Der Mensch und seine Sprache(n) 9783205128663, 320599406X, 9783205994060

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Der Mensch und seine Sprache(n)
 9783205128663, 320599406X, 9783205994060

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böhlauWien

Wissenschaft • Bildung • Politik Herausgegeben von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft

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DER UND SEINE

MENSCH SPRACHE(N)

Herausgegeben von

Oswald Panagl Hans Goebl Emil Brix

b ö h l a u W i e n Köln Weimar

Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei D e r Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 3-205-99406-X Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2001 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. und Co. KG, Wien • Köln • Weimar http://www.boehlau.at Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier. Die Abbildungen des Farbbildteils sind Reproduktionen von Dias aus dem Archiv des Kunsthistorischen Seminars, Basel. Umschlaggestaltung: Miriam Weigel Satz: Andreas I. Gruber, Wien Druck: Berger, A-3580 Horn

VORWORT

Nichts prägt den Menschen so sehr, wie die Sprachen, die er versteht und verwendet. Sprache fasziniert, weil sie ein umfassendes Kommunikationssystem darstellt, das unterscheiden und verbinden kann. In der christlichen Tradition wird dies mit der Vorstellung des Turmbaus zu Babel und dem Pfingstwunder umschrieben. Zumindest in Europa lauten die Stichworte heute eher Balkankriege und Internet. Sprachliche Unterschiede dienen bis heute als ein Argument für Kriege, sprachliche Verbindungen als eine Voraussetzung für Globalisierung. Für die Osterreichische Forschungsgemeinschaft ist dies Anlaß, nachzufragen, was die modernen Wissenschaften zum besseren Verständnis des Phänomens Sprache beitragen. Die Sprache des Menschen gehört zu jenen Themen, die die Wissenschaften vor besondere Anforderungen stellen. Sprachen sind ein dynamischer Teil menschlicher Beziehungen. Sie verändern sich laufend und mit jedem neuen Kommunikationsmedium entstehen neue Sprachen. Die Zahl der Disziplinen, die Beiträge zur Erforschung der Sprache leisten, nimmt ständig zu. So unterschiedliche Disziplinen wie die Neurobiologie und die Computerwissenschaften versprechen uns neue Erkenntnisse. Dabei bereiten uns die Wissenschaften auch zahlreiche Enttäuschungen. Weder entwicklungsgeschichtlich noch bezüglich der Sprachfahigkeit des Individuums besitzen wir ein einigermaßen gesichertes Wissen über den Ursprung von Sprache oder über die Gründe ihrer Veränderungen. Kein sprachenrechtliches Modell konnte bisher politische Konflikte, die auf Sprachenvielfalt beruhen, nachhaltig lösen. Auch die Frage, wozu dem Menschen die Sprache dient, ist nur scheinbar einfach zu beantworten. Sie verbindet Menschen, weil sie Information und Emotion transportiert. Wir nehmen im Alltagsverständnis an, daß die Vermittlung von Information im Vordergrund steht. Der polnische Anthropologe Bronislaw Malinowski formulierte umfassender: „Sprache ölt die sozialen Räder". Nichts bestimmt den Menschen und seine sozialen Beziehungen so sehr wie die Sprache. Daher zählt die Fähigkeit zur Sprache zu den Grundfragen menschlichen Lebens und den Grundlagen menschlichen Handels. Sie ist Mittel zur Reflexion und zur Kommunikation. Im Alltagsleben fallt uns ihre Wichtigkeit nur auf, wenn Kommunikation nicht zustandekommt. Dies gilt für individuelle Sprachstörungen wie für die sozial geprägte Sprachenvielfalt, die uns laufend mit „Fremdsprachen" (Fachsprachen,

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fremde Muttersprachen) konfrontiert, deren Symbole wir nicht oder nur teilweise verstehen. Diese Fragen gehen weit über den engeren Fachbereich der Linguistik hinaus. Zahlreiche Disziplinen der Natur- und Geisteswissenschaften untersuchen heute das Verhältnis des Menschen zu seinen Sprachen, um in einem umfassenden Sinn die Kommunikation zwischen Menschen zu erklären und zu erleichtern. Die Osterreichische Forschungsgemeinschaft veranstaltete im Oktober 2000 als „Österreichischen Wissenschaftstag" ein internationales Symposium, das sich mit dem Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Sprache des Menschen befaßte. Etwa 150 Wissenschaftler folgten unserer Einladung zum gemeinsamen Nachdenken über die Sprache. Das vorliegende Buch beruht auf den Beiträgen und Diskussionen dieser Veranstaltung. Ziel dieses Buches ist es, den aktuellen Forschungsstand und die Perspektiven von Wissenschaftlern aller Fachrichtungen, die sich mit dem Menschen und seinen Sprachen befassen, zu präsentieren und ihre Beiträge für ein besseres Verständnis über das Zustandekommen und die Bedeutung von Sprache aufzuzeigen. Unser Blick auf die Sprache zeigt gleichzeitig die faszinierende Vielfalt wissenschaftlicher Forschung, ihr ständiges Bemühen um Innovation, ihre Arbeitsstile, ihre Methodenstreite und ihre Strategien. Am Beginn des Buches steht eine Absage an kulturgeschichtlich argumentierende Theorien des Sprachverfalls. Wolfgang Raible weist nach, daß sich die europäischen Sprachen, in jenen Fällen, in denen ihre Sprecher nicht zu anderen Sprachen übergehen, im permanenten Ausbau befinden. Der Autor hat die Veranstalter mit diesem Befund nicht überrascht. Kulturpessimisten scheinen sich nicht mehr die Sprache als Anschauungsmaterial auszuwählen. Seinen Schlußfolgerungen ist jedenfalls vorbehaltlos zuzustimmen: Die Etablierung immer neuer Textgattungen erweitert die Ausdrucksmöglichkeiten, erhöht aber gleichzeitig die Anforderungen an das Bildungssystem. Das Thema des Sprachwandels zählt zu den traditionellen Kernbereichen der Sprachwissenschaften. Beobachtungen über historische Abläufe der Sprachentwicklung haben sich in Modellen des Sprachwandels niedergeschlagen, die neben der Beschreibung und adäquaten Erklärung diachronischer Prozesse auch auf die Prognose künftiger Prozesse abzielen. Karin Donhauser analysiert die zahlreichen Theorien des Sprachwandels, die Suche nach Gesetzmäßigkeiten und die zu allen Zeiten vorhandenen Hypothesen, daß Sprachen „verarmen", „überfremdet" werden oder „verschwinden".

VORWORT

VII

Wie aber entsteht Sprachfähigkeit? Das weite Feld der kognitiven Linguistik hat das menschliche Sprachvermögen in einem dichten und engmaschigen Netzwerk aus biologischen, psychologischen und neurologischen Daten sowie Sachverhalten festgemacht. Der kindliche Spracherwerb im normalen und im retardierten Ablauf beschäftigt die moderne Sprachwissenschaft ebenso wie der pathologische Sprachverlust und die Möglichkeiten seiner Kompensation und Therapie. Welche Beiträge haben die Sprach- und Naturwissenschaften zu einem besseren Verständnis des menschlichen Sprachvermögens geleistet und welche Forschungsfelder sind heute vielversprechend? Der Aufsatz von Hubert Haider präsentiert aktuelle Ergebnisse der Hirnforschung, die Methoden entwickelt hat, um zu untersuchen, wo und wann im Gehirn Sprachverarbeitung erfolgt. Die größte Herausforderung für kognitive Neurowissenschaften besteht aber darin, Modelle zu finden, die nicht nur die Hirnaktivitäten bei Sprechakten beschreiben, sondern auch die Verbindung mit den dahinterliegenden kognitiven Leistungen herstellen. Die menschliche Sprache ist ein besonderes Zeichensystem, das neben den bedeutungstragenden Elementen (Wörtern, Endungen, grammatikalischen Formen) auch bedeutungsstiftende Einheiten (Laute, Intonationen) enthält. Mit den Gemeinsamkeiten und den entscheidenden Unterschieden zu vergleichbaren Kodierungsprogrammen beschäftigt sich die Semiotik. Sie hat sich in den letzten Jahren zu einer Kulturtheorie entwickelt, die den Anspruch erhebt, Kommunikation umfassend beschreiben und erklären zu können. Zeichensysteme stellen für sie ein Medium dar, in dem „Bedeutungen" konstruiert werden. Die Grenzen der Erkenntnisfähigkeit der Semiotik liegen dort, wo sie mehr über das Denken als über die Zeichensysteme auszusagen versucht. Roland Posner stellt in seinem Beitrag Sprache als Teil eines komplexen Systems von Zeichensystemen dar und arbeitet die Besonderheiten heraus, die Sprache von anderen Zeicheninventaren unserer Kultur unterscheidet. Anhand des Verhältnisses von Musik und Sprache im europäischen Kulturkreis weist er auf deren komplementäre Funktionen hin, die er auf die Einfuhrung der Alphabetschrift zurückführt. Wie stellt sich das Verhältnis zwischen Sprache und Denken dar? Determiniert das jeweilige Ausdrucksrepertoire die Erkenntnisfähigkeit des Menschen oder sind Grammatik und Wortschatz nur Instrumente von unabhängig bestehenden mentalen Strategien? Sind mit anderen Worten die Grenzen der Sprache zugleich die Grenzen der Welt? Sprachanalyse und Sprachphilosophie gehören zu einer österreichischen Tradition der

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Beschäftigung mit Sprache, die ihr Anschauungsmaterial und ihre praktische Relevanz aus der Sprachenvielfalt der Habsburgermonarchie bezog und die im 20. Jahrhundert zum weltweit erfolgreichsten philosophischen Unternehmen wurde. Manfred Frank führt in das aktuelle Denken sprachanalytischer Ansätze ein und verdeutlicht ihre Grenzen und damit auch die Grenzen der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins, die dort liegen, wo in humanistischer Tradition ein menschliches Subjekt das Gewebe der Sprache „erst spinnt und dann am Leben erhält". Wenn Sprache im Kontext der Politik untersucht wird, geht es nicht mehr um philosophische Fragen, sondern um die Frage des Einflusses auf menschliches Denken und Handeln in sozialen Beziehungen. Politische Sprache ist eine besondere Form politischen Handelns. Richard Nixon sagte 1969 zu einem Mitarbeiter: „You can say that this administration will have the first complete, far-reaching attack on the problem of hunger in history. Use all the rhetoric, as long as it doesn't cost money". Auf einer systematischen Ebene der wissenschaftlichen Auseinandersetzung stellen sich die divergierenden Kräfte der Sprache im Herrschaftskontext in einem Dreieck aus Politik, Diskurs und Identität dar. Die Soziolinguistik erneuert dabei unsere Vorstellungen über Identität in einer Weise, die allen Geisteswissenschaften diesen problematischen Begriff wieder interessant macht. Im Kontext der Politik zeigt sich die Definitionsmacht von Sprache besonders deutlich. Politisches Reden in seinen unterschiedlichen Lesarten vom Leitartikel einer Tageszeitung bis hin zur Wahlkampfpropaganda bewegt sich meist generell in einem Zirkel von verbaler Aggression, schönfärbender Verharmlosung und gezielter Manipulation. Die Form ist vom kulturellen Selbstverständnis einer Gesellschaft und von ihrem politischen System abhängig. Paul Chilton (mit einer Diskursanalyse ausländerkritischer Texte) und Ruth Wodak gehen in ihren Beiträgen der Frage nach, wie in der Politik Sprache zu sozialer Ausgrenzung eingesetzt wird und wie Emotionalisierungspotentiale der Sprache in der politischen Rhetorik wirken und untersucht werden können. Wenn Wodak vor Identitäts- und Heimatdiskursen warnt, dann formuliert sie in ihrem Buchbeitrag auch politische Konsequenzen aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Es mag unterschiedliche Auffassungen darüber geben, ob die Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse und das Ziehen politischer Schlüsse aus diesen Erkenntnissen sinnvollerweise in einem Text (ohne deutliche Trennung der beiden Textsorten) gemeinsam behandelt werden können, und zwar so, daß die wissenschaftlichen und politischen

VORWORT

IX

Anliegen dabei gleichermaßen zu ihrem Recht kommen. Nachdem wir diesen Text dennoch gerne in dieses Buch aufgenommen haben, erlauben sich die Herausgeber eine zusätzliche Bemerkung. Der abschließenden Prognose, daß es nun künftig weder die „Fremde" noch die „Heimat" mehr geben wird bzw. kann, ist dann leichter zuzustimmen, wenn damit rhetorische Topoi oder Stereotypen gemeint sind und nicht Orte subjektiver Betroffenheit und persönlicher Lebenserfahrung. Durch die politischen und ökonomischen Entwicklungen der jüngsten Zeit ist es zu einem auffallenden Spannungsverhältnis zwischen wirtschaftlicher Integration, gesellschaftlicher Öffnung und nationaler, ja sogar regionaler Selbstbehauptung gekommen. Damit ist die Verwendung von Sprache einerseits wieder stärker zu einem Symbol für Ligaturen in Gemeinschaften („new ethnicity") und andererseits zu einer Voraussetzung für großräumige politische und wirtschaftliche Integrationsmodelle geworden. Am Beispiel der Europäischen Union stellt Peter Hans Neide den Diskussionsstand und die Perspektiven des Sprachgebrauches und der Sprachpolitik in einer mehrsprachigen politischen Struktur dar. Der junge Forschungszweig der „Eurolinguistik" mit seinen Arbeiten zur Kontaktlinguistik ist ein Beispiel dafür, wie in den Sprachwissenschaften auf derartige Entwicklungen reagiert werden kann. Er widmet sich den Fragen, die aus den Widersprüchen und aus der Logik der Europäischen Integration für die Sprachen in Europa entstehen. Neide spricht sich dabei für die Förderung der Mehrsprachigkeit und gegen ein „einsprachiges" Europa aus, wenn er auch die Kommunikationsprobleme und Kosten bei derzeit 11 Amtssprachen der EU unterstreicht. Die nächste Erweiterungsrunde der Europäischen Union wird zusätzliche Sprachen zu Amts- und Arbeitssprachen machen und den Druck in Richtung auf ein restriktiveres Sprachenregime erhöhen. Die abschließenden Kapitel sind technologischen Innovationen und dem Verhältnis von Sprache zu nichtsprachlichen menschlichen Ausdrucksformen gewidmet. Es ist anzunehmen, daß sich fundamentale Veränderungen in der menschlichen Kultur auch in der Sprache manifestieren. Die Entwicklung leistungsfähiger elektronischer Rechner ist als derartiger Sprung anzusehen. In den beiden Beiträgen von Reinhard Köhler und von Wolfgang Coy werden die Konsequenzen der damit verbundenen Möglichkeiten aufgezeigt, Sprache zu analysieren und zu synthetisieren. Wir wissen allerdings noch nicht viel über die Auswirkungen des alltäglichen Umganges mit Rechnern und den elektronischen Medien auf die Sprache.

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Köhler beschreibt unter dem Titel „Language Engineering" nicht die Zukunftsvision einer sprachpolitisch manipulierten „schönen neuen Welt", sondern die modernen Sprachtechnologien: Übersetzungssoftware, Diktiersysteme, Vorlesemaschinen, Schreibprüfungen in der Textverarbeitung, elektronische Sprachführer, etc. Die Kapazität fortgeschrittener PC's reicht schon heute aus, menschliche Sprache akustisch nachzubilden und auch zu erkennen. Dazu sind komplexe Algorithmen notwendig, die alle Ebenen der Sprache - von der Lautbildung, über die Worterkennung, die Grammatik bis hin zur Interpretation des gesprochenen bzw. aufgenommenen Textes - beherrschen. Das Faszinosum des technisch Machbaren liegt vor allem darin, daß derartige Entwicklungen nicht nur eine Erleichterung im Umgang mit Rechnern und Expertensystemen darstellen, sondern daß sie über die Akzeptanz des Rechners als „Gesprächspartner" auch zu neuen Normierungseffekten im Sprachlichen führen. Wolfgang Coy, dessen Original-Beitrag mit den von ihm gezeigten Graphiken und Animationen als CD-ROM beigegeben ist, untersucht die Notationen (Sprachen) in der neuen Kulturtechnik der Informatik. Die Sprache der Computerexperten ist von der Alltagssprache bereits derart abgehoben, daß sie für den durchschnittlichen Nutzer dieser Technologie nicht verständlich ist. Das ist ein von anderen Expertensprachen vertrautes Bild, welches aber wegen der fast vollständigen Durchdringung des Alltagslebens durch den Computer eine neue Dimension erhält. Dazu kommt, daß zumindest derzeit der Umgang mit dem Rechner, dem Internet und den elektronischen Medien dazu zwingt, computergerecht zu denken und daher auch so zu sprechen. Noch gibt es weder die als Utopie formulierte DWIM-Schnittstelle („Do what I mean") noch ein telepathisches Interface. Dies könnte aber auch nur vorübergehend so sein, weil ein enormes Forschungspotential dafür eingesetzt wird, den Computer dem Menschen anzupassen, ehe sich die umgekehrte Entwicklung durchsetzt. Neuere Untersuchungen über die Verwendung von Computernetzen als technische Kommunikationsmittel betonen das Entstehen neuer Diskurstraditionen. E-Mail, Talk und Chat sind Medien, die deutliche Unterschiede im Kommunikationsverhalten bewirken. Der abschließende Beitrag von Gottfried Boehm über den „Sprachcharakter der bildenden Kunst" zeigt, in welcher Weise Sprache mit anderen menschlichen Ausdrucksformen verbunden ist. Er greift über das eigentlich Sprachliche hinaus und widmet sich den Botschaften ohne Worte. Im Bereich der bildenden Kunst herrscht die Sprachlosigkeit im

VORWORT

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Sinne des akustisch nicht Wahrnehmbaren. Dennoch würde niemand behaupten, bildende Kunst spräche den Menschen metaphorisch nicht an. Was sind nun die Symbole der bildenden Kunst, worin bestehen ihre Botschaften, worin ist ihre Ausdruckskraft begründet, insbesondere in der nicht mit Gegenständen verbundenen abstrakten Kunst? Der rasende Bildoptimismus der Moderne verlangt nach Antworten, wie Bilder Sinn manifestieren. Boehm arbeitet heraus, daß Bilder nur im Verhältnis von Wahrnehmung und Bildgeschichte „sprechen" können. Wir sind damit wieder beim menschlichen Bewußtsein angelangt. Dieses Buch ist für Leser gedacht, die mehr über den Menschen und mehr über seine Sprachen wissen wollen. Die Herausgeber hoffen, daß es gelungen ist, dies anspruchsvoll und ansprechend zu tun. Nachdem Sprach- und Bildungspolitik im Europäischen Jahr der Sprachen 2001 für die Osterreichische Forschungsgemeinschaft auch ein wissenschaftspolitisches Anliegen darstellt, wird zusätzlich als Nachwort ein Text von Raoul Kneucker, Sektionschef im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, veröffentlicht, der die österreichischen Bemühungen und Positionen zu diesem Thema zusammenfaßt. Die Herausgeber danken allen Autoren, daß sie bereit waren, sich an diesem gewagten Unternehmen, aktuelles Wissen über die Sprache umfassend zu vermitteln, zu beteiligen. Meinen beiden Mitherausgebern Oswald Panagl und Hans Goebl danke ich nicht nur für die Konzeption des Wissenschaftstages und dieser Publikation, sondern auch für ihre editorischen Mühen. Schließlich gilt mein herzlicher Dank Caroline Hecht, die das gesamte Projekt betreut hat und im Kontakt mit Autoren, Herausgebern und dem Verlag Böhlau das Erscheinen dieses Buches unermüdlich vorangetrieben hat.

Wien, im Juni 2001

Emil Brix

INHALT

WolfgangRaible

Wohin steuert unsere Sprache? Diagnosen und Prognosen an der Jahrtausendwende

D Y N A M I K DER SPRACHE: E N T S T E H U N G

UND

1

VERÄNDERUNG

Hubert Haider

Spracherwerb, Sprachverlust, Sprach vermögen. Sprache im Netzwerk von Biologie, Psychologie und Neurologie 25

Karin Donhauser

Sprachentwicklung und Sprachwandel. Die endlose Suche nach Gesetzmäßigkeiten . . 57

ZEICHENSYSTEME UND

Roland Posner

Marifred Frank

DENKMODELLE

Im Zeichen der Zeichen. Sprache als semiotisches System Sind Bewußtsein und Denken wesentlich sprachlich? Die Abkehr vom Unguistic turn in der jüngeren Sprachphilosophie

S P R A C H E IM K O N T E X T D E R

77

109

POLITIK

Ruth Wodak

Diskurs, Politik, Identität

133

PaulA. Chilton

Analysing the Language of Politics: Xenophobie and Racist Discourse

157

Sprache im Spannungsfeld zwischen nationalem Selbstverständnis und wirtschaftlicher Integration

191

Peter Hans Neide

XIV INNOVATIONEN

UND

Reinhard Köhler

ALTERNATIVEN

Language Engineering. Eine schöne neue Welt?

211

Wolfgang Coy

Die Sprache(n) des Internets

259

Gottfried Boehm

Botschaften ohne Worte. Vom Sprachcharakter der bildenden Kunst . . . 255

Raoul F. Kneucker

Wissenschaftspolitisches Nachwort

275

ANHANG

Personenregister

279

Autorenverzeichnis

285

CD-ROM zum Beitrag von Wolfgang Coy

Wolfgang Raíble WOHIN

STEUERT UNSERE

DIAGNOSEN AN D E R

UND

SPRACHE?

PROGNOSEN

JAHRTAUSENDWENDE

E I N E EWIG M E N S C H L I C H E WAS BRINGT DIE

FRAGE:

ZUKUNFT?

Der Sumerologe Stefan Maul hat 1994 eine Arbeit veröffentlicht, die auch Nicht-Fachleute in Bann schlagen kann. Er hat nicht nur Keilschrift-Tontäfelchen transliteriert und kommentiert, sondern eine beträchtliche Zahl solcher Dokumente in einen kulturhistorischen Kontext gestellt, der diesen Einzelstücken erst ihren Sinn verleiht. Der Titel dieses Buches lautet Zukunftsbewältigung. Es erweist sich, daß die Babylonier ein ausgeklügeltes System hatten, mit der stets unsicheren Zukunft umzugehen: Es gibt ja allenthalben Geschehen, das man als Anzeichen interpretieren kann, oder als ein Vorzeichen, das auf bedrohliche Entwicklungen in der Zukunft deutet: Erscheinungen am Himmel, Mißgeburten, ungewöhnliche Ereignisse oder Träume, seltsame Begegnungen mit schwarzen Katzen. Solche Erscheinungen müssen nun zunächst einmal kompetent gedeutet und dann, wenn sie als gefahrlich erkannt werden, nach Möglichkeit entschärft werden. Dazu gab es in Babylon den Berufsstand der Beschwörer, richtiggehende Exponenten einer Wissenschaft von den Vorzeichen. Sie beherrschten nicht nur die Deutung, sondern auch ritualisierte Verfahren, die das erkannte drohende Unheil zwar nicht aus der Welt schaffen konnten - es war ja gottgewollt - , die aber doch, so glaubte man, in der Lage waren, es wenigstens zu mildern oder abzulenken. 1 Diese Verfahren waren die sogenannten „Löserituale" - nämlich Gerichtsverfahren, bei denen der Mensch und sein Gegner, vertreten durch 1

Eine Untersuchung altorientalischen Denkens anStefan Maul, Zukurißsbewältigung. hand der babylonisch-assyrischen Löserituale (Namburbi) (=Baghdader Forschungen 18), Mainz 1994. - Gebhard J. Selz hat fünf Jahre später am Beispiel der sumerischen Texte, die auf die Ökonomie bezogen sind, gezeigt, daß dem eine mesopotamische Geisteshaltung zugrunde liegt, die die Zukunft nicht nur aus der Vergangenheit her deutet, sondern auch plant und gestaltet: Gebhard J. Selz, Vom „vergangenen Geschehen" zur „Zukunflsbewältigung". Überlegungen zur Rolle der Schrift in Ökonomie und Geschichte. In: Alter Orient und Altes Testament 267 (1999), 465-512.

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Wolfgang Raible

das Vorzeichen des Unheils, vor den obersten Richtergott traten. Das Omen bzw. sein Stellvertreter, ein Sündenbock, mußte dabei verurteilt und vernichtet werden. 2 Die raison d'être eines solchen Verfahrens liegt - allgemeiner ausgedrückt - darin, die stets unsichere Zukunft - solche Rituale waren auch vor jeder wichtigen Entscheidung üblich - in einem normierten, geregelten Verfahren zu entschärfen, oder eben, mit den Worten von Stefan Maul, zu bewältigen. Was uns in dieser alt-babylonischen Form als Aberglaube, als rückständig oder irrational erscheinen mag, hat sich nun im Prinzip bis heute nicht geändert: Wir alle möchten gerne Sicherheit in unsere unsichere Zukunft bringen. Nicht nur Wallenstein, sondern auch François Mitterrand und Ronald Reagan haben vor wichtigen Entscheidungen Astrologen bemüht, Mitterrand übrigens eine Astrologin. Viele von uns lesen Horoskope oder meiden bestimmte Orte und Daten. Wir sind geradezu darauf programmiert, Fehlschlüsse nach dem Prinzip anzustellen „Wenn mir etwas Negatives widerfährt, muß es mit einem auffälligen Ereignis zusammenhängen, das kurz vorher passiert ist" - es geht also um die bekannten post-hoc - propter-hoc-Sch\üsse, die jeder Art von Aberglauben zugrunde liegen. Statt des Beschwörers befragen wir heute allerdings die Expertin oder den Experten. Börsen-Analysten beugen sich über die Charts, um aus ihrem Verlauf typische Bewegungen herauszulesen, die sich wiederholen könnten. Wir haben die Welt mit einem Netz von Satelliten und Beobachtungsstationen umspannt, die uns Daten liefern, aus denen das Wetter der nächsten Tage prognostiziert werden soll. Wir beschäftigen sogenannte Wirtschafts-Weise, die ihrerseits wieder ein Heer von Mitarbeitern befehligen. In ihrem Fall geht es darum, den Verlauf einer äußerst abstrakten Größe zu prognostizieren, die wir Konjunktur nennen, eventuell auch darum, durch gute Ratschläge drohendes Unheil gerade noch abzuwenden. 3 Am Ende dieser Aufzählung soll eine Institution genannt werden, die in unseren westlichen Gesellschaften seit ihren Anfängen im Venedig und im Florenz des 15. Jahrhunderts einen ungeheuren Aufschwung 2

Maul, Zukunftsbewältigung,

3

Frz. conjoncture gehört übrigens von seiner ursprünglichen Bedeutung her auch in den Kontext des Deutens von Zeichen.

wie Anm. 1, 60.

W O H I N STEUERT U N S E R E S P R A C H E

3

genommen hat: das Versicherungswesen. Es handelt sich wohl in der Tat um die typischste Art der Zukunftsbewältigung, die wir heute haben: Man sichert sich gegen Risiko ab. Und auch die Versicherungen versuchen ihrerseits wieder, die Risiken der Zukunft abzumildern; nicht nur durch Rückversicherungen, sondern z.T. auch dadurch, daß sie darauf spekulieren, aus dem Kaffeesatz des menschlichen Genoms Risiken vorauszusehen, die durch genetisch angelegte ungute Entwicklungen auf sie zukommen könnten. Die Reparatur defekter Gene entspräche hier letztlich den Löseritualen der Babylonier.

ZWEI

VORÜBERLEGUNGEN

Der Umweg, den die lange Einleitung scheinbar bedeutet, wurde bewußt gewählt, weil er zweierlei zeigt: zum einen, daß niemand die Ausgangsfrage „Wohin steuert unsere Sprache?", mit einer Prognose beantworten kann, die sich mit einiger Sicherheit bewahrheiten wird. Jeder von uns kann nämlich der Aufzählung der Institutionen, die wir zur Zukunftsbewältigung einsetzen, auch eine Aufzählung ihrer jeweiligen Fehlprognosen anfügen. 4 Das andere Ziel: Es sollte deutlich werden, wie sehr die Frage nach der Zukunft trotz alledem legitim, weil eben typisch menschlich ist: Ich will also, wenn auch mit gewissen Kautelen, durchaus die mir zugedachte Rolle des kompetenten Deuters übernehmen und etwas über die Zukunft unserer Sprache sagen - freilich, wie sich noch zeigen wird, vielleicht nicht ganz in der Art und Weise, wie dies mancher vermuten würde. Den Stein des Anstoßes, von dem die angstvollen Fragen nach der Zukunft unserer Sprachen ausgehen, bildet immer eine gewisse Art von Sprachwandel, die den älteren Zeitgenossen, im übrigen besonders älte4

Zwei Beispiele aus dem Bereich politischer Prognosen (also aus einem Bereich, der dieselbe Basis hat wie die Sprache: die menschliche Gesellschaft): Während des Vietnam-Krieges war die sogenannte Domino-Theorie gang und gäbe. Fiele Vietnam, so wäre dies der Dominostein, der alle anderen Länder Südostasiens in den Bannkreis des „ B ö s e n " , sprich des Kommunismus, bringen würde. - Umgekehrt hat niemand in Deutschland die sogenannte Wende von 1989 vorausgesagt oder voraussagen können.

4

Wolfgang Raible

ren Männern, auffallt und zu den geradezu topischen Klagen über den Verfall der guten alten - und jetzt kann man jede beliebige Sprache einsetzen - deutschen, englischen, französischen, finnischen etc. Sprache fuhrt. 5 Bevor sich etwas Vernünftiges zu dieser Frage sagen läßt, müssen allerdings noch zwei Voraussetzungen geklärt werden. Die erste ist die Definition dessen, was man unter Sprache verstehen will, die zweite ist eine bestimmte Geschichtskonzeption, die für die Lösung der gestellten Aufgabe besonders gut geeignet ist.

D I E V E R S C H I E D E N E N B E D E U T U N G E N VON

SPRACHE

Am Anfang der großen Pragmatien fragt sich Aristoteles regelmäßig, wie viele Bedeutungen zentrale Begriffe haben. Analog dazu muß hier nach den verschiedenen Bedeutungen gefragt werden, die der Begriff Sprache hat. Er ist nämlich, wie sich erweisen wird, vieldeutig. (1) Zunächst einmal verstehen wir unter Sprache das, was im Sprechen oder Schreiben produziert wird. Also das, was in einem Vortrag gesagt wird, oder das, was danach im Smalltalk stattfindet, das, was in der Zeitung steht usw. Dies wäre die Bedeutung von Sprache als Manifestation, d.h. als etwas Gesprochenes oder Geschriebenes. (2) Das, was wir sagen, ist nach bestimmten Regeln gebaut, die unsere Gesprächspartner kennen. Auf das Wort behaupten folgt ein Objekt; dieses Objekt kann ein daß-Satz sein oder ein nominales Objekt, also: „Er behauptet vieles, wenn der Tag lang ist" oder „Er behauptet, daß Kraniche Zugvögel sind" und dergleichen. Bei dieser zweiten Bedeutung von Sprache handelt es sich nun um das Sprachsystem, das man sich vorstellen kann als eine geregelte Kombinatorik. Es gestattet uns, komplexe Vorstellungen, also das, was wir sagen wollen, in kleinere Komponenten zu zerlegen und diese, eine nach der anderen, auf den Faden der Rede aufzureihen - und zwar dergestalt, daß wir dem Hörer genügend Signale dafür geben, in welcher Weise er die linear aufeinander folgenden Bruchstücke wieder in

5

Eine Internet-Recherche mit der Suchmaschine Google erbringt annähernd 300 Fundstellen für Sprachveifall,

darunter einschlägige Publikationen vom Typ

und kulturelle Selbslaufgabe.

Deutsch - eine sterbende

Sprache.

Sprachveifall

W O H I N STEUERT UNSERE SPRACHE

5

größere Einheiten integrieren soll. Die raison d'etre dessen, was wir Grammatik und Sprachsystem nennen, liegt darin, solche Prozesse der Aufgliederung des Ganzen in seine Teile und der Re-Integrierung der Teile in das Ganze zu ermöglichen. Die beiden Bedeutungen von Sprache, die jetzt vergegenwärtigt wurden, entsprechen dem, was man bei Ferdinand de Saussure (1857-1913) als parole und langue, als konkrete Sprechäußerung und als Sprachsystem kennt. - Neben den beiden genannten Bedeutungen von Sprache gibt es noch eine dritte: (3) Texte, die wir äußern oder wahrnehmen, können nach verschiedenen Gesichtspunkten verschieden oder ähnlich sein. Wir sprechen von Musil-Texten und meinen Texte eines Autors, von juristischen Texten, belletristischen Texten, Sachtexten etc. Analog sprechen wir von der Sprache der Jurisprudenz, Sprache der Verwaltung, Sprache des Internet, Sprache der Technik. Der Romanist Viktor Klemperer sprach von der Lingua tertii imperii etc. In der Regel manifestiert sich diese Art von Sprache in bestimmten Textgattungen: denen der Juristen, der Administratoren, der Ingenieure, also in Patentschriften, Gerichtsurteilen, Steuerbescheiden etc. Die dritte Bedeutung von Sprache ist also die einer Typisierung von Gesprochenem, vor allem in Textgattungen: Textgattungen sagen uns, wie wir uns in bestimmten Sachbereichen auszudrücken haben; sie sagen uns dabei insbesondere auch, was wir nicht sagen dürfen. Wer einen Gesetzestext über Vertragsverhältnisse abfaßt, kümmert sich nicht darum, ob die Vertragspartner Übergewicht haben, wie sie gekleidet sind, was ihre Haarfarbe ist, ob sie gute oder schlechte Schulzeugnisse hatten kurz, er abstrahiert von all dem, was, um mit Robert Musil zu sprechen, „die Wirklichkeit rund macht". Diese drei Bedeutungen von Sprache kann man als Stufen zunehmender Abstraktion ansehen: die unterste ist das, was als die konkrete Manifestation von Sprache bezeichnet wurde. Englisch wäre dies: Sprache als token. Eine Stufe abstrakter ist die zuletzt genannte Bedeutung, nämlich Sprache als type, in der Regel faßbar in Form bestimmter Textgattungen oder Texttypen. Die dritte Bedeutung von Sprache, die nun noch übrig bleibt, ist diejenige, die als zweite genannt wurde: Sprache als System. Bezogen auf die bekannte Unterscheidung von Saussure bedeutet dies, daß zwischen der parole-Ebene, die der token-Ebene entspricht, und der

6

Wolfgang Raíble

langue, die dem System entspricht, noch eine Zwischenebene „Sprache als type" eingeführt wurde. Bevor der Leser wieder in anschaulichere Bereiche zurückkehren kann, ist noch ein weiteres distinguo nötig. - Einer der herausragenden Wissenschaftler des vergangenen Jahrhunderts, der Wiener Psychologe Karl Bühler (1879-1963), hat sich in seiner Sprachtheorie von 1934 daran erinnert, daß nicht nur Saussure eine wichtige Unterscheidung im Umgang mit dem Begriff Sprache eingeführt hat, sondern schon Wilhelm von Humboldt (1767-1835): Sprache als energeia und Sprache als ergon, also Sprache als Tätigkeit und Sprache als etwas Geschaffenes, Vorliegendes: etwa ein gedrucktes Buch, aber auch ein Vortrag oder eine Vorlesung, die vorab konzipiert wurden. Tabelle 1: Vierfelderschema Karl Bühlers subjektsbezogene Phänomene von Humboldts energeia

niedere Formalisierungsstufe

höhere Formalisierungsstufe

SPRECHHANDLUNG

subjektsentbu ndene, intersubjektiv fixierte Phänomene von Humboldts ergon

(de Saussures parole)

SPRACHWERK

SPRECHAKT

(de Saussures langue)

SPRACHGEBILDE

Da ihm beide Unterscheidungen, die von Saussure und die von Humboldt, etwas Wesentliches über Sprache auszusagen schienen, kombinierte er sie in sein bekanntes Vierfelder-Schema. In der horizontalen Dimension finden sich die Begriffe von Wilhelm von Humboldt: links die Sprache als etwas Subjekt- und Situationsgebundenes, rechts die Sprache als etwas Situationsentbundenes, beispielsweise auch ohne direkten Kommunikationskontext in der Lektüre Nachvollziehbares. In der Vertikalen ordnete er die Opposition von Ferdinand de Saussure an, und zwar mit der Umschreibung „niedrigere Formalisierungsstufe" gegenüber einer „höheren Formalisierungsstufe". Die vier Felder, die sich so ergeben,

W O H I N STEUERT UNSERE SPRACHE

7

nannte er Sprechereignis, Sprach werk, Sprechakt und Sprachgebilde. Man sieht, daß die Saussuresche Unterscheidung in diesem Schema in der Diagonalen erscheint: die parole entspricht dem Sprechereignis, die langue dem Sprachgebilde im Sinn von Bühler. Wenn man Bühler genau liest, sieht man, daß die Unterscheidung in der Horizontalen keineswegs exklusiv ist. Er sagt vielmehr, man müsse zunächst einmal die kategorialen Unterscheidungen getroffen haben, bevor man sehe, daß in Wirklichkeit die Phänomene gleitend ineinander übergehen. Was wir in der Horizontalen haben, ist also eine Skala mit zwei Extrempolen: links der Pol der spontanen, in kleinem Kreis geäußerten Rede, rechts der Pol des genau geplanten, vorkonzipierten, mehrmals durchdachten, in allen Formulierungen „richtigen" Texts: deswegen auch der Terminus Sprachwerk-. Es handelt sich, wie Bühler sagt, um ein fertiges Werk. Wenn wir uns Bühlers Formulierung für die Vertikale des Schemas anschauen, sehen wir, daß auch hier eine skalare Konzeption vorliegt: niedrigere Formalisierungsstufe, höhere Formalisierungsstufe: Es läßt sich also ohne weiteres noch die vorher unterschiedene Zwischenstufe von Sprache als types, die den tokens entsprechen, hier einführen. Wenn man nun der Vielfalt des Begriffs Sprache einigermaßen gerecht werden will, muß man - und damit sind endlich alle Distinktionen eingeführt, die für eine Beantwortung der eingangs gestellten Frage notwendig sind - die drei Schichten von Sprache noch in der Bühlerschen Weise in drei Skalen dynamisieren: siehe Tabelle 2. Den anschaulichsten Zugriff zum Verständnis dieses dreigeschichteten Feldes bekommt man über die mittlere Ebene, auf der Sprache sich in verschiedenen Textgattungen mit ihrem jeweiligen „Sitz im Leben" manifestiert: Ganz links wäre eine Textgattung von der Art des Smalltalk anzusiedeln, den man betreiben kann, ohne eine besonders tiefgehende Kenntnis einer Sprache im Sinne der Systemebene zu haben. Ganz rechts wären sehr viele juristische Textgattungen unterzubringen. Ein Extrembeispiel ist hier das Gerichtsurteil französischen Typs. Wie lange es auch sein mag - zwei, drei, vier oder fünf Seiten - , es darf nur aus einem einzigen, höchst komplexen, kunstvoll verschachtelten Satz bestehen. Nur ein Richter, der sein sprachliches Handwerk gelernt hat, ist überhaupt in der Lage, so etwas zu formulieren. Umgekehrt gewendet: Solche Texte stellen als Sprachwerke par excellence im Sinne Bühlers allerhöchste Anforderungen an Sprache als System (bis zu 10 Stufen von Unterord-

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Wolfgang Raíble

nung ...). Französische Richter brauchen sehr lang, bis sie das Métier beherrschen, und hernach sind sie ungeheuer stolz darauf. 6 Tabelle 2: Erweiterung des Bühlerschen Vierfelderschemas subjektsentbundene, intersubjektiv fixierte Phänomene von Humboldts érgon

subjektsbezogene Phänomene von Humboldts enérgeia

niedere Formalisierungsstufe (token)

SPRECHHANDLUNG

SPRACHWERK

{parole) 1

mittlere Formalisierungsstufe (type)

höhere Formalisierungsstufe

DIE

Ebene der dazugehörigen TEXTGATTUNGEN mit ihren kognitiven und sprachlichen Anforderungen

SPRACHGEBILDE

SPRECHAKT

GESCHICHTSKONZEPTION

"*

VON

(langue)

FERNAND

BRAUDEL

Das Ergebnis der Überlegung zur Differenzierung des Begriffs Sprache hat zu drei Grundbedeutungen geführt: Sprache als token, als type und als System. Diese drei Ebenen wurden mit Hilfe der Überlegungen Bühlers noch zu Skalen dynamisiert. Die Horizontale entspricht dabei der Skala zwischen Sprache der Nähe und Sprache der Distanz im Sinn von Peter Koch und Wulf Oesterreicher. 7 Bevor diese Differenzierungen relevant werden, muß die schon 6 7

Vgl. Thomas Krefeld, Dasfranzösische Gerichtsurteil aus linguistischer Sicht. Zwischen Fach- und Standessprache, Frankfurt am Main 1985. Peter Koch, Wulf Oesterreicher, Schrißlichkeit und Sprache. In: Hartmut Günther, Otto Ludwig (Hg.), Schrift und Schrißlichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. An Interdisciplinary Handbook of International Research 1, Berlin, New York 1994, 587-604.

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angekündigte zweite Vorüberlegung skizziert werden, die notwendig ist, um etwas mit der Frage nach der Zukunft anfangen zu können: Es geht um die Geschichtskonzeption des französischen Historikers Fernand Braudel (1902-1985). Braudel hat drei Arten der Veränderung in der Geschichte unterschieden: zunächst die conjonctures, die Veränderungen, die wir vor allem wahrnehmen, weil sie vor unseren Augen ablaufen: die Wahl oder Abwahl von Regierungen und Präsidenten, das Auf und Ab der Börse, die Inflationsrate, Brüche in persönlichen Beziehungen. 8 Auf dieser geschichtlichen Ebene sind auch die Beobachtungen anzusiedeln, die wir als normale Sterbliche von der Sprachveränderung machen. Fremdwörter, die uns nicht geläufig sind, Fachvokabular und Kommunikationspraxen, die uns nicht vertraut sind („die Soziologen [Biologen, Sprachwissenschaftler ...] reden ein richtiges Kauderwelsch", heißt es dann etwa), oder Begriffe, die uns ungewohnt sind: Wenn wir sie selbst gebrauchen, dann allenfalls mit Zeichen der Distanzierung, etwa mit dem Zusatz: „wie man auf Neudeutsch sagt". Dies sind relativ einfache Prozesse des Sprachwandels, der immer und überall stattfindet. Daß wir selbst zu seinen Opfern zählen, merken wir, wenn wir Texte deutscher Klassiker lesen, etwa die von Friedrich Schiller (1759-1805), und dabei auf Ausdrucksweisen und Bezeichnungen stoßen, die inzwischen obsolet geworden sind: Aus: Die Räuber (1781) Moor: Der lohe Lichtfunke Prometheus' ist ausgebrannt. Feuchtohrige Buben fischen Phrases aus der Schlacht bei Cannä und greinen über die Siege des Scipio, weil sie sie exponieren müssen. Franz: In meinem Gebiet solls soweit kommen, daß Kartoffeln und dünn Bier ein Traktament für Festtage werden, und wehe dem, der mir mit vollen feurigen Backen unter die Augen tritt! Blässe der Armut und sklavischen Furcht sind meine Leibfarbe, in diese Liverei will ich euch kleiden! Franz: Ohne Anstand, recht schnackische

Anstalten!

