in Seneca’s philosophical works, especially his letters, is authorized by the performative/literary tradition in which he writes. At the same time, the generic imperative toward self-exemplification is supplemented by the more broadly social and political imperative to match, even outstrip, one’s predecessors.“ Vgl. auch Habinek, T.: Seneca’s Renown. Gloria, Claritudo, and the Replication of the Roman Elite, ClAnt 19, 2000, 264–303; Bartsch, S.: The Mirror of the Self, Sexuality, Self-Knowledge, and the Gaze in the Early Roman Empire, Chicago 2006, vor allem Kapitel 4. Zum Rückzug als einer Form der Selbstbeobachtung schreibt sie (196): „Seneca’s injunctions on acquiring self-knowledge, then, would usually have us turn away from the assessing gaze of the community in general as a source of ethical self-shaping.“ Wichtig ist ferner Decleva Caizzi, F.: The Porch and the Garden. Early Hellenistic Images of the Philosophical Life, in: Images and Ideologies. Self-Definition in the Hellenistic World, hg. von A. Bulloch/E. S. Gruen/A. A. Long/A. Stewart, Berkeley 1993, 303–329, eine Arbeit, in der auch kaiserzeitliche Quellen herangezogen werden. – Das exemplarische Sterben wurde ebenfalls zum Gegenstand der Untersuchung gemacht, in jüngster Zeit z. B. von Hill, T.: Ambitiosa Mors. Suicide and Self in Roman Thought and Literature, London/New York 2004 oder Ker, J.: The Deaths of Seneca, Oxford/New York 2009. Besonders wichtig für die vorliegende Fragestellung ist Edwards, C.: Death in Ancient Rome, New Haven 2007. Während Habinek die sozio-politische Dimension der Selbstexemplifizierung herausstreicht, analysiert Edwards das Phänomen auch im Kontext des philosophischen Diskurses. Sie bemerkt: „In Stoicism, the actions of an individual acquire meaning insofar as they are witnessed.“ Dabei könne das Schauspiel („spectacle“) auch eines für den Handelnden selbst sein (151 f.). Hier soll es darum gehen, die „Bedeutung“ des beobachteten Aktes und auch die Formen der Beobachtung etwas genauer heraus zu arbeiten. 13



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Zur Beantwortung dieser Fragen möchte ich zunächst an die in den Texten selbst ausgeführten Gründe für den Rückzug erinnern. Dann soll am Beispiel von Thrasea Paetus’ Sterbeszene in Tacitus’ Annalen die eigenartige Kommunikationssituation eines exemplarisch Zurückgezogenen modelliert werden, um die daraus erwachsenden Möglichkeiten wie auch die der Situation inhärenten Probleme aufzuzeigen. Abschließend wird zu prüfen sein, ob nicht die scheinbare Selbstverherrlichung und Hinwendung zur Außenwelt auch innerhalb der Rückzugssituation selbst eine Funktion hat, die über eine bloße Außenwirkung hinausgeht.

2.  Rückzugsgründe Die Gründe, weswegen ein Philosoph den Rückzug aus der Öffentlichkeit propagiert, sind vielfältig und abhängig von der Schule, der er anhängt.15 Der Kyniker zum Beispiel zieht sich nicht eigentlich aus der Öffentlichkeit zurück, sondern aus der staatlichen und sozialen Ordnung, der er seine eigene Lebensweise der Unabhängigkeit durch Schmerzbejahung und Normverneinung entgegenhält. Epiktets stoisierender Kyniker, der „Bote des Zeus“, betritt regelrecht eine sokratische Bühne in Opposition zu einem Fortuna unterworfenen theatrum mundi mit seinen tragischen Rollen für Reiche und Mächtige, olympische Athleten oder auch intellektuelle Schausteller (III 22,26). Paradoxien, wie wir sie in der Einleitung beobachtet haben, entstehen vielmehr durch den Gegenstand des gespielten Stückes: die Alltagsproble15   Das Thema „Rückzug“ wird in modernen Arbeiten meist unter der römischen Antithese otium – negotium oder dem platonisch-aristotelischen Gegensatz von βίος πρακτικὸς und βίος θεωρητικός gefasst. Grundlegend sind André, J.-M.: Recherches sur l’otium romain, Paris 1962; André, J.-M.: L’otium dans la vie morale et intellectuelle romaine des origines à l’époque augustéenne, Paris 1966; zu Seneca siehe auch André, J.-M.: Sénèque. ‚De brevitate vitae‘, ‚De constantia sapientis‘, ‚De tranquillitate animi‘, ‚De otio‘, ANRW II/36,3, 1989, 1724–1778, sowie den in Anm. 7 zitierten Artikel, außerdem z. B. Pfligersdorffer, G.: Vom Rückzug des in der Öffentlichkeit Wirkenden. Zu Texten von Seneca und Lucan, in: Antidosis. Festschrift für Walther Kraus zum 70. Geburtstag, hg. von R. Hanslik/A. Lesky/H. Schwabl, Wien et al. 1972, 252–266; Degl’Innocenti Pierini, R.: „Vivi nascosto“. Riflessi di un tema epicureo in Orazio, Ovidio e Seneca, Prometheus 18, 1992, 150–172. – Leppin, H.: Die Laus Pisonis als Zeugnis senatorischer Mentalität, Klio 74, 1992, 221–236 unterstreicht die Bedeutung, die das otium für kaiserzeitliche Senatoren in ihrem Streben nach Sozialprestige hatte. – Wichtige neuere Arbeiten zum Thema sind zwei Publikationen von G. Roskam mit hilfreichen Zusammenfassungen der verschiedenen philosophischen Positionen: Roskam, G.: Live Unnoticed. On the Vicissitudes of an Epicurean Doctrine, Leiden/Boston 2007 und Roskam, G.: A Commentary on Plutarch’s De Latenter Vivendo, Leuven 2007. Siehe ferner Williams, G. D.: Seneca. De Otio. De Brevitate Vitae, Cambridge 2003.; Bénatouïl T./Bonazzi, M. (Hrsgg.): Theoria, Praxis, and the Contemplative Life after Plato and Aristotle, Leiden/ Boston 2012.

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me eines jeden Menschen. Außerdem ist die Bühne nicht immer als solche markiert, wie im Falle der oben vorgestellten Szenen am Straßenrand oder daheim im eigenen Bett. Das scheinbar Unspektakuläre muss durch die Person des Darstellers oder andere Techniken, wie etwa einen auffälligen Habitus, in ein Spektakel verwandelt werden, damit es vom Publikum überhaupt wahrgenommen wird. Das gilt in ähnlicher Weise auch für Epikur und Seneca, die aus der Publizität ihrer Briefe keinen Hehl machen,16 nur dass dem römischen Konsular und amicus principis keine der Rollen für griechische oder griechisch publizierende Berufsphilosophen zur Verfügung steht.17 Er spielt weder den Kyniker noch den Künder einer neuen Lehre noch etwa den armen freigelassenen Schulmeister, der den Reichen, Mächtigen und Begabten in seiner Enklave die stoischen Wahrheiten um die Ohren haut, sondern einfach sich selbst.18 Während in diesem Sinne der Rückzug nur die Wahl einer anderen Form von Öffentlichkeit ist, empfehlen Epikureer und der Stoiker Seneca, und bis zu einem gewissen Grad Epiktet, den Rückzug speziell aus der Politik auch aus rein prudenziellen Gründen, insofern eine politische Karriere, jedenfalls unter den gegebenen Bedingungen, vom eigentlichen Ziel des Lebens weg führen würde. Für den Epikureer ist sie mit unnötiger Unlust verbunden, für den Stoiker mit unehrenhaftem Verhalten oder sinnlosem Bemühen. Überhaupt gilt es, das Reizklima öffentlicher Auftritte und die entsprechenden Ämter oder Professionen zu meiden. Sie nähren Affekte und unnötige, unnatürliche Bedürfnisse, während sie gleichzeitig Enttäuschungen und den tiefen Fall dessen vorbereiten, der zu hoch aufgestiegen ist. Hinzu kommt die pädagogisch-therapeutische Funktion des Rückzugs: Ein stoischer Weiser oder ein Sokrates mögen in jeder Umgebung, auch mitten unter Tyrannen oder einer wütenden Menge, gelassen sie selbst bleiben; der Mensch im Genesungsprozess, der Weisheit erst noch lernt, muss den schäd  Sen. ep. 8,2 und 6; 21,5 f.   Grundlegend zu Seneca als römischem Philosophen sind Inwood, B.: Seneca in His Philosophical Milieu, HSPh 97, 1995, 63–76 und Gauly, B. M.: Senecas Naturales quaestiones. Naturphilosophie für die römische Kaiserzeit, München 2004. Siehe außerdem Wildberger, J.: Amicitia and Eros. Seneca’s Adaptation of a Stoic Concept of Friendship for Roman Men in Progress, in: Philosophie in Rom, hg. von Gernot Michael Müller, Basel (im Erscheinen). 18   Siehe zu diesem Punkt jetzt Colish, M. L.: Seneca on Acting against Conscience, in: Seneca Philosophus, hg. von M.L. Colish/J. Wildberger, Berlin/New York 2014, 95–110; sowie sowie Wildberger, J.: The Epicurus Trope and the Construction of a ‘Letter Writer’ in: Senecas Epistulae Morales, ebenda, 433–463. Auch der kynische Zeuge für die Wahrheit der stoischen Adiaphoralehre erscheint bei Seneca, und zwar in der Person des Demetrius, den der Römer „mit sich herumführt“, um von seinem Vorbild zu lernen: ep. 20,9 Demetrius … non praeceptor ueri sed testis est; 62,3. Demetrius tritt auch in Thrasea Paetus’ Sterbeszene auf. Vgl. Billerbeck, M.: Der Kyniker Demetrius. Ein Beitrag zur Geschichte der frühkaiserzeitlichen Popularphilosophie, Leiden 1979. 16 17



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lichen Einflüssen entzogen werden. Schon wegen seiner Schwäche kann sich das zurückgezogene Leben als das einzig für ihn zielführende erweisen, zumal wenn er wegen seines Zustandes nicht in der Lage ist, seiner Gemeinschaft durch öffentliche Tätigkeit wirklich zu nützen. Lehrtätigkeit und die Publikation philosophischer Werke, um den Beifall der Zeitgenossen zu erhaschen, sind dabei ausdrücklich in die Rückzugsvorschrift einbezogen. Sowohl Epikur wie auch Seneca raten von dieser Art des öffentlichen Wirkens ebenfalls ab, während man in den Diatriben Epiktets eine ähnliche Kritik an epideiktischer Philosophie findet. Bei dieser Form des Rückzugs ergibt sich zusätzlich zum Grundparadoxon einer demonstrativen Weltflucht ein weiteres, dass nämlich jemand, der sich schonen muss und sich wegen seiner Anfälligkeit vom Sog der Masse fernhält, gleichzeitig trotzdem erwartet als moralisches Exempel beachtet zu werden.

3.  Kommunikation aus der Mitte konzentrischer Kreise Ich habe beispielhafte Weltflucht, also den öffentlich wahrgenommenen Rückzug aus der Öffentlichkeit, nun schon mehrfach als ein Paradoxon bezeichnet. Es ist allerdings zu überlegen, inwieweit man damit nicht einen Anachronismus begeht und in unzulässiger Weise ein modernes Verständnis von Privatheit und Öffentlichkeit zugrunde legt. In der Tat scheint die Paradoxie nicht so sehr in der Beispielhaftigkeit des Zurückgezogenen zu liegen. Sie besteht vielmehr in einer Anomalie der Kommunikationssituation, insofern der Zurückgezogene seine Verbindungen zur Außenwelt einerseits kappt, andererseits als Exempel eines Zurückgezogenen aber doch den Kontakt zu ihr aufrecht erhält.19 So ist etwa festzuhalten, dass in den Epistulae morales Seneca sowohl sich selbst als auch Lucilius als öffentliche Personen betrachtet. Beide sind schon vor Einsetzen der Briefe bekannte Literaten und verfassen auch weiterhin Werke mit sowohl philosophischem wie literarischem Anspruch. Solche studia nehmen in der Zurückgezogenheit sogar eher zu.20 Diskussionen darüber, wie man Vorträge halten sollte (z. B. ep. 52 oder 108), erwecken den 19   Mit dem Folgenden vgl. die Charakterisierung des Verhältnisses hellenistischer Kyniker und Stoiker zu ihrer Umgebung durch Decleva Caizzi: The Porch and the Garden, 308 f.: „isolating himself while remaining under other people’s eyes“; „spent all their time among people, even if not with people as such“. 20   Zu Lucilius’ Bekanntheit siehe z. B. ep. 19,3–5; seine Schriften werden erwähnt in ep. 8,10; 24,20 f.; 46; 79,5; sein Briefstil ist Thema in ep. 59,4 f. Zur Intensivierung der literarischen Tätigkeit, sowohl des Lesens als auch des eigenen Schreibens, siehe z. B. ep. 2; 6,4 f.; 8,1; 62,1 f.; 84,1 f.

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Eindruck, dass auch weiterhin Reden vor Publikum gehalten werden. Sowohl durch diese Publikationstätigkeit als auch durch Ämter, die ihnen in Anerkennung ihres Talents oder aus anderen Gründen übertragen wurden, sind sie bereits prominent, als sie sich zum Rückzug entschließen. Diese Prominenz bringt es mit sich, dass sie unter Beobachtung stehen (ep. 32,1 f.; 43,3). Die Öffentlichkeit interessiert sich dafür, was sie tun, und nimmt es auch wahr. Zahlreiche Stellen in den Briefen setzen ein Leben unter Beobachtung voraus, etwa wenn die Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere diskutiert wird (ep. 5; 18). Solcher Beobachtung unterliegen auch Dritte, die weniger bekannt sind, wie etwa Lucilius’ junger Freund, der wegen seines asketischen Ernstes kritisiert wird (ep. 36,1). Ausdrücklich eingeschlossen in dieses Leben unter Beobachtung sind auch Krankheit und Sterben, das im Kreis der Freunde stattfindet und von diesen Freunden durch Berichte in eine weitere Öffentlichkeit hinausgetragen wird.21 Die Außenwirkung des Zurückgezogenen scheint sich dabei in mehreren Schichten zu entfalten. Anstatt dies am komplexen sozialen Geflecht zu zeigen, das in den Epistulae morales jeweils nur in Auschnitten sichtbar wird, möchte ich hier zunächst auf einen Text zurückgreifen, der es uns erlaubt, ganz ähnliche Strukturen in kondensierter Form zu analysieren: die Erzählung von Thrasea Paetus’ Ende im sechzehnten Buch der Annalen.22 Thrasea ist ein hervorragendes Beispiel für einen öffentlichen, demonstrativen Rückzug, wobei in seinem Fall philosophische und politische Motivation untrennbar miteinander verbunden sind. Die Erzählung setzt zu einem Zeitpunkt ein, als Thrasea schon länger den Senatssitzungen und anderen Auftritten der Senatoren ferngeblieben ist, um seine ethischen, und das heißt in seinem Fall stoischen Prinzipien nicht zu kompromittieren. Diese Distanzierung wird von seinen Anklägern als „Abfall“23 bewertet, den sich andere zum Vorbild nehmen. In den Provinzen und beim Heer lese man die Tagesberichte des römischen Volkes, um zu erfahren, was Thrasea nicht getan habe (22,3). Schließlich wird ein Verfahren vor dem Senat eingeleitet. Mit sarkastischen Worten verlangt einer der Ankläger in der Sitzung seinen Tod: Man befriedige doch endlich Thraseas „perversen Ehrgeiz“ (28,3 ambitio prava), sich aus dem Staatswesen zu entfernen.24 Nero selbst hatte bereits getadelt, dass ein schlechtes Beispiel gegeben würde, wenn ein mit Konsulat und Priesterwürden ausgezeichneter Mann wie Thra-

21   Sen. ep. 30; 77,5–9. Die Erzählung (fabella) von Marcellinus’ Tod wird ausdrücklich als exemplum bezeichnet (ep. 77,10). 22   Tac. ann. XVI 22–35; vgl. auch Cassius Dio LXI 15,2; LXII 26,3; LXVI 12,3. 23   Tac. ann. XVI 22,2 secessus; vgl. desciscentem in 28. 24  Siehe Köstermann, E.: Cornelius Tacitus, Annalen, Band IV: Buch 14–16. Erläutert und mit einer Einleitung versehen, Heidelberg 1968, 397 im Kommentar zur Stelle.



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sea sich lieber hingebungsvoll um die Reize seiner Parkanlagen kümmere, statt in den Senat zu kommen (27,2). Für unsere Fragestellung ist die Wahrheit solcher Vorwürfe weniger wichtig als vielmehr der Umstand, dass sie zeigen, wie der Rückzug aus öffentlichen Ämtern als ein höchst öffentlicher Akt betrachtet werden konnte. Das ist auch auf Seiten von Thraseas Anhängern und Bewunderern der Fall. Für sie gibt es keinen Zweifel an der exemplarischen Rolle dieses Mannes. Wiederholt wird sein Ruhm (gloria) betont. Er handele in einer Tradition beispielhaften Verhaltens und müsse sich entsprechend frei von Demütigung und Befleckung halten. Als die Senatoren sich Neros Wünschen fügen und Thrasea zum Tode verurteilen, steht ihnen sein ehrfurchtgebietendes Bild vor Augen (29,2).25 Die eigentliche Sterbeszene (Ann. XVI 34 f.) beschreibt Tacitus wie folgt: Tum ad Thraseam in hortis agentem quaestor consulis missus uesperascente iam die. Illustrium uirorum feminarumque coetus frequentis egerat, maxime intentus Demetrio Cynicae institutionis doctori, cum quo, ut coniectare erat intentione uultus et auditis, si qua clarius proloquebantur, de natura animae et dissociatione spiritus corporisque inquirebat, donec aduenit Domitius Caecilianus ex intimis amicis et ei quid senatus censuisset exposuit. Igitur flentis queritantisque qui aderant facessere propere Thrasea neu pericula sua miscere cum sorte damnati hortatur Arriamque temptantem mariti suprema et exemplum Arriae matris sequi monet retinere uitam filiaeque communi subsidium unicum non adimere. Tum progressus in porticum illic a quaestore reperitur, laetitiae propior, quia Heluidium generum suum Italia tantum arceri cognouerat. Accepto dehinc senatus consulto Heluidium et Demetrium in cubiculum inducit porrectisque utriusque brachii uenis, postquam cruorem effudit, humum super spargens, propius uocato quaestore „Libamus“ inquit „Ioui liberatori. Specta, iuuenis; et omen quidem dii prohibeant, ceterum in ea tempora natus es quibus firmare animum expediat constantibus exemplis.“ Post lentitudine exitus grauis cruciatus adferente obuersis in Demetrium *** Zu Thrasea, der in seinem Park residierte, wurde sodann der Quästor des Konsuls entsandt, als es bereits gegen Abend ging. Er hatte hochstehende Männer und Frauen in großer Zahl bei sich empfangen, war aber vor allem versenkt ins Gespräch mit Demetrius, einem Vertreter der kynischen Lehre, mit dem er, wie an seinem konzentrierten Gesichtsausdruck zu erkennen und den wenigen, etwas lauter ausgesprochenen Worten zu hören war, über das Wesen der Seele und die Trennung von Geist und Körper nachsann, bis schließlich Domitius Caecilianus, einer seiner engsten Freunde, eintraf und ihm mitteilte, was der Senat beschlossen hatte. So forderte Thrasea denn seine weinenden und klagenden Gäste auf, sich rasch davon zu machen und nicht ihre eigene, ohnehin gefährdete Lage mit dem Los eines Verurteilten in Verbindung zu bringen, und ermahnte Arria, die sich anschickte, das Ende ihres Gatten zu teilen und dem Beispiel ihrer gleichnamigen Mutter zu folgen, an ihrem Leben festzuhalten und ihrer gemeinsamen Tochter nicht die einzig verbleibende Stütze zu nehmen. Dann begab er sich weiter zum Säulengang, wo er von dem Quästor angetroffen wurde, und 25  26,3 quorum vestigiis et studiis vitam duxerit; intemeratus, impollutus. Zu dem Gedanken einer Exempel-Tradition siehe auch Edwards: Death in Ancient Rome, 157. Thrasea verfasste eine Biographie des jüngeren Cato, und in der Sterbeszene selbst (XVI 34) möchte Arria dem Vorbild ihrer Mutter folgen.

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zwar fast in fröhlicher Stimmung, weil er erfahren hatte, dass sein Schwiegersohn Helvidius nur aus Italien verbannt worden war. Nach Empfang des Senatsbeschlusses nahm er Helvidius und Demetrius mit sich in sein Gemach, und als er die Adern beider Arme hingestreckt und sein Blut hatte hervorströmen lassen, groß er etwas davon auf den Boden aus, rief den Quästor näher zu sich heran und sprach: „Jupiter, dem Befreier, bringen wir ein Trankopfer dar. Sieh zu, junger Mann! Zwar mögen die Götter das Omen nicht wahr werden lassen, doch bist du in eine Zeit hineingeboren, in der es zweckmäßig ist, seinen Willen mit Beispielen der Standhaftigkeit zu festigen.“ Als ihm später das allzu langsame Dahinscheiden erhebliche Qualen bereitete, wandte er *** zu Demetrius und *** [An dieser Stelle bricht das Buch ab.]

In Tacitus’ Beschreibung fassen wir konzentrische Kreise der Nähe zu dem exemplarisch Sterbenden.26 Der engste Kreis ist repräsentiert durch den Philosophen Demetrius und Thraseas Schwiegersohn Helvidius. Mit diesen Personen teilt Thrasea seine Gedanken über das Sterben. Sie begleiten ihn in das Zimmer, in das er sich zum Sterben zurückzieht, und befinden sich dicht bei ihm. Er seinerseits wünscht sie in seiner Nähe und schenkt ihnen besondere Aufmerksamkeit. Etwas ferner steht die übrige Familie, insbesondere Thraseas Frau Arria – sofern diese nicht weiter an seiner Seite verbleibt, ohne in das Gespräch mit einbezogen zu sein, wie ja auch andere unsichtbare Personen zugegen gewesen sein dürften, Slaven etwa oder der Arzt, der die Adern öffnet. Doch auch in diesem Fall wäre Arria wie die anderen schweigenden und nicht weiter erwähnten Personen einem zwar nicht räumlich, aber doch sozial etwas weiter gezogenen Kreis zuzurechnen. Schon früher im Text (ann. XVI 25 f.) erscheinen „besonders nahe stehende Personen“ (25,1 proximi), enge Freunde oder auch Verwandte, die sein consilium amicorum, seinen Rat der Freunde bilden. Mit ihnen berät sich Thrasea, ob er sich im Senat persönlich verteidigen soll. Namentlich genannt sind aus dieser Gruppe sein späterer Biograph Arulenus Rusticus (26,4)27 und Domitius Caecilianus, der inoffizielle Überbringer der Senatsbeschlüsse. Die-

  Keine so klare Gliederung bietet die Version in einem Scholion zu Iuv. 5,36 (Scholia in Iuvenalem vetustiora, hrsg. von P. Weßner, Leipzig 1931, 69 f.). Dort ist Demetrius der Adressat der Bemerkung über das Blutopfer für Iuppiter, den Befreier, und jeder einzelne Freund erhält einen Abschiedskuss. Von einer förmlichen Verurteilung im Senat ist keine Rede und entsprechend auch nicht von einem Quästor, der die Vollstreckung des Todesurteils überwacht: Sed Thrasea [a] Nerone in senatu de nece matris agente cum quasi parricidium damnans e curia se proripuisset et ex urbe discessisset, accusatus crimine maiestatis defendi se noluit secandasque uenas praebuit, conuersusque ad Demetrium Cynicum: „Nonne libare uideor Ioui liberatori?“ atque singulis amicis oscula offerens exanimatus est. Es handet sich um eine der Anmerkungen, die Georgius Valla für seine Ausgabe (Venedig 1486) aus einem uns verlorenem Juvenal-Kommentar eines gewissen Probus entnommen haben will, wobei er aber vermutlich nicht sehr zuverlässig exzerpierte (siehe Weßner im Vorwort seiner Ausgabe, xx–xxiii). 27   Tac. Agr. 2; Cassius Dio LXVII 13,2. 26



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se Freunde machen aber nur Handlungsvorschläge im Rat, die Entscheidung selbst trifft Thrasea später allein: Er will sich die Sache noch überlegen.28 Teil dieser Gruppe von Freunden oder möglicherweise noch weiter von ihm entfernt sind diejenigen, die nach Darstellung von Thraseas Anklägern seinem Beispiel folgen und seinen Habitus nachahmen. Solche Nachahmer könnten außerdem unter den zahlreich erschienenen Männern und Frauen von Stand sein, die Thrasea die Ehre erweisen, ein Verhalten, das ausdrücklich als riskant (periculum) bezeichnet wird. Zu diesem Zeitpunkt ist ja längst klar, wie Nero zu Thrasea steht und wie wenig er zögert, sich Personen mit Gewalt zu entledigen, wenn er sie als Bedrohung empfindet. Schließlich gibt es einen noch weiteren Kreis, die allgemeine Öffentlichkeit in Rom und den Provinzen, die an Informationen über Thrasea interessiert ist und zu der diese Informationen offenbar durch anwesende Zeugen nach außen dringen. Einen ähnlichen Informationsfluss beobachten wir in Senecas Epistulae morales. Wiederholt werden Senecas Besuche bei sterbenden oder kranken Freunden zum Gegenstand ausführlicher Berichte, in denen er das Erlebte an andere weiter gibt.29 Solche Beschreibungen entwickelten sich zu einer auch stilistisch anspruchsvollen Form, die Friedrich Marx als „Literatur der exitus illustrium virorum“ beschreibt.30 Wie etwa die Parallelversion zu Thraseas Sterbeszene in dem Juvenal-Scholion zeigt (Anm. 26), erlaubten sich die Verfasser solcher Erzählungen ähnliche gestalterische Freiheiten, wie man sie beim Vergleichen verschiedener Versionen historischer Exempel regelmäßig beobachtet. Mit einer Geste wie dem Blutopfer konnte der exmplarische Mensch der Geschichte einen Handlungskern geben. Die Ausgestaltung oblag den Rezipienten. In Tacitus’ Version ist jedenfalls deutlich erkennbar, dass Thrasea seinen Tod zelebriert. Autoren wie Catherine Edwards oder Thomas Habinek (Anm. 14) konzeptualisieren dieses Verhalten als eine Inszenierung oder Performance. Das ist nicht unzutreffend, lässt sich aber präzisieren. Wie etwa eine Hochzeit ist dieser Vorgang ein Ereignis, in dem man eine festgeschriebene Rolle zu spielen und rituelle Abläufe zu beachten hat. Wie die Bestattung ei28

quit.

  Tac. ann. XVI 26,5 ceterum ipse, an uenire in senatum deceret, meditationi suae reli-

29   Sen. ep. 30; 77,5–9; 98,15 f.; vgl. ep. 6,6 Zenonem Cleanthes non expressisset, si tantummodo audisset: uitae eius interfuit, secreta perspexit, obseruauit illum, an ex formula sua uiueret. Das Beobachtete wird in ep. 6,5 ausdrücklich als exemplum bezeichnet, während Bassus in ep. 30 durch seine Haltung theoretische Erkenntnis in die Tat umsetzt und so bestätigt (ep. 30,9; 30,14), genau so wie es in der ziterierten Passage ep. 6,6 gefordert wird. 30   Marx, F.: Tacitus und die Literatur der exitus illustrium virorum, Philologus 92, 1937, 83–111. Vgl. auch Ronconi, A.: Exitus illustrium virorum, SIFC 17, 1940, 3–32; Bellardi, G.: Gli exitus illustrium virorum e il l. XVI degli Annali tacitiani, A&R 19, 1974, 129–137. Zu vergleichbaren Schilderungen bei Plinius: Brouwers, J.-H.: Dood en onsterfelijkheid in de brieven van Plinius Minor, Lampas 7, 1974, 60–74.

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nes römischen Großen so hat auch eine solche Sterbefeier einen öffentlichen und politischen Charakter.31 Thrasea hält sich in seinem Park auf. Dies ist einerseits ein Ort des Rückzugs in den privaten Luxus, also eine Gegenwelt zum Staat – ganz so wie es Nero in Tacitus’ Erzählung beanstandet – andererseits aber auch ein Ort der Parallelöffentlichkeit: ein repräsentativ aus der Stadt Rom und damit gewissermaßen aus dem staatlichen Hoheitsgebiet herausgeschnittener und einem reichen Einzelnen vorbehaltener Raum, der sich auch als Versammlungsort eignet und so gewissermaßen ein privates Forum darstellt.32 In diesem Zusammenhang ist am Anfang der zitierten Passage der Hinweis auf die große Zahl der Besucher interessant, ebenso wie der zweimalige Gebrauch des Verbums agere, eines Wortes also, das Aktivität bezeichnet und auch für politisches Handeln und Verhandeln gebraucht wird.33 Thrasea hält sich nicht einfach nur irgendwo auf, sondern stellt sich als öffentliche Figur zur Verfügung. Die Anteilnahme der vielen angesehenen Persönlichkeiten wird so zu einer Form des politischen Ausdrucks, zumal wenn man bedenkt, dass ihre Anwesenheit gleichzeitig mit der unter schwerer Bewachung stehenden Senatssitzung stattfindet, die zur Verurteilung Thraseas einberufen wurde. Abgesehen von seiner Bitte, sie möchten sich zu ihrer eigenen Sicherheit zurückziehen, scheint sich Thrasea nicht an die anwesende Menge insgesamt gewandt zu haben. Vielmehr lässt Tacitus die Anwesenden für uns zu einer Gruppe Zuschauer werden, die zu verfolgen versuchen, was sich im Zentrum des Geschehens abspielt. Dies geschieht durch Fokalisierung aus dieser Menge heraus. Nach Erwähnung der zahlreichen hochrangigen Gäste, lenkt Tacitus die Aufmerksamkeit des Lesers auf Thrasea im Gespräch mit Demetrius. Er gibt uns keinen Bericht eines allwissenden Erzählers, sondern wir beobachten die beiden nun aus der Ferne, aus dem Blickwinkel der zuschauenden Gäste. Nur aus dem Mienenspiel und Gesprächsfetzen, die vernehmbar werden, wenn Thrasea und Demetrius ein wenig die Stimme heben, kann das Thema erraten werden. Nach Eintreffen der Nachricht über das Todesurteil und Verabschiedung der Menge zieht sich Thrasea in einen Säulengang innerhalb des Parkgeländes zurück und entzieht sich so den Blicken seiner Zuschauer. Hier zeigt 31  Vgl. Noy, D.: „Goodbye Livia“. Dying in the Roman Home, in: Memory and Mourning. Studies on Roman Death, hg. von V. M. Hope, Oxford et al. 2011, 1–20. 32   Vgl. hierzu die Arbeiten K. T. von Stackelbergs: The Roman Garden. Space, Sense, and Society, London 2009; Performative Space and Garden Transgressions in Tacitus’ Death of Messalina, AJPh 130, 2009, 595–624. Weniger hilfreich für die Fragestellung dieser Arbeit sind Frass, M.: Antike römische Gärten. Soziale und wirtschaftliche Funktionen der Horti Romani, Horn 2006; Pagán, V. E.: Rome and the Literature of Gardens, London 2006. 33   Vgl. OLD s. v. 38 und 39, vor allem solche Wendungen wie agere de aliquae re in senatu oder ad populum/cum populo agere. Köstermann meint allerdings im Kommentar zur Stelle (wie Anm. 24), dass agere hier im Sinne von cogere („versammeln“) gebraucht ist.



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sich erneut die Bedeutung des Raumes: Von einer offenen Fläche mit vielen Gästen, geht es zur abgelegeneren Portikus und schließlich in das Gemach (cubiculum), das ebenfalls ein Ort der Kommunikation mit der Außenwelt ist, aber eben der für den engsten und exklusivsten Kreis.34 An dieser Stelle wechselt die Fokalisierung: Von nun an sehen wir Thrasea mit den Augen des namenlosen Quästors, der offenbar das weitere Geschehen durchgehend überwacht und später nur näher herangerufen wird,35 um stellvertretend für die römische Jugend Thraseas Tod als Beispiel der Standhaftigkeit zu bezeugen. Durch diese Fokalisierung werden die Leser der Erzählung ebenfalls zu Rezipienten des Exempels gemacht. Mit Thrasea Paetus zeigt uns Tacitus einen Mann, der sich aus seiner öffentlichen Rolle als Senator zurückzieht, sich dabei jedoch bewusst ist, wie sehr ihn andere beobachten und sich an ihm orientieren. Auch wenn er nur mit wenigen direkt interagiert, ist er in konzentrischenen Kreisen von Gesprächspartnern, Familienangehörigen und Freunden und schließlich Zuschauern umgeben, durch die Beschreibungen seines Verhaltens nach außen und in die Zukunft dringen.36 Eine weitere Form der Kommunikation ist die Hinwendung zu einem Anwesenden, der in besonderer Weise zum Zeugen des Ereignisses berufen ist, so wie hier der Quästor. Es ist diese letzte Kommunikationsform, direkt aus dem Inneren der konzentrischen Kreise heraus, die den Rückzugsgestus zu untergraben droht. Im Falle Thraseas allerdings vollendet sie die Konstruktion einer Parallelöffentlichkeit in höchst schlüssiger Weise: Ein staatlicher Akt, die Übermittlung des Todesurteils und Überwachung seines Vollzuges, wird zu einem Opfer für den Staatsgott Jupiter als Befreier umgedeutet. Gleichzeitig verwandelt sich der Quästor vom Vollstreckungsbeamten im Dienste Kaiser Neros zum Stellvertreter für die römische Jugend, der durch das Ritual eben die Standfestigkeit und innere Freiheit verliehen werden soll, die Thrasea durch seinen Tod für sich selbst und seine Standesgenossen behauptet.37 Schwieriger ist solche direkte Kommunikation vom Zentrum nach außen für den Philosophen, wenn es ihm nicht genügt, sich seinen engsten Vertrau34  Vgl. Wallace-Hadrill, A.: Houses and Society in Pompeii and Herculaneum, Princeton 1994, 57 f.; Riggsby, A. M.: „Public“ and „Private“ in Roman Culture. The Case of the Cubiculum, JRA 10, 1997, 36–56. Zu der sozialen Strukturierung von Raum im römischen Haus allgemein siehe auch Nevett, L. C.: Domestic Space in Classical Antiquity, Cambridge 2010. 35  Vgl. Edwards: Death in Ancient Rome, 136: „The reader here is aligned with the imperial messenger.“ – Tac. ann. XVI 35,1 propius uocato quaestore. 36   Ob Thraseas Biograph Arulenus Rusticus, der sicher eine wichtige Quelle für Tacitus war, zu den anwesenden illustres gehörte, wissen wir nicht; als Volkstribun hätte er eigentlich an der Senatssitzung teilnehmen müssen. 37   Zu den Aufgaben des Quästors siehe Köstermann: Kommentar zu 34,1, 406. Zum Symbolgehalt des Blutvergießens siehe Rohmann, D.: Die Ästhetik des Blutes in berühmten römischen Sterbeszenen, GFA 10, 2007, 251–257.

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ten, seinem Freundeskreis und anderen Anhängern oder Bewunderern zur Beobachtung zur Verfügung zu stellen und dann darauf zu hoffen, dass sie so von ihm berichten werden, wie Tacitus, Arulenus Rusticus oder vielleicht auch jener Quästor es bei Thrasea getan haben, und ähnlich Schüler von Epiktet und Musonius Rufus für ihre Lehrer. Verschärft wird das Problem natürlich, wenn sich der betreffende Philosoph gleichzeitig als kranken, schwachen und durchaus unvollkommenen Menschen beschreibt, so wie es Seneca in den Epistulae morales macht. Hier wird nun klar, welche besonderen Möglichkeiten die Briefform für eine direkte Kommunikation aus dem innersten Kreis um den Zurückgezogenen bietet. Epikur ist mit seinen systematischen Lehrbriefen und den anderen Schreiben an seine Freunde, wie etwa auch dem berühmten Brief vom Sterbebett (Frg. 138 Usener), vergleichbar einem Thrasea, der zu den versammelten Gästen, einem Freund wie Arulenus Rusticus oder seinem Freundeskreis als ganzem spricht. Seneca übernimmt die Form des Philosophenbriefes von Epikur, erweitert sie aber durch die Anlehnung an Ciceros Atticus-Briefe:38 Die Konzentration auf einen einzigen, besonders eng befreundeten Addressaten erlaubt die Fiktion einer anderen Kommunikationssituation. Hier lauscht die lesende Öffentlichkeit in den allerengsten Kreis um Seneca hinein, ohne selbst angesprochen zu werden, vergleichbar den Gästen in Thraseas Garten, die beobachten, wie Thrasea mit Demetrius spricht. Der Absender Seneca verbleibt damit in seiner Rückzugssituation, kommuniziert er doch nur innerhalb dieses innersten Kreises und muss somit den Gestus des Rückzugs und der Abwendung nicht aufgeben. Das, was Thraseas Gäste aus seinem Gesichtsausdruck und Wortfetzen erraten, ist bei Seneca in den Epistulae morales schwarz auf weiß nachlesbar. Das anhand Thraseas Sterbeszene entwickelte Kommunikationsmodell der konzentrischen Kreise legt eine andere Funktion des Briefadressaten Lucilius nahe als die gemeinhin angenommene. Lucilius wird oft als exemplarischer Leser oder idealtypischer Lerner betrachtet: Der Leser identifiziere sich mit Lucilius und schlüpfe so in die Rolle von Senecas Gegenüber.39 Die Epistulae morales mögen zwar auch diese Rezeptionsweise anbieten. So gelesen, entspräche Lucilius dem Quästor, der stellvertretend für die Jugend Roms und 38  Zu den Atticusbriefen als einem der Vorbilder für die Epistulae morales siehe Inwood, B.: The Importance of Form in Seneca’s Philosophical Letters, in: Ancient Letters. Classical and Late Antique Epistolography, hg. von R. Morello/A.D. Morrison, Oxford 2007, 133–148.; Inwood, B.: Seneca. Selected Philosophical Letters. Translation with an Introduction and Commentary, Oxford 2007, xiv mit Anm. 12. 39   Vgl. z. B. Hachmann, E.: Die Führung des Lesers in Senecas Epistulae morales, Münster 1995, 164; Wilson, M.: Seneca’s Epistles to Lucilius. A Revaluation, Ramus 16, 1987, 102–121, 104: „The role of Lucilius is more like that of Memmius in the work of Lucretius, than Atticus in the letters of Cicero: he supplies a focus for the author’s teaching and incitement.“



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die Nachwelt Thraseas Botschaft entgegennimmt. Wenn er Lucilius anspricht, würde sich Seneca somit selbst aus dem Rückzug heraus über einen Mittelsmann an die Außenwelt wenden. Dadurch würde er stärker in die Nähe eines Lehrmeisters gerückt, und die literarische Fiktion verlöre an Transparenz. Anstatt den Menschen Seneca beim exemplarischen Leben zu beobachten, lauschte man einem Moralisten beim Dozieren. Hinzu kommt, dass zum Herstellen eines persönlichen Verhältnisses zwischen Leser und Autor eine Identifikationsfigur wie Lucilius gar nicht nötig zu sein scheint. Es gibt nämlich zahlreiche Hinweise, dass für den Autor der Epistulae morales schon durch ein Buch selbst eine enge Verbindung zwischen Autor und Leser entstehen kann, und zwar unabhängig von der jeweiligen Gattung. So werden etwa Bücher mit Freunden verglichen (ep. 2,2) und die Autoren, deren Stil man imitiert, mit Vätern (ep. 84,8). Die großen Philosophen, die man aus ihren Schriften kennenlernt, sind wie Vorfahren oder eine Familie.40 Ein Autor wie Sextius steht Seneca wegweisend vor Augen und ruft ihm Mahnung zu (ep. 73,15). So wird das Buch zum Menschen, mit dem man eine persönliche Beziehung eingeht. Es ist bezeichnend, dass Seneca eine ähnliche Mahnung an die Nachwelt in ep. 8,6 nicht etwa mit politischer oder geschäftlicher Tätigkeit allgemein vergleicht, sondern speziell mit den Diensten, die man typischerweise einem Freund oder Bekannten im Alltag leistete. Die Briefform erlaubt es dagegen, gerade die Distanz des Rückzugs auch in der literarischen Fiktion aufrecht zu erhalten, eben weil kein Leser direkt angesprochen und zum Zeugen angerufen werden muss, so wie es Thrasea mit dem Quästor macht. Wie Thraseas Gäste ihn im Gespräch mit Helvidius und Demetrius und bei der Interaktion mit weiteren Personengruppen beobachten, so sind die Leser der Epistulae morales Zaungäste bei Senecas Interaktion mit einem engen Vertrauten. So kann er exemplarisches Verhalten und exemplarischen Fortschritt in indirekter Weise und damit glaubwürdiger als Teil des Rückzugsgestus miterleben. Noch eine weitere Kommunikationsform, der öffentliche Vortrag, den der Zurückgezogene vermeiden soll, aber unter bestimmten Umständen dann doch praktiziert, lässt sich im Modell der konzentrischen Kreise etwas genauer fassen. In ep. 52 verwandelt sich eine Diskussion der Frage, bei welchen Philosophen man Vorlesungen hören soll, in eine Anleitung, wie man selbst zum Publikum zu sprechen habe. Entscheidend sei, dass man nicht nach Beifall heische. Keine wahllose Popularität wird gesucht, sondern eine geeignete Hörerschaft, die therapiebereit ist, sich also bessern will, und den Redner auch verstehen kann (52,9 f.; vgl. 7,9). Die kontrastierenden Bilder   Sen. ep. 44,3 Omnes hi maiores tui sunt; dial. 10,14. Siehe auch Graver, M.: Honeybee Reading and Self-Scripting. Seneca’s Epistle 84, in: Seneca Philosophus, hg. von M. L. Colish / J. Wildberger, Berlin/New York 2014, 270–293. 40

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vom Tempelhüter, der Mysten in das Allerheiligste einer Gottheit geleitet, und der Hure, die von einem Zuhälter an jeden beliebigen Freier verkauft wird, unterstreicht, dass es wie bei Thraseas Sterbeszene verschiedene Öffentlichkeiten gibt. Auf der einen Seite eine engere Gruppe, die in den gesonderten Öffentlichkeitsraum – Thraseas Gärten oder die Heiligtümer der Philosophie – eingelassen wird; auf der anderen Seite die Öffentlichkeit schlechthin, „das Volk“ (populus), dem der wahre Philosoph nicht gefallen will und von dem sich der noch Ungefestigte fernhalten muss. Ausnahmsweise findet man in den Epistulae morales allerdings auch Apostrophen an eben dieses Volk, und zwar nicht nur als Zitat aus einem für die Nachwelt verfassten Traktat wie in ep. 8. Interessanterweise sind diese Apostrophen aber gerade das Gegenteil einer Hinwendung zur Außenwelt. Sie dienen vielmehr der Eigentherapie und haben die Funktion, das Selbst seiner Differenz zu vergewissern. Dies wird verständlich vor dem Hintergrund der stoischen Theorie der moralischen Pervertierung (διαστροφή). Eine Erklärung dafür, dass Menschen sich zum Schlechten hin entwickeln, anstatt ihre natürlichen Anlagen zu vollkommener Güte zu entfalten, ist die „Beschallung durch die Menge“ (κατήχησις τῶν πολλῶν).41 Dadurch, dass er sich dieser Menge in der zweiten Person zuwendet, zieht Seneca eine Grenze zwischen sich und den anderen mit ihren irrigen Meinungen. Das ist etwa in ep. 7 zu beobachten, wo die schädliche Wirkung eines Aufenthaltes in der Arena beschrieben wird. Im Präsens lässt Seneca uns als Ich-Erzähler miterleben, was in ihm vorging, als er mitansah, wie die zum Tode Verurteilten schutzlos aufeinandergehetzt wurden. Das geschieht in einer verwirrenden Mischung von sarkastischen Bewertungen des Geschehens, Berichtssätzen, die das Geschehen im Präsens vor Augen führen, Aussagen darüber, was die Leute davon halten, Rechtfertigungen, Antworten auf solche Rechtfertigungen in der zweiten Person Singular, und schließlich Befehlssätzen und rhetorischen Fragen, mit denen die Todgeweihten zum Sterben und ihre Peiniger zum Quälen angetrieben werden. Was hier verwirrt, ist nicht nur die Vielfalt der Sprechakte und Adressaten, verwirrend ist auch, dass man nicht weiß, wer hier eigentlich der Sprecher ist. Sind es nur die anderen, die zum Töten anfeuern, oder ist es vielleicht auch Seneca selbst? Stammt die Rechfertigung von einem Interlokutor, Senecas Sitznachbarn im Publikum, oder spricht Seneca hier in Gedankenrede zu sich selbst, und das vielleicht vergeblich, so dass er am Schluss vom Blutrausch überwältigt wird? Erst mit der Apostrophe an die zweite Person Plural am Ende (ep. 7,5 „Ja, merkt ihr denn nicht einmal …“) gelingt es dem Erzähler, sich vom Sog der Menge zu lösen und eine eigene Haltung wiederzufinden, indem er aus dem „wir“ der Zuschauer ein von ihm selbst verschiedenes „ihr“ macht. 41   Siehe z. B. Diog. Laërt. VII 89 = SVF III 228 sowie die weiteren in SVF III 229–236 gesammelten Belege.



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Ausdrücklich als Methode, eine Abkehr von der „Beschallung“ durch die Menge zu erreichen, erscheint eine weitere Apostrophe in ep. 87: Seneca schämt sich noch immer seiner sparsamen Reiseausstattung, obwohl er doch genau weiß, dass solche Gefühle unangebracht sind. Um solche törichten Skrupel zu therapieren, sollte er eigentlich „seine Stimme gegen die Meinungen des gesamten Menschengeschlechts erheben“ und sagen: „Ihr seid wahnsinnig, ihr irrt euch, mit offenem Maul bestaunt ihr Überflüssiges …“42 Dass hier ein Zurückgezogener nicht wirklich mit der Außenwelt kommuniziert, sondern im Grunde zu sich selbst spricht,43 bestätigt sich, wenn wenig später in ep. 89,18 auch Lucilius mit ähnlichen Tiraden an seiner Charakterfestigkeit arbeiten soll.

4.  Therapeutische Funktionen Diese letztgenannte Technik führt zu einer weiteren Funktion des exemplarischen Rückzugsgestus, die ebenfalls bedacht werden muss. Beispielhaftigkeit ist nämlich nicht nur eine Form der Außenwirkung; sie scheint auch eine Form der Auseinandersetzung mit sich selbst zu sein. Sich selbst als Exempel zu imaginieren kann eine therapeutische Übung sein oder gar Konzeptarbeit, eine Methode der bewussten Formung des eigenen Selbst. In Arbeiten über Epiktet und Seneca entwickelt Anthony A. Long den Begriff eines „normativen Selbst“. Dieses sei der δαίμων, von dem Epiktet spreche, die „Stimme der Vernunft“ (ὀρθὸς λόγος), die dem Menschen Ziele für sein Handeln vorgebe und äquivalent mit Gott und der „normativen Menschennatur“ sei.44 Das normative Selbst unterscheide sich von den „Attributen und Potenzialen eines Individuums“ auch darin, dass es „die Verwirklichung des Heldentums als solchem“ darstelle.45 Aus verschiedenen Gründen, die ich hier nicht darlegen kann, halte ich diesen Vorschlag für problematisch. Das diesen Vorschlag motivierende Problem allerdings, wie ein Mensch von der Wahrnehmung seiner selbst als irrendes, unvollkommenes Wesen hin zu einer Orientierung zum Guten – und das heißt für einen Stoiker konkret: zu sich 42   Sen. ep. 87,5 Parum adhuc profeci: nondum audeo frugalitatem palam ferre; etiamnunc curo opiniones uiatorum. Contra totius generis humani opiniones mittenda uox erat: „Insanitis, erratis, stupetis ad superuacua, …“ 43   Vgl. z. B. Sen. ep. 8,6 si haec mecum, si cum posteris loquor; 27,2 clamo mihi ipse. 44   Long, A. A.: Epictetus. A Stoic and Socratic Guide to Life, Oxford 2002, 166; 187 f. 45   Long, A. A.: Seneca on the Self. Why Now?, in: Seneca and the Self, hg. von S. Bartsch/D. Wray, Cambridge 2009, 20–36, 26: „Normative identity can only be aspired to by the intentions and commitments of persons as individuals, and thus far appears to be subjective. But it is also objective because what it involves is not the deployment of this or that individual’s uniquely personal attributes and potentials but the achievement of heroism as such, …“

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selbst als gutem Menschen – kommen soll, ist bisher ungelöst. Wenigstens eine Antwort darauf könnte eben in der von uns untersuchten Selbstexemplifizierung des Zurückgezogen liegen. Seneca kennt eine Textsorte χαρακτηρισμός oder ἠθολογία (ep. 95,65), bei der es sich um die Beschreibung von Tugenden und Lastern handelt.46 Für Seneca ist diese Gattung eng verwandt mit der Beschreibung exemplarischer historischer Personen: Es sei gleichermaßen nützlich, die charakteristischen Eigenschaften eines guten Menschen zu umreißen, wie von solchen Menschen, die tatsächlich gelebt haben, zu erzählen (ep. 95,72). In ep. 120 wird beschrieben, wie Menschen das Konzept vom Guten dadurch erwerben, dass sie aus der Beobachtung von Exempeln zur Wahrnehmung eines vollkommenen Mannes gelangen, wobei dies natürlich nicht die Wahrnehmung eines real existierenden Menschen sein kann, sondern nur ein imaginiertes Bild, das aber so lebhaft geschildert und auch erlebt wird, als ob man dem Mann tatsächlich begegnet wäre. Solchen Belegen kann man entnehmen, dass für Seneca das Konzept vom Guten die Form eines Bildes vom guten Menschen annimmt (oder jedenfalls auch annehmen kann). Wenn ein Mensch also nach dem Guten strebt, dann strebt er danach, eine bestimmte Art von Mensch zu sein. Wie kann dieses Konzept vom Guten nun aber konkret zur Anwendung kommen? Oder anders gefragt, wie kann es handlungsrelevant werden? Dazu muss das generelle Konzept, das allgemeine Bild vom guten Menschen, auf den Handelnden selbst bezogen werden. Der Handelnde muss selbst das Exempel werden, und zwar nicht das allgemeine Exempel oder nur ein historisches Exempel, sondern dasjenige Exempel, das er selbst in der jeweils gegebenen, konkreten Situation sein müsste. Das „Heldentum als solches“, das nach Long das normative Selbst vom individuellen, realen Selbst des Handelnden unterscheidet, muss sich im exemplarischen Heldentum eben dieses Akteurs in seiner kontingenten Lebenssituation konkretisieren. Genau diese gedankliche Operation wird vollzogen, wenn sich jemand ausmalt, wie er in einem bestimmten Moment, in der Situation, in der er sich gerade befindet – und sei es krank im Bett – etwas Großes und Beispielhaftes tut, und dabei den Gedanken fasst, dass es ihm zukomme, jetzt genau diese große, exemplarische Person zu sein. Auf solche Weise kann man üben, in jeder Lebenslage die richtigen punktuellen normativen Selbstbilder oder Konzepte von sich selbst zu entwickeln, sei es als exemplarischer Kranker, als exemplarischer Reisender oder exemplarisch platonische Ontologie Diskutierender. Wenn es gelingt, die idealen Selbstbilder durch uneingeschränkte Zustimmung auch tatsächlich voll und ganz und ohne Zaudern zu bejahen, dann wird man zu dem, den man sich als 46   Vgl. zu dieser z. B. Hadot, I.: Seneca und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969, 24; 28 f.; 34.



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Wunschbild von sich selbst in seiner Phantasie schon ausgemalt hat. Es tritt ein, was Seneca als stoischer Intellektualist seinem Freund verspricht, dass einem nämlich der Besitz wahrer Güter zuteil wird, sobald man sie mit seinem Geist wirklich wahrgenommen hat.47 Das Erlangen solcher Güter scheint in ep. 62 vorgeführt zu werden. In wundersamer Weise hat sich all die Zeitnot und Fremdbestimmtheit des ersten Briefes der Sammlung aufgelöst. Nichts steht den „befreienden Studien“ mehr im Wege. Seneca hat alle Zeit der Welt, ist immer ganz bei sich. Weder von Dingen noch seinen Freunden oder anderen Menschen, mit denen ihn irgendein Anlass vorübergehend zusammengebracht hat, lässt er sich vom eigentlich Wesentlichen, dem Hegen heilsamer Gedanken und dem Umgang mit den Besten aller Zeitalter, abhalten (62,1 f.). Neben dieses Exempel gelingenden Zeitgebrauchs setzt der Autor einen Meister des gelingenden Umgangs mit unerheblichen äußeren Gütern: den Kyniker Demetrius, einen jener besten Männer, von deren Seite Seneca jetzt niemals mehr weichen muss (62,3). Bald jedoch stellt sich heraus, dass Seneca noch weit vom vollkommenen Zeitbesitz entfernt ist. Wie der Gebrauch des Plural zeigt, hat nicht nur Lucilius, den er berät, Schwierigkeiten, sich für Philosophie frei zu nehmen, sondern auch Seneca selbst (ep. 72,2–4), und so freut er sich, wenn er einmal einen Tag frei hat, weil ein Spektakel die lästigen Störer von ihm fernhält (ep. 80,1). Passagen wie ep. 62,1 f., bei denen sich der Leser fragt, ob der Briefeschreiber den Mund nicht doch etwas zu voll nimmt, findet man in den Epistulae morales nicht selten. Das ist durchaus zu erwarten, wenn es zum Charaktertraining gehört, sich selbst als Exempel zu imaginieren. Andererseits zeigt sich hier aber auch die Gefahr einer solchen Technik, dass man nämlich Wunschbild und Realität verwechselt.48 Die Stoiker waren Intellektualisten und Nicht-Konsequenzialisten. Das einmal erkannte Gute wird ihrer Meinung nach mit psychologischer Notwendigkeit angestrebt, und der bestätigte Handlungsimpuls des Geistes fällt mit der Handlung in eins. Eine Diskrepanz zwischen idealem Selbstbild und Wirklichkeit kann entsprechend nur aufgrund von kognitiven Fehlern eintreten, etwa wenn das Idealbild, das man exemplarisch zu verwirklichen 47   Sen. ep. 32,5 Opto tibi tui facultatem, ut uagis cogitationibus agitata mens tandem resistat et certa sit, ut placeat sibi et intellectis ueris bonis, quae simul intellecta sunt possidentur, aetatis adiectione non egeat. 48   Zu weiteren Gefahren eines solchen „performativen Exzesses“ siehe Bartsch: Mirror of the Self, 209. Zu Epiktet vgl. auch Long: Epictetus, 121–123. Er hat sicher recht, dass es an den von ihm genannten Stellen vor allem um eine Abgrenzung von epideiktischer Konzertphilosophie geht. Allerdings ist dies ein Thema, das nicht nur für die Bestimmung von Epiktets didaktischer Rolle von Bedeutung ist. Da seine Schüler philosophische Expertise mit wirklichem Fortschritt verwechseln (vgl. z. B. Diatribe 1,4), ist er ihnen durch eine solche Form der Selbstkritik auch ein Vorbild in der Vermeidung falsch gesteckter Ziele.

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wünscht, nicht das ist, für was man es hält, oder wenn die Selbstwahrnehmung so gestört ist, dass der Handelnde Abweichungen seines Verhaltens vom selbstgesteckten Ziel nicht erkennt. Gerade solche kognitiven Störungen werden nun verstärkt durch die Interaktion mit dem bewundernden oder gar schmeichlerischen Publikum der eigenen Beispielhaftigkeit (ep. 59,11). Illud praecipue inpedit, quod cito nobis placemus. Si inuenimus qui nos bonos uiros dicat, qui prudentes, qui sanctos, agnoscimus. Non sumus modica laudatione contenti: quicquid in nos adulatio sine pudore congessit tamquam debitum prendimus. Optimos nos esse, sapientissimos affirmantibus assentimur, cum sciamus illos saepe multa mentiri; adeoque indulgemus nobis ut laudari uelimus in id cui contraria cum maxime facimus. Vor allem behindert uns dies, dass wir uns gar zu schnell gefallen. Wenn wir jemanden finden, der bereit ist uns als Ehrenmänner zu bezeichnen, als weitblickend oder hochanständig, dann erkennen wir uns wieder. Mit maßvollen Lobreden geben wir uns nicht zufrieden. Was immer schamlose Speichelleckerei zusammenträgt, nehmen wir an, als ob es uns geschuldet würde. Dass wir die Besten seien, die Allerweistesten, darin pflichten wir denen, die es behaupten, bei, wohl wissend, dass sie schon oft viele Lügen erzählt haben. So nachsichtig sind wir mit uns selbst, dass wir für etwas gelobt werden wollen, dessen Gegenteil wir in eben diesem Moment gerade tun.

Das Korrektiv gegen solche Gefahren führt zu einem weiteren Paradoxon, dem letzten, das ich in diesem Beitrag vorstellen möchte: Damit ihm das heroische Selbstbild nicht zu Kopfe steigt, muss der Zurückgezogene sich vor sich selbst schlecht machen. Dies wird eindrucksvoll vorgeführt in den Anweisungen, die Lucilius in ep. 68 für seinen Rückzug erhält. Seneca stimmt Lucilius’ Plänen zu. Auch ein Stoiker müsse nicht immer im Staatsdienst stehen, und außerdem könne es ja sein, dass er gerade erst als Zurückgezogener wirklich Bedeutendes zum wahren Gemeinwesen, dem Weltstaat, beiträgt (ep. 68,2): Praeterea, cum sapienti rem publicam ipso dignam dedimus, id est mundum, non est extra rem publicam etiam si recesserit, immo fortasse relicto uno angulo in maiora atque ampliora transit et caelo impositus intellegit, cum sellam aut tribunal ascenderet, quam humili loco sederit. Depone hoc apud te, numquam plus agere sapientem quam cum in conspectum eius diuina atque humana uenerunt. Außerdem haben wir dem Weisen einen Staat gegeben, der seiner würdig ist, nämlich den Kosmos, und so steht er auch dann nicht außerhalb des Staates, wenn er sich zurückgezogen hat. Vielleicht ist es sogar umgekehrt:49 Hat er erst einmal den einen Winkel hinter sich gelassen, geht er über zu Größerem und weitaus Umfassenderem und erkennt, über den Himmel gesetzt, dass er damals, als er noch seinen Amtssessel oder das Tribunal bestieg, doch auf einem sehr niederen Platz gesessen hatte. Dies behalte fest im Sinn, dass der Weise niemals mehr vollbringt, als wenn sich Göttliches und Menschliches seinen Blicken unterbreitet.

49   Im Lateinischen bezieht sich fortasse auf transit. Die Syntax wurde im Deutschen geändert, um näher an der originalen Wort- und damit Gedankenfolge zu bleiben.



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In einer Klimax erhebt sich der Gedanke von einer einfachen Rechtfertigung zu der Möglichkeit (fortasse), sogar noch Wichtigeres zu tun. Dieses Wichtige wird weiter gesteigert vom Großen zum Weitumfassenden,50 und schließlich sitzt der Weise über dem Himmelszelt, weit oberhalb der höchsten Position, die er auf Erden jemals hätte bekleiden können. Philosophische Kontemplation, das Studium menschlicher und göttlicher Dinge, wird zur Schau der Welt aus der Perspektive Gottes.51 Auf diese Apotheose des Zurückgezogenen folgt in einer Antiklimax die Ernüchterung. Es ist doch nur der Weise, der so über dem Kosmos thront. Seneca wendet sich nun wieder der Situation seines Freundes zu (63,3 Nunc ad illud reuertor …). Er soll auf keinen Fall ein Theater um seinen Rückzug machen, sich nicht rühmen und auch keine Anerkennung erwarten. Im Gegenteil: Anstatt die Bewunderung anderer anzustreben, muss er so kritisch mit sich selbst sein, dass er sich sogar mit denen identifiziert, die böswillig üble Reden über ihn verbreiten. Und das ist nicht nur eine Bescheidenheitsübung. Wie Seneca in Fortsetzung der Antiklimax feststellt, wird vielmehr genau das die Wahrheit sein, die zu hören und zu sich selbst zu sagen er lernen muss.52 Die Selbstkritik muss so weit getrieben werden, dass der an seiner eigenen Torheit Leidende auch alle Hoffnung aufgibt, für andere ein Vorbild zu sein. Er verdient kein Lob. Anders als noch in früheren Briefen53 soll jetzt, da er weiter fortgeschritten ist, keiner mehr zu ihm kommen, um durch ihn Erbauung oder Besserung zu erfahren – es sei denn in der Weise, dass der Besucher enttäuscht wieder abreist, weil er erkannt hat (und das wäre dann der Fortschritt des Besuchers), dass jedenfalls bei diesem Menschen überhaupt nichts Exemplarisches zu holen ist (ep. 68,8 f.).

  Das lateinische amplus ist wie magnus ein sowohl wertender als auch quantitativer Ausdruck. In meiner Übersetzung habe ich versucht, das, so gut es eben geht, nachzuahmen. 51   Tatsächlich wurde von den Stoikern die äußerste Schicht des Kosmos, und damit der höchste Himmel, als Geist Gottes angesehen. Belege in Wildberger, J.: Seneca und die Stoa. Der Platz des Menschen in der Welt, Berlin/New York 2006, 23 f. mit Anm. 143–145; siehe ebenda, Bd. 2, 676 f., Anm. 686 mit Belegen zur Definition der Weisheit als diuinorum et humanorum scientia (Sen. ep. 89,5) und entsprechend der Philosophie als Streben danach. 52   Sen. ep. 68,6 f. Cum secesseris, non est hoc agendum, ut de te homines loquantur, sed ut ipse tecum loquaris. Quid autem loqueris? quod homines de aliis libentissime faciunt, de te apud te male existima: assuesces et dicere uerum et audire. Id autem maxime tracta quod in te esse infirmissimum senties. – In ähnlicher Weise geht in ep. 52 dem Abschnitt, in dem Seneca die Rolle des Philosophen als Redners auch für sich selbst und Lucilius umreißt, eine Diskussion verschiedener Typen von Schülern voraus, bei der Seneca sich selbst und den Freund der dritten und schwächsten Klasse zurechnet (52,7). Auch in ep. 75 sind die beiden, wenn überhaupt, unter die noch am wenigsten weit Vorangekommenen zu zählen (75,15). 53   Siehe z. B. Sen. ep. 5,6; 6,6; 7,8. 50

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Halakhah and Apocalyptic Philip Davies

1.  ‘Two streams’ I have been invited for this collection to consider ‘halakhah’ and ‘apocalyptic’, as representative of respectively this-worldly and other-worldly facets of ancient Judaism. The topic has a history in biblical studies: a number of biblical scholars of the late 20th century1 in fact argued that there existed in the so-called ‘postexilic’ period two distinct streams within the Jewish religious leadership, representing on the one hand halakhic/theocratic and on the other apocalyptic/eschatological/prophetic visions and values. This ideological dichotomy has been more recently recast in the form of two theological systems defined as ‘Enochic’ and ‘Mosaic/Zadokite’.2 Sacchi identifies the Enoch tradition with ‘Jewish apocalyptic’ while Boccaccini speaks rather of two ‘Judaisms’,3 ‘Enochic’ and ‘Zadokite’, but without committing himself to postulating distinct parties attached to each. According to both these scholars, however, the essential distinction between the ‘Judaisms’ lies not in an opposition of priestly and prophetic nor of other-worldly and this-worldly, but in their different myths of the origin and nature of evil. I find this distinction important and shall focus my essay on this issue, but I should preface this 1   Plöger, O.: Theocracy and Eschatology, Oxford 1968 [German: Theokratie und Eschatologie, Neukirchen: Neukirchner Verlag, 1959]; Steck, O. H.: Das Problem theologischer Strömungen in nachexilischer Zeit, EvTh 28, 1968, 445–58; Hanson, P. D.: The Dawn of Apocalyptic, Philadelphia 1975. 2   On ‘Enochic Judaism’ see also Jackson, D. R.: Enochic Judaism. Three Defining Paradigm Exemplars, London 2004. The so-called ‘Groningen hypothesis’ of Qumran origins (Martínez, F. García: Qumran Origins and Early History. A Groningen Hypothesis, Folia Orientalia 5, 1988, 113–136 [reprinted in Qumranica Minora I, STDJ 63, Leiden 2007, 3–29]; Martínez, F. García / van der Woude, A. S.: A “Groningen” Hypothesis of Qumran Origins and Early History, Revue de Qumran 14, 1990, 521–42) finds the ‘Jewish apocalyptic tradition’ behind the formation of the Essenes. 3   Sacchi, Paolo: Jewish Apocalyptic and its History, Sheffield 1996; Boccaccini, G.: Beyond the Essene Hypothesis. The Parting of the Ways between Qumran and Enochic Judaism, Grand Rapids 1998; Boccaccini, G.: Roots of Rabbinic Judaism. An Intellectual History, from Ezekiel to Daniel, Grand Rapids 2002.

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discussion with some remarks on the definition and the cultural and ideological background of each of the term ‘halakhah’ and ‘apocalyptic’.

2.  Halakhah as an all-embracing perspective ‘Halakhah’ in its strictest sense defines rabbinic interpretation of scriptural law. With some initial reservations, the term has been extended with some enthusiasm to Qumranic interpretation also, which is widely seen as anticipating it.4 The literary forms of rabbinic halakhah are midrash and Mishnah: at Qumran it is represented by a wider range, including the Temple Scroll and sectarian legal codes contained in, for example, the Damascus Document (but not to be confused with sectarian disciplinary rules not derived from scripture). While the rabbis developed rules of exegesis (middot) for the derivation of halakhah from scriptural commandments (‘torah’), no such explicit rules are given in the Damascus Document. Instead, its halakhah is defined as peruš (CD 6:14; its origin is described in 6:1–4 as ‘digging the well’). Both sets of halakhah, however, were regarded as constituting the true meaning of Torah: in the case of the rabbis this was made explicit through the fiction of the ‘oral law’ revealed to Moses on Sinai (m. Aboth). Halakhah presupposes a relationship between the Jew and the Jewish god that is defined by obedience to the divine will. Until the last century it was common for Judaism to be generally characterized as ‘legalistic’ or ‘nomistic’, on the assumption that since the time of Ezra it had been obsessed only with halakhic observance. (Such a characterization, which endorsed the ‘prophetic-ethical’ aspects of the Jewish scriptures, also enabled Judaism and Christianity to be easily, but wrongly distinguished.) But the defini­ tion of Israel’s religion (indeed, its entire way of life) as obedience to divine commandments is embedded in the story of the lawgiving on Sinai/Horeb, when the character of the nation is dictated to Moses. The book of Deuteronomy develops a halakhic concept of religion by setting the divine instruction within the framework of a covenant treaty that interprets obedience to the divine laws as loyalty to a suzerain and adds blessings and curses as consequences of obedience or disobedience. It also strongly emphasizes the place of the written lawbook of Moses, which constitutes the one and only true revelation and source of authority. For this reason, other forms of divine revelation are forbidden or discouraged. Divination is banned (Deut 18:10) but even the one form of permitted divination, prophecy, is subjected (in the same chapter) to such restrictions that a prophet may only endorse what the written law prescribes, on pain of death. Indeed, by portraying Moses as the 4   Shemesh, Aharon: Halakhah in the Making. The Development of Jewish Law from Qumran to the Rabbis, Berkeley 2009.



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supreme prophet, Deuteronomy portrays its Torah as the supreme prophecy. The Deuteronomistic editing of Jeremiah and the Book of the Twelve suggests that all ‘true’ prophecy was, like Torah, to be enshrined in writing, and not to be accepted as an ongoing communication with the divine will through inspired individuals. But Torah is not, of course, the sole source of authority even in the Hebrew canon. The idea of a natural, empirically-derived ‘Wisdom’ is also apparent, and this inevitably conflicted with a Deuteronomic perspective, both in being derived from observation and not revelation and – of equal significance – being of universal application and thus compromising the status of Israel as a chosen and covenanted people. Hence in many biblical texts, especially among the Psalms (Psalm 1 being exemplary here), the reader can observe Wisdom being absorbed into, or identified with, Torah. The same process, if not fully accomplished, is evident in the Wisdom of Solomon and the Wisdom of ben Sira. Also in conflict with Deuteronomy’s halakhic programme is a view of the sacrificial cult as a primary medium of communion with the deity. Such is the all-embracing role of Torah in Deuteronomy that the cult is entirely beyond its authors’ interest: the sanctuary instead becomes a place of pilgrimage for all Israel who at the great feasts recall the foundation myth of Exodus and law­giving. The purpose of authorizing only a single sanctuary in Deuteronomy has the effect (and this is perhaps its major purpose) of removing sacrificial worship from the everyday life of most Israelites. Lay participation in the cult thus comes to consist of the sending of offerings to the Temple, with a strong emphasis on the tithing of agricultural produce (Deut. 14; 26 etc.) Deuteronomic Judaism regarded obedience to the written Torah as definitive of being an Israelite, and the covenantal framework assumed that obedience to the Torah would secure continued blessing in the land. But not all of the ‘law of Moses’ is Deuteronomic. In Leviticus (reflected too in Chronicles) the cult lies at the centre of Israel’s way of life and provides the vital medium of contact between deity and people. If Deuteronomy seeks to extend its covenantal definition of Israelite religion to every aspect of life, the Holiness Code (Leviticus 17–26; followed by Ezekiel) seeks to extend the language of cult and holiness to the daily behaviour of all of the people regardless of proximity to the temple. The category of holiness, around which the religion of Israel is configured goes beyond the physical into the moral and beyond the temple precincts into the entire land, so that everyday misbehavior, including moral delinquency, can defile the temple without physical contiguity being required.5 The Priestly literature of the Bible thus offers a rival perspective 5   Hannah Harrington has recently argued for the development of the notion of the people of Israel as ‘cultic sancta’: Harrington, Hannah K.: How does Intermarriage Defile the

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that is as all-embracing as that of Deuteronomy. But it can also said to be, in a slightly extended sense, halakhic: the laws given in Leviticus include regulations for priestly conduct but also for the conduct of Israelites. But for the Priestly literature the presence of the deity required to be more immediate than the dwelling of a ‘name’ or the bequest of a written book of commandments.

3.  Apocalyptic and the culture of manticism ‘Apocalyptic’ is considerably more difficult to define than halakhah. Originally derived from the opening of the book of Revelation, ‘apocalypse’ came to denote even in antiquity a writing containing the contents of a revelation,6 and ‘apocalyptic’ denoted a set of vaguely-define features characteristic of such works. In recent scholarship, after a half-century or more in which ‘apocalyptic’ was regarded as a late development of biblical prophecy,7 its definition broadened and it became a problematic category:8 a set of doctrines or a worldview an ‘apocalyptic movement’ and even ‘apocalyptic communities’ (whether or not they wrote apocalypses9). It had also often been treated as a peculiarly Jewish phenomenon, despite examples from other cultures10 and from antiquity.11 In New Testament studies ‘apocalyptic’ has often been synonymous with ‘eschatological’, an unhelpful focus on one of its common but not universal features. Collins sought to clarify ‘apocalyptic’ by defining the genre of apocalypse,12 but he nevertheless maintained the existence of Sanctuary, in: The Scrolls and Biblical Traditions, ed. G. J Brooke / D. K. Falk / E. J. C. Togchelaar /M. M. Zahn, Leiden 2012, 177–96. 6   Smith, M.: On the History of APOKALYPTO and APOKALYPSIS, in: Apocalypticism, ed. Hellholm, 9–20. 7   Rowley, H. H.: The Relevance of Apocalyptic, London 1944; Russell, D. S.: The Method and Message of Jewish Apocalyptic 200 BC–AD 100, London 1964; Hanson, P. D.: The Dawn of Apocalyptic, Philadelphia 1975. 8   Koch, K.: The Rediscovery of Apocalyptic, London 1972 [German: Ratlos vor der Apokalyptik. Eine Streitschrift über ein vernachlässigtes Gebiet der Bibelwissenschaft und die schädlichen Auswirkungen auf Theologie und Philosophie, Gütersloh 1970]. 9   Collins, John Joseph: The Apocalyptic Imagination, New York 1984, 140 sq., 206 10   Hellholm, D. (ed.): Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East, Tübingen, 1983. 11   For ‘Akkadian apocalypses’, see Grayson, A. K. / Lambert, W. G.: Akkadian Prophecies, Journal of Cuneiform Studies 18, 1964, 7–30; Grayson, A. K.: Babylonian LiteraryHistorical Texts, Toronto 1975; Ringgren, H.: Akkadian Apocalypses, in: Apocalypticism, ed. Hellholm, 379–86; but see Nissinen, M.: Neither Prophecies nor Apocalypses. The Akkadian Literary Predictive Texts, in: Knowing the End from the Beginning. The Prophetic, the Apocalyptic and their Relationships, ed. L. L. Grabbe, London 2003, 134–48. 12   Collins, John Joseph (ed.): Apocalypse. The Morphology of a Genre, Semeia 1, Missoula 1979.