Räuber Moor: Habt ihr noch was zu fodern? 8

Ein Spiegel solcher Wahrnehmungen sind die Schlagzeilen, die wir in der Presse lesen können. Ganz typisch ist die Verwendung von immer mehr oder immer weniger. In den Börsen-Nachrichten können wir z.B. im Abstand von zwei Tagen lesen: „T-online im Abwind" und „T-online im Aufwind".

Wolfgang Raíble

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Aus: Kabale und Liebe (1784)

Zuletzt erstaunt man noch über die große Polizei der Vorsicht, die auch in der Geisterwelt ihre Blindschleichen und Taranteln zur Ausfuhr des Gifts besoldet. 9

Das, was fast allen regelmäßig bei der Beobachtung von Sprache auf der token-Ebene auffällt, sind Fremdwörter: dementsprechend gibt es bei den Sprachpflegern starke Bataillone, die in ihnen die Wurzel des Übels erkennen wollen. Dabei zeigt jede längerfristige Betrachtung von Sprache, daß Ubernahmen aus dem Lexikon entweder rasch integriert werden und als solche nicht mehr auffallen, oder aber wieder verschwinden wie in dem Schiller-Beispiel das Traktament und die Liverei-, das Titelwort Kabale klingt heute eher gelehrt. Wenn Fremdwörter eine Sprache tatsächlich gefährden würden, wäre das Englische längst nicht mehr englisch: Bedingt durch die Herrschaft der Normannen war Südengland von 1066 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts französisiert. Ein riesiger Teil des heutigen englischen Wortschatzes ist altfranzösischen Ursprungs - aber kein Mensch stößt sich daran, daß in dem Hitchcock-Filmtitel The rear window das Adjektiv von frz. arrière kommt - um nur ein Beispiel zu nennen.10 Unter diesen Oberflächenphänomenen, die die laufende Veränderung 9

Vorsicht heißt zu Schillers Zeit vor allem „Vorhersehung". Die Bedeutung von Polizei wird einem erst dann klar, wenn man daran denkt, daß im Französischen zu dieser Zeit état policé nicht etwa „Polizeistaat" bedeutet, sondern ein Staat mit öffentlicher Ordnung. In heutiger Version würde also der Passus bedeuten: „die große Ordnung der Vorhersehung". Die Geisterwelt ist die „Welt des Geistes". - Heutige Leser können mit etwa zehn Prozent des Vokabulars der deutschen Klassik nichts mehr anfangen. Dies ist die Basis für ein Klassiker-Lexikon, das der Freiburger Germanist Ulrich Knoop zusammen mit einem kleinen Team erarbeitet. Die Beispiele stammen aus diesem Projekt.

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Dasselbe würde vom Spanischen gelten, das sich zwischen dem 8. und dem Ende des 15. Jahrhunderts in intensivem Kontakt mit dem Arabischen entwickelt hat. Geblieben ist eine Bereicherung des Lexikons mit einer teilweise europäischen Ausstrahlung, während die Sprache selbst sich allenfalls indirekt verändert hat: indirekt dadurch, daß Alfons X. von Kastilien (1252-1284), genannt der Weise, ein Programm zur Übersetzung arabischer wissenschaftlicher Texte ins Spanische schuf, bei dem die komplexe Syntax der arabischen Texte zu bewältigen war. Wie Georg Bossong gezeigt hat, hat dies nicht zu syntaktischen Lehnprägungen geführt - das Arabische war hier zu différent -, sondern zum Ausbau der spanischen Sprache mit eigenen Mitteln. - Vgl. Georg Bossong, Probleme der Ubersetzung wissenschaßlicher Werke aus dem Arabischen in das Altspanische zur Zeil Alfons' des Weisen (=Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 169), Tübingen 1979.

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WOHIN STEUERT UNSERE SPRACHE

der Sprache zeigen, gibt es für Braudel eine zweite Schicht der mittelfristigen Prozesse : Hier ist der Maßstab für Veränderungen eine Skala von Jahrzehnten, wenn nicht von Jahrhunderten. Die meisten Zeitgenossen bemerken solche Veränderungen nicht, wenn man sie nicht darauf aufmerksam macht, oder wenn sie nicht, wie im Bereich der Sprache, durch die Lektüre älterer Texte darauf gestoßen werden. Sehr viele Erscheinungen des Sprachwandels gehören in den Bereich der durée moyenne, etwa die ganzen Erscheinungen, die wir Grammatikalisierung nennen. Als weitere Schicht unter diesen mittelfristigen Prozessen gibt es bei Braudel noch die Phänomene der longue durée, also der Veränderungen, die sich mindestens über Jahrhunderte hinziehen. Wenn man sie mit den Kriterien mißt, mit denen die Chemiker Säuren klassifizieren, also nach ihrer Stärke und nach ihrer Flüchtigkeit, so würde man sagen: Solche Prozesse sind, was ihre Stärke angeht, sehr schwach, sie sind aber extrem schwerflüchtig und setzen sich daher auf Dauer fast immer durch - so wie unsere Umgebung voll ist von Produkten der sehr schwachen, aber extrem schwerflüchtigen Kieselsäure, also voll von Silikaten. Ein Beispiel aus der französischen Geschichte wäre die Tendenz zum Zentralismus: Sie setzt unter den Königen sehr früh ein, hat praktisch ohne jeden Schaden die Französische Revolution überdauert und gilt trotz Regionalisierungsversuchen bis heute - man könnte sogar sagen, daß die Französische Revolution diese Tendenz zum Zentralismus instrumentalisiert hat.

SPRACHWANDEL

ALS PHÄNOMEN

DER

LONGUE

DURÉE

Die Frage nach der Entwicklung einer Sprache ist nun kein Phänomen der kurzfristigen Prozesse, also der conjonctures im Sinne Braudels. Sie sind es nur, die uns immer wieder auffallen. Mein besonderes Augenmerk soll deshalb den Phänomenen der longue durée gelten. Ein erstes Beispiel: der Wandel des Layouts von Texten Wenn wir griechische Inschriften oder griechische Papyri studieren, sehen wir, daß die Texte von Piaton, Aristoteles, Sophokles usw. in scriptio continua geschrieben wurden, d.h. so wie man sie hört, ohne Spatien zwischen den Wörtern. Dies ist der Grund dafür, daß man im Altertum immer laut gelesen hat - anders kann man scriptio continua nur dann lesen, wenn man den Text, den man liest, schon sehr gut kennt.

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Wolfgang Raible

Da man auch für Leser schreibt und da in der scriptio continua manches mehrfache Verstehensmöglichkeiten bietet, kamen in der HomerPhilologie der Alexandriner die ersten diakritischen Zeichen auf. Man findet sie in den uns erhaltenen Papyri des 2. und 3. Jahrhunderts n.Chr., etwa in Homer-Papyri. Die Spiritus, Apostrophe und Akzente und hochgestellten Punkte werden jedoch nur dort gesetzt, wo Mißverständnisse möglich sind, nicht etwa generell. Generalisiert werden diese Lesehilfen erst in byzantinischer Zeit. Eine ähnliche Entwicklung haben wir in der lateinischen Graphie. Der Kirchenvater Hieronymus (547-420) führte bei seiner Bibelübersetzung die neue Konvention ein, die man als Schreiben per cola et commata benannt hat: Er grenzte ganze Sätze - die ansonsten in scriptio continua geschrieben waren - durch Spatien voneinander ab: das sind die späteren Verse der Bibel. Die nächste Neuerung bestand darin, daß man in Handschriften die Überschriften mit Spatien versah, noch nicht jedoch die ganzen Texte. Die Generalisierung der Wortabstände ist eine Innovation, die aus irischen und englischen Scriptorien kam und sich ab dem 9. Jahrhundert langsam auf dem Kontinent durchsetzte. Der Vorteil dieser Art des Schreibens bestand u.a. darin, daß man in den Skriptorien nun leise kopieren konnte. Eine deutliche Veränderung in der Schreibkultur gibt es um das Jahr 1200. All die Leseerleichterungen, die zuvor schon sporadisch in Manuskripten erscheinen, werden nun systematisiert. Dies hat zu tun mit der Lese- und Unterrichtskultur der Scholastik, in der der geschriebene Text eine zentrale Rolle spielte. Etwa ab 1200 gibt es perfekt geschriebene Manuskripte, deren Verfasser alles tun, um dem Leser seine Arbeit zu erleichtern: Neben scriptio discontinua gibt es Absätze, die Sinneinheiten markieren, es gibt den Einsatz verschiedener Farben und Schriftgrößen, lebende Kolumnentitel, Überschriften, die in einem Inhaltsverzeichnis am Anfang zusammengefaßt sind, Register, kleine Zusammenfassungen des Argumentationsgangs am Rande der Seite. Der Text trägt nun seine innere Ordnung, die sogenannte ordinatio, sichtbar zur Schau. Zwischen 1200 und 1500 kam eine immer systematischere Interpungierung dazu. In allen europäischen Sprachen beginnt man, den Unterschied zwischen Majuskeln und Minuskeln auszunutzen, ganz früh durch eine Majuskel am Satzanfang, dann dadurch, daß man wichtige Begriffe durch Großschreibung hervorhebt. Wer französische, englische, italienische oder spanische Originaldrucke des 16., 17. und

WOHIN STEUERT UNSERE SPRACHE

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18. Jahrhunderts in die Hand nimmt, sieht, wie hier überall wichtige Wörter groß geschrieben werden. Im Deutschen hat sich dies zur Großschreibung von Substantiven generalisiert.11 Man sieht an diesem Beispiel zum einen, daß die Entwicklung von Graphie und Layout zu den Phänomenen der longue duree gehören deshalb stößt jede verordnete Veränderung der Orthographie auf größten Widerstand. Worum es dabei eigentlich geht, wird den wenigsten bewußt: nämlich um eine der Entwicklung von Schreibsystemen inhärente Tendenz zu einer immer besseren Lesbarkeit des geschriebenen Texts. Dies bedeutet für den Schreiber einen zunehmend größeren Aufwand. Man muß ja nicht nur einzelne Wörter richtig schreiben können, sondern auch noch die Groß- und Kleinschreibung beherrschen und, insbesondere, die Zeichensetzung, die ihrerseits wieder eine korrekte syntaktische Analyse voraussetzt. Dieser Mehraufwand durch den Schreibenden ist der Grund dafür, daß jede Bemühung um eine Rechtschreibreform mit schöner Regelmäßigkeit von den Grundschuldidaktikern ausgeht, im 16. Jahrhundert in Frankreich nicht anders als im 20. Jahrhundert. Die Lehrer wollen ihren Schützlingen Hilfestellung leisten, indem sie Schwierigkeiten der Graphie - in ihren Augen nur Möglichkeiten, Fehler zu machen - aus dem Wege räumen. Entwicklungen im Zeitungswesen Das Beispiel des Layouts von Texten soll noch etwas weiter verfolgt werden. Vorher wurde erwähnt, daß die Errungenschaften, die Texte ab 1200 aufweisen, die ordinatio, die innere Ordnung von Texten sichtbar machen. Dies geschieht insbesondere dadurch, daß etwas ausgenutzt wird, was im Vergleich zur gesprochenen Sprache grundlegend anders ist. Gesprochene Sprache ist linear, Wort folgt auf Wort, Satz auf Satz usw. Das Tonband, das dies abbildet, muß man von vorne bis hinten durchspulen, wenn man etwas sucht. Der geschriebene Text macht sich dagegen die Zweidimensionalität des Schriftträgers zunutze, und die Errungenschaften des Layouts bewirken, daß wir Informationen nun rasch finden können, ohne den Text von vorne bis hinten durchgelesen zu haben. Umgekehrt weiß der Leser in einem scholastischen Manus11

Vgl. Trudel Meisenburg, Romanische Schriftsysteme im Vergleich. Eine diachrone Studie (=ScriptOralia 82), Tübingen 1996.

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Wolfgang Raible

kript stets, an welcher Stelle er sich befindet: er hat ja die Überschriften, die lebenden Kolumnentitel, die Argumentationsschritte am Rand. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstehen nun in Deutschland die ersten Zeitungen. Kenner nennen das Datum 1609 für die beiden gleichzeitig erschienenen Wochenzeitungen, den Aviso in Wolfenbüttel und die Relation in Straßburg. Natürlich waren solche Zeitungen - wir würden heute sagen: war dieses neue Medium - nichts prinzipiell Neues. So, wie das scholastische Layout Errungenschaften aufgenommen hat, die sich verstreut zuvor schon an anderer Stelle fanden, gibt es wichtige Vorläufer solcher Zeitungen: die Flugschriften des ausgehenden 15. und 16. Jahrhunderts, die z. B. in der Reformationszeit in Deutschland eine wichtige Rolle hatten. 12 Das Erfolgsrezept dieser Zeitungen war, daß sie bekannte Eigenschaften in neuer Weise gebündelt haben. Sie waren im Prinzip jedem zugänglich, waren offen für jedes Thema, erschienen im Gegensatz zu den Flugschriften regelmäßig und hatten Aktualitätsbezug.13 Diese Zeitungen hatten Korrespondenten an bestimmten Orten. 14 Sie waren die eigentlichen Textproduzenten. Aufgrund dieser Produktionsweise gab es in den Zeitungen als Anordnungsprinzip keine thematischen Sparten und keine Ressortgliederung, wie wir sie heute kennen, sondern nur das schlichte Prinzip der Sammlung nach Herkunftsort. Dieses Prinzip - die Zeitung als Liste von Korrespondentenberichten - hielt sich vielfach bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, und auch heute noch zeichnen sich Zeitungen, die als besonders gut gelten, durch ein sehr teures Netz von Korrespondenten in aller Welt aus. In Frankreich erschienen die Zeitungen erst ein Jahrhundert später als in Deutschland - ein Ergebnis der sehr strengen Zensur. Man kann sich leicht ausdenken, daß in dem Moment, in dem die Zensur wegfiel, nämlich während der Französischen Revolution, ein Boom einsetzte. Die Herstellungszeit spielte nun eine entscheidende Rolle. Es kamen neue 12

13

14

Johannes Schwitalla, Flugschrift (=Grundlagen der Medienkommunikation 7), Tübingen 1999; Raymund Wilhelm, Italienische Flugschriften des Cinquecento (1500-1550). Gattungsgeschichte und Sprachgeschichte (=Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 279), Tübingen 1996. Vgl. Gerd Fritz, Die ersten Zeitungen - das neue Medium des Jahres 1609. Zur evolutionären Betrachtungsweise in der historischen Pragmatik. In: G. Fritz, A.H. Jucker (Hg.), Kommunikationsformen im Wandel der Zeit. Vom mittelalterlichen Heldenepos zum elektronischen Hypertext (=Beiträge zur Dialogforschung 21), Tübingen 2000, 189-208. Köln, Wien, Prag, Antwerpen, Venedig, Rom usw.

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Unternehmer auf, die dynamisch waren, rasch und billig produzierten und die Hersteller von Druckmaschinen zu immer neuen Leistungen beflügelten. Zugleich entstand ein ganz neues Berufsbild des Journalisten, der durch sein Schreiben reich werden konnte. Es ergab sich nämlich eine ganz neue Situation: ein sehr großes Leserpublikum und eine harte Konkurrenz um den Leser. Wenn man das Layout einer Zeitung von 1885 mit einer von 1785 vergleicht, sieht man, daß diese Rückkopplung mit der Leserschaft schließlich lebt die Zeitung von ihren Lesern - deutliche Spuren in der Gestaltung der Zeitungen hinterlassen hat. An die Stelle von öden Auflistungen von Nachrichten nach Orten, von denen sie kommen, gibt es nun größere, durch entsprechende Uberschriften gekennzeichnete Rubriken wie „La politique", „Feuilleton", „Faits divers", oft zusätzlich sichtbar gemacht durch Vignetten. Es kommen Bilder in Form von Radierungen und Stichen dazu - daher die journalistische Tradition der Karikatur, an der bedeutende Künstler wie Honoré Daumier (1808-1879) mitgewirkt haben. Die erste Seite, frz. la une, als das Aushängeschild für den potentiellen Käufer, wird besonders sorgfaltig gestaltet.15 Die Uberschriften über Artikeln werden größer und teilen sich in größere Ober- und kleinere Unter-Uber-Schriften auf. Eine ganz große Neuerung, die erst am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommt, ist die Uberschrift, die über mehr als eine einzige Textkolumne geht (sogenannte titres bandeaux, engl, banner headlines). Seit 1910 werden Photos in billiger Weise druckbar durch die Erfindung der Rastertechnik. Das Resultat dieser Entwicklung ist, daß Zeitungen immer leserfreundlicher werden. Man muß sie nicht mehr, wie anfangs, von vorne bis hinten durchlesen. Man weiß, auf welchen Seiten man welche Information suchen kann. Man findet an den entsprechenden Stellen dann das Gesuchte leicht durch entsprechende Überschriften und häufig durch sogenannte leads, die kurz über den Inhalt informieren und den Text des betreffenden Artikels dem Leser schmackhaft machen sollen.

15

Vgl. etwa Ernst Ulrich Große, Ernst Seibold (ed.), Panorama de la presse Histoire et actualité, genres et langages, Frankfurt am Main 1996.

parisienne.

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Wolfgang Raíble

N E U E T E X T T Y P E N ALS M O V E N S D E S

SPRACHWANDELS

Die beiden Beispiele gehören zweifellos in den Bereich der longue durée, aber, so könnte man einwenden, was haben sie mit Sprachwandel zu tun? Implizit zeigt dies schon das erste, expliziter das zweite Beispiel. Damit dies deutlich wird, müssen beide auf eine höhere Ebene gehoben werden. In Europa nimmt seit dem Jahr 1200 die Produktion an geschriebenen Texten exponentiell zu. Die so entstehenden Texte sind kein Selbstzweck, sie gehören zu Textgattungen, die alle ihren „Sitz im Leben" haben. Sie entsprechen insbesondere Bedürfnissen, die sich aus der Ausdifferenzierung einer arbeitsteiligen Gesellschaft ergeben. In Oberitalien führt z.B. das Problem der Uberbevölkerung seit dem 13. Jahrhundert zu einer totalen Verrechtlichung des öffentlichen Lebens. Neue Textgattungen, die hier entstehen, gehen immer aus älteren, schon vorhandenen, hervor, und diese älteren verändern sich selbst laufend. Brigitte Schlieben-Lange hat deshalb den schönen Begriff der Diskurstraditionen geprägt.16 Neue Medien, wie etwa die Zeitungen, schaffen durch Ausdifferenzierung wieder neue Textgattungen - Nachricht, Kommentar, Leitartikel, Fortsetzungsroman, die vielen Typen von Anzeigen usw. Die höhere Ebene, auf die man nun die Beispiele heben kann, ist, neben der Geschichtskonzeption von Braudel, das erweiterte Bühler-Schema. Genauso wie die Entwicklung des Orthographie-Systems oder des Text-Layouts Phänomene der longue durée sind, sind dies Schriftkulturen insgesamt. Was sich dabei vollzieht, läßt sich im erweiterten BühlerSchema lokalisieren: Mit der Ausdifferenzierung der Lebenswelt in unseren Schriftkulturen, mit der Entwicklung von Wissenschaft und Technik, entstehen laufend neue Bedürfnisse, die zu neuen Textgattungen führen. Man wird in einer oralen Gesellschaft weder Leitartikel noch Patentschriften, Urteile im Umfang von fünf Seiten, Gutachten, Geschäftsberichte von Aktiengesellschaften oder wissenschaftliche Aufsätze finden. Man kann die Entwicklung, die in solchen Schriftkulturen stattfindet, als eine immer stärkere Ausdifferenzierung der mittleren Ebene des Schemas sehen: Es entstehen Textgattungen, die zwar nie völlig neu sind, sondern Altes aufgreifen und allmählich zu Neuem entwickeln. Aber: Sie stellen dabei natürlich neue Ansprüche an das Sprachsystem, das sich 16

Brigitte Schlieben-Lange, Traditionen Sprachgeschichtsschreibung,

des Sprechens.

Stuttgart 1985.

Elemente

einer

pragmatischen

W O H I N STEUERT UNSERE S P R A C H E

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entsprechend weiterentwickelt. Wenn man die Genese der romanischen Sprachen beobachtet - und Analoges dürfte für das Deutsche gelten - , sieht man, daß etwa die Techniken der Subordination stärker ausgebaut werden, indem zunächst ein Unterschied zwischen Parataxe und Hypotaxe geschaffen wird. Namentlich die juristischen Textgattungen sind dabei wichtig. Juristen möchten Texte schreiben, die möglichst wenig Anlaß zu unterschiedlichen Interpretationen geben. Eine Folge davon ist, daß alle Relationen möglichst eindeutig ausgedrückt werden. In ganz Europa haben vor allem die Juristen deshalb ein Instrument zum Ausdruck von Relationen geschaffen, das wir präpositionaleFügungen nennen: deutsch infolge von, aufgrund von, mit Rücksicht auf, unter Hintanstellung von, zum Zweck von, in Ansehung von, in Absehung von; englisch in spite of with regard to, on behalf of, on account of die romanischen Analoga sollen dem Leser erspart bleiben - es gibt hunderte und aberhunderte solcher Relatoren. 17 In aller Regel finden sie sich zuerst in juristischen Texten. Wer noch davon überzeugt werden muß, daß es sich dabei um eine gesamteuropäische Erscheinung handelt, dem sei die Lektüre der verschiedenen Versionen des EU-Vertrags von 1997 („Maastricht") empfohlen. In einen ähnlichen Kontext gehört die Entstehung einer Reihe von neuen Sprechakt-Verben wie etwa garantieren, anerkennen, befürworten, versichern, in Frage stellen, bemerken, zurückweisen, akzeptieren usw. Dasselbe gilt für eine Fülle von Nomina, mit denen wir Textteile bezeichnen können: einen Exkurs machen, ein Argument vorführen, eine Behauptung aufstellen, eine Verpflichtung eingehen, ein Vermächtnis unterschreiben. Die entsprechenden Nomina haben die weitere schöne Eigenschaft, daß man mit ihnen ganze Sätze oder Satzfolgen zusammenfassen und wieder aufnehmen kann, indem man sagt: dieses Argument ..., diese These ..., diese Widerlegung ..., diese Unterstellung ..., diese Behauptung... usw. Sie nehmen also ganze Sätze oder Satzfolgen wieder auf (oder vorweg) und interpretieren sie dabei gleichzeitig als Behauptung, Unterstellung, Vermutung usw.18 17

Vgl. Wolfgang Raible, Junktion. Eine Dimension der Sprache und ihre Realisierungsformen zwischen Aggregation und Integration ^Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 1992/2), Heidelberg 1992; oderDers., Linking clauses. In: Martin Haspelmath, Ekkehard König, Wulf Oesterreicher, Wolfgang Raible (ed.), Language Universals and Language Typology 1, Berlin, New York 2001, Art. 45, 590-617.

18

Vgl. zum Englischen hier Elizabeth Closs Traugott, Literacy and language change: The special case of speech act verbs, Interchange 18 (1987), 32-48. - Zum Phänomen der In-

18

Wolfgang Raible

Das Interessante an solchen Nomina ist, daß sie eine ganz ungewöhnliche Eigenschaft haben: Man kann daß- und oi-Sätze von ihnen abhängig machen: die Notwendigkeit, daß ..., die Möglichkeit, daß ..., die Behauptung, daß ..., das Versprechen, daß ..., die Frage, ob ..., die Hypothese, daß ... und dergleichen. Man muß sich klarmachen, was solche Formen bedeuten: Es sind kleine grammatische Skandale. Ein Nomen wie Tatsache, das nicht das Geringste mit einem Verb zu tun hat, wird so behandelt, als ob es ein Matrixsatz wäre, von dem ein daß-SaXz abhängen kann: die Tatsache, daß. Andere Sprachen mildern den Skandal dadurch, daß man, wie fast durchgängig im Französischen, ein zusätzliches Verb als Puffer einführen muß: nicht la question si, sondern la question de savoir si. Im Spanischen, z. T. auch im Englischen, bekommt das Nomen erst noch eine Präposition, also das, was es normalerweise mit einem anderen Nomen verbinden könnte, erst dann kommt das Element, das unserem daß entspricht: elhecho de que, englisch the question ofhow ... Jedem Satz, den wir im Indikativ äußern, kann man widersprechen: wir haben ihn ja assertiert, d. h. wir haben zu erkennen gegeben, daß wir die kommunikative Regreßpflicht für das Gesagte übernehmen. Wenn ein solcher Satz in einer Zeitung steht, die viele Leser hat, bekommt er einen besonderen Stellenwert: bei einer falschen Information könnte die kommunikative Regreßpflicht dann leicht juristische Folgen haben. Deshalb ist es ganz wichtig, daß in Zeitungen Techniken des Zitierens angewandt werden, die zeigen, daß die kommunikative Regreßpflicht nicht beim Schreiber, sondern bei einer anderen Person liegt, auf die er sich bezieht. In diesem Zusammenhang haben nun alle romanischen Sprachen den Konditional im Hauptsatz als ein Signal der Distanzierung eingeführt. Sage ich: „Monsieur Untel a menti en disant que ...", dann kann man mich haftbar machen. Sage ich jedoch: „Monsieur Untel aurait menti en disant ...", bin ich nicht mehr angreifbar. Das Zeitungswesen hat diesen Sprachgebrauch inzwischen fest im Bewußtsein der Sprecher, d.h. im Sprachsystem, verankert. Die Beobachtung, die man im Rahmen des Bühler-Schemas machen kann, lautet also: Es differenzieren sich neue Textgattungen aus, die neue Ansprüche an das Sprachsystem stellen, die also die Sprache weiterentterpretatoren vgl. Jens Lüdtke, Sprache und Interpretation. Semantik und Syntax reflexiver Strukturen im Französischen (=1ubinger Beiträge zur Linguistik 237), Tübingen 1984.

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wickeln oder, wie die Linguisten gerne sagen, zum Ausbau der Sprache beitragen. Sie tragen nämlich alle dazu bei, daß mehr ausdrückbar wird, daß genauer bezeichnet werden kann, als dies zuvor der Fall war. Was nun die Geschichtskonzeption angeht, so zeigt sich: Alle diese für eine Sprache als System wirklich wichtigen Erscheinungen sind langfristige, zumindest mittelfristige Entwicklungen; keine beginnt völlig neu, alle setzen auf dem auf, was schon vorhanden ist, und entwickeln es weiter. Gleichzeitig sind sie Ausdruck von Tendenzen der longue durée, hier also beispielsweise der Tendenz, Geschriebenes immer leichter perzipierbar zu machen. Auch hier haben wir es also mit einem sehr langsamen Wandel zu tun, der sich über Jahrhunderte erstreckt.

D R E I FORMEN DES SPRACHWANDELS: UMBAU, AUSBAU,

ABBAU

Die Beispiele von Sprachwandel, die im Zusammenhang mit der longue durée gegeben wurden, laufen darauf hinaus, daß unsere europäischen Sprachen im Rahmen der Schriftkulturen, zu denen sie gehören, weiter ausgebaut, auf keinen Fall jedoch abgebaut werden. In diesem Zusammenhang erweist sich erneut die Technik des distinguo als nützlich: Von diesem Sprachwandel durch Ausbau muß eine andere, parallele Art des Sprachwandels unterschieden werden, die man den permanenten Umbau von Sprachsystemen nennen kann. Es handelt sich um diejenige Art von Sprachwandel, die, wie Eugenio Coseriu es formuliert hat, ihre Ursache darin hat, daß Sprache von Sprechern gesprochen wird. 19 Die Kategorie „Futur" ist beispielsweise in allen Sprachen eine beständige „Baustelle": Synthetische Futurformen wie lat. cantabo werden nach und nach ersetzt durch analytische wie lat. cantare habeo, „ich habe zu singen, muß singen". Daraus sind in der Mehrzahl der romanischen Sprachen neue synthetische Futurformen entstanden (z.B. frz. je chanterai), die ihrerseits nun wieder Konkurrenz bekommen haben in neuen analytischen Futurformen (Je vais chanter, voyacantarusw.). Auch hierin steckt in gewissem Sinne die Absicht, etwas in anderer Weise, vielleicht besser, knapper, nuancierter, expressiver, durchsichtiger auszudrücken. Wenn man eine größere Zahl von Sprachen in den Blick nimmt, sieht man freilich, daß zur Veränderung von Kategorien stets bemerkenswert 19

Eugenio Coseriu, Sincronia, diacronia Tìibingen 1958 (reimpr. fotomec.).

e historia:

el problema

del cambio

linguistico,

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Wolfgang Raíble

ähnliche Instrumente eingesetzt werden. Zur Bildung neuer Futurformen gibt es neben dem Typ mit dem Bewegungsverb (ich gehe schwimmen) noch den Typ mit einer modalen Umschreibung (ich will schwimmen, muß schwimmen, soll schwimmen): Dieser Typ ist uns aus dem Englischen, d e m Rumänischen, dem Neugriechischen gut vertraut. Der deutsche Typ mit werden + Infinitiv ist relativ selten. Daneben gibt es noch die Möglichkeit der Grammatikalisierung von Zeitadverbien wie etwa span./port. luego, das im Papiamento zum Futurzeichen lo wurde. Wenn man dies etwas verallgemeinert, sieht man, daß hinter dieser Art des permanenten Umbaus kognitive Prinzipien oder eine menschliche kognitive Grundausstattung sichtbar werden. Was man für den Umbau von Futurformen beobachten kann, kann man genauso für den Umbau von Perfektformen, die Kreation von Verlaufsformen und dergleichen beobachten. Häufig haben solche Umbau-Erscheinungen auch etwas zu tun mit typologischem Wandel. Es handelt sich aber stets u m Phänomene der longue duree, die von den Zeitgenossen kaum bemerkt werden, die also auch kaum Unruhe stiftendes Potential entfalten. 20 Was man bei diesen Arten des Umbaus beobachten kann, ist lediglich das Phänomen, daß - wegen des Prinzips der Gleichzeitigkeit und des Ungleichzeitigen, daß also das „Alte" immer neben dem „ N e u e n " existiert - die Erscheinung, die im Lauf der Zeit abgelöst werden wird, als stilistisch höherrangiger gilt denn diejenige, die sich mit der Zeit durchsetzen wird. 2 1 20

Ausnahmen entstehen, wenn der Schulunterricht „konservierend" auf solche Entwicklungen einwirkt und bestimmte Formen geißelt nach dem Motto „Wer brauchen ohne zu gebraucht, braucht brauchen gar nicht zu gebrauchen". Hier geht es um die Entwicklung eines Verbs zum Hilfsverb und eine zu anderen Hilfsverben ( wollen, sollen, müssen, können etc.) analoge Verwendung. - Im Spanischen ist ein schönes Beispiel der dequeismo - Verwendung von de que dort, wo die Norm einfaches que als Konjunktion verlangt. Was hier zugrunde liegt, ist wohl eine neue Art der Modalisierung (Einschränkung der kommunikativen Regreßpflicht nach Verben, die Sprechakte thematisieren, oder nach epistemischen Verben [glauben, wissen, gesehen haben etc.]). In solchen Fällen kann es sogar vorkommen, daß in einer Talkshow ein Gast den Moderator wegen seines Sprachgebrauchs als Dequeisten kritisiert. - Zur Sprachpflege in Frankreich vgl. etwa Petra M. E. Braselmann, Sprachpolitik und Sprachbewußtsein in Frankreich heute (=Romanistische Arbeitshefte 45), Tübingen 1999; zu Spanien, wo Sprachpflege in der Praxis vor allem von der Tageszeitung El Pais betrieben wird: Franz Lebsanft, Spanische Sprachkultur. Studien zur Bewertung und Pflege des öffentlichen Sprachgebrauchs im heutigen Spanien (=Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 282), Tübingen 1997.

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Ein Beispiel für die Überschneidung dieser Art des Sprachwandels durch Umbau mit dem durch Ausbau: Ein typisches Vehikel von neuen Passiv-Formen ist das Verbum

W O H I N STEUERT UNSERE SPRACHE

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Die europäischen Sprachen befinden sich also nach wie vor in einer Phase des Ausbaus, nicht des Abbaus oder gar des Sprachverfalls. Die Ausdrucksmöglichkeiten sind durch die Etablierung spezifischer Textgattungen immer größer geworden, und die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten steht in engem Zusammenhang mit neuen Anforderungen an das Sprachsystem, das sich mittel- und langfristig verändert. Die Erscheinungen des Sprachwandels, die uns als normale Sterbliche so beunruhigen, können zum einen in allen Sprachen beobachtet werden, zum anderen sind es häufig Erscheinungen, durch die sich bestimmte Gruppen bewußt von anderen abgrenzen - z.B. die Jugend von den Alteren. Solche Erscheinungen gehen selten in den allgemeinen Sprachgebrauch ein - sie sollen es ja auch nicht, sonst verlören sie ihre Abgrenzungsfunktion. Wenn unsere Sprachen wirklich einem Prozeß des Verfalls ausgesetzt wären, sähe dieser ganz anders aus: Wolfgang Dressler hat solche Erscheinungen des Sprachtods oder der language obsolescence, wie man pietätvollerweise (statt death) sagen kann, eingehend am Bretonischen beschrieben. Sprachen sterben letztlich dann, wenn ihre Sprecher aussterben bzw. mehr und mehr zu einer anderen Sprache übergehen. 22

B E U N R U H I G U N G IST F E H L AM PLATZ

Die Frage, auf die eine Antwort zu geben war, lautete: „Wohin steuert unsere Sprache? - Eine Diagnose und Prognose an der Jahrtausend wende". Hier kann nochmals an die altbabylonische Einleitung erinnert werden. Viele unserer heutigen Zeitgenossen sind natürlich geneigt, das, was

kommen - wie in ital. Gianni viene lodato, „Gianni wird gelobt". Im Deutschen wird in bestimmten Texten, die amtlicher, offiziöser oder technischer klingen wollen, dieses kognitive Kommen-Muster in interessanter Weise eingesetzt. Man benötigt ein Nomen, zu dem es ein Verb gibt - wie einsetzen - Einsatz, anwenden - Anwendung, verzehren - Verzehr. Statt nun zu sagen „etwas wird verzehrt", „etwas wird angewendet", „etwas wird eingesetzt" sagt man: „etwas kommt zum Einsatz, kommt zum Verzehr, kommt zur Anwendung". - Vgl. zu den kognitiven Grundlagen Wolfgang Raible, Kognition und Sprachwandel. In: Akademie-Journal, Mitteilungsblatt der Konferenz der deutschen Akademien der Wissenschaften 1 (1996), 38-45. 22

Vgl. zu einer Ubersicht über die Erscheinungen, die dabei auftreten, Hans-Jürgen Sasse, Language obsolescence. In: Haspelmath, König, Oesterreicher, Raible (ed.), Language Universals and Language Typology 2, wie Anm. 17, Art. 118.

22

Wolfgang Raíble

sie zum Sprechen und zum Sprachgebrauch der Gegenwart beobachten, als Omina zu deuten, die auf einen Verfall der Sprache, schlimmstenfalls auf ihren Untergang hindeuten. Mancher wird sicher erwartet haben, daß sich der Experte einer solchen pessimistischen Deutung anschließt, und daß er in einem Löseritual eventuell einen Sündenbock ausfindig machen und verurteilen wird. Der kundige Deuter hat dieser Art der Erwartung sicher nicht entsprochen, weil er die Vorzeichen nicht als Vorzeichen eines sprachlichen Unheils verstanden wissen will. Sie sind uns aus dem Leben jeder beliebigen Sprache bestens vertraut. Der Fehler, den wir machen, wenn wir solche conjonctures im Sinne von Braudel zum Vorzeichen des Unheils machen, ist der, daß wir aufgrund weniger Daten, die uns bedrohlich erscheinen, zu rasch extrapolieren und dabei den weiteren Fehler begehen zu meinen, das Neue verdränge das Alte völlig. Dabei gilt von allem Sprachwandel, daß das Neue und das Alte oft Jahrhunderte lang nebeneinander existieren, das Alte zuerst als stilistisch höherwertig, schließlich als veraltet. Sprachwandel ist ein Phänomen der moyenne und der longue durée - und sobald man diese Perspektive wählt, lautet die Diagnose nicht „permanenter Sprachverfall", sondern, im Gegenteil, „permanenter Ausbau" unserer europäischen Sprachen. Die Phänomene der conjonctures, die uns am meisten beunruhigen, gehören zur Normalität von Sprache. Daher ist auch kein Sündenbock ausfindig zu machen - weder die heutige Jugend noch die Medien, noch das Internet - , im Gegenteil: Die Neuen Medien bedeuten eine neue kommunikative Herausforderung, der wir sprachlich gerecht werden müssen. Auch sie werden zum Ausbau des Sprachsystems beitragen - natürlich auch durch technisches oder Fachvokabular. 23 Damit aber nicht alle negativen Erwartungen positiv enttäuscht werden, soll zum Schluß noch ein caveas angefügt werden: Der Ausbau, der zu konstatieren ist, betrifft insbesondere unsere europäischen Sprachen als Schriftsprachen. Wir werden zwar alle mit dem Potential geboren, jede beliebige Sprache als Muttersprache zu erwerben, unter Umständen auch 23

Daß wir in E-Mails sprachlich und stilistisch sorglos sein können, ist ein Spezifikum dieser Gattung: Sie ersetzt seit geraumer Zeit weitgehend das Telephongespräch, in dem die wenigsten von uns druckreif sprechen. Auf der Skala zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und konzeptioneller Schriftlichkeit gehören E-Mails eher auf die konzeptionell mündliche Seite, z.T. sind sie so etwas wie elektronisch vermittelter Smalltalk.

WOHIN STEUERT UNSERE SPRACHE

23

zwei oder drei gleichzeitig; dazu können später noch fast beliebig viele weitere Sprachen kommen. Die Fähigkeit, komplexe Texte zu schreiben und die Regeln von Textsorten zu beherrschen, ist uns aber keinesfalls in die Wiege gelegt. Sie kam phylogenetisch offenbar sehr spät und bedarf eines intensiven Trainings. Deutsche Schülerinnen und Schüler brauchen 12 bis 13 Schuljahre, bis sie einigermaßen verständliche Aufsätze schreiben können. Mehr als drei oder vier Textsorten lernen wir in unserem Leben selten aktiv zu beherrschen. Das caveas bezieht sich also darauf, daß wir darauf achten müssen, solche Fähigkeiten zu trainieren - wobei die Sprache im übrigen relativ gleichgültig ist. Das Korrelat einer hochentwickelten Schriftkultur ist allemal eine lange Phase des Spracherwerbs - auch in der Muttersprache. Wer es gut mit einer Sprache meint, sollte sein Augenmerk also nicht auf Fremdwörter und ungewohnte Redeweisen - als typische Erscheinungen der sprachlichen conjonctures - richten, sondern sich vor allem um das Erziehungs- und Bildungssystem seiner Sprachgemeinschaft kümmern. 24

24

Vgl. zu den Anforderungen, die Schriftkulturen stellen, Wolfgang Raible, Kognitive Aspekte des Schreibens, Heidelberg 1999. - In der einschlägigen Literatur ist vielfach zu lesen, der Spracherwerb sei mit etwa fünf Jahren abgeschlossen. Schon allein wegen der kognitiven Voraussetzungen, die man braucht, um beispielsweise zwei simultane Ereignisse sprachlich auch als simultan zu kennzeichnen, ist dies relativ absurd. - Vgl. Emilia Ferreira, Les relations temporelles dans le langage de l'enfant, Préface de Jean Piaget (=Langue et cultures 1), Genève 1971. - Die Möglichkeiten eines Tempussystems, wie es die meisten romanischen Sprachen besitzen, beherrschen Kinder frühestens mit neun oder zehn Jahren. - Das eigentliche Problem, das sich uns allen stellt, besteht jedoch darin, Texte komplexeren Inhalts so zu schreiben, daß andere sie verstehen können.

Hubert Haider SPRACHERWERB,

SPRACHVERLUST,

SPRACHVERMÖGEN. S P R A C H E I M N E T Z W E R K VON PSYCHOLOGIE UND

BIOLOGIE,

NEUROLOGIE

Millisekunden nachdem Ihr Auge den Beginn dieser Zeile erfaßt hat, startet in Ihrem Hirn schon eine Kaskade von nicht zu unterdrückenden Vorgängen, die in Ihrem Kopf eine Mitteilung Gestalt annehmen lassen, die dem Hirn des Autors dieser Zeilen entsprungen ist. Bemerkenswert daran ist, daß Sie sich dabei nicht bewußt anstrengen und auch nicht bemerken, was in Ihrem Kopf abläuft.1 Vorgänge wie diese zu enträtseln, ist die Aufgabe der Kognitionswissenschaften und gehört in Sonderheit zu den Aufgaben der (Psycho-)Linguistik. Die menschliche Sprachfahigkeit mit ihren Leistungen bildet für die kognitionswissenschaftliche Forschung (in den akademischen Sparten der kognitiven Neurowissenschaften, der Kognitionspsychologie, der Künstlichen Intelligenz, der Linguistik und der Philosophie) ein verhältnismäßig direkt zugängliches Fenster zu Leistungen unseres Gehirns. Spracherwerb und Sprachgebrauch sind komplexe kognitive Spezialleistungen, für die das menschliche Gehirn aufgabenspezifische Ressourcen anzubieten scheint. Wie diese Fähigkeiten entstanden, wie sie beschaffen sind und wie sie gebraucht werden, diese Fragen markieren die zentralen Bereiche der sich erfolgreich formierenden transdisziplinären kognitionswissenschaftlichen Forschung.

1

Es kommt sehr selten vor, daß die Verarbeitung ins Stocken gerät. Erst dann wird uns bewußt, daß das Hirn bei der Verarbeitung einen Plan verfolgt hat, der in eine Sackgasse gemündet ist. Zurück an den Start, lautet dann das Kommando, um den Satz im zweiten Versuch zu knacken. Schuld am Stolpern der Verarbeitung trägt meist der Urheber des Satzes, der eine unerwartete Abzweigung vom vermuteten Konstruktionsweg gewählt hat, wie das folgende Beispiel illustriert (für das ich Markus Bader danke): „Als Flüchtlinge in einem Lager in der Grenzstadt Goma lebende Soldaten der ehemaligen ruandischen Armee haben 50 Rinder als Geiseln gefangen, um von den zairischen Behörden die Rückgabe der Omnibusse zu erzwingen, mit denen sie geflohen waren" (Süddeutsche Zeitung, 15.9.1994). Hätte der Journalist dem ersten Wort seines Satzes das Wort einige vorangestellt, käme man nicht ins Stocken.