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an ‘apocalyptic worldview’,13 one that held earthly events to correspond to a heavenly reality – a worldview characteristic of almost the entire culture of the ancient world, ancient Near Eastern and classical. A key to the resolution of the problem of ‘apocalyptic’ came when the evidence of the Qumran manuscripts showed the Enochic tradition to be older than the book of Daniel, which meant that the latter lost its place as the original Jewish apocalyptic book. The concerns of the Enochic literature, now accessible in Aramaic and in a slightly different corpus among the Qumran texts, have since taken a more prominent place in research both on apocalyptic and on early Judaism generally. The intrinsic connection of apocalyptic literature with prophecy had already been challenged by von Rad,14 suggesting that Daniel had more in common with biblical wisdom; Müller revised von Rad’s thesis by identifying the sapiential category of mantische Weisheit rather than instructional or proverbial wisdom.15 These developments opened the way for a further redefinition of apocalyptic literature as reflecting an interest in celestial mysteries,16 whether the movements of the heavenly bodies, as in the earliest Enochic composition, the Astronomical Book, or the architecture of the heavenly temple, or the future, or the past.17 Realising that apocalyptic literature derives from the ancient and widespread culture of manticism – as   Collins, John Joseph (ed.): The Apocalyptic Imagination.   Rad, G. von: Old Testament Theology, 2 vols., Edinburgh 1965 [German: Theologie des alten Testaments Band II, München 1957]. 15   Müller, H.-P.: Magisch-mantische Weisheit und die Gestalt Daniels, Ugarit-Forschungen 1, 1969, 79–94; Müller, H.-P.: Mantische Weisheit und Apokalyptik, VTSupp 22, Leiden 1972, 268–93. See also VanderKam, J. C.: Enoch and the Growth of an Apocalyptic Tradition, Washington 1984; VanderKam, J. C.: The Prophetic-Sapiential Origins of Apocalyptic Thought, in: A Word in Season. FS W. McKane, ed. J. D. Martin / P. R. Davies, Sheffield 1986, 163–76; Kvanvig, H.: Roots of Apocalyptic. The Mesopotamian Background of the Enoch Figure and of the Son of Man, WMANT 61, Neukirchen 1988; Davies, P. R.: The Social World of the Apocalyptic Writings, in: The World of Ancient Israel, ed. R.  E. Clements, Cambridge 1989, 251–71; Davies, P. R.: Divination, ‘Apocalyptic’ and Sectarianism in Early Judaism, in: Berührungspunkte. Studien zur Sozial- und Religionsgeschichte Israels und seiner Unwelt, hg. von Ingo Kottsieper /Rüdiger Schmitt /Jakob Wöhrle, Münster 2008, 409–23; Wright, Benjamin G. III / Wills, Lawrence M. (eds): Conflicted Boundaries in Wisdom and Apocalypticism, Atlanta 2005. Von Rad’s assertion is nevertheless to a degree vindicated by the wisdom texts from Qumran, which illustrate the permeation of conventional instructional wisdom with aspects characteristic of apocalyptic writings such as eschatology and predestination. See Harrington, Daniel J.: Wisdom Texts from Qumran, New York 1996. 16   Stone, M. E.:Lists of Revealed Things in the Apocalyptic Literature, in: Magnalia Dei. The Mighty Acts of God, FS G.E. Wright, ed. F. M. Cross / W. E. Lemke, P. D. Miller, Garden City 1976, 414–52; Stone, M.  E.: Scriptures, Sects and Visions, Oxford: Oxford University Press, 1982; Rowland, C.: The Open Heaven. A Study of Apocalyptic in Judaism and Christianity, London 1982. 17   Davies, G. I.: Apocalyptic and Historiography, Journal for the Study of the Old Testament 5, 1978, 15–28. 13 14

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recognized in the case of the Enochic literature) enables it to be understood not as a curious and late Jewish flowering of hope in persecution, but as some­thing much broader and older: an exercise in understanding the nature of the reality that underlies an often incomprehensible world. In other words, the apocalypse is one of a number of mantic genres whose goal is to divine the heavenly secrets underlying and explaining earthly phenomena. Biblical and near Eastern prophetic texts might of course also include mantic genres such as the oracle, since prophecy may include divination – though biblical prophetic texts should be considered a special category of ancient Near Eastern literature for reasons given earlier.18

4.  Instructions, mantic wisdom and empiricism The various forms of mechanical divination, such as astrology, extispicy, teratology, reflect the mantic principle that the celestial world communicates with the human by means of signs, namely omens. But divination also developed an empirical methodology that construed the signs, the omen, as part of a language, and thus capable of being learnt. Even within the ancient Near Eastern practice of divination, omens and prophetic oracles were written down and classified, (in the case of omens, together with the outcomes), as a means whereby a set of laws or principles or at least correlatives, might be derived, establishing a pattern of correlation between celestial and earthly. The effect of this would be in some measure to convert celestial knowledge into earthly knowledge. The idea of reading a language of heavenly signs possibly offended the Deuteronomic system, in which the purposes of the deity were known to him, or, contrarily, had been, as far as humans needed, already sufficiently revealed and would be revealed further as deemed appropriate, through a divinely-prompted oracle or vision. Jewish apocalypses respect this Deuteronomic principle: they make no reference to mechanical divination, but, using signs, symbols and images and featuring persons of antiquity, they purvey the content of revelations, often through angelic beings. There is no possibility of a grammar of such signs. Indeed, in some cases the sign itself consists of two components, both of which had to be divinely imparted in order for the secret to be decoded: the divinely produced omen (the raz) often required the divinely produced interpretation (pesher): revelation of heavenly secrets was thus doubly under divine control. The initial sign may be a dream (Dan. 2) or writing on a wall (Dan 5) or (Dan. 9: see below) a text of scripture. Indeed, 18   For recent treatments of the connection between biblical prophecy and apocalyptic see Cook, S. L.: Prophecy and Apocalypticism. The Postexilic Social Setting, Minneapolis 1995; Tigchelaar, E.: Prophets of Old & The Day of the End. Zechariah, the Book of Watchers & Apocalyptic, Leiden 1996.



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Daniel 2 explicitly asserts that the interpretation of omens cannot be learnt (despite the youths’ own education) but only revealed by the true god).19 A language of signs is, however, evident in the wisdom literature of the Bible, though not with regard to the other world, but to this one. The contents of the book of Proverbs are expounded as products of ‘wisdom’, and ‘wisdom’ is a divine gift. Yet the content of the proverbs is transmitted from the parent, or from the wise king, and comprises in the main no more than commonsense correlations of certain acts and dispositions with outcomes. Collections of proverbs are identical in structure and logic to omen lists, and serve the same purpose of constructing a grammar of sign interpretation, of cause and effect. But the wisdom of Proverbs is not secret. Wisdom can be ‘obtained’, ‘found’ and ‘taught’ by observation or instruction. The basis for this instruction in Proverbs, though not necessarily in the wisdom of other cultures, is inferred in the creation of the world according to certain moral principles (‘Wisdom’, personified as a woman in Proverbs 8, attends and informs the act of creation). Hence there exists a correspondence between an act and its consequences that does not entail a divine intervention, but is part of what we would now call the ‘natural order’, the ‘law of creation’. With some latitude proverbs may even be said, as with the rules for priestly conduct, to comprise a kind of ‘natural halakhah’, rules for a successful life in accordance with the divine will. But the rules can be acquired empirically.20 As well as becoming merged with Torah, Wisdom nevertheless also developed otherworldly and sectarian features, at least as observable in the Qumran literature where, for example, wisdom and folly were understood as preordained qualities, and thus the outcome of direct divine action; the rewards of wisdom might also be eschatological rather than, as in Proverbs, confined to this world. Both of these developments are already clear in the book of Daniel, for example, where the names of the maskilim are already written in a book and they receive post mortem vindication (Daniel 12). The astrological and physiognomic texts from Qumran go even further: the moral status of the human being is indicated by physical features and birth signs.21 The ‘wisdom’ texts from Qumran thus exhibit features of both traditional and apocalyptic wisdom, combining the materialistic advice characteristic of Proverbs with 19   Interestingly, while the same device appears in Genesis 40, there is no specific mention of Joseph’s interpretation being divinely acquired. 20   Although, as hardly needs commenting, the correlations of virtue and prosperity do not in fact work universally, as several biblical text testify, including especially Qoheleth. 21   For an excellent study of physiology and astronomy in the Qumran corpus see Popović, M.: Physiognomic Knowledge in Qumran and Babylonia. Form, Interdisciplinarity, and Secrecy, Dead Sea Discoveries 13, 2006, 150–76; Popović, M.: Reading the Human Body. Physiogonics and Astrology in the Dead Sea Scrolls and Hellenistic–Early Roman Period Judaism, Leiden 2007.

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the prospect of imminent eschatological judgment.22 But they also sharpen the contradiction between predestination and obedience and thus implicitly between evil/sin as something created and as something imposed, opposites that point to the problem of the origin of evil.

5.  Halakhic and apocalyptic in opposition I indicated earlier that I would focus on the origin and nature of evil as fundamental to the contrast of ‘halakhah’ and ‘apocalyptic’, to the difference, as Sacchi and Boccaccini present it, between an Enochic, apocalyptic mythology and a Mosaic, or ‘Zadokite’ one. For the Enochic mythology, evil is a supernatural force that has invaded an otherwise good creation. The Mosaic/ Zadokite system regards evil as the outcome of human disobedience, as ‘sin’. While I find this dichotomy somewhat too simplistic, because the Priestly theology seems to regard pollution both as something transcendental and yet something from which Israelites are able to liberate themselves by performing the correct procedures, I concede that Priestly theology can never be a totally halakhic system and its categories of purity and impurity entail supernatural elements. ‘Halakhic’ and ‘apocalyptic’ mythologies do not encompass by any means the whole spectrum of Jewish belief in the Second Temple period, they represent a powerful but productive opposition. Basic to each of the two views of the origin and nature of evil is a myth, and both are present in the book of Genesis. Discussion can best commence, however, with the exposition of the apocalyptic myth (in a combination of sources) that occurs in the opening chapters of the Enochic Book of the Watchers (1 Enoch 1–36). The Watchers (Aramaic ‘îrîn: cf. Daniel 4: 13,17,23), divine beings who descended from heaven, mingled with humans, produced a generation of cannibalistic giants who brought bloodshed upon the earth, and earned divine punishment in the Flood. Their spirits remain in the world as evil demons, while their leader (variously named: Shemihazah, Azazel, Asa’el23) awaits his final punishment buried under a rock in the wilderness. Evil is thus a cosmic phenomenon, of which humans are as much victims as complicit.

22   On Qumran wisdom generally see Harrington Daniel J.: Wisdom Texts from Qumran, New York 1996; Goff, Matthew: Recent Trends in the Study of Early Jewish Wisdom Literature. The Contribution of 4QInstruction and Other Qumran Texts, Currents in Biblical Research 7, 2009, 376–416. 23   On the alternation of names, see Stuckenbruck, L. T.: The Book of Giants from Qumran, Tübingen 1997, 77–87.



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It is the opinion of most scholars that this myth has been developed from the episode in Genesis 6:1–4 where we meet a version of 1 Enoch’s apocalyptic myth of the origin of evil: MyIhølTaDh_y´nVb …wa√rˆ¥yÅw :MRhDl …wdV;l¨y twønDb…w hDm∂dSaDh y´nVÚp_lAo bOrDl M∂dDaDh lEjEh_yI;k yIh◊yÅw :…wrDjD;b rRvSa lO;kIm MyIvÎn MRhDl …wjVqˆ¥yÅw hÎ…nEh tObOf yI;k M∂dDaDh twønV;b_tRa hDaEm wyDmÎy …wyDh◊w rDcDb a…wh MÅ…gAvV;b MDlOoVl M∂dDaDb yIj…wr NwødÎy_aøl hÎwh◊y rRmaø¥yÅw …waøbÎy rRvSa NEk_yérSjAa MÅg◊w MEhDh MyImÎ¥yA;b X®rDaDb …wyDh MyIlIp◊…nAh :hÎnDv MyîrVcRo◊w MEÚvAh yEv◊nAa MDlwøoEm rRvSa MyîrO;bˆ…gAh hD;mEh MRhDl …wdVlÎy◊w M∂dDaDh twønV;b_lRa MyIhølTaDh y´nV;b When humans began to multiply on the face of the ground, and daughters were born to them, the sons of god saw that they were fair; and they took wives for themselves of all that they chose. Then Yhwh said, ‘My spirit shall not abide in mortals forever, for they are flesh; their days shall be one hundred twenty years.’ The Nephilim were on the earth in those days – and also afterward – when the sons of God went in to the daughters of humans, who bore children to them. These were the heroes that were of old, warriors of renown.

On closer reading, however, this is clearly the denial of the Enochic version of the myth, and should rather be considered as already reflecting an older and fuller story.24 The offspring of the divine-human union are not monsters, but heroes; their behaviour does not lead to the Flood, but only to a restriction of the lifespan of these demigods (or possibly of their human offspring) to 120 years. Within the (Yahwistic)25 narrative this story has absolutely no point. It is not a myth, since it explains nothing. So why did the author or editor relate such a remarkable episode?26 There is another, closely related question: According to the Priestly account of primeval history, the world was created perfect (Genesis 1), yet it becomes corrupted (Gen. 6:11), so that its cleansing (from its inhabitants) becomes necessary and after that a new covenant. How did the Priestly writer imagine the corruption of the earth to have happened? This explanation is missing from his narrative. The (Yahwistic) story of 6:1–4 actually provides the basis of a plausible answer: God’s ‘good’ creation did not corrupt itself, but was corrupted from heaven. P’s Noachic covenant (Gen. 9:1–17), which regulates the shedding of blood, points to precisely such an event as the major act of corruption. But the form of the Priestly story will have been more like that of 1 Enoch, in which the shedding of the blood caused the Flood. Was this story related in Enoch therefore known to the Priestly writer and did it originally form part of his narrative?   As argued by Milik, J. T.: The Books of Enoch, Oxford 1976 and followed by Black, M.: The Book of Enoch or 1 Enoch. A New English Edition, Leiden 1985, 124–5. 25   Use of the terms ‘Yahwistic’ and ‘Priestly’ is mainly for convenience. It does not necessarily entail endorsement of the classic Documentary Hypothesis. But it recognizes the presence of two combined narratives, each with a distinct style and ideology, within Genesis 1–11. 26   For a fuller treatment of the question see Davies: And Enoch Was Not. 24

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That the story, in some form, was known well before the date of the first manuscript of the Enochic ‘Book of the Watchers’ (3rd century bce) can be deduced from the account of the Day of Atonement ritual in Leviticus 16, which includes the sending of a goat, bearing the sins of Israel, into the wilderness, ‘to Azazel’ l´zaÎzSoAl (Lev. 16: 8.10.26): l´zaÎzSoAl dDjRa l∂rwøg◊w hÎwhyAl dDjRa l∂rwø…g twøl∂rwø…g MîryIoVÚcAh y´nVv_lAo NOrShAa NAtÎn◊w wyDlDo rEÚpAkVl hÎwh◊y y´nVpIl yAj_dAmFoÎy l´zaÎzSoAl l∂rwø…gAh wyDlDo hDlDo rRvSa ryIoDÚcAh◊w h∂rD;b√dI;mAh l´zaÎzSoAl wøtOa jA;lAvVl NEk_yérSjAa◊w MˆyD;mA;b wørDcV;b_tRa XAj∂r◊w wy∂dÎgV;b sE;bAk◊y l´zaÎzSoAl ryIoDÚcAh_tRa AjE;lAvVmAh◊w h‰nSjA;mAh_lRa awøbÎy Lev. 16:8 and Aaron shall cast lots on the two goats, one lot for Yhwh and the other lot for Azazel. Lev. 16:10 but the goat on which the lot fell for Azazel shall be presented alive before Yhwh to make atonement over it, that it may be sent away into the wilderness to Azazel. Lev. 16:26 The one who sets the goat free for Azazel shall wash his clothes and bathe his body in water, and afterward may come into the camp.

The ritual suggests that sin was believed to have originated with Azazel, one of the names of the Watchers’ leader in 1 Enoch and in the Qumran manuscripts, the one who is imprisoned in the wilderness awaiting his punished in the eschatological judgment. The ritual, and the terms of the covenant with Noah, are two reasons why I believe Genesis 6:1–4 to contain the vestiges of that story, which, as it still does, immediately prefaced the Flood narrative, but also provided its reason. However, the present (Yahwistic) form of the story represents a radical revision that removes the imputation of evil and a connection with the Flood. A related revision may be discerned in the record of the figure of Enoch: according to Genesis 5:23–4 [P], Enoch lived for 365 years, walked with God and was taken by God, presumably without dying. P is therefore aware of Enoch as an extraordinary figure who is somehow connected with a solar year. Moreover, the chronology of the Flood story in the Priestly version appears to follow a calendar in which the months are thirty days in length, as in the calendar described in the books of Enoch and Jubilees and in the Qumran scrolls. Thus there seem to be connections between the P source in Genesis 1–11 and the Enoch literature. But the figure of Enoch in the Yahwistic narrative is accorded no distinction at all. Adding this to the profile of Gen. 6:1–4 allows us to conclude that the Yahwistic source contains some anti-Enoch or anti-Enochic features. But it also contains an alternative myth that accounts for the origin of evil and, ultimately, for the Flood. The Enochic (and, ex hypothesi, Priestly) myth told how the descent of these di­vine beings led to humans learning violence but also acquiring certain arts and technologies – heavenly secrets that they were not supposed to have. (This partly justifies naming this an ‘apocalyptic’ myth). The Yahwist has created a parallel explanation of this in which violence begins with Cain



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and the arts and technologies are discovered by his descendants. Cain first spills blood on the earth so that it cries out to heaven (as in the Enoch story) and later is sent to the wilderness bearing a sin that is, as he says, ‘too great for him to bear’ (Gen. 4:13). Cain is thus a human counterpart to the divine Azazel, and also to the goat sent to him every year according to Leviticus 16, which, like Cain, is not to be killed but to remain in the wilderness. Genesis 1–11 therefore contains two competing myths of the origin of evil, in one of which it is of celestial origin, in the other human. But Cain’s violence is only part of the alternative myth, for he is the son of the parents who were expelled from the garden for disobeying the divine command. Sin thus begins, not with Cain, but his parents, and the complete myth closely parallels the Deuteronomic theology in which disobedience of the divine commandments results in expulsion from the land. We may thus describe it as a ‘halakhic myth’, that defines the perfect state of humans as one of obedience to the prohibitions of the deity. Evil does not exist in the world apart from human rebellion. Even the figure of the fallen angelic leader is transformed into a snake ‘that Yahweh Elohim had made’ (Gen. 3:1). Finally: Cain himself is told (4:7), that sin ‘crouches at the door’ – not quite a personification! – and can be mastered. It seems to me therefore that we can infer within Genesis 1–11 a conflict between ‘halakhic’ and ‘apocalyptic’ myths of the origin and nature of evil.27 More precisely, the replacement of an apocalyptic myth with a halakhic one, since the analysis requires the Yahwist to have revised the Priestly narrative and not vice versa.28 The wider implications of this conflict for the history of calendrical disputes within Second Temple Judaism cannot be explored here, but arguably the conflict belongs to the process by which those sects that produced the Qumran scrolls came into existence. Enoch and his followers largely disappeared from the Hebrew scriptural canon, but the ‘apocalyptic’ mythology of transcendental evil persisted within early Judaism and Christianity.29

  See further Bedenbender, A.: Traces of Enochic Judaism Within the Hebrew Bible, in: The Origins of Enochic Judaism. Proceedings of the First Enoch Seminar, ed. G. Boccaccini, University of Michigan, Sesto Fiorentino, Italy June 19–23, 2001, Freiburg 2003, 39–48, who speaks of ‘mythological competition’ and ‘counter-reactions’ 28   A view argued on other grounds by Blenkinsopp, J.: The Pentateuch. An Introduction to the First Five Books of the Bible, New York/London 1992. 29   Wright, Archie T.: The Origin of Evil Spirits, Tübingen 2005. 27

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6.  The final perfection? In the final section, I consider two texts from the second and first centuries bce in which the halakhic and apocalyptic myths are constructively conflated. Daniel 9, offers an instance, perhaps, of juxtaposition without reconciliation. The story employs a mantic use of a prophecy of Jeremiah of a seventy-year exile, with the text as a sign (an omen) which the diviner correctly reads, though only with the aid of heavenly revelation. The successful deciphering is preceded by a Deuteronomic prayer of repentance, confessing on behalf of his people and asking God to act. This response implies that the end of the exile foreseen by Jeremiah was believed not to have occurred, and that ‘exile’ was a still ongoing plight, confirmed perhaps by the desecration of the Jerusalem temple. The request for divine intervention does not succeed: instead the hero receives a vision of the angel Gabriel in which the seventy years of exile prophesied by Jeremiah are interpreted as a decreed timescale of 490 years – a period that could not be altered by confession or repentance. Commentators see in this chapter a conflict between the prayer of confession and the remainder of not only chapter 9 but the entire book, in which history is presented as following a preordained plan. The resolution is problematic in that it leaves open the question of whether the ‘exile’ itself, for whose end Daniel prays, was initiated by Israel’s sin or was simply part of the divine plan for history. Nor is it clear, given the logic, whether the behaviour of the maskilim, the authors of the book, wise leaders who both understand and suffer, which will be rewarded, is a matter of their free will or of the predetermined divine plan. Their names are, after all, recorded in a book: does this show their virtue to be preordained, or is the book written in light of their behaviour? What the reader looks for is a reassurance in the book that obedience (or disobedience) of the divine will play some role in Israel’s fate or is rather rewarded in a resurrection at the end. There is a longstanding scholarly dispute about whether the prayer in Daniel 9 is an addition. In the end the question can remain open, because the tension between a predestined fate and one earned by remains, and indeed it persists throughout the Qumran writings in particular. My second example of the negotiation of halakhic and apocalyptic perspectives is drawn from the Damascus Document. In many respects this work is anticipated by Jubilees, but a discussion of this book would entail too much space, and the author does not appear to attempt any conflation of the two, but only a juxtaposition. It is however important to note that this composition, which has much in common with apocalypses (claiming to have been revealed to Moses along with the Torah) also stresses the necessity of obeying the law in order to achieve blessing, though it singles out the correct calendar and Sabbath observance as the primary issues. It contains a brief reference to the disobedience and expulsion of Adam and Eve and the murder of Abel by



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Cain but also a lengthy account of Enoch and of the corruption of humanity by the angels and their offspring, including the figure of the evil angel Mastema. But it is mainly a midrashic retelling of the contents of Genesis, which does not engage the issue of the origin of evil directly. The Damascus Document cites Jubilees in 16:2b–4a, but more interestingly (for our purposes) makes no mention of the sin of Adam and Eve or of Cain,30 and hence evil does not intrude until later, when it regards the Flood as caused by the descent of the Watchers who first brought evil (CD 2:16–27): note that the vocabulary clearly reflects knowledge of the text of Gen 6:1–4 in the use of gibbore hayil) Mybr yk twryrCb M«tklb hnh dow Mynplm Mb wlCkn lyj yrwbgw Mb wot .la twxm wrmC al rCa wzjan hb MymCh yryo wlpn Mbl ... Myzra Mwrk rCa Mhynbw MhyCo twxm ta wrmC alw Mnwxr ta MtwCob wyh alk wyhyw For many went astray through these; mighty men of valour (J!) stumbled because of them, from ancient times until now. When they walked in the stubbornness of their hearts, the Watchers of heaven fell; they were caught because they did not keep the commandments of God – as well as their offspring, whose height was like that of cedars … they became as if they had never been, through following their own will and not observing the commandments of their Maker.

We should note here the belief that the Watchers disobeyed the law, for the authors of this document, like the writer of Jubilees, believed that the law existed in heaven before it was revealed on Sinai. Hence the halakhic theology of the Yahwist – the primordial sin as disobedience to Torah – is rather elegantly integrated with the apocalyptic myth: heavenly sin against the law brought evil to the earth. The sin of the divine beings was nothing other than rebellion against the divine law. The text continues to note how, following this first example, others continued to disobey this law until Israel was ‘given to the sword’. This introduction prepares the way for a description of a community that is dedicated to the strict observance of Torah but also believes it is living at the end of a preordained period prior to the final divine judgment, and suggests that its own membership may have been pre-ordained – again, a blend of ‘halakhic’ and ‘apocalyptic’ characteristics. Here too the ambiguity present in Daniel 9 is resolved. The period of divine anger, in which the writers of this text believed they were living, is predetermined, but was caused by the sins of the first Israel. And how will the future be, when this era of divine anger is ended? At the end of this discourse (CD 6:2–11) we read how the first members of the community, instructed by an ‘Interpreter of the Law’ (hrth vrwd), followed the halakhah as it had been 30   Apart from the biblical manuscripts of Genesis, the entire Qumranic corpus is devoid of any reference to these stories.

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truly revealed to them. And this they do until the arrival of ‘one who will teach righteousness – qdx hrwy – at the end of days’. The authors therefore expected a teacher who would reveal the law in all its perfection, bringing an eschatological age of true and complete righteousness in Israel. Neither rabbinic Judaism nor orthodox Christianity ever achieved such a perfect synthesis of halakhic and apocalyptic perspectives. Pauline Judaism rejected halakhah (‘works’) as means of salvation; rabbinic Judaism de-emphasized eschatology. In both religions there remain tensions between a religious commitment to improvement of this world and one that simply awaits the final arrival on earth of the other world. The celestial world and the population of evil spirits have largely been replaced in our own times by astronomy and medical knowledge, and science has replaced divination as the means of understanding the universe. But apocalyptic is still popular in fiction and in the cinema, serving to remind us that human life is not entirely in our control and that it can be threatened not by a celestial plan, but by natural forces beyond our control, or by chance. Yet also by our own actions of disobedience to what we know to be right. Evil is something of which we may be both victims and perpetrators.

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Weltdistanz und Weltzuwendung im Urchristentum Samuel Vollenweider Das Christentum hat wie kaum eine andere Religion der Menschheit das gesamte Spektrum zwischen Weltflucht und Weltverantwortung artikuliert. Zwischen dem einen Pol, den wir etwa mit dem modernen liberalen Protestantismus assoziieren können, und dem anderen Pol, markant repräsentiert von den bizarren Erscheinungen des östlichen Mönchtums, reihen sich zahlreiche Erscheinungsformen. Wir unternehmen es an dieser Stelle, einen Einblick in die ältesten Texte des antiken Christentums zu geben. Dabei verbinden sich holzschnittartige Skizzen und generelle Überlegungen mit einigen exemplarischen Textwahrnehmungen.

1.  Zum Auftakt: Bürger zweier Welten Die gewiss brillanteste Porträtierung der antiken Christen als Wanderer zwischen zwei Welten1 stammt aus dem sogenannten Diognetbrief, einer pro­ treptischen Werbeschrift für das Christentum wohl aus dem späten zweiten Jahrhundert. In einer überaus eleganten rhetorischen Antithesenreihe hat ihr unbekannter Verfasser die klassischen Formulierungen geschaffen (5,1–6,7):2 5,1 Die Christen nämlich sind weder durch ein Land noch durch eine Sprache noch durch Sitten von den übrigen Menschen verschieden. […] 5 Sie bewohnen jeder sein Vaterland, aber wie Nichtbürger; sie haben an allem Anteil wie Bürger, und alles erdulden sie wie Fremde. Jede Fremde ist für sie Vaterland, und jedes Vaterland Fremde (πατρίδας οἰκοῦσιν ἰδίας, ἀλλ᾽ ὡς πάροικοι· μετέχουσι πάντων ὡς πολῖται καὶ πάνθ᾽ ὑπομένουσιν ὡς ξένοι· πᾶσα ξένη πατρίς ἐστιν αὐτῶν, καὶ πᾶσα πατρὶς ξένη). […] 8 Sie existieren ,im Fleisch‘, aber sie leben nicht ,nach dem Fleisch‘. 9 Auf Erden weilen sie, aber im Himmel haben sie Bürgerrecht (ἐπὶ γῆς διατρίβουσιν, ἀλλ᾽ ἐν οὐρανῷ πολιτεύονται). 10 Sie gehorchen den erlassenen Gesetzen, und mit der ihnen eigenen Lebensweise überbieten sie die Gesetze. 11 Sie lieben alle, und von allen werden sie verfolgt. 6,1 Um es einfach zu sagen: Was im Körper die Seele ist, das sind in der Welt die Christen. 1   So der Titel einer Aufsatzsammlung von Markschies, Ch.: Zwischen den Welten wandern. Strukturen des antiken Christentums, Frankfurt 22001. 2  Die Übersetzung orientiert sich an der Ausgabe von Lindemann, A. / Paulsen H. (­Hrsgg.): Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe, Tübingen 1992.

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2 Über alle Glieder des Körpers hin ist die Seele verteilt, ebenso die Christen über die Städte der Welt. 3 Es wohnt zwar die Seele im Körper, aber sie stammt nicht aus dem Körper. Auch die Christen wohnen in der Welt, aber sie stammen nicht aus der Welt (καὶ Χριστιανοὶ ἐν κόσμῳ οἰκοῦσιν, οὐκ εἰσὶ δὲ ἐκ τοῦ κόσμου). […] 7 Zwar ist die Seele vom Körper umschlossen, doch hält sie den Körper zusammen. Auch die Christen werden zwar wie im Gefängnis in der Welt festgehalten, doch halten sie selbst die Welt zusammen.

Dem Diognetbrief zufolge teilen Christen die irdische Existenz mit allen anderen Menschen, bilden aber gleichwohl ein eigenartiges und geradezu paradoxes Volk: Sie sind Bürger zweier Welten. Das ließe sich allenfalls noch stoisch deuten, aber unser Autor stellt pointiert heraus: Sie sind Fremde in der irdischen Welt und Bürger in der himmlischen.3 In der Sprache paulinischer Theologie, deren Diktion der Diognetbrief aufnimmt:4 „Wir führen zwar unser Leben im Fleisch (ἐν σαρκί), unseren Kampf aber führen wir nicht nach Maßgabe des Fleisches (κατὰ σάρκα)“ (2 Kor 10,3).5 Johanneisch formuliert: Sie sind in der Welt, aber nicht von der Welt (vgl. Joh 17,11–16; 15,19). Ihr Ethos entspricht nicht nur den gängigen Standards, sondern überbietet diese sogar – und trotzdem, oder vielleicht eher: genau deshalb sind sie auf Kollisionskurs mit ihrer Umwelt. Mehr noch: Die Christen werden mit der Seele identifiziert, die nicht nur im Leib wohnt, sondern ihn sogar am Leben erhält.6 Ins Platonische gewendet: Sie sind (wie) die unsterbliche Seele im Gefängnis des vergänglichen Körpers. Unser Text bezieht urchristliche Theologie und zeitgenössische Philosophie kongenial aufeinander.7 Er arbeitet prägnant die doppelte Loyalität der Christusgläubigen heraus, also das komplexe Verhältnis von Integration und Separation, von Inkulturation und Deviation der frühchristlichen

3   Dabei ist für den Verfasser von Diogn zu unterstreichen: „Er wendet sich an Menschen, die nicht als πάροικοι bzw. als ξένοι, sondern als πολῖται leben. Natürlich möchte er sie für den christlichen Glauben gewinnen, aber das muss nicht die Verleugnung der eigenen kulturellen Identität bedeuten, wenigstens nicht grundsätzlich“: Lona, H. E.: An Diognet. Kommentar zu frühchristlichen Apologeten 8, Freiburg 2001, 163. Zur Himmelsbürgerschaft in Diogn vgl. Schinkel, D.: Die himmlische Bürgerschaft. Untersuchungen zu einem urchristlichen Sprachmotiv im Spannungsfeld von religiöser Integration und Abgrenzung im 1. und 2. Jahrhundert, FRLANT 220, Göttingen 2007, 159–182. 4   Zur Rezeption paulinischer Theologie vgl. Lindemann, A.: Paulinische Theologie im Brief an Diognet, in: Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche, hg. von A. Lindemann, Tübingen 1999, 280–293; Lona: Diogn 166 f.; 205–207. 5   Neben den Paulusbriefen dürfte auch die programmatische Fremdlingschaft aus dem 1. Petrusbrief einwirken (1,1.17; 2,11); vgl. dazu Feldmeier, R.: Der erste Brief des Petrus, ThHK XV/1, Leipzig 2005, 9–12; Feldmeier, R.: Die Christen als Fremde. Die Metapher der Fremde in der antiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief, WUNT 64, Tübingen 1992. 6   Man braucht hierfür nicht notwendig die Weltseele zu bemühen, vgl. Lona: Diogn 181. 7   Vgl. dazu Lona: Diogn, 207–210.



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Gemeinschaften. Er stellt die Christen zwischen „Weltverantwortung“ und „Weltflucht“.8

2.  Begriffsklärungen Mit den beiden Stichworten des vorliegenden Sammelbandes, „Weltflucht“ und „Weltverantwortung“, verbinden sich in der heutigen Rezeption meist Werturteile: Das erstere ist negativ, das letztere aber positiv konnotiert. Sieht man näher zu, handelt es sich um ein von Haus aus theologisches Gegensatzpaar, dessen Glieder aus denkbar verschiedenen Epochen stammen. Die „Weltverantwortung“ bildet sich in der Theologie des 20. Jahrhunderts heraus,9 mit Schnittstellen zur Philosophie, und lässt sich mit „globaler Verantwortung“ und „Nachhaltigkeit“ assoziieren. Altehrwürdig nimmt sich hingegen die „Weltflucht“ aus.10 Reden die antiken Christen von der fuga saeculi/mundi,11 so rezipieren sie neben neutestamentlicher Sprache (2 Petr 1,4; 2,20)12 spirituelle Termini platonischer Provenienz. Platons „Flucht nach dort“ ist zusammen mit der „Angleichung an Gott“ zu einer zentralen Losung   Eine identische Titelformulierung bietet Dassmann, E.: Weltflucht oder Weltverantwortung. Zum Selbstverständnis frühchristlicher Gemeinden und zu ihrer Stellung in der spätantiken Gesellschaft, JBTh 7, 1992, 189–208. Eine Variante: Alt, K.: Weltflucht und Weltbejahung. Zur Frage des Dualismus bei Plutarch, Numenios, Plotin, AAWLM.G 8, Stuttgart 1993. 9  Vgl. Hühn, H. / Seils, M.: Art. Weltverantwortung, HWPh 12, 2007, 527–531. Besonders zu nennen ist Duchrow, U.: Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, FBESG 25, Stuttgart 1970. Der Duden verzeichnet (die) „Weltverantwortung“ übrigens nicht. 10  Vgl. Hühn, H.: Art. Weltverachtung. Weltflucht, HWPh 12, 2007, 521–527. 11   In der lateinisch-christlichen Literatur begegnet neben dem fugere mundum gern auch das fugere saeculum (als eigene Schrift des Ambrosius: De fuga saeculi, mit starkem intertextuellem Bezug auf Philons De fuga). Für den expliziten Rückbezug auf den Neuplatonismus (s. unten bei Anm. 13) ist zu verweisen besonders auf Aug. civ. 9,17, der Plotins Parole lobt: illud Plotini, ubi ait (enn. 1,6,8:16–25, unter Berufung auf Homer Od. 10,269 [φεύγωμεν], mit dem die Heimat suchenden Odysseus) „fugiendum est igitur ad carissimam patriam, et ibi pater, et ibi omnia. quae igitur, inquit, classis aut fuga? similem deo fieri“. Für das fugere saeculum bezieht sich Augustin mehrfach auf Ambrosius zurück (c. ep. Pel. 4,30 [CSEL 60, 561; 563]; c. Iul. 2 [PL 44, 689]; persev. [PL 45, 1003]). Das fugere mundum findet sich etwa bei M.Vict. comm. 1 in Gal. 2,20 (CSEL 83/2, 124) und bei Ambros. expl. Ps. 36,79:4 (CSEL 64, 134). In der griechisch-christlichen Literatur gibt es meines Wissens kein prägnantes begriffliches Pendant. 12   2 Petr 1,4: „Dadurch hat er uns auch die kostbaren und überaus großen Verheißungen geschenkt, durch die ihr Anteil an der göttlichen Natur bekommen sollt, wenn ihr dem Verderben, das durch die Begierde in der Welt wirksam ist, entflohen seid (γένησθε θείας κοινωνοὶ φύσεως ἀποφυγόντες τῆς ἐν τῷ κόσμῳ ἐν ἐπιθυμίᾳ φθορᾶς)“; 2,20: „Wenn sie nämlich dem Schmutz der Welt durch die Erkenntnis unseres Herrn und Retters Jesus Christus entkommen sind (ἀποφυγόντες) …“ 8

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neuplatonischer wie christlicher Anthropologie und Soteriologie geworden.13 Plotins „Flucht des Einsamen zum Einsamen“, das Schlusswort der porphyrianischen Redaktion der Enneaden, steht für das spirituelle Programm des Aufstiegs zum göttlichen Ur-Einen.14 Die platonische Tradition hat insbesondere Philon von Alexandria dazu angeregt, die verstreuten Bibeltexte, die von „Fliehenden“ berichten, zu einem großangelegten Mosaik der Flucht weg von den Leidenschaften hin zu Gott, der „Zuflucht des Alls“, zusammenzufügen.15 Er deutet die Leviten und ihre Asylstädte auf diejenigen, die „aus dem irdischen Leben zu Gott flüchten“.16 Seine Schrift De fuga et inventione, die ihren Ausgangspunkt von der Flucht Hagars (Gen 16,6b) nimmt, hat das christliche Theologumenon von der „Weltflucht“ in hohem Ausmaß bereichert.17 Im Blick auf das Neue Testament ist man gut beraten, von der theologischen Emphase, die das Gegenüber von „Weltflucht“ und „Weltverantwortung“ markiert, abzurücken und sich mit der begrifflichen Polarität von „Weltdistanz“ und „Weltzuwendung“, so der Titel unserer Zeilen, zu begnügen. „Weltflucht“ im monastischen Sinn ist im ersten Jahrhundert noch nicht zu konstatieren, selbst wenn Tendenzen in diese Richtung weisen. Auch für die „Weltverantwortung“ fehlt in unserem Zeitraum schlicht der globale Referenzrahmen. Die Christen zählen noch nicht zu den Eliten, die in den Städten oder sogar reichsweit als Träger von politischer und gesellschaftlicher Macht in Frage kommen. Die „Bürgerschaft“ in den vorfindlichen Städten 13   Die für die platonische Schultradition zentrale Stelle im Werk Platons stellt Theaitetos, 176a/b dar: Man „muss auch versuchen, von hier so schnell als möglich dorthin zu fliehen. Diese Flucht ist aber nichts anderes als Gott möglichst ähnlich zu werden (διὸ καὶ πειρᾶσθαι χρὴ ἐνθένδε ἐκεῖσε φεύγειν ὅτι τάχιστα. φυγὴ δὲ ὁμοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν), und ihm ähnlich werden bedeutet gerecht und fromm werden, verbunden mit Einsicht.“ Zur mittelplatonischen Rezeption vgl. Alkinoos epit. 28,1; Philon fug. 63 (dazu unten Anm. 15); Clem. strom 2,133:3. 14   Plotin enn. 6,9,11:49–51: „Das ist das Leben der Götter und göttlicher, seliger Menschen, Abscheiden von allem andern was hienieden ist, ein Leben das nicht nach dem Irdischen begehrt, Flucht des Einsamen zum Einsamen (ἀπαλλαγὴ τῶν ἄλλων τῶν τῇδε, βίος ἀνήδονος τῶν τῇδε, φυγὴ μόνου πρὸς μόνον).“ Zur „Flucht“ vgl. 1,6,8:16 (dazu oben Anm. 11); 1,8,6:9; 8:29; zur Relation des „Einsamen zum Einsamen“ im Gebet vgl. 5,1,6:8–12. – Zur Verortung Plotins in der „Vorbereitung des Neuplatonismus“ (so der Titel einer wichtigen Monographie von Theiler, W.: Die Vorbereitung des Neuplatonismus, Berlin u. a. 1934 [= 1964]) vgl. Alt: Weltflucht. 15   Zentral ist fug. 1–118, wo Gott als καταφυγὴ τῶν ὅλων (75; vgl. somn. 1,63), als Quelle des Lebens und der Weisheit, zu der man hinflüchten kann (56; 97; 197 f.), prädiziert wird. Die Passage aus dem Theaitetos (s. Anm. 13) wird in 63 explizit zitiert. Obschon sie sich auf der Textoberfläche nur auf die Ortsbestimmung der Gegensätze bezieht, handelt es sich um den entscheidenden Prätext, der die gesamte Schrift bestimmt. Zur „Flucht“ vor den Leidenschaften hin zu Gott vgl. ferner all. 2,91; 3,172.194; sacr. 119 f. 16   Philon fug. 87–118; ebr. 94; sacr. 118–135 (mit Verweis auf Num 3,12 f). 17   Zur Nachwirkung bei Ambrosius und, durch diesen vermittelt, bei Augustin s. oben Anm. 11.



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dieser Welt, von der die Schrift an Diognet ausgeht, schließt auch für mittelständische Schichten keine politische Mitwirkung oder gar „Weltgestaltung“ ein. Wir beobachten allenfalls im Nahbereich Grade des Engagements, also im Bereich der Gemeindeorganisation, d. h. auf der Ebene des Vereins, der ja in der Antike vielfach die städtische Sozialstruktur abbildet. Verantwortung, ihrerseits ein erst frühneuzeitlicher Begriff, lässt sich in diesem Bereich geltend machen. „Weltverantwortung“ nimmt sich demgegenüber plerophor aus und reduziert sich im frühen Christentum auf symbolische Repräsentation bzw. auf „Stellvertretung“. Die zitierte Passage der Schrift an Diognet erhebt einen derartigen Anspruch, wenn sie der Existenz der Christen geradezu die Welterhaltung zuschreibt.18 Die Linien lassen sich bis zurück in die urchristliche Ekklesiologie und in die ökumeneweite Mission des Paulus ziehen. Mit der flacheren Semantik von „Weltdistanz“ und „Weltzuwendung“ dürfte es eher gelingen, die zahlreichen Aspekte unseres Themas angemessen zu beschreiben. „Weltflucht“ wäre dann als programmatische Steigerungsform von „Weltdistanz“, „Weltverantwortung“ als programmatische Steigerungsform von „Weltzuwendung“ zu pointieren. Ich werde mich im Folgenden an einer dreistelligen Relation orientieren: Auf der einen Seite steht eine Gruppe (etwa die Christen) oder das individuelle Selbst, auf der anderen Seite die Umwelt – wie immer diese näher zu bestimmen ist –, darüber schließlich eine transzendente Referenzgröße, seien es Gott, Reich Gottes, der Himmel, die ideale Welt oder das Vaterland. Der Term „Umwelt“ lässt sich dann verschieden bestimmen: Die Bandbreite reicht vom Körper über den sozialen Nahraum – etwa die Ebene der Ortsgemeinde – und den sozialen Universalraum – Menschheit bzw. universale Kirche – bis hin zum ganzen Kosmos bzw. der Schöpfung. Entsprechend lassen sich auch die anderen beiden Stellen variieren. Unsere Passage aus der Werbeschrift an Diognet zeigt anschaulich, wie sich Christen auf alle drei Größen beziehen und somit ihren eigenen Ort definieren. Dabei wird die Welt als ganze erst im folgenden Abschnitt in den Blick genommen, nämlich im Lob des Gottessohns als Baumeister und Schöpfer des Alls (7,2). Bei der Ortsbeschreibung der Christen spielt das Ethos, also die Verhaltensnormierung, eine entscheidende Rolle, weil es die jeweilige Loyalität bzw. Konformität festschreibt. Mit dem Hinweis auf das Verbot der Kinderaussetzung und auf die Sexualethik werden pinselstrichartig Grenz18   Zur Zuschreibung einer kosmisch/politischen Rolle der Christen vgl. Marrou, H. I.: A Diognète, SC 33bis, Paris 21965, 146–171. Mit hineinspielen dürfte auch die jüdische Tradition, wonach die Welt um Israels willen geschaffen worden sei (für Nachweise s. meine Monographie: Vollenweider, S.: Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt, FRLANT 147, Göttingen 1989, 102 f. Anm. 370; 380 Anm. 473). Sie ist unter Umdeutung auf das (neue) Gottesvolk vom Christentum rezipiert worden und wirkt etwa in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth nach, der den Bund als den „inneren Grund der Schöpfung“ reklamiert.

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ziehungen im Bereich des Verhaltens benannt, die die Identität der Christen konstituieren (5,6 f.).19

3.  Schlaglichter auf urchristliche Entwicklungen Ein komplexes Verhältnis von Weltzuwendung und Weltdistanz begegnet bereits in den Anfängen der christlichen Religion und Theologie. An diesem Punkt haben sich bekanntlich große Debatten entzündet,20 die von Franz Overbeck21 und Friedrich Nietzsche bis Max Weber22 und Rudolf Bultmann23  Vgl. zum Ersteren die umfassende Darstellung von Tuor-Kurth, Ch.: Kindesaussetzung und Moral in der Antike. Jüdische und christliche Kritik am Nichtaufziehen und Töten neugeborener Kinder, FKDG 101, Göttingen 2010. 20   Vgl. die Literaturhinweise in Hühn: Weltverachtung, 524. 21   Overbeck, F.: Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie (1873), in: Werke und Nachlass. Schriften bis 1873. Werke und Nachlass 1, hg. von E. W. Stegemann / N. Peter, Stuttgart 1994, 155–256, hier 214–220 („einen weltflüchtigeren Glauben als den der ältesten Christen an die baldige Wiederkehr Christi und den Untergang der gegenwärtigen Weltgestalt kann es doch nicht wohl geben“, 215). Overbeck zufolge mutiert dieser endzeitliche Glaube aufgrund der Parusieverzögerung zur „asketischen Betrachtung und Führung des Lebens, welche in der That eine Metamorphose des urchristlichen Glaubens an die Wiederkehr Christi ist“ (216). 22   Weber, M.: Zwischenbetrachtung. Theorie der Stufen religiöser Weltablehnung, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, hg. von M. Weber, Tübingen 1920, 536–573; Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. von J. Winckelmann, Tübingen 51972, 181–385, hier Kap. V: Religionssoziologie, 245–381: §10: Die Erlösungswege und ihr Einfluss auf die Lebensführung: 321–348 (hier besonders 330– 334: Weltflüchtige mystische Kontemplation); §11: Religiöse Ethik und „Welt“, 348–367; §12: Die Kulturreligionen und die Welt, 367–381. Weber stellt das „weltablehnende Frühchristentum“ (379–381) zusammen mit dem „alten Buddhismus“ etwa der „Weltzugewandtheit des Judentums“ und der „Weltangepasstheit des Islam“ gegenüber. 23   Bultmann, R.: Der Mensch und seine Welt nach dem Urteil der Bibel (1957), in: Glauben und Verstehen III, hg. von R. Bultmann, Tübingen 41993, 151–165, hier 165 („die eschatologische Existenz ist nicht die Flucht aus der Welt, sondern die Haltung des ὡς μή und in solcher Haltung Dienst an der Welt in der Liebe“, identifiziert mit der „Verantwortung für die Welt in der Liebe“). Demgegenüber schreibt Bultmann etwa der Gnosis oder auch der Stoa eine Flucht aus der Wirklichkeit bzw. Geschichtlichkeit zu, kontrastiert mit der Verantwortung: Bultmann, R.: Geschichte und Eschatologie, Tübingen 31979, 6; 105 f.; 171–184. Bultmann zufolge muss scharf unterschieden werden zwischen der ‚Weltflucht‘ einerseits und der ‚Entweltlichung‘ andrerseits; letztere kennzeichnet den christlichen Glauben und führt gerade in die existential erfasste Entscheidungssituation hinein, öffnet also zur als Schöpfung wahrgenommenen Welt und zur damit gegebenen Verantwortung. 1 Kor 7,29–31 gilt dafür als Paradetext; vgl. Bultmann, R.: Das Verständnis von Welt und Mensch im Neuen Testament und im Griechentum (1940), in: Glauben und Verstehen II, hg. von R. Bultmann, Tübingen 51968, 59–78, hier 75 f.; Bultmann, R.: Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 9 1984, 352 f. 19



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reichen. Klar ist: Das Christentum gehört diesbezüglich in das viel weitere Feld der antiken Kulturgeschichte. Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass sich das römische Imperium, eine hochgradig globalisierte Gesellschaft, während des ersten und zweiten Jahrhunderts in einem einigermaßen friedlichen und ökonomisch prosperierenden Status befindet, also gerade noch nicht zum „Age of Anxiety“ (E. R. Dodds) mutiert ist.24 Mit umso mehr Interesse nimmt man die weltdistanzierenden Tendenzen, die sich zwar bereits im klassischen Griechenland beobachten lassen, aber um die Zeitenwende deutlich an Drift gewinnen, zur Kenntnis. Im Fall des Urchristentums spielen Entwicklungen im Bereich des Frühjudentums, also einer speziellen Subkultur unter dem Dach der hellenistisch-römischen Globalkultur, eine besondere Rolle. Wir werden im Folgenden immer wieder auf eine Koexistenz verschiedener Perspektiven und Normierungen stoßen, die das breite Spektrum zwischen Weltzuwendung und Weltdistanz ausfüllen, und wir werden ihr Verhältnis genauer zu bestimmen haben. Auch an diesem Punkt fügt sich das Frühchristentum in den weiteren Horizont des antiken Mittelmeerraums ein. Der zeitgenössische Platonismus lässt sich etwa darauf hin untersuchen, wie er das Verhältnis von zwei durch normative Texte vorgegebenen Perspektiven integriert: die weltaffirmierende Sicht des Timaios und die weltdistanzierte Sicht des Phaidon. 1. Eine spannungsvolle Koexistenz von Weltzuwendung und Weltdistanz zeichnet schon die von Jesus initiierte Bewegung aus. Dokumentiert wird sie vor allem von der – hypothetisch rekonstruierbaren – Logienquelle, die den Großevangelien von Matthäus und Lukas zugrundeliegt. Sehr holzschnittartig gezeichnet: Jesus und seine Anhänger demonstrieren auf der einen Seite eine geradezu entfesselte Hingabe an die Welt, konkret: an ihre ländlich geprägte galiläische Umwelt. Jesus hat sich marginalisierten Kreisen zugewandt – Besessenen, Kranken, Armen, Zöllnern, „Sündern“, Samaritanern, Prostituierten, Frauen und Kindern –, offenbar ohne vorgängige Buße und Umkehr zu fordern (vgl. Mk 2,15–17 parr.; Lk 19,1–10).25 Gestalt gewinnt diese vorbehaltlose Zuwendung, in welcher der Nazarener Gott selbst am Werk weiß, in der Mahlgemeinschaft, die ihrerseits das endzeitliche messianische Mahl antizipiert.26 Das Gebot der Feindesliebe wird schöpfungstheo24   Dodds, E. R.: Pagan and Christian in an Age of Anxiety. Some Aspects of Religious Experience from Marcus Aurelius to Constantine, Cambridge 1965 (dt. Übs.: Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst. Aspekte religiöser Erfahrung von Mark Aurel bis Konstantin, Frankfurt 1985). 25   Zur Offenheit Jesu auch für Unreine und zum Ethos der Nachfolge vgl. Schröter, J: Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, Biblische Gestalten 15, Leipzig 32010, 179–188; 226–233. 26   Vgl. Mk 2,19a parr.; Lk 7,34 par.; Mk 6,30 ff. parr.; Lk 14,15 par.; 15,22 ff., zur Vorwegnahme des endzeitlichen Mahls (Jes 25,6–8) vgl. auch Lk 13,28 f. par.

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logisch untermauert und zeugt von einem erstaunlichen Vertrauen auf den gütigen Schöpfergott (Lk 6,27 f. 35 par. Mt 5,43 ff.; Mk 2,27; 7,37). Jesus und seine Anhänger gelten als Fresser und Säufer (Lk 7,34 par. Mt 11,19). Dazu kommt die Korrelation mit der Gottesbeziehung, wie sie die Figuren der Adoption durch Gott und der Nachahmung Gottes (Lk 6,32.36 par. Mt 5,46–48) zum Ausdruck bringen. Mit alledem kontrastiert auf der anderen Seite eine scharfe Distanznahme gegenüber der vorfindlichen Umwelt: Der Menschensohn und die Seinen sind in ein schutzloses Wanderleben gerufen (Mk 10,28 parr.); die Jünger verweigern sich einer der elementarsten sozialen Normen, der Begräbnispflicht (Lk 9,57–62 par. Mt 8,19–22). Schließlich treibt Jesus einen spitzen Keil in die Zelle damaliger Gesellschaften, in die Großfamilie:27 Der Ruf in die Nachfolge geht einher mit der Entzweiung innerhalb der Familie (Lk 14,26 par. Mt 10,37; Lk 12,51–53 par. Mt 10,34–36; vgl. Mk 3,21; 6,4) und konstituiert eine neue ‚Familie‘ (Mk 3,31–35 parr.; 10,28–30 parr.). Die Jesusgruppe bricht mit der vorfindlichen Welt und lebt im Angesicht des hereinbrechenden Reiches Gottes, wo es kein Heiraten und kein Besitzen mehr geben soll (Mk 12,25 parr.; Mt 19,10–12). Es hat den Anschein, dass das Gottesreich, das sich in der Erwartung Jesu und seiner Anhänger jetzt in der Gegenwart zu manifestieren beginnt, beides simultan steigert: Weltzuwendung und Weltdistanz. Christen späterer Jahrhunderte konnten sich je nachdem auf das eine oder das andere berufen. Vielleicht darf man die Verhältnisbestimmung noch zuspitzen: Die Wahrnehmung der Schöpfungswirklichkeit verdankt sich im Jesuskreis geradezu der tiefgreifenden Distanzierung von den natürlichen, sozialen und kulturellen Vorfindlichkeiten menschlicher Existenz. 2. Im Bereich des sich herausbildenden urbanen Christentums wird die Bandbreite möglicher Optionen ausgedehnt. Wichtig ist hier v.a. die Korrespondenz des Apostels Paulus, der selber eine komplexe Wechselwirkung weltzugewandter und weltdistanzierter Perspektiven dokumentiert. Dabei reagiert er auch auf Verhältnisse in seinen Gemeinden. In der Gemeinde Korinths scheint es beispielsweise auf der einen Seite eine stark asketisch orientierte Gruppe gegeben zu haben; hier gibt Paulus ein Stück weit Gegensteuer (vgl. 1 Kor 7,1–40). Auf der anderen Seite haben korinthische Christen ihren vorchristlichen Lifestyle weitergeführt, wogegen der Apostel zur Distanznahme aufruft (vgl. 1 Kor 6,1–20; 5,1–13). Dabei setzt Paulus nicht einfach auf mehr „Weltoffenheit“ oder mehr „Weltdistanz“, sondern transponiert sein Ja und sein Nein hinsichtlich der Welt auf eine andere, nämlich christologische   In diesem Zusammenhang hat sich Weber: Zwischenbetrachtung in seiner „Theorie der Stufen religiöser Weltablehnung“ prägnant geäußert: „Wenn die Erlösungsprophetie Gemeinschaften auf rein religiöser Grundlage schuf, so war die erste Macht, mit welcher sie in Konflikt geriet, und welche durch sie Entwertung zu befürchten hatte, die naturgegebene Sippengemeinschaft“, mit Zitat von Mt 10,34 (542). 27



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Ebene. Die Fluchtlinien werden insbesondere in 1 Kor 3,21–23 erkennbar: Die Orientierung in der Welt, konkret das Verhalten in der städtischen Umwelt, basiert auf der Freiheit der Glaubenden: „Alles ist euer.“ Diese im Ansatz autonom entworfene Freiheit, deren stoisches Profil unverkennbar ist,28 wird bei Paulus von Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, normiert: „Ihr aber gehört Christus.“ Dieser „weltoffenen“ Position steht eine eschatologische Perspektive entgegen: Angesichts der nahen Endzeit gilt im Hinblick auf die irdischen Verhältnisse des Menschen die Regel des „als ob nicht“ (1 Kor 7,29–31). Der Typ eines von Distanz bestimmten Verhaltens im sozialen Nahraum begegnet wiederum auch bei den kaiserzeitlichen Stoikern;29 spezifisch christlich ist die endzeitliche Konfiguration, die man, will man es etwas steil theologisch pointieren, letztlich auch wieder auf eine Orientierung an Jesus Christus, nun als dem Wiederkehrenden, hinausläuft. Bestätigt wird diese Rückbindung an Christus durch V. 32–35, wo nun die Relation zum Kyrios zum entscheidenden Kriterium ethischen Handelns wird. Zu verweisen ist schließlich auf eine programmatische Stellungnahme im Römerbrief (12,2): Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt (μὴ συσχηματίζεσθε τῷ αἰῶνι τούτῳ), sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.

Da die vorfindliche Welt bald vergeht und weil sie seit Adams Fall von der Sünde pervertiert ist (vgl. Röm 5,12; 8,20), gilt es, sich von ihr zu distanzieren. Zu denken ist etwa an die in der noch gegenwärtigen Weltzeit geltenden sozialen Standards: Der Orientierung an Ethnos, Status und Gender steht die Ausrichtung auf die Christuswirklichkeit als neuer Schöpfung gegenüber (Gal 3,28).30 Es ist aber interessant, dass hier in Röm 12 die negative Sprachregelung aufgefangen und überboten wird durch eine affirmative Rhetorik, der wir auch im Diognettext begegnet sind: Verwandlung und Erneuerung; vor allem aber die Orientierung am „Guten und Wohlgefälligen und Vollkommenen“ – kulturelle Standards, die in der damaligen Gesellschaft weithin konsensfähig waren (vgl. Phil 4,8) und hier mit dem Willen Gottes identifiziert werden. 3. Eine dritte gleichsam klassische urchristliche Position vertritt die Johannesapokalypse am Ende des ersten Jahrhunderts: Ihr Verfasser fordert eine konsequente Distanznahme der Gemeinden von ihrer Umwelt, konkret: vom Leben der kleinasiatischen Küstenstädte (vgl. die Sendschreiben, Kap. 2/3).  Vgl. Zeller, D.: Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 2010, 172.   Vgl. dazu die Dokumentation in: Vollenweider, S. (Hrsg.): Epiktet. Was ist wahre Freiheit?, Sapere 22, Tübingen 2013, besonders 148 f. 30   Vgl. dazu meinen Aufsatz: Vollenweider, S.: Das Urchristentum als Religionsgemeinschaft der Entgrenzung, in: Kommunikation über Grenzen, hg. von F. Schweitzer, VWGTh 33, Gütersloh 2009, 55–71. 28 29

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Er geht also auf Kollisionskurs mit der heidnischen wie mit der jüdischen Umwelt.31 Bruchzonen bilden besonders der pagane Opferkult, namentlich der Kaiserkult, und das Sexualverhalten (vgl. besonders 2,6.14 f. 20 f.; 3,17; 13,4.14–16). Johannes vertritt demgegenüber eine exklusive, asketische Ethik; er grenzt die Christen rigoros gegen außen ab, verwirft Reichtum und Weltzugewandtheit (vgl. 3,5.18; 14,4 f.; 16,15; 21,8; 22,14) und schärft die Bereitschaft zum Martyrium ein (vgl. 2,10; 6,9; 12,11.17; 17,6; 20,4). In seiner Perspektive stehen hinter den Friktionen zwischen den Christusgläubigen und ihren Nachbarn mythische Mächte: Der Kampf zwischen dem Christus und seinem Gegenspieler, dem römischen Reich, was in letzter Instanz auf den Kampf zwischen Gott und dem Satan hinausläuft. Der Pol „Welt“ wird dabei umfassend negativ besetzt: Im Unterschied zu zahlreichen anderen Stellungsbezügen christlicher wie jüdischer Provenienz hat sich in der Apokalyptik die Welt als ganze umfassend verfinstert. Der Seher Johannes ruft seine Mitchristen auf, durchzuhalten und die neue Welt Gottes zu erwarten. 4. Die Gnosis, die sich erst im 2. Jahrhundert erkennbar ausbildet, zieht mehrere der bisher skizzierten Linien aus. Die negative Qualifizierung der Welt als ganzer wird nochmals verschärft: Diese ist, anders als in der griechischen Philosophie, nicht mehr transparent für die geistig-göttliche Sphäre – die Perspektive des platonischen Phaidon wird also in den Bereich der Kosmologie extrapoliert. Gegenüber dem Hauptstrom jüdischer wie christlicher Theologie wird der Schöpfungsglaube suspendiert; die Weltentstehung geht auf das Wirken inferiorer Instanzen zurück. Massiver lässt sich die Weltdistanzierung nicht mehr zuspitzen; Askese ist die konsequente Verhaltensnormierung. Wir notieren aber am Rand, dass die Beobachterperspektive einen nochmals anderen Befund zutage fördert: Die bekannte These von Adolf von Harnack, dass es sich bei der Gnosis um eine radikale Form der Hellenisierung des Christentums handelt, hat jedenfalls an dem Punkt einen Wahrheitskern, wo sich die Gnostiker gesellschaftlich als Exponenten einer urbanen und kosmopolitischen Religiosität mit intellektuellem Profil zu erkennen geben.32 Von Seiten der Großkirche wurde diese kulturelle Offenheit als Preisgabe christlicher Identität perhorresziert, etwa als Vermeiden des Martyriums. Soweit unsere Skizze urchristlicher Positionen zum Verhältnis von „Weltflucht“ und „Weltverantwortung“. Ich werde im Folgenden zwei kurze Fallstudien präsentieren, die die Koexistenz von Weltzuwendung und Weltdistanz exemplarisch dokumentieren. Zum einen handelt es sich um das Johannes31   Vgl. dazu etwa Frey, J.: Was erwartet die Johannesapokalypse? Zur Eschatologie des letzten Buchs der Bibel, in: Die Johannesapokalypse. Kontexte – Konzepte – Rezeption, hg. von J. Frey / J. A. Kelhoffer / F. Tóth, WUNT 287, Tübingen 2012, 473–551, hier 521–524. 32   Vgl. zur alexandrinischen Gebildetenreligion Fürst, A.: Christentum als Intellektuellen-Religion. Die Anfänge des Christentums in Alexandria, SBS 213, Stuttgart 2007, 19–33; 94–102; 106–110.



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evangelium, zum anderen um zwei Briefe, die auf die Paulusschule zurückgehen.

4.  Lichtwerdung und Verfinsterung: Das Johannesevangelium Das gegen Ende des ersten Jahrhunderts verfasste Johannesevangelium gilt als ein klassischer Text für unsere Fragestellung. Es zeichnet sich nicht nur durch einen scharfen Dualismus zweier Sphären aus – Licht und Finsternis, Leben und Tod, Wahrheit und Lüge, oben und unten, Glaube und Unglaube, Gott und Teufel –, sondern lässt uns auch eine Trägerschaft erkennen, der man gern das Sektenetikett anzuhängen pflegt.33 Da es sich um einen erzählenden Text handelt, empfiehlt es sich, seiner Jesusgeschichte nachzufolgen und die entscheidenden Weichenstellungen wahrzunehmen. 1. Das Eingangsportal in die Erzählung vom Leben, Sterben und Auferstehen Jesu ist denkbar weit: Der Prolog (1,1–18), offenbar entworfen als ein Proömium, als eine Leseanweisung für alles Folgende, entwirft den Horizont einer Schöpfung, die sich dem Wirken Gottes und seines Logos verdankt und vom göttlichen Leben durchdrungen ist. V. 5 zufolge konstituiert sich mit dem Aufstrahlen des Lichts aber auch die Finsternis. Die dualen Sphären bestehen nicht einfach an sich, sondern sind erst das Resultat des göttlichen Wirkens. Im Fortgang des Evangeliums wird dies in Erzählung umgesetzt: Das Offenbarungswort Jesu erschafft auf der einen Seite Glaubende und provoziert auf der anderen Seite zunehmend Ablehnung, die erst jetzt als Sünde gerichtsrelevant wird (vgl. 3,13–21; 3,36; 5,24; 9,41; 12,46). Dem Prolog, V. 5, zufolge kann die Finsternis das Licht nicht erfassen, weil sie ‚blind‘ ist. Wahrscheinlich muss man aber sogar aktivisch übersetzen:34 Die Finsternis kann das Licht nicht „überwältigen“ (vgl. 12,35). Es handelt sich dann wieder um eine große Linie, die das gesamte Evangelium strukturiert. Die Lichtmetaphorik wird im Lauf der Erzählung sukzessiv entfaltet und auf das Wirken von Jesus hin zugespitzt (8,12; 9,5).35 Im Prolog selber

33   Dagegen mit Recht etwa Schnelle, U.: Antidoketische Christologie im Johannesevangelium, FRLANT 144, Göttingen 1987, 258 („konventikelhafte Weltflucht lag ihm [sc. dem joh. Christentum – Anm. d. Vf.] fern“); Metzner, R: Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium, WUNT 122, Tübingen 2000, 311 f. („Für die johanneische Literatur wären auf alle Fälle ihre weltoffenen Tendenzen zu bedenken, die ein Verständnis der johanneischen Gemeinde als ein elitäres Konventikel gerade ausschließen“). 34  Vgl. zur Diskussion Theobald, M.: Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1–12, RNT, Regensburg 2009, 115–117. 35  Vgl. Frey, J.: Zu Hintergrund und Funktion des johanneischen Dualismus, in: Frey, J.: Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den Johanneischen Schriften I, WUNT 307, Tübingen 2013, 409–482, hier 438–450.

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steht dem Strahlen des Lichts der Widerstand des Kosmos entgegen. Bereits in diesem Text changiert ὁ κόσμος zwischen Universum und Menschenwelt. Die weite Perspektive, die den Prolog kennzeichnet, setzt sich auch in der folgenden Jesuserzählung fort. Die Sendungsaussage in 3,16 f. bildet hierfür geradezu den Locus classicus. Immer im Blick ist freilich auch die Ablehnung der in Jesus Christus geschehenden Gottesoffenbarung. Sukzessiv baut sich eine Gegenperspektive auf, die die Welt nicht mehr als umfassenden Horizont und als Empfängerin des göttlichen Lebens, sondern umgekehrt als Gegenmacht entwirft. 2. Diese Gegenbewegung kulminiert in den Abschiedsreden Jesu (Kap. 13–17). Szenisch werden diese dominiert von Nacht und Finsternis, von Verrat und Verleugnung, von Angst, Bedrängnis und Trauer. Ihr großes Thema ist die Abwesenheit Jesu, welche die Situation der Adressaten des Evangeliums überschattet. Zugleich versichern Jesu Reden die Glaubenden seiner mit Ostern erfolgenden Wiederkunft im heiligen Geist.36 Die – nachösterliche – Gegenwart steht also im Zeichen des zugleich weggegangenen und wiedergekehrten Christus. Das Spannungsfeld von Weltzuwendung und Weltdistanz lässt sich besonders in 15,18–25 identifizieren (V. 18f): Wenn euch die Welt hasst, so bedenkt, dass sie mich vor euch gehasst hat. Wärt ihr von der Welt (εἰ ἐκ τοῦ κόσμου ἦτε), würde die Welt das ihr Eigene lieben. Da ihr aber nicht von der Welt seid (ἐκ τοῦ κόσμου οὐκ ἐστέ), sondern ich euch aus der Welt heraus erwählt habe, darum hasst euch die Welt.

Die Jünger werden wie der Christus selber als solche qualifiziert, die zwar in der Welt, aber nicht von der Welt sind, eine uns bereits von der Schrift an Diognet her vertraute Identitätsbestimmung. Ihnen schlägt der Hass der Welt entgegen.37 Der Hass ist die Gegenkraft zur Liebe, die unter den Glaubenden selber maßgeblich ist (15,9–17). V. 19 variiert den Kontrast bedeutsam: Die Jünger, denen der Hass entgegenschlägt, sind nicht einfach die, welche nicht aus der Welt sind, sondern die, welche der Christus erwählt hat. Das dynamische Erwählungsmotiv überlagert die im Ansatz statische Dualität von „aus der Welt / nicht aus der Welt sein“. Am Ende seiner Reden spricht Jesus seinen Jüngern ein tragendes Verheißungswort zu (16,33b): In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.

  So die fünf Parakletsprüche:14,16 f. 26; 15,26 f.; 16,7–11. 13–15.   Vgl. dazu Popkes, E. E.: Die Theologie der Liebe Gottes in den johanneischen Schriften. Zur Semantik der Liebe und zum Motivkreis des Dualismus, WUNT II/197, Tübingen 2005, 359 f. („Die dabei aufgebaute Antithetik möchte nicht zu einer definitiven Abkehr von der Welt aufrufen, sondern sie will die bei den Adressaten vorhandenen negativen Welterfahrungen versprachlichen, reflektieren und überwinden …“). 36 37



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Die Situation der Christen wird mit einem Stichwort verdichtet: θλῖψις, d. h. Not, Drangsal. Der in die Passion gehende Jesus verheißt den Seinen aber seinen Sieg über die Gegenmacht, den Teufel (12,31; 14,30; 16,11), und damit den endzeitlichen Frieden (14,27; 16,33a). Beim Abschiedsgebet Jesu (Kap. 17) handelt es sich um das große Gegenstück zum Prolog, das in die Zukunft ausblickt und den Jüngern die Schau seiner österlichen Herrlichkeit verheißt.38 Innerhalb des Abschnitts V. 9–19 sind V. 14–16 für unsere Frageperspektive von enormer Bedeutung: Ich habe ihnen dein Wort gegeben, und die Welt hat sie gehasst, weil sie nicht von der Welt sind, wie auch ich nicht von der Welt bin. Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt hinwegnimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst. Sie sind nicht von der Welt, wie ich nicht von der Welt bin (ἐκ τοῦ κόσμου οὐκ εἰσὶν καθὼς ἐγὼ οὐκ εἰμὶ ἐκ τοῦ κόσμου).