Hubert Haider

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Die vorläufigen Ergebnisse des fachübergreifenden Bemühens lassen doch bereits Umrisse der noch immer weitgehend unbekannten Geographie des letzten, uns aber am nächsten liegenden „weißen Flecks", nämlich dem unter unserem Schädeldach, erkennen. Die folgenden, stichwortartig aufgelisteten Bereiche werden in diesem Beitrag zur Sprache kommen. Was die im Titel genannten Stichworte anlangt, so fallt der erste Themenbereich unter das Stichwort Psychologie, der zweite unter Biologie und der dritte unter Neurologie. Indizien kognitiver Spezialisierung im Spracherwerb: Grammatikmodul ?

kognitives

Sprachvermögen trotz massiver kognitiver Beeinträchtigung Beeinträchtigungen des Sprachvermögens in Folge von Hirnverletzungen

Sprachfähigkeit im Laufe der Hirnevolution? Evolution der Sprachfähigkeit? Primatenstudien und Evolution: Was ist das spezifisch Menschliche an der Sprache? Genetische Korrelate der Sprachfähigkeit? Vorläufige Ergebnisse

Sprache im Gehirn: Wo sich Kognitions- und Neurowissenschaften begegnen Der Sprachverarbeitung auf der Spur: Mit EEG und bildgebenden Verfahren Das sprachliche Netzwerk im Gehirn: Dynamik und Lokalisierung

SPRACHERWERB:

DAS VERKANNTE

PROBLEM?

Es ist nicht erstaunlich - denn es gibt viele Bereiche, in denen der Hausverstand in Widerspruch zu einer wissenschaftlichen Einsicht gerät -, daß der Hausverstand auch dann irrt, wenn er uns sagt, daß Kinder die Grammatik ihrer Muttersprache erlernen: Sie fanden durch Versuch und Irrtum im praktischen Umgang heraus, was die Regeln sind, nach denen man sprachliche Ausdrücke zu bilden habe. So wie uns der Hausverstand suggeriert, daß die Erde ruht und die Sonne sich um uns herum bewegt, so irrt der Hausverstand in einem entscheidenden Punkt auch beim Spracherwerb. Er unterschätzt einerseits die Komplexität der Aufgabe, die

SPRACHERWERB, SPRACHVERLUST,

SPRACHVERMÖGEN

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einem Kind zugemutet wird, und andererseits überschätzt er damit die Leistungsfähigkeit des Kindes. Wir unterschätzen die Aufgabe, weil sie im wörtlichen Sinne kinderleicht zu sein scheint. Wäre die Grammatik so einfach, daß sie für ein 5 bis 5jähriges Kind durch Versuch und Irrtum erlernbar wäre, unterschiede sich diese Grammatik von der Grammatik unserer jeweiligen Muttersprache wohl eher so, wie sich der architektonische Entwurf eines 3 bis 5jährigen Kindes vom professionellen Entwurf eines Hauses abhebt. Die Betonung liegt auf Versuch und Irrtum. Unbestritten ist, daß das Kind etwas erlernt, d. h. daß das Kind im Spracherwerb Information verarbeitet und umsetzt. Es wäre aber hoffnungslos überfordert, müßte es allein mit Hilfe seiner allgemeinen kognitiven Fähigkeiten zur Mustererkennung und Regelanalyse aus dem sprachlichen Angebot seiner Umgebung die Grammatik herauslesen, über die ein 5jähriger offensichtlich verfügt und die sich nur unwesentlich von der seiner Umgebung unterscheidet. Mit wissenschaftlichem Anspruch vorgetragen wurde die oben dem Hausverstand zugeschriebene Ansicht von B. F. Skinner.2 Mit seiner profunden Kritik an der Unhaltbarkeit dieser Position legte Chomsky3 den Grundstein für eine kognitionswissenschaftliche Herangehensweise. Bei seiner Analyse des Lernbarkeitsproblems kam er zum Schluß, daß die Aufgabe für Kinder nur dann zu meistern sei, wenn ein Kind durch eine zu seiner kognitiven Grundausstattung gehörende spezielle Fertigkeit für diese Aufgabe disponiert ist. Für Biologen wie z.B. Wickler und Seibt, 4 die tierisches Verhalten studieren, ist diese Betrachtungsweise selbstverständlich und lange etabliert: Dilly (sein Werk erschien 1691) hält Dispositionen wie die zum Sprechen für angeboren, so wie auch viele andere Dispositionen, und meint, das Lamm fliehe den Wolf, den es nie zuvor gesehen habe, ohne erst bei Plinius nachlesen zu müssen, daß er sein Feind sei. Schon Seneca brachte dieselbe Einsicht auf den Punkt: Was die Übung lehrt, das entsteht langsam und auf mancherlei Art; was aber die Natur selbst gelehrt, das ist bei allen gleich und allsobald da. Wickler und Seibt3 betonen auch, daß die Annahme, die übrigens auch in der linguistischen Diskus2 3 4 5

Burrhus F. Skinner, Verbal Behavior, 1957. Noam Chomsky, A Review ofB.F. Skinner's „VerbalBehavior". In: Language 55 (1959), 26-58. Wolfgang Wickler, Ute Seibt, Das Prinzip Eigennutz. Zur Evolution sozialen Verhaltens, München 1991, 27 f. Ebd., 28.

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Hubert Haider

sion zum Spracherwerb etabliert ist, daß angeborene Dispositionen einem Maturationsprozeß unterliegen, ebenfalls nicht neu sei. Sie verweisen auf Spalding, der seine 1873 veröffentlichten Studien mit dem Hinweis kommentierte, daß manche Verhaltensweisen wie Organe heranwüchsen. Man mußte gar nicht Biologe sein, um zum selben Schluß zu gelangen, wie das Beispiel des englischen Gelehrten Dr. Samuel Johnson (1709-1784) lehrt: Boswell notiert in seiner Johnson-Biographie: „Uber den Ursprung der Sprache äußert sich Johnson folgendermaßen: Sie muß aus höherer Eingebung stammen. Tausend und abertausend Kinder könnten eine Sprache nicht erschaffen. Solange die Organe bildungsfähig sind, reicht der Verstand nicht aus, um eine Sprache zu schaffen; bis dann der Verstand genügend entwickelt ist, haben sich die Organe versteift. [...] Wenn ich behaupte, die Sprache müsse aus höherer Eingebung stammen, heißt das nicht, daß es für die Redekunst und für das Sprachkunstwerk überhaupt der Eingebung bedürfe; denn sofern dem Menschen einmal die Sprache gegeben ist, läßt sich annehmen, daß er sie mit der Zeit ausgestaltet. Ich will damit nur sagen, daß es unbedingt Eingebung gewesen sein muß, was überhaupt den Gedanken der Sprache in den Menschen gesenkt hat; ohne Eingebung wäre er ebensowenig darauf verfallen wie Kuh oder Schwein."6

Die derzeit etablierten unterschiedlichen akademischen Herangehensweisen an Sprache zeigen deutlich die Grenzlinien zwischen zwei völlig verschiedenen Sichtweisen. Betrachtet man Sprache als eine soziale und kulturelle Institution, denkt man an ein singuläres, historisch und sozial verortetes, virtuelles Objekt. Die deutsche Sprache beispielsweise ist dann ein kultur- und sozialwissenschaftlich definiertes Phänomen. Man meint, wenn man von der deutschen Sprache spricht, den Gebrauch dieser Sprache. Im Vordergrund steht der Werkzeugcharakter und seine Produkte, die Texte, einerlei ob gesprochen oder verschilftet. Die Verfügbarkeit des Werkzeugs wird stillschweigend vorausgesetzt. Unter diesem Blickwinkel ist der Gegenstand, der mit die deutsche Sprache bezeichnet wird, virtuell: Er tritt nie in Erscheinung. Die deutsche Sprache läßt sich nicht besichtigen. Es gibt nur die Produkte in deutscher Sprache (mündliche Äußerungen oder ihre Verschriftungen). Es gibt aber auch eine konkrete Sicht, und um die geht es in diesem Beitrag, wenn von Sprache die Rede ist. Sieht man in Sprache nämlich 6

James Boswell, Dr. Samuel Johnson. Leben und Meinungen (1791), Zürich 1981, 591.

SPRACHERWERB, SPRACHVERLUST, SPRACHVERMÖGEN

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das kontinuierliche Produkt einer kognitiven Fähigkeit und richtet sein Augenmerk auf diese Fähigkeit selbst, dann wendet man sich einem konkreten empirischen Gegenstand zu, mit überindividuell invarianten Eigenschaften, die letztendlich biologisch bedingt sind. Nicht das Singulare einer einzelnen Sprache steht dann im Mittelpunkt sondern das Allgemeingültige der menschlichen Sprachfahigkeit. Dies ist der kognitionswissenschaftliche Blickwinkel, der Fokus auf eine spezifische mentale Fähigkeit, ihre Beschaffenheit und ihre kognitive Verfügbarkeit. Die kognitive Wende in der Sprachwissenschaft, die Noam Chomsky zu verdanken ist, gründet auf der von ihm etablierten Einsicht, daß das Erfolgskriterium der Grammatiktheorie die Antwort auf folgende Frage bildet: Wie schafft es ein Kind, auf Basis der begrenzten sprachlichen Erfahrung, die ihm zu Gebote steht, ein vollständiges und diskret verfügbares Wissen (im Sinne von Know-how) über die Grammatik der als Muttersprache erworbenen Sprache zu erlangen? Damit wurde der zu erforschende Gegenstand als mentale Fähigkeit kognitionswissenschaftlich verortet und ein äußerst erfolgreiches Forschungsprogramm initiiert. Der unvermeidliche Schluß aus der hier angesprochenen Tatsache, nämlich der vollständigen und diskreten Verfügbarkeit der Grammatik7 der Muttersprache, ist, wie Chomsky erkannte, weitreichend. Es muß eine kognitive Kapazität geben, die den Grammatikerwerb steuert und damit erst ermöglicht. Die induktiven Trial&Error-Verfahren menschlicher Problemlösungsfähigkeiten scheiden als Erklärungshintergrund für die souveräne und überindividuell kaum streuende Beherrschung der Grammatik aus. Die von Chomsky propagierte Lösungsstrategie für das, was er Piatos Problem8 nennt, ist mittlerweile hinreichend bekannt: Es gibt eine arteigene kognitive Disposition, er nennt sie UG (Universale Grammatik), 7

Muttersprachliche Sprecher sind in der Lage, beliebige, auch nicht vorher gebrauchte Äußerungen hinsichtlich ihrer grammatischen Wohlgeformtheit zu beurteilen, wobei Verstöße gegen die Grammatik als

Ja/nein-Urteile

gefällt werden.

Grammatische

Wohlgeformtheit ist nicht graduell, sondern kategorisch. 8

Wie kann man mehr wissen als man gelernt haben kann? In Anspielung auf Piatos Dialog Menon (Kap. 20), in dem Sokrates einem Ungebildeten geometrisches „Wissen" entlockt, benennt Chomsky ein grammatiktheoretisches Grundproblem: Wie kommt es, daß einem mehr Wissen über die Grammatik seiner Muttersprache im Sinne von Know-how zu Gebote steht, als man je durch Lernen erworben haben könnte? Die Antwort ist die kognitionswissenschaftlich interpretierte platonische Antwort: Es gibt kognitive Apriori. Piatos angeborenen Ideen entsprechen angeborene kognitive Strukturen der Organisationsstrukturen grammatischen Wissens.

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zum Erwerb bestimmter komplexer Symbolmanipulationssysteme, nämlich den Grammatiken natürlicher Sprachen. Das Format einer möglichen Grammatik einer natürlichen Sprache ist - so die Annahme - durch diese UG eng festgelegt. Die scheinbare Vielfalt der Grammatiken menschlicher Sprachen täuscht den Betrachter. Die Vielfalt ist das Ergebnis sehr beschränkter parametrischer Variation: Es gibt Prinzipien der Grammatik mit offenen Bestimmungsstücken (Parametern), die mit dem jeweils für die Einzelsprache zutreffenden Wert (+ oder -) fixiert werden müssen. Die scheinbare Vielfalt ergibt sich aus dem kombinatorischen Spielraum der Parameterfixierungen der Regeln der Grammatik. 9 Die Grammatik einer Einzelsprache wird durch die Fixierung der UGOptionen auf die Parameterwerte der gegebenen Sprache bestimmt. Der eigentliche Lernvorgang, der für den Erwerb der Grammatik nötig ist, bildet das Erkennen der aus der einzelsprachlichen Erfahrung gewonnenen Werte für die Parameter der kognitiven Grammatik. Das Erlernen ist in dieser Sichtweise ein Selektionsvorgang, der einer gezielten Suche entspricht. Der lerntheoretisch entscheidende Punkt in Chomskys Theorie ist somit der: Spracherwerb ist wesentlich ein Selektionsvorgang und nicht ein Instruktionsvorgang. Piatelli-Palmarini charakterisierte den Unterschied folgendermaßen: „ U n d e r the innate-selectivist a s s u m p t i o n , , t r a n s f e r o f structure' b e c o m e s very c l o s e to a n o m o l o g i c a l impossibility. B u t , s i n c e t r a n s f e r o f structure is t h e literal interpretation o f the notions of l e a r n i n g a n d interiorization in the canonical s e n s e , t h e n t h e s e n o t i o n s a r e b a r r e d f r o m linguistics a n d p s y c h o l o g y as strongly as p e r p e t u a l m o t i o n is b a r r e d f r o m physics a n d t h e inheritance o f a c q u i r e d characteristics f r o m genetics."10

Der auf einen Selektionsvorgang reduzierte Lernaufwand macht aus der für das Kind unbewältigbaren Aufgabe eine verhältnismäßig leichter bewältigbare. Wie die Parameterwerte im Zuge des Spracherwerbs operational zu identifizieren und zu fixieren seien, ist allerdings ein kontrovers diskutiertes Problem. 9

10

Bei zwei möglichen Werten ergeben sich bereits bei 13 parametrisierten Regeln 2V: verschiedene Grammatiken. Das ist ungefähr die geschätzte Zahl von Sprachen, die derzeit existieren. Das soll veranschaulichen, daß wenige Parameter genügen, um einen großen Variationsspielraum zu eröffnen. Massimo Piatelli-Palmarini, Evolution, Selection and Cognition: From „Learning" lo Parameter Setting in Biology and in the Study of Language. In: Cognition 31 (1989), 1-44, hier: 33.

S P R A C H E R W E R B , SPRACHVERLUST,

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Der Vorteil eines selektionsbasierten Lernmodells gegenüber einem offenen Lernmodell läßt sich leicht anhand eines formalen Systems erläutern. Wenn man die Lösung des folgenden Problems nicht bereits kennt, dann sollte man als durchschnittlich intelligenter Denksportler nicht verzweifeln, wenn man die Lösung nicht innerhalb einer Viertelstunde gefunden hat. Das Problem lautet: Was ist das Bildungsgesetz der unter (1) angegebenen Ziffernkombinationen? (1) 2, 12, 1112, 3112, 132112, 1113122112, 311311222112, ...

Betrachtet man die Ziffernkombinationen als Ausdrücke einer formalen Sprache, so ist das Bildungsgesetz die Grammatik der formalen Sprache. Die Ziffern sind die Wörter und die Ausdrücke die Sätze der Sprache. In (1) sind 7 dieser Sätze angegeben. Diese formale Sprache erlaubt trotz eines sehr beschränkten Wortvorrats - er besteht nur aus den Ziffern 1, 2, 3 - die Bildung einer unendlichen Menge von Ausdrücken. Die Grammatik dieser Sprache enthält einen Parameter und eine Regel. Die Regel lautet informell: Jeder Ausdruck ist eine Beschreibung des vorangehenden Ausdrucks.11 Der Parameter ist die Wahl des atomaren Elements, im obigen Fall also die Wahl von 2. Mit diesem Wissen sind Sie nun hinreichend präpariert, um im Handumdrehen die in (2) angegebenen Folge fortzusetzen: (2)

1, 11, 21, 1211, 111221, 312211, 13112221, ...

Im Unterschied zur Situation, mit der Sie drei Absätze vorher konfrontiert waren, wissen Sie nun, was das Format der Grammatik ist, und Ihre Aufgabe reduziert sich auf die Feststellung des einzigen Parameters, nämlich die Beobachtung, daß die Ziffernkombinationen sich aus der Entwicklung mit dem Beginnelement 1 ergeben. Der mit diesem Beispiel bezweckte Vergleich hinkt allerdings in einem wesentlichen Punkt. Dem Kind ist die Lösungsstrategie, die ich Ihnen für das obige Beispiel erklären mußte, gleichsam einprogrammiert und kognitiv nicht zugänglich, so wie keinem von uns die Grammatik der Muttersprache kognitiv zugänglich ist. Wir wissen nicht, und müssen es auch nicht wissen, was unser Hirn treibt, wenn wir Sprechen oder Hören. Die aktuellen Diskussionen in der Erforschung des Spracherwerbs gehen nicht mehr darum, ob es angeborene Dispositionen gibt, sondern 11

So z.B. 1112: Das ist 5x eine 1 und lx eine 2, also 3112. Hier ist die Grammatik: (/, 2, 3} als terminale Elemente. Struktur eines komplexen Ausdruckes: "V [z.B.: 1112 entspricht der Struktur 3 1'2]. Erzeugungsregel: "vy ny. Basis: 1 2.

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darum, welcher Art sie sind, und wie spezifisch sie die mögliche Bandbreite für eine Grammatik festlegen.12 Die Sichtweise, die Chomsky für die theoretische Modellierung des Spracherwerbs entwickelt hat, erwies sich als ebenso fruchtbar für andere Bereiche der Erforschung der kognitiven Entwicklung des Kindes. Es ist mittlerweile die kognitionswissenschaftliche Standardannahme, daß es für eine ganze Reihe von kognitiven Leistungen aufgabenspezifische Fähigkeiten gibt, die das Kind bereits mitbringt.13 Spelke formuliert es folgendermaßen: „Humans are endowed with a number of systems of knowledge, each consisting of a limited set of principles capturing highly reliable constraints on a significant class of entities. Over the course of h u m a n development, each system of knowledge grows as the principles at its core are enriched by further, generally less reliable notions. In addition, distinct systems of knowledge come to guide an increasingly wide range of actions and come to be related to one another." 1 4

Betrachten wir dazu ein Beispiel. Babies, das fanden Eimas, Siqueland, Jusczyk und Vigotorio15 heraus, sind schon in den ersten Wochen in der Lage, Laute kategorial zu unterscheiden. Das bedeutet, daß sie beispielsweise fähig sind, etwa den Laut, der einem p entspricht, zu unterscheiden von einem Laut, der einem b entspricht. Das phonetische Korrelat dazu ist die sogenannte Stimmansatzzeit. Das ist die Zeit, die verstreicht zwischen der Öffnung des Verschlusses und dem Einsetzen der Stimmbandschwingungen. Geschieht das innerhalb von 20 Millisekunden, nehmen wir den Laut als b wahr. Dauert es hingegen mehr als 40 Milli-

12

15 14 15

Schon den Pionieren der Spracherwerbsforschung, dem Psychologenehepaar William und Clara Stern (Clara Stern, Wilhelm Stern, Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung, Monographien über die seelische Entwicklung des Kindes 1, Leipzig '1922, 122) war es evident, daß Spracherwerb kein bloßer auf Nachahmung basierter Lernvorgang sein könne. Sie formulieren es so: „Das eigentliche Problem lautet also gar nicht, ob Nachahmung oder Spontaneität, sondern inwiefern sich bei der Übernahme, Auswahl und Verarbeitung der von außen gebotenen Formen und Bedeutungen innere Tendenzen und Kräfte betätigen." Lawrence A. Hirschfeld, Susan A. Gelman (ed.), Mapping the Mind: Domain Specificity in Cognition and Culture, Cambridge 1994. Elizabeth Spelke, Initial Knowledge: Six Sugestions. In: J. Mehler, S. Franck (ed.), Cognition on Cognition, Cambridge/MA 1995, 433-47, hier: 445. Peter D. Eimas, Einar R. Siqueland, Peter W. Jusczyk, James Vigotorio, Speech Perception in Infants. In: Science 171 (1971), 503-506.

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Sekunden, empfinden wir den Laut als p. Kann ein Baby im Alter von sechs Wochen das gelernt haben? Abbildung 1

Hintergrund Englisch

6-8

8-10

Hintergrund Salisch

10-12

11-12

Alter in Monaten

Die Ergebnisse, die Eimas, Siqueland, Jusczyk und Vigotorio erzielten, räumten jeden Zweifel aus. Sie testeten nämlich auch Laute, die in der Sprache, in der das Baby aufwuchs, gar nicht vorkamen, indem sie Laute anderer Sprachen (Hindi und Salisch, eine nordamerikanische Indianersprache) verwendeten. Sie stellten fest, daß Babies bis zum Alter von circa 12 Monaten auf Lautunterschiede reagierten,16 die in einer der Sprachen kategorial waren. Ab dem ersten Lebensjahr ging diese Fähigkeit verloren und die Kinder reagierten ab dann nur mehr auf Unterschiede, die in ihrer eigenen Sprache vorkamen. Das heißt, Babies, die mit Englisch aufwuchsen, reagierten nicht mehr auf die Unterschiede die in Hindi oder Salisch kategorial waren,17 im Englischen aber nicht vorkom16

Als Indikator wurde die Nuckelrate verwendet: Wenn ein Baby einen unerwarteten Reiz wahrnimmt, steigt die Nuckelrate sprunghaft. Gewöhnt es sich daran, nimmt die Nuckelrate wieder ab. Präsentiert man einem Baby hintereinander eine Serie gleicher Laute, sinkt die Nuckelrate. Sobald ein Laut präsentiert wird, der sich kategorial von den vorhergehenden unterscheidet, steigt sie wieder stark an.

17

Im Hindi, nicht aber im Englischen, ergibt sich ein relevanter Lautunterschied beispielsweise, wenn ein t mit etwas zurückgebogener Zungenspitze (retroßex) artikuliert wird. Im Englischen und Deutschen ergibt das bloß eine Aussprachevariante.

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men. Babies, die mit Hindi oder Salisch aufwuchsen reagierten natürlich weiterhin auf die Unterschiede. In Abbildung 1 sind die quantitativen Resultate graphisch präsentiert. Woraus erklärt sich die Veränderung um den ersten Geburtstag herum? Es ist der Zeitraum, in dem Kinder beginnen, Laute zu produzieren. Sie haben dann ihre Lautwahrnehmung offensichtlich auf die Sprache ihrer Umgebung abgestimmt und ignorieren Distinktionen, die nicht im Angebot der Sprache ihrer Umgebung vorkommen. Das ist ein deutlicher Beleg für das oben angesprochene Selektionsszenario, im Unterschied zu einem Instruktionsszenario, in dem die Kinder das Lautinventar ihrer Sprache lernen müßten. Die Kinder lernen es nicht. Sie verlernen es, auf Unterschiede zu achten, die in ihrer Sprache nicht vorkommen. Die Kinder lernen nicht, sie wählen aus. Daraus erklärt sich auch, warum erwachsene Sprecher mitunter große Schwierigkeiten haben, kategoriale Lautunterschiede in einer Fremdsprache zu meistern, die in ihrer Muttersprache nicht relevant sind. Da der Unterschied zwischen l und r im Japanischen nicht kategorial ist,18 bildet die Beherrschung dieses Unterschieds bekanntermaßen ein Problem für Sprecher des Japanischen, die Deutsch oder eine andere Sprache lernen, in der dieser Lautunterschied kategorial ist. Anderseits hat ein Deutschsprecher auch seine liebe Not, Lautunterscheidungen zu erwerben, die im Deutschen nicht relevant sind, wie etwas den Unterschied zwischen einem „gewöhnlichen" t und einem retroflexen im Hindi. Kehren wir zurück zum Ausgangspunkt dieses Abschnitts, nämlich zur Frage, wie der Spracherwerb des Kindes vor sich gehe. Die als intuitiv plausibel empfundene Vorstellung, ein Kind erlerne seine Muttersprache grundsätzlich so, wie es andere Kulturtechniken wie etwa Rechnen oder Lesen erwerbe, nämlich unter Einsatz seiner allgemeinen Intelligenzleistungen, stellt sich bei näherer Betrachtung als unplausibel heraus. Der Spracherwerb unterscheidet sich nämlich sehr deutlich von der Art und dem Verlauf des Erwerbs der erwähnten Kulturtechniken. Für den Erwerb der Kulturtechniken ist Instruktion nötig. Spontaner Erwerb von Rechen- oder Lesefertigkeiten ist die Ausnahme. Ferner ist der Fortschritt und Erfolg des Erwerbs uneinheitlich. Im Unterschied 18

Das heißt, daß es keine Wörter gibt, die sich bloß dadurch unterscheiden, daß in dem einen ein l und im anderen ein r vorkommt, so wie beispielsweise im Deutschen in Leben versus Reben, oder Englisch election versus erection.

SPRACHERWERB, SPRACHVERLUST, SPRACHVERMÖGEN

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dazu ist für den Erwerb der Muttersprache keine Instruktion nötig.® Der Erwerb erfolgt spontan. Überdies ist der Erfolg weitgehend intelligenzunabhängig, abgesehen von einem Schwellenwert, ab dem man geistige Behinderung diagnostiziert. Schließlich ist das Ergebnis einheitlich und vollständig. Alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft erwerben die Grammatik ihrer Muttersprache komplett. Das läßt sich daran erkennen, daß sie über mehr Wissen verfugen als sie gelernt haben könnten. Ein Beispiel soll diese Behauptung veranschaulichen. (3)

a. Sie melden

sich an

b. ... d a ß s i e sich c. ... daß sie sich

anmelden voranmelden

d. S i e ... sich ...???

Bereits im Alter von durchschnittlich 2V2 Jahren weiß ein Kind, daß im deutschen Hauptsatz das finite Verbum systematisch an einer anderen Stelle im Satz steht (siehe 3a) als im eingeleiteten Nebensatz (siehe 3b). Versuchen Sie, den Satz (3c) in seine Hauptsatzform zu bringen, so daß sich (3c) zum Hauptsatz so verhält wie (3b) zum Hauptsatz (3a). Mit anderen Worten, setzen Sie den in (3d) begonnen Satz so fort, daß daraus die Hauptsatzvariante von (3c) wird. Sie werden es nicht schaffen, denn es gibt keine grammatisch wohlgeformte Hauptsatzvariante. 20 Das mußte Ihnen niemand beibringen. Sie wissen das spontan, und nicht nur Sie, sondern alle Sprecher des Deutschen, und Sie wissen es, auch wenn Sie dieses Verb möglicherweise noch nie vorher verwendet haben. Falls Sie daran zweifeln, ob sie je damit konfrontiert waren, dann biete ich Ihnen folgenden Satz an daß sich der Umsatz, mehr als versechsfachte oder diesen daß sich das Defizit so gut wie fast verdreifachte. Auch hier wird die Umformung nicht gelingen. Und doch sagt uns unser intuitives Wissen sofort, daß eine Variante wie Der Umsatz versechsfachte sich mehr als oder Das Defizit verdreifachte sich so gut wiefast völlig ausgeschlossen ist. Niemand mußte uns dies beibringen und niemand gerät nur einen Augenblick in Zweifel, wenn es diese Sätze zu beurteilen gilt. Diese Konstruktionen werden auch in keiner Grammatik des Deutschen erörtert. Niemand muß davor gewarnt werden, hier eine Hauptsatzversion zu versuchen. Man weiß es, ohne zu wissen, warum man es weiß. 19

Der muttersprachliche Grammatikunterricht dient dem Training einer Normvariante. Die spontane erworbene Muttersprache, die in Österreich in vielen Fällen ein Dialekt ist, bedarf keiner Instruktion.

20

Sowohl Sie meldeten sich voran wie auch Sie voranmeldeten

sich ist nicht zulässig.

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Die erwähnten Eigenschaften wären unerwartet, wenn Spracherwerb bloß eine Facette unserer allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit wäre. In diesem Fall wäre jedes Kind in derselben mißlichen Lage wie ein Linguist, denn es müßte ausschließlich mit der Kraft seines Verstandes die Grammatik seiner Muttersprache enträtseln. Die Linguistik hat dies trotz vereinter Anstrengung in den vergangenen 50 Jahren noch für keine Sprache vollständig geschafft. Als Kinder haben wir für den Erwerb des Regelwerks unserer Muttersprache alle nicht mehr als gut acht Jahre gebraucht, wobei wir mit der eingeschränkten kognitiven Leistungsfähigkeit eines Kindes das Problem meistern mußten, und wir taten das auch eher beiläufig. Diese generellen Erwägungen haben ihre empirische Stütze in den konkreten Resultaten der psycholinguistischen Forschung. Deutliche Bestätigung für die Eigenständigkeit der Sprachfahigkeit als Komponente der kognitiven Fähigkeiten des Menschen liefern Fälle von doppelter Dissoziation von sprachlicher und allgemein kognitiver Entwicklung: Es ist entweder die Grammatikfähigkeit bei intakter kognitiver Entwicklung beeinträchtigt, oder im umgekehrten Fall ist die Grammatikfähigkeit trotz stark beeinträchtigter kognitiver Entwicklung intakt. Somit kann, wenn die Befunde stimmen, die Sprachfähigkeit nicht eine Facette der allgemeinen kognitiven Entwicklung sein, sondern muß als eigenständige kognitive Domäne anerkannt werden. Ein Beispiel für das erstgenannte Störungsbild ist die Symptomatik der sogenannten Entwicklungsdysphasie (SLI, Specific Language Impairment21). Darunter versteht man Spracherwerbsbeeinträchtigungen im Kindesalter, die nicht ursächlich von anderen kognitiven Beeinträchtigungen begleitet sind. SLI ist nicht als einheitliches Syndrom zu betrachten, sondern als eine Sammelbezeichnung für Spracherwerbsauffälligkeiten bei sonst unauffälliger kognitiver Entwicklung, die in Fallstudien dokumentiert sind. 22 SLI: „Language disorder in children who are otherwise normal although some may have subtle cognitive deficits; a diagnosis made on negative grounds (such other factors as mental retardation or neu-

21

22

Vgl. Dorothy V. M. Bishop, Grammatical errors in specific language impairment: Competence or performance limitations. In: Applied Psycholinguistics 15 (1994), 507-550. Siehe Themenband des Journal of Neurolinguistics 10, 2 / 3 (1997) zu SLI.

SPRACHERWERB, SPRACHVERLUST, SPRACHVERMÖGEN

37

rological deficits do not explain the disorder); some believe that SLI suggests limited language skills with no pathology; other experts believe that SLI is not truly specific to language and that there are significant cognitive deficits."23

Die umgekehrte Konstellation - kognitiv behindert, sprachlich souverän - läßt sich ebenfalls mit Verweis auf einen spektakulären Fall illustrieren. Smith und Tsimpli 24 dokumentieren das kognitiv behinderte Sprachgenie Christopher: Mit einem IQ von 60 bis 70 befindet er sich in Heimpflege. Das hinderte ihn nicht, schon bis zum Alter von 25 Jahren 16 [sie!] Sprachen kompetent zu erwerben. Andere, gut beschriebene Fälle sind Laura (beschrieben von Yamada), manche Kinder mit Spina bifida wie D.H. (beschrieben von Cromer) und Françoise (Rondal 1995). Einen umfassenden Überblick über diese Fälle und die Forschungslage dazu bietet Rondal. 25 Die Dissoziation von sprachlicher Entwicklung und kognitiver Entwicklung ist ebenfalls kennzeichnend fur das Williams-Beuren Syndrom. 26 Zu den klinischen Symptomen des Syndroms zählen u.a. spezifische Gesichtszüge (sog. Elfen- oder Faunsgesicht), kardiovaskuläre Anomalien und eine vorwiegend mittelgradige mentale Retardierung mit einem durchschnittlichen Gesamt-IQ von 50 bis 60.27 Die sprachlichen Fähigkeiten hingegen sind erstaunlich. „In contrast to the Williams syndrome children's low level of cognitive and visuospatial functioning, the children demonstrate impressive lexical semantic abilities [Hervorh. H.H.], complex morphology and 23 24

25 26

27

Mahabalagiri N. Hedge, Pocket Guide to Assessment in Speech-Language Pathology, London 1996. Neil Smith, Ianthi-Maria Tsimpli, Linguistic modularity? A case study of a „Savant" linguist? In-. Lingua 84 (1991), 515-351; Neil Smith, Ianthi-Maria Tsimpli, The mind of a savant: Language learning and modularity, Oxford 1995. Jean A. Rondal, Exceptional language development in Down syndrome: Implicationsfor the cognition-language relationship, Cambridge 1995, 19 ff. Chris Schaner-Wolles, Sprachentwicklung bei geistiger Retardierung. Williams-BeurenSyndrom und Doum-Syndrom. In: H. Grimm (ed.), Enzyklopädie der Psychologie, Sprachentwicklung, Göttingen 2000, 663-685. Details s. Ursula Bellugi, S. Marks, Amy Bihrle, H. Sabo, Dissociation between language and cognitivefunctions in Williams syndrome. In: D. Bishop, K. Mogford (ed.), Language Development in Exceptional Circumstances, Hove/UK 1994, 177-189; Anette Karmilofî-Smith, Edward Klima, Ursula Bellugi, Julia Grant, Simon Baron-Cohen, Is there a social module? Language, face processing, and theory of mind in individuals with Williams syndrome. In: Journal of Cognitive Neuroscience 7 (1995), 196-208.

38

Hubert Haider

syntax, a n d g o o d m e t a - l i n g u i s t i c skills. [...] T h e d i s s o c i a t i o n b e t w e e n l a n g u a g e a n d nonlinguistic cognitive capacities is quite d r a m a t i c a n d is consistently f o u n d a c r o s s t h e children t e s t e d . " 2 8

Als Fazit sei festgehalten: Der Erwerb und die virtuose Verfügbarkeit der Grammatik als einer komplexen Symbolmanipulationsfahigkeit verdanken sich einer spezifischen kognitiven Disposition des Menschen. Unser Hirn verfügt über eine spezielle, höchst effiziente und daher rasche Berechnungskapazität für Symbolstrukturen, die wir für das Management ganz bestimmter Wissensstrukturen rekrutieren, nämlich für das Regelwerk der Grammatik unserer Muttersprache. Das sprechende Tier homo sapiens besitzt damit ein höchst effektives Werkzeug für den Erwerb und den Gebrauch eines Regelwerks für das, was wir die menschliche Sprache nennen. Dieses Regelwerk übersteigt in seiner Komplexität bei weitem das, was für das Funktionieren eines Kommunikationssystems nötig wäre. Die Grammatik ist durch die Funktionen, in denen die Sprache eingebunden ist, unterdeterminiert.29 Die menschliche Grammatik ist komplex, weil wir über einen Verarbeitungsapparat verfügen, der die Komplexitäten effizient und mühelos zu verarbeiten vermag. Die Sprache nutzt ein Systempotential aus. Eine Evidenzquelle für die modulare Organisation des sprachlichen Wissenssystems mit langer Tradition ist das Studium der Sprachpathologie. In der Aphasiologie 30 - sie untersucht die durch Hirnverletzungen bedingte Störung erworbener Sprache - ist in der mehr als hundertjährigen Forschungsgeschichte anhand vieler Fallstudien der Befund gesichert worden, daß bestimmte, eng umschreibbare Hirnareale für spezielle sprachliche Leistungen nötig sind, und daß deren Ausfall mit speziellen Defiziten in der Grammatikfähigkeit korreliert. Allerdings ist die auf der kortikalen Ebene festgestellte Parzellierung nicht deckungsgleich mit der modularen Organisation des sprachlichen Wissenssystems. Die Grammatikverarbeitung ist lateralisiert. Die sprachdominante Hemisphäre ist bei etwa 97% der Menschen die linke. Das gilt nicht nur für die Lautsprache, sondern auch für die Gebärdensprache. Klima und Bellugi51 berichten von Patienten mit rechtshemisphärischen Läsionen, 28 29

50 51

Bellugi, Marks, Bihrle, Sabo, Dissociation, wie Anm. 27, 182. Siehe Hubert Haider, Form Follows Function Fails: As a Direct Explanation for Properties of Grammars. In: P. Weingartner, G. Schurz, G. Dorn (ed.), The Role of Pragmatics in Contemporary Philosophy, Wien 1998, 92-108. Vgl. David Caplan, Neurolinguistics and Linguistic Aphasiology, Cambridge 1987. Edward Klima, Ursula Bellugi, The signs of language, Cambridge 1979.

SPRACHERWERB, SPRACHVERLUST,

39

SPRACHVERMÖGEN

die mit einem halbseitigen visuellen Neglect 32 verbunden waren. Es handelt sich um Gebärdensprecher, d. h. gehörlose Personen, deren Sprache die American Sign Language ist. Das Bemerkenswerte ist, daß die Patienten bei der visuellen Verarbeitung nur dann keinen Neglect zeigten, wenn es um die Verarbeitung der Sprachgebärden ging. Der Neglect ist bei den untersuchten Patienten rechtshemisphärisch bedingt, deren Sprachverarbeitung aber ist linkshemisphärisch gesteuert und entgeht auf diese Weise der Störung. Dominante Lateralisierung bedeutet allerdings nicht, daß die jeweils andere Hemisphäre überhaupt nicht an der Sprachverarbeitung beteiligt wäre. Hemisphärenbeteiligung ist eher als kontinuierliche Variable zu betrachten. Es gibt auch sprachliche Prozesse, die in der nicht-dominanten Hemisphäre ablaufen. Beispielsweise ist bei einer sprachlich dominanten linken Hemisphäre an der Verarbeitung der Satzintonation, sei es in Produktion oder Rezeption, die rechte Hemisphäre beteiligt. Abbildung 2 zeigt eine Darstellung des Kortex der linken Hemisphäre mit drei größeren Bereichen, deren Läsion mit typischen sprachlichen Defiziten einhergeht. Die Untersuchung des intakten Gehirns mit Hilfe bildgebender Verfahren, über die weiter unten berichtet wird, bestätigt diese Grobzuordnung. Abbildung 2 Stirnlappen (Lobus frontalis) Brocasches Areal

motorisches Rindenfeld somato-sensorisches Rindenfeld Scheitellappen (Lobus parietalis) Gyrus angularis („Lesezentrum")

Bulbus olfactorius (Teil des Riechhirns) primäres Hörzentrum Schläfenlappen (Lobus temporalis) Wernickesches Areal

32

primäres Sehfeld

Vernachlässigung e i n e r Hälfte des Gesichtsfeldes bei d e r visuellen Verarbeitung.

40

Hubert Haider

Das Broca-Areal ist maßgeblich an der effizienten Verarbeitung der durch die Grammatik gesteuerten Abhängigkeiten beteiligt, sei es die Wortstellung, die Kasusverhältnisse oder die formalen Übereinstimmungsbeziehungen in grammatischen Merkmalen (wie z.B. Person, Zahl, grammatisches Geschlecht: vgl. der große Unterschied - die große« Unterschiede), um einige zu nennen. Eine Läsion fuhrt typischerweise zum Verlust der automatischen Beherrschung dieser Anteile der Grammatik. Läsionen des Wernicke-Areals bewirken einen Ausfall oder zumindest eine starke Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Verarbeitung der Bedeutung einer Äußerung. Dabei muß ja einerseits grammatisch kodierte Information und andererseits Information aus dem Wortspeicher verknüpft werden, um daraus die gedankliche Repräsentation des Sachverhalts ermitteln zu können, der den Gehalt des sprachlichen Ausdrucks bildet. Der Umstand, daß Störungen im Bereich des Gyrus angularis (siehe Abbildung 2) einerseits zu Wortfindungsstörungen und andererseits zu Lesestörungen führen, deutet darauf hin, daß dieser Bereich für das Funktionieren des Zugriffs und Abrufs von Information aus dem Wortspeicher und für die Beherrschung der Schrift-Laut-Beziehungen maßgeblich ist. Ein Wort zu memorieren bedeutet ja, daß man Information über die Lautform, über die Bedeutung, über die grammatischen Eigenheiten und über die Schreibung abgespeichert hat und in der Lage ist, diese wieder abzurufen. Die Interpretation von läsionsbedingten sprachlichen Ausfallen ist eine wertvolle Evidenzquelle, unterliegt aber zwei unvermeidlichen Einschränkungen. Die eine Einschränkung ist, daß die Läsionsareale in der überwiegenden Mehrheit der Fälle vaskulär bestimmt sind. Kommt es infolge eines Schlaganfalls zu einer Hirnschädigung, so fallt das gesamte Versorgungsgebiet des betroffenen Blutgefäßes aus. Die Versorgungsgebiete decken sich aber nicht mit den neuro-anatomisch determinierten Funktionsarealen. Daher ist eine eindeutige Zuordnung von Ort und Funktionszuschreibung nicht möglich. Die andere Einschränkung ist die teilweise Maskierung der eigentlichen Defizite durch kompensatorische Leistungen des Gehirns. Da man ein verletztes System vor sich hat, ist es nicht immer klar, wie sich die Befunde auf das intakte System ummünzen lassen. Erst seit das unbeeinträchtigte Gehirn mittels der modernen bildgebenden Verfahren einer direkten Beobachtung zugänglich geworden ist, kann man die Befunde vergleichen und validieren. Dazu sei auf den letzten Abschnitt dieses Beitrags verwiesen.

SPRACHERWERB, SPRACHVERLUST, SPRACHVERMÖGEN

D I E SPRACHFÄHIGKEIT DES

41

MENSCHEN:

E I N EXKLUSIVES M E R K M A L EINER

SPEZIES?

Ist Sprachverarbeitung eine Leistung, die nur das menschliche Gehirn zu erbringen vermag? Wenn dem so ist, worin unterscheidet sich das Hirn der uns entwicklungsgeschichtlich nächsten Spezies von unserem, sodaß nur wir zu dieser Leistung befähigt sind. Es ist sicherlich nicht der bloße Größenunterschied. Der Umstand, daß das Hirnvolumen von Johnathan Swift 2.000 Kubikzentimeter betrug, das von Anatol France aber nur knapp die Hälfte, nämlich 1.100 Kubikzentimeter, hatte keinen feststellbaren Einfluß auf die jeweilige sprachliche Kompetenz. Jedenfalls könnte man nicht behaupten, daß die Prosa des einen der des anderen um 900 Kubikzentimeter über- oder unterlegen sei. Die Frage nach den biologischen Wurzeln der menschlichen Sprachfahigkeit läßt sich zumindest in zweierlei Hinsicht verfolgen, in einer empirischen und einer theoretischen. In der Praxis wird seit etwa 50 Jahren mit Primaten experimentiert, um herauszufinden, ob beispielsweise ein Schimpanse oder ein Orang Utan in der Lage sei, Sprache zu erwerben. In theoretischer Hinsicht wird die Frage untersucht, ob und gegebenenfalls wie die Sprachfähigkeit ein Ergebnis der Evolution sein könne. Einen detaillierten Uberblick über diverse Aspekte der Beziehung von Sprache und den biologischen Grundlagen bietet Jenkins. 33 Primatenforschung Die Geschichte der Primatenforschung34 darf als eine Geschichte der Fehlschläge betrachtet werden. Mehrere über viele Jahre hinweg gut dokumentierte Studien zeigten, daß Primaten trotz jahrelanger intensiver Zuwendung es gerade schaffen, zirka 160 Gebärden-Wörter zu erlernen und zu verwenden. Der Konstruktionsumfang geht dabei aber nicht über eine Kombination von zwei Wörtern hinaus. Dies entspricht etwa einem kindlichen Zweiwortstadium im Alter von IV2 Jahren. Eine Ausnahme bilden die Berichte über Kanzi,35 einem wie es scheint 35 34

Lyle Jenkins, Biolinguistics, Cambridge 2000. Siehe Joel Wallman, Aping Language, Cambridge 1992.

35

Susan Savage-Rumbaugh, Kanzi der sprechende Schimpanse, München 1995; Susan Savage-Rumbaugh, J. Murphy, R. Sevcik, K. Brakke, S. Williams, D. Rumbaugh, Language Comprehension in Ape and Child (=Monographs of the Society for Research in Child Development 233/58), Chicago 1995, 3-4.

42

Hubert Haider

äußerst sprachtalentierten Bonobo. Im Labor von Savage-Rumbaugh wird nicht mit Gebärdensprache, sondern mit Lautsprache (Englisch) gearbeitet. Als Antwortmedium benützt der Affe eine Anzeigetafel mit Symbolen, die bei Tastendruck das mit dem Symbol kodierte englische Wort ertönen läßt. Kanzi wurde ursprünglich gar nicht trainiert. Er war bloß immer mit anwesend, wenn seine Ziehmutter trainiert wurde, bis es sich herausstellte, daß er völlig unbemerkt, anscheinend spielerisch, die Symbole der Symboltafel, auf die seine Ziehmutter trainiert wurde, zu beherrschen gelernt hatte. Den Berichten und Protokollen in Savage-Rumbaugh, Murphy, Sevcik, Brakke, Williams und Rumbaugh 36 zufolge, zeigt Kanzi rezeptiv eine Sprachverarbeitungsleistung, die der eines 2- bis 3jährigen Kindes entspricht. Mittlerweile sollen sich im selben Labor diese Erfolge auch bei anderen jungen Bonobos replizieren haben lassen. Die unabhängige Überprüfung steht noch aus. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Erfolg mit Kanzi und den minder erfolgreichen vorangegangen Experimenten könnte darin liegen, daß bei diesen das Training zu spät eingesetzt hatte. Wenn das entscheidende Erfolgskriterium darin liegt, daß das sprachliche Angebot innerhalb einer dafür sensiblen Periode der Entwicklung erfolgen muß, dann darf man aus den Erfolgen mit Kanzi ableiten, daß es auch für Bonobos eine sensible Periode für Symbolerwerb gibt. So wie beim Menschen beginnt diese ab dem Babyalter. Schwieriger ist es, ihre Dauer einzugrenzen. Dies kann man aus offensichtlichen ethischen Rücksichten beim Menschen nicht experimentell prüfen. Man müßte nämlich dafür sorgen, daß innerhalb einer Periode einem Kind keinerlei Sprache angeboten wird. Stellt man anschließend fest, daß ein Kind danach Sprache nicht mehr normal erwerben kann, wüßte man, daß die sensible Periode bereits verstrichen war. Das ist allerdings eine eher akademische Überlegung, denn es ist sehr wahrscheinlich, daß ein derart depriviertes Kind in seiner gesamten kognitiven Entwicklung massiven Schaden nehmen würde. Ähnliches gilt für Berichte über Kinder, denen ein derartiges Schicksal nicht erspart geblieben ist. Schon 1801 veröffentlichte der französische Arzt Jean Marie Itard (1775-1838) seine Erfahrungen mit Victor, dem

36

In: Savage-Rumbaugh, Murphy, Sevcik, Brakke, Williams, Rumbaugh, Comprehension, wie Anm. 55.

Language

SPRACHERWERB, SPRACHVERLUST,

SPRACHVERMÖGEN

45

wilden Knaben von Aveyron.37 In den Wäldern von Aveyron wurde ein ungefähr 12jähriger Knabe aufgegriffen, der dort anscheinend fern von Menschen aufgewachsen war. Der Arzt nahm sich des Knaben an und berichtet von anfanglichen Erfolgen in den ersten fünf Jahren und einem anschließenden anhaltenden Stillstand. Victor war nicht fähig, Französisch zu erwerben. Er hatte bemerkenswerterweise schon elementare Schwierigkeiten mit dem Erwerb des Wortschatzes: Er begriff beispielsweise nicht, daß Gattungsnamen keine Eigennamen sind. Für ihn war etwa das Wort für Baum der Eigenname des Gegenstandes, auf den verwiesen wurde, und nicht die Gattungsbezeichnung für Bäume. Ein zeitgenössischer Fall eines völlig vernachlässigten Kindes ist der von Genie, einem Mädchen, das 1970 in einem Vorort von Los Angeles mit 13 Jahren aus einem Zimmer befreit wurde, in dem es seine Eltern, meist auf einem Stuhl festgebunden, in totaler Isolation gehalten hatten. 38 Die vereinten Bemühungen von Psychologen und Linguisten reichten nicht aus, um einen erfolgreichen Spracherwerb zu gewährleisten. Genie schaffte es nicht, die Grammatik des Englischen zu meistern, nicht einmal auf dem Niveau eines 3- bis 4jährigen Kindes, und das obwohl ihr non-verbales kognitives Niveau über dem eines Kindes dieser Altersstufe lag. Auch hier scheint die versäumte Aktivierung in der sensiblen Periode ursächlich zu sein. Evolution Wenden wir uns nun der Frage nach der Evolution der menschlichen Sprachfähigkeit zu. Ist die menschliche Sprachfähigkeit ein direktes Ergebnis der Selektion in der menschlichen Evolution oder ist es eher ein Nebenprodukt der Evolution des Gehirns? Die Behauptung, eine kognitive Fähigkeit wie die Spracherwerbskapazität sei angeboren, provoziert unmittelbar die Frage, wie es vorstellbar sei, daß eine so spezielle Fähigkeit als Produkt der Evolution zustande komme. Diese Fragestellung verfuhrt wegen ihrer impliziten, falschen Prämissen zu einer Reihe von Mißverständnissen, die als gute Gründe für die Zurückweisung der Angeborenheitsthese mißverstanden werden. 57

38

Harlan Lane, The Wild Boy of Aveyron: The dramatic account of a wild boy ofnature and a young French doctor who shaped the modern education of retarded, deaf and preschool children, London 1977. Susan Curtiss, Genie: A Psycholinguislic Study ofa Modern Day Wild Child, New York 1977.

44

Hubert Haider

Mißverständnisse provoziert im Vorfeld der Argumentation die Begriffsverwirrung von Sprache und Sprachfähigkeit. So heißt es bei Pinker und Bloom: 39 „It would be natural, then, to expect everyone to agree that human language is the product of Darwinian natural selection", und auf der folgenden Seite: „All we argue is that language is no different from other complex abilities such as echolocation or stereopsis, and that the only way to explain the origin of such abilities is through the theory of natural selection." Damit setzen sie sich dem Vorwurf aus, sie behaupteten, eine kulturelle Institution sei als solche angeboren. Es ist nicht einzusehen, wie eine Sprache Produkt der Evolution sein könnte. In diesem Fall müßte, wie Bierwisch herausstreicht, Sprache zu ihren eigenen Selektionsbedingungen gehören: „Anders als beim Auge, dessen Eigenschaften phylogenetisch durch extern bedingte Leistungsanforderungen selektiert worden sein müssen, ist die Palette von Funktionen, denen die natürliche Sprache dient, durch die Bedingungen mitkonstituiert, die sich aus der Sprachfähigkeit der Spezies ergeben."40 In die gleiche Kerbe schlägt Deacon: „Whatever learning predispositions are responsible for the unprecedented human facility with language, they specifically cannot depend on innate symbolic information. No innate rules, no innate general principles, no innate symbolic categories can be built by evolution."41 Was genetisch fixiert ist, ist nicht Sprache, sondern die Sprachfahigkeit, das heißt die Verarbeitungskapazitäten des Gehirns, die in Summe die Fähigkeit zur Verarbeitung komplexer Symbolstrukturen ergeben. Betrachten wir nun einige Einwände gegen die These der Angeborenheit eines kognitiven Moduls zur Sprachverarbeitung von einem evolutionstheoretischen Standpunkt. Der anschließenden Diskussion vorausgreifend sei erwähnt, daß dieser Standpunkt sich als revisionsbedürftig erweisen wird. 39 40

41

Steven Pinker, Paul Bloom, Natural Language and Natural Selection. In: Behavioral & Brain Sciences 13 (1990), 707-784, hier: 2. Manfred Bierwisch, Probleme der biologischen Erklärung natürlicher Sprache. In: P. Suchsland (ed.), Biologische und soziale Grundlagen der Sprachfahigkeit, Tubingen 1992, 36 f., § 6.1. Terrence Deacon, The symbolic species: The co-evolution of language and the brain, New York 1997, 329.

SPRACHERWERB, SPRACHVERLUST,

45

SPRACHVERMÖGEN

Als kennzeichend für evolutiv entstandene Eigenschaften wird in der klassischen darwinistischen Sicht der graduelle Übergang aus Zwischenformen erachtet. Wie sollte man sich eine evolutionäre Sequenz vorstellen, die unter Selektionsbedingungen zu immer spezialisierteren, komplexeren Kapazitäten führt, um bei der Verarbeitungskompetenz eines homo sapiens zu enden? Schon Geschwind 42 amüsierte die Vorstellung, wie die mutativ hervorgerufene barocke Verbosität eines einzelnen diesem einen Reproduktionsvorteil hätte verschaffen können, wenn allen anderen Mitgliedern seiner Gruppe dieser Vorzug nicht zuteil wurde. Hätten sie ihn überhaupt verstanden? Man mag sich auf den Standpunkt stellen, wie Pinker und Bloom 43 , daß die Zwischenstufen existiert haben könnten, bleibt doch eine Verlegenheit bestehen, die Premack formulierte : „Human language is an embarrassment for evolutionary theory because it is vastly more powerful than one can account for in terms of selective fitness. A semantic language with simple mapping rules, of a kind one might suppose that the chimpanzee would have, appears to confer all the advantages one normally associates with discussions of mastodon hunting or the like. For discussions of that kind, syntactic classes, structured dependent rules, recursion and the rest, are overly powerful devices, absurdly so." 4 4

In demselben Zusammenhang verweist Bierwisch45 darauf, daß Feldstudien des Max Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie in Seewiesen an zeitgenössischen Ethnien mit Steinzeitkultur (Eipo, Papua-Neuguinea) ergaben, daß die praktischen Lebensprozesse durch ein reiches Repertoire nichtsprachlicher Kommunikation geregelt werden. Die voll elaborierte Sprache einschließlich artistischer Verwendungsweisen wird weitgehend in zweckfreien, luxurierenden Zusammenhängen gebraucht, deren Funktion eher die Pflege des Gruppenzusammenhalts als die Regulation des Arbeitsprozesses ist. Es bleibt allerdings die Frage nach dem adaptiven Vorteil einer luxuriösen Symbolverarbeitungskapazität und damit nach ihrer Selektionsge42

Norman Geschwind, Some Comments on the Neurology of Language. In: D. Caplan (ed.), Biological Studies of Mental Processes, Cambridge/MA 1980, 301-319.

43 44

Pinker, Bloom, Natural Language, wie Anm. 39, 27. David Premack, „ Gavagai!" or the Future History of the Animal Language Cambridge/MA 1983, 30.

45

Bierwisch, Probleme der biologischen Erklärung,

wie Anm. 40, § 7.4.

Controversy,

46

Hubert Haider

schichte offen. Diese Frage könnte irrelevant sein und damit auch einige der Probleme, die in diesem Abschnitt aufgeworfen wurden, wenn die Sprachfähigkeit keine direkte Evolutionsgeschichte hat, sondern der Exaptation46 zu verdanken ist. Die menschliche Fähigkeit zur virtuosen Symbolverarbeitung, die wir in der Sprachverarbeitung nützen, wird als ein Nebenprodukt einer anderen Entwicklung betrachtet.47 Mit Exaptation ist die Entstehung und Umrekrutierung eines Systempotentials für eine Funktion gemeint, die nicht zu den ursprünglichen Selektionsbedingungen gehörte. In der Evolutionsgeschichte der Insektenflügel, um ein Beispiel zu nennen, war die Funktion der Wärmeregulierung für die Selektion entscheidend. Daß sich dieses Organ auch für eine neue Funktion nützen ließ, gehörte nicht zu den ursprünglichen Selektionsbedingungen eines Fächers zur Kühlung. Wilkins und Dumford argumentieren für eine exaptive Sichtweise und betonen gleichzeitig die Bringschuld, die damit verbunden ist: „ T h e e x a p t a t i o n account l o o s e s f o r c e if it is inexplicit or if it relies o n , u n e x p l a i n e d physical m e c h a n i s m s ' . E x a p t a t i o n b e c o m e s e x p l a n a t o r y only if t h e r e is e v i d e n c e of evolutionary p r e s s u r e s f o r t h e selection o f traits that d o i n d e e d yield a s u b s t r a t e that can d e m o n s t r a b l y s u p p o r t the e m e r g e n t s e c o n d a r y capacity. We s u g g e s t precisely this f o r l a n g u age."48

Behauptet man, daß die Symbolverarbeitungskapazität, die wir für die Sprache nutzen, ein nicht-selektionsgesteuertes Resultat der Rekrutierung von unabhängig entstandenen Verarbeitungskapazitäten unter sprachunabhängiger Evolution des Gehirns sei, so muß man auch angeben können, was umrekrutiert wurde und wie diese Möglichkeit entstehen konnte. Wilkins und Dumford sehen den entscheidenden Unterschied in der funktionalen Struktur des menschlichen Gehirns im Unterschied zum Pongidenhirn in der Verschaltung der Assoziationsareale im parietooccipito-temporalen Bereich, den sie mit POT abkürzen: 46

Siehe Derek Bickerton, How Protolanguage became a Language. In: Ch. Knight, M . Studdert-Kennedy, J. Hurford (ed.), The Evolutionary Emergence of Language, Cambridge 2000, 264-284; Hubert Haider, Die menschliche Sprachfiihigkeit. Exapliv und kognitiv opak. In: Kognitionswissenschaft 2 (1991), 11-26.

47

Siehe Noam Chomsky, Language Cambridge/MA 1988, Kap. 5.

48

Wendy Wilkins, Jennie Dumford, In Defense of Exaptation. Sciences 13 (1990), 763-764, hier: 763.

and Problems of Knowledge: The Managua

Lectures,

In: Behavioral and Brain

SPRACHERWERB, SPRACHVERLUST,

SPRACHVERMÖGEN

47

„Parietal organization of the pongid brain is quite different from that of the hominid brain; the pongid brain exhibits a lunate sulcus that is anteriorly positioned, indicating the absence of POT." 4 9

In diesem Zusammenhang merkt Wallman kritisch ergänzend an, daß diese Struktur nicht die einzige umrekrutierte Struktur sein dürfte: „[...] and the angular gyrus, it would seem, should not be regarded as the explanation of the language gap. The markedly greater development of this region in homo sapiens, however, is probably part, perhaps even the most important part, of an exclusively human evolutionary complex of organic traits undergirding language." 5 0

Wenn diese Deutung richtig ist, so gibt es einen biologischen Grund für das Versagen des Affenhirns bei der Bewältigung der Grammatik einer menschlichen Sprache. Es fehlt die geeignete Verschaltung, durch die erst die im Hirn benötigte Verarbeitungsarchitektur zur Verfügung gestellt wird. Daß diese im menschlichen Hirn vorhanden ist, macht es ihm möglich, rasch und präzise Kaskaden von Symboloperationen abzuarbeiten. Diese Fähigkeit nützen wir offenbar aus, und sie eröffnete uns Menschen die Möglichkeit, Sprachen mit komplexer Grammatik zu entwickeln und zu benützen. Die Sprachen sind kulturelle Objekte, ihre Grammatiken hingegen sind neuropsychologisch verankerte Wissensstrukturen. Ihre Organisationsform ist neurophysiologisch und letztendlich biologisch bedingt, und das ist eine Bedingung der Möglichkeit der Kulturtechnik „Sprache". Zusammenfassend sei festgehalten: Die Fähigkeit, Sprache zu erwerben, scheint mit einer angeborenen Verhaltensdisposition verknüpft zu sein, die nur dem Menschen eigen ist. So wie bei den aus der Verhaltensforschung bekannten angeborenen Programmen fiir komplexe Verhaltensweisen im Tierreich bedarf es auch bei der menschlichen Sprachfähigkeit einer Aktivierung innerhalb einer sensiblen Periode. Ungeklärt ist, wie die Entstehung dieser Verhaltensdispositionen im Detail mit der Evolution des Gehirns in Beziehung steht. Die Lehrmeinungen dazu sind derzeit noch kontrovers.

49 50

Ebd. Wallman, Aping Language,

wie Anm. 54, 118.

48

Hubert Haider

GENETISCHE

BEDINGUNGEN?

Wenn Spracherwerb wesentlich durch eine angeborene kognitive Disposition gesteuert wird, dann ist zu erwarten, daß diese Disposition Störungen ausgesetzt ist. Es müßte daher stets einen gewissen Prozentsatz von Fällen mit Dysphasie (SLI, siehe oben) geben, was auch der Fall ist. Je nach Diagnosekriterien wird der Prozentsatz mit 1 bis 3% beziffert. Die Störungen der Spracherwerbsdisposition können prinzipiell unterschiedlicher Natur sein. Der schlagende Beweis für eine angeborene Komponente wäre aber letztlich eine Korrelation mit einem genetischen Defekt. Viel Beachtung fand in diesem Zusammenhang der Fall einer Familie, in der eine Störung des Grammatikerwerbs erblich zu sein scheint. 51 Die Verteilung des Grammatikerwerbsdefekts über drei Generationen hinweg mit 30 Familienmitgliedern, von denen die Hälfte von der Erwerbsstörung betroffen sind, entspricht einer autosomalen, dominant vererbten Behinderung. Ein mit der Verteilung der Störung korrelierender genetischer Defekt wurde laut Fisher, Vargha-Kadem, Watkins, Monaco und Pembrey 52 auf Chromosom 7 lokalisiert, wobei die Funktion der betroffenen Gene allerdings unklar ist. Der für die Forschung glückliche Umstand ist, daß hier innerhalb einer einzigen Großfamilie eine große Anzahl von Fällen kumuliert vorliegt. Der Zusammenhang von erblichen Faktoren und Spracherwerbsstörungen ist aber kein singulärer Fall. Hinweise auf erbliche Komponenten von Sprachstörungen gibt es in der Literatur zahlreiche, darunter auch welche aus Zwillingsstudien. 53 Insgesamt ist die Frage nach der genetischen Grundlage einer angeborenen kognitiven Leistung beim momentanen Wissenstand noch verfrüht, zumal es angesichts der Komplexität der am Spracherwerb beteiligten Systeme nicht um die Identifikation eines einzelnen Gens geht. Auch ist unklar, wie ein Defekt des Genoms sich auf der Ebene des Phänotyps zu erkennen gibt, oder umgekehrt, bei welchen Defiziten man nach genetischen Ursachen Ausschau halten sollte. Angesichts des ra51

Myrna Gopnik, Martha B. Crago, Familial aggregation disorder. In: Cognition 39 (1991), 1-50.

of a developmental

language

52

Simon E. Fisher, Faraneh Vargha-Kadem, Kate E. Watkins, Anthony P. Monaco, Marcus E. Pembrey, Localisation of a gene implicated in severe speech and language disorder. In: Nature Genetics 18 (1998), 168-170.

53

Siehe Linda Brzustowic, Looking for language genes: Lessons from complex disorder studies. In: M. Rice (ed.), Towards a Genetics of Speech, Mahwah/NJ 1996, 3-25, hier: 22.

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49

santen Fortschritts der Humangenetik ist damit zu rechnen, daß sich das Verständnis für die hier angesprochenen Belange rasch erweitern und vertiefen lassen wird.

DER

S P R A C H E IM G E H I R N AUF D E R

SPUR

Sprachverarbeitung ist Höchstleistung in Höchstgeschwindigkeit. Eine Ahnung davon vermittelt ein Vergleich mit der maschinellen Sprachverarbeitung. So leistungsfähig moderne Rechner bereits sind, gibt es doch keinen, der die Leistungen des Gehirns in der Sprachverarbeitung, von der Lautwahrnehmung bis zur Bedeutungszuordnung, auch nur näherungsweise zu simulieren vermöchte. Schon die Lauterkennung stellt sich für den Computer als sehr rechenaufwendiges Verfahren heraus. Soll sie sprecherunabhängig funktionieren, steigt der Aufwand noch erheblich. Unser Gehirn braucht nicht mehr als 100 Millisekunden für das Erkennen der einzelnen Sprachlaute. Gleichzeitig startet eine Reihe von Prozessen: Die erkannten Laute werden, noch ehe die Lautgestalt eines Wortes vollständig abgearbeitet ist, schon Teil der Information, mit der im Wortspeicher das entsprechende Wort identifiziert wird. Wort heißt in diesem Zusammenhang ein Bündel abgespeicherter Information, mit Konsequenzen für die Struktur und die Bedeutung des soeben in Verarbeitung befindlichen sprachlichen Ausdrucks. In nicht mehr als einer halben Sekunde bewältigt das Hirn die gesamte Information und den gesamten Verarbeitungsaufwand für die kontinuierlich eintreffenden sprachlichen Ausdrücke: Zuerst müssen in einer analog-digitalen Umwandlung im Lautstrom die Sprachlaute identifiziert werden, daraus werden dann die potentiellen Wörter ermittelt und mit dem Wortspeicher abgeglichen. Die identifizierten Wörter werden in Wechselwirkung mit der gleichzeitig ablaufenden Berechnung der Bedeutung sofort in eine syntaktische Struktur integriert. Das Hirn bei diesen Tätigkeiten direkt zu beobachten ist schwierig genug. Eine zusätzliche Erschwernis ist die enorme Datenmenge, die bei jedem Experiment anfallt. Erst die Fortschritte im Computereinsatz im letzten Jahrzehnt ermöglichten einen qualitativen Sprung. Etablierte Methoden wie die EEG (Elektroenzephalographie)-\Jntersuch\ingen konnten erheblich verbessert werden. Dazu kamen als neue Methoden die Untersuchung der Gehirnaktivitäten mittels bildgebender Verfahren.

50

Hubert Haider

Jedes für sich, wie auch in Kombination, ermöglichen diese Verfahren die experimentelle Untersuchung von Fragestellungen, die sich vorher außerhalb der Reichweite experimenteller psycholinguistischer Forschung befanden. Was hier knapp beschrieben wurde, ist der rezeptive Bereich der Sprachverarbeitung. Dieser wurde bisher wesentlich intensiver untersucht als der Bereich der Produktion. Der Grund dafür ist die bessere Kontrollierbarkeit im Experiment. Es ist vom Experimentdesign her betrachtet einfacher, Verarbeitungsaufgaben zu testen, als ein kontrolliertes Produktionsexperiment durchzuführen. Durch die Auswahl der Stimuli ist die Verarbeitungsleistung sehr gut eingrenzbar. Die Produktion schließt mit der Artikulation. Die damit verbundene motorische Aktivität in Planung und Ausfuhrung wurde häufig als Störfaktor betrachtet, der derartige Untersuchungen nahezu undurchführbar mache. Dies galt sowohl für die EEG-Verfahren wie auch für die bildgebenden Verfahren unter Einsatz von Computertomographen. Mittlerweile hat man Wege gefunden, diese Probleme zu überwinden. Was läßt sich mit diesen Methoden über die Sprachverarbeitung im Gehirn herausfinden? Grob gesprochen bietet die EEG-Methode einen Einblick in die zeitliche Dynamik der Verarbeitung, während die bildgebenden Verfahren die fokale Verteilung von Aktivität im Hirn zu beobachten erlauben. Die zwei Verfahren stehen in einem inversen Verhältnis zueinander. Je besser die Zezfauflösung, desto schlechter die Orfcauflösung und vice versa. Das EEG erlaubt Beobachtungen im Millisekundenbereich, während das minimale Beobachtungsfenster für die raschesten bildgebenden Verfahren noch mehrere Sekunden beträgt. Andererseits liefern bildgebende Verfahren eine sehr kleinräumige Ortsbestimmung, während das EEG für Ortsbestimmung der Aktivitäten ungeeignet ist. Beide Methoden sind indirekt. Es wird nicht die neuronale Aktivität direkt beobachtet, sondern Folgen der Aktivität, und daraus auf die Quelle geschlossen. EEG-Verfahren: Sprachverarbeitung im Mikrovoltbereich Ein EEG mißt mit Elektroden auf der Kopfhaut die elektrischen Potentialschwankungen im Bereich von 10 -6 Volt, die durch neuronale Aktivitäten im Gehirn verursacht sind. Da das Gehirn sich in dauernder Aktivität befindet, mußten Wege gefunden werden, in dem Konzert der Aktivitäten die spezielle Aktivität herauszufinden, die durch die getestete

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Aufgabenstellung bedingt ist. Ein Weg ist die Bestimmung eines ereigniskorrelierten Potentials (ERP, Event Related Potential). ERPs sind kleine Fluktuationen im elektrischen Potential, verursacht durch die neuronale Aktivität, die durch die Verarbeitung der Testaufgabe ausgelöst wird. Durch Mittlung über mehrere Aufnahmen wird in der computerbasierten Auswertung die aufgabenspezifische Aktivität herausgefiltert, da sich die unspezifische Hintergrundaktivität des Gehirns zufallig verteilt und mit statistischen Verfahren eliminieren läßt. Das Verfahren setzt voraus, daß für jede Messung der gleiche Meßpunkt bestimmt wird (time-locked), da man sonst nicht verläßlich vergleichen und mittein kann. Eine häufig gebrauchte Möglichkeit ist, Teststimuli mit Auffälligkeiten zu verwenden. Hier ist ein Beispiel: Wenn man in einem Experiment einen Satz wie (4) präsentiert, findet man 400 Millisekunden nach Präsentation des Verbums gegessen eine deutliche Veränderung im EEG. Es kommt nach circa 400 Millisekunden zu einem Anstieg im negativen Bereich, daher die Bezeichung N-400 Effekt. (4) Ich habe soeben einen deutschen Satz gegessen.

Der Punkt für den Vergleich der Messungen ist somit der Zeitpunkt, zu dem im Test das Verbum gegessen präsentiert wird. Wie zu erwarten, löst dieses Verbum eine Reaktion aus, da seine Bedeutung den Erwartungen widerspricht. Der N-400-Effekt ist Anfang der 80er Jahre gefunden und seitdem verläßlich reproduziert worden. 54 Die Interpretation des Effekts ist, daß N-400 einen Aspekt der Verarbeitung nach dem Zugriff auf den Wortspeicher reflektiert und der Prüfung der semantischen Paßgenauigkeit eines Stimulus in seinem Kontext entspricht. Die Amplitude spiegelt die Schwierigkeit wider, sprachliches Material auf der semantischen Ebene zu integrieren. Würde man an Stelle des Satzes (4) die ungrammatische Variante (5) testen, so fände man schon 300 Millisekunden nach Präsentation des zweiten Wortes im linken vorderen Bereich einen Anstieg des negativen Potentials (LAN, Lefi Anterior Negativity55), denn schon beim zweiten Wort dieses Satzes erkennen wir, daß er grammatisch defekt sein muß: 54 55

Mara Kutas, Steven A. Hillyard, Reading senseless sentences: Brain potentials reflect semantic anomaly. In: Science 207 (1980), 203-205. Siehe Peter Hagoort, Lee Osterhout, The neurocognition of syntactic processing. In: C. Brown, P. Hagoort (ed.), The Neurocognition ofLanguage, Oxford 1999, 273-316, hier: 284 f.

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Hubert Haider

Das erste Wort ist eindeutig ein Nominativ der ersten Person und daher müßte das finite Verbum übereingestimmt werden, was nicht der Fall ist. Dieser Effekt zeigt an, daß schon nach 500 Millisekunden der Aufbau der grammatischen Struktur einer Äußerung im Gange ist. (5) Ich habe« soeben einen deutschen Satz gelesen.

Insgesamt lassen sich bei der Beobachtung der Potentialverläufe folgende Charakteristika feststellen: Die Strukturverarbeitung beginnt innerhalb von 300 Millisekunden und geht der semantischen Interpretation und Integration, die innerhalb von 400 Millisekunden tätig ist, voraus. Eine Uberprüfung und allfallige Reparatur startet innerhalb von 600 Millisekunden. Das zeigt ein P-600 Effekt, also ein positiver Potentialanstieg nach 600 Millisekunden.56 Insgesamt erweist sich, daß dem Hirn eine gute halbe Sekunde genügt, um die eintreffenden Signale laufend zu verarbeiten. Computertomographie: Bildgebende Verfahren für die Sprachverarbeitung Der Einsatz der bildgebenden Verfahren mittels Computertomographie begann mit PET-Untersuchungen {Positronen Emissions Tomographie), die allerdings eine Beobachtung mit Mittlung über einen für Sprachverarbeitungsvorgänge viel zu großen Zeitraum (> 1 Minute) erforderten. Mittlerweile läßt sich mit funktionaler Kernspintomographie (fKST, fMRI) das Beobachtungsfenster auf Intervalle in der Größenordnung von einigen Sekunden reduzieren. Diese Verfahren erlauben es, Unterschiede in der regionalen zerebralen Blutversorgung zu bestimmen. Diese wiederum werden als Indikator für die regionale Verteilung der Hirnaktivitäten betrachtet. Mehr Aktivität bedeutet mehr Energieverbrauch, und der wiederum bewirkt einen höheren Bedarf an Blutzufuhr. Die Bilder, die der Computer liefert, sind das graphisch präsentierte Ergebnis der Subtraktion einer Baseline-Aktivität von der aufgabenspezifischen Aktivität. Mit Hilfe statistischer Verfahren werden dabei, wie bei der Auswertung des EEGs, die aufgabenspezifischen Aktivitäten des Gehirns aus dem Hintergrund der sonstigen Aktivitäten rechnerisch herausgefiltert. Ziel dieser Untersuchungen ist es, die kleinräumigen, fokalen Aktivitäten zu entdecken, die mit den unterschiedlichen Verarbeitungsak56

Siehe ebd., 286-292.

S P R A C H E R W E R B , SPRACHVERLUST,

SPRACHVERMÖGEN

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tivitäten korrelieren. Die Ergebnisse sind in mehrfacher Hinsicht relevant. Kombiniert mit EEG-Daten ergeben sie eine Beschreibung der räumlichen und zeitlichen Verteilung aufgabenspezifischer Hirnaktivitäten (funktionale Lokalisierung). Ferner bilden sie das Vergleichsmaterial für die Validierung der aus der Aphasiologie ermittelten Korrelationen von Läsionsorten und Funktionsdefiziten {funktionale Validierung). Die Aktivitäts orte in einem intakten Gehirn können nun verglichen werden mit den Läsionsorten im verletzten Gehirn. Schließlich lassen sich mit dieser Methode auch konkurrierende Modelle der Sprachverarbeitung testen (funktionale Fraktionierung): Die Grundannahme ist, daß gleichartige Verarbeitungsvorgänge gleichartige Aktivitätsverteilungen im Gehirn bewirken. Will man zwei konkurrierende Modelle testen, so testet man im Experiment Bereiche ab, in denen die zwei Modelle unterschiedliche Zuordnungen treffen. Insgesamt gewinnt die Linguistik damit die Möglichkeit der unmittelbaren experimentellen Uberprüfung theoretischer Annahmen. Um einen Eindruck zu vermitteln, wie Sprachverarbeitungsprozesse sich mittels bildgebender Verfahren studieren lassen, greife ich auf Ergebnisse eines Forschungsprojektes zu, an dem ich beteiligt bin.57 Eine Frage war, ob sich spezielle Hirnaktivitäten, die für die Satzproduktion zentral sind, mit dieser Methode erkennen und erfassen lassen. Die Probanden hatten die Aufgabe, vorgegebene Sätze umzuformen, indem sie den Beginn des Satzes veränderten, wie beispielsweise in (6): (6) Stimulus: [Einige Linguisten] Response: \Dafür\

haben sich dafür interessiert.

haben sich einige Linguisten

interessiert.

Die geforderte Aufgabe zu erledigen, heißt, den Stimulus-Satz zu verarbeiten und einen neuen Satz zu produzieren, der sich aus dem Stimulussatz durch Anwendung einer von der Grammatik des Deutschen erlaubten Umstellungsregel ergibt. Als Kontrollbedingung wurde als Stimulus eine Wortliste gegeben, mit der Aufgabe, das letzte Wort voranzustellen. Mit dieser Aufgabenstellung wird getestet, ob die Annahme zutrifft, daß 57

Projekt im Rahmen des DFG-Schwerpunktes Sprachproduktion, zusammen mit Prof. G. Dogil (Experimentelle Phonetik), Univ. Stuttgart, Prof. H. Ackermann (Neurologie) und Prof. W. Grodd (Radiologie), Univ. Tübingen: Neuroanatomische Grundlagen der Sprachproduktion: Untersuchungen mittelsßinktionaler Kernspintomographie. Die Experimente wurden durchgeführt und ausgewertet von J. Mayer (Univ. Stuttgart), A. Riecker (Univ. Tübingen), und D. Wildgruber (Univ. Tübingen).

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die durch die Grammatik gesteuerte Aktivität bei Symbolmanipulation (Reorganisation eines Satzes) sich von der Kontrollbedingung unterscheidet, nämlich einer Symbolmanipulation, die nicht durch die Grammatik gesteuert wird (Reorganisation in einer Wortliste). D a die Auswertung in einem Subtraktionsdesign erfolgt (siehe Erläuterungen weiter oben), wird nur jene Aktivität in den Ergebnissen sichtbar, die sich signifikant von der Kontrollbedingung unterscheidet. Die Wahl einer sprachlichen, aber nicht durch die Grammatik gesteuerten Kontrollbedingung ermöglichst es überdies, intervenierende Faktoren zu kontrollieren, wie etwa den möglichen Unterschied zwischen automatischen und kreativen Prozessen. D a in beiden Fällen, der Satzumstellung und der Listenumstellung, der Proband einer vorgegebenen Regel folgt (kreativer Prozeß), wobei aber im einen Fall auf Grammatikwissen, im anderen Fall auf Musterverarbeitung zugegriffen wird (jeweils ein anderer automatischer Prozeß), werden allfällige Begleiteffekte durch das Subtraktionsverfahren eliminiert. D a s Ergebnis der Auswertung von Satzumstellung minus Listenumstellung ist in Abbildung 5 dargestellt. Sie zeigt eine signifikant höhere Aktivität in folgenden aufgabenspezifischen Arealen: Broca Areal, vorderes Cingulum, links parietal, rechts präfrontal, und beidseitig im Kleinhirn (Cerebellum).

Die spezifisch grammatikbezogenen Aktivitäten manifestieren sich im Broca Areal und rechts präfrontal. D a s Broca Areal ist nach Ausweis von Läsionsstudien aktiv bei der raschen Strukturierung eines Satzes. D i e

SPRACHERWERB, SPRACHVERLUST,

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Aktivität rechts präfrontal ist durch die Steuerung der Intonation bedingt. Die Beteiligung dieses Areals bei der Verarbeitung von Intonationsmustern wurde in einem separaten Experiment bestätigt. Die Umstellung im Satz führt nämlich auch zu einer Reorganisation der Satzintonation: Das vorangestellte Element wurde von den Probanden automatisch betont, weil sie ihre Reaktion als Antwort auf den Stimulussatz begriffen. Die übrigen Aktivitätsareale sind zwar aufgabenspezifisch, aber nicht spezifisch sprachverarbeitend. Das Cerebellum ist, wie nicht nur dieses Experiment zeigt, auch an kognitiven Aufgaben beteiligt und fungiert allgemein als Taktgeber für die Verarbeitungsaktivitäten. Die Aktivität im vorderen Teil des Cingulum entsteht bei der aufmerksamen Ausführung einer Aufgabe (executive attention). Die links-parietale Aktivität, in einem Areal, das mit visueller Aufmerksamkeitsleistung korreliert, scheint daher zu rühren, daß die Stimuli visuell dargeboten wurden. Insgesamt zeigen auch diese Daten, daß es mit den zur Zeit verfügbaren Mitteln der nicht-invasiven Beobachtung der Hirntätigkeit möglich ist, das Hirn bei kognitiven Prozessen so genau zu beobachten, daß sich zumindest Typen von kognitiven Prozessen bereits unterscheiden lassen. Mit der fortschreitenden Verbesserung der Untersuchungstechnik wird es in Zukunft möglich sein, nicht nur die Typen, sondern auch die einzelnen Prozesse zu unterscheiden.

AUSBLICK: AM ENDE DER „DEKADE DES G E H I R N S "

„Wie ein frühreifer achtjähriger Junge, der an einem Radio herumbastelt, leisten die Hirnforscher Vorzügliches, wenn es darum geht, das Gehirn zu zerlegen, aber sie haben keinen blassen Schimmer, wie sie die Teile wieder zu einem Gesamtbild zusammenfügen können." 5 8

Die Kritik von Horgan zielt auf einen wunden Punkt. Es gibt eine Erklärungslücke zwischen der Beschreibung der Hirnaktivität auf der neurophysiologischen Ebene und der theoretischen Modellierung der kognitiven Leistungen des Gehirns. Die zwei Theoriebereiche stehen noch nicht in einer wohlverstandenen Beziehung. Die Untersuchung der Sprachverarbeitung eignet sich aus mehreren Gründen vorzüglich für die Verkleinerung und letztendlich auch Uberbrückung der Erklärungslücke: 58

John Horgan, Der Menschliche Geist, München 2000.

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Hubert Haider

Sprachverarbeitung ist eine kognitive Leistung, die sich sowohl in Perzeption wie Produktion direkt testen läßt. Das ist mit keiner anderen kognitiven Leistung möglich. Visuelle Verarbeitung beispielsweise ist ausschließlich perzeptiv. Ferner ist Sprache experimentell gut zugänglich, und schließlich ist sie ein theoretisch differenziert modellierter Bereich. In den letzten Jahren hat sich eine erfolgreiche Teamarbeit zwischen Neurowissenschaftlern, Linguisten und Psychologen etabliert. Sprachverarbeitung ist ein Konvergenzbereich für die Neurowissenschaften und die Kognitionswissenschaften geworden: Die menschliche Sprachfähigkeit hat einerseits eine distinkte neurobiologische Basis und bildet andererseits eine distinkte kognitive Fähigkeit. Die neuen computerbasierten Untersuchungsverfahren sind ein qualitativer Fortschritt in der experimentellen Forschung. Sie kompensieren weitgehend das fehlende Tiermodell, da sie Untersuchungen des funktionierenden Systems in Aktion ermöglichen. Die Erklärungslücke zu verkleinern, die zwischen der Beschreibung des Geschehens auf der neurophysiologischen Ebene und auf der Ebene der Beschreibung der dadurch erzeugten kognitiven Leistungen besteht, ist die Herausforderung für die sich formierenden kognitiven Neurowissenschaften. Es ist das letzte echte Neuland der Forschung im neuen Millennium: die Erforschung unseres eigenen Geistes.

Karin Donhauser SPRACHENTWICKLUNG

UND

D I E ENDLOSE NACH

SPRACHWANDEL.

SUCHE

GESETZMÄSSIGKEITEN

D A S W I S S E N UM D I E H I S T O R I S C H E W A N D E L B A R K E I T VON

SPRACHE

Das Wissen um die historische Wandelbarkeit von Sprache zählt zu den frühen Erkenntnissen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache, die Fragestellungen und Methodik unseres Faches bis ins 20. Jahrhundert hinein in entscheidender Weise geprägt hat. Dabei ist Sprachwandel der direkten Beobachtung nur sehr eingeschränkt zugänglich. Was wir als Sprecher einer Sprache an Veränderungen registrieren, betrifft vor allem den Wortschatz. Wir nehmen wahr, daß neue Wörter wie z.B. Handy oder Fax in den Wortschatz unserer Sprache eindringen, und vielleicht auch - zumindest punktuell daß uns früher geläufige Wörter nun nicht mehr verwendet werden. Wer z. B. würde heute noch von Kolonialwaren sprechen; viele von uns werden dieses Wort aus ihrer Kindheit oder Jugend aber an sich noch in Erinnerung haben. Andere Veränderungsprozesse dagegen - insbesondere solche, die das grammatische System einer Sprache betreffen - werden von den Sprachteilhabern selbst in der Regel überhaupt nicht erkannt. Bestenfalls nehmen wir wahr, daß andere Sprecher Formen oder Konstruktionen verwenden, die wir selbst (noch?) für ungrammatisch halten, z. B. die Zweitstellung des finiten Verbs nach der Konjunktion weil, (1)

Ich habe ihm mein Auto geliehen, weil ich habe geglaubt, daß ich ihm damit helfe.

die Verbindung der Präposition in mit einer Jahreszahl (2)

Wir werden den Haushaltsansatz in 2001 noch einmal deutlich zurückfahren müssen.

oder bestimmte Verwendungen der Verben bekommen bzw. kriegen wie in den Beispielen (3b) und (5c), bei denen semantische und/oder syntaktische Basiseigenschaften dieser Verben, die in (5a) noch respektiert werden, außer Kraft gesetzt scheinen:

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Karin Donhauser

(3a) Maria bekommt/kriegt Blumen geschenkt. (= „Maria hat die Blumen") (3b) 'Maria bekommt/kriegt den Führerschein entzogen. ( ^ „Maria hat den Führerschein") (3c) "Maria bekommt/kriegt geholfen, (fehlendes Akkusativobjekt)

Sprachwandel und Sprachentwicklung treten für uns mit hinreichender Deutlichkeit also meist erst dann in Erscheinung, wenn wir auch größere Zeiträume in Augenschein nehmen können, d.h. wenn wir über Dokumente verfügen, die ältere Sprachstände konservieren und uns über unser eigenes Erleben hinaus in die Geschichte unserer Sprache zurückführen. Betrachten wir als Illustration dazu einen kleinen Ausschnitt aus der Bibel (Johannes-Evangelium 4,7) - einen Text, der über die Jahrhunderte hinweg immer wieder auch ins Deutsche übersetzt wurde. Die hier ausgewählten Textpassagen 1 führen uns in fünf Schritten weit in die Vergangenheit zurück, sie stammen aus dem 20., dem 18., dem 16., dem 14. und schließlich aus dem 9. Jahrhundert. Der zuletzt aufgeführte Text aus der Zeit um 850 n.Chr. ist die älteste Bibelübersetzung, die wir aus dem deutschsprachigen Raum zur Verfügung haben: (4a) Da kam eine samaritische Frau, um Wasser zu holen. Jesus sagte zu ihr: Gib mir zu trinken [...] (Menge, 1926) (4b) Da kommt eine samaritische frau, wasser zu schöpfen. Da sagt JEsus zu ihr: Gib mir zu trincken [...] (Zinzendorf, 1739) (4c) Da kompt eyn weyb von Samaria, wasser zu schepffen. Jhesus spricht zu yhr, gib myr trincken [...] (Luther, 1522) (4d) D o quam ein wip von Samärien zuo schepfine wazzir. Jhesus sprach zcuo ir: Gip mir zuo trinkene! (Evangelienbuch, 1343) (4e) Quam tho uuib fon Samariu sceffen uuazzar. Tho quad iru der heilant: gib mir trinkan. (Tatian, um 830)

Bereits diese kleine Textprobe reicht aus, um deutlich zu machen, daß und in welchem Umfang sich die deutsche Sprache über die Jahrhunderte hinweg auch grammatisch verändert hat. Neben zwei lexikalischen Verschiebungen (Weib —» Frau, quad/quedan -*• sprechen —* sagen) 1

Die Textstellen sind entnommen aus Fritz Tschirch (Hg.), 1200 Jahre deutsche Sprachgeschichte in synoptischen Bibeltexten. Ein Lese- und Arbeitsbuch, Berlin 21969, 40 f.