V. 9 beschränkt die Fürbitte Jesu auf die Jünger; der Kosmos im Sinn der gottlosen Welt, die Jesus und die Seinen ablehnt, geht leer aus. Die Weite, die der Prolog und die Sendungsaussage von 3,16 f. dokumentieren, wird spürbar eingeengt.39 Dazu kommt, dass sich die Zukunftshoffnung auf das jenseitige Sein der Glaubenden in der Einheit von Vater und Sohn zu beschränken scheint (V. 24). Es gibt aber ein Gegengewicht: V. 15 stellt heraus, dass die Jünger nicht aus der Welt auswandern – hier wird wohl die apokalyptische Erwartung umgebrochen, dass die Christen in den endzeitlichen Wirren entrückt werden.40 Jesus bittet vielmehr darum, dass sie von der Gegenmacht nicht verschlungen werden.41 V. 18 geht noch einen Schritt weiter: „wie du mich in die Welt gesandt hast, so sende auch ich sie in die Welt.“ Die Welt bleibt also trotz ihrer Selbstverschließung Adressatin der Sendung des Gottessohns selber wie der Mission seiner Jünger (vgl. V. 21: „damit die Welt glaubt“). 3. Das Vierte Evangelium hinterlässt einen ambivalenten Eindruck. Man darf davon auszugehen, dass insbesondere die Abschiedsreden ein Fenster auf die Situation der Adressaten und Trägerkreise öffnen, die mit Drangsal und Angst charakterisiert wird. Historisch gesehen wissen wir wenig über die 38   Zum Verständnis der „Herrlichkeit“ in Joh 17 vgl. Frey, J.: „ ... dass sie meine Herrlichkeit schauen“ (Joh 17,24). Zu Hintergrund, Sinn und Funktion der johanneischen Rede von der δόξα Jesu, in: Frey: Die Herrlichkeit des Gekreuzigten, 639–662, hier 653–655. 39   Zu einer innerjohanneischen „starken antimissionarischen Strömung“ und ihrer „Tendenz zur Abkehr von der Welt“ vgl. Dietzfelbinger, Ch.: Der Abschied des Kommenden. Eine Auslegung der johanneischen Abschiedsreden, WUNT 95, Tübingen 1997, 318. 40  Dazu Barrett, C. K.: Das Evangelium nach Johannes. Dt. Übs., KEK-Sonderband, Göttingen 1990, 493. Zur johanneischen Umformung vgl. Zumstein, J.: L’Évangile selon S. Jean (13,1–21,25), CNT II/ IVb, Genf 2007, 177 („Toute idée de fuite du monde est battue en brèche“). 41   Vgl. 1 Joh 5,18, wo „die Welt als ganze im Argen liegt“. Zur Ablehnung der Weltflucht zugunsten von „speziellen Schutzmaßnahmen“ für die Jünger vgl. Busse, U.: Das Johannesevangelium. Bildlichkeit, Diskurs und Ritual, BEThL 162, Leuven 2002, 231.

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johanneischen Gemeinden; zu denken ist an schmerzhafte Erfahrungen, die mit der Ablösung von der jüdischen Synagogengemeinschaft zu tun haben, aber darüber hinaus auch an Konflikte mit der paganen Umwelt. Die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe dokumentieren Friktionen dieser Art. So gesehen schreibt das Johannesevangelium gegen Erfahrungen der Bedrängnis durch die als feindlich erlebte Welt an, wenn es seine weiten Perspektiven entwirft. Die Stoßrichtung seiner Jesuserzählung besteht dann darin, die Weltdistanz der johanneischen Glaubenden in aller Schärfe herauszustellen und doch festzuhalten an einem Letztbezug auf die Welt als Gottes Schöpfung. Die Gnosis wird an diesem Punkt eine ganz andere Richtung einschlagen.

5.  Der Raum des Kosmokrators: Kolosser- und Epheserbrief Mit den beiden Briefen, die sich der Produktivität der kleinasiatischen Paulusschule oder, wohl besser pluralisch, der Paulusschulen verdanken, begegnen wir zum Schluss nochmals der spannungsvollen Koexistenz von Weltoffenheit und Weltdistanz. Beide Briefe schreiben Figuren und Impulse der paulinischen Theologie kongenial fort. Im Aufbau des Kolosserbriefs hat das Christuslob in 1,15–20 eine zentrale Stellung. Es stellt die universale Machtstellung des Schöpfungsmittlers und Kosmokrators Jesus Christus heraus. Das All ist „durch ihn und auf ihn hin geschaffen“; „alles hat in ihm seinen Bestand“ (V. 16f). Christi Inkarnation, worin „die ganze Fülle der Gottheit“ leibhaftig in ihm Wohnung nimmt (V. 19; vgl. 2,9 f.), kommt der in sich zerstrittenen Welt zugute:42 Weil er die Welt durch seinen Kreuzestod versöhnt und befriedet hat, ist sie zu einem Raum geworden, in dem auch die Menschen zu ihrem Wohl eingebettet sind und den sie nicht mehr als bedrohlich erfahren.43 Der Christus hat die Welt damit – wieder? – zu dem gemacht, was sie von Urbeginn an ist: gute Schöpfung Gottes. Der in hymnischer Diktion verfasste Text, der die Transparenz des Universums für den Christus herausstellt, hat in der argumentativen Strategie des Briefverfassers eine spezifische Funktion: Die alles durchdringende 42   Zum kosmologischen Hintergrund, wonach die irdische, mindestens sublunare Sphäre von Streit und Gegensätzen erfüllt ist, vgl. meinen Aufsatz: Vollenweider, S.: „Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15–20). Überlegungen zum Stellenwert der kosmischen Christologie für das Gespräch zwischen Schöpfungstheologie und moderner Kosmologie, in: Theologie und Kosmologie, hg. von J. Hübner u. a., Religion und Aufklärung 11, Tübingen 2004, 61–80. 43   Zum Wechsel vom Unbehaust-Sein zur „Erschließung eines Geborgenseins mitten in der Welt“ vgl. Walter, N.: Geschichte und Mythos in der urchristlichen Präexistenzchristologie, in: Praeparatio Evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments, hg. von N. Walter, WUNT 98, Tübingen 1997, 281–292, hier 289.



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Wirklichkeit und Herrschaft Christi wird einer bestimmten Form des Christentums im kleinasiatischen Raum, die sich im Spannungsfeld von jüdischer Religion und lydisch-phrygischen Kulten herausgebildet hat, entgegengesetzt. Offenbar hat diese nur in groben Umrissen erkennbare Religionsform bestimmte rituell-asketische Praktiken kultiviert, die mit der Verehrung von Engeln einhergehen (vgl. 2,8.16.18.23). In unserem Brief werden geradezu einige Taburegeln wiedergegeben: „,Das darfst du nicht anfassen, das nicht kosten, das nicht zu dir nehmen!‘“, wogegen der Verfasser einwendet, dass es sich doch um „lauter Dinge, die dazu da sind, gebraucht und aufgebraucht zu werden“, handelt (2,21 f.). Das alles scheint auf die Formel „aufgeklärte Weltoffenheit versus asketische Weltdistanz“ hinauszulaufen. Der Sachverhalt ist aber komplexer. Der Kolosserbrief fordert selber eine radikale Distanznahme von der vorfindlichen Welt: Die Christusglaubenden sind nicht mehr „im Kosmos“ (2,20).44 Vielmehr gilt (3,1 f.): Seid ihr nun mit Christus auferweckt worden, so sucht nach dem, was oben ist, dort, wo Christus ist, zur Rechten Gottes sitzend. Trachtet nach dem, was oben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist!

Die räumliche Orientierung überlagert die temporale Perspektive, die im ältesten Christentum noch dominierte. Das „Suchen des Oberen“ wird in der Folge entfaltet als „Töten der Glieder auf Erden“ (3,5 f.). Die radikale Metaphorik lässt sich schwer anders als asketisch deuten, auch wenn nur die Enthaltung von handfesten Lastern im Blickfeld ist. Wir haben hier den interessanten Fall vor uns, dass sich mit dem „synkretistischen“ Christentum von Kolossä und demjenigen des Verfassers des Kol zwei Religionsformen, die beide zugleich kosmologisch und asketisch orientiert sind, entgegen stehen – in der Antike ein nicht seltenes Phänomen. In unserem Fall ließe sich an die Differenz zwischen einer rituellen und einer ethischen Konfiguration denken, aber wir kennen die kolossische „Philosophie“ (2,8) zu wenig, um hier zu sicheren Schlüssen zu kommen. Spannend bleibt die Frage nach der Koexistenz von Weltdistanz und Weltzuwendung im Kol selber. Die erstere lässt ein markantes Ethos erkennen, das das christliche Verhalten und überhaupt die christliche Identität vom präbaptismalen Way of life scheidet. Umgekehrt zeigt sich die Weltzuwendung neben der universalistischen Makroperspektive insbesondere in der Haltung zu den vorgegebenen sozialen Lebensordnungen, wie sie die Haustafel in 3,18–4,1 dokumentiert, also im Nahbereich. Wenn wir versuchen, die beiden Weltperspektiven in 44   Zur Verschiebung gegenüber Paulus vgl. Dübbers, M.: Christologie und Existenz im Kolosserbrief. Exegetische und semantische Untersuchungen zur Intention des Kolosserbriefes, WUNT II/191, Tübingen 2005, 207 Anm. 48 (es kann „das Stichwort κόσμος geradezu zum Synonym für die sündhafte Welt werden“); Frank, N.: Der Kolosserbrief im Kontext des paulinischen Erbes. Eine intertextuelle Studie zur Auslegung und Fortschreibung der Paulustradition, WUNT II/271, Tübingen 2009, 244.

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eine griffige systematische Formel zu bannen, könnte man sagen: Erst die scharfe Distanzierung von den rituellen, ethnischen und sozialen Standards dieser Welt eröffnet den weiten Raum der Christuswirklichkeit, welche die Welt durchdringt (2,19; vgl. 3,11b) und erlaubt einen pragmatischen Umgang mit den faktischen Lebensverhältnissen, wie sie etwa in der sozialen Keimzelle der mediterranen Gesellschaft, im Oikos, vorgegeben sind. Auf den Epheserbrief, der seinerseits eine Relektüre des Kolosserbriefs darstellt, gehen wir nur summarisch ein. Wiederum lässt sich eine auffällige Koexistenz von Weltoffenheit und Weltdistanz konstatieren. Auf der einen Seite wird Christus als Friedensstifter und Weltherrscher gefeiert, der sich die widergöttlichen kosmischen Engelmächte definitiv unterworfen und die kosmosweite Kirche zur Einheit gefügt hat (1,20–23; 2,14–18). Auf der anderen Seite ruft der Verfasser zum spirituellen Kampf gegen die Kosmokratoren der Finsternis auf und zeichnet das Bild einer entfesselten kosmischen Schlacht (6,10–13). Das Verhältnis beider Aussagereihen ist nicht leicht zu bestimmen.45 Wir begnügen uns mit der Mutmaßung, dass ähnlich wie im Fall von Kol die hymnische Emphase, die der kosmosweiten Kirche gilt, geradezu ein Gegengewicht im sozialen Nahraum fordert: Die Bewährung des christlichen Ethos im Gegenüber zum Way of life der kleinasiatischen Städte konstituiert geradezu die christliche Identität. Diese ortet der Verfasser im Bauwerk Gottes, an dem die Christusgläubigen als Bürger Anteil haben (2,19–22): Ihr seid also nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, ihr seid vielmehr Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes, aufgebaut auf dem Fundament der Apostel und Propheten – der Schlussstein ist Christus Jesus selbst. Durch ihn wird der ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn; durch ihn werdet auch ihr mit eingebaut in die Wohnung Gottes im Geist.

Es ist die Kirche, in der die aus dem Heidentum stammenden Christen (2,11a.12b) mit den „Heiligen“, d. h. den Judenchristen,46 zu einem „neuen Menschen“ zusammengeschlossen werden (2,15 f.; vgl. 4,24). Im Raum der Kirche selber, ausgespannt in kosmische Dimensionen, sind die Glaubenden aufgerufen, ihre Weltverantwortung wahrzunehmen (4,17–5,20), konkret wiederum im vorfindlichen Oikos, wie die Haustafel erweist (5,21–6,9). Das

45   Schwindt, R.: Das Weltbild des Epheserbriefes. Eine religionsgeschichtlich-exegetische Studie, WUNT 148, Tübingen 2002, gibt zu bedenken, dass Eph trotz seinem Nein zu Weltflucht und Weltverachtung (vgl. 360) aufgrund seiner „Ouranisierung des Christusgeschehens unter Einbindung der Ekklesia und der mythischen kosmischen Potenzen“ (521) in erheblichem Ausmaß dem „weltzerreißenden gnostischen Dualismus“ in die Hände gearbeitet hat (520–523). Zur Figur der Entgrenzung in Eph 2,14–18 vgl. Vollenweider: Urchristentum, 55–57. 46   Zur Deutung der „Heiligen“ auf die Judenchristen vgl. Sellin, G.: Der Brief an die Epheser, KEK 98, Göttingen 2008, 232 f.; zur Haus- und Tempelmetaphorik ebd. 234–236.



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‚Haus‘ im Nahbereich wird damit in die Architektur des Gottesbauwerks integriert.

6.  Schluss Ich formuliere vier schlichte Einsichten: 1. Das Urchristentum zeigt ein spannungsvolles Nebeneinander von weltzugewandten und weltdistanzierten Zügen. Es unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von zahlreichen anderen religiösen bzw. philosophischen Strömungen in der antiken Welt. 2. Die „Weltzuwendung“ greift auf vielen Ebenen. Sie reicht von der theologischen Affirmation des alttestamentlichen Schöpfungsglaubens über das Engagement in der Mission bis zur karitativen Praxis im sozialen Nahraum der Gemeinden. 3. Die „Weltdistanz“ formiert sich im Mythos, im Ritus und im Ethos der urchristlichen Religion. Sie bildet das mutmaßliche Gegengewicht zur „Weltzuwendung“. 4. Es hat den Anschein, dass die von Jesus bzw. dem Kyrios Christos bei seinen Anhängern provozierte Distanzierung von der Welt, konkret vom Lebensstil der mediterranen Städte, erst die Basis schafft, um eine neue Haltung der Weltzuwendung zu ermöglichen. Erst die Weltdistanz öffnet zur Weltzuwendung, und damit verbunden, zur Wahrnehmung der Welt als Schöpfung. Weltdistanz und Weltzuwendung stehen insofern nicht nur in einem komplementären, sondern sogar in einem konsekutiven Verhältnis. Schließen möchte ich mit einem Spruch aus den Erzählungen der osteuropäischen Chassidim. Er trägt in Martin Bubers Version den Titel „Die zwiefältige Welt“:47 Rabbi Baruch sprach einmal: ‚Was für eine gute und lichte Welt ist das doch, wenn man sich nicht an sie verliert, und was für eine finstere Welt ist das doch, wenn man sich an sie verliert!‘

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Weltflucht und Weltverantwortung im spätantiken Mönchtum nach der Historia Lausiaka des Palladios von Helenopolis Andreas Müller

1.  Einleitung Spätantikes Mönchtum wird in der Regel mit Weltflucht in Verbindung gebracht. Weltflüchtige Mönche haben sich nach der geläufigen Ansicht schon zur Zeit der Anfänge des christlichen Mönchtums aus dem Leben in der Welt zurückgezogen und somit der Verantwortung für dieselbe entzogen. Weltflucht des Mönchtums und Weltverantwortung werden dementsprechend üblicherweise als Gegensätze verstanden. Anachoresis, wie sie beim vermeintlichen Urvater der Mönche Antonius paradigmatisch geschildert wird, ist aber in spätantiken Berichten über Mönche keineswegs von der Weltverantwortung losgelöst. Vielmehr lassen sich in spätantiken Erzählungen über Mönche und auch Nonnen eine ausgeprägte Zuwendung zur Welt und eine Sorge für dieselbe feststellen.1 Dabei ist keineswegs nur an koinobitische Klöster zu denken, die z. B. in Ägypten in vielen Fällen die Getreideversorgung der Bevölkerung übernommen haben. Ferner ist keineswegs eine Fokussierung auf große diakonisch-karitative Einrichtungen wie die Basileias in Kaisareia oder die Xenodochien u. a. in Sebaste notwendig,2 um Züge von Weltverantwortung im frühchristlichen Mönchtum zu beobachten. Vielmehr lässt sich sogar bei Anachoreten und Semianachoreten die Tendenz beobachten, mit der vermeintlichen Flucht aus der Welt die Verantwortung für die Welt nicht aufzugeben. Diesem Phänomen werde ich im Folgenden anhand einer Sammlung von 1   Vgl. z. B. Moschos, Dimitrios: Eschatologie im ägyptischen Mönchtum. Die Rol­ le christlicher eschatologischer Denkvarianten in der Geschichte des frühen ägyp­tischen Mönchtums und seiner sozialen Funktion, STAC 59, Tübingen 2010, 227f. Moschos geht hier auch auf karitative Praktiken bei den Melitianern ein. – Für Hilfe bei der Fertigstellung des Manuskripts danke ich sehr herzlich meiner Hilfskraft Rieke Kruse. 2   Vgl. zur Basileias und dem Xenodocheion in Sebaste Müller, Andreas: „All das ist Zierde für den Ort ...“. Das diakonisch-karitative Großprojekt des Basileios von Kaisareia, ZAC 13, 2009, 452–474.

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Mönchsgeschichten nachgehen, die in der Regel als Historia Lausiaka (= h. Laus.) bezeichnet wird, aber auch die Titel Leben der Hl. Väter oder einfach nur Paradies trägt. Ich widme mich dieser Schrift, weil Kollege Gemeinhardt darum gebeten hat, die kleinasiatischen Aspekte des spätantiken Mönchtums vorzustellen. Zwar beschäftigt sich die Historia Lausiaka materialiter stark mit dem Mönchtum in Ägypten, ist aber in Kleinasien geschrieben und enthält auch Geschichten aus dem kleinasiatischen Umfeld. Weltverantwortung des Asketen wird in der Historia Lausiaka in vielfältiger Weise entfaltet. Dazu gehört – ganz nach dem Vorbild des Antonios3 – nicht nur die Beratung sogar von Kaisern (vgl. h. Laus. 35) und das missionarische Werben für ein asketisches Tugend-Ideal in der Welt,4 sondern vor allem auch die diakonisch-karitative Tätigkeit, die im Folgenden besonders fokussiert werden soll. Ich werde zunächst einleitend einige Bemerkungen zu der Schrift und ihrem Autor machen, bevor ich den verschiedenen Aspekten des Verhältnisses von Weltflucht und Weltverantwortung nachgehe. Anschließend wird die Frage zu stellen sein, warum in der Historia Lausiaka der Aspekt der Weltverantwortung so stark betont wird. Eben diese Frage, warum in einem monastischen Text des beginnenden 5.  Jahrhunderts Weltflucht und Weltverantwortung nicht voneinander getrennt werden, steht im Zentrum meines Beitrages.

2.  Einleitung zur Historia Lausiaka Die Historia Lausiaka ist in der von Cuthbert Butler edierten Form um 420 n. Chr. entstanden.5 Ihr Verfasser war zur Zeit der Abfassung Bischof in Aspona in der Galatia prima auf dem Weg von Ankyra nach Kaisareia. So unbekannt und unbedeutend diese Stadt in der galatischen Heimat des Palladios auch gewesen sein mag, pflegte ihr Bischof doch Kontakte zu hochgestellten Persönlichkeiten selbst in der Hauptstadt Konstantinopel. Diese Kontakte waren im Rahmen seiner Karriere als Mönch und auch als Bischof zustande gekommen. Für die Frage nach dem Sitz im Leben der Historia Lausiaka ist ein Blick auf einige Stationen der Biographie ihres Autors unumgänglich, die fast ausschließlich aus seinen Werken rekonstruiert werden müssen.6 Ich   Vgl. zuletzt Gemeinhardt, Peter: Antonius. Der erste Mönch. Leben – Lehre – Legende, München 2013, 81. 4   Vgl. Pall., h. Laus. 37 (The lausiac history of Palladius. The Greek text, ed. Cuthbert Butler, TaS 6,2, Cambridge 1904, 109,8 f.). 5  Vgl. Katos, Demetrios S.: Palladius of Helenopolis. The Origenist Advocate, The Oxford Early Christian Studies, Oxford 2011, 99. 6   Zur Biographie des Palladios vgl. Schwartz, Eduard: Palladiana, ZNW 36, 1937, 161– 3



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folge weitgehend der Rekonstruktion der Biographie von Cuthbert Butler.7 Geboren ca. 363/64 wurde Palladios mit 20 Jahren Mönch. Er begab sich nach Jerusalem, um dort auf dem Ölberg mit dem Asketen Innozenz drei Jahre gemeinsam zu verbringen. Aus dieser Zeit stammen seine ersten Kontakte zu den römischen Aristokraten, die auf dem Ölberg ansässig waren.8 Weitere Kontakte knüpfte er in Ägypten ab ca. 388 n. Chr. Dort lernte er nach einiger Zeit in Alexandreia und der Nitria das Wüstenmönchtum in den Kellia kennen. Kontakte zu prägenden Mönchsvätern und Theologen wie insbesondere Evagrios Pontikos9 und Didymos dem Blinden stammen aus dieser Zeit. Nach dem Tod des Evagrios verließ er Ägypten und begab sich über das Heilige Land, wo er u. a. die Kontakte zu Rufin und Melania vertiefte, nach Kleinasien zurück.10 Seine Geschichte war hier eng verbunden mit dem Schicksal der sogenannten Langen Brüder, origenistisch orientierter Mönche, die wegen Auseinandersetzungen mit dem alexandrinischen Erzbischof Theophilos ebenfalls über Palästina nach Konstantinopel flohen. Auf Vorschlag des konstantinopolitanischen Erzbischofs Johannes Chrysostomos (ca. 349 –407) wurde Palladios um 400 zum Bischof von Helenopolis in Bithynien geweiht. Als Parteigänger von Johannes nahm er nicht nur an der Eichensynode bei Chalkedon im Jahr 403 teil, sondern verwendete sich nach der Amtsenthebung des Erzbischofs für diesen bei Innozenz I. und Kaiser Honorius in Rom. Palladios selbst war durch die Eichensynode als Origenist verurteilt worden. Als er mit einer Delegation zur Rehabilitierung des Chrysostomos 406 nach Konstantinopel zog, wurde er als dessen Parteigänger inhaftiert und schließlich nach Syene in Oberägypten verbannt. Nach dem Tod des Johannes verfasste er um 408 eine biographische Apologie auf denselben. Mit der Rehabilitierung des Johannes Chrysostomos durfte Palladios 412 oder 413 nach Kleinasien zurückkehren. Nach Aufenthalten u. a. in Ankyra wurde er möglicherweise11 417 als Bischof nach Aspona in seiner galatischen Heimat versetzt,12 wo er vor 431 gestorben ist. Seine bewegte Biographie macht deutlich, wie stark 204; Häuptli, Bruno W.: Art. Palladios von Helenopolis, BBKL 24, Ergänzungen 6, 2005, 1149–1154; zuletzt ausführlich Katos: Palladius. 7   Zu Butlers Rekonstruktion der Biographie des Palladios vgl. zuletzt Katos: Palladius, 11, Anm. 5. 8   Vgl. Pall., h. Laus. 44, (131,3 B.). 9   Zur Beeinflussung der h. Laus. durch Evagrios vgl. u. a. Draguet, René: L’Histoire Lausiaque. Une oeuvre écrite dans l’esprit d’Évagre, RHE 41, 1946, 321–364, ferner Bousset, Wilhelm: Komposition und Charakter der Historia Lausiaca, NGWG.PH, Berlin 1917, 173–217, hier 174–176; Hunt, E. D.: Palladius of Helenopolis. A Party and its Supporters in the Church of the Late Fourth Century, JThS 24, 1973, 456–480, hier 467 f. 10   Vgl. zu Melania und deren Beziehung zu Palladios u. a. den Überblick bei Fisher, Arthur L.: Women and Gender in Palladius’ Lausiac History, StMon 33, 1991, 23–50, hier 29 f. 11   Unsicherheit im Blick auf das Datum der Einsetzung des Palladios in Aspona signalisiert Katos: Palladius, 99. 12   Vgl. Sokr., h.e. VII 36,15.

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Palladios nicht nur mit der Geschichte des christlichen Mönchtums verwoben war, sondern auch kirchenpolitisch an entscheidenden Ereignissen insbesondere im 5. Jahrhundert mitgewirkt hat. Die Historia Lausiaka ist vor dem Hintergrund dieser Biographie entstanden. Einerseits gab Palladios viele persönlich gesammelte Informationen wieder, andererseits wurde er dazu von dem kaiserlichen Eunuchen und Kämmerer Lausos aufgefordert, den Palladios vielleicht schon zu Beginn seines Aufenthaltes in Ägypten kennen gelernt hatte.13 Bis heute nicht endgültig geklärt sind die Fragen nach der Überlieferungsgeschichte. Der äußerst beliebte Text ist häufig durch Interpolationen und Kontaminationen mit anderen monastischen Traditionen verändert worden. Neben den von Cuthbert Butler herausgegebenen griechischen Handschriften edierte René Draguet syrische Varianten.14 Einige davon stimmen mit zwei griechischen Rezensionen des Textes überein, die entscheidend von der Butlerschen Edition abweichen.15 Auch nur im Syrischen existierende Rezensionen wurden von Draguet ediert.16 Die in der Patrologia Latina herausgegebene lateinische Übersetzung ist neuzeitlich17 und mit der angeblich von Timotheos von Alexandreia verfassten Historia Monachorum kontaminiert. Die wohl bereits aus dem 5. Jahrhundert stammende lateinische Übersetzung,18 die in etwa der griechischen Kurzfassung der Historia bei Butler entspricht, ist von Adelheid Wellhausen in ihrer Göttinger Dissertation 13  Vgl. Katos: Palladius, 100. Nach seiner eigenen Aussage hat Palladios Lausos demnach schon um 391 in Ägypten kennengelernt. Katos tendiert aber eher zu einer späteren Datierung der ersten Begegnung, nämlich nach der Rückkehr des Palladios in die Galatia oder nach der Einsetzung ins Bischofsamt von Aspona. Eine derartige Spätdatierung gegen die eigene Aussage des Verfassers der h. Laus. scheint mir nicht zwingend zu sein. 14   Draguet, René (Hrsg.): Les formes syriaques de la matière de l’ Histoire lausiaque. I. Les manuscrits. Édition des pièces liminaires et des ch. 1–19, CSCO 389 Syr. 169, Louvain 1978; Draguet, René: (Hrsg.): Les formes syriaques de la matière de lʾHistoire lausiaque. II. Édition des des ch. 20 – 71. Epilogue [72–73], CSCO 398 Syr. 173, Louvain 1978. 15   Es handelt sich um die Rezensionen B und G, vgl. hierzu zuletzt Nickau, Klaus: Eine Historia Lausiaca ohne Lausos. Überlegungen zur Hypothese von René Draguet über den Ursprung der Historia Lausiaca, ZAC 5, 2001, 131–139. 16   Vgl. a. hierzu Nickau: Historia Lausiaca, der für die Rezensionen R1 und R2, die sich an eine weibliche Person als Adressaten richten, entweder eine potentielle erste griechische Auflage oder einen koptischen Text als Vorlage vermutet. Dieser hätte bereits eine Umarbeitung des griechischen Textes für ein koptisches Publikum dargestellt. Weitere Hypothesen zu einem monobiblon des Palladios, das auch in die koptische Tradition nachgewirkt hat und als Grundlage für die Ausarbeitung der h. Laus. diente, finden sich bei Bunge, Gabriel: Palladiana I. Introduction aux fragments coptes de l’histoire Lausiaque, StMon 32, 1990, 79–129. Vgl. hierzu zusammenfassend Katos: Palladius, 102 f., Anm. 23. 17   Sie stammt aus der Feder des Gentianus Hervetus (1499–1584), vgl. Wellhausen, Adelheid: Die lateinische Übersetzung der Historia Lausiaca des Palladius. Textausgabe mit Einleitung, PTS 51, Berlin/New York 2003, 53–59. 18   Zur Datierung vgl. Wellhausen: Übersetzung, 470 u. a.



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hervorragend ediert. Außerdem existieren Übersetzungen in armenischer, georgischer, koptischer,19 äthiopischer, arabischer und palaeo-slawischer Sprache, die allesamt von der Popularität des Werkes zeugen. Die Historia Lausiaka ist unter verschiedensten Fragestellungen untersucht worden. Neben den philologischen,20 literaturhistorischen und religionsgeschichtlichen Fragestellungen, die u. a. in Göttingen von Richard Reitzenstein21 und Klaus Nickau22 verfolgt worden sind,23 interessierte sich z. B. Eduard Schwartz für die Historia Lausiaka insbesondere im Rahmen der Auseinandersetzung über den Origenismus um die Wende zum 5. Jahrhundert. Dabei fokussierte er die Lebensdaten des Palladios.24 Selbst im Blick auf die Rolle von Frauen in spätantiken Asketenkreisen hat die Historia Lausiaka interessantes Material zu bieten, was die Ausführungen von Anne Jensen besonders unterstrichen haben.25 Während die Schrift des Palladios lange Zeit vornehmlich als Quelle für die Geschichte des altkirchlichen Mönchtums gelesen wurde,26 ist in den letzten Jahren vermehrt die Frage nach Intention und Funktion der Schrift des Palladios gestellt worden, also gerade auch die 19   Vgl. hierzu auch Bunge: Palladiana I; Vogüé, Adalbert De: Palladiana II. La version copte de l’Histoire Lausique. I. Le Prologue et la Vie de Pambo, StMon 32, 1990, 323–340; Bunge, Gabriel / Vogüé, Adalbert De (Hrsgg.): Palladiana III. La version copte de l’Histoire Lausique. II. La Vie d’Évagre, StMon 33, 1991, 7–22; Amélineau, Émile: De Historia Lausiaca. Quaenam sit hujus ad monachorum Aegyptiorum historiam scribendam utilitas, Paris 1887; Chaîne Marius: La double recension de l’Histoire Lausiaque dans la version copte, ROC 25, 1925 f., 232–275. 20   Vgl. u. a. Linnér, Sture: Syntaktische und lexikalische Studien zur Historia Lausiaca des Palladios, UUÅ 1943:2, Uppsala/Leipzig 1943. 21  Vgl. Reitzenstein, Richard: Historia Monachorum und Historia Lausiaca. Eine Studie zur Geschichte des Mönchtums und der frühchristlichen Begriffe Gnostiker und Pneumatiker, FRLANT NS 7, Göttingen 1916. Die Studien von Reitzenstein hat Bousset: Komposition, 173–217 fortgeführt. Er hat besonders untersucht, wie Palladios mit Quellenmaterial umgegangen ist. 22  Vgl. Nickau: Historia Lausiaca. 23   Auch sprachwissenschaftliche Studien sind zur h. Laus. durchgeführt worden, vgl. Linnér: Syntaktische und lexikalische Studien. 24  Vgl. Schwartz: Palladiana. Eine kirchenpolitische Einordnung der h. Laus. unternimmt auch Hunt: Palladius. 25  Vgl. Jensen, Anne: Frauen in der Asketengeschichte „Das Paradies“ von Palladios (Historia Lausiaca), EuA 77, 2001, 99–116; Vgl. ferner Heine, Marie: Die Spiritualität von Asketinnen. Von den Wüstenmüttern zum städtischen Asketinnentum im östlichen Mittelmeerraum und in Rom vom 3. bis zum 5. Jahrhundert, Theologie der Spiritualität 13, Berlin 2008, 114 ff.; Fisher: Women and Gender. 26   Vgl. etwa die Ausführungen von Bousset: Komposition, 187; Chitty, Derwas James: The desert a city. An introduction to the study of Egyptian and Palestinian monasticism under the Christian Empire, Chrestwood / New York 1977., 12; 15 f.; 21 f.; 24 f.; 29–31; 33; 39; 41–45; 50–53 (Biographie des Palladios); 59 f.; 62–64; 67 f.; 70 f. Zur kritischen Beurteilung der historischen Glaubwürdigkeit des Palladios, vgl. die Übersicht bei Wellhausen: Übersetzung, 39 f.

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Frage nach dem Sitz im Leben des Textes. So hat Claudia Rapp die Historia Lausiaka mit Blick auf die Intentionen des Verfassers und seines Auftraggebers interpretiert. Lausos habe die Abfassung des Textes veranlasst, um eine Versöhnung zwischen konstantinopolitanischen Kreisen im Umfeld des Kaiserpalastes und Parteigängern des Johannes Chrysostomos zu bewirken.27 Palladios wiederum habe sich darum bemüht, eine Definition des Mönchtums zu propagieren, das zwischen seinem eigenen frühen, um spirituelle Perfektion bemühten Evagrianismus und den asketischen Praktiken in Konstantinopel vermittelte.28 Die Frage nach der Intention stellt sich auch im Blick auf die starke Betonung diakonisch-karitativen Engagements der Asketen durch Palladios. Bevor wir uns ihr stellen, gehen wir zunächst einmal den einzelnen Aspekten von Wohltätigkeit in der Historia Lausiaka nach.

3.  Aspekte von Weltverantwortung in der Historia Lausiaka Der Aspekt der Weltverantwortung hat bei der Analyse der Historia Lausiaka bisher wenig Beachtung erfahren. Asketinnen und Asketen haben sich nach Palladios aber nicht nur gegenseitig unterstützt,29 sondern auch über ihre Asketenkreise hinaus in die Welt hinein gewirkt. Der Gründer des koinobitischen Mönchtums Pachomios wird dementsprechend als φιλ­άνθρωπος und φιλάδελφος zugleich charakterisiert.30 Gerade dieser Aspekt der Philanthropie ist in der Schrift des Palladios noch stärker betont als in anderen Mönchs­ erzählungen der Spätantike.

27  Vgl. Rapp, Claudia: Palladius, Lausus and the Historia Lausiaca, in: Novum Millennium. Studies in Byzantine History and Culture. FS Paul Speck, hg. von Claudia Sode / Sarolta Takács, Aldershot u. a. 2001, 279–289, hier 279: „… I will highlight the importance of Lausus as Palladius’s (sic) literary patron and then examine Palladius’ response in formulating a spiritual idea specifically tailored to Lausus’ situation.“ Ferner a.a.O., 282: „The commissioning of Palladius to write his monastic memoirs, which were completed in 420, must be understood in the larger policy of reconciliation with the Johannites.“ Außerdem a.a.O., 284: „Lausus’ intention in commissioning the Historia Lausiaca was to generate an instrument of reconciliation with a prominent advocate of John Chrysostom’s cause.“ Vgl. zur Intention des Palladios in ähnlicher Weise auch Frank, Georgia: The Memory of the Eyes. Pilgrims to Living Saints in Christian Late Antiquity, The Transformation of the Classical Heritage 30, Berkeley / Los Angeles / London 2000, 68 f. 28  Vgl. Rapp: Palladius, 285. 29   Vgl. z. B. Pall., h. Laus. 13 (37,1–3 B.) zu den Diensten des Apollonios an Kranken. Moses der Räuber versorgte heimlich die ältesten und strengsten Asketen mit Wasser, vgl. Pall., h. Laus. 19 (61,9–14 B.). 30   Vgl. Pall., h. Laus. 32 (88,3 f. B.).