SPRACHENTWICKLUNG U N D SPRACHWANDEL

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finden wir mehrere Indizien für Veränderungen im phonologischen System des Deutschen den Verlust von volltonigen Nebensilben im Übergang vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen: uuazzar (4e) —• wazzir (4d) bzw. wasser (4a, b, c) -

die Durchführung der Auslautverhärtung im Mittelhochdeutschen: uutb (4d) wiß. (4e), gib (4d) - • giß (4e) die frühneuhochdeutsche Diphthongierung und Monophthongierung: uuip (4d), wip (4e) weyb (4c); zuo. czuo (4e) —* zu (4a, b, c)

sowie für folgende morphosyntaktischen Veränderungen den Ersatz von Kasusobjekten (hier dem Dativobjekt im) durch eine Präpositionalphrase: iru (4d) —• czuo ir, zu yhr, zu ihr (4a-e) den Auf- und Ausbau des Artikelsystems: uutbfon Samariu (4d) -* ein wip von Samarien, ein weyb von Samarien, eine samaritanische Frau (4a-e) sowie für die Veränderung bei der Kennzeichnung finaler Infinitivkonstruktionen vom reinen (u neingeleiteten) Infinitiv in sceffen uuazzar (4e) über den Infinitiv mit zu in (4b-d) bis zu der mit um ... zu eingeleiteten Infinitivkonstruktion um Wasser zu holen (4a) im Neuhochdeutschen. Insgesamt kann die sprachliche Entwicklung des Deutschen auf der Basis der vorhandenen Textüberlieferungen über mehr als zwölfhundert Jahre zurückverfolgt werden. Die rekonstruktiven Methoden der historischvergleichenden Sprachwissenschaft gehen hinter diese Schwelle noch zurück, sie erlauben Rückschlüsse auch auf noch weiter zurückliegende Sprachformen, die selbst durch keine Überlieferung gedeckt werden, z.B. auf das Urgermanische, das den überlieferten germanischen Teilsprachen und damit auch dem Deutschen zugrunde liegt, bis hin zur ebenfalls rekonstruierten Form des Urindogermanischen, dem mutmaßlichen Ausgangspunkt der gesamten indogermanischen Sprachfamilie, zu der auch Sprachen wie Latein, Griechisch und Sanskrit mit einer erheblich älteren Schrifttradition als der der germanischen Sprachen gehören. Die ältesten Schriftbelege einer indogermanischen Sprache stammen aus

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Karin Donhauser

dem Hethitischen um 1700 v. Chr. Auf diese Weise erweitert sich das „Sichtfenster" der historischen Linguistik um mehrere tausend Jahre. Für das Urindogermanische etwa wird ein Zeitrahmen von 5000 bis 5000 v. Chr. angesetzt. Die indogermanische Sprachfamilie ist damit diejenige Sprachgruppe, die wir am längsten zurückverfolgen können und die deshalb unser Denken über Sprachwandel und Sprachentwicklung wesentlich geprägt hat. Das Bild von Art und Umfang von Sprachwandelprozessen, das wir auf diese Weise gewonnen haben, ist ausgesprochen komplex. Wir haben Kenntnis von einer Fülle von Einzelentwicklungen, z.B. vom Flexionsklassenwechsel des Substantivs ahd. hano / nhd. Hahn, das vom Altzum Neuhochdeutschen von der sogenannten schwachen in die starke Flexion übertritt, (5)

AHD

Sg. N G D A PI. N/A G D

schwach flektiert (n-Deklination) hano hanen hanen hanon hanon hanon hanon

NHD

stark flektiert der Hahn des Hahnes dem Hahne den Hahn die Hähne der Hähne den Hähnen

oder von der Bedeutungsentwicklung des Wortes Mut, das auf die indogermanische Verbalwurzel *me, mö („nach etwas trachten, nach etwas verlangen") zurückgeht und gemeingermanisch ursprünglich als Ausdruck für triebhafte Gemütsäußerungen und seelische Erregungszustände wie z. B. für Zorn belegt ist. 2 Wir beobachten aber auch sehr deutlich Regelmäßigkeiten, wiederkehrende Muster sowie übergreifende, längerfristige Entwicklungstendenzen, die schon sehr früh die besondere Aufmerksamkeit der Sprachhistoriker gefunden haben. Eines der mit Sicherheit bekanntesten Beispiele für eine solche sprachhistorische Regularität ist die sogenannte 1. und 2. Lautverschiebung, die bereits um 1820 von Rasmus Rask (1787-1832) und von Jacob Grimm 3 (1785-1863) entdeckt wurde. Danach unterliegt das Konsonantensystem des Indogermanischen auf dem Weg zum Germanischen und dann zum Neuhochdeutschen zwei grundlegenden Umstrukturierungen, in deren 2 5

Vgl. dazu u.a. Wolfgang Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 2, Berlin 1989, 1143. Jacob Grimm, Deutsche Grammatik 1, Göttingen 2 1822, S. 581 ff.

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SPRACHENTWICKLUNG U N D SPRACHWANDEL

Verlauf wiederholt stimmlose Plosivlaute wie [p, t, k] frikativiert und stimmhafte Plosivlaute wie [b, d, g] zu stimmlosen Plosivlauten umgewandelt werden: (6)

Indogermanisch —• 1. LV —• Germanisch

2. LV

Deutsch

bh - dh - gh b- d- g

b- d- g

p- t- k x

p- t- k

(p) - t - (k) pf - tz - (kch) ff - TL - hh f - z - h

f - f c - x

Grundlage für die Formulierung dieser Regularität ist die Auswertung des gemeinsamen Grundwortbestandes verschiedener indogermanischer Sprachen, in dem bestimmte Lautkorrelationen in genetisch verwandten Wörtern einzelner Sprachen immer wiederkehren, die sich über das Alter der involvierten Sprachen bzw. Sprachstufen (Griechisch/Latein/Altindisch •*- Germanisch/Gotisch «- Althochdeutsch) auch in eine zeitliche Abfolge bringen lassen: (7a) ai. bändhati

got. birtdan, ne. bind

ahd. bintan

(7b) lat. duo

got. twai, ne. Iwo

ahd. zwei

(7c) lat. tres

got. preis, ne. ihree

ahd. drei

Die auf diese Weise ermittelte Regularität hat einen hohen Geltungsgrad und wird deshalb nicht nur im Englischen (Grimm's Law) als „Gesetz" apostrophiert. Scheinbare Unregelmäßigkeiten bzw. Ausnahmen wie die unterschiedliche Entwicklung von lat. pater bzw. frater zu dt. Vater bzw. Bruder haben im sogenannten Vernerschen Gesetz ihrerseits eine systematische Erklärung gefunden. Ebenfalls bereits relativ früh sind in den indogermanischen Sprachen auch sprachübergreifende, längerfristige Entwicklungstendenzen beobachtet und konstatiert worden, und zwar zunächst vor allem mit Blick auf das morphosyntaktische Erscheinungsbild dieser Sprachen, das sich über Jahrhunderte bzw. Jahrtausende hinweg z.T. doch sehr deutlich verändert hat. Folgt man den gängigen Rekonstruktionen, dann verfügt das

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Karin Donhauser

Indogermanische ursprünglich über ein ausgesprochen reiches Flexionssystem, d . h . es kodiert grammatische Informationen wie z . B . Numerus oder Kasus beim Nomen oder etwa Tempus, Modus und Aspekt beim Verb bevorzugt direkt am Verb oder am Nomen durch nicht-selbständige, gebundene Morpheme, die traditionell als Flexionsendungen bezeichnet werden. Man vergleiche dazu die beiden folgende Beispiele, die dem Lateinischen entnommen sind: (8a) lat. ama-v-it

(„er hat geliebt")

lieb - Perfekt - 5. Person Singular Indikativ aktiv (8b) lat .fili-o

(„dem Sohne")

Sohn - Dativ Singular

Wie bereits ein Blick auf die neuhochdeutsche Glossierung dieser beiden lateinischen Wörter zeigt, haben moderne indogermanische Sprachen dieses synthetische Kennzeichnungsverfahren ganz oder teilweise abgebaut, sie lagern grammatische Informationen auf im Prinzip selbständige Funktionswörter aus wie z . B . Artikel, Pronomina oder Auxiliare, die ihrerseits keinen oder nur mehr einen rudimentären lexikalischen Gehalt haben. Noch deutlicher wird dieser Wandel am Beispiel des Französischen, das in einer direkten genetischen Beziehung mit dem Lateinischen steht: (9a) franz. il a aimé 5. Person Singular - Perfekt Indikativ aktiv - lieb-

(9b) franz. aufils Dativ Plural - Sohn

Dieses Kodierungsverfahren, das grammatische Informationen auf verschiedene Wörter verteilt, wird auch als analytisch bezeichnet. Der Ubergang vom synthetischen zum analytischen Sprachbau ist in den indogermanischen Einzelsprachen allerdings mit sehr unterschiedlicher Konsequenz durchgeführt. Mit am weitesten fortgeschritten ist die Entwicklung im Englischen, das nur mehr Rudimente der ursprünglichen Flexions-

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Vielfalt des Indogermanischen aufweist. Andere germanische und romanische Sprachen haben ebenso wie die slawischen Sprachen das aus dem Indogermanischen ererbte Flexionssystem zumindest in Teilen erhalten. Außerdem finden sich bei genauerer Betrachtung auch Beispiele, wie sich bereits verlorengegangene Flexionsformen durch Übernahme aus anderen Deklinationen bzw. Konjugationen oder durch lautliche Abschwächung und Integration analytischer Formen wieder regeneriert haben. Der Wechsel vom synthetischen zum analytischen Kodierungsverfahren ist also kein sprachhistorisches Gesetz, er gibt aber die Richtung an, in die sich die indogermanischen Sprachen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität in den von uns überschaubaren Jahrhunderten tendenziell bewegt haben. Es sind Beobachtungen wie diese - rekurrente Muster, durchgängige Regularitäten und auch längerfristige übergreifende Entwicklungstendenzen - , die schon früh zu der Schlußfolgerung geführt haben, daß Sprachwandel nicht prinzipiell kontingent sein kann, sondern daß er spezifischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, die im Rahmen einer Sprachwandeltheorie zu formulieren und zu erklären sind. Sprachhistoriker haben sich so auf die Suche begeben und in zwei Jahrhunderten verschiedene Theorien entwickelt, die im folgenden in Auswahl vorgestellt und erläutert werden sollen.

A U F D E R S U C H E NACH D E N

GESETZMÄSSIGKEITEN

Anleihen bei der Biologie und eine fatale Langzeitprognose Die Suche nach den Gesetzmäßigkeiten von Sprachentwicklung und Sprachwandel beginnt im 19. Jahrhundert mit mehr oder weniger deutlichen Anleihen bei der Biologie, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den entscheidenden Schritt macht weg von der theologisch begründeten Schöpfungslehre hin zu einer historisch-evolutionären Erklärung der Vielfalt biologischer Lebensformen, wie sie noch heute in Fortentwicklung der Darwinschen Evolutionstheorie vertreten wird. Die Sprachwissenschaft vollzieht diese Entwicklung in Teilen mit. Auch sie wendet sich ab von der in der biblischen Geschichte vom Turmbau zu Babel vorgegebenen kreationistischen Erklärung, die die Vielfalt von Sprachen auf das einmalige Einwirken Gottes zurückführt, und ent-

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wickelt schon sehr früh - letztlich sogar wohl früher als die Biologie den Gedanken des Transformationismus, der im Prinzip bereits 1786 bei William Jones 4 aufscheint, wenn dieser annimmt, daß sich Sprachen wie Sanskrit, Griechisch und Latein, aber auch Gotisch sowie die keltischen Sprachen aus einer gemeinsamen Basis entwickelt haben könnten. Dies entspricht dem später von Lamarck formulierten Prinzip, daß Spezies nicht unveränderbar, sondern in der Zeit transformierbar sind. Dabei interpretiert Lamarck die von Carl von Linné (1707-1778) bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts erarbeiteten statischen Taxonomien im Sinne einer genealogischen Entwicklung, die dann von Ernst Haeckel (1854-1919) in Form eines Stammbaum-Diagrammes wiedergegeben wird. August Schleicher 5 (1821-1868), Haeckels Freund und einer der maßgeblichen Sprachwissenschaftler seiner Zeit, benutzt das gleiche Verfahren, um die Verwandtschaften innerhalb der indoeuropäischen Sprachfamilie darzustellen: Dabei parallelisiert er Sprachen systematisch mit biologischen Entitäten, mit individuellen Organismen (Idiolekte), mit Rassen (Dialekte), mit Spezies (Einzelsprachen) bzw. mit Genera (Sprachfamilien). Diese Gleichsetzung von Sprache (n) mit Organismen hat das sprachhistorische und sprachwandeltheoretische Denken des 19. Jahrhunderts nachhaltig beeinflußt, allerdings verschließt sich Schleicher ebenso wie seine sprachwissenschaftlichen Kollegen der Weiterentwicklung des Transformationsgedankens in der Biologie in Form der Darwinschen Evolutionstheorie, die in der Sprachwissenschaft erst mehr als einhundert Jahre später gegen Ende des 20. Jahrhunderts aufgegriffen wird. Die Sprachwissenschaftler des 19. Jahrhunderts dagegen orientieren sich im folgenden an wesentlich kleinräumigeren biologischen Entwicklungsmodellen, insbesondere am Lebenszyklus-Modell von Entfaltung-Blüte-Verfall, das von Schleicher vom Einzelorganismus auch auf höhere Ordnungseinheiten wie Spezies-Sprache bzw. Genus-Sprachfamilie übertragen wird. Entscheidend für die Beurteilung der in Abschnitt 1 exemplifizierten Sprachwandelprozesse ist dabei vor allem die Frage, wie der Höhepunkt sprachlicher Entwicklung bzw. Entfaltung zu bestimmen ist. Wie viele andere Sprachwissenschaftler seiner Zeit orientiert Schleicher sich hier erkennbar am Ideal der klassischen indogermanischen Sprachen Grie4 5

Sir William Jones, The thirdanniversary discourse, delivered 2ndfebruary, 1786(On the Hindus). In: Asiatic Researches 1 (1789), 415-451. August Schleicher, Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft, Weimar 1865, sowie Ders., Die deutsche Sprache, Stuttgart 1869, 55 ff.

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chisch, Latein und Sanskrit, d.h. er mißt den Entwicklungsstand von Sprache(n) vorrangig an der Komplexität ihrer morphologischen Strukturen, also am Aufbau von Wörtern und Wortformen, die in flektierenden Sprachen - wie wir in (8) bereits demonstriert haben - einen ausgesprochen hohen Grad an Komplexität aufweisen. Es sind demnach die Sprachen mit reicher Flexion - und damit paradoxerweise gerade die ältesten in der Menschheitsgeschichte belegten Sprachen, die nach diesem Verständnis als die am weitesten entwickelten Sprachformen zu betrachten sind. Schleicher löst dieses (scheinbare) Paradox, indem er die Entfaltung von Sprache(n) in eine im Hegeischen Sinne „vor-historische" Zeit verlegt: Nach Schleicher ist diese erste Periode in der Entwicklung von Sprache(n) konstitutiver Bestandteil der Evolution des Menschen, der erst dann in die „Geschichte" eintritt, nachdem sich der menschliche Geist seiner eigenen Freiheit bewußt ist, und dies sei nur denkbar, wenn auch die Sprache des Menschen bereits in vollem Umfang entwickelt ist. Ist dieses Stadium erst einmal erreicht, dann kann - so Schleicher nichts Neues mehr entstehen. Was folgt, ist ein Abnutzungsprozeß bzw. ein Verfall von Sprache bzw. von sprachlichen Strukturen, der nach Schleicher im wesentlichen dadurch bedingt ist, daß sich der „Geist" des Menschen mit Eintritt in die Geschichte von der Sprache „ab-" und der Geschichte „zu-"wendet. In diesem Sinne korrelieren Ausmaß und Geschwindigkeit des Verfalls von Sprache mit der Intensität, mit der Sprecher einer Sprache an Geschichte und Zivilisation beteiligt sind. Folgt man dem Schleicherschen Modell, dann ist der Sprachwandel, wie wir ihn in den indogermanischen Sprachen beobachten können, also letztlich Sprachverfall und als solcher auch nicht aufzuhalten. Insbesondere wäre nach diesem Modell zu erwarten, daß Sprachen wie u. a. auch das Deutsche, die Teile des indogermanischen Flexionssystems bis heute erhalten haben, diese synthetischen Komponenten mittel- bzw. langfristig verlieren und ähnlich wie heute bereits weitgehend das Englische auch in diesen Bereichen zu einem analytischen Kodierungsverfahren übergehen. Annahmen wie diese, aber auch die Gleichsetzung von Sprachwandel und Sprachverfall haben sich über Schleichers Modell hinaus bis heute gehalten: Zum Beispiel vermitteln nicht wenige Darstellungen zur deutschen Sprachgeschichte bzw. zu den Entwicklungstendenzen in der Gegenwartssprache6 im Deutschen den Eindruck, das 6

Man vergleiche dazu u.a. die Darstellungen von Peter Braun, Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache, Stuttgart, Berlin '1995, oder Helmut Glück, Wolfgang W. Sauer, Gegenwartsdeutsch, Stuttgart 1990.

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Deutsche sei eine Art verspätetes Englisch, d. h. es befinde sich auf dem gleichen Entwicklungspfad wie das Englische, bewege sich aber mit deutlich reduzierter Geschwindigkeit. Das Modell des Sprachverfalls wiederum ist ein Interpretament, das heute vor allem in der sprachkritischen Literatur weiter gepflegt wird. Selbstbesinnung und die Einschränkung des Prognoseanspruches Die Vorstellungen Schleichers wurden allerdings schon im 19. Jahrhundert nicht uneingeschränkt akzeptiert, sondern immer wieder auch kritisiert, wohl am explizitesten von Jespersen, 7 der gleichzeitig zu erkennen gibt, in welche Richtung sich die Diskussion über das Phänomen des Sprachwandels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts bereits von der von Schleicher vertretenen Position wegbewegt hat. Ein grundlegender Dissens, den Jespersen mit Nachdruck herausarbeitet, betrifft die von Schleicher vorgenommene wertende Gewichtung der beiden morphologischen Kodierungsverfahren und die daraus resultierende Gleichsetzung von Sprachwandel und Sprachverfall, der Jespersen im Gegenzug den Gedanken des Fortschritts in der sprachlichen Entwicklung entgegenstellt. Dabei verweist Jespersen u.a. auf folgende Vorzüge des analytischen Kodierungsverfahrens, das geringere Formeninventar sowie die Kürze und Regularität von Wörtern und Wortformen, die von ihm unter dem Blickwinkel der kommunikativen Effizienz eindeutig als Verbesserungen gegenüber dem durch größere Wortlänge und durch mehr formale und inhaltliche Komplexität gekennzeichneten synthetischen Verfahren gewertet werden. Nach dem Verständnis von Jespersen „that language ranks highest which goes furthest in the art of accomplishing much with little means, or, in other words, which is able to express the greatest amount of meaning with the simplest mechanism." 8 Der Maßstab der kommunikativen Effizienz und Ökonomie, den Jespersen auf diese Weise zur Geltung bringt, ist nicht mehr durch das Lebenszyklus-Modell motiviert. Jespersen betrachtet Sprache primär als Mittel der menschlichen Kommunikation und erklärt die beobachteten Veränderungen im weitesten Sinne sprachimmanent als Optimierung der Funktionalität von Sprache. Das biologistische Modell der Sprachentwicklung wird durch eine sprachfunktionale Erklärung ersetzt. 7 8

Otto Jespersen, Language. Its Nature Development and Origin, London 1922. Ebd., 324.

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Auch andere Sprachwissenschaftler des ausgehenden 19. Jahrhunderts verzichten sehr bewußt auf Anleihen aus der Biologie und auf die Anwendung des Lebenszyklusmodells bei der Erklärung sprachlicher Entwicklungsprozesse. Die Sprachwissenschaft besinnt sich zunehmend auf sich selbst und entdeckt ihre eigenen Erklärungspotentiale, die dann vor allem im 20. Jahrhundert weiter ausgebaut und entwickelt werden. Was dabei entsteht, ist kein umfassendes linguistisches Modell von Sprachentwicklung und Sprachwandel, sondern eine Fülle meist konkurrierender Erklärungsansätze, die sich dadurch voneinander unterscheiden, daß sie mit jeweils unterschiedlichen sprachtheoretischen Vorgaben operieren bzw. daß sie vorrangig auf bestimmte Teilbereiche sprachlichen Wandels fokussieren. Die gerade in jüngster Zeit sehr intensiv diskutierte Grammatikalisierungstheorie 9 z.B. behandelt die Mechanismen, die dazu führen, daß ursprünglich selbständige lexikalische Morpheme ihre lexikalische Bedeutung verlieren und zu Trägern grammatischer Informationen werden - im Extremfall unter Verlust ihrer syntaktischen Autarkie als Wort und unter lautlichen Reduktionen, die die Herkunft dieser Marker für die Sprecher einer Sprache nur mehr sehr bedingt erkennen lassen. Andere Modelle dagegen haben an sich einen weitergehenden Erklärungsanspruch, auch sie zeigen aber in der Regel eine Affinität zu bestimmten Wandelbereichen (phonologischer, morphologischer, syntaktischer oder lexikalischer Wandel), in Auseinandersetzung mit welchen sie vorrangig entwickelt worden sind. Die drei Beispiele, die wir im folgenden etwas ausführlicher besprechen wollen, exemplifizieren diese Art von Zusammenhängen, gleichzeitig demonstrieren sie den Einfluß bestimmter sprachtheoretischer Positionen, die in der Linguistik im 20. Jahrhundert eine dominierende Rolle gespielt haben: der Strukturalismus und seine Definition von Sprache als Zeichensystem, die generative Linguistik und ihr Konzept einer im genetischen Progamm des Menschen verankerten Universalgrammatik sowie eine handlungstheoretische Sicht von Sprache als einer speziellen Form menschlichen Handelns. Die Markiertheitstheorie oder die Theorie des natürlichen grammatischen Wandels. Eine der derzeit ausgefeiltesten Theorien sprachlichen Wandels, die Markiertheitstheorie bzw. die Theorie des natürlichen gramma9

Eine konzentrierte Einführung in die Grammatikalisierungstheorie findet sich in Gabriele Diewald, Grammatikalisierung. Eine Einführung in Sein und Werden grammatischer Formen, Tübingen 1997, bzw. detaillierter in Paul J. Hopper, Elizabeth Closs Traugott, Grammaticalization, Cambridge 1990.

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Karin Donhauser

tischen Wandels, ist eine Weiterentwicklung einer im Kern strukturalistischen Sicht des Phänomens „Sprachwandel", d. h. sie sieht Sprachwandel als im Sprachsystem selbst angelegt, und zwar in der Form von sogenannten Markiertheitsbewertungen, die zum Ausdruck bringen, in welcher Weise und in welchem Umfang sprachliche Strukturen - einzelne Lautsegmente, Lautverbindungen, Morpheme, Wörter wie auch syntaktische Konstituenten (Phrasen) und Sätze - die menschliche Sprachkapazität belasten. Die Idee dabei ist, daß Sprachwandel solche Belastungen tendenziell reduziert, d.h. daß er Markiertheit abbaut - in diesem Sinne wird er auch als „gerichtet" betrachtet. Dies bedeutet nach diesem Verständnis aber nicht, daß Sprachen - wie Jespersen dies suggeriert - im Laufe ihrer Entwicklung immer einfacher oder ökonomischer werden. In der Markiertheitstheorie wird Markiertheit nämlich nicht pauschal kalkuliert, sondern die Markiertheitsbewertung erfolgt immer lokal und getrennt für einzelne Parameter, die ihrerseits über sogenannte Markiertheitsprinzipien definiert werden. Diese legen fest, was hinsichtlich eines bestimmten Parameters als markiert bzw. als unmarkiert zu gelten hat. Dabei kann es sein, daß eine Struktur, die hinsichtlich eines Parameters A als markiert ausgewiesen ist, gleichzeitig hinsichtlich eines anderen Parameters B als unmarkiert bewertet wird. Mithin ist es auch möglich, daß der Abbau der Markiertheit hinsichtlich des Parameters A zum Aufbau von Markiertheit hinsichtlich des Parameters B oder eines anderen Parameters C führt. Die Gesamtbelastung der menschlichen Sprachkapazität bleibt dabei im wesentlichen gleich, lediglich eine lokale Belastungsspitze ist abgetragen. Veranschaulichen wir uns einen solchen Vorgang, wie ihn die Markiertheitstheorie hier u.a. vor Augen hat, an einem Beispiel aus der Sprachgeschichte des Deutschen, das bereits bei Wurzel 10 in diesem Zusammenhang aufgeführt ist. Dabei geht es um die Entwicklung der Verbalform ahd. ligit zu nhd. er liegt, die mit folgenden Zwischenschritten belegt ist: (10a) ahd. ligit -*• mhd. lit —• frnhd. lieget -*• nhd. liegt

So wird ahd. ligit im Mittelhochdeutschen zunächst zu mhd. lit kontrahiert. Die Markiertheitstheorie erklärt diesen Schritt als Abbau phonologischer Markiertheit im Bereich der Silbenstruktur, da in akzentzählenden Sprachen, zu denen das Deutsche gehört, ein Wort umso weniger 10

Wolfgang Ullrich Wurzel, Grammatisch initiierter Wandel (=Sprachdynamik. Auf dem Weg zu einer Typologie sprachlichen Wandels 1), Bochum 1994, 92 f.

SPRACHENTWICKLUNG UND S P R A C H W A N D E L

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markiert sei, je weniger phonologische Substanz die unbetonten Silben dieses Wortes aufweisen (Parameter A). Die mittelhochdeutsche Form, die einsilbig ist und keine unbetonte Silbe mehr hat, ist in dieser Hinsicht also eindeutig weniger markiert als die althochdeutsche. Die Kontraktion, die die phonologische Markiertheit des Althochdeutschen abbaut, baut jedoch gleichzeitig im Mittelhochdeutschen morphologische Markiertheit auf, denn sie beeinträchtigt die morphosemantische Transparenz dieses Wortes (Parameter B), d. h. die Form llt ist nicht mehr ohne weiteres als 3. Person Singular Präsens Indikativ bzw. überhaupt als Flexionsform des Verbs ligen zu erkennen. Das frühneuhochdeutsche lieget, das die Kontraktion wieder aufhebt, stellt den Ausgangszustand wieder her: Die morphologische Markiertheit ist abgebaut, die phonologische Markiertheit aber gleichzeitig wieder hergestellt. Das Neuhochdeutsche {liegt) schließlich elidiert die phonologisch markierte unbetonte Silbe erneut, nun aber ohne Beeinträchtigung der morphosemantischen Transparenz des Wortes. Allerdings ist nach einem weiteren phonologischen Prinzip (Parameter C) eine Silbenstruktur, die wie nhd. liegt in ihrem Ausgang, d. h. in der Koda der Silbe, eine Gruppe von zwei Konsonanten gt aufweist, hinsichtlich dieses zusätzlichen Prinzips wiederum - zumindest schwach - auch phonologisch markiert, während die frühneuhochdeutsche Form lieget ebenso wie die alt- und mittelhochdeutschen Formen ligil und lit in dieser Hinsicht als unmarkiert gelten können, weil sie die Koda-Position idealtypisch mit jeweils nur einem Segment, d. h. g bzw. t besetzt haben. Dieses Wechselspiel von Markiertheitsabbau und -aufbau in der historischen Entwicklung dieser Verbalform im Deutschen und das lokale Wirken des Sprachwandels im Sinne der Markiertheitstheorie ist in der Ubersicht (10b) noch einmal im Ganzen dargestellt. Wie dieses zugegebenermaßen reichlich komplexe Beispiel zeigt, ist die Markiertheitstheorie den bislang besprochenen älteren Erklärungsansätzen nicht zuletzt deshalb überlegen, weil sie auch Sprachentwicklungen erfaßt, die nicht linear verlaufen. Allerdings bezahlt sie diesen Gewinn mit einer doch deutlichen Einschränkung des ursprünglich sehr starken Prognoseanspruchs von Sprachentwicklungsmodellen, der von der Markiertheitstheorie als solcher aber noch nicht aufgegeben wird. Die Markiertheitstheorie nimmt für sich in Anspruch, vorhersagen zu können, an welchen Stellen Sprachwandel eintreten kann und in welcher Richtung sich Sprachwandel bewegt, wenn er eintritt, aber nicht wann Sprachwandel eintritt und daß Sprachwandel an einer bestimmten Stelle eintreten muß.

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Karin Donhauser

(10b)

ahd. ligit

phonologisch markiert (Parameter A)

phonologischer Wandel mhd. lit

phonologisch unmarkiert (Parameter A)

morphologisch markiert (Parameter B) phonologischer Wandel

frnhd. lieget phonologisch markiert (Parameter A)

morphologisch unmarkiert (Parameter B)

phonologischer Wandel nhd. liegt

phonologisch unmarkiert (Parameter A)

phonologisch markiert (Parameter C)

Sprachwandel durch Spracherwerb bzw. die generative Sicht auf das Phänomen des Sprachwandels. Charakteristisch für die generative Sicht von Sprachentwicklung und Sprachwandel ist die Verknüpfung von Sprachwandel und Spracherwerb, wie sie insbesondere von David Lightfoot vorrangig mit Blick auf den Syntaxwandel in mehreren grundlegenden Arbeiten11 ausgeführt und begründet wird. Lightfoot zieht dabei die Konsequenz aus zentralen sprachtheoretischen Vorgaben des Generativismus, der Betrachtung von Sprache als kognitiver Fähigkeit einzelner Individuen und der Annahme einer genetisch verankerten sprachlichen Prädisposition des Menschen (Universalgrammatik), die nur in einer zeitlich begrenzten Phase der menschlichen Entwicklung zum Tragen kommt und es Kindern ermöglicht, Sprachen bzw. genauer die Grammatik von Sprachen trotz eines notwendigerweise defizitären Inputs rasch und vollständig zu erlernen.12 Ist dieser genuine Prozeß des Spracherwerbs erst 11

Einschlägig sind hier vor allem folgende drei Publikationen: David Lightfoot, Principles ofDiachronic Syntax, Cambridge 1979, Ders., How to set Parameters: Arguments from Language Change, Cambridge 1991, sowie Ders., The Development of Language: Acquisition, Change and Evolution, Oxford 1999. 12 Dieses Problem wird in der generativen Theorie als das „logische Problem des Spracherwerbs" bezeichnet.

SPRACHENTWICKLUNG U N D SPRACHWANDEL

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einmal abgeschlossen, dann ist die interne Grammatik des einzelnen Individuums nach dieser Vorstellung im wesentlichen fixiert. Sprachwandel im Sinne von Grammatikwandel ist demnach vor allem dann denkbar, wenn eine neue Generation von Sprechern Sprache erwirbt und dabei Grammatiken internalisiert, die von den internen Grammatiken der Elterngeneration abweichen. Die Frage, wie dies geschehen kann oder geschieht, wird in den Arbeiten von Lightfoot auf unterschiedliche Weise beantwortet. In einem ersten Zugriff in Principles ofDiachronic Syntax13 von 1979 betont er den therapeutischen Charakter des Sprachwandels im Spracherwerb. Dabei sieht er vor, daß Grammatiken auch über Generationen hinweg aus unabhängigen Gründen (z.B. durch den Einfluß von Sprachkontakt) Idiosynkrasien entwickeln können, die vom spracherwerbenden Kind mehr oder weniger automatisch eliminiert werden, und zwar immer dann, wenn sie ein bestimmtes Maß überschreiten, das in der Universalgrammatik festgelegt ist. Ist das der Fall, dann reanalysiert das spracherwerbende Kind die von diesen Idiosynkrasien betroffenen sprachlichen Strukturen und gelangt so für sich zu einem grammatischen Regelsystem, das gegenüber der Grammatik der Elterngeneration kleinere oder auch größere Veränderungen aufweist. Lightfoot legt dabei großen Wert auf die Feststellung, daß zur Auflösung dieser Idiosynkrasien jeweils mehrere Optionen zur Verfügung stehen und daß sich deshalb die Art der Veränderung nicht vorhersagen läßt. Er ist zunächst allerdings optimistisch, daß es möglich werden könnte, zu prognostizieren, wann solche therapeutischen Sprachwandelprozesse eintreten - nämlich dann, wenn es gelingt, das universalgrammatische Prinzip zu substantiieren, das den Rahmen vorgibt, in dem Idiosynkrasien vom spracherwerbenden Kind noch toleriert werden. Die unsichtbare Hand und der (erwachsene) Sprecher als der indirekte Verursacher des Sprachwandels. Ein dritter Typ von Erklärungsansatz, der in der Linguistik derzeit diskutiert wird, betrachtet Sprache primär als eine spezielle Form von menschlichem Handeln und sucht die Ursache für das Phänomen des Sprachwandels deshalb im Verhalten der erwachsenen Sprecher bzw. Sprachteilhaber, das allerdings nur relativ selten direkt darauf ausgerichtet ist, Sprache zu verändern. Beispiele für eine solche direkt auf die Sprache bezogene Zielsetzung wären alle Versuche einer expliziten Sprachregulierung, u.a. der immer wieder einmal 15

Lightfoot, Principles of Diachronic Syntax, wie Anm. 11.

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Karin Donhauser

beschworene Kampf gegen Fremdwörter, dessen Erfolg sich allerdings nicht nur im Deutschen - insgesamt in relativ engen Grenzen hält. In der Regel ist Sprachwandel, wie wir ihn in natürlichen Sprachen beobachten können, vom Sprecher nicht in einer für uns erkennbaren Weise intendiert, sondern er erscheint als Nebenprodukt sprachlichen Verhaltens, das seinerseits auf andere - kommunikative - Ziele gerichtet ist. Rudi Keller, der einen solchen Sprecher- und handlungsbezogenen Ansatz in prononcierter Weise vertritt, vergleicht das Phänomen des Sprachwandels in dieser Hinsicht mit anderen aus dem Alltag bekannten Phänomenen wie der Entstehung von Trampelpfaden bzw. dem Auftreten von Staus auf Straßen oder Autobahnen, wobei letztere - wie wir alle aus leidvoller Erfahrung wissen - auch dann auftreten können, wenn die Verkehrswege selbst frei sind und an sich ohne Behinderung befahren werden können. Sowohl Trampelpfade wie Staus werden durch das Verhalten von Menschen erzeugt, sie sind von den Beteiligten (zumindest im Regelfall) aber nicht intendiert, sondern sie ergeben sich als Konsequenz gleichartiger Handlungs- bzw. Verhaltensentscheidungen verschiedener Menschen, die akkumulieren und erst in der Summation diese Effekte herbeiführen. Trampelpfade entstehen, weil Menschen schneller oder direkter, d.h. mit weniger Kraftaufwand von einem Ort A zu einem Ort B gelangen wollen - Staus wiederum kommen gleichsam aus dem Nichts, weil Autofahrer in dem Bestreben, Kollisionen zu vermeiden, Geschwindigkeitsreduktionen des jeweils voranfahrenden Wagens mit einer zusätzlichen Sicherheitsmarge nachvollziehen, mit dem Effekt, daß die Geschwindigkeit von Wagen zu Wagen immer mehr abnimmt und Autos, die sich weit hinten in dieser Kette befinden, schließlich zum Stehen kommen. Prozesse wie diese, die wie von einer „unsichtbaren Hand" gelenkt erscheinen und deshalb in der Literatur auch als „invisible hand-Prozesse" adressiert werden, sind bereits in der nationalökonomischen Literatur des 18. Jahrhunderts (z. B. bei Adam Smith, 1725-1790) beschrieben worden. Sie verbinden intentionale und kausale Komponenten und konstituieren so eine eigene Gruppe von Phänomenen - „Phänomene der dritten Art" die Eigenschaften von Artefakten und Naturphänomenen kombinieren. Ebenso wie Artefakte sind Phänomene der dritten Art vom Menschen gemacht, sie sind Produkte, aber nicht Ziele menschlichen Handelns. Letzteres haben sie mit Naturerscheinungen gemein. Keller sieht hierin einen wesentlichen Schlüssel auch für das Verständnis von Sprachwandelprozessen, die in der sprachwissenschaftlichen Literatur so die Kritik Kellers - traditionellerweise entweder als Naturphänomene

S P R A C H E N T W I C K L U N G UND S P R A C H W A N D E L

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oder als Artefakte eingestuft und behandelt werden. Keller hält dies in gleicher Weise für inadäquat und plädiert für eine Analyse von Sprachwandelprozessen, die auf das Konzept der „invisible hand" Bezug nimmt. Die Tragfähigkeit dieses Konzepts erläutert Keller an zwei Beispielen, die beide zum Bereich der Wortschatzentwicklung bzw. zur historischen Semantik gehören, u.a. am Beispiel der Bedeutungsentwicklung des Wortes mhd. wip / nhd. Weib, das noch im Mittelhochdeutschen die neutrale Bezeichnung für eine erwachsene Person weiblichen Geschlechts darstellt, zum Neuhochdeutschen hin aber eindeutig mit negativen Konnotationen versehen wird. Die Position von mhd. wip wird im Neuhochdeutschen von dem Wort Frau eingenommen, das seinerseits im Mittelhochdeutschen ursprünglich die standesmäßig gehobene Frau bzw. bezeichnet. Beide Wörter unterliegen also vom MitHerrin (rah&.frowe) telhochdeutschen zum Neuhochdeutschen hin einer Herabstufung bzw. Pejorisierung, die auf den ersten Blick (d.h. unter der Annahme, daß hier ein visible hand-Prozeß vorliegt) dahingehend gedeutet werden könnte, daß hinter dieser Entwicklung zumindest latent frauenfeindliche Motive stecken, etwa im Sinne der Maxime „praise him / blame her", wie sie gelegentlich14 auch als eine sprachübergreifende Größe postuliert wurde. Keller dagegen erklärt diese Entwicklung als invisible-handProzeß in folgender Weise: Ausgangspunkt ist das Galanteriespiel der höfischen Gesellschaft, das in Deutschland auch von der bürgerlichen Gesellschaft übernommen und in Teilen auch heute noch befolgt wird. Dies gibt das Motiv vor, das männliche Sprecher u. a. dazu bewegt, Frauen in einer bestimmten Art und Weise zu adressieren, nämlich so, daß sie als hoch- bzw. höherstehend ausgewiesen werden nach der Maxime „praise her" bzw. in Kellers etwas salopper Umschreibung: „Greife im Zweifel bei deiner Wortwahl lieber eine Etage zu hoch als eine zu niedrig." Wird diese Strategie von einer wachsenden Zahl von Sprechern verfolgt und mit einiger Konsequenz durchgehalten, dann verliert das in dieser Weise gebrauchte Wort seine spezielle Bedeutung. Es wird zur neutralen Bezeichnung für den Bedeutungsinhalt „Frau", der ursprüngliche Normalausdruck wird jetzt als abwertend empfunden. Das Konzept der unsichtbaren Hand liefert eine Erklärung für den auf den ersten Blick eher überraschenden Zusammenhang von Galanteriemotiv und Pejorisierung. Es hat mithin primär einen diagnostischen Wert. Prognosen 14

Keller verweist hier auf Alma Graham, The Making ofa Nonsexist Dictionary. In: B. Thorne, N. Hemley (ed.), Language and Sex: Difference and Dominance, Rowley/MA 1975, 57-65.

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Karin Donhauser

dagegen z.B. über die weitere Bedeutungsentwicklung des Wortes Frau können auch im Rahmen dieses Sprachwandelkonzeptes nur sehr eingeschränkt gemacht werden, nämlich nur dann, wenn gesichert ist, das die Ausgangsbedingungen - hier das Galanteriegebot - weiter gültig bleiben. Dies aber ist bei sehr speziellen soziokulturellen Erscheinungen nur sehr schwer vorherzusagen. Was nach Keller auch in diesem Fall möglich ist, ist lediglich die „strukturelle Prognose, daß es auch weiterhin zu Pejorisierungen kommen wird, wenn das Galanteriegebot weiterhin in Kraft bleibt."15 Auch bei dieser Theorie ist der Prognoseanspruch also deutlich eingeschränkt. Die Akzeptanz der Kontingenz und die Rückbesinnung auf größere Zusammenhänge Wie die soeben besprochenen Beispiele demonstrieren, hat sich die Sprachwissenschaft in den letzten Jahrzehnten sehr eindringlich mit verschiedenen Bereichen sprachlichen Wandels auseinandergesetzt und Erklärungsansätze erarbeitet, die auch komplexere Entwicklungsabläufe zu erfassen vermögen und unser Verständnis für die Gesetzmäßigkeiten von Sprachwandelprozessen in wesentlicher Weise erweitert haben. Insbesondere hat sich gezeigt, daß Sprachwandelprozesse nur bedingt prognostizierbar sind, weil sie Komponenten enthalten, die der Kontingenz unterliegen. Auf diese Weise haben sich der historischen Sprachwissenschaft neue interdisziplinäre Bezüge eröffnet, die in den vergangenen Jahren verstärkt wahrgenommen wurden - zur modernen Evolutionsbiologie, vor allem aber zur sogenannten Chaostheorie bzw. zur Theorie nicht-linearer Systeme, auf die neuere Arbeiten auch über die verschiedenen sprachtheoretischen Positionen hinweg in der einen oder anderen Weise Bezug nehmen. Was diese Theorie für die historische Sprachwissenschaft derzeit so attraktiv macht, ist, daß sie zeigen kann, daß große Veränderungen in solchen Systemen nicht notwendig auch große Ursachen haben. Dies entlastet die historische Sprachwissenschaft von der Frage nach dem Warum, d.h. nach dem letzten Grund von Sprachwandelprozessen, die sich in der Vergangenheit nicht immer als besonders fruchtbar erwiesen hat. In diesem Sinne plädiert u. a. auch David Lightfoot16 für eine neue, chaostheoretische Sicht auf das Phänomen des 15 16

Rudi Keller, Sprachwandeltheorie. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache, Tübingen 1990, 104. Lightfoot, The Development ofLanguage, wie Anm. 11, 253 ff.

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SPRACHENTWICKLUNG U N D S P R A C H W A N D E L

Sprachwandels. Darüber hinaus stellt die Chaostheorie formale Modelle bereit, die deutlich machen, wie sich komplexe dynamische Systeme in der Zeit entwickeln. Dies ist für die historische Sprachwissenschaft insofern besonders interessant, weil hier Muster auftreten, die sich mit den im Sprachwandel beobachteten Regularitäten decken, die die Suche nach den Gesetzmäßigkeiten des Sprachwandels überhaupt erst ausgelöst haben. Diese Muster umfassen lineare Bewegungen (point attractors), zyklische Bewegungen (cyclical attractors) sowie bestimmte autokatalysatorische Effekte, wie sie im sprachhistorischen Bereich als drifts und conspiracies beschrieben werden. Folgt man Roger Lass,17 der diese Parallelen ausführlich diskutiert, dann wäre die langwierige Suche nach den Gesetzmäßigkeiten des Sprachwandels, die wir hier in Ausschnitten verfolgt haben, an dieser Stelle zu einem (vorläufigen?) Ende gelangt. Die Gesetzmäßigkeiten des Sprachwandels wären die Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens nicht-linearer Systeme und damit Gesetzmäßigkeiten, die die Sprache mit anderen komplexen evolvierenden Systemen teilt.

PERSPEKTIVEN

Die Konsequenzen, die sich für die historische Sprachwissenschaft perspektivisch aus einer solchen Einsicht ergeben, sind derzeit mit Sicherheit noch nicht voll abschätzbar. Immerhin sind in den letzten Jahren vor diesem Hintergrund verstärkt Versuche unternommen worden, simulative Modelle 18 zu entwickeln, die uns in die Lage versetzen könnten, Hypothesen zu testen, und die der historischen Linguistik ein neues, bislang erst wenig genutztes Instrument an die Hand geben. Denkbar wäre auch eine Erweiterung des empirischen Programmes, das stärker auf Ausnahmen und Sonderfalle fokussiert als auf die Regel, die in den bisherigen Untersuchungen noch immer im Vordergrund steht. In jedem Fall hat diese Entwicklung dazu beigetragen, daß die historische Sprachwissenschaft die von ihr über weite Phasen bevorzugte „splendid isolation" zumindest teilweise wieder verlassen hat - ob mit dem von David Lightfoot in dem folgenden Zitat anvisierten Erfolg, möchte ich an dieser Stelle gerne offen lassen: 17

Roger Lass, Historical Linguistics

18

So z.B. Partha Niyogi, Robert C. Berwick, A Dynamical

and Language

Change, Cambridge 1997, 290 ff.

Change. In: Complex Systems 11, 3 (1997), 161-204.

Systems Modelfor

Language

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Karin Donhauser

„Historians of language are like human historians and evolutionists, in that we are dealing with contingent histories and trying to offer explanations. That is not bad company to be in; but I want to suggest that historians of language are leaders and can provide a model: at this point, language historians can offer tighter explanations than are available in other fields. We can even make predictions in certain domains.®

19

Lightfoot, The Development of Language, wie Anm. 11, 264.

Roland Posner IM Z E I C H E N DER

ZEICHEN.

S P R A C H E ALS S E M I O T I S C H E S

SEMIOTISCHE

SYSTEM

SYSTEME

Der Osterreichische Wissenschaftstag 2000 hat „den Menschen und seine Sprache(n)" zu seinem Thema gemacht und mir die Aufgabe übertragen, „Sprache als semiotisches System" zu behandeln. Ich hatte zunächst vor, diese Aufgabe zu lösen, indem ich meine Leser (bzw. Zuhörer) in bewährter Manier 1 mit Zeichendefinitionen, Charakterisierungen von Regeltypen und systemtheoretischen Aussagen traktiere. Dann müßte ich so beginnen: Unter einem semiotischen System (bzw. Zeichensystem) versteht man einen Kode in seinem Verwendungszusammenhang. Jeder Kode umfaßt ein Repertoire von Grundzeichen und eine Menge von Regeln zu deren Kombination und Interpretation. Ein Verwendungszusammenhang besteht aus Situationen, in denen ein Sender einen Kode einsetzt, um eine Zeichenkombination zu produzieren, und (bzw. oder) ein Empfanger versucht, diese Zeichenkombination mit Hilfe eines ähnlichen Kodes zu rezipieren, wobei beide ein bestimmtes Wissen mitbringen und bestimmte Absichten verfolgen. 2 Würde ich in diesem Stil fortfahren, so könnten wir uns gemeinsam Schritt für Schritt ein Begriffssystem erarbeiten, das so detailliert ist, daß sich präzise formulieren läßt, was das Besondere ist an sprachlichen Kodes und welche Anforderungen Sender und Empfanger erfüllen müssen, um sprachliche Kodes in der Zeichenproduktion und -rezeption erfolgreich einsetzen zu können. Doch die für dieses Verfahren notwendige Definitionskette ist lang und der Ansatz zu abstrakt für eine kurzgefaßte Darstellung. Ich habe mir 1

Vgl. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1931; Louis Hjelmslev, Prolegomena zu einer Sprachtheorie, München 1974; Henning Bergenholtz, Joachim Mugdan, Einführung in die Morphologie, Stuttgart 1979, 9-57; Angelika Linke, Markus Nussbaumer, Paul R. Portmann, Studienbuch Linguistik, Tübingen 1991, 13-42; Winfried Nöth, Handbuch derSemiotik, Stuttgart, Weimar 2000, 131-226.

2

Vgl. Roland Posner, Pragmatics. In: R. Posner, K. Robering und T.A. Sebeok (Hg.), Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Berlin, New York 1997 ff., 219-246.

78

Roland Posner

deshalb vorgenommen, stattdessen wo immer möglich ausgewählte Beispiele der Sprachverwendung zu präsentieren und ihre Besonderheiten dadurch herauszuarbeiten, daß ich sie den anderen Zeichengebräuchen unserer Kultur gegenüberstelle.

L O G O S P H Ä R E UND

SEMIOSPHÄRE

Statt zu sprechen, macht man oft eine Geste oder operiert mit Ziffern und Symbolen, und in vielen Fällen erreicht man mehr damit. Was unterscheidet das gesprochene Wort von der Geste oder der Symbolkonfiguration? Und wie können sie sich ergänzen, um effektive Kommunikation zu ermöglichen? Statt zu sprechen, produziert man oft einen geschriebenen Text, eine Kette von Morsezeichen, und in vielen Fällen ist es nötig, Sprache in dieser Weise umzukodieren, um sich mitteilen zu können. Was unterscheidet das gesprochene Wort vom geschriebenen oder gemorsten? Und in welchen Situationstypen können sie einander ersetzen? Unsere sprachlichen Äußerungen bedienen sich unseres lexikalischen Repertoires und unseres grammatischen Regelwissens. Aber dieses Wissen determiniert sie nicht ganz. Keine Grammatik schreibt uns vor, wie schnell oder langsam, laut oder leise, hoch oder tief, sonor oder heiser wir sprechen sollen. Und trotzdem hat, wie wir sprechen, oft größere Konsequenzen als was wir dabei sagen. Werden nicht auch die Verhaltensweisen beim Sprechen durch semiotische Systeme geregelt? Und wenn ja, in welcher Relation stehen diese zur Sprache? Derartige Fragen kann man nur beantworten, wenn man Sprache zwar als semiotisches System behandelt, aber nicht so tut, als existierte dieses System im leeren Raum. Eine Sprache wie das Deutsche steht im Austausch mit anderen Sprachen wie dem Ungarischen, Slowenischen, Italienischen, Französischen, Englischen, 5

3

Vgl. Hans Goebl, Peter H. Neide, Z d e n i k Stary, Wolfgang Wölck (Hg.),

guistik. 1997 ff.

Ein internationales

Handbuch

zeitgenössischer

Forschung,

Kontaktlin-

Berlin, N e w York

I M Z E I C H E N DER Z E I C H E N

79

mit sprachnahen Kodes wie der Schrift und den zugehörigen Kulturtechniken des Schreibens und Lesens, 4 dem Gesang und den Kulturtechniken des Solo- und Chorsingens5 sowie der Sprachkunst und den literarischen Kulturtechniken des Skandierens, Reimens und Dichtens,6 -

mit den teils redebegleitenden, teils redeersetzenden Körperkodes der Mimik und Gestik,7 mit den teils schriftbegleitenden, teils schriftersetzenden semiotischen Systemen der Zahldarstellung8 sowie der Arithmetik und der Algebra,9 mit allgemeinen Verhaltenskodes wie denen der Höflichkeit und Etikette10 und mit den Zeichensystemen der bildlichen Darstellung in Kunst11 und Wissenschaft.12

4 5 6

7 8 9

10

Vgl. Hartmut Günther, Otto Ludwig (Hg.), Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, Berlin, New York 1994-96. Vgl. Vladimir Karbusicki, Einführung in die musikalische Semiotik, Darmstadt 1985, sowie Jean-Jacques Nattiez, Musicologie générale et sémiologie, Paris 1987. Vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, hg. R. Grübel, Frankfurt am Main 1973; Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976; Roland Posner, Poetic Communication versus Literary Language - or: The Linguistic Fallacy in Poetics. In: R. Posner, Rational Discourse and Poetic Communication: Methods of Linguistic, Literary and Philosophical Analysis, Berlin, New York 1982, 113-127. Vgl. Cornelia Müller, Redebegleitende Gesten. Kulturgeschichte, Theorie, Sprachvergleich, Berlin 1998. Vgl. Roland Posner, Die Zahlen und ihre Zeichen. Geschichte und Ökonomie der Zahldarstellung. In: Grazer Linguistische Studien 19 (1983), 141-158. Vgl. Klaus Mainzer, Zeichenkonzeptionen in der Mathematik und Informatik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. In: Posner, Robering, Sebeok (Hg.), Semiotik, wie Anm. 2, 1553-1586. Vgl. Esther N. Goody (ed.), Questions and Politeness : Strategies in Social Interaction, Cambridge/GB 1978, sowie Gino Eelen, A Critique of Politeness Theories, Manchester 2001.

11 12

Vgl. Sybil Dümchen, Michael Neriich (Hg.), Texte - Image / Bild - Text, Berlin 1990, sowie Claude Gandelman, Reading Pictures, Viewing Texts, Bloomington 1991. Vgl. Jacques Bertin, Sémiologie graphique: Les diagrammes, les réseaux, les cartes, Paris 1967, deutsch von G. Jensch u.a., Graphische Semiologie. Diagramme, Netze, Karlen, Berlin 1974.

80

Roland Posner

Alle diese Systeme sind semiotische Systeme im eingangs charakterisierten Sinn. Die Sprache ist also Teil eines komplexen Systems von Zeichensystemen. Für Systeme von Zeichensystemen hat der estnische Semiotiker Juri Lotman in den achtziger Jahren den Begriff der Semiosphäre geprägt.13 Er führt damit eine Tradition fort, in der sich die strukturalistische Linguistik des 20. Jahrhunderts von der historisch ausgerichteten Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts absetzte, die Wörter allzu oft als isolierte Einzelgegenstände untersucht hatte. Die These der Strukturellsten, daß ein Zeichen seinen Sinn nur in einem Feld bzw. System von Zeichen erhält,14 ergänzt Lotman durch die These, daß auch ein Zeichensystem seinen Sinn nur in einem System von Zeichensystemen erhält, die in Verbindung miteinander verwendet werden.15 Jede Nationalkultur ist in diesem Sinne ein System von Zeichensystemen,16 und alle Kulturen der Welt sind somit Teilsysteme der Semiosphäre des Menschen. Kulturen sind, biologisch gesehen, jene ökologischen Nischen, in denen sich Sprachen herausbilden konnten. Und wenn es stimmt, daß jeder Mensch von Geburt an über eine spezielle Kompetenz zum Erwerb einer Sprache verfügt,17 so darf man doch auch nicht vergessen, daß er diese Kompetenz von Anfang an gar nicht nutzen könnte ohne die Kompetenz, mit Mimik und Gestik, Höflichkeit und Etikette gemäß den Konventionen seiner Kultur umzugehen - ein Kontext, zu dem seit Jahrtausenden auch die Kulturtechniken von Gesang und Schrift sowie Kunst und Wissenschaft gehören. Wie aus meinen Ausführungen hervorgeht, betrachte ich Sprache entsprechend ihrer biologischen Evolution primär als phono-akustisches Ausdrucksmittel und werde, wo es um der Klarheit willen nötig ist, dafür auch Lauisprache sagen. Die Lautsprache ist ein dem Homo sapiens art-

13 14 15 16

17

Vgl. Jurij Lotman, Über die Semiosphäre. In: Zeitschrift für Semiotik 12 (1990), 287-505. Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie (1934), Stuttgart 2 1968; siehe auch Jörn Albrecht, Europäischer Strukturalismus, Tübingen, Basel 2 2000. Vgl. Roland Posner, Kodes als Zeichen. In: Zeitschrift für Semiotik 5 (1983), 401-408. Vgl. Roland Posner, Was ist Kultur? Zur semiotischen Explikation anthropologischer Grundbegriffe. In: M. Landsch, H. Karnowski und I. Bystfina (Hg.), Kultur-Evolution. Fallstudien und Synthese, Frankfurt am Main 1992, 1-65. Vgl. Noam Chomsky, Reflections on Language, New York 1975, deutsch von G. Meggle, M. Ulkan, Reflexionen über die Sprache, Frankfurt am Main 1977.

81

I M Z E I C H E N DER Z E I C H E N

eigenes und innerhalb der Art universales natürliches Zeichensystem. 18 Nur bei erheblicher Störung der dafür erforderlichen Produktions- und Rezeptionsorgane wird sie ersetzt durch ein anderes System, zum Beispiel die Gebärdensprache der Artikulations- und Gehörgeschädigten. 19 Nun hat sich aber im Laufe der Menschheitsgeschichte um die Lautsprache herum eine Reihe von sprachnahen Kodes (siehe oben) etabliert, die jede Lautsprache heute als Kern eines umfangreichen Systems von Zeichensystemen innerhalb der Semiosphäre einer Kultur erscheinen lassen. Dieses sprachbezogene System von Zeichensystemen will ich Logosphäre nennen. 20 Jede heutige Lautsprache ist also eingebettet in die Logosphäre einer Kultur, die ihrerseits Teil der Semiosphäre der Menschheit ist. Auch jede historisch gegebene Lautsprache ist aber streng genommen mehr als ein einfaches System von Zeichen. Schon als Kinder lernen wir, in unserer Sprache schnell Varianten zu unterscheiden: die Herkunftsunterschiede anzeigenden Dialekte, die gesellschaftliche Unterschiede anzeigenden Soziolekte, die Sprecherunterschiede anzeigenden Idiolekte und die vergangene Sprachstadien anzeigenden veralteten Redewendungen. Eine Lautsprache ist, völlig abgesehen von den sprachnahen Kodes, also selbst schon ein ganzes Bündel von Zeichensystemen und nur als solches eingebettet in die Logosphäre ihrer Kultur. Diesen mehrfach gegliederten Kontext 21 will ich nutzen, wenn ich im folgenden über Sprache als 18

Vgl. Rudi Keller, Helmut Lüdtke, Kodewandel. In: Posner, Robering, Sebeok. (Hg.), Semiotik, wie Anm. 2, 450.

19

Vgl. Penny Boyes Braem, Einfiihrung Hamburg 1990.

20

Die Logo Sphäre sollte allerdings nicht mit dem Vorwurf des Logo zenlrismus verwechselt werden, den Jacques Derrida den abendländischen Kulturen macht (vgl. Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967, deutsch von Hans-Jörg Rheinberger, Hanns Zischler, Grammatologie, Frankfurt am Main 1985; siehe auch das Gespräch über Logozentrismus mit Julia Kristeva in Jacques Derrida, Positionen, hg. P. Engelmann, Wien 1986, 52-82). Jede menschliche Kultur der Welt hat eine Logosphäre entwickelt, Logozentrismus und Phonozentrismus kennzeichnen dagegen eine spezielle Auffassung von der sprachlichen Kommunikation, die sich, folgt man Derrida, in einigen der Kulturen gebildet hat, welche eine Silbenschrift oder eine Alphabetschrift benutzen. Diese Auffassung gesteht der Sprache einen metaphysischen Vorrang vor allen anderen Zeichensystemen sowie gesprochenen Äußerungen einen metaphysischen Vorrang vor schrifdichen Äußerungen zu. Nichts davon geschieht in dem von mir entwickelten Ansatz.

21

Seine Untersuchung ist Aufgabe einer Sprachökologie als Teil der Ökosemiotik. Vgl. Winfried Nöth, Ökosemiotik. In: Zeitschrift für Semiotik 18 (1996), 7-18; siehe auch

in die Gebärdensprache

und ihre

Erforschung,

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Roland Posner

semiotisches System spreche. Eine besondere Rolle werden dabei die sprachnahen Kodes spielen. Sie dienen dazu, lautsprachliche Äußerungen so umzukodieren, daß sich der Verwendungsspielraum der Sprache erweitert. Das gilt gleichermaßen für die Kodes der Schrift, des Gesangs und der Literatur. Und es gilt außerdem auch für die semiotischen Systeme der Zahldarstellung. All diese Kodes haben sich in engem Bezug zur Sprache entwickelt. Sie ergänzen sie nicht nur, sondern haben durch ihre gemeinsame Verwendung mit der Sprache in den letzten Jahrtausenden auch die Sprache stark verändert. Aus einer vergleichenden Analyse der Sprache und der sprachnahen Kodes lassen sich deshalb, wie ich zeigen möchte, interessante Rückschlüsse auf das Wesen der Sprache ziehen.

PERFORMANZAUFWAND : KOMPLEMENTARITÄT VON P R O D U K T I O N U N D

REZEPTION

Mein Hauptgesichtspunkt für die vergleichende Betrachtung der Sprache und der sprachnahen Kodes ist der Gedanke, daß wir mit Zeichensystemen Komplexität bewältigen, und zwar in unserem Verhältnis zueinander durch kommunikatives Handeln und in unserem Verhältnis zur Welt durch Kognition.22 Wenn sie ihren Zweck als Instrumente der Komplexitätsbewältigung erfüllen sollen, dürfen die Zeichensysteme selber nicht zu komplex werden. Der Verwendungszusammenhang der Zeichen wirkt dabei als ständiges Korrektiv. In welchem Maße die Struktur der sprachlichen Äußerungen durch deren Verwendung als Instrument der Kommunikation geprägt ist, machen Untersuchungen deutlich, die vor dreißig Jahren mein verehrter Lehrer Helmut Lüdtke an der Technischen Universität Berlin durchgeführt hat. 23 Die Ergebnisse waren so prägnant, daß wir uns seither angewöhnt haben, in Anspielung auf den Nürnberger Trichter von Lüdlkes Trichter zu sprechen: Sprachliche Ausdrücke, die vor Tausenden von Jahren oben eingespeist wurden, kommen, durch ihren ständigen Gebrauch

Roland Posner, Semiotic Pollution: Deliberations

towards an Ecology of Signs. In: Sign

Systems Studies 28 (2000), 290-308. 22

Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft

der Gesellschaft,

Frankfurt am Main 1997,

92 ff. 23

Vgl. Helmut Lüdtke, Sprache als kybernetisches (1970), 34-50.

System.

In: Bibliotheca Phonetica 9

IM ZEICHEN DER ZEICHEN

85

in systematischer Weise verformt, heute ganz anders wieder unten heraus. Folgendes Beispiel24 mag dies anschaulich machen. Wenn wir im Deutschen auf einen Tag verweisen wollen wie den, den wir gerade haben, so sagen wir „heute". Im Französischen sagen wir „aujourd'hui". Hui geht auf lateinisch hodie zurück - ein Wort, das als Kontraktion aus der Nominalgruppe im Ablativ hö die entstanden ist, welche soviel bedeutet wie „an diesem Tage". Auch das deutsche heute hat eine solche Etymologie; es stammt ab von althochdeutsch hiutu einem Wort, das als Kontraktion aus der Nominalgruppe im Instrumental hiu tagu (gotisch: himma daga) entstanden ist, welche bedeutet: „an diesem Tage". Warum aber sagen die jetzigen Franzosen nicht hui, sondern aujourd'hui, d.h. „am Tag {au jour) von (d') heute (hui)"? Um diesen und vergleichbare Befunde zu erklären, geht Lüdtke von der wohlbegründeten Feststellung aus, daß der Aufwand, den ein Sprecher für die Mitteilung einer gegebenen Information leisten muß, in allen Sprachen über die Jahrtausende hinweg weitgehend gleich geblieben ist.25 Um in einfacher Weise auf den jeweils gegenwärtigen Tag zu verweisen, benötigte der Römer drei Silben (ho + di + e), und auch der Franzose zweitausend Jahre später artikuliert genau drei Silben (au + jour + d'hui). Wenn das so ist, so darf man allerdings zu Recht fragen: Warum hat sich die Sprache überhaupt verändert? Die Antwort liegt im Verwendungszusammenhang der mündlichen Kommunikation. Sprecher sind mundfaul; sie versuchen eine Information mit dem geringstmöglichen Artikulationsaufwand von sich zu geben. Deshalb wurde lateinisch hö die auf dem Weg über hodie auf altfranzösisch hui reduziert. Hörer sind denkfaul; sie versuchen, eine gegebene Mitteilung mit dem geringstmöglichen Verstehensaufwand zu erfassen. Wenn es ihnen zu bunt wird, unterbrechen sie den Redefluß des Gesprächspartners und fragen: „Was hast du gesagt?" - „Hui." - „Und was meinst du damit?" - „Le jour d'hui." Um diesen unökonomischen Einschub zu vermeiden, verwenden Sprecher bei Wörtern, die (im Laufe der Sprachgeschichte) allzu kurz geraten sind, lieber gleich die deutlichere 24

25

Vgl. Helmut Lüdtke, Auf dem Weg zu einer Theorie des Sprachwandels. In: H. Lüdtke (Hg.), Kommunikationstheoretische Grundlagen des Sprachwandels, Berlin, New York 1980, 182-252, insbes. 208 f. So wird etwa die Formulierung für „Ich gebe dir Wasser", lateinisch aquam tibi dö, im heutigen Französisch durch je te donne de l'eau wiedergegeben. Der Lautung /akwä: tibi do: / mit ihren fünf Silben entspricht /3a ta dan da l'o:/ mit ebenfalls fünf Silben, aber teilweise reduziertem, teilweise neu hinzugekommenem Morphemmaterial.

84

Roland Posner

syntaktische Umschreibung. Auch diese läßt sich ja dann ohne Schaden wieder nachlässig artikulieren. Sie hat genügend morphologische Struktur, daß der Hörer das Wort auch bei mangelhafter Aussprache versteht, ohne nachfragen zu müssen. Lüdtkes Trichter reduziert voll verständliche Ausdrücke lautlich bis zu dem Punkt, an dem sie ohne Nachfrage kaum mehr verstanden werden, und ergänzt sie dann durch Einbettung in eine neue syntaktische Konstruktion derart, daß sie wieder auf Anhieb verständlich sind. Der kontinuierliche Lautschwund wird kompensiert durch diskontinuierliche Reparaturmaßnahmen auf morpho-syntaktischer Ebene. Eine solche Entwicklung ist für unser Beispiel übrigens auch im Deutschen absehbar, wie der inzwischen gebräuchlich gewordene Ausdruck heutigentags (kontrahiert aus heutigen Tages) belegt. Dieser Ausdruck hat mit vier Silben (heu + ti + gen + tags) die gleiche Länge wie althochdeutsch hi + u + ta + gu, und es ist nur eine Frage der Zeit - die allerdings in Jahrhunderten zu berechnen ist - , bis er unser Wörtchen heute verdrängt haben wird. Mit heutigentags, wie übrigens auch mit heutzutage, bezeichnen wir gegenwärtig zwar ein längeres Zeitintervall als mit aujourd'hui, aber das war einst auch bei aujourd'hui so und kann sich im Deutschen ebenfalls ändern. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die - inzwischen durchaus übliche - französische Formulierung au jour d'aujourd'hui für „heutzutage". Sie beruht auf dreimaliger Wiederholung der französischen bzw. lateinischen Form für „Tag": „*au jour d'au/'owrd' hö die" („am Tag von am Tag von an diesem Tag"). Anhand von Lüdtkes Trichter läßt sich leicht nachvollziehen, in welcher Weise die Tendenz zur Minimierung des Aufwands für die lautliche Artikulation generell die Struktur sprachlicher Äußerungen in mündlicher Kommunikation bestimmt. Er zeigt darüber hinaus, wie die millionenfache Wiederholung des gleichen Vorgangs schließlich auch zu einem Wandel des Sprachsystems führt. Die für effektive Kommunikation hinderlich gewordene reduzierte Form (hui) wird immer häufiger durch die syntaktisch expandierte Form ersetzt, bis sie als veraltet gilt und ganz verschwindet. 26 Es handelt sich hier um einen endogenen Sprachwandel, der sich unabhängig von etwaigen Einflüssen durch die Verwendung 26

Zur Häufigkeit des Wortgebrauchs als Faktor des Sprachwandels vgl. Gertraud FenkOczlon, Familiarity, Information Flow and Linguistic Form. In: J. Bybee, P. Hopper (ed.), Frequency and the Emergence of Linguistic Structure, Amsterdam 2001, 451-448.

IM Z E I C H E N D E R Z E I C H E N

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anderer Zeichensysteme vollzieht. Er tritt in allen Sprachen der Welt auf und läßt sich bei genügend weit zurückreichenden historischen Belegen überall nachweisen. Was den Lüdtkeschen Trichter in Gang hält, ist das Streben nach Zeichenökonomie, angewandt in Situationen mündlicher Kommunikation. Der Sprecher erhofft sich einen Vorteil davon, daß er dem Hörer eine Mitteilung macht, möchte den für die Zeichenproduktion erforderlichen kognitiven und artikulatorischen Aufwand aber möglichst gering halten: Er strebt nach Produktionsökonomie. Der Hörer erhofft sich einen Vorteil davon, daß er die Mitteilung des Sprechers versteht, möchte den für die Zeichenrezeption erforderlichen perzeptiven und kognitiven Aufwand aber ebenfalls so gering wie möglich halten: Er strebt nach Rezeptionsökonomie. Die beiden Kommunikationspartner haben also einerseits gemeinsame Interessen, denn sie wollen beide erreichen, daß die Kommunikation gelingt. Sie haben andererseits aber auch antagonistische Interessen, denn jeder will für den gemeinsamen Nutzen möglichst wenig bezahlen. Dieses Verhalten wird vom Partner jeweils bis zu einem gewissen Punkt toleriert. Denn wenn der Hörer kaum hinhört, kann der Sprecher seinen Aufwand verstärken und lauter sprechen bzw. deutlicher formulieren, damit die Mitteilung trotzdem ankommt. Und wenn der Sprecher nachlässig artikuliert, kann der Hörer versuchen zu rekonstruieren, was der Sprecher sagen wollte, indem er Schlüsse aus dem vorher Gesagten und aus dem Kontext der Gesprächssituation zieht. Mangelnder Rezeptionsaufwand läßt sich also durch verstärkten Produktionsaufwand kompensieren und umgekehrt. Der Aufwand von Sprecher und Hörer für eine gelungene Kommunikation kann sich in bestimmten Grenzen zwischen ihnen verschieben, doch bleibt die Summe der Aufwände konstant, die für das Gelingen der Kommunikation mindestens erforderlich ist. Es ist daher sinnvoll, ohne Differenzierung zwischen Sprecher und Hörer vom zu sprechen, den das Gelingen einer minimalen Peiformanzaufivand Kommunikation erfordert. In gleicher Weise läßt sich auch die Produktionsökonomie des Sprechers und die Rezeptionsökonomie des Hörers zur Performanzökonomie zusammenfassen. Wenn beide Kommunikationspartner in gleichem Maße am Gelingen der Kommunikation interessiert sind, lohnt es sich für keinen, seinen Anteil am Performanzaufwand so stark zu senken, daß der andere dies nicht mehr durch erhöhte Anstrengungen zu kompensieren vermag. Denn wenn der erste Mitteilungsversuch scheitert, wird eine Nachfrage

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Roland Posner

nötig, welche die Kosten für die Kommunikation auf beiden Seiten sprunghaft ansteigen läßt. Um dieses Risiko klein zu halten, wird jeder Kommunikationspartner etwas mehr Aufwand treiben, als unbedingt erforderlich ist. D e r Sprecher artikuliert zwar nur mit einem Mindestmaß an Präzision, gleicht dies aber durch eine syntaktisch relativ redundante Formulierung aus. Der Adressat hört zwar nur mit einem Mindestmaß an Aufmerksamkeit zu, gleicht dies aber durch die Antizipation dessen, was der Sprecher sagen könnte, und durch den Einsatz von Zusatzinformationen aus der Gesprächssituation aus. Dies ist die Konstellation, die Lüdtkes Trichter zugrunde liegt. Geeignete Meßverfahren vorausgesetzt, kann man versuchen, den Produktionsaufwand des Sprechers und den Rezeptionsaufwand des Adressaten miteinander zu vergleichen. Alle Kommunikationspartner tun dies intuitiv: Der Adressat kann recht gut beurteilen, wann die Aufwandsreduktion auf Seiten des Sprechers (zum Beispiel sein Nuscheln) für ihn unzumutbar wird; und auch der Sprecher kann abschätzen, wann die Aufwandsreduktion auf Seiten des Adressaten (zum Beispiel sein Schweifenlassen des Blicks) für ihn unzumutbar wird. Die Geschicklichkeit beider besteht darin, einen solchen Fall zu vermeiden. Im Idealfall streben beide nach einer gleichmäßigen Verteilung des gesamten Performanzaufwands auf die Produktionsseite und die Rezeptionsseite. Eine solche Performanzgleichgewicht. Aufwandsverteilung nennen wir Die Pointe von Lüdtkes Trichter liegt darin, daß er die Performanzökonomie für den Systemwandel der Sprache verantwortlich macht. Der Ubergang von der alten Ausdrucksvariante (hui) zur neuen (au jourd'hui > aujourd'hui) hat den Vorteil, daß er die Gefahr einer Störung des Performanzgleichgewichts beträchtlich verringert. Neben dem Performanzaufwand in der Verwendung von Sprache für kommunikative Zwecke (Kommunikationsaufwand) kann man auch den Performanzaufwand in der Verwendung von Sprache für kognitive Zwecke (Kognitionsaufwand) untersuchen. Und neben der Komplexität der Performanz in der Zeichenverwendung kann man auch die Komplexität des verwendeten Zeichensystems selbst untersuchen. Denn neben dem Streben nach Performanzökonomie gibt es auch ein Streben nach Systemökonomie. Das will ich jetzt zunächst am Beispiel der Zahldarstellung zeigen. Dabei wird es allerdings weniger um Systemwandel als u m Systemwechsel gehen.

IM Z E I C H E N DER

ZEICHEN

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ZAHLDARSTELLUNG

Alle europäischen Sprachen verfügen über Wortbildungsregeln zur Konstruktion von Bezeichnungen für die natürlichen Zahlen. Diese Regeln haben sich durch den wiederholten Wechsel der außersprachlichen Zahldarstellungssysteme im Lauf der Jahrtausende erheblich geändert. Bereits in der Antike wurde das Rechnen mit Mengenmaßen wie Schock, Stiege, Mandel und Dutzend (1 Schock = 60 Stück = 5 Stiegen = 4 Mandel = 5 Dutzend 27 ) ergänzt durch die Einführung von Zehnern und Zehnerpotenzen (eins, zwei, drei ...; zehn, zwanzig, dreißig ...; einhundert, zweihundert, dreihundert ...) entsprechend dem römischen Zahldarstellungssystem. Geringfügige Ausnahmen im System der heutigen Zahlwörter (wir sagen zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig ..., aber zehn, elf, zwölf) belegen noch die alte Konkurrenzsituation zwischen den beiden Zeichensystemen, und das im Französischen viel deutlicher als im Deutschen. 28 Seit dem 12. Jahrhundert kam zu den römischen Ziffern dann das indisch-arabische Zahldarstellungssystem hinzu, das sich zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert überall in Europa als führender Zahlenkode durchsetzte. Es hat in den europäischen Sprachen außer einem neuen Zahlwort (null) keine weiteren Spuren hinterlassen. Doch hat es durch das sprachunabhängige Operieren mit ihm als Symbolsystem neben den Sprachen ein eigenes Gewicht bekommen und konnte so zum Ausgangspunkt für die Symbolsysteme der Arithmetik und Algebra werden. Die Vorteile des indisch-arabischen Systems gegenüber dem römischen liegen auf der Hand. Es erlaubt Zahlen in beliebiger Höhe ohne Ad-hoc-Mittel darzustellen, während den römischen Ziffern schon bei einer Million die Zeichen ausgehen, Zahlen über 100 im Durchschnitt leichter zu schreiben und zu lesen,

der Zahl, 1, 2 1958, 165.

27

Vgl. Karl Menninger, Zahlwort und Ziffer. Eine Kulturgeschichte

28

Man vergleiche französisch cinq, six, sept, huit, neuf, dix, vingt, ... mit cinquante, soixante, soixante-dix, quatre-vingt, quatre-vingt-dix ... Siehe hierzu Menninger, Zahlwort und Ziffer, 1, wie Anm. 27, 78; vgl. auch James R. Hurford, The Linguistic Study of Numerais, Cambridge/GB 1975, sowie Heike Wiese, Zahl und Numerale. Eine Untersuchung zur Korrelation konzeptioneller und sprachlicher Strukturen, Berlin 1997.

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Operationen wie die Multiplikation und Division auf dem Papier auszuführen, während im römischen System das zweimalige Umkodieren der Zahlen vom Papier auf ein Rechengerät (den Abacus) und nach vollzogener Rechnung zurück auf das Papier erforderlich war. 29 Diese Vorteile waren sehr praktisch für die Verwaltung, den Handel und das Rankwesen und ermöglichten eine Leistungssteigerung ähnlichen Ausmaßes wie im 20. Jahrhundert die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung, die nicht nur bargeldlosen, sondern bald auch papierlosen Zahlungsverkehr zum Normalfall machen wird. Der Übergang zur indisch-arabischen Zahldarstellung hatte aber auch theoretische Konsequenzen, und diese sind in ihrer Tragweite ebenfalls mit der Einführung elektronischer Rechengeräte vergleichbar. Die neuen Zeichensysteme erlauben es, Zahlen nicht nur darzustellen, sondern auch direkt mit den Zahldarstellungen zu rechnen. Sie machen Zahlen zugänglich, die vorher unerreichbar schienen. Sie ermöglichen so Fragestellungen, die bis dahin gar nicht formuliert werden konnten. Der Aufschwung der theoretischen Mechanik mithilfe der Differentialrechnung und der theoretischen Astronomie mithilfe der Integralrechnung wäre auf der Rasis der römischen Ziffern unmöglich gewesen, ähnlich wie heute die Reweisverfahren der computerbasierten Mathematik auf der Rasis des Rechnens mit Rleistift und Papier unmöglich wären. Diese Entwicklung zeigt, wie wesentlich ein leistungsfähiges Zeichensystem für die praktische Erschließung und theoretische Durchdringung eines Gegenstandsbereiches ist. Es schafft dem Handeln und dem Denken Spielraum 30 und steckt ihnen zugleich Grenzen. Da systemüberschreitende Mitteilungen auf Ad-hoc-Mittel angewiesen sind, erhöht sich die Komplexität ihrer Formulierung schnell in einem Maße, das von weitergehenden Aufgabenstellungen abschreckt. Man denke nur an die Frage, warum die Griechen, deren Geometrie zwei Jahrtausende lang unübertroffen war, in der Arithmetik so weit hinter den Babyloniern zurückgeblieben sind. Oder an die Frage, warum die Chinesen, die das Schießpulver und das Porzellan lange vor den Europäern erfunden hatten, jene theoretischen Entdeckungen, die die industrielle Revolution ermöglichten, den Europäern überließen.

29 50

Vgl. Posner, Die Zahlen und ihre Zeichen, wie Anm. 8. Vgl. Roland Posner, Denkmittel als Kommunikationsmittel. 17 (1995), 247-256.

In: Zeitschrift für Semiotik

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Die Antworten auf beide Fragen haben mit der Zahldarstellung zu tun. 31 Zeichen und Kultur sind aufeinander angewiesen wie Gerüst und Ranken einer Kletterpflanze, wo das Gerüst erweitert werden muß, wenn die Ranken den alten Rahmen an zu vielen Stellen verlassen haben, und die Ranken nicht über ein bestimmtes Maß hinaus weiter wachsen, wenn sie nicht vom Gerüst gestützt werden. Allerdings ist die Ersetzung des alten Gerüsts durch ein neues mit Kosten verbunden - Kosten, die so hoch sein können, daß sie sich für den zu erwartenden Nutzen nicht zu lohnen scheinen. Schon zu Beginn der Neuzeit gab es bittere Auseinandersetzungen zwischen den Neuerern und denen, die mit den römischen Ziffern weiterarbeiten wollten. Für die Zahlen, die sich an den Fingern beider Hände ablesen lassen, hatten die Römer einfache Zeichenkombinationen benutzt, die durch die Vorstellung von der Hand als Zusammenfassung von fünf Einheiten gestützt waren. Nun mußten neue Grundzeichen an ihrer Stelle gelernt werden, die ohne jede Beziehung zu Fingern und Händen zu sein schienen: 2 für II, 3 für III, 4 für IV, 5 für V, 6 für VIusw. Doch waren darüber hinaus auch konzeptuelle Neuerungen von bis dahin unerhörter Art zu bewältigen: (1) Kontextabhängige Referenz: Die römischen Ziffern haben einen konstanten Zahlenwert (/bezeichnet überall 1, Vbezeichnet überall 5), während die 1 und die 5 in 125 und in 521 in Abhängigkeit von ihrer Stellung für ganz verschiedene Zahlen zu stehen scheinen. (2) Neue Interpretationsweisen für die Kombination von Zeichen zu komplexen Zeichen: Während die römische Zahldarstellung mit der Addition und der Subtraktion der Werte von manifest vorkommenden Grundzeichen auskommt {VI bezeichnet V addiert zu I, IV bezeichnet I subtrahiert von V), erfordert die indisch-arabische Zahldarstellung zusätzlich zur Addition eine höhere Rechnungsart, die Multiplikation, welche den Stellenwert der beteiligten Grundzeichen ermitteln hilft (in 25 wird von rechts nach links gehend das Produkt von 5 und 10° zu dem Produkt von 2 und 101 addiert, in 125 wird das Produkt von 5 und 10° zu dem Produkt von 2 und 101 und dem Produkt von 1 und 102 addiert). 52 51

52

Vgl. Menninger, Zahlwort und Ziffer, wie Anm. 27, sowie das Kapitel „Vom Sinn der Zahlen" in Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes (1923), München 1979, 71-124. Vgl. die Umständlichkeit, mit der Adam Riese in seinem Schulbuch Rechnung auffder Linien unnd Federn / Auff allerley Handtierung, Frankfurt am Main 1525, 6, den Stel-

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Roland Posner

(3) Ziffern, die nichts zu bezeichnen scheinen: Der Status der Null in der indisch-arabischen Zahldarstellung war für den damaligen Alltagsverstand am schwersten zu verkraften. Daß die Hinzufügung von Nichts (0) zu etwas (z.B. 2) sich im Falle von 20 verzehnfachend auswirken solle, erschien den Zeitgenossen Adam Rieses (1492-1559) als Teufelswerk. Die semiotische Ratlosigkeit gegenüber der Null, einem Zeichen, in dem sich Etwas (als Zeichenträger) mit Nichts (als Wert) verband, um Vielfache (durch Kombination mit anderen Zahlzeichen) zu erzeugen, hat dazu geführt, daß das arabische Wort für die Null as-sifr, sich in den europäischen Nationalsprachen zum Ausdruck für Unverständliches, Geheimnisvolles, mit magischen Kräften Ausgestattetes entwickelte: zur Chiffre. Trotz dieser Schwierigkeiten hat die indisch-arabische Zahldarstellung die römischen Ziffern verdrängt. Sie hat sich zu einem der wenigen weltumspannend verwendeten ideographischen Zeichensysteme entwickelt, und ihr Gebrauch erscheint uns heute so selbstverständlich, daß wir dazu neigen, die Skrupel unserer Vorfahren für absurd zu halten, und sie mühsam rekonstruieren müssen, um sie nachvollziehen zu können.

SYSTEMAUFWAND : KOMPLEMENTARITÄT VON REPERTOIRE U N D

REGELN

Was im Bereich der Zahldarstellung gelungen ist, steht uns, will man Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) glauben, im Bereich der Sprache noch bevor. Sowohl beim Erstspracherwerb als auch beim Erlernen einer Zweitsprache in der Schule stolpern die Kinder in allen Ländern seit Jahrhunderten über sogenannte „Ausnahmen": Wir sagen im Deutschen einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig ..., aber nicht * einundzehn, * zweiundzehn, * dreiundzehn ...; wir bilden zu dem Präsens Peter siegt das Präteritum Peter siegte, dürfen aber zu Peter liegt nicht * Peter liegte und zu Peter biegt nicht *Peter biegte bilden. Wenn die Schüler die lenwert der Ziffern erläutert: „Numerirn heyst zelen / leret wie man iegliche zal schreiben und außsprechen sol / darzu gehoern zehen figurn also beschriben / 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 0. Die ersten neun sind bedeutlich / die zehend gilt alleyn nichts / sonder so sie andern fürgesetzt wirt / macht sie die selbigen mehr bedeuten / Und solt wissen das ein iegliche undergesatzte figur an der ersten stat / das ist gegen der rechten handt bedeut sich selbs / An der andern gegen der lincken handt sovil zehen / an der dritten sovil hundert / und an der vierdten sovil tausent".

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ZEICHEN

Regelsysteme für die Wortbildung und die Wortflexion in dieser Weise vereinfachen, kreiden die Lehrer es ihnen als „Fehler" an, und die Psychologen diagnostizieren „Übergeneralisierung". 35 Würde die vorhergehende Generation ihre Idiosynkrasien nicht auf diese Weise so zäh verteidigen (siehe auch den gegenwärtigen Streit um die Rechtschreibreform), so hätten die Sprachlerner das Sprachsystem längst so stark vereinfacht, daß der Aufwand für seine Erlernung nur einen Bruchteil des heutigen Aufwands ausmachen würde. Beim Lernen einer Sprache scheut man überflüssigen Aufwand in demselben Maße wie bei ihrer Anwendung in gewöhnlicher Kommunikation. Den Aufwand für die Aneignung sprachlicher Grundzeichen (Wörter bzw. Morpheme) und grammatischer Regeln sowie die Belastung des Gedächtnisses durch sie kann man als Systemaufwand zusammenfassen. Der Systemaufwand ist abhängig von der Komplexität eines Zeichensystems, und diese bemißt sich im wesentlichen nach der Größe des Zeichenrepertoires und der Zahl der Regeln für die Kombination der Grundzeichen. Ausnahmen von Regeln erhöhen den Systemaufwand durch den Zwang zum Erlernen zusätzlicher Grundzeichen (wie elf und zwölf) bzw. zur Aneignung von Regeln mit minimalem Anwendungsbereich (wie etwa: „Verben, deren Stammsilbe auf -ing auslautet, bilden das Präteritum nicht durch Hinzufügung von -t, sondern durch Veränderung des Stammvokals zu a, weshalb es nicht *singte, *springte, *schwingte heißt, sondern sang, sprang, schwang"). Es ist klar, daß ein Zeichensystem mit weniger Grundzeichen und mit weniger Regeln bei gleicher Leistung ökonomischer ist als das Ausgangssystem. In diesem Sinne streben alle Sprachlerner nach Systemökonomie. Bei der Behandlung der Performanzökonomie haben wir vom Performanzgleichgewicht gesprochen, das zwischen Sprecher und Hörer besteht, wenn der notwendige Aufwand für das Gelingen einer Kommunikation gleichmäßig auf sie verteilt ist. Analog kann man in einem Zeichensystem von einem Systemgleichgewicht sprechen, wenn der notwendige Aufwand für das Erlernen des Systems gleichmäßig auf das Zeichenrepertoire und das Regelsystem verteilt ist. Dies läßt sich wiederum gut am Teilsystem der Zahlwörter des Deutschen zeigen. Wenn die Zahlen von 11 bis 19 wie bei einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig ... nach dem Schema Einer-urco?- Zehner durch * einundzehn, 33

Vgl. William C. Watt, Grade der Systemhafiigkeit. schrift. In: Zeitschrift für Semiotik 5 (1983), 377 f.