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3.1.  Asketen als Verteiler von Gaben Asketen31 und Asketengemeinschaften erwirtschafteten selber Besitz, um aus diesem zu verteilen. Paradigmatisch dafür stehen die Pachomianerklöster. So berichtet Palladios über das Kloster in Panopolis, in dem nach seinen Angaben 300 Mönche gelebt haben: [In diesem Kloster bemerkte ich fünfzehn Schneider, sieben Schmiede, vier Zimmerleute, zwölf Kameltreiber und fünfzehn Walker.] Sie betrieben jede Art von Handwerk, und mit dem, was ihnen übrigbleibt, sorgen sie für den Unterhalt von Frauenklöstern und Gefängnissen.32

Die Asketen gaben keineswegs nur von ihrem eigenen Besitz. Vielmehr berichtet Palladios auch davon, dass sie empfangene Gaben weiterleiteten.33 Dabei berücksichtigten sie keineswegs immer in erster Linie die eigene Umgebung. So bestimmte z. B. Pambo, der immerhin über einen eigenen Verwalter (οἰκονόμος) verfügte,34 die Gaben der Melania an die Klöster in Libyen und auf den Inseln zu verteilen, weil diese bedürftiger als die Mönche Ägyptens seien.35 Gerade ihre Weltflucht hat die Asketen dazu prädestiniert, Gaben zur Verteilung zu erhalten. Bei ihnen wussten die Geber sie in guten Händen. Erzählungen wie die über Pambo machen deutlich, dass die selber an dem Geld nicht interessierten Mönche dieses verantwortungsvoll weiterleiteten. Andere Mönche delegierten dementsprechend die Aufgabe des Verteilens an solche Brüder, die besser wissen, Gelder ohne Schaden zu verwalten und zum Nutzen der Armen zu verteilen.36 Dass Missbrauch von Gütern im Mönchtum kaum möglich sei, thematisierte Palladios ebenfalls. In der Erzählung von Makarios dem Ägypter wird ein Anrecht der Bedürftigen auf Almosen erwähnt. Der Schüler des Makarios namens Johannes wurde mit Krankheit gestraft, weil er aus Habsucht die Armen um diese Unterstützung betrogen hatte.37

  Vgl. z. B. Philoromos, der zweihundert Goldstücke durch Handarbeit erworben und den Krüppeln geschenkt hatte, Pall., h. Laus. 45 (133,16–19 B.). 32   Pall., h. Laus. 32, tr. Laager, Jacques: Palladius. Historia Lausiaca. Die frühen Heiligen in der Wüste, Zürich 1987, 165. 33   Vgl. die Aufforderung zur Versorgung der Armen z. B. Pall., h. Laus. 37 (110,15 f. B.). 34   Vgl. ähnlich auch Evagrios nach der koptischen Vita h. Laus. 38, tr. Bunge /Vogüé: Palladiana III, 14; 17. Auch in der koptischen Vita des Pambo finden sich ähnliche Angaben, vgl. Vogüé: Palladiana II, bes. 337 f. 35   Vgl. Pall., h. Laus. 10 (30,11–14 B.). 36   So der Priester Dorotheos, der von Melania der Jüngeren mit fünfhundert Goldstücken beschenkt wurde, vgl. Pall., h. Laus. 58 (152,1–3 B.). Er stellt zu seinem Mitbruder Diokles fest: δύναται αὐτὰ (scil. das Geld) ἀβλαβῶς διοικῆσαι, ἐπιστάμενος τοὺς ὀφείλοντας ἐπικουρηζῆναι εὐλόγως. 37   Vgl. Pall., h. Laus. 17 (44,18 B.): ἠλεφαντίασε νοσφισάμενος τὰ τῶν πτωχῶν. 31

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In manchen Fällen führte das Mitleid mit den Armen zu absurden Formen: Abbas Innozenz bestahl sogar seine Mitbrüder, um den Bedürftigen etwas geben zu können.38 3.2.  Institutionen für Fremde und Bedürftige Sorge um Bedürftige wurde auch im größeren Rahmen durchgeführt. Im Kapitel 7 über die Klöster in der Nitria berichtet Palladios erstmals über größere Institutionen, die gemeinsam von den Asketen zugunsten Bedürftiger betrieben wurden. In diesem Fall ist von einem Hospiz (ξενο­δοχεῖον) für Fremde die Rede, in dem diese selbst zwei oder drei Jahre Aufnahme finden konnten.39 Die Fremden wurden allerdings zur Arbeit im Garten, in der Küche oder in der Bäckerei eingesetzt.40 Asketen haben sich in Krisenzeiten sogar aktiv in die Welt begeben und größere Institutionen aufgebaut, um zur Linderung der Not beizutragen. Palladios berichtet von Ephraim dem Syrer, der sich aus der „stillen Lebensweise“ (τὸν ἥσυχον βίον) nach Edessa begab. Wörtlich heißt es im Kapitel 40 der h. Laus.: Als eine große Hungersnot über die Stadt Edessa gekommen war, jammerte ihn (scil. Ephraim) des ganzen Landes, das dahinsiechte, und so ging er zu denen, die in materiellem Überfluß standen, und sprach zu ihnen: ‚Warum habt ihr kein Erbarmen mit der dahinsiechenden menschlichen Natur, sondern laßt zur Verdammnis eurer Seelen euren Reichtum verfaulen?‘ Nach einiger Überlegung antworteten sie ihm: ‚Wir haben niemanden, dem wir unser Vertrauen schenken könnten, um den Hungernden Hilfe zu leisten (gr. Οὐκ ἔχομεν τίνι πιστεύσομεν πρὸς τὸ διακονῆσαι τοῖς λιμώττουσι), denn alle versuchen mit der gegenwärtigen Lage Geschäfte zu machen!‘ Da sagte er ihnen: ‚Und was denkt ihr von mir?‘ Er stand aber bei allen in großem Ansehen, das nicht auf Täuschung, sondern auf Wahrheit beruhte. Sie antworteten ihm: ‚Wir wissen, daß Du ein Mann Gottes bist!‘ Und er sagte: ‚So schenkt mir denn Vertrauen! Euretwegen also will ich mich selbst zum Betreuer (gr. ξενοδόχον) der Bedürftigen ernennen!‘ Und nachdem er die Geldmittel erhalten hatte, unterteilte er die Säulenhallen (τοὺς ἐμβόλους) mit Trennwänden, stellte an die dreihundert Betten hinein und sorgte sich um die Ausgehungerten, begrub die Toten und pflegte die, die noch Hoffnung auf Leben haben konnten, kurz, aus den ihm zur Verfügung gestellten Mitteln gewährte er Tag für Tag allen, die der Hungersnot wegen herbeikamen, gastliche Aufnahme und Hilfe. – Als   Vgl. Pall., h. Laus. 44 (131,13–16 B.).   Vgl. Pall., h. Laus. 7 (25,20–23 B.). 40   Um fremde Pilger kümmerten sich auch Melania die Ältere und Rufin auf dem Ölberg bei Jerusalem, vgl. Pall., h. Laus. 46 (136,4–7 B.); ferner Pall., h. Laus. 54 (146,7–9 B.). In ähnlicher Weise unterstützte Magna Fremdenhospize, Arme und umherziehende Bischöfe (ξενοδοχείοις καὶ πτωχοῖς καὶ διοδεύουσιν ἐπισκόποις) in Ankyra mit allem, was sie selber zum Leben nicht brauchte, vgl. Pall., h. Laus. 67 (163,20–24 B.). Sie setzte für ihre Hilfsmaßnahmen auch ihre Diener ein. Fremde wurden aber auch von Einsiedlern, die selber arm waren, gastlich aufgenommen. In diesem Fall dient ein solches Verhalten auch dem Beschämen der Reichen, vgl. Sisinnios nach Pall., h. Laus. 49 (144,5–7 B.). 38 39



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das Jahr vorüber war und in der Folge wieder Überfluß eintrat, zogen alle nach Hause. Da er nun nichts mehr zu tun hatte, kehrte er in seine Zelle zurück, und nach einem Monat verschied er.41

Ephraim übernahm hier – einem Patron gleich – öffentliche Aufgaben, allerdings nur während der Zeit der Not. Er richtete dabei mit Hilfe der Stadtaristokratie eine vorübergehende größere Institution ein. Seine asketische Grundhaltung, seine Eigenschaft als „Mann Gottes“, qualifizierte ihn besonders für diese Aufgabe. Gerade die um Distanz zur Welt bemühte Askese befähigte den Edessener für die Übernahme von diakonisch-karitativem Handeln. Diese Dialektik ist auch nach anderen Stellen der h. Laus. für die besondere Rolle des Mönchtums in der Welt charakteristisch. 3.3.  Der Asket als Anwalt Von der besonderen Rolle des Asketen in der Welt zeugt auch die Erzählung von einem anonymen Mönch aus Ankyra, der seine Priesterweihe verweigert hatte: Er verweilt beim Bischof der Stadt und ist von solcher Menschenliebe und Barmherzigkeit (φιλάνθρωπος καὶ ἐλεήμων) erfüllt, daß er auch des Nachts umhergeht und denen mitleidig beisteht, die der Hilfe bedürfen. Weder Gefängnis noch Spital (νοσοκομεῖον), weder Arme noch Reiche lässt er außer acht, sondern gewährt allen Hilfe (πᾶσιν ἐπικουρεῖ): Zu den einen, die unbarmherzig sind, spricht er von Barmherzigkeit, andern gewährt er Schutz (τῶν δὲ προιστά­μενος); die einen söhnt er aus, und bei anderen sorgt er für die Bedürfnisse des Leibes und für ihre Kleidung. … Sich in ein Buch zu vertiefen ist ihm unmöglich, vertreibt ihn doch seine Liebe zu den Menschen (φιλανθρωπία) von jeglichem Lesen.42

Der Anonymus, der in diesem Fall im kirchlichen Rahmen arbeitete, vermochte nicht nur in besonderer Weise materiell für die Bedürftigen zu sorgen. Er hatte auch explizit eine vermittelnde Tätigkeit, die wiederum der Aufgabe von Patronen in der römischen Gesellschaft nahe kam. 3.4.  Asketen als Wunderheiler Sorge für Bedürftige fand nach der h. Laus. – ähnlich wie in der Vita Antonii – auch durch Heilungen statt. Heilungen wurden nicht in Form von medizinischen Einsätzen, sondern in einer für einen nach historischen Berichten über das frühe Mönchtum suchenden Leser kaum nachzuvollziehenden Art und Weise in Form von Wundern vollzogen. Selbst postum vermochten die Asketen noch Wunder zu wirken. So berichtet Palladios von Wunderheilungen für Fieberkranke am Grab Ammonios des Langen in der Rufiniani41 42

  Pall., h. Laus. 40 (126,8–127,11 B.), tr. Laager: Palladius, 212–214.   Pall., h. Laus. 68 (163,28–164,5; 164,16 f. B.), tr. Laager: Palladius, 292–294.

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schen Märtyrerkirche in Konstantinopel.43 Der Asket Benjamin heilte schon zu Lebzeiten in der Nitria durch Handauflegung oder Ölsalbung alle Arten von Krankheit, sogar als er bereits selber krank war.44 Ähnliches gilt von Makarios dem Ägypter, der sogar einen eigenen Diener (ὑπηρέτης) brauchte „wegen der vielen Leute, die kamen, um geheilt zu werden“.45 Die Frage nach der historischen Zuverlässigkeit dieser Berichte zu stellen ist müßig. Es soll in ihnen vielmehr darum gehen, die besonderen Fähigkeiten der Asketen zur Heilsvermittlung zu unterstreichen. Da sie als Weltflüchtige eben nicht mehr von der Welt waren, vermochten sie in der Welt mit den „jenseitigen“ Kräften zu wirken. Den Lesern der h. Laus. wurde somit vor Augen geführt, dass Asketinnen und Asketen in besonderer Weise geeignet sind, wohltätig zu sein. Im Weiteren stellt sich die Frage, was die Weltflüchtigen selber überhaupt dazu motivierte, sich für die Welt verantwortlich zu fühlen. Eng verbunden damit ist die Frage, warum „Weltmenschen“ die Weltflüchtigen in ihrer Weltverantwortung überhaupt unterstützen sollten. 3.5.  Zu den Motivationen der Wohlfahrt Askese wie Wohlfahrt verfolgen in erster Linie das Ziel, die eigene Seele zu gewinnen. Ein Asket, der wohltätig handelt, wird wie ein Märtyrer bekrönt.46 Dies wird in bemerkenswerter Weise in der Erzählung über Paisios und Isaias veranschaulicht.47 Zwei Brüder entschlossen sich nach dieser Geschichte, das reiche Erbe ihres Vaters für ihr Seelenheil einzusetzen und Mönche zu werden.48 Der eine wählte den Weg der radikalen Askese, entäußerte das gesamte Erbe zugunsten von Kirchen, Klöstern und Gefängnissen und verdiente sich sein Brot durch eigener Hände Arbeit. Der andere hingegen baute mit dem   Vgl. Pall., h. Laus. 11 (34,15 f. B.).   Vgl. Pall., h. Laus. 12 (35,2–5; 36,6 f. B.). 45   Vgl. Pall., h. Laus. 17 (44,5 f. B.). Von Heilungen ist auch bei Makarios dem Ägypter die Rede: Er heilte einen besessenen Jüngling, vgl. Pall., h. Laus. 17 (47,1–17 B.). Makarios der Alexandriner heilte Besessene und Gelähmte, vgl. Pall., h. Laus. 18 (51,17–20;  54,22– 55,7 B.). Die gelähmte Jungfrau, von der hier die Rede ist, kam sogar aus Thessaloniki. Ausführlich wird die Heilung eines sündigen Priesters durch denselben Makarios beschrieben, vgl. Pall., h. Laus. 18 (54,3–21 B.). Makarios dachte sogar durch Ehrgeiz getrieben darüber nach, für Krankenheilungen nach Rom (τὴν ῾Ρωμαίων) zu reisen, vgl. Pall., h. Laus. 18 (54,8–11 B.). Paulos der Einfache trieb böse Geister aus und heilte Kranke, vgl. Pall., h. Laus. 22 (73,8 f. B.). Julian erhielt am Lebensende die Gabe der Krankenheilung, vgl. Pall., h. Laus. 42 (129,18 f. B.). 46   Vgl. die die Auszeichnung Ephraims des Syrers mit dem Siegeskranz (στέφανος) in Pall., h. Laus. 40 (127,12 B.). 47   Vgl. Pall., h. Laus. 14 (37–39 B.). 48   Vgl. Pall., h. Laus. 14 (37,22 f. B.). 43 44



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Erbe ein Kloster, in dem er nicht nur andere Brüder, sondern auch Fremdlinge, Kranke, Alte und Arme aufnahm und versorgte. Er setzte seinen Reichtum also unmittelbar für sich und andere ein. Nach dem Tod der beiden ergab sich eine Diskussion darüber, welcher von beiden vollkommener gewesen sei, der Asket oder der Wohltäter. Abbas Pambo setzte diesen mit Abraham, jenen mit Elia gleich und beurteilte beide Wege als gleichwertig.49 Mit dieser Erzählung stellte Palladios die vita contemplativa und die asketische vita activa bewusst nebeneinander: beide seien Wege ins Paradies.50 Wohlfahrt gegenüber Bedürftigen hatte also nicht nur diese selber zum Ziel, sondern galt auch als eine Möglichkeit, Seelenheil zu erlangen. In einer ähnlichen Richtung machte Pambo Melania deutlich, dass sie ihre Gaben nicht den Mönchen zur Verfügung stellt, sondern vielmehr Gott selber schenkt.51 Bemerkungen wie diese sind im Sinne von Mt 25 zu interpretieren: Die Zuwendung zum Bedürftigen galt – wie insbesondere von Basileios von Kaisareia unterstrichen – als Zuwendung zu Gott. In derselben Erzählung betont Pambo, dass Melania von Gott den entsprechenden Lohn zu erwarten habe.52 In einer anderen Erzählung betont Pambo in diesem Sinne, dass derjenige, der die Fremden aufnahm (ἀναπαύων!), selber mit Aufnahme rechnen könne.53 Auch in der Erzählung von Eulogios und einem Krüppel wird die Motivation zur Sorge um Bedürftige thematisiert. Eulogios nahm demnach einen Krüppel vom Marktplatz in sein Kellion mit und schloss dabei im Gebet einen Vertrag mit Gott: „Herr, in deinem Namen will ich diesen Krüppel aufnehmen und bis zu seinem Tod pflegen, damit auch ich durch ihn gerettet werde (ἵνα διὰ τούτου κἀγὼ σωθῶ)! Gib mir die Gnade, in seinem Dienste zu

49   Die Gegenüberstellung mit dem Leben Abrahams, des Moses, des Elias und des Johannes findet sich auch bereits im Prolog von Pall., h. Laus. (11,20 f. B.). 50   Vgl. Pall., h. Laus. 14 (37–39 B.). Reitzenstein: Historia, 47 sieht ebenfalls zwei unterschiedliche Formen von Askese in der Erzählung präsent: „In Wahrheit wird eine ältere und eine jüngere Form der Enthaltsamkeit miteinander verglichen. Die ältere beschränkt sich auf die sexuelle Askese, gestattet aber sonst ein Leben in der Welt, die jüngere verlangt den Verzicht auf eigenen Besitz und die κόποι in Hunger und Durst. Diese Art Asketen erhebt gegenüber den Weltchristen, auch solchen, die ehelos leben, den Anspruch, einen höheren Stand zu bilden: sie allein sind vollkommen, führen das prophetische Leben und üben die Nachfolge Christi genau nach dem Worte des Evangeliums. Diesem Anspruch tritt die moralische Novelle entgegen.“ Für Draguet: Histoire, 356 liegen der Erzählung evagrianische Gedanken zugrunde. Auch Evagrios habe unterschiedliche Wege zur ἀνάπαυσις πνευματική gesehen. Unter dem Paradies sei bei Evagrios der spirituelle Ort des Gnostikers verstanden. Die ausführlichere koptische Variante über das Leben des Evagrios h. Laus. 38 findet sich in Übersetzung bei Bunge / Vogüé: Palladiana III, 7–21. 51   Vgl. Pall., h. Laus. 10 (30,21–23 B.). 52   Vgl. Pall., h. Laus. 10 (30,11 B.). 53   Vgl. Pall., h. Laus. 14 (39,4 f. B.).

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verharren!“54 Die Sorge um den Bedürftigen hat also gleichsam eine soteriologische Funktion. In der Erzählung wird diese Funktion im Folgenden pro­ blematisiert. Der Krüppel wurde krank und von Eulogios aufopfernd gepflegt. Anstatt ihm dies zu danken, wurde er zunehmend aggressiv gegenüber dem Asketen und klagte ihn an, durch die Wohlfahrt Heil verdienen zu wollen. Schließlich wurde die Sache vor Abbas Antonios gebracht, der den Krüppel zurechtwies. Er machte deutlich, dass durch Eulogios Christus selbst ihn umsorgt habe. Um Christi willen habe Eulogios seinen Dienst übernommen.55 In der Erzählung über Eulogios klingt bereits ein Motiv an, das sich auch sonst in der Historia Lausiaka wiederfindet: Wohltätiges Handeln wird von Palladios auch als Bußhandeln vorgestellt. So büßte z. B. eine namenlose Asketin für ihren Geschlechtsverkehr mit einem Psalmensänger nicht nur durch harte Askese, sondern auch durch die Zuwendung zu Kranken und Krüppeln. Dadurch sei ihr Gottes Gnade in besonderem Maße zugefallen.56 Palladios führt nicht nur positiv zu wertende Motivationen von Wohlfahrt an. Er tadelt vielmehr auch falsche Vorsätze und verkehrte Formen der Durchführung von Almosen: So kommt es oft vor, daß ein Zügelloser in verdorbener Absicht und im Hinblick auf ein schimpfliches Ziel jüngeren Frauen ein Almosen gibt – und dabei ist doch die Tatsache, daß er einer Waise, einer Verlassenen oder einer Asketin Hilfe zukommen läßt, gewiß eine lobenswerte Handlung! – Es kommt aber auch vor, daß man in richtiger Absicht Kranken, Alten und Verarmten ein Almosen gibt, jedoch mit Murren und in geiziger Weise. Hier ist die Absicht zwar richtig, die Ausführung jedoch unwürdig. Denn wer Erbarmen zeigt, soll dies heiter und freigebig tun.57

In der Regel ist Weltverantwortung nach der h. Laus. hingegen positiv motiviert. Eine enge Verbindung zwischen Weltverantwortung und Weltflucht wird dementsprechend nicht nur von Asketen im engeren Sinn berichtet. Gerade der Verzicht auf Reichtum zugunsten Bedürftiger ist ein wichtiges Thema des Palladios, dem wir uns den Überblick abschließend noch zuwenden wollen.

  Pall., h. Laus. 21 (64,17–21 B.), tr. Laager: Palladius, 116.   Vgl. Pall., h. Laus. 21 (67,20–68,1 B.). 56   Vgl. Pall., h. Laus. 69. In der syrischen Rezension kann Dienst an den Kranken und Armen auch als Demuts- und Bußübung eines bis dahin hochmütigen Mönches verstanden werden, vgl. Bousset: Komposition, 213. 57   Pall., h. Laus. 47, tr. Laager, Palladius, 236 f. Das Problem des Missbrauches von Almosen gegenüber hilfsbedürftigen Frauen wird auch in der syrischen Fassung der h. Laus. thematisiert, vgl. Bousset: Komposition, 210. 54 55



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3.6.  Verzicht auf Reichtum insbesondere bei Frauen An mehreren Stellen in der Historia Lausiaka wird betont, dass die Asketen über großen Reichtum und viele Güter verfügten bzw. verfügt hatten.58 Schon in seiner ersten Erzählung über den Priester Isidor aus Alexandrien berichtet Palladios davon (h. Laus. 1). Dieser habe allerdings nicht einmal zugunsten seiner Schwestern ein Testament verfasst und auch kein Geld hinterlassen, was wohl in dem Sinne zu verstehen ist, dass Isidor seine gesamte Habe den Bedürftigen zur Verfügung gestellt hat. Neben der Feststellung, dass es durchaus Reichtum unter den Asketen gab, wird so zugleich deren innere Distanz von demselben hervorgehoben. Innere Distanz oder gar Reichtumsverzicht hebt Palladios besonders bei reichen, oft aristokratischen Frauen hervor.59 Veneria, die Tochter des comes Vallovicus, habe z. B. auf die Last des Reichtums verzichtet und ihren Besitz verteilt. Dadurch habe sie sich den Wunden entzogen, die die Materie zufügt.60 Geradezu panegyrisch beschreibt Palladios den materiellen Einsatz Melanias der Älteren, die ihm persönlich über Jahre nahe gestanden hat. In Kapitel 46 konstatiert er die Unterstützung u. a. von verfolgten Klerikern durch den Erlös aus dem Verkauf ihrer beweglichen Habe,61 in Kapitel 54 stellt er allgemein fest: Wie viele materielle Güter sie, in ihrem Eifer für Gott gleichsam wie von einem Feuer entbrannt, aufgewendet hat, das zu erzählen ist nicht meine, sondern eher die Sache jener, die Persien bewohnen, stand doch niemand abseits von ihrer Wohltätigkeit, weder der Osten noch der Westen, weder der Norden noch der Süden. Denn während der siebenunddreißig Jahre, da sie als Fremde in der Welt lebte, half sie mit ihren eigenen Mitteln Kirchen, Klöstern, Fremden und Gefängnissen, wobei ihre Verwandten, ihr Sohn und ihre Verwalter, die Geldmittel beschafften. – An ihrem Vorsatz, der Welt zu entsagen, hielt sie so sehr fest, daß sie nicht einmal eine Spanne Boden besaß …62

Auch andere Frauen aus reichem Haus entschieden sich für die Askese und den Besitzverzicht zugunsten der Armen, so Candida, Tochter des Heerführers (στρατηλάτου) Trajan.63 Mit den Erzählungen über beispielhaften Besitzverzicht fokussiert Palladios eine bestimmte Gesellschaftsschicht, in der auch der Auftraggeber und erste Adressat der h. Laus. beheimatet ist.

58   Vgl. a. die Erzählung über den aus konsularischem Haus stammenden Pammachios Pall., h. Laus. 62, der seinen Besitz teils zu Lebzeiten, teil auch nach seinem Tod den Armen überließ. 59   Zur Rolle der Frauen in der h. Laus. vgl. bes. nochmals Jensen: Frauen. 60   Vgl. Pall., h. Laus. 41 (128,14–16 B.). 61   Vgl. Pall., h. Laus. 46 (135,2 f. B.). 62   Pall., h. Laus. 54 (146,3–12 B.), tr. Laager: Palladius, 253 f. 63   Vgl. Pall., h. Laus. 57 (150,18 f. B.).

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4.  Der Adressat der Historia Lausiaka Palladios von Helenopolis widmete seine Historia Lausiaka keinem geringeren als dem hochgestellten Hofbeamten Lausos. Diesen kannte er möglicherweise schon seit jungen Jahren. Kennengelernt haben sie sich – wie bereits festgestellt – womöglich in Alexandreia oder in der nitrischen Wüste.64 Trotz seiner Karriere am Kaiserhof scheint Lausos weiterhin am Mönchtum interessiert gewesen zu sein.65 Mit seinem Reichtum unterstützte er nicht nur karitative Einrichtungen,66 sondern auch Klöster wie dasjenige Melanias der Jüngeren auf dem Ölberg.67 Über die genaue politische Karriere des Lausos gibt es nur vereinzelte Nachrichten. Palladios hat ihn um 420 als praepositus sacri cubiculi tituliert. Damit war er einer der höchsten Beamten am Kaiserhof. Seine Macht erstreckte sich auf weite Gebiete Kleinasiens und somit auch auf die Diözese des Palladios.68 Claudia Rapp hat deutlich gemacht, dass er diese Rolle in den folgenden Jahren nicht kontinuierlich innehatte.69 Dennoch blieb er auf der politischen Bühne von Bedeutung. So versuchte Kyrill von Alexandrien 431 bei Pulcheria, der Schwester Theodosios’ II., zu erreichen, dass Lausos zum kaiserlichen Administrator für das Konzil von Ephesos ernannt wird.70 Er kann noch in dieser Zeit als eine Art Mittlerfigur zwischen dem ägyptischmonastischen Milieu und dem Kaiser gelten. 436 begegnete Melania die Jüngere ihm wiederum als praepositus in Konstantinopel.71 Als praepositus war Lausos nicht nur Eunuch, er hatte auch unmittelbaren Zugang zu den Frauenquartieren am kaiserlichen Hof. Damit standen ihm die Türen zu führenden Kreisen Konstantinopels, besonders aber auch zum Hof64  Vgl. Nickau: Historia Lausiaca, hier 135, Anm. 9. Eine solche Vermutung baut auf der Bemerkung in Pall., h. Laus., Epilog (169,6 B.) auf, nach der Palladios den Lausos seit dem Konsulat des Tatianos kannte, also seit dem Jahr 391. Die beiden müssten sich kennengelernt haben, als Palladios seinen ständigen Wohnsitz bei den Asketen im Umfeld Alexandriens hatte. Schwartz, Palladiana, 192 geht davon aus, dass die beiden sich in Alexandreia selber kennen gelernt haben. 65   Vgl. auch Rapp: Palladius, 282. 66   Vgl. Pall., h. Laus., Prolog (12,8 f. B.). Vgl. auch Firmus von Caesarea, ep. 9 und 20 (PG 77, 1488C–1489A; 1497A). 67   Vgl. Vita Melaniae iunioris, Lat. version cap. 41(Santa Melania giuniore, ed. Rampolla del Tindaro, Rome 1905, 24,5–8), zitiert bei Rapp: Palladius, 282. 68  Vgl. Katos: Palladius, 101. 69  Vgl. Rapp: Palladius, 283. 70  Vgl. Martindale, John Robert: Art. Lausus 2. The prosopography of the later Roman Empire. Vol. 2: A.D. 395–527, 1980, 660 f. Lausos war auch als ästhetisch-orientierter Kunstsammler bekannt. Vgl. zu diesem Aspekt zuletzt Guberti Bassett, Sarah: ‚Excellent Offerings‘. The Lausos Collection in Constantinople, ArtB 82, 2000, 6–25. 71   Vgl. Vita Melaniae iunioris, cap. 53 (Vie de Sainte Mélanie, ed. Denys Gorce, SC 90, Paris 1962, 230).



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staat offen. Er konnte diese nicht nur politisch, sondern auch mit einem bestimmten asketischen Ideal beeinflussen. Palladios hat mit solch einer Form der Einflussnahme wohl insbesondere vermittels Pulcheria explizit gerechnet72 – jedenfalls ermuntert er Lausos, Seelenführer (ὁδηγός) für die überaus frommen Kaiser zu sein.73 Lausos selbst hat sich nach der Vorrede des Palladios an ihn nicht nur durch innige Frömmigkeit und Gottesliebe ausgezeichnet (ἀνδρός … τῇ καρδίᾳ εὐσεβοῦς καὶ τῇ διανοίᾳ θεοφιλοῦς) , sondern auch durch die Fürsorge für die Armen.74 Seinen Reichtum habe er nämlich höchst zufrieden unter die Armen verteilt und so für seine Tugend eingesetzt.75

5.  Die Intentionen der Historia Lausiaka Von dem bzw. den Adressaten her lässt sich gut erklären, warum Palladios den Einsatz der Asketinnen und Asketen in der Welt so hervorhebt. Wir haben gesehen, dass er insbesondere die konstantinopolitanische Stadtaristokratie zu erreichen bemüht war. Frauen in höchsten Stellen am Hof wie die Kaiserschwester Pulcheria standen asketischen Idealen ohnehin sehr nahe76 und waren daher empfänglich für die Geschichten des Palladios.77 Die Selektion seiner Geschichten und auch die Betonung von Wohlfahrt und caritas haben gerade mit diesem Adressatenkreis zu tun. Dementsprechend reflektiert Palladios selbst an mehreren Stellen seiner h. Laus., warum er bestimmte Geschichten erzählt. So findet sich in Kapitel 64 ein Abschluss, der möglicherweise ursprünglich einen ganzen Kranz von Erzählungen über Asketinnen abgeschlossen hat: Die Tugenden all dieser Frauen habe ich nicht etwa nur beiläufig (παρέργως) erwähnt, sondern damit wir daraus erfahren, wie wir auf mancherlei Weise Verdienste erwerben (κερδαίνειν) können, wenn wir nur wollen!78

Wenn Palladios von der Weltverantwortung der Asketinnen und Asketen spricht, so hat er dies – auch nach seinen eigenen Ausführungen in der Vorrede an Lausos79 – insbesondere zur moralischen Erbauung seiner Leserinnen   Vgl. Rapp, Palladius, 284.   Vgl. Pall., h. Laus., Prolog (10,16 f. B.). 74   Vgl. Pall., h. Laus., Vorrede an Lausos (3,9 f. B.). 75   Vgl. Pall., h. Laus., Prolog (12,8 f. B.): αὐτάρκως αὐτὸν σμικρύνας τῇ διαδόσει τῶν χρείαν ἐχόντων διὰ τὴν ἐκ τούτου τῆς ἀρετῆς ὑπηρεσίαν. 76   Vgl. nochmals Rapp, Palladius, 284. Pulcheria hatte sich mit 14 Jahren sogar selbst der ewigen Jungfrauenschaft verpflichtet, vgl. Soz., h.e. IX 1,3. 77   Vgl. auch Katos, Palladius, 104, der Pulcheria für eine der anvisierten Adressatinnen der h. Laus. hält. 78   Pall., h. Laus. 64 (160,15–17 B.). 79   Vgl. die – überlieferungskritisch freilich umstrittene – Vorrede an Lausos (3,3 f. B.). 72 73

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und Leser getan:80 Sie sollen angestachelt werden, in ihrem Umfeld eine für sie lebbare Form von Askese zu gestalten. Dies gilt vor allem bei der Schilderung seiner weiblichen Protagonisten wie Melania der Älteren. In seinem zweiten Kapitel über dieselbe lässt Palladios die sich jahrzehntelang in Askese übende römische Aristokratin an die Senatoren und vornehmen Frauen in Rom wenden, die sie an ihrem Besitzverzicht hindern wollten. Ihre Äußerungen sind so formuliert, dass sie die Adressaten der h. Laus. unmittelbar angesprochen haben dürften: Kinder, vor vierhundert Jahren ist geschrieben worden: ‚Es ist die letzte Stunde.‘ Was verweilt ihr denn so gerne bei der Eitelkeit dieses Lebens? Könnten doch die Tage des Antichrists euch erreichen und ihr wäret nicht mehr in der Lage, euren eigenen Reichtum und die von den Vorfahren stammenden Güter zu genießen.81

Palladios konstatiert im Anschluss an die Wiedergabe der Rede: Und nachdem sie alle diese Menschen zur Freiheit gebracht hatte (ἐλευθερώσασα), führte sie sie zu einem Leben in Abgeschiedenheit (ἐπὶ τὸν μονήρη βίον). … Darauf verkaufte sie ihren restlichen Besitz, nahm den Erlös mit sich und ging nach Jerusalem zurück. Und nachdem sie alles verteilt hatte, entschlief sie innerhalb vierzig Tagen in hohem Alter und tiefstem Frieden.82

Ähnlich vorbildlich wie Melania werden auch Verus von Ankyra und seine Frau Bosporia dargestellt. In Kapitel 66 schreibt Palladios: Beide sind in ihrer edlen Hoffnung so weit vorangeschritten, daß sie auch auf ihre eigenen Kinder keine Rücksicht mehr nehmen, schauen sie doch in der Tat nur auf das, was künftig sein wird. – Die Einnahmen aus ihren Landgütern verwenden sie nämlich für die Armen, obwohl sie zwei Töchter und vier Söhne haben, denen sie auch nicht das geringste geben, außer den Töchtern, wenn sie eine Ehe eingegangen sind, wobei sie ihnen zu sagen pflegen: ‚Nach unserem Ableben gehört alles euch!‘ Die Erträge, die sie aus ihren Besitztümern gewinnen, verteilen sie in Kirchen von Städten und Dörfern. Ihre Tugend (ἐνάρετον) zeigt sich aber besonders an folgendem Verhalten: Als eine Hungersnot ausgebrochen war, die bis ins Innerste der Menschen ihre Auswirkungen hatte, Die Erzählungen seien dementsprechend wiedergegeben … πρὸς ζῆλον καὶ μίμησιν τῶν οὐράνιον πολιτείαν ἐθελόντων κατορθοῦν … . 80   Vgl. auch Pollmann, Karla: Art. Palladios von Helenopolis, LACL3, 2002, 542: „Sein Ziel ist die moralische Erbauung der Leser, da er durch die Darstellung dieser Asketen um Christi willen andere anspornen will, die nach ebensolcher tugendhafter Vervollkommnung streben.“ Hunt: Palladius, 459 spricht von der h. Laus. als „manual of spiritual edification“. Vgl. ferner Wellhausen: Übersetzung, 40: „Heute setzt sich die Einstellung durch, daß die Fragestellung nach der Historizität dem literarischen Genus des Werkes nicht gerecht wird: Mit seiner Sammlung von Mönchsgeschichten verfolgte Palladius nicht das Ziel, wahre Begebenheiten zur berichten, sondern anhand von Beispielen asketischer Lebensformen geistliche Erbauung zu bieten.“ Von der Absicht des Lausos, Erbauung (οἰκοδομή) zu erhalten, spricht auch Palladios selbst in seinem Begleitschreiben an jenen. Vgl. Pall., h. Laus., Begleitschreiben (6,5 B.). 81   Pall., h. Laus. 54 (147,11–14 B.). 82   Pall., h. Laus. 54 (147,14 f.;  147,17–148,2 B.), tr. Laager, Palladius, 255 f.



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brachten sie die Häretiker zum wahren Glauben zurück, indem sie in vielen Dörfern ihre Getreidekammern zur Verfügung stellten, um die Armen zu ernähren. Was ihre übrige Lebensform betrifft, so führen sie ein sehr strenges und einfaches Dasein; sie tragen nur wertlose Kleider, ernähren sich von einfachster Speise, leben zu Ehren Gottes in Enthaltsamkeit, verweilen meistens auf ihren Landgütern, fliehen die Städte aus Angst, sie könnten daran Gefallen finden, von der Unruhe (θορύ­βων), die in den Städten herrscht, erfaßt werden und so von ihrem Vorsatz abkommen.83

Palladios geht es also einerseits darum, zu Besitzverzicht und Einsatz für die Armen anhand von Vorbildern zu ermuntern. Andererseits hat er – wie wir bereits ausführlicher gesehen haben – gerade auch für ein Publikum aus oberen Schichten die Asketinnen und Asketen als geeignetes Gegenüber gekennzeichnet. Durch ihre Weltflucht sind sie als Mittlerfiguren im Bereich der Weltverantwortung vor allem von der askesewilligen Oberschicht besonders gut einzusetzen.

6.  Schluss Claudia Rapp ist sicher zuzustimmen, dass es bei der Historia Lausiaka um ein Dokument der Versöhnung ging. Dabei stand m. E. aber nicht eine Aussöhnung zwischen einem evagrianischen und einem konstantinopolitanischen Mönchtumskonzept, zwischen geistlicher Kontemplation und frommem Aktivismus bestimmter monastischer Kreise im Vordergrund.84 Vielmehr würde ich über Rapp hinaus festhalten: Es ging vor allem um die Frage, auf welche Weise das Ideal einer geistlichen Perfektion mitten in den Strukturen von Welt, ja sogar am Kaiserhof zu leben ist.85 Palladios wollte also anhand seiner Mönchsgeschichten verdeutlichen, dass Askese keineswegs Weltflucht in Form von radikaler Anachorese bedeuten muss, dass es vielmehr u. a. durch Besitzverzicht und Almosengeben auch in der Welt sogar als Nichtmönch möglich ist, der Welt zu entfliehen. Indem Palladios bei den von ihm geschilderten Asketinnen und Asketen Weltflucht und gleichzeitig Formen von Weltverantwortung in eine unmittelbare Korrelation setzte, lieferte er auch höchsten aristokratischen Kreisen – m. E. durchaus im Sinne des Johannes Chrysostomos – eine Möglichkeit zu der von diesen angestrebten geistlichen Vervollkommnung.