Zur Homogenität

der Alphabet-

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*zweiundzehn, *dreiundzehn, ... *neunundzehn) bezeichnet würden, könnte der Lerner des Deutschen den Anwendungsbereich der Wortbildungsregel für die Bezeichnung der Zahlen von 20 bis 99 auf die Zahlen von 11 bis 99 erweitern. So aber hat er nur die Wahl, entweder neun zusätzliche Grundzeichen zu lernen ( e l f , zwölf, dreizehn, ... neunzehn) oder zwei Grundzeichen ( e l f , zwölf) zu lernen und sich eine Regel anzueignen, die nur für die sieben Zahlwörter von dreizehn bis neunzehn gilt: „Die Zahlwörter zur Bezeichnung von 13 bis 19 werden ohne Verwendung von und einfach nach dem Schema Einer-Zehner gebildet." Das Spezialproblem, ob es effektiver ist, diese Lernaufgabe, die das heutige Deutsch dem Lerner stellt, durch das Lernen von sieben zusätzlichen Grundzeichen oder einer Regel mit extrem eingeschränktem Anwendungsbereich zu lösen, ist eine Frage, die das Systemgleichgewicht betrifft. Die Antwort hängt davon ab, wie sich das Aufwandsmaß für das Lernen eines Grundzeichens zu dem Aufwandsmaß für das Lernen einer Regel verhält. Ist das Lernen einer Regel nicht aufwendiger als das Lernen eines Grundzeichens, so lohnt es sich in unserem Fall, die Regel zu lernen und die betreffenden sieben Zahlwörter als komplexe Zeichen zu behandeln. Die Vermutung, daß sich Sprachen, die nicht durch lange Tradition und staatliche Institutionen wie das Schulsystem reglementiert werden, schnell zu größerer Systemökonomie hin entwickeln, wird durch die Kreolsprachen belegt. Kreolsprachen entstehen in jenen Gegenden der Welt, in denen Menschen ohne gemeinsame Sprache gezwungen sind, ein Verständigungsmittel zu schaffen, das umfassende Kommunikation ermöglicht, ohne an die Normen einer traditionellen Kultursprache gebunden zu sein. 34 Je mehr in einer Kreolsprache kommuniziert wird, um so mehr steigert sich ihre Leistungsfähigkeit und um so mehr Regeln entwickelt sie. Trotzdem ergibt sich in diesem Stadium der Sprachentwicklung selten eine Notwendigkeit zur Beseitigung von Ausnahmen. Kreolsprachen stellen Anforderungen an Linguisten wegen ihres Bedarfs an Standardisierung und Verschriftlichung, nicht aber an grammatischer Vereinfachung. Den staatlich verwalteten und durch lange Traditionen gebundenen alten Kulturen steht der Weg zur Verbesserung der Systemökonomie ihrer Sprachen durch die spontane Entwicklung von Kreolsprachen nicht offen. Entsprechend vielfaltig sind daher die Vorschläge, wie man jede 54

Vgl. Peter Mühlhäusler, Pidgin and Creole Linguistics, Oxford 1986.

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Nationalsprache für sich oder alle zusammen durch sprachplanerische Eingriffe 35 von oben auf ein gleich leistungsfähiges, aber leichter erlernbares Zeichensystem reduzieren könne. In Europa haben Vorschläge dieser Art besonders seit der Ablösung der mittelalterlichen Universalsprache Latein durch das Französische im 17. Jahrhundert zugenommen, und ihre Analyse liefert nicht nur Aufschlüsse über die jeweils maßgeblichen politischen Zielsetzungen, sondern auch über den jeweiligen Stand von Zeichentheorie und Sprachwissenschaft. Meist waren es eher die mit diesen Vorschlägen verbundenen semiotischen Mißverständnisse, die bis ins allgemeine Bewußtsein drangen. So ist es zu erklären, daß trotz hundertjähriger intensiver Bemühungen theoretischer und organisatorischer Art die sogenannten Welthilfssprachen Volapük, Esperanto und Ido von einer besonderen Aura des Geheimnisvollen umgeben sind, die an die Mystifizierung der indischarabischen Zahldarstellung in der frühen Neuzeit erinnert. Die gegenwärtig erfolgreichste dieser Bewegungen, das Esperanto, hat inzwischen unzählige (mehr oder weniger kompetente) Sprecher, die vorwiegend in den kleineren Sprachgemeinschaften Europas und Asiens leben, und verfügt über 40.000 Bände mit original in Esperanto verfaßten oder ins Esperanto übersetzten Texten, die in London, Rotterdam und La-Chauxde-Fonds (Schweiz) verfügbar gehalten werden. 36 Der Durchschnittseuropäer oder -amerikaner assoziiert aber, wenn man ihn nach Volapük, Esperanto oder Ido fragt, eher „Abracadabra" oder „Simsalabim". Abgesehen von den Schwierigkeiten ihrer praktischen Durchsetzung haben die internationalen Plansprachen jedoch theoretische Aspekte, die eine Auseinandersetzung für Zeichentheoretiker sehr lohnend erscheinen lassen.

35

Vgl. Otto Back, Plansprachen. wie Anm. 3, 881-887. Siehe Realität, Brüssel 1998 sowie sophischen Universalsprache (2000), 369-385.

In: Goebl, Neide, Stary, Wölck (Hg.), Kontaktlinguistik, auch Klaus Schubert (Hg.), Plansprachen. Vom Plan zur Alexander D. Duliöenko, Uber die Prinzipien einer philovon Jakob Linzbach. In: Zeitschrift für Semiotik 22

36

Vgl. Tazio Carlevaro, Günter Lobin (Hg.), Einführung in die Interlinguistik, Bergstraße 1979, 130 sowie Back, Plansprachen, wie Anm. 35, 885.

Alsbach,

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SCHRIFT

Die Geschichte der Sprachplanung ist eng mit der Geschichte der sprachnahen Kodes und mit der Geschichte der Sprachwissenschaft verbunden. Die wichtigsten sprachnahen Kodes sind die verschiedenen Schriftsysteme der Welt.37 Sie haben die Möglichkeiten der Sprachverwendung in den letzten Jahrtausenden enorm erweitert und dabei die Struktur des Sprachsystems in ähnlicher Weise geprägt wie die mündliche Kommunikation. Schrift macht sprachliche Äußerungen auch außerhalb ihrer Entstehungssituation verfügbar und hilft den Menschen so, die Kontextgebundenheit des Sprechens zu überwinden. Nicht nur Verwaltung und Wissenschaft, Literatur und Philosophie, auch die Sprachplanung hätte sich ohne schriftliche Aufzeichnungsverfahren niemals zu ihrem heutigen Stand entwickeln können. Alle Plansprachen sind in irgendeinem Sinne Schriftsprachen. Umgekehrt ist aber bereits die Wahl des Verschriftungssystems eine Entscheidung, die nicht nur die Sprachverwendung, sondern auch das Sprachsystem in ähnlich gravierender Weise beeinflußt wie alle weitergehenden sprachplanerischen Vorschläge. Das zeigt sich deutlich, wenn man die Entwicklung der europäischen Schriftsprachen zu ihrem Ausgangspunkt zurückverfolgt, der Erfindung des Alphabets im zweiten Jahrtausend vor Christus. Wer sprachliche Äußerungen fixieren will, kann sich weder auf eine reine Gedankenschrift verlassen wie die Ideogramme der Azteken oder Mayas noch auf eine Wortschrift wie die Logogramme der Chinesen, er muß eine Lautschrift wählen. Die natürlichste Lautschrift ist ein syllabischer Kode, d.h. eine Verschriftung, die die Lautkomplexe sprachlicher Äußerungen in Folgen von Silben zerlegt und jeder Silbe eine Schriftfigur zuordnet. Kinder in aller Welt, die ihre Sätze rhythmisch in Sprechchören skandieren, zerlegen sie ohne Schwierigkeiten in Silbenketten. Silbenschriften sind an vielen Stellen der Welt unabhängig voneinander entstanden. Trotzdem sind die heute in der Welt vorherrschenden Lautschriften keine Silbenschriften, sondern Buchstabenschriften. Dieser Verschrif37

Vgl. Florian Coulmas, The Writing Systems ofthe World, Oxford 1989; Jack Goody, The Logic of Writing and the Organisation of Society, C a m b r i d g e / G B 1986, deutsch von Uwe Opolka, Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, Frankfurt a m Main 1990.

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tungstyp bleibt bei der Zerlegung sprachlicher Äußerungen nicht auf der Silbenebene stehen, sondern rekonstruiert jede Silbe als Folge von kleineren Lautsegmenten und ordnet jedem dieser Lautsegmente eine Schriftfigur zu: einen Buchstaben. Anders als die Auffindung von Silben bereitet Kindern die Auffindung dieser Lautsegmente große Schwierigkeiten, die in mehrjährigem Schulunterricht mühsam überwunden werden müssen. Das ist auch gar nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß buchstabeninduzierte Lautsegmente oft (z.B. in Diphthongen oder Affrikaten) weder als physikalische Segmente des Lautstroms akustisch nachgewiesen noch ohne weiteres als Teile des Wahrnehmungseindrucks auditiv isoliert werden können. Weder läßt sich jeder sprachliche Lautkomplex lückenlos und überschneidungsfrei in eine Folge von subsyllabischen Segmenten zerlegen, von denen jedes für sich reproduziert als bestimmter Sprachlaut erkennbar wäre, noch läßt sich jedem Buchstaben eines in Buchstabenschrift geschriebenen Wortes in allen Wörtern dieselbe akustische oder auditive Erscheinung zuordnen.38 Dieser Mangel ist nicht auf naturwüchsig entstandene Schriften beschränkt, er gilt auch für die von Linguisten postulierten Lautsysteme. Subsyllabische Sprachlaute sind kulturelle Konstrukte, die die Kulturtechnik des Buchstabierens nahegelegt hat.59 Wer ein Wort in buchstabeninduzierte Lautsegmente analysiert, entdeckt nicht etwa dessen immanente Lautstruktur, sondern fuhrt eine kulturellen Konventionen entsprechende Kodierung ein. Wie konnte ein Verschriftungstyp, der so unnatürlich ist und so stark in die Lautstruktur der Wörter aller Sprachen eingreift wie die Buchstabenschrift, überhaupt entstehen? Und wieso hat er sich nach seiner Entstehung über die ganze Welt verbreitet? Die Antwort auf diese beiden Fragen ergibt sich wiederum aus Überlegungen über den Aufwand bei der Benutzung von Zeichensystemen, und zwar den Systemaufwand ebenso wie den Performanzaufwand. Zunächst zur Frage der Entstehung. Wenn es keine lautliche Basis für die Buchstabenschrift gibt, so muß ihre sprachliche Grundlage woanders

38

Vgl. z. B. Herbert Pilch, Phonetics, Phonemics andMetaphonemics. (ed.), Proceedings of the 9th International Congress of Linguists Paris, Den Haag 1964, 900-904.

39

Vgl. Peter Ladefoged, The Perception of Speech. In: National Physical Laboratory / Great Britain (ed.), Mechanisation of Thought Processes 1, Symposia 10, London 1959, 401.

In: Horace G. Lunt in Cambridge/MA,

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gesucht werden.'10 Das Alphabet ist eine semitische Erfindung, und die semitischen Sprachen sind flektierende Sprachen, die alle eine grammatische Besonderheit gemeinsam haben: Das Silbengerüst eines Wortes, das in den semitischen Sprachen meist aus drei Silben besteht, bleibt fast ausnahmslos bei der Konjugation und Deklination (ja auch bei verbalen und nominalen Ableitungen) in Gestalt einer Wurzel erhalten, während die Vokale Veränderungen unterworfen sind (und außerdem Suffixe, Präfixe und Infixe hinzugefügt werden). So lassen sich etwa im Arabischen41 aus dem lexikalischen Morphem ktb, das soviel wie „schreiben" bedeutet, folgende Wortformen bilden: kataba „er schrieb", uktub „schreibe", kitäb „Geschriebenes, Buch", kutübi „Händler mit Geschriebenem, Buchhändler".

Während das lexikalische Morphem und damit der Bedeutungsteil „schreiben" in allen Wortformen erhalten bleibt, wechseln in ihnen die Vokale und, dadurch bedingt, die grammatischen Zusatzbedeutungen. In den semitischen Sprachen sind die Vokale also in zweierlei Sinn beweglich: (a) phonetisch: Sie lassen sich in den meisten Silben nicht eindeutig als zeitliche Segmente im Lautstrom fixieren; (b) grammatisch: Sie sind je nach Flexions- oder Ableitungsform eines Wortes verschieden. Dagegen wäre einem Schreiber, der die Wortflexion indoeuropäischer Sprachen erfassen wollte, die Gegenüberstellung von Vokalen und anderen subsyllabischen Lautsegmenten gar nicht in den Sinn gekommen. Denn das maßgebliche Kriterium dafür war ein grammatisches (b), das aus einer Grammatik stammte, die für indoeuropäische Sprachen keine systematische Gültigkeit besaß. Für die Phönizier aber war die Unterscheidung der Vokale vom Rest der sprachlichen Lautkomplexe eine natürliche Angelegenheit. Sie notierten alle oben aufgeführten Wortformen unter Abstraktion von den Vokalen in gleicher Weise als ktb. Dabei ist es wichtig, daß Ausdrücke 40 41

Vgl. Helmut Lüdtke, Die Alphabetschrifi und das Problem der Lautsegmentierung. In: Phonetica 20 (1969), 147-176. Vgl. Wolfgang Röllig, Die Keilschrift und die Anfange der Alphabetschrifi. In: Studium Generale 18 (1965), 729-742.

IM ZEICHEN DER ZEICHEN

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dieser Art zunächst als Silbenfolgen mit Leerstellen verstanden wurden, die unnotiert gelassen wurden, da sie je nach Flexion des betreffenden Wortes von verschiedenen Vokalen (oder gar nicht) gefüllt wurden. Auch die phönizische Schrift war in ihren Anfängen somit eine Silbenschrift, die der grammatischen Struktur der semitischen Sprachen angepaßt wurde, indem sie die bei der Wortflexion wechselnden Elemente unbezeichnet ließ. Erst die Griechen machten bei der Übernahme der phönizischen Schrift zu Beginn des ersten Jahrtausends vor Christus aus der grammatisch modifizierten Silbenschrift eine genuine Buchstabenschrift, indem sie bestimmte Silbenzeichen der Phönizier den Erfordernissen ihrer indoeuropäischen Sprache folgend umdeuteten. Dies läßt sich bereits am ersten Buchstaben des phönizischen Alphabets (gesprochen phönizisch Aleph, griechisch Alpha, lateinisch A) zeigen. Er stand bei den Phöniziern für Silben, die mit dem Glottisverschluß (wie im Deutschen bei be'achten) anlauteten (z.B.'a, % 'u). Entsprechend der phönizischen Nennform für diesen Buchstaben Aleph gaben die Griechen, in deren Sprache der Glottisverschluß keine systematische Rolle spielt, ihm dem Lautwert a. In ähnlicher Weise entstand griechisch Jota, lateinisch i, aus phönizisch Jod sowie griechisch Omikron, lateinisch o aus phönizisch Ayin usw.42 Erst die grammatisch bedingte Trennung von beweglichen und stillstehenden Silbenteilen bei den Phöniziern und die Einführung von Schriftzeichen zur expliziten Notierung auch der (im Semitischen phonetisch und grammatisch und im Griechischen nur phonetisch) beweglichen Silbenteile hat die Buchstabenschrift ermöglicht. Diese Entwicklung war ein eminent semiotischer Vorgang: Eine sprachspezifische Erfindung und ihre spätere Anpassung an die Verhältnisse anderer Sprachen, also ein praktisches Instrument der Lautfixierung hat durch seine ständige Verwendung auch die Wahrnehmungsweise für die Lautsprache grundlegend geändert. (a) Bereits die antiken Grammatiker rationalisierten die Einführung der Buchstabenschrift, indem sie behaupteten, die Vokale seien die Ubergänge und die Konsonanten die Haltepunkte in den Silben; im Hebräischen bezeichnet man noch heute die Vokale (deutsch Selbstlaute) als „Bewegliche" und die Konsonanten (deutsch Mitlaute) als „Stillstehende". 42

Vgl. Lilian H. Jeffeiy, The Local Scripts of Archaic Greece, Oxford 1961, 2 ff.

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(b) Durch Rückprojektion der griechisch-lateinischen Schriftstruktur in die Lautstruktur der Wörter hat sich in dreitausendjähriger Schreibpraxis die Auffassung festgesetzt, gesprochene Wörter seien wie ihre geschriebenen Gegenstücke Ketten gleichartiger Elemente; die Einübung des Buchstabierens in den Grundschulen hat dazu geführt, daß der durchschnittliche alphabetisierte Europäer in den Wörtern auch unterhalb der Silbenebene tatsächlich Lautfolgen „hört". Aus einer physikalisch nicht vorhandenen und daher in der Akustik nicht aufzeichenbaren Konstruktion, der ursprünglich auch in der Wahrnehmung von Sprechern der indoeuropäischen Sprachen nichts entsprach, ist durch den Einfluß eines sprachnahen Kodes eine psychische Realität geworden. Nicht genug damit, daß alphabetisierte Laien aus ihren Wörtern subjektiv die Struktur der Buchstabenfolgen herauszuhören glauben, auch die Sprachwissenschaftler der buchstabierenden Kulturen, die den skizzierten Vorgang eigentlich von Anfang an hätten durchschauen und wissenschaftlich analysieren müssen, sind seiner Suggestivkraft lange Zeit erlegen. Saussure 43 sieht zwar, daß der Lautstrom („ruban amorphe") in sich betrachtet keine Anhaltspunkte für eine systematische Segmentierung unterhalb der Silbenebene liefert; das hält ihn aber nicht davon ab, zu behaupten, daß der Lautstrom sich für jeden, der wisse, welche Funktionen seine Segmente haben, in eine Kette von isolierbaren Lauten („chaîne phonique") strukturieren lasse. Die Entwicklung der Lautlehre zum Analyseverfahren für die Ermittlung von Phonemen in ihren Versionen als Phonologie44, Phonemik45 und Phonematik46 hat dann das Buchstabierverfahren in verfeinerter Form zur linguistischen Methode erhoben: Phoneme sind morphemunterscheidende Lautkomplexe, die buchstabenanalog als Lautsegmente aufgefaßt werden. Erst die technische Verbesserung der akustischen Phonetik und die immer deutlicher werdende Unmöglichkeit, die Phoneme einer Sprache auf physikalischem Wege akustisch darzustellen, hat die Phonemanalyse 45 44 45

46

Vgl. Saussure, Grundfragen, wie Anm. 1, 145. Vgl. Nicolaj S. Trubetzkoy, Grundzüge der Phonologie (1939), Göttingen 2 1958. Vgl. Leonard Bloomfield, Language, New York 1953, deutsch von P. Ernst und H. Ch. Luschützky, Die Sprache, Wien 2001; siehe auch Kenneth L . Pike, Phonemics: A Techniquefor Reducing Lartguages io Wriling, Ann Arbor/MI 1947. Vgl. Hjelmslev, Prolegomeni!, wie Anm. 1, sowie André Martinet, Eléments de linguistique générale, Paris 1960, deutsch von Anna Fuchs, Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft, Stuttgart 1963.

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als das entlarvt, was sie ist: eine nützliche Kulturtechnik, keine wissenschaftliche Beschreibung einer kulturunabhängigen sprachlichen Realität.47 Diesen Längsschnitt durch die Geschichte der Lautverschriftung habe ich deshalb bis in solche Einzelheiten hinein skizziert, um zu zeigen, wie sehr wir - dem jeweiligen linguistischen Wissensstand bzw. Wissensmangel entsprechend - Sprachmystifikationen ausgeliefert sind. Eine typische Mystifikation vieler Phonologen, Phonemiker und Phonematiker ist die Auffassung, Phoneme hätten zwar manchmal subphonemische Varianten, diese seien aber theoretisch zu vernachlässigen, praktisch unnötig und eher schädlich für die reibungslose Kommunikation. Dieses durch die Beschreibungstechnik nahegelegte Mißverständnis hat dazu geführt, daß man dem Systemwandel auf der lautlichen Ebene verständnislos gegenüberstand und dazu neigte, ihn als Unfall der Sprachgeschichte aus der Sprachbeschreibung auszuklammern. Es hat weiterhin dazu geführt, daß man die variantenloseste Sprache als die beste Sprache ansah. An diesem Punkt werden diese Überlegungen für die Beurteilung der sprachplanerischen Bemühungen relevant: Viele Sprachplaner wollten ausgehend von der Schrift allen Ernstes Sprachen schaffen, in denen jeder Buchstabe an allen Orten, wo er vorkommt, dieselbe Aussprache haben sollte. Eine typische Formulierung dieses Ideals steht in der von Louis Couturat approbierten Vollständigen Grammatik der Internationalen Sprache von Louis de Beaufront: „Alle übrigen Buchstaben des oben aufgeführten Alphabets werden wie in gutem Deutsch ausgesprochen, und zwar immer gleich, welches auch ihre Stellung im Worte sei."48 Dies ist ein Vorschlag, der ein phonetisches Unding postuliert. Er ist für den Artikulationsapparat des Menschen nicht realisierbar. Realisiert wurde er durch die bis weit in die achtziger Jahre hinein benutzten übervereinfacht konstruierten Maschinen zur synthetischen Spracherzeugung. Sie werden heute immer mehr durch Geräte ersetzt, die eine Diphon- oder Triphonanalyse anwenden und somit syllabisch arbeiten.49 Die flagrante Verletzung von Prinzipien der natürlichen Aussprache hat die Produkte 47 48 49

Vgl. Lüdtke, Die Alphabelschrifi, wie Anm. 40, 148 ff. Vgl. Louis de Beaufront, Lingua internada di la Delegitaro, London 1908, deutsch von R. Thomann, Vollständige Grammatik der Internationalen Sprache, Stuttgart 1908, 8. Vgl. Jean P. Tubach (ed.), La parole et son traitement automatique par CALLIOPE, Paris 1989.

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der veralteten Maschinen zu einem Symbol der Faszination und der Vergewaltigung durch den technischen Fortschritt gemacht, was klassische Songs des Elektronik-Rock zeigen - wie beispielsweise Wir sind die Roboter ... der Gruppe Kraftwerk aus dem Jahre 1978.

KODIERUNGSAUFWAND : KOMPLEMENTARITÄT VON SYSTEMAUFWAND U N D

PERFORMANZAUFWAND

Die Buchstabenschrift ist nach den Phöniziern kein zweites Mal erfunden worden. Aber sie hat sich gehalten und in den Varietäten der griechischen, lateinischen, kyrillischen und der arabischen, hebräischen, persischen und indischen Alphabetschriften über die ganze Welt verbreitet. Wie ist das zu erklären? Der Hauptvorteil der Alphabetschriften gegenüber anderen Verschriftungstypen liegt nicht in ihrer Lauttreue, sondern in ihrer Ökonomie. Dies läßt sich leicht zeigen, wenn man den Aufwand vergleicht, der für die Erlernung und den Gebrauch verschiedener Verschriftungstypen erforderlich ist. Nehmen wir als Modell für diese Betrachtungsweise zunächst wieder die Zahldarstellung.50 Um die Zahlen bis 10.000 darzustellen, benötigten antike Kodes wie die ägyptischen Hieroglyphen und die römischen Ziffern eine Reihe von Grundzeichen; die Ägypter kamen mit 5 Zeichen aus, die Römer benötigten 10. Die Bildung komplexer Zahlzeichen richtete sich in beiden Kodes nach einer einfachen syntaktischen Regel (Juxtaposition). Für die Interpretation komplexer Zahlzeichen genügte den Ägyptern eine einfache semantische Regel (Addition der Werte der Bestandteile), die Römer brauchten zwei (Addition oder Substraktion der Werte der Bestandteile, je nach deren Größenverhältnis). Der größere Systemaufwand (doppelt so viele Grundzeichen, doppelt so viele semantische Regeln) zahlte sich jedoch für die Römer in der Veränderung des Performanzaufwands für die Produktion und Rezeption der Zahlzeichen unmittelbar aus: Zur Darstellung der Zahl 2.407 brauchten die Ägypter 15 (11****1111111), die Römer nur 7 (MMCDVII) Grundzeichen. Systemaufwand und Performanzaufwand verhalten sich also umgekehrt proportional zueinander: Je mehr jemand investiert, um eine sich wiederholende Aufgabe zu vereinfachen, um so weniger wird er für ihre tägliche 50

Vgl. Roland Posner, Die Zahlen und ihre Zeichen, wie Anm. 8.

IM ZEICHEN DER ZEICHEN

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Durchführung aufwenden müssen. Das Verhältnis von Performanzaufwand und Systemaufwand hat sich im indisch-arabischen Zahldarstellungssystem weiter zugunsten des Performanzaufwands verschoben. In ihm brauchen wir ebenfalls 10 Grundzeichen wie die Römer, und für die Bildung komplexer Zahlzeichen kommen wir ebenfalls mit einer einfachen syntaktischen Regel aus (Juxtaposition). Doch ist die Regel für die Interpretation komplexer Zahlzeichen viel komplizierter; denn sie erfordert die Multiplikation mit wechselnden Faktoren, die nicht durch Grundzeichen bezeichnet sind (siehe oben, Abschnitt Zahldarstellung). Der Lohn der Mühe des Erlernens eines solchen Systems ist neben der Verkürzung komplexer Zahlzeichen die Erweiterung des Bereichs der darstellbaren Zahlen ins Unendliche und die Möglichkeit, Rechenaufgaben auf dem Papier auszuführen, für die in anderen Zahldarstellungssystemen Rechenmaschinen notwendig wären. In der schriftlichen Kodierung natürlicher Sprachen spielt das Verhältnis von Systemaufwand und Performanzaufwand eine vergleichbare Rolle: Logogrammschriften wie die der Chinesen erfordern einen riesigen Lernaufwand und ermöglichen dadurch später eine sehr zeitsparende Kommunikation. Im modernen Chinesisch kommen etwa 6.000 -8.000, bei differenzierterem Wortschatz bis zu 10.000 Wortzeichen vor, ein offizielles Wörterbuch von 1716 umfaßte 50.000 Wortzeichen, und die Gelehrten kennen bis zu 80.000 verschiedene Zeichen. Dafür ist ein chinesischer Text aber auch sehr kurz, da er für jedes Wort nur ein Grundzeichen benötigt.51 Silbenschriften kommen demgegenüber mit einem Inventar von unter 1.000 Grundzeichen aus; bei Sprachen mit einfacher Silbenstruktur wie dem Japanischen sinkt diese Zahl unter 100. Dieser Verminderung des Lernaufwands entspricht aber eine Vergrößerung des Performanzaufwands, da das durchschnittliche Wort nun meist als komplexes Zeichen aus mehreren Grundzeichen notiert werden muß. In den Alphabetschrtflen verkleinert sich die Zahl der Grundzeichen durch die Umkodierung der Silben in Buchstabenfolgen auf etwa 20 bis 50. Dafür steigt in diesen Schriften die Wortlänge weiter an.

51

Vgl. Lüdtke, Die Alphabelschriß, wie Anm. 40, 160.

102 -

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Die Morseschrift ist das Extrem in der Reduzierung der Zahl der Grundzeichen, denn sie kommt mit drei Grundzeichen aus (langer Impuls, kurzer Impuls, Pause); dafür ist aber die Textlänge u m ein Vielfaches vergrößert und die Produktions- und Rezeptionsgeschwindigkeit (Lesetempo) entsprechend verlangsamt.

Ahnlich wie die Zahldarstellung im indisch-arabischen Ziffernkode für die Zwecke von Handel und Wandel ein optimales Gleichgewicht zwischen Systemaufwand und Performanzaufwand erreicht hat, scheint die Verschriftung in der Alphabetschrift den besten Kompromiß gefunden zu haben. 5 2

G E S A N G : K O M P L E M E N T A R I T Ä T VON S P R A C H E U N D

MUSIK

Lautsprachen ermöglichen Kommunikation durch die Mitteilung von semantischen Informationen mithilfe der Produktion von akustischen Zeichen. Akustische Zeichen spielen aber auch in der Musik eine Rolle. Das wirft die Frage auf, wie sich Sprache von Musik als Zeichensystem unterscheidet und welche Informationen musikalische Zeichen mitteilen. Dieser Frage können wir uns wiederum am besten nähern, wenn wir die sprachnahen Kodes mit den musiknahen Kodes vergleichen: insbesondere die Notationstechnik der Alphabetschrift mit der der Musikpartitur. Ein Rückgriff auf die Geschichte m a g auch hier wieder den Einstieg erleichtern. Bei der Behandlung der phönizischen Alphabetschrift ist vorhin eine Frage übriggeblieben, die den Gelehrten viel Kopfzerbrechen gemacht hat: Wie konnte die phönizische Schrift eigentlich ihre Aufgabe erfüllen, den genauen Wortlaut einer semitischen Sprache aufzuzeichnen, wenn sie nur die lexikalischen Morpheme der Sprache notierte und die grammatischen unbezeichnet ließ? Wieso kann es dem Leser überhaupt gelingen, aus einem Text, der für Wortformen wie kataba, uktub, kiläb und kutübl usw. nur ktb schreibt, diejenige Wortform herauszulesen, die der Schreiber gemeint hat? Hierfür sind zwei Gründe ausschlaggebend:

52

Zu betonen ist, daß es zwar historische und philologische Hinweise gibt, die Aussagen dieser Art zur Zeichenökonomie stützen, daß aber bis heute kein hinreichender experimenteller Nachweis vorliegt. Hier ist für die experimentelle Psychosemiotik noch viel zu tun.

IM ZEICHEN DER ZEICHEN

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(1) Während es für die Menge der lexikalischen Morpheme einer Sprache keine obere Schranke gibt - ihre Zahl ist beliebig erweiterbar - , ist die Zahl der grammatischen Morpheme (in Wortflexion und Wortableitung) auf eine kleine Anzahl beschränkt und nicht leicht erweiterbar. Die grammatischen Morpheme bilden jeweils ein überschaubares Paradigma, aus dem durch Ausprobieren die passende Form gewählt werden kann. (2) Für die Entscheidung, welche Wortform und damit welche Wortbedeutung an einer gegebenen Stelle die passende ist, liefert der sprachliche und außersprachliche Kontext viele Indizien. Die Nachbarschaft anderer Wörter, die Kenntnis der durch sie bezeichneten Gegenstände und Sachverhalte sowie Hypothesen über die Autorintention und den Zweck der Niederschrift ergeben zusammen ein Netz von Hinweisen, das die Zahl der möglichen Deutungen auf ganz wenige reduziert. Allgemein gesprochen gilt, daß die systematische Ausfüllung von Informationslücken beim Textverstehen nur möglich ist, wenn dabei zwischen einer feststehenden kleinen Anzahl von Morphemen entschieden werden muß und nicht zwischen einer beliebig erweiterbaren großen Zahl wie im Lexikon. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß es kein einziges überliefertes Notationssystem gibt, das die von ihm notierten Zeichenkomplexe in allen ihren Aspekten wiedergibt. Nicht nur die phönizische Alphabetschrift, auch jedes andere Notationssystem läßt gewisse Eigenschaften der notierten Zeichenkomplexe unbestimmt. Am präzisesten erfaßt wird diejenige Dimension des notierten Zeichenkomplexes, auf die es den Zeichenbenutzern am meisten ankommt. Dies ist das Prinzip der Dimensionsdominanz. Es läßt sich sowohl an der Verschriftung der Sprache als auch an der Verschriftung von Musik nachweisen. Für die vollständige Charakterisierung eines aus einer einzigen Quelle stammenden Lautkomplexes reicht es aus, wenn man seine Tonhöhe, seine Klangfarbe (die beteiligten Obertöne), seine Lautstärke und seine zeitliche Dauer bestimmt. Keine aus der Kulturgeschichte ererbte Lautnotation repräsentiert alle diese Dimensionen mit der gleichen Präzision.

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(1) Die klassische abendländische Musikpartitur 53 bezeichnet (a) die Tonhöhe immer in absoluten Werten per Tonstufen, (b) die zeitliche Dauer immer in relativen Werten per Notentyp (bezogen auf ein meist nicht in absoluten Werten angegebenes Grundzeitmaß), (c) die Lautstärke nur manchmal, und dann approximativ durch vage und kontextabhängige sprachliche Zeichen (zum Beispiel piano, forte usw.), (d) die Klangfarbe meist gar nicht und wenn überhaupt nur durch Angabe von Instrumenttypen (zum Beispiel Violine, Fagott usw.). Worauf es dem abendländischen Musikhörer ankommt, läßt sich den Umständen entnehmen, unter denen er ein zum Zeitpunkt t j gespieltes Musikstück als „dasselbe" betrachtet wie ein zum Zeitpunkt t 2 gespieltes: 54 Identitätskriterium ist weder die Lautstärke, noch die jeweilige zeitliche Dauer der Töne, noch auch ihre Klangfarbe, sondern ihre Tonhöhe. Werden zum Zeitpunkt t 2 dieselben Tonhöhen, aber lauter, schneller und mit einem anderen Instrument gespielt, so heißt es: „Der Musiker hat dasselbe Stück (auf andere Art) gespielt." Werden aber zum Zeitpunkt t 2 mit demselben Instrument in gleichem Tempo und gleicher Lautstärke andere Töne produziert (von einheitlicher Transposition der gesamten Tonfolge in eine andere Tonart sei hier abgesehen), so heißt es: „Der Musiker hat ein anderes Stück (auf ähnliche Art) gespielt." (2) Ganz analog wie die Musiknotation, aber mit anderer Dimensionshierarchie funktioniert die Verschriftung der indoeuropäischen Sprachen; ein Text in römischer Buchstabenschrift bezeichnet (a) die Klangfarbe (den phonetischen Charakter bzw. die Artikulationsart der betreffenden Silbe) immer in absoluten Werten per Buchstabenkette, 53

54

Vgl. Erhard Karkoschka, Das Schriftbild der neuen Musik, Celle 1966 sowie Cecilia Hultberg, The Printed Score as a Mediator of Musical Meaning: Approaches to Music Notation in Western Tonal Tradition, Malmö 2000; siehe auch Simone Mahrenholz, Musik und Erkenntnis. Eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie, Stuttgart, Weimar 1998, 115-128. Dies ist die zentrale Fragestellung in dem Buch von Nelson Goodman, Languages of Art: An Approach to a Theory of Symbols (1968), Indianapolis 21976, deutsch von Bernd Philippi, Sprachen der Kunst. Ein Entwurf zur Symboltheorie, Frankfurt am Main 1975.

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(b) die zeitliche Dauer meist in relativen Werten, zum Beispiel per langen oder kurzen Vokal (bezogen auf ein fast nie in absoluten Werten angegebenes Grundzeitmaß), (c) die Lautstärke manchmal und dann nur approximativ per Akzentsetzung, (d) die Tonhöhe (Intonation, Satzmelodie) niemals (sie kann allenfalls aus der Satzbedeutung und Akzentuierung erschlossen werden). Worauf es dem Sprecher einer indoeuropäischen Sprache ankommt, läßt sich ebenfalls den Umständen entnehmen, unter denen er einen zum Zeitpunkt tg gesprochenen Text als „denselben" betrachtet wie einen zum Zeitpunkt tj gesprochenen: Identitätskriterium ist weder die Tonhöhe, noch die Lautstärke, noch auch die zeitliche Dauer der gesprochenen Laute, sondern ihre Klangfarbe. Werden zum Zeitpunkt t^ dieselben Silben, aber lauter, schneller und in anderer Tonhöhe gesprochen, so heißt es: „Der Sprecher hat denselben Text (auf andere Art) gesprochen." Werden aber zum Zeitpunkt mit gleichem Tonhöhenverlauf in gleicher Lautstärke und gleichem Tempo andere Silben produziert, so heißt es: „Der Sprecher hat einen anderen Text (auf ähnliche Art) gesprochen." Die dominante Dimension, d. h. jene Dimension, auf die es bei der Identifikation der Zeichen ankommt, wird auch am präzisesten notiert. Sie bestimmt nicht nur die Erkennung der Zeichen, sondern hat auch für die Interpretation eine Leitfunktion. Sie liefert diejenigen Informationen, die in dem betreffenden semiotischen System als die relevantesten angesehen werden. Die klassische abendländische Musik und die europäischen Sprachen verhalten sich in Bezug auf die dominante Dimension komplementär zueinander. Die Tonhöhe, die in der Musik und ihrer Notation die Hauptrolle spielt, hat in der Sprache und ihrer Verschriftung eine untergeordnete Funktion. Die Klangfarbe, die in der Sprache und ihrer Verschriftung die Hauptrolle spielt, hat in der Musik und ihrer Notation eine untergeordnete Rolle. Die übrigen Dimensionen liegen dazwischen, so daß man von zwei inversen Dimensionshierarchien sprechen kann. 55 55

Vgl. Harai Golomb, Function-Reversal of Similar Subsystems in Different AuditoryTemporal Systems of Communication: The Roles ofPitch and Timbre in Music and Language. In: T. Borb6 (ed.), Semiotics Unfolding, Berlin, New York 1985, 1645-1646; siehe auch Roland Posner, Balance of Complexity and Hierarchy of Precision: Two

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Klangfarbe und Tonhöhe sind voneinander unabhängige Dimensionen ein und desselben Lautereignisses. Wer eine Äußerung von sich gibt, kann für ein Wort (d.h. eine Klangfarbenfolge) vielerlei Tonhöhen wählen bzw. für einen Tonhöhenverlauf (Intonation) vielerlei Wörter wählen. Diesem Umstand verdanken wir die Möglichkeit, in ein und derselben Äußerung Sprache und Musik zu kombinieren. Zwar hat auch jeder Satz einen optimalen Tonhöhenverlauf (Intonation), aber dieser ist für seine Identifikation nicht erforderlich. Der Satz wird auch dann erkannt, wenn man die Intonation, d.h. die Satzmelodie, ändert. Gleiches gilt für eine Melodie. Wer eine Melodie singt, muß dabei irgendeine Klangfarbenfolge äußern, die die Melodie trägt. Er kann dafür bedeutungslose Silbengefuge verwenden wie tra-la-la und tä-te-rä-tä, deren Bestandteile zum Teil bis zur Lallphase des Spracherwerbs zurückgehen. Er kann aber auch sprachliche Morpheme einsetzen. Auf diese Weise entsteht ein Lied. Ohne die Komplementarität von Sprache und Musik, die in den inversen Präzisionshierarchien der Lautdimensionen bei der Notation sichtbar wird, wäre Gesang nicht möglich. Was aber teilt ein Lied mit, das ein geschriebener Text allein oder eine Musikpartitur allein nicht mitteilen könnte? Auch für die Beantwortung dieser Frage ist die Verschriftungspraxis der Phönizier und ihre Fortsetzung in den europäischen Alphabetschriften aufschlußreich. In den schriftlichen Texten der Phönizier ging es im wesentlichen um semantische Informationen zur Charakterisierung von Waren, die von einem Hafen zum anderen transportiert werden sollten. Pragmatische Informationen über die Absichten der Absender, ihre Einschätzung der Adressaten und die Verläßlichkeit ihrer Mitteilungen wurden dabei nicht formuliert, sondern weitgehend vorausgesetzt. Und noch heute wird in den indoeuropäischen wie in den semitischen Sprachen im allgemeinen der semantische Gehalt einer Mitteilung als deren relevanteste Information betrachtet. Er wird im wesentlichen durch die Klangfarbenfolge mitgeteilt. Pragmatische Mitteilungen zur Einschätzung der Kommunikationssituation werden dagegen eher durch die Modulation von Sprechtempo, Lautstärke und Tonhöhenverlauf zum Ausdruck gebracht. Liedmelodien stellen sich somit heraus als Stilisierungen der Mitteilungsverfahren für pragmatische Informationen, 56 während Wort-

56

Principles of Economy in the Notation of Language and Music. In: M. Herzfeld, L . Melazzo (ed.), Semiotic Theory and Practice, Berlin, New York 1988, 909-919. Vgl. Thomas Betzwieser, Sprechen und Singen. Ästhetik und Erscheinungsformen der Dialogoper, Stuttgart, Weimar 2001.

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folgen in der durch die Schrift notierten Form im wesentlichen abstrakte Mitteilungsverfahren für semantische Informationen sind. Vieles spricht dafür, daß die komplementäre Funktionsweise von Sprache und Musik im semitisch-indoeuropäischen Kulturkreis auf die Einführung der Alphabetschrift zurückgeht. Sie hat die viel reichere Lautsprache auf Klangfarbenfolgen mit semantischem Gehalt reduziert und zum Ausgleich die absolute Musik als neuen Spielraum eröffnet, in dem sich die in der Schrift vernachlässigten Tonhöhenfolgen mit pragmatischem Gehalt ohne Worte optimal entfalten konnten. Nur wer mündliche Äußerungen heute wie ein Lied versteht, kann die beiden auseinander gefallenen Systemhälften wieder zusammenfuhren. Wenn diese Überlegungen zutreffen und die heutige Aufgabenteilung von Sprache und Musik in den indoeuropäischen und semitischen Kulturen schriftinduziert ist, so stellt sich die Frage, wie es sich mit der heutigen Aufgabenteilung von Sprache und Bild sowie von Sprache und Gestik verhält. Dies ist ein Problem von vergleichbarer Brisanz, das sich mit den Methoden der Kultursemiotik auf ähnliche Weise klären läßt. Seine Behandlung muß aber einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben.

Manfred Frank S I N D BEWUSSTSEIN UND WESENTLICH

SPRACHLICH?

D I E A B K E H R VOM LINGUISTIC

JÜNGEREN

DENKEN TURN

IN DER

SPRACHPHILOSOPHIE*

DIE

PROBLEMLAGE

Die (von Gustav Bergmann) so genannte linguistische Wende ist zum Markenzeichen des seit etwa 70 bis 80 Jahren weltweit erfolgreichsten philosophischen Unternehmens geworden: der Sprachanalyse. Aber wie beträchtlich in Stil und Sache die Unterschiede auch sein mögen, bildet sie auch eine Basis-Uberzeugung des auf Ferdinand de Saussure (1857-1913) zurückgehenden französischen (Neo-)Strukturalismus. 1 Beide leugnen das Bestehen eines vorsprachlichen Bewußtseins. Und beide entwickeln ihre These gegen eine Position, die man phänomenologisch genannt hat. 2 Dieser Position wird die These zugeschrieben, die „bedeutungsverleihenden Akte" seien wesentlich Leistungen des Bewußtseins (genauer: des „intentionalen Bewußtseins", also nicht von Empfindungen, sondern einer Form des Denkens). Und da etwas ein sprachliches Ereignis nicht schon ist, wenn es nach einer allgemeinen Distributionsregel graphisch-phonische Struktur verliehen bekommt, sondern erst durch sein „Bedeuten", scheint auch die Sprache selbst eine notwendige Voraussetzung im (intentionalen) Bewußtsein zu haben. Dem entspricht die (Husserlsche) These (die aber ähnlich auch von dem imaginären Gesprächspartner der Philosophischen Untersuchungen vertreten wird), die Bedeutung eines Ausdrucks sei so etwas wie die Spezies des Aktes (oder des AktsiVi/w, dessen, was Husserl später das Noema des Aktes nannte, * 1

2

Stanley Corngold zum 65. Geburtstag gewidmet - anstelle eines Beitrages zu seiner Festschrift. Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale. Edition critique préparée par Tullio de Mauro, Paris 1980, Chap. 4, 155 ff.; Jacques Derrida, La voix et le phénomène. Introduction au problème du signe dans la phénoménologie de Husserl, Paris 1967; Ders., Sémiologie et grammatologie, Entretien avec Julia Kristeva. In: Ders., Positions, Paris 1972, 25-50; La différance. In: Ders., Marges de la philosophie, Paris 1972, 1-29. Ludwig Wittgenstein, Philosophische am Main 1984, 225-580.

Untersuchungen. In: Werkausgabe 1, Frankfurt

110

Manfred Frank

um psychologistische commitments zu meiden. 3 ) Und dieser Spezies bemächtige ich mich nicht durch Regelkenntnis ( linguistic competence), sondern durch eine Art von unmittelbarer „Anschauung". Für Anschauungen ist es kontingent, ob sie kommuniziert werden oder nicht; sie haben ihren Ausweis in einem subjektiven Evidenz-Erlebnis oder aber in einem außersubjektiven Apriori, wie es die Frege-Sinne (oder -Gedanken) sind. Das ist - grob - die Ansicht, die auf verschiedene Weise, aber mit durchaus konvergierenden Resultaten Ferdinand de Saussure und Ludwig Wittgenstein wirkungsmächtig bestritten haben, obwohl die beiden Traditionen (die strukturalistische und die sprachanalytische) kaum je in ein fruchtbares Gespräch miteinander getreten sind. Freilich haben (Neo-) Strukturalismus und Sprachanalyse unterschiedliche Deutungen dessen, was unter Sprache zu verstehen sei. Die Sprachanalyse nimmt an, die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten seien Sätze, während der (Neo-)Strukturalismus an einer Einzelwort-Semantik orientiert ist. So sagt ein Hauptvertreter der deutschsprachigen Sprachanalyse, Ernst Tugendhat: „Hat sich das Verstehen von Sätzen als primär erwiesen gegenüber dem Meinen von Gegenständen, so stellt sich die weitere Frage, wohin es überhaupt gehört. Daß ein Satz (oder genauer: eine Proposition, ein Gedanke, eine Aussage, die - wenn illokutionär spezifiziert und sprachlich ausgedrückt - einen Satz ergeben) die primäre Bedeutungseinheit ist, scheint darin zu gründen, daß er die kleinste intersubjektive Verständigungseinheit ist. (Einen Namen kann man verstehen, aber man kann mit ihm nichts zu verstehen geben.)" 4

Der auf Saussure zurückgehende (Neo-)Strukturalismus ist nicht an Verständigung, sondern an der Verständlichkeit des Vokabulars interessiert, durch das wir kommunizieren. Und hier bestreitet er, daß Wörter ihre Bedeutung durch geistige Akte verliehen bekommen. Sinn gründe vielmehr in der differentiellen Natur der Zeichen, die ihren Sprachwert dadurch erwerben, daß sie sich gegen die Ausdruckshülsen aller anderen Zeichen abprofilieren. Im Entscheidenden kommt diese These aber mit der sprachanalytischen Kritik der sogenannten Bewußtseinsphilosophie 3

4

Edmund Husserl, Logische Untersuchungen 2/1, Tübingen 1980, 100; Ders., Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch: Allgemeine Einleitung in die reine Phänomenologie, hg. W. Biemel, Haag 1950, § 91, § 151. Ernst Tugendhat, Phänomenologie und Sprachanalyse. In: R. Bubner u.a. (Hg.), Hermeneutik und Dialektik 1, Tübingen 1970, 3.

S I N D BEWUSSTSEIN UND D E N K E N WESENTLICH SPRACHLICH?

111

darin überein, daß Bedeutung, Bewußtsein, Geist oder Subjektivität nicht als etwas Ursprüngliches anerkannt, sondern in Abhängigkeit von Sprache gebracht werden. Jacques Derrida anarchisiert zwar die bedeutungsgenerierenden Effekte des sprachlichen Differenzierungsprozesses; er bestreitet aber nicht die Richtigkeit dieser Prämisse. Es gab eine Zeit, da glaubte ich mich selbst auch von ihr überzeugt. Inzwischen sehe ich, daß sie falsch ist. Und damit stehe ich keineswegs allein. Vom (modisch gealterten) Neostrukturalismus muß man theoretische Innovationen oder Selbstkorrekturen nicht erwarten. Aber auch die analytische Philosophie hat zu weiten Teilen aufgehört, sich als Sprachanalyse in engem Sinne zu verstehen. Das hat sogar zu lebhaften Debatten innerhalb des analytischen Lagers geführt. Ein Vertreter der alten Wittgenstein-These ist z. B. Michael Dummett, ein bedeutender Opponent war z.B. Hector-Neri Castañeda. Castañeda hatte paradigmatisch gesagt: „Eine Denkepisode ist kein Außerungsereignis". 5 Eine harmlose Behauptung, scheint's. Aber Dummett sieht in dergleichen „eine neue Naivität im Vormarsch", 6 ja sogar „irgendwie einen Rückschritt zu Descartes" 7 . René Descartes' (1596-1650) unschuldiger Name dient hier als Zerrbild für die von Dummett bekämpfte Ansicht, Geistiges könne sich vorsprachlich selbst gegenwärtig sein. Diese Ansicht ist auch im deutschen Sprachraum weit verbreitet. Um ein x-beliebiges Beispiel zu nennen, so hat sich auch Jürgen Habermas in jüngeren Publikationen einem Interpretationsschema der Etappen abendländischen Philosophierens angeschlossen, das - in Dummetts und Strawsons Fußstapfen - von Tugendhat populär gemacht worden ist.8 Ihm zufolge wäre die (antike und mittelalterliche) Frage nach dem Sein des Seienden (Ontologie) seit Descartes durch die Frage nach den subjektiven oder erkenntnistheoretischen Zugangsbedingungen zum Seienden als solchem und im ganzen abgelöst worden (Stichwort: Bewußtseins- oder 5

6 7 8

Hector-Neri Castañeda, Self-Consciousness, I-Structures and Physiology. In: M. Spitzer, B.A. Mahler (ed.), Philosophy and Physiology, Berlin, Heidelberg, New York 1990, 118-145, hier: 121. Michael Dummett, Ursprünge der analytischen Philosophie, Frankfurt am Main 1988, 187. Ebd., 184. Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt am Main 1976, 25; Ernst Tugendhat, Ursula Wolf, Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart 1983, 7 ff.; Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1988, 20 f.

112

Manfred Frank

Subjektphilosophie), und diese wiederum habe ihre Aufhebung erfahren durch die Sprachphilosophie, die nach den universellen Voraussetzungen unseres Verstehens sich erkundigt und dabei stillschweigend die Zusatzprämisse (des Nominalismus) in Anspruch nimmt, wonach der Gegenstand des Verstehens das im Satz Artikulierte sei. Der eigentliche Sündenfall sei also bei Descartes (und Kant) zu suchen: Sie haben zuerst das Bewußtsein in die Würde eines sinnermöglichenden Transzendentals gehoben. Und daraus werde es nun wieder mühsam vertrieben durch den Nachweis, daß Bewußtsein nur als sprachliches Phänomen bestimmt und verstehbar sei (auch für sich selbst). Unglücklicherweise, so Dummett, gibt es heute ein starkes subjektphilosophisches reviva!. Immer mehr - gerade auch analytische - Denker(innen) glauben nicht mehr daran, daß, wie George sagt, „kein ding sei wo das wort gebricht" 9 . Ein dramatisches Beispiel für diesen Trend: der genialische, frühverstorbene Gareth Evans. Obwohl auch er sich „entschieden anti-cartesianisch" nennt, 10 zählt Dummett ihn gnadenlos unter die Denker der neuesten Wende weg von der Sprache und hin zur Erkenntnis. Denn Evans halte die Information bzw. die sie liefernde Wahrnehmung für viel grundlegender als die Sprache11 und sei in diesem Sinne „gar kein Sprachanalytiker mehr". 12 Ich denke, mutatis mutandis, würden Saussure und Derrida zustimmen. Ich will nicht allzu weit ausholen und beschränke mich auf zwei kritische Fragen an die radikale These von der Sprachabhängigkeit allen Sinns. Sie läßt ihrerseits zwei unterschiedlich radikale Lesarten zu. Nach der ersten wäre alles und jedes Bewußtsein sprachlich (oder es wäre nicht); nach der zweiten gälte diese Einschränkung nur nur für eine Untermenge von Bewußtsein, nämlich für das begriffliche Denken. Beide Thesen sind in den letzten 30 Jahren von Analytikern angefochten worden, z. B. von Thomas Nagel13 oder eben von Castañeda 14 .

9 10 11 12 13 14

Stefan George, Werke 2, Düsseldorf, München '1976, 467. Gareth Evans, The Varieties of Reference, ed. J. McDowell, Oxford 1982, 208, 224, 256. Dummett, Ursprünge der analytischen Philosophie, wie Anm. 6, 185. Ebd., 11 f. Thomas Nagel, Mortal Questions, Cambridge 1979, 165 ff., 196 ff. Hector-Neri Castañeda, The Phenomeno-Logic of the I. Essays on Self-Consciousness, ed. J. G. Hart, T. Kapitan, Bloomington/IN 1999.

113

S I N D B E W U S S T S E I N UND D E N K E N W E S E N T L I C H S P R A C H L I C H ?

PHÄNOMENALES BEWUSSTSEIN IST VORSPRACHLICH

Da ich nicht allzu tief in die Details gehen kann, referiere ich nur die Standard-Einwände gegen beide Thesen. Zunächst gegen die erste. Sie besagt (noch einmal), daß wir kein Bewußtsein von was auch immer haben können, ohne daß das Bewußtsein in dem Sinn distinguiert (die Analytiker sagen eher: individuiert) wäre, wie das Saussure vom artikulierten Zeichensinn behauptet hat. Einigen wir uns einfachheitshalber darauf, daß Sinneswahrnehmungen oder elementare Erlebnisse bewußt heißen dürfen: Wie es sich anfühlt, wenn ich heiß empfinde, wenn ich friere oder verliebt bin, das ist mir ursprünglich und unmittelbar erschlossen. Der Bestand, das Sein solcher Phänomene ist durch eine Art irrtumsimmuner Gewißheit gesichert, die manche Philosophers of Mind unmittelbare Vertrautheit (immediate acquaintance) nennen.15 Was bedeutet das? Einfach nur dies, daß, wenn mir in meinem Seelenleben irgendwie zumute ist, ich nicht durch zusätzliche perzeptive oder reflexive Zuwendung sicherstellen muß, daß ich mich über das Bestehen meines psychischen Zustands nicht täusche: Ich bin mir dessen unmittelbar bewußt. Es macht keinen Sinn einzuwenden, daß dieses Wissen nur eine Erscheinung, nicht das wirkliche Sein meines Zustandes erfaßt. Das Sein psychischer Zustände besteht ausschließlich in ihrem Sich-Erscheinen, so daß man sie durch die Trennung von Sein und Erscheinen einfach eliminiert.16 Am Ursprung dieses Arguments aber steht Saul Kripke. Er hat kraftvoll hingewiesen auf die Unähnlichkeit im Verhältnis zwischen mittlerer Molekülbewegung, Wärme und Warmempfindung (oder H 2 0 , Wasser und der Empfindung von Wässrigkeit) einerseits, C-FaserReizungen im Hirn, Schmerzen und Sich-schmerzhaft-Anfühlen. Danach gilt andererseits: „[...] all it is for something to be in pain is for it to feel like pain. There is no distinction between pain and painy stuff, in the way there is a distinction between water and watery stuff. One could have something that felt like water without it being water, but one could not have something that felt like pain without it being pain. Pain's feel is essential to it." 17 15

David J . Chalmers, The Conscious Mind. In Search of a Fundamental 1996, 196 f.

Theory, Oxford

16 17

John R. Searle, The Rediscovery of the Mind, C a m b r i d g e / M A 1992, 121 f. David J . Chalmers, The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory, Oxford 1996, 147; vgl. 113 und 146.

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M a n f r e d Frank

Kripke 1 8 hatte gesagt: „Someone can be in the same epistemic situation as he would be if there were heat, even in the absence of heat, simply by feeling the sensation of heat; and even in the presence of heat, he can have the same evidence as he would have in the absence of heat simply by lacking the sensation 5. No such possibility exists in the case of pain and another mental phenomena. To be in the same epistemic situation that would obtain if one had pain is to have pain; to be in the same epistemic situation that could obtain in the absence of a pain is to have no pain. The apparent contingency of the connection between the mental state and the corresponding brain state thus cannot be explained by some sort of qualitative analogue as in the case of heat. [...] in the case of mental phenomena there is no ,appearance' beyond the mental phenonomenon itself." 19

Bewußtsein hat also die Auszeichnung (etwa vor Physischem), daß sein Vorliegen notwendig auch sein Sich-Erscheinen herbeiführt, und zwar in Form einer unmittelbaren, wenn auch nicht notwendig begrifflichen Bekanntschaft. Mit unmittelbar ist gemeint, daß meine Kenntnis von Psychischem nicht auf dem Umweg über ein zweites Bewußtsein, etwa „vermittels" eines Urteilsaktes oder gar durch „innere Wahrnehmung", zustandekommt. 2 0 Ich habe auch dann Zahnweh oder Liebesleid oder Examensangst, wenn ich nicht darüber nachdenke oder nicht behaupte, es zu haben. Darum hielt Thomas Nagel solche Zustände für unabhängig von irgendeiner in menschlichen Sprachen ausdrückbaren Wahrheit. 21 Sie sind auch unabhängig von einer ausdrücklich auf mein Innenleben gerichteten sogenannten inneren Wahrnehmung, durch die ich einen seelischen Zustand vergegenständliche. Dieser gegenständliche Blick würde auf Bewußtsein nur auftreffen, wenn vorher Bewußtsein schon bestand. 2 2 Zahnweh oder Verliebtsein sind ohnehin Begriffe, mit denen ich mir nachträglich zurechtlege, wie mir zunächst - begrifflos - zumute war. 2 3 Natürlich kann die Wahl dieser Begriffe falsch oder unangemessen sein. Das ist Sache der Interpretation und mithin fehlbar wie diese. Mein 18

Saul Kripke, Naming

19

Ebd., 152 und 154.

20

and Necessity,

C a m b r i d g e / M A , Harvard 1980.

Sydney S h o e m a k e r , The First Person Perspective

and Other Essays

4, C a m b r i d g e 1996,

201 ff. 21

Nagel, Mortal

22

Sydney S h o e m a k e r , Richard Swinburne, Personal

25

Alfred J . Ayer, The Problem of Knowledge, 56 ff., 61 ff.

Questions,

wie A n m . 15, 171.

Identity, Oxford 1984, 104 f.

H a r m o n d s w o r t h , M i d d l e s e x 1956, Chap. 2,

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Punkt ist nicht die unbestreitbare Fehlbarkeit epistemischer Selbstdeutung. Ich sage nur, daß Selbstbewußtsein vorliegt, wenn der Gehalt des seelischen Zustands irgendwie bestimmt, wenn auch nicht begriffen ist (man denke an die begriffliche Unbestimmbarkeit einer aparten Geruchs Wahrnehmung). Die Spezifität eines solchen Gehalts macht es erstens unmöglich, mir statt seiner dessen Negation zuzuschreiben, und zweitens schließt der Zustand notwendig meine Vertrautheit mit ihm ein. (Man könnte auch von Gewißheit sprechen, ohne so weit zu gehen wie Descartes, der an strikte Unbezweifelbarkeit oder Unkorrigierbarkeit glaubte. 24 BonJour spricht von einem „strikt infalliblen nichtapperzeptiven Bewußtsein des Gehalts", welches „konstitutiv" sei für die entsprechende reflexiv gesicherte Überzeugung.)25 Vielleicht habe ich, wie es sich anfühlte, in diesem unangenehmen oder verwirrenden Zustand zu sein, nicht richtig benannt. Aber das Wesentliche ist doch dies: Wie einem zumute ist („what it is like"), dessen ist man sich auch dann bewußt, wenn man nicht im geringsten weiß oder zu sagen wüßte, wie man das Gefühl klassifizieren soll. (Ich bin gegebenenfalls auch ohne gültige Theorie der Liebe und ohne geeignete Begrifflichkeit verliebt.)26 Ein gewöhnlicher Einwand (aus Wittgensteinscher Inspiration) lautet nun: Ich kann qualitative Zustände doch nachträglich zum Wissen erheben und dann etwa den Satz bilden: Nun weiß ich, wie mir zumute war (oder ist)! Dieses letztere Wissen ist aber offensichtlich begrifflicher, und also sprachlicher Natur. Beweist das nicht das Bestehen einer epistemischen Kontinuität zwischen dem einen und dem anderen? Und wenn das 24

Roderick Chisholm, The First Person. An Essay on Reference and Intentionality, Brighton, Sussex 1981, 75 ff.; Shoemaker, The First Person Perspective, wie Anm. 20, 25 ff., 50 ff.

25

Lawrence BonJour, The Dialectic ofFoundationalism and Coherentism. In: J. Greco, E. Sosa (ed.), The Blackwell Guide to Epistemology, Oxford 1999, 117-142, hier: 131 f. Donald Davidson hat in jüngeren Arbeiten einen Kompromißvorschlag angeboten, wonach Selbstbewußtsein in der Tat eine theoriefreie „presumption" sei, dennoch aber ein echtes „Wissen" konstituiere. (Die „presumption" besteht darin, „that if he knows that he holds a sentence true, he knows what he believes"). Davidson erkauft dies Zugeständnis aber (unter Berufung z. B. auf Richard Rorty) mit der Annahme, daß Selbstbewußtsein mithin, wie alles Wissen, dem Irrtum ausgesetzt sei (vgl. z.B. Donald Davidson, First Person Authority. In: Dialectica 38, 2 - 3 (1984), 101-111, hier vor allem: 110 f.). Nach meinem Verständnis gilt dies nur für die reflexive (oder sprachliche) Ebene, nicht für die unmittelbare Vertrautheit selbst. Sie, deren veritativer Status gar nicht dem Bivalenz-Prinzip untersteht, fehlbar zu nennen, wäre einfach sinnlos.

26

116

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so ist: Folgt aus dieser Beobachtung nicht, daß, da das inzwischen errungene explizite Wissen sprachlich (propositional) ist, auch das vorgeblich vorsprachliche (präpropositionale) es ebenfalls gewesen sein muß? Eine andere Formulierung für die gleiche Beobachtung wäre: Da das explizite Wissen von meinem Zumutesein begrifflich ist, wie sollte dasjenige, wovon solches Wissen besteht, nicht ebenfalls durch Begriffe (mindestens implizit) individuiert gewesen sein? Dieser Einwand zeigt die Macht eines Vorurteils. Es ist inzwischen mächtiger geworden, als es früher der „Mythos der Innerlichkeit" war, gegen den es ursprünglich angetreten war. Die machthabende sprachanalytische Mode hat unser Bewußtsein so erfolgreich konditioniert, daß wir glauben, zwischen unserem Wissen und dem Gewußten walte eine Isomorphie. Da die Meinung, „daß es regnet", propositional ist, denken wir sogleich, das Ereignis des Regnens (das die Meinung wahr macht) sei es gleichfalls. Aber das Regnen ist ein innerweltliches Ereignis - und keine Proposition, auch wenn sein Vorliegen meine Proposition wahr macht. So ist auch mein unmittelbares Zumutesein keine Proposition (oder etwas ihr Isomorphes oder virtuell Propositionales). Und doch kann es (übrigens ohne Garantie auf Unfehlbarkeit) mein Wissen, „daß ich so-und-so" wahrmachen.27 Wäre der Wittgensteinsche Einwand zwingend, daß das, was propositionales Wissen wahrmacht, selbst propositional verfaßt sein müßte, so hätten wir es mit einer Variante von extremem Sprachidealismus 28 zu tun. Der idealistische Satz des Novalis „Alles, was wir denken, denkt selber" müßte dann nur transformiert werden in den anderen „Alles, worüber wir sprechen, ist selbst Sprache".

27

Die letztere (Gewißheit) definiert Chisholm wie folgt: Wenn F eine selbst-präsentierende Eigenschaft ist, ich sie habe und mir dessen bewußt bin, dann bin ich mir meines F-Seins gewiß (ebd., 82). Diese Gewißheit ist nicht-propositional (ebd., unten). Aber es ist kraft dieser nicht-propositionalen Gewißheit, daß eine propositionale Formulierung über mein F-Sein gegebenenfalls (empirisch) wahr sein kann. Das haben manche Theoretiker den supervenienten Charakter epistemischer Rechtfertigungen genannt. Damit ist gemeint, daß ich die Proposition ich bin traurig wahrheitsgemäß nur äußern darf, wenn ich traurig bin und davon ein prä-propositionales, nämlich direktes Bewußtsein habe. Ich bin freilich auch dann traurig, wenn ich die Proposition nicht bilde oder den Gebrauch von traurig nicht kenne; so hat die subjektive Gewißheit einen epistemischen Vorsprung vor der InterSubjektivität der Sprachkonditionierung. Vgl. Chisholm, The First Person, wie Anm. 24, 82 f.

28

Den Ausdruck Sprachidealismus gebraucht z. B. Thomas Nagel, The View from where, Oxford 1986, 94, im Kontext.

No-

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Diese extrem antirealistische und konzeptualistische Konsequenz will ich jedenfalls nicht einkaufen. Im übrigen braucht auch und gerade der Antirealist - oder vielmehr: er besonders - ein Fundament für die Verifikation seiner Behauptungen. Für einen bedeutenden Gründervater der analytischen Philosophie, für Alfred Jules Ayer, ist das die Erfahrung. Seine Kehrtwendung gegen die These, das Wissensfundament sei sprachlich, ist mir besonders willkommen, liegt mir doch an vorzeigbaren, sogar klassischen Belegen für inneranalytische Einwände gegen den Totalitarismus der Sprachanalyse. Gäbe es kein Fundament des begrifflichen Wissens - so ist der Ausgangspunkt seiner Überlegungen in The Problem of Knowledge" 2® - , geriete die Definition des Wissens als begründete Meinung in den wohlbekannten infiniten Regreß. Nehmen wir an, wir glaubten uns zu einer Tatsachenbehauptung berechtigt. Sie wird durch einen Satz ausgedrückt. Nur Sätze können Sätze begründen. Und so müssen wir uns, um unsere Uberzeugung von der Wahrheit unseres Satzes zu begründen, nach einem anderen Satz umsehen, dem wir diese Begründungsleistung zutrauen. „To give an answer is to put forward some other statement which supports the statement of which knowledge is claimed; it is implied that this second statement is itself known to be true. Again, it may be asked how this is known, und then a third assertion may be made which supports the second. And so the process may continue until we reach a statement which we are willing to accept." 3 0

Diesen Regreß können wir nur abbrechen, wenn wir auf einen Grund stoßen, der weiteres Begründen erübrigt. Ein solcher, meint Ayer, ist Kenntnis aus selbsterlebter Erfahrung. Sie allein ist zweifelsfrei gewiß so sehr, daß die bloße Frage sinnlos wird. Zum Beispiel die schon früher erwähnte, ob wir wirklich sicher sind, daß, wenn wir Kopfweh haben, wir auch wissen, ob wir's haben. 31 Es ist logisch einfach unmöglich, unsicher hinsichtlich einer solchen Entscheidung zu sein. Ich überspringe das ganze Problem der sogenannten Basis- oder Protokollsätze, das Ayer von der Wissenschaftstheorie des Wiener Kreises übernimmt, und konzentriere mich auf einen Punkt. Ayer meint, allein Berichte über Sinneserlebnisse seien direkt und schlüssig verifizierbar. 32 29

50 51 52

Ayer, The Problem of Knowledge, wie Anm. 25.

Ebd., 69. Ebd., 55. Ebd., 54.

118

Manfred Frank

Das versteht sich nicht von selbst. Denn Aussage-Sätze (auch solche mit empirischem Gehalt) können - wie alle Sätze, und mithin im Gegensatz zu Empfindungen, die man einfach hat oder nicht hat, - wahr oder falsch sein. Wie alle prädikativen Sätze bringen sie zudem Begriffe ins Spiel, und die könnten keine singulären Erlebnisse sein. Wie aber kann ein auch falsch sein könnender Satz das Vehikel für einen Bericht über etwas sein, das nicht einmal in dieser Möglichkeit des Falschseinkönnens steht? Ayer macht hier eine wichtige (und, wie ich finde, völlig richtige) Unterscheidung, die viele zeitgenössische Philosophen bei ihren Zweifeln an der Autorität des Bewußtseins vernachlässigen: Es ist eines, in einem Erlebniszustand zu sein und das unmittelbar auch zu wissen („immediately recognize one's own feelings and sensations"), 35 und ein anderes, irgend eine Aussage darüber zu treffen. Daß ich mich bei der Klassifikation eines psychischen Zustands so oft vertue, ja daß es mir beim besten Willen nicht möglich ist, mir Klarheit über meine Gefühle zu verschaffen, das scheint einigen, wenn nicht ein Beleg für die Unbewußtheit mancher Gefühle, so doch einer gegen die These, psychische Zustände bestünden überhaupt nur in dem Bewußtsein, das ich von ihnen habe. Aber hier wird etwas verwechselt. Nehmen wir an, Sie seien unfähig, Ihren Widerwillen, diese Frau oder diesen Mann angemessen zu verstehen, als Eifersucht zu durchschauen. Auf Rückfrage werden Sie vielleicht antworten: „Ich mag sein/ihr soziales Engagement nicht" oder „Er/sie ist einfach zu vertrau Ii ch/zu kokett mit Personen des anderen Geschlechts" oder irgend etwas dergleichen. Das bedeutet doch nicht, daß Ihnen der psychische Zustand, in dem Sie sich befinden, irgend unbekannt ist oder daß er mangelhaft spezifiziert war, sondern nur dies, daß Ihr Bewußtsein zu der Strategie greift, Sie das anders interpretieren zu lassen. Interpretationen erfolgen in Propositionen (die wiederum sprachlich durch Behauptungs-Sätze ausgedrückt werden); und beim Ubergang vom einen zum anderen kann es Verschiebungen, Verbiegungen, auch Täuschungen geben. Aber das beweist gar nichts gegen die Selbstdurchsichtigkeit des Bewußtseins. Selbsttäuschung setzt vielmehr vorgängige Bekanntschaft mit dem Gehalt des primären Bewußtseins voraus, sonst wäre die Rede von Täuschung so abwegig wie der Gedanke künftiger möglicher Selbstkorrektur. Komme ich im Verlauf eines Selbstdeutungsprozesses zu einer Korrektur, so schöpfe ich dabei nicht aus sprachlichen (oder auf Verhaltensbeobachtung gestützten) Evidenzen, sondern aus Erfahrung. Woran 33

Ebd., 61.

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anders sollte ich denn Erfahrungssätze überprüfen, wenn nicht an meiner Erfahrung? Ayer geht hier sehr weit: Die ursprüngliche Erfahrung, deren Gewißheit unhinterfragbar ist, ist klarerweise privat. 34 Und von Wittgensteins Privatsprachen-Argument zeigt er sich herzerfrischend unbeeindruckt: „[Mein Erlebnis, sagt er] ist privat, insofern die Bedeutung meiner Worte ausschließlich vom Charakter meiner Erfahrung bestimmt werden soll (is supposed to be), die ich zu ihrer Anzeige/Bezeichnung benutze, unabhängig von jedem öffentlichen Gebrauchsstandard." 3 5

Gewiß, Sprachverwendungsregeln sind öffentlich. Aber ich habe die Erlebnisse, die ich habe, auch dann, wenn ich sie nicht öffentlich mitteilen, ja nicht einmal mir selbst in Aussageform plausibel machen könnte. (Zahnweh haben gegebenenfalls auch sprachlose Wesen.) Nach Wittgenstein (und der von ihm eröffneten Tradition) wäre es dagegen so, daß ich Zahnweh nur haben könnte, wenn eine öffentlich zugängliche Äußerung Ich habe Zahnweh erstens wahr wäre, zweitens aus der erAze-Perspektive auch verifiziert und auf meinen Körper bezogen werden könnte. So wird die er/sie-Perspektive der ze/z-Perspektive vorgeschaltet, gleichsam zur Wahrheitsbedingung derselben gemacht. Und so komme ich in die absurde Situation, die Wahrheit meiner psychischen Selbstzuschreibung von fremder Verifikation abhängig machen zu müssen. Aber das stimmt doch einfach nicht, sagt Ayer: Die Verständlichkeit meiner Erfahrungen für mich hängt doch einfach nicht ab von ihrer Verständlichkeit für anderswen („For the present, I wish only to maintain that whether or not my descriptions are intelligible to others, their being so is not a condition of their being intelligible to myself"). 3 6 Wittgensteins Position gegen Privatempfindungen ähnelt dem von ihm selbst gegebenen Gleichnis jenes Mannes, der sich gleich „mehrere Exemplare der heutigen Morgenzeitung [kauft], um sich zu vergewissern, daß sie die Wahrheit schreibt". 37 So der, der seinem unmittelbaren Zahnweh-Gefühl so lange mißtraut, bis alle seine Freunde ihm den wahren Satz Du hast wirklich Zahnweh zurücksenden (gleichsam als feed-back auf die "Echtheit seiner Empfindung).

54

Ebd., 58 ff.

55

Ebd., 58.

56

Ebd., 60.

57

Wittgenstein, Philosophische

Untersuchungen,

wie A n m . 2, 2 2 5 - 5 8 0 , hier: § 265, 564.

120

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SELBST-WISSEN

IST NICHT

AUF P R O P O S I T I O N A L E S

REDUZIERBAR WLSSEN

Sie werden sagen: An Ayers Argumentation ist etwas dran. Folgt daraus aber auch schon die Richtigkeit der zweiten These gegen den Sprachidealismus, wonach auch ein voll konzeptualisiertes „ D e n k e n " vorsprachlich sein könne? Und läuft Wittgensteins berühmtes Privatsprachenargument nicht gerade in diese Richtung? Rekonstruieren wir es (ganz verkürzt) wie folgt: Ich kann Empfindungen vielleicht haben, aber nicht individuieren ohne eine Sprache, die mir die geeigneten Begriffswörter (also Grundprädikate) dafür an die Hand gibt. Und so gilt jedenfalls, daß ich erst dann im strengen Sinne des Wortes weiß, was ich empfinde, wenn ich den entsprechenden Begriff besitze. D e r ist sprachlich auch dann, wenn ich ihn nicht tatsächlich auf Deutsch oder Französisch anderen mitteile. Die Privatheit des Begriffssystems, in dem ich mir die Bedeutung meiner Erlebnisse klar mache, ist genauso grammatikalisch wie Englisch und Deutsch und läßt sich damit prinzipiell auch von anderen erlernen und in andere Sprachen übersetzen. Ayers Argumentation scheint dies ausdrücklich zuzugeben. Ich k o m m e auf das Privatsprachen-Argument im Schluß-Abschnitt meines Textes zurück. Zunächst möchte ich ein Phänomen untersuchen, das mit der unmittelbaren Vertrautheit, in der uns Gefühle erschlossen sind, eng verbunden scheint und das doch klar kognitiven Charakter hat. In ihm kommen wesentlich Begriffe ins Spiel - und da viele glauben, unser Vermögen, Begriffe zuzuschreiben, verdanke sich unserer Sprachfähigkeit, so glauben sie auch, daß spätestens nun ein Sektor unseres Geistes sich als sprachabhängig erweise. Ich will auf diejenige Variante von (oder „SelbstSubjektivität hinaus, die ich vorhin „Selbsterkenntnis" wissen") genannt habe. Daß auch sie nicht wesentlich sprachlich sei, ist - nach frühidealistischen und phänomenologischen Vorläuferschaften in unseren Tagen wesentlich die Entdeckung des vor zehn Jahren verstorbenen Hector-Neri Castañeda gewesen. 3 8 58

Castañeda, I. Essays on Self-Consciousness, wie Anm. 14; vor allem „He". A Study in the Logic of Self-Consciousness, zuerst 1966 erschienen, 35-60. - Ich gehe im Folgenden davon aus, daß die Unterscheidung von Einstellungen de re oder de dicto nicht allein eine solche von sprachlichen Démarchen darstellt, sondern daß wir uns in de reEinstellungen auf etwas unserer Vorstellung bzw. Sprachäußerung Fremdes beziehen, während der Bezug auf ein Gesagtes (ein dictum) sprachimmanent erfolgen kann. Nur dann ist der Nachweis der Irreduzibilität von Einstellungen eines bestimmten Typs auf de ¿í'c/o-Einstellungen ein Nachweis ihrer Irreduzibilität auf bloße Sprache.

S I N D BEWUSSTSEIN UND D E N K E N WESENTLICH SPRACHLICH?

121

Auf Castañeda haben sich fast alle nachfolgenden Autoren berufen. Seine These lautet: Selbstwissen (also das, worauf wir in epistemischen Kontexten mit dem Fürwort der ersten Person Singular bezugnehmen) ist nicht analysierbar in Begriffen einer Sprache über Gegenstände, (objektive) Ereignisse oder wahre Aussagen. Das heißt - parallel -, daß Selbstwissen sich nicht reduzieren läßt auf Gegenständliches oder Sprachliches. An diese These knüpft Castañeda aber eine weitere, die den Zusammenhang mit der Transzendentalphilosophie noch deutlicher macht: nämlich daß die Bezugnahme auf Gegenstände (Ereignisse, Sachverhalte usw.) nur auf der Grundlage vorgängigen Selbstbewußtseins möglich ist. 59 - Ich will versuchen, die Einsicht, die der Rede von einer Zte-se-Einstellung zugrunde liegt, zunächst an einem Beispiel zu illustrieren. In einem zweiten Schritt will ich Ansätze zu einer theoretischen Fassung des Phänomens geben. Zunächst das Beispiel. Es ist berühmt und wird oft zitiert. Der Wiener Physiker Ernst Mach (1838-1916), der neutrale Monist und Anreger Robert Musils und des Wiener Kreises, erzählt folgende Episode: Einst stieg er, etwas erschöpft, in einen Wiener Bus. Wie er die Treppen hinaufging, sah er im gleichen Rhythmus auf der anderen Seite einen Mann einsteigen, und es schoß ihm der Gedanke durch den Kopf: „Was ist das für ein herabgebrachter Schulmann!" 40 In seiner Unaufmerksamkeit hatte er nicht bemerkt, daß er auf sich selbst bezugnahm, weil er den Spiegel nicht gesehen hatte. Mach hatte auf sich selbst bezug genommen, und er war bei vollem Bewußtsein. Also ist es unangemessen, Selbstwissen als Wissen von sich selbst zu beschreiben. Vielmehr bedarf es folgender Komplizierung: Im selbstbewußten, nicht nur bewußten Selbstbezug nehme ich Bezug nicht nur auf mich selbst, sondern auf mich selbst ab mich selbst. Ich muß nicht nur den richtigen Gegenstand, mich selbst, herausfinden (das tut Ernst Mach erfolgreich). Ich muß auch wissen, daß ich es selbst bin, auf den ich mich wissend beziehe. Das ist eine Entdeckung, die wir Carl Leonhard Reinhold (1758-1825), 39

Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. In: Fichtes Werke 1, hg. I. H. Fichte, Berlin 1845, 519-534; Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt 1, hg. O. Kraus, Hamburg 1924, Nachdruck 1973; Jean-Paul Sartre, Conscience de soi et connaissance de soi. In: M. Frank (Hg.), Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, Frankfurt am Main, 1991, 367-411; Castañeda, I. Essays on Self-Consciousness, wie Anm. 14, 159, 169 ff.

40

Ernst Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen,

Jena 1886, 34.

122

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dem Vorgänger auf Fichtes Lehrstuhl und Erfinder der Elementarphilosophie, verdanken. Reinhold fand innerhalb des Bewußtseins (wie er sich ausdrückt) einen wesentlichen Unterschied zwischen Subjekt und Objekt; andererseits hielt er Selbstbewußtsein für einen Sonderfall eines solchen Bewußtseins. So aber bekam er Schwierigkeiten, „das Objekt des Bewußtseyns als identisch mit dem Subjekte vor[zu]stell[en]".41 Daß das Vorstellende im Selbstbewußtsein mit dem Vorgestellten identisch ist, könnte unmöglich aus der Anschauung des Vorgestellten als solchem eingesehen werden. Denn ohne eine Zusatzinformation muß dem Subjekt seine objektivierte Anschauung als die eines Fremden, und gerade nicht als die seiner selbst, erscheinen - wie dann Fichtes Kritik am Reflexionsmodell des Selbstbewußtseins geltend machen wird. Ein Fremdes ist eben ein Fremdes und nimmermehr ein Ich. Von ihm ist es ganz sinnlos, sich eine Belehrung über das zu erhoffen, was prinzipiell kein Gegenstand ist. Kenne ich nun das Andere als mich, so mußte diese Objekt-Kenntnis durch eine prä-objektive Kenntnis unterlaufen und beglaubigt sein. Also ist auch die Sprachform, in der Selbstbewußtsein sich artikuliert (nämlich als reflexiver Bezug eines Subjekts auf sich selbst als Objekt), prinzipiell ungeeignet, die Einheit der Kenntnis auszudrücken, als die wir uns im Selbstbewußtsein erfahren. Diese eigentlich schlichte Einsicht ist ausreichend, um Ernst Mach aus seiner Verlegenheit zu helfen. Er konnte sich darum für jemand andern mißkennen, weil er die Information über sich von der Gegenstandsseite, hier von einem Spiegelbild bezog. Reflexion meint ja „Spiegelung". Nun aber wissen wir, daß das Reflexionsmodell des Selbstbewußtseins in die Irre fuhrt. Wir können das Spiegelbild der Reflexion als eine Repräsentation unserer selbst nur erkennen, wenn wir, aller Reflexion voraus, mit uns schon vertraut waren. Wahrnehmungsgestützte Selbstidentifikation (etwa unseres Spiegelbildes) setzt nicht-wahrnehmungsgestützte Selbsterkenntnis voraus.42 Da es Objekte sind, die wir wahrnehmen, kann man allgemeiner sagen, daß, was uns im Selbstbewußtsein präsentiert wird, überhaupt nicht die Form von Objekten hat. Das Kino hat längst Kapital geschlagen aus der Komik solcher Verwechslungen. Denken Sie an die Szene eines, der sich vor dem Spiegel zu rasieren meint, bis sich ihm das 41

42

Karl Leonhard Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag, Jena 1789, 555; Ders., Beytrcige zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen, Bd. 1, das Fundament der Elementarphilosophie betreffend, Jena 1790, 181 f., 197, 222. Shoemaker, Swinburne, Personal Identity, wie Anm. 22, 104 f.

123

S I N D B E W U S S T S E I N UND D E N K E N W E S E N T L I C H S P R A C H L I C H ?

vermeinte Spiegelbild als handfester Gegenpart entpuppt und ihm die Faust ins Gesicht schlägt. 43 Unser Gelächter belehrt uns darüber, daß in einem Typ von Selbstbewußtsein eine kognitive Leistung am Werk ist. Sie ist es, die uns zur Einfügung des Begriffswörtchens als zwingt, wenn wir vom Bewußtsein unserer selbst reden. Das mußten wir nicht, solange wir nur mit dem phänomenalen Selbstbewußtsein zu tun hatten (da mußte der seelische Zustand nur sich selbst bekannt sein, nicht notwendig auch mit einem, der/die ihn hat). Wir können jetzt genauer angeben, worin dieser kognitive Zusatz besteht; und das bringt uns zurück zum Irreduzibilitätsproblem. Wir können nämlich epistemische Einstellungen zu uns selbst sogenannte attitudes de se - nicht auf Einstellungen de dicto oder de re zurückführen. Einstellungen de dicto sind Einstellungen zu einem dictum, einem Gesagten: einer Proposition. Einstellungen de re nennt die Tradition solche zu einer res-, zu einem Gegenstand. Wir haben also beim Selbstwissen weder mit propositionalem noch mit gegenständlichem Wissen zu tun. Nennen wir einfachheitshalber die Vertreter der ersten Theorie Nominalisten (oder Anhänger des Unguistic turn), die der zweiten Physikalisten, dann werden wir sagen, daß die nominalistischen sowenig wie die physikalistischen Reduktionsversuche das Wesen von Einstellungen zu sich selbst erfassen. Ich beschränke mich - getreu meinem Thema - auf die Irreduzibilität von Selbstwissen auf propositionales (sprachliches) Wissen, also auf die Irreduzibilität von Wissen de se auf Wissen de dicto. Ein Dictum, fachsprachlich: eine Proposition, sagt uns, wenn wahr, was der Fall ist in der Welt. Nach der modallogischen Wende in der Semantik sollten wir besser sagen, sie sei eine Menge möglicher Welten, nämlich gerade derjenigen, in denen sie zutrifft. 44 Kennen wir diese Menge, so kennen wir nur eine Region im logischen Raum, mehr nicht. Wir wissen also noch nicht, welche Welt wir wirklich bewohnen. Aber wir denken, daß jedes Subjekt nur eine von ihnen bewohnt. Wir werden diesem Subjekt (uns selbst natürlich) also keine weitere Proposition, sondern eine besondere Eigenschaft zusprechen: genau eine Welt zu bewohnen. 4 3 Das hört sich langweilig, da technisch an. Aber es verhilft uns zu dem entscheidenden theoretischen Coup. Eigenschaften sind nämlich auch Mengen, aber 45

S h o e m a k e r , The First Person Perspective,

44

David L e w i s , Attitudes

wie A n m . 20, 211.

De Dicto and De Se. In: Ders., Philosophical

York, Oxford 1983, 133-159, hier 134; Vol. 2, 160, A n m . 45

Ebd., 136.

Papers

1, N e w

124

Manfred Frank

anders als Propositionen - nicht von Welten, sondern von Wesen, die z. B. Welten bewohnen. Nun wußten wir aus der Kenntnis aller propositionalen Gehalte alles über die Welt(en), aber nichts über uns selbst. Also gibt es einige Kenntnis, die nicht propositional ist.46 Aber der Vorteil des Umsteigens von Propositionen auf Eigenschaften reicht noch weiter. Wir kommen nämlich von einigen Eigenschaften zu allen Propositionen. Propositionen als Weltenmengen können die Kenntnis, die meinigen zu sein, verbergen; aber von der Bewohnung durch jeweils ein Subjekt komme ich zu allen Welten, weil es unbewohnte Welten in der Modaltheorie nicht geben kann. Es geht also keine Information verloren, sondern eine - die entscheidende