  Pall., h. Laus. 66 (162,12–163,9 B.), tr. Laager, Palladius, 288 f.   Die Gegenüberstellung von „pious activism“ des konstantinopolitanischen Mönchtums und „spiritual contemplation“ evagrianischer Prägung nimmt Rapp: Palladius, 286 vor. 85   Ähnlich formuliert es auch Rapp: Palladius, 286: „Regardless of location, the true monastic virtues are a state of mind rather than a condition of the body.“ 83 84

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Die unvollständige Weltflucht des frühen Mönchtums Claudia Rapp Einer der Gründe für Weltflucht ist die Religion. Für die christlich motivierte Weltflucht gilt das Mönchtum als Paradebeispiel, wobei im allgemeinen Verständnis die Regel des Benedikt unsere Vorstellung dominiert. Sie sieht eine geordnete Gemeinschaft von einer Anzahl von Männern vor, die von einem Abt geleitet wird, von der Außenwelt (oft durch eine Mauer) abgegrenzt ist, gemeinsam einer Regel (einer Art Vereinsordnung) folgt. Der einzelne Mönch entscheidet sich für ein Leben der Armut und der sexuellen Abstinenz und verpflichtet sich zum Gehorsam der Regel und dem Abt gegenüber. Der Tagesablauf wird durch die Abfolge von Gebet und Arbeit bestimmt, nach dem Leitsatz ora et labora, ‚bete und arbeite‘.1 Die Regel des Benedikt, wie sie im Italien des 6. Jahrhunderts abgefasst wurde und dann für das gesamte Mönchtum im mittelalterlichen Westen beherrschend wurde, ist aber tatsächlich nicht der Ausgangspunkt für das Mönchtum des westlichen Mittelalters, sondern ihrerseits der vorläufige Endpunkt einer langen Entwicklung, die bereits im spätantiken Ägypten ihren Ausgang nahm. Im Folgenden möchte ich mich daher auf die Ursprünge des Mönchswesens im spätantiken Ägypten, vom späten 3. bis zum 7. Jahrhundert, konzentrieren. Die Quellenlage dafür ist relativ umfangreich. Koptische, griechische und lateinische Texte, sowie Archäologie und Papyrologie haben dazu beigetragen dass diese Phase der spätantiken Kulturgeschichte außergewöhnlich gut dokumentiert ist. Hagiographische Texte (Vita Antonii, Vita Pachomii), Spruchweisheiten der Wüstenväter und -mütter (Apophthegmata Patrum), und Pilgerberichte (Egeria, Historia Monachorum, Historia Lausiaca, Pratum Spirituale) vermitteln ein detailliertes und facettenreiches Bild.2 Gemeinsam ist allen monastischen Lebensformen eine soziale Komponente, und eine ideelle Komponente. Die soziale Motivation liegt in dem Bedürf1   Die Benediktus-Regel, Salzburger Äbtekonferenz (Hrsg.): Die Benediktus-Regel. Lateinisch-Deutsch, Beuron 42006. 2   Einführungen in die Geschichte und Literatur des frühen Mönchtums: Chitty, Derwas J.: The Desert a City. An Introduction to the Study of Egyptian and Palestinian Monasticism, Oxford 1966; Harmless, William: Desert Christians. An Introduction to the Literature of Early Monasticism, Oxford/New York 2004.

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nis, dem bisherigen Leben den Rücken zu kehren und unter neuen Lebensumständen sich der Askese und dem Gebet zu widmen. Die klassische Weltflucht also. Der Mönch will den bisherigen Lebensanforderungen, den wirtschaftlichen Zwängen der Erwerbstätigkeit und der Steuerpflicht, und dem sozialen Druck des Familienlebens, insbesondere Ehe und Kindern, entfliehen. Auf diese Weise von weltlichen Verpflichtungen befreit, kann sich der Mönch darauf konzentrieren, das eigene Ich, das innerste Selbst, seine Seele, neu zu formen, um dadurch eine größere Nähe zu Gott zu erfahren und so dem in der Schöpfung angelegten menschlichen Potential der Gottesebenbildlichkeit näher zu kommen. Dieses Ideal kann man durchaus als Nachklang der Ziele der antiken Philosophenschulen, besonders des Neoplatonismus, interpretieren. Hierin besteht die ideelle Komponente.3 Besonders auffällig ist die Vielfalt der monastischen Organisationsformen. Neben dem eremitischen Leben des Einsiedlers in totaler Zurückgezogenheit gab es als anderes Extrem das Leben in einer größeren Gemeinschaft von Dutzenden, wenn nicht Hunderten von Mönchen. In den letzten Jahrzehnten, nicht zuletzt unter dem Eindruck neuer archäologische Ausgrabungen, ist man zusätzlich auf eine Zwischenform aufmerksam geworden, das semi-eremitische Mönchtum. Dabei handelt es sich um kleine Gruppen von Schülern, die sich einem Abba anschließen, von ihm lernen, und ihm Hilfestellung im täglichen Leben leisten. Dass die Geschichte vom Ursprung des Mönchtums aus dem Eremitentum letztendlich eine durch die Hagiographie geprägte Meistererzählung einer heute so nicht mehr haltbaren ‚big bang theory of monastic origins‘ ist, haben die wichtigen Arbeiten von James Goehring deutlich gemacht.4 Als Beispiel für das eremitische Mönchtum kann Antonius gelten, dessen Lebensbeschreibung aus der Feder des Patriarchen Athanasius von Alexan­ drien das literarische Modell für die griechische und lateinische Hagiographie wurde.5 So wie er lebten zahlreiche Männer (sehr selten Frauen) in deutlicher Entfernung von großen Siedlungsgebieten und distanzierten sich damit von ‚der Welt‘. Das semi-eremitische Milieu ist in schriftlichen Quellen, besonders den Apophthegmata Patrum, am besten für das westliche Nildelta bezeugt und spielt auch in den Pilgerberichten, unter anderem der Historia Lausiaca 3   Valantasis, R./Wimbush, V. L. (Hrsgg.): Asceticism, New York 1995; Wimbush, V. L.: Ascetic Behavior in Greco-Roman Antiquity. A Sourcebook, Minneapolis 1990. 4   Goehring, J.: Ascetics, Society and the Desert. Studies in Egyptian Monasticism, Harrisburg, PA 1999. Siehe auch den regelmäßigen Bericht zur internationalen Forschung zum ägyptischen Mönchtum in den Akten des International Congress of Coptic Studies, zuletzt in Boisson, N. / Boud’hours, A. (Hrsgg.): Actes du huitième Congrès international d’études coptes. Paris, 28 juin–3 juillet 2004, Leuven/Dudley, MA 2007. 5   Bartelink, G. J. M. (Hrsg.): Athanase d’Alexandrie. Vie d’Antoine, Paris 1994. (Verb. ND 2004).



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eine wichtige Rolle.6 Als Gegenpol zum Leben der Zurückgezogenheit (anachorêsis: Hinaufgehen, Fortgehen) gilt das koinobitische Mönchtum (koinos bios: gemeinsames Leben) in großen, organisierten Gemeinschaften, in einer Form die dann später durch Benedikt und seine Regel im lateinischen Mittelalter popularisiert wird. Dessen Gründer war Pachomius, ein Kopte, der um ca. 325 ein großes Kloster in Tabennisi gründete. Hundert Jahre später soll die Gemeinschaft auf neun Klöster mit insgesamt 7000 Mönchen gewachsen sein. Wir sind über das Pachomianische System durch eine Abfolge hagiographischer Texte der Gründerpersönlichkeiten und durch die ursprünglich auf Koptisch verfasste Klosterregel des Pachomius unterrichtet, die Hieronymus aus einer griechischen Version ins Lateinische übersetzte.7 In all diesen monastischen Organisationsformen artikuliert sich die Weltflucht sowohl konkret als auch abstrakt, erweist sich aber in der Realität als unvollständig, und erfordert daher eine Neuinterpretation dieser Realitäten. Diese Aspekte sollen im Folgenden näher ausgeführt werden.

1.  Unvollständige Weltflucht im täglichen Leben Auch der asketischste Mönch muss gelegentlich essen, selbst wenn von einigen Eremiten berichtet wird, dass sie mit drei Datteln am Tag auskommen und Wasser von einer nahe gelegenen Oase schöpfen. Aber das sind spektakuläre Einzelfälle. Selbst Antonius, der literarische Prototyp des Eremiten, machte verschiedene Entwicklungsphasen durch. Nachdem er die Erbschaft des elterlichen Anwesens angetreten hatte, erlebte er seine Berufung zur Askese. Er verkaufte den größten Teil seines Besitzes, unter Rückbehalt einer Summe, mit der er seiner Schwester den Eintritt in eine Lebensgemeinschaft frommer Frauen finanzierte. Dann entfernte er sich von der zivilisierten Welt, zunächst einfach nur außerhalb der Dorfgemeinschaft. Danach ließ er sich in ein verlassenes Kastell einmauern. Während der 20 Jahre seines Aufenthalts wurden ihm zwei mal im Jahr trockene Brote gebracht, von denen er sich ernährte. Später zog er sich noch weiter zurück und ließ sich in der Felsenwüste nieder, wo er durch ein Wunder Wasser hervorquellen ließ, das es ihm ermöglichte, einen kleinen Garten anzulegen. Auf diese Weise war nicht nur für die eigene Ernährung, sondern auch für seine zwei Schüler und für die seltenen Besucher gesorgt. So wie Antonius wurden viele Asketen von Zulieferern versorgt, egal, ob sie allein oder in kleinen Gruppen lebten. Diese regelmäßigen Besucher waren in der Regel Freunde und Anhänger (‚groupies‘) des Asketen, die es sich zur frommen Aufgabe gemacht haben, diesen durch die Lieferung von Nah  Siehe den Beitrag von Andreas Müller in diesem Band.   Veilleux, A. (Hrsg.): Pachomian Koinonia, 3 Bde., Kalamazoo, Mich. 1980–1982.

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rungsmitteln zu unterstützen. Als Gegengabe erhalten sie den Segen des Asketen und profitieren gelegentlich von der Kraft seines Gebets. Nicht nur das. Nach dem paulinischen Leitsatz, ‚Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘ (2 Thess 3: 10), sind die Asketen tagsüber damit beschäftigt, aus Palmenblättern Seile zu flechten und diese dann zu Sandalen oder Körben zu verarbeiten, wobei sie diese Tätigkeit mit der Rezitation von Psalmen begleiten. Diese Handarbeiten werden den Lebensmittellieferanten zum Verkauf angeboten. Zwei Papyrusbriefe der Amma Didyme (frühes 4. Jh.) erwähnen Sandalen, zwei Kuchen und ein Straußenei, und zeigen, wie sich diese Leiterin einer kleinen Schar von Anhängern auch an kommerziellen Transaktionen beteiligt.8 Die Vollständigkeit der Weltflucht scheitert, ganz elementar, an ökonomischen Notwendigkeiten. In könobitischen Klostergemeinschaften, wo es Dutzende, ja Hunderte von Männern oder Frauen zu kleiden und zu ernähren gilt, sind diese Notwendigkeiten proportional größer. Die Erwerbstätigkeit der Mönche ist hier nach dem Prinzip der Arbeitsteilung straff durchorganisiert. Für die Pachomianischen Klöster sind wir recht gut informiert: einige Mönche arbeiten als Tagelöhner auf nahegelegenen Landgütern, die meisten sind im Klosterbetrieb angestellt: in Wäscherei, Bäckerei, und Küche, oder als Betreuer des landwirtschaftlichen Geräteschuppens. Schuster oder Schmiede, Korbflechter, Kopisten und Kalligraphen verrichten ihre Arbeit nicht nur für den klösterlichen Eigenbedarf, sondern auch für den Weiterverkauf. Zu diesem Zweck gab es sogar einen eigens dafür beauftragten Händler. Auch hier erweist sich die Weltflucht als frommer Wunsch: denn wenn man beim Klostereintritt bereits ein Handwerk beherrschte, so wurde man in der Regel auch wieder auf diesem Gebiet eingesetzt. Dies gilt besonders für die Kalligraphen.9 Die einzige Änderung im Vergleich zum weltlichen Leben war der Kontext der Erwerbstätigkeit und die Tatsache, dass der Profit der Klostergemeinde insgesamt zugute kam. Eine große Klostergemeinschaft konnte also anstreben, wirtschaflich auf eigenen Füßen zu stehen, ohne auf die Gaben anderer angewiesen zu sein. Dieser Aspekt wird von zeitgenössischen Bewunderern hervorgehoben. Aber in der Realität wurde diese Autarkie nicht in Abschottung von der Außenwelt erreicht, sondern führte im Gegenteil zu engen Verbindungen durch Handel und Werktätigkeit. Die wirtschaftliche Verflechtung mit der Außenwelt, die wir für alle drei Lebensmodelle des Mönchtums beobachten können, hat auch eine weitere 8   Emmett, A. E.: An early fourth-century female monastic community in Egypt?, in: Maistor. Classical, Byzantine and Renaissance studies for Robert Browning, hg. von A. Moffatt, Canberra 1984, 77–83. 9   Kotsifou, Ch.: Books and Book Production in the Monastic Communities of Byzantine Egypt, in: The Early Christian Book, hg. von W. Klingshirn/L. Safran, Washington 2007, 48–66.



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Folge, nämlich dass – bis auf die in radikalster Einsamkeit lebenden Eremiten, die aber genau deswegen in den Quellen kaum greifbar sind – die meisten Mönche in relativer Nähe zu Dörfern und Städten lebten, so dass es ihnen möglich war, Handel zu treiben, Besucher (und deren Gaben) zu empfangen und sich durch Gegengaben, die durchaus realen Tauschwert hatten, erkenntlich zu zeigen. Die Entfernung von der Welt ist gefühlt und erlebt, nicht auf der Landkarte messbar. Diese Realität war schon für die Zeitgenossen ein Problem. Man wünschte sich die Asketen und Mönche als in jeder Hinsicht konsequent lebende Menschen, die den Bruch mit der Welt vollständig vollzogen hatten, und so stellvertretend für andere, die weniger kompromisslos leben konnten oder wollten, ihrem entsagungsvollen Lebenswandel nachgingen. Die Realität, nämlich dass Mönche aktiv am kommerziellen Leben teilnahmen, wurde als anstößig empfunden. Das ist, so denke ich, der wirkliche Grund, warum Hie­ ronymus, Johannes Cassian und, ihnen folgend, Benedikt, das semi-eremitische Mönchtum so virulent angreifen. Wir kennen vier Arten von Mönchen. Die erste Art sind die Koinobiten: Sie leben in einer klösterlichen Gemeinschaft und dienen unter Regel und Abt. Die zweiten sind die Anachoreten, das heißt Einsiedler. Nicht in der ersten Begeisterung für das Mönchsleben, sondern durch die Bewährung im klösterlichen Alltag und durch die Hilfe vieler hinreichend geschult, haben sie gelernt, gegen den Teufel zu kämpfen. In der Reihe der Brüder wurden sie gut vorbereitet für den Einzelkampf in der Wüste. Ohne den Beistand eines anderen können sie jetzt zuversichtlich mit eigener Hand und eigenem Arm gegen die Sünden des Fleisches und der Gedanken kämpfen, weil Gott ihnen hilft. Die dritte Art sind die Sarabaiten, eine ganz widerliche Art von Mönchen. Weder durch eine Regel noch in der Schule der Erfahrung wie Gold im Schmelzofen erprobt, sind sie weich wie Blei. In ihren Werken halten sie der Welt immer noch die Treue. Man sieht, dass sie durch ihre Tonsur Gott belügen. Zu zweit oder zu dritt oder auch einzeln, ohne Hirten, sind sie nicht in den Hürden des Herrn, sondern in ihren eigenen eingeschlossen: Gesetz ist ihnen, was ihnen behagt und wonach sie verlangen. Was sie meinen und wünschen, das nennen sie heilig, was sie nicht wollen, das halten sie für unerlaubt. Die vierte Art der Mönche sind die sogenannten Gyrovagen. Ihr Leben lang ziehen sie landauf landab und lassen sich für drei oder vier Tage in verschiedenen Klöstern beherbergen. Immer unterwegs, nie beständig, sind sie Sklaven der Launen ihres Eigenwillens und der Gelüste ihres Gaumens. In allem sind sie noch schlimmer als die Sarabaiten.10

So erstellt Benedikt eine Hierarchie der mönchischen Lebensformen: Wie es dann später im Mittelalter üblich wurde, postuliert er das chronologische und historische Primat der Koinobiten, gefolgt von den Eremiten (oder Anachoreten, wie er sie nennt). Die Sarabaiten (also die Lebensform, die wir als semi-eremitisch bezeichnen) sind aus verschiedenen Gründen anstößig: sie leben in kleinsten Gruppen, sie folgen keiner Regel und haben auch keine interne Hierarchie. Schlimmer noch: „In ihren Werken (opera) halten sie der Welt immer noch die Treue.“ Man kann hierin, m. E., durchaus einen Angriff 10

  Regula Benedicti 1. 1–11, Salzburger Äbtekonferenz (Hrsg.): Die Benediktus-Regel.

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auf die starke Verquickung dieser Mönchsgruppen mit der Welt sehen, also auf deren Beteiligung am Marktgeschehen. Dass Benedikts Tadel sich auf die Art der wirtschaftlichen Tätigkeit bezieht, sieht man ganz deutlich an seiner Kritik der vierten Art von Mönchen, der Gyrovagen (oder Vagranten), die selbst gar nicht arbeiten, sondern sich als Schmarotzer von einem Kloster zum nächsten aushalten lassen.11

2.  Unvollständige Weltflucht im Seelenleben Der zweite Aspekt der Unvollständigkeit der monastischen Weltflucht betrifft die Schwierigkeit, die angestammten Sozialstrukturen hinter sich zu lassen.12 Besonders deutlich wird das für die Sklaven, die nicht ohne Zustimmung ihres Besitzers in ein Kloster eintreten können. Ähnliches gilt für verheiratete Frauen. Auch für sie bleibt oft nur die Möglichkeit, heimlich dem Ehemann zu entkommen. Um jeder Art der Nachstellung vorzubeugen, haben Frauen, so wird gelegentlich berichtet, sich als Eunuchen ausgegeben, um so Einlass in ein Männerkloster zu gewinnen, wo ihre wahre Identität erst bei der Totenwaschung entdeckt wurde.13 Nicht verheiratete Frauen waren auf das Einverständnis ihres Vaters, bzw. nach dessen Ableben, ihres Bruders angewiesen, um einem Kloster beitreten zu können – ebenso wie diese männlichen Verwandten über eine Eheschließung bestimmt hätten. Auch nach dem Klostereintritt bilden bestehende Familienbande eine Herausforderung. Gelegentlich wird berichtet, dass ein Mönch sich weigert, seine Mutter nochmals zu Gesicht zu bekommen und diese auf ein Wiedersehen im Jenseits vertröstet. Aber das sind Extremfälle. Im Allgemeinen darf man davon ausgehen, dass loser und unregelmäßiger Kontakt mit der Verwandtschaft bestand, die gelegentlich zu Besuchen ins Kloster kam. Umgekehrt blieb die Außenwelt für Mönche nicht völlig unzugänglich. Die Pachomiusregel erlaubt z.B. das Verlassen des Klosters, mit Erlaubnis des Abtes und möglichst in Begleitung eines Klosterbruders. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist ein Papyrus aus dem Jahre 324 mit der ältesten datierbaren Verwendung des Wortes ‚monachos‘. Es handelt sich um ein Schreiben, in dem in gewisser Isidor Ankla11   Caner, D.: Wandering, Begging Monks. Spiritual Authority and the Promotion of Monasticism in Late Antiquity, Berkeley 2002. 12   Vuolanto, V.: Family and Asceticism. Continuity Strategies in the Late Roman World. Ph.D. Thesis, University of Tampere 2008. 13   Verschiedene Heiligenviten berichten vom Phänomen der ‚femme deguisée en moine‘, bzw. der ‚transvestite nun‘. Der bahnbrechende Aufsatz war von Patlagean, E.: L’histoire de la femme déguisée en moine et l’évolution de la sainteté féminine à Byzance, Studi Mediaevali ser. 3, vol. 17, 1976, 597–623 (reprinted in ead., Structure sociale, famille, chrétienté à Byzance. IVe-XIe siècle, London 1981).



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ge erhebt gegen zwei Nachbarn, die ihn verprügelt hatten. Er kam glimpflich davon, weil zwei zufällig vorbeikommende Männer ihm zur Hilfe geeilt waren, der Diakon Antoninus und eben der als monachos bezeichnete Isaak.14 Daraus ersehen wir, dass schon in der frühesten Entwicklungsphase Mönche durchaus außerhalb des Klosters anzutreffen waren. Das Kloster seinerseits hatte auch Unterkunftsmöglichkeiten für Besucher, die von einem eigens dazu bestimmten Mönch (meist fortgeschrittenen Alters) betreut wurden. Man kann sich durchaus vorstellen, dass gelegentlich Eltern oder Geschwister einen Besuch abstatteten. Besonders interessant sind die seltenen Fälle, in denen davon berichtet wird, dass ein Asket seinen leiblichen Sohn, ob heimlich oder offen, in der klösterlichen Gemeinschaft großzieht. Die Abwendung von der Welt und die Hinwendung zu sexueller Abstinenz und Armut, wie sie die Regel des Benedikt fordert, ist also nur in begrenztem Ausmaß fähig, die Weltflucht des Mönches zu gewährleisten und einen vollständigen Bruch mit der Familie herbeizuführen. Die Familie ist nur ein Teil der eigenen Vergangenheit, die den Mönch an die Außenwelt bindet – eine Bindung, gegen die er aktiv ankämpfen muss. Das größte Hindernis für den Mönch auf dem Wege der asketischen Perfektion und der Neuorientierung des Ichs, der Seele, sind seine eigenen Gedanken. Ganz besonders, wenn es sich um Erinnerungen und Phantasien handelt, können diese zu Fallstricken werden, die die asketische Seele zum Straucheln bringen. Johannes Cassian, der nach langen Erfahrungen unter den Wüstenmönchen durch seine auf Latein verfassten Schriften den Westen mit dem asketischen Ideal bekannt machte,15 berichtet von dem guten Rat des alten Asketen Abraham: So mag Einer, während er sich mit apostolischer Handarbeit den Lebensunterhalt verschafft, in der Tiefe seines ruhigen Herzens die Schaaren der umherschwimmenden Gedanken (cogitationum) wie ein trefflicher Fischer mit Aufmerksamkeit und Ruhe fangen, indem er gleichsam von vorragendem Felsgestein aus forschend in die Tiefe blickt und in heilsamer Unterscheidung beurtheilt, welche er an sich ziehen soll, in kluger aber auch, welche er als böse und schädliche Fische verachten und zurückweisen solle.16

Die schlüpfrigen Gedanken, die man nicht leicht wieder einfangen kann – das sind die logismoi, von denen auch der große theologische Theoretiker der

  Judge, E. A.: The Earliest Use of monachos for ‘Monk’ (P. Coll. Youtie 77) and the Origins of Monasticism, JbAC 20, 1977, 72–89.; Choat, M.: The Development and Usage of the Terms for ‘Monk’ in Late Antique Egypt, Jahrbuch für Antike und Christentum 45, 2002, 5–23. 15   Zum Autor, siehe Stewart, C.: Cassian the Monk, New York 1998. 16   Johannes Cassian, Collationes 24. 3. 2. Übersetzung online: http://www.unifr.ch/bkv/ kapitel3075-2.htm. 14

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asketischen Spiritualität, Evagrius Ponticus, warnt.17 Er ist es, der eine Liste von geistlichen Vergehungen aufstellt, aus denen sich später die Lehre von den Sieben Todsünden entwickeln sollte. Der Mensch kann zwar die Welt hinter sich lassen und Zuflucht in einem Kloster suchen, aber die Erinnerungen an sein früheres Leben werden ihn weiterhin begleiten. Vielleicht sehnt er sich nach seinen Eltern, oder hat plötzliche Lust auf bestimmte Lebensmittel, oder er vermisst Reichtum, Ruhm, Ehre und Status der Welt. Selbst mit den besten Absichten lassen sich sexuelle Phantasien nur schwer unterdrücken, ganz besonders, wenn man die Gewissenserforschung und Beichte in ihrer Absicht pervertiert und zum Anlass nimmt, die Gedanken in diese Richtung wandern zu lassen. Diese Außeneinwirkung hat schwere Folgen (und wird daher auch oft dämonischem Eingreifen zugeschrieben): sie kann zu depressiven Zuständen oder zum Wahnsinn führen, und es bedarf der umsichtigen Regulierung der asketischen Selbstkasteiung – nicht im Übermaß, aber nicht zu wenig, um das seelische Gleichgewicht wieder ins Lot zu bringen. Aus diesem Grund werden Kinder oder junge Männer, die sich kaum an etwas anderes als an ihr Klosterleben erinnern können, immer als beneidenswerte Geschöpfe dargestellt. Die drei großen Stolpersteine für das mönchische Ideal der Weltflucht sind also: wirtschaftliche Notwendigkeiten, Familienbande und die eigenen Gedanken. Sie stellen für den Mönch eine Herausforderung dar, der er sich ständig stellen muss.

3.  Unvollständige Abwendung von der Welt der klassischen Antike Wenn wir die konkreten Lebensumständen des Einzelnen verlassen, und uns auf die Ebene des Diskurses spätantiker Autoren um das Mönchtum begeben, lässt sich auch dort die Übermacht der Außenwelt feststellen. Gedanken über Weltflucht können in der Mönchsliteratur nur artikuliert werden unter Zugriff auf bereits bestehende Weltvorstellungen. Und diese sind durch die jahrhundertelange Tradition des griechisch-römischen Gedankengutes geprägt. Auch hier zeigt sich aus dem historischen Rückblick eine deutliche Diskrepanz von ideellem Anspruch und gelebter Wirklichkeit. Die von der traditionelle Religion geprägte weltliche Kulturtradition wollten die Christen hinter sich lassen. Nicht von ungefähr ist ‚Draußen‘ (ta exo) das bevorzugte Codewort der christlichen griechischen Autoren für die pagane Kultur und ihren Literaturbetrieb. Aber die Realität sah anders aus: Christen, die die Fa  Zum Autor, siehe Bunge, O.: Evagrius Ponticus. Der Praktikos (Der Mönch). Hundert Kapitel über das geistliche Leben, Beuron 32011; Driscoll, J.: The ‘Ad monachos’ of Evagrius Ponticus. Its structure and select commentary, Rom 1991. 17



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milienstruktur, die wirtschaftlichen Zwänge, und den moralischen Morast des städtischen Lebens hinter sich lassen wollten, hatten zwar die Möglichkeit, sich dem Leben der Askese zu widmen und eventuell in eine Klostergemeinschaft einzutreten. Doch auch dort wurde dieselbe Sprache gesprochen und dieselben Konzepte angewendet wie in der Außenwelt. Zwei Beispiele für die unvollständige Weltflucht auf der Diskursebene mögen genügen: 1. Das Mönchsleben wird als ein spiritueller Aufstieg interpretiert, bei dem der einzelne auf die Führung durch einen geistlichen Vater angewiesen ist. Diese Rolle übernimmt ein älterer und erfahrener Asket, der selbst ein vorbildliches Leben führt, viele Erfahrungen gesammelt hat, und imstande ist, diese auch durch belehrenden Zuspruch und gemeinsames Gebet zu vermitteln. Vielleicht hat es sich bereits erwiesen, dass sein Gebet besonders effektiv ist und er Wunderkräfte hat, von denen seine Schüler auch profitieren können. Diese Art der geistlichen Verantwortlichkeit wurde, wie sich zeigen lässt, veranschaulicht unter Anlehnung an das Bankwesen.18 Hierbei spielt der Begriff der eggyê/fideiussio (Bürgschaft) eine zentrale Rolle, der sonst aus Gesetzen und den juristischen Papyri bekannt ist. Der geistliche Vater übernimmt in übertragenem Sinne eine ‚Bürgschaft‘ und haftet mit seinem eigenen spirituellen Kapital für den geistlichen Werdegang seines Zöglings. Auch der Ausdruck, mit denen ein Taufpate die Verantwortung für sein Patenkind übernimmt (anadoche), stammt aus dem Kreditwesen. Wirtschaftliche Realitäten bestimmen also nicht nur das tägliche Leben der Mönchsgemeinschaften, wie wir oben feststellen konnten, sondern bieten die Konzepte und das Vokabular, um Formen des zwischenmenschlichen Kontakts innerhalb des Mönchtums darzustellen. 2. Ein zweites Beispiel, in dem das Mönchtum auf überlierferte Konzepte zur Darstellung der Bedeutung der Weltflucht zurückgreift, ist die Idealvorstellung der menschlichen bzw. der mönchischen Gemeinschaft. Die Weltflucht wird ja gerne als ein Entkommen aus der Stadt in die Wüste dargestellt. Schon in der klassischen Literatur steht die Stadt für Arbeit, Verpflichtungen, Verwirrungen, und Ablenkungen, während der Rückzug auf das Land vielfach gelobt wird. Vom städtischen negotium findet man dort das otium, Ruhe und Muße. In der christlichen Literatur gilt die Stadt auch als Ort der Verführung zur Sünde, gerade durch die Präsenz von Frauen. Demgegenüber ist die Wüste der ideale Rückzugsort, an dem sich der Mönch auf die Pflege seines Seelenheils konzentrieren kann. Aber hier ergibt sich ein   Rapp, C.: ‘For Next to God, You are My Salvation’. Reflections on the Rise of the Holy Man in Late Antiquity, in: The Cult of Saints in Late Antiquity and the Early Middle Ages. Essays on the Contribution of Peter Brown, hg. von J. Howard-Johnston / P. A. Hayward, Oxford 1999, 63–81; Rapp, C.: Spiritual Guarantors at Penance, Baptism and Ordination in the Late Antique East, in: A New History of Penance, hg. von A. Firey, Leiden 2008, 121–148. 18

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Paradoxon: denn die Idealform der Mönchsgemeinschaft wird immer wieder als Stadt, polis, konzeptualisiert, genauso wie die christliche Eschatologie, in Anlehnung an die Johannesapokalypse, sich das Jenseits als das himmlische Jerusalem, also auch wieder als Stadt vorstellt. Auch wenn es sich dabei, um mit Augustin zu sprechen, um die Idealform einer Stadt handelt (die civitas coelestis), kommt das nicht an der Tatsache vorbei, dass die christliche Jenseitsvorstellung genau diejenige soziale Struktur und Lebensform als Wunschbild aufbaut, der das Mönchtum zu entfliehen sucht.19

4.  Weltflucht als Ideal Die Realität der Unvollkommenheit der Weltflucht haben wir eingangs an den Beispielen von wirtschaftlichem Verkehr und Familienhintergrund festgestellt. Das bedeutet aber nicht, dass den Zeitgenossen, die das Ideal der Weltflucht für uns greifbar in ihren Schriften aufgebaut haben, Unehrlichkeit, Duplizität oder Augenauswischerei zu unterstellen sei. Es muss stattdessen die Aufgabe der Forschung sein, den literarisch fassbaren Diskurs des Mönchslebens in seiner ganzen Komplexität, zwischen Realitätsbezug und Idealvorstellung, zu erfassen und zu begreifen. Es bleibt ein Spannungsfeld der Ambivalenz zwischen Tradition und Innovation, zwischen klassischer Antike und christlichen Neuerungen, zwischen angestammten Realitäten und neu formulierten Idealen. Im Bereich des Mönchtums gibt es zwei Auswege aus diesem Dilemma. Eine Möglichkeit besteht darin, durch Neuinterpretation alte Realitäten in einen neuen Kontext einzuordnen. Auf diese Weise lassen sich Assoziationen mit der ‚Welt‘ entschärfen. Dies lässt sich am Beispiel von ökonomischen Tauschgeschäften oder persönlichem Eigenbesitz aufzeigen. Beginnen wir mit den einzelnen Asketen, oder mit ganzen Klöstern, denen Gaben und Geschenke entgegengebracht werden. Diese werden nicht einfach empfangen, sondern erfordern eine Gegengabe, in einer Art Tauschgeschäft, in der beide Seiten ihren Status und ihre Ehre wahren können. Auf Griechisch heißt diese Gegengabe eulogia. Das Verb eulogein bedeutet ‚segnen‘ und so ist auch eine eulogia ein Segensgeschenk, dessen wahrer Wert nicht in ihm selbst liegt, sondern in dessen Ursprung – dem Asketen, der es offeriert. Ob es sich um ein Stück Obst, ein Kleidungsstück oder ein Pilgerandenken handelt, der Materialwert ist transzendiert durch den ideellen Wert, den es,

  Rapp, C.: The Christianization of the Idea of the Polis in Early Byzantium, Proceedings of the International Congress of Byzantine Studies, Sofia 2011, Band 1: Plenary Papers, Sofia 2011, 263–284. 19



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als objektifiziertes Gebet des Asketen mit sich bringt.20 Auf diese Weise ist es möglich, alle Tauschhandlungen, die Klöstern und Asketen ausgehen, als eine Art spirituelle Ökonomie zu interpretieren und gleichzeitig ihr Risikopotential für die unvollständige Weltflucht abzuschwächen. In ähnlicher Weise ging man mit dem Eigenbesitz der Mönche um, also dem Prinzip der Armut. Dabei handelte es sich ja sowieso schon um einen sehr reduzierten Bestand, hauptsächlich das Mönchsgewand. In den Pachomianischen Klöstern war die Kleidung Gemeinschaftsbesitz und wurde von zentraler Stelle verteilt. Aber für Eremiten und Semi-Eremiten was das Gewand ihr persönlicher Besitz, sozusagen ihre Uniform, die sie das ganze Leben hindurch begleitete. Die Kleidung im Altertum war ja auch ein Symbol für den Platz in der Gesellschaftsordnung. Hier setzt Evagrius Ponticus ein, der große Theologe des eremitischen und semi-eremitischen Wüstenmönchtums im späten 4. Jh., der in seinem Praktikos eine spiritualisierende Interpretation für das Gewand des Mönches liefert. Die Kapuze (koukoullion) erinnert an Kinder, und bewahrt den Geist in kindlichem Glauben, der Gürtel sorgt für Keuschheit, das Schaffell erinnert an den Opfertod Jesu, usw. So wird auch der geringe Privatbesitz der Mönche von der Welt entrückt und spiritualisiert. Eine zweiter Ausweg aus dem Dilemma von Tradition und Neuschöpfung besteht in der Strategie, tatsächliche Neuerungen auf sozialem Gebiet in solcher Weise darzustellen, dass sie weiterhin den angestammten Strukturen und Konzepten verpflichtet bleiben. Ein gutes Beispiel sind die Sozialstrukturen des Mönchtums. In asketischen Gemeinschaften, gleich welcher Größe, verwendete man mit Vorliebe Ausdrücke aus dem Familienleben, um emotionale Nähe, aber auch soziale Hierarchien zu bezeichnen. Abba, Vater, war der Vorsteher einer solchen Gemeinschaft, die Jüngeren, d.h. seine Schüler oder Helfer, wurden als Söhne tituliert. Untereinander bezeichnete man sich als Brüder. Analoges gilt für Ammas, Mütter, von weiblichen Gemeinschaften, die auch – aber wesentlich spärlicher – belegt sind. Auf diese Weise wurde die leibliche Familie durch eine geistliche ersetzt, auch wenn die Symbolik und das Vokabular der Familie beibehalten werden. Die Flucht vor der Welt führt so nicht zu einer neuen, ganz anders gestalteten oder konzipierten Welt. Im Gegenteil, die Mönchswelt ist strukturell analog zur Ausgangswelt angelegt, ihre Begriffswelt steht in konzeptueller und literatischer Kontinuität zur antiken Tradition und bedient sich derselben Sprache. Kurz: Der christliche Asket kann zwar der Welt entsagen, aber sich von ihren organisatorischen, sozialen und konzeptuellen Vorgaben gänzlich zu lösen, gelingt ihm nicht. Die vollständige Weltflucht bleibt letzten Endes ein nicht realisierbares Ideal. 20   Caner, D.: Towards a Miraculous Economy. Christian Gifts and Material ‚Blessings‘ in Late Antiquity, Journal of Early Christian Studies 14, 2006, 329–77.

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Das Menschenbild der kirchlichen Synoden bei den Ostsyrern zwischen Weltverantwortung und Weltflucht Martin Tamcke Für viele Menschen des frühen 20. Jahrhunderts brachte der Schriftsteller David Herbert Lawrence (1885–1930) in seinem Brief an die Schriftstellerin Katherine Mansfield (1888–1923) vom 7. Januar 1916 das Gefühl des Überdrusses gegenüber der Welt treffend zum Ausdruck: Ich werde nicht mehr um irgend etwas kämpfen und ringen – fort wie ein Distelflaum, irgendwohin, nichts mit der Welt zu schaffen habend, keine Bindungen mehr.1

Angriffe auf ihn wegen seines Pazifismus’ mitten im Ersten Weltkrieg, Deportation seiner deutschen Frau wegen, Kontroversen um seine Werke und Ansichten in der gefühlten Atmosphäre des Unverstandenseins – das alles schien durch die Flucht aufs Land nach Cornwall aus der Welt geschafft. Hier in Cornwall gefällt es mir sehr – es ist so friedlich, so abgeschieden von der Welt. Vielmehr: die Welt ist auf immer entschwunden – es gibt überhaupt keine Welt mehr, nur noch das Hier, und eine feine, leichte Luft, die niemand und nichts verstänkert.2

Mit der Welt und den Leuten sei er „fertig“. Nie mehr wolle er versuchen, „etwas mit der Welt zu unternehmen. Die Welt ist verschwunden, ausgelöscht, wie die Lichter gestern abend im Café Royal – weg, auf immer weg.“3 Sein Koordinatensystem bestand aus den beiden Polen: Welt und individuelle ­Seele. Die Welt knistert und kracht aus den Fugen, aber das ist eine andere Sache, ein Chaos, das äußerlich ist. In der Seele hat man eine ganz bestimmte, unverletzliche Ordnung. Da sitzt man fern von allem wie in einem Mastkorb.4

  Lawrence, David Herbert: Briefe, Zürich 1982, S. 146.   Lawrence, S. 145. 3   Lawrence, S. 145 f. 4   Lawrences Brief an Lady Cynthia Asquith vom 26. April 1916, Lawrence, S. 158. Ohne die religiöse Folie ist Lawrence nicht angemessen zu verstehen, vgl. Bitzer, Gerhard: D. H. Lawrence und das nachchristliche Suchen nach einer Religion, Diss. Heidelberg 1960. 1

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Was Lawrence zwischen Weltverantwortung und Weltflucht bewegte – er sollte sein Leben lang auch äußerlich auf der Flucht bleiben, ohne wirklich dauerhaften Wohnsitz –, kann kaum so auf die Spätantike im Iran übertragen werden, sollte aber als Schärfung zur Wahrnehmung damaliger Argumentationsmuster zugelassen werden, weil über den garstigen Graben der Geschichte hinweg zu fragen ist, ob die Alternative von Weltverantwortung und Weltflucht nicht auch über den Zeitensprung allen dies verneinenden Diskursen zum Trotz elementar Menschliches thematisiert, das sich eben nur in historisch, kulturell, sozial und politisch konkreten Kontexten je verschieden ausgestaltet. Es versteht sich, dass die Texte der Sammlung ostsyrischer Synodalakten, die mit einer Synode aus dem Jahr 410 beginnt und mit einer Synode in der frühislamischen Zeit, im Jahr 775/76 endet, kein einheitliches Verständnis dessen ausweisen, was ihnen der Begriff „Welt“ ist.5 Die Welt als das Ganze alles Existierenden kann in den Texten sowohl positiv als auch negativ als auch neutral erfasst werden. Schon in frühen Texten wird aber die Triebkraft des Glaubens in Spannung zur Welt verstanden und unter Welt eben das verstanden, was da kulturell, sozial und religiös die iranische Umwelt der ostsyrischen Christen bestimmte. Der Anfang des guten Weges sei, Gott zu fürchten, heißt es im Mahnschreiben des Katholikos Mar Abā (540–552), das in die Synodalakten aufgenommen wurde. Der ganze Reichtum dieser vergänglichen Welt käme ihr nicht gleich und ohne sie wären die Schönheit der Menschen und die Engel in ihren Ordnungen schlichtweg „unendlich abscheulich“.6 Nur wer so für das Vollkommene einen Ort außerhalb alles Unvollkommenen hat, gewinnt einen Wertmaßstab, der alles hier zu hinterfragen und in Frage zu stellen erlaubt. Indem die gegenwärtige Welt nicht genötigt wird, letztlich befriedigenden Reichtum oder Schönheit zu verbürgen. Menschliches gewinnt seinen Glanz erst durch ein außerhalb des Menschlichen liegenden Glanz, indem es sozusagen aus höherer oder zukünftiger Perspektive in den Blick gerät und menschliches Handeln und Verhalten von daher qualifiziert. Dass selbst die Engel in ihren Ordnungen nur Glanz und Schönheit erhalten durch die Gottesfurcht, mag auch durch die vita angelica begründet sein, ist aber zugleich eine beachtliche Aussage über die Tragweite und Fundamentalität dessen, was Gottesfurcht im Blick auf Welt bedeutet, 5  Solange keine umfassende kritische Edition des Synodicon orientale verfügbar ist, müssen an diesem Text Interessierte mit den Ausgaben von Chabot, Jean Baptiste: Synodicon Orientale ou Recueil de Synodes Nestoriens (Notices et extraits des manuscrits de la Bibliothèque Nationale 37), Paris 1902 (bietet eine Edition unter Verwendung mehrerer Manuskripte mit französischer Übersetzung), und Braun, Oskar: Das Buch der Synhados oder Synodicon Orientale. Die Sammlung der nestorianischen Konzilien, Stuttgart / Wien 1900, repr. Amsterdam 1974 (bietet nur eine deutsche Übersetzung, basiert aber auf differenten Manuskripten und daher nützlich für Vergleiche) arbeiten. 6   Chabot, S. 80 (syrisch) / S. 333 (französisch); Braun, S. 128 (wie Anm. 5).



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eben nicht nur konstitutiv für die Menschen, sondern ebenso konstitutiv für die Engel. Die Gottesfurcht allein versetzt in Distanz zu aller Vernetzung im gegenwärtigen Tun und Leben. Sie kündet von der unvergänglichen Welt, insofern sie nicht den Menschen den Gesetzen der vergänglichen unterwirft, sondern im Gegenteil ihn dagegen immunisiert. Das geschieht mit einem ordentlichen Schuss Moral und Trennung, ja Gegenüberstellung zweier Wege und Wirklichkeiten. Und jede Begierde, die nicht auf sie ihr Streben richtet, ist gar schimpflich und durchaus verflucht, und in der Hölle ist dem, der so begehrt, der Anteil der Pein bereitet. Alle Weisheit und Wissenschaft, die mit ihr nicht gewürzt ist und deren Ziel nicht auf sie gelenkt ist, ist eitel und geschmacklos und bereitet ihrem Besitzer allen Schaden. Alle Kräfte, die auf sie nicht gestützt und in ihr nicht gefestigt sind, sind hinfällig. Wer immer aber an sie sich spannt, auf sie seinen Blick konzentriert, ihr sein geistiges Ohr leiht und zu ihrer Gemeinschaft die Bereitschaft seines Willens und seiner Rede lenkt, disponiert nichts ohne sie und regelt nach ihr sein ganzes Benehmen im Wandel des zeitlichen Lebens, wo Raum für jeden ist, der mit Gerechtigkeit handeln will in der Übung guter Werke.7

Der Unterschied eines Menschen dieser vergänglichen Welt zu einem Menschen in Gottesfurcht, also einem Menschen im Kraftfeld der unvergänglichen Welt, ist also der Unterschied in der Haltung und in der inneren Begründung des menschlichen Handelns. Anstelle der unverstellten, sich selbst durchsetzenden Begierde tritt ein Handeln, das sich nicht einfach in den Mechanismen der Welt einrichtet und sie für die Selbstdurchsetzung nutzt, sondern das Handeln filtert in ethischer Absicht und in Rückbindung an einen ethisch unverrückbaren Maßstab. Wer in dieser Weise das Gute tut und so voller Gottesfurcht ist, ist den Ausführungen des Mar Abā nach „in Wahrheit ein Hausgenosse Christi“.8 Diese Welt und das gegenwärtige Leben aber sind eben lediglich jener Raum, in dem Gerechtigkeit und rechtes Verhalten und Handeln eingeübt werden. Was Mar Abā in den Metaphern von vergänglicher und ewiger oder unvergänglicher Welt fasst, bezeichnet der Katholikos Ezechiel (570–582) mit einem Weltverständnis, das auf der zeitlichen Schiene angesiedelt ist, wenn er im Gegensatz zur gegenwärtigen von der „zukünftigen Welt“ spricht. Das Priestertum – ganz allgemein als „erhabener“ qualifiziert „als die Welt und Alles, was darin ist“ – gegen Bezahlung zu verkaufen, bedeutet für die so die Weihe Verhökernden, dass sie sich „die Hölle und die Pein“ kaufen, „die in der zukünftigen Welt den Gottlosen bewahrt ist“.9 Wieder also dient die Rede von der Welt, gerade die von der zukünftigen im Gegensatz zu der real 7   Chabot, S. 80 / 333; Braun, S. 128 (wie Anm. 5). (Brauns Übersetzung von mir leicht an den gegenwärtigen Sprachgebrauch angeglichen). 8   Chabot, S. 80 / 333; Braun, S. 128. 9   Chabot, S. 122 f. / 381; Braun, S. 181; vgl. auch im Symbolum des Katholikos Īšō‘jahb I. dessen Rede von Gott als weisem Regenten „dieser und der künftigen Welt“, Chabot, S. 193 / 452; Braun, S. 274.

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existierenden der Gegenwart, dazu, ethisch gefordertes Verhalten mit Nachdruck zu versehen. Das Priestertum, stets gefährdet, seiner Bestimmung vom Zukünftigen her entfremdet zu werden, muss daher – gerade weil eine gegenteilige Wirklichkeit sich bis zum Handel mit ihm versteigt – als „erhaben“ reklamiert werden, um es dagegen zu sichern, dass es ausschließlich unter dem Blickwinkel des Finanziellen in den Blick gerät. Eine dritte Möglichkeit, die gegensätzlichen Pole zu erfassen, ist die Rede von oberer und unterer Welt, beide von Gott geschaffen, denen Gute, Gerechte, Weise dieser und der zukünftigen Welt zugeordnet werden, wo also Horizontale und Vertikale das denkerische Koordinatensystem von Welt gemeinsam bezeichnen.10 Diese Version findet sich im Glaubenssymbolum des Katholikos Īšō‘jahb I. (582–596). Derselbe Katholikos bekennt sich gleich in der Einleitung zu Gott als dem Gründer und Ordner der beiden Welten, dieser sterblichen Welt, die als geschaffen einen Anfang und als zeitlich ein Ende hat, und jener unsterblichen Welt, die erhaben ist über das Maß der Zeiten, die als geschaffen einen Anfang nahm, welche aber kein Ende abschneidet, als ob sie vergänglich wäre, die ohne Ende dauert nach dem Willen des Allordners, der geschmückt hat den Wandel der Menschen mit dem Lichte der Vernunft, die Vernunft aber durch Aufstellung passender Gesetze unterstützt, stärkt und erleuchtet.11

Die Kirche des Ostens kennt keine Erbsünde, wie sie den Kirchen des Westens eigen ist. Die prominente Stellung der Vernunft, nicht nur in diesem Text, hat immer wieder zu Diskussionen geführt, wozu dann noch kirchliche Ordnungen und Gesetze gebraucht werden, und zumeist wurde deren Notwendigkeit dann in der Begrenztheit der menschlichen Vernunft in Belangen eines verantwortlichen Handelns gesehen. Gott schafft beide Welten, aber in der vergänglichen Welt gilt es, der unvergänglichen im Lichte der Vernunft und ihr dienender Gesetze zu leben. Diese Gesetze sind nun in der Bibel greifbar. Biblische Bücher dienen der Welt zur Belehrung.12 Die Propheten schrieben von ihrer Not, „damit die Erinnerung nicht aus der Welt verschwinde“.13 Und kirchliche Kanones, die für sich in Anspruch nehmen, im Fahrwasser der biblischen Ordnung das Leben jener zu regeln, die hier zusammengeschlossen sind als die, die auf die zukünftige Welt zuleben und sie eben dadurch präsent werden lassen in der gegenwärtigen, „sind hohe Mauern und unersteigliche Burgen, beschützend ihre Beobachter vor jedem Schaden“.14 Der Katholikos Georg I. (661–680) spricht so davon, dass Gott der Welt „helfende Gesetze“ gegeben habe zur   Chabot, S. 193 / 452; Braun, S. 273 f.   Chabot, S. 130 / 390; Braun, S. 192. 12   Chabot, S. 230 / 494; Braun, S. 352 (Brief des Katholikos Georg an Mina). 13   Chabot, S. 204 / 466 f.; Braun, S. 292 (Brief des Katholikos Sabrīšō‘ I. an die Einsiedler von Barkitai). 14   Chabot, S. 97 / 355; Braun, S. 148 (Synode des Katholikos Joseph). 10 11



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Erprobung des Willens, ja, „damit wir und die Engel unseren freien Willen beweisen möchten“.15 Mönche haben sich dem Befehl ihrer Oberen zu fügen und nicht ohne deren Wissen herumzustreifen, „was nicht nur für Mönche und Einsiedler unpassend ist, sondern auch für solche, die einfach in der Welt leben.“16 Auch wenn es Mönchen zuvörderst gilt, so doch nur zuvörderst, letztlich aber allen Menschen. Die Stellung zum Mönchtum in der Kirche des Ostens dokumentiert eindrücklich, wie die Zeitläufe die kirchlichen Stellungnahmen verändern: Herkommend aus einer protomonastischen Tradition, in der alle Gemeindeglieder wie Mönche leben, hin zur Herausdrängung des Mönchtums an den Rand der Kirche und der Forderung der Verheiratung aller Vertreter des Episkopats bis zum Katholikos hinauf Ende des 5. und zu Beginn des 6. Jahrhunderts bis hin zur Dominanz des Mönchtums in der Kirche Anfang des 7. Jahrhunderts, als dann auch die Bischöfe und Katholikoi wieder zölibatär zu leben hatten. Diese Ausschläge in der Positionierung wird in den Synodalakten selbst reflektiert und in den historisch je neuen Erfordernissen gesehen, die eben auch je neue Bestimmungen notwendig machen würden. Die ganze Welt schließlich hat nur die Funktion, dem Lernprozess des Menschen zur Verfügung zu stehen als Laboratorium seiner Vernunft. Der barmherzige Gott habe zur Belehrung, Prüfung, Unterscheidung und zum allmählichen Beweis der geistigen und körperlichen Vernunftwesen diese Welt, reich an Verschiedenheiten, Wechseln und Prüfungen und voll von Gegensätzen, in Weisheit gegründet, dass dadurch die Selbstständigkeit und Willensfreiheit aller Vernünftigen erkannt werde.17

Diese strikte Trennung der Welten beinhaltet eben auch, dass die gegenwärtige Welt mit Mitteln der gegenwärtigen Welt bemeistert werden muss mit Vernunft, in Selbstständigkeit und Willensfreiheit. Glaube ist hier nicht Verlust des freien Willens und auch nicht der der Selbstständigkeit, aber er ist das, was den Willen in Anspruch nimmt und die Selbstständigkeit erfordert. Wer um die andere Welt weiß, beteiligt sich an den irdischen Notwendigkeiten für die Existenz der Kirche etwa mit Gaben an den Baumaßnahmen der Kirche, in der zeichenhaft in der Vorwegnahme des Zukünftigen gelebt wird als der allem Handeln und Verhalten zugrunde liegenden Intention. Die theologische Begründung für solches Sponsoring ist gewagt, direkt und absichtsvoll. Da die wahren Gläubigen wissen, dass eine andere Welt zum unvergänglichen Lohne bereitet ist, sondern sie Gott eine Gabe aus zum Bau, zur Ausstattung und zur Besorgung der heiligen Tempel, der Kirchen, Klöster, Xenodochien, Schulen und Episkopien, damit es ihnen gerei  Chabot, S. 231 / 495 f.; Braun, S. 353f (Katholikos Georg, Brief an Mina).   Chabot, S. 206 / 468 f.; Braun, S. 295 (Brief des Katholikos Sabrīšō‘ I. an die Einsiedler von Barkitai). 17   Chabot, S. 230 / 494; Braun, S. 253 (Katholikos Georg, Brief an Mina). 15 16

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che zur Bedeckung der Sünden, zur Reinigung der Seele, zur Bewahrung ihres Geschlechtes.18

Solche Mildtätigkeit verwandelt den scheinbar verlorenen Besitz in ewigen, oder wie der Katholikos Īšō‘jahb I. sagt: „sie machen sozusagen den vergänglichen zum unvergänglichen Besitz“.19 So mindert also die Zugehörigkeit zur anderen Welt schlicht und konkret die Gewinnspanne aufgrund freiwilliger Gaben als zeichenhaften Einholungen der Liebe, erhält aber eine erstaunlich weit reichende soteriologische Aussage zur Zweckhaftigkeit solchen Verhaltens. An dem Verhalten, das aus der Zugehörigkeit zur unvergänglichen Welt resultiert, scheiden sich Weltmensch und Geistmensch. Die Zugehörigkeit zur zukünftigen Welt führt nicht nur zu Spendenbereitschaft, sie führt auch zu einem Abgrenzungsverhalten gegenüber der Gesamtgesellschaft. So regelt der Kanon 37 der Synode des Katholikos Ezechiel ausdrücklich, „dass die Christen von nun an ihre Töchter nicht mehr hergeben sollen, weltliche Musik zu lernen.“20 Kleriker werden angehalten, nicht mehr bei Weltleuten Erzieher zu sein, da das ihre von der Kirche erhaltene Würde herabsetze.21 Das ethische Verhalten im Geiste der zukünftigen Welt gilt als erhaben. Seine Würde ist verletzbar durch eine Interaktion, in der die Partner in der Interaktion den Beweggründen des gläubigen Menschen, des Priesters allzumal, nicht Rechnung tragen können, da sie in ihrem Verhaftetsein in dieser Welt der Zugehörigkeit ihres Partners zu jener Welt gegenüber blind sind. Die Synode des Katholikos Joseph (552–567, † 576) spricht vom Tod seines Vorgängers Mar Abā im Jahr 551/2 mit den Worten „schied aus dieser Welt“.22 Diese Welt wird verlassen, die Zugehörigkeit zur zukünftigen damit alleingültig. Wie viel dem Bekenntnis zur Auferstehung der Toten und zum neuen Leben der zukünftigen Welt im Symbolum des Katholikos Īšō‘jahb I. zuzutrauen ist als eigenständige Theologie der Kirche des Ostens, mag hinterfragt werden aufgrund der Tatsache, dass dies als Zitat westlich-nicänischer Tradition ausgegeben wird, aber dennoch liegt dieses Bekenntnis auf den nun schon hinlänglich aufgezeigten Linien ostsyrischen Weltverständnisses. Und aus diesem Verständnis heraus scheidet sich Unvergängliches vom Vergänglichen, Geistiges vom Materiellen, oben von unten, der Gegenwart Zugehöriges von dem, was der Zukunft zugehört. Nichtchristliche Gerichte sind zu meiden,23 desgleichen die Feste der Andersreligiösen – „Kein Christ darf zu nicht christlichen Festen gehen noch auch, was ihm davon geschickt wird, an  Chabot, S. 143 / 405; Braun, S. 209 (Synode Īšō‘jahb I., Kanon 7).  Ebd. 20   Chabot, S. 127 / 386; Braun, S. 187. 21   Ebd. (Kanon 36). 22   Chabot, S. 96 / 353; Braun, S. 146. 23   Chabot, S. 155 / 415; Braun, S. 225.

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nehmen. Denn es ist Aussonderung von dem, was zu deren Opfer ausgesondert wurde.“24 –, und gänzlich gar gilt es sich auch fernzuhalten von Kneipen und Picknicks.25 Stattdessen sei ein geistiger Wandel einzuüben, für den die Priester ein Bildnis zu sein haben. Folgerichtig ist den Priestern nicht erlaubt, in eleganten Kleidern, in fleischlichem Wandel, in wandelbarem, beweglichem Sinn, der sich kindlich nach jedem Winde richtet, gleich den Weltleuten sich weltlich zu benehmen, sondern sie möglichst dem künftigen Leben gleich sein sollen.26

Also: Welt kann horizontal oder vertikal verstanden werden mit Begriffspaaren wie oben und unten, vergänglich und unvergänglich, zeitlich und ewig, gegenwärtig und künftig. Verantwortung in der Welt wahrzunehmen bedeutet dabei, sich vom etablierten gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen und sozialen Leben zu distanzieren und stattdessen in die kirchliche Parallelgesellschaft zu investieren, die in Gestalt der Kirche ein Übungsfeld der eigenen Zugehörigkeit zur zukünftigen, oberen oder unvergänglichen Welt ist. Die Tatsache der Zugehörigkeit zur zukünftigen Welt pflanzt allem Handeln und Verhalten hier seinen transparenten Zielgrund ein und macht es von daher zu einem Akt der Weltgestaltung, die die zukünftige Welt, auf die hin diese Welt im gegenwärtigen Verhalten gestaltet wird, stets als Quelle des Handelns allem Handeln grundgelegt weiß. Diese futurisch-eschatologische Struktur versetzt den Lebensvollzug des Menschen in eine Bestimmung sozusagen von vorne, von der vollkommenen Welt her. Der Mensch hier ist gleichsam ohne Glanz, wenn ihm nicht der Glanz zukünftiger Welt insofern zukommt, als er darauf gerichtet ist. So wirkt die zukünftige Welt durch das Handeln und Verhalten des Menschen in der gegenwärtigen. Die zukünftige Welt birgt die Vollkommenheit, die, weil sie nur dort ist und hier nur in der Absicht auf das Zukünftige zu gelebt werden kann, hier alles Leben zu einem Feld ethischer Bewährung macht und gleichzeitig die gegenwärtige Welt von Zuschreibungen religiöser Bedeutung und Erhöhung befreit. Hier ist alles noch nicht das dort sichtbar werdende Wesen, sondern völlig frei von religiösen Zuschreibungen bestenfalls Potenz, wo es schon unter dem Anspruch des Glaubens steht, oder schlicht ein Dreck, ein Nichts, wo es mit dieser Welt schlicht hinfällig, vergänglich, glanzlos, niedrig ist. Die vom Glauben in die Welt eingeführte Scheidung der Welten ist zuletzt auf das Christusgeschehen zurückzuführen: Die ganze Welt bedurfte gar sehr der Erscheinung unseres Erlösers, besonders aber das Menschengeschlecht, dass er uns aus der Sündenschuld erhebe, aus der Knechtschaft des Todes erlöse, aus der in der Todesverwesung liegenden Erniedrigung errette und das Vorzüglichste, das unvergängliche Leben, die vollkommene Erkenntnis seiner Gottheit und die dauernde   Chabot, S. 158 / 417 f.; Braun, S. 228.   Chabot, S. 158 f. / 418; Braun, S. 229; vgl. Brauns Anmerkung S. 142. 26   Chabot, S. 176 / 435 f.; Braun, S. 252 (Kanon 8 der Synode des Īšō‘jahb I.). 24 25

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Befestigung des Daseins in der Herrlichkeit seiner Majestät aus Gnade den Menschen und Geistern gebe.27

Damit wird das Leben in der Welt bestimmt als ein Leben aus der oberen und zukünftigen und unendlichen Welt. Paul Tillichs Kernaussage – „Das göttliche Leben partizipiert an jedem Leben als sein Grund und Ziel“28 – wird in der Kirche des Ostens also tatsächlich eingeholt, aber eben konzentriert als eine christologische Aussage und ganz und gar so, dass das göttliche Leben lediglich innewohnende Triebkraft ist für ein in der Vernunft verankertes Handeln und so den Menschen gänzlich als Menschen belässt, ohne ihm einen Anteil an der Göttlichkeit zukommen zu lassen. Und es macht da natürlich Sinn, dass die die Kirche des Ostens kennzeichnende Trennung von Göttlichem und Menschlichem in der Christologie, bei der das Göttliche nur gleichsam im Menschen wie in einem Tempel wohnt, eine Parallele hat in der Trennung jener göttlichen Welt und dieser vergänglichen Welt. Auch wenn die vergängliche Welt als endlich gedacht wird, auch wenn sie nur ein Dreck ist, so ist die Welt hier doch nichts als die Welt hier, gelten in ihr nichts als die Gesetze der Vernunft, die zwar auch im Blick auf die Welt da das Organ der Weltgestaltung bleibt, aber eben gleichsam außerirdisch von einer anderen Welt her in dieser Welt in Anspruch genommen wird. Wo Lawrence dieser Welt also in Richtung auf eine vollkommenere zu entkommen trachtete durch seine Absage an diese Welt, da gehen die Synoden der Kirche des Ostens bereits von einer entzauberten Welt aus und machen gerade diese entzauberte Welt zum Feld der Bewährung, wie in Christus gegenwärtige und zukünftige Welt zueinander finden, aber sich nicht vereinen, noch sich einfach scheiden, sondern im Handeln und Leben aus dem Sinn ins nach vorne geöffnete Sein finden. Weltflucht im modernen Sinn ist das nicht, gerade die Entmachtung und Relativierung des Anspruchs dieser Welt zielt auf etwas anderes: auf das Leben in dieser Welt zur Abbildung einer alternativen, unvergänglichen, wesensmäßig geistigen Welt in die materielle, ökonomische, politische, religiöse und kulturelle Welt hier hinein. Dabei ermöglicht die von vorne her erfolgende Entmachtung dieser Welt ihre Freisetzung als Raum ethischer Bewährung und macht den Lebensentwurf der Gläubigen zur permanenten Kampfansage an eine Welt, die anderen Gesetzen folgt als denen biblisch begründeter Ethik, die alle Welt aus ihren Gesetzmäßigkeiten herausholen will und hinterfragt.

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  Chabot, S. 234 / 499; Braun, S. 357.   Tillich, Paul: Systematische Theologie I/II, Frankfurt a.M. 81984, S. 283.

Index 1.  Index nominum Abbas Innozenz 154 Abraham 157 Achill 15, 16, 17, 18, 20, 21, 22, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30 Aelius Aristides 20, 24, 30 Aeneas 49 Agamemnon 13, 14, 15, 16, 17, 18, 21, 22, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30 Aias 15, 18, 72 Ambrosius 129 Amélineau, Émile 151 Ammonios 155 Antonius 147, 158, 168, 169 M. Antonius 65, 67, 68, 70, 76, 79 Ate 17 Atticus 58, 60 Augustus 49 Benedikt 171, 173 Benjamin 156 Black, M. 119 Blenkinsopp, J. 121 Boccaccini, G. 111 Bosporia 162 Bousset, Wilhelm 149 Buber, Martin 143 Bultmann, Rudolf 132 Bunge, Gabriel 150, 151, 153, 157 Butler, Cuthbert 148 Caesar 68, 69 Candida 159 Chitty, Derwas James 151 Cicero 48, 50, 65 Collins, John Joseph 114 Cook, S. L. 116 Cornelius Nepos 60 Q. Cornificius 79 Davies, G. I. 115 Davies, P. R. 115, 119 Didyme 170

Didymos der Blinde 149 Dike 22 Diogenes 86, 87, 88 Diokles 153 Dodds, E. R. 133 Dorotheos 153 Draguet, René 149, 150, 157 Ephraim der Syrer 154, 156 Eulogios 158 Evagrios Pontikos 149 Evagrius Ponticus 174, 177 Fisher, Arthur L. 149 Frank, Georgia 152 Gemeinhardt, Peter 148 Goff, Matthew 118 Grayson, A. K. 114 Guberti Bassett, Sarah 160 Hanson, Paul D. 111, 114 Harnack, Adolf von 136 Harrington, Daniel J. 115, 118 Harrington, Hannah 113 Häuptli, Bruno 149 Hellholm, D. 114 Hieronymus 171 Homer 14, 19, 73 Honorius 149 Hunt, E. D. 149, 162 Innozenz I. 149 Isidor 159 Jensen, Anne 151, 159 Jesus 133 Johannes Cassian 171, 173 Johannes Chrysostomos 149, 152, 163 Jones, Lucy 55 Katholikos Ezechiel 183 Katholikos Georg I. 184 Katholikos Īšō‘jahb I. 184 Katholikos Joseph 186 Katholikos Mar Abā 182

190 Index Katos, Demetrios 148, 149, 150 King, Charles 50 Koch, K. 114 Kvanvig, H. 115 Kyrill von Alexandrien 160 Laager, Jacques 153, 155, 158, 159 Lambert, W. G. 114 Lausos 150, 152, 161 Lawrence, David Herbert 181 Libanios 23, 24, 29, 30 Liebeschuetz, J. H. W. G. 48, 49 Linnér, Sture 151 Litai (Bitten) 17 Lucretius 49 Makarios 153, 156 Marius 87 Martindale, John Robert 160 Martínez, F. García 111 Melania 149, 157, 159, 160 Meleager 17, 22 Milik, J. T. 119 Moschos 147 Müller, Andreas 147 Müller, H.-P. 115 L. Munatius Plancus 70, 77, 78, 82 Nemesis 22 Nestor 72 Nickau, Klaus 150, 151, 160 Nissinen, M. 114 Odysseus 15, 20, 24, 26, 28, 29, 30, 72, 73 Overbeck, Franz 132 Pachomius 169, 172 Palladios 148, 149, 150, 152, 155, 158, 159, 160, 161, 162, 163 Pambo 153, 157 Patroklos 13 Paulus 134 Perikles 11 Philon 130 Philoromos 153 Phoinix 15, 17, 22 Platon 14, 31–45, 129 Plautus 51, 53 Plinius minor 59

Plöger, Otto 111 Plotins 130 Pollmann, Karla 162 Polyklet 10 T. Pomponius Atticus 70–73, 74 Popović, M. 117 Porträt 73 Pulcheria 160 Quintilian 19 Rad, G. von 115 Rapp, Claudia 152, 160, 163 Reitzenstein, Richard 151, 157 Ringgren, H. 114 Rowland, C. 115 Rowley, H. H. 114 Rufin 149 Russell, D. S. 114 Sacchi, Paolo 111 Saller, Richard 50 Scheid, John 52 Schwartz, Eduard 148, 151 Seneca 85–109 Shemesh, Aharon 112 Smith, M. 114 Steck, Odil Hannes 111 Stone, M. E. 115 Stuckenbruck, L. T. 118 Tacitus 59 Theodosios II. 160 Theophilos 149 Tigchelaar, E. 116 Tillich, Paul 188 Timotheos von Alexandreia 150 Valerius Maximus 51, 52 VanderKam, J. C. 115 Vansina, J. 57 Verus von Ankyra 162 Virgil 49 Vogüé, Adalbert De 151, 153, 157 Weber, Max 132 Wellhausen, Adelheid 150, 162 Woude, A. S. van der 111 Wright, Archie T. 121 Zeus 25

Index 191

2.  Index rerum Aelius Aristides, 16. Rede 20–30 Ägypten, Spätantike 167 Aischylos, Myrmidones 19 Aktivität 69 Anachoresis 147 Ankyra 155 Anwalt 155 apocalyptic 111, 112, 114, 118, 121, 123 Arrian, Epicteti Dissertationes 3,22 86, 91 Askese 136, 141 Aufbegehren eines Individuums 30 Basileias 147 Bekleidung der Frauen 8 Belange der Allgemeinheit 28 Besitz 153 Besitzverzicht 163 Briefform 72, 79, 100–103 brothers 52 Bürger 7–11, 128 caritas 51, 161 Chassidim 143 Christian 54 Christianity 47 Cicero Ad Atticum 69, 70, 74, 100 Ad familiares 69, 77, 79 De officiis 64, 69, 70, 80, 81 Philippicae orationes 69, 76 clementia 51 Damascus Document 112, 122, 123 Deklamation 20 Demokratie 9 Diesseits 31, 32, 39, 40, 41 di manes 55 Diognetbrief 127 di parentes 55 divination 112, 116, 124 divine retribution 48 Engel 182 Enoch 119, 120, 121 Enochic 118, 120 Entgrenzung 142 Epheserbrief 142 Epicureanism 51, 58 Epikur 85–109, 91, 100–103 Erbsünde 184

exemplum 55, 85–110 familia 52 Frauen 159 Freundes-Solidarität 18 Gemeinschaft 13 Gemeinsinn 18, 23 Gemeinwohl 21 Glanz 187 gloria 78, 80 Gnosis 136 gods 47 Gottesdienst 34, 36, 38, 42 Gottesfurcht 182 Greek philosophical schools 58 halakhah 111–126, 112, 117, 118, 121, 123, 124 Historia Lausiaka 148, 150 Höhlengleichnis 32, 34, 35, 37, 38, 39, 41, 44 honores 60 Hospiz (ξενοδοχεῖον) 154 Ilias 13, 73 Buch 9: 14, 15, 72 imitatio Christi 48 impietas 54, 58 Inaktivität 69 Individuum 13 Jenseits 31, 32, 33 Johannesapokalypse 135 Johannesevangelium 137 Kirche 185 Kolosserbrief 140 Kommunikation 85–110, 93–109 Konstantinopel 152, 156 Kontrapost oder Ponderation 9 Kosmokrator 140 Krankheit 85–109 Kyniker 85–109, 91–109 Lebensalternativen 16 Libanios, 5. Deklamation 23–30 maiores 47, 54, 79 männliche Nacktheit 8 manticism 114, 116 marriage 53 Menschenbild 7–11, 63. Siehe auch Porträt Mönche 185

192 Index Mönchtum 147 eremitisch 168, 177 koinobitisch 169, 171 semi-eremitisch 168, 171, 177 monumentum 57 mos maiorum 54 Naturwahrheit 8 negotium 65, 69 Nitria 156 officium 52 otium 65, 67, 69, 91 pater familias 50, 55, 58 patria 58 patronus 58 pax deorum 56, 58 persona 64 Pflicht 64, 78 φιλάδελφος 152 Philanthropie 152 φιλάνθρωπος 152 φιλοτιμία 25 pietas 47, 49 Platon, Politeia 14 [Plutarch], Über Homer 20 polis, Ideengeschichte 176 polytheism 47 Porträt 63, 70, 74, 78, 81 Selbstdarstellung 64, 66, 69, 80, 81, 83 Präsenz 74, 76, 82, 83 principate 59 Prüfung 185 Qumran 120, 121, 122, 123 Regel des Benedikt 167, 173 Reichtum 159 religio 50 Rhetorik 19 Rom 156 Rückzug 18 Schönheit 182 Schöpfung 131, 133, 134, 135, 137, 143 Seelenführer 161 Seelentherapie 36, 42 Seneca d.Ä., Suasoriae 65, 67 Seneca d.J., Epistulae morales 85, 93, 94, 97, 100, 101, 105 7: 102

52: 101 59: 106 62: 105 68: 106 120: 104 sense of time 57 socialisation 58 Solidarität 30 Sterbeszene 93–109 Stoa 135 stoicism 59, 64 Tacitus, Annalen 16,22–35: 94–97 Tempel 142 θεωρία 37, 38, 39, 43 Therapie 91–109, 103–109 Thrasea Paetus 93–109 torah 112, 113, 117, 122, 123 Treueverpflichtungen 22 Überdruss 181 Umkehr 75, 76 Urchristentum 127 Verantwortungsgefühl 30, 80 Verdienste 24, 25 Vernunft 184 Verweigerungshaltung 13, 24 Vita Antonii 155 das Vollkommene 182 Vorbild 79, 80, 81, 83. Siehe auch exemplum Weisheit 183 Welt, unvergänglich 183 Welt, vergänglich 183 Weltdistanz 127 Weltflucht 31–45, 63, 64, 68, 81, 83, 93, 129, 182 Weltverantwortung 31–45, 63, 64, 68, 81, 83, 129, 182, 187 Weltzuwendung 127 Wiedergutmachung 27 wisdom 117 Wohlfahrt 161 Wüste, Gegensatz zur Stadt 173, 175 Xenodochie 147 Zorn des Achill 13 Zufluchtsort 69 Zweiten Sophistik 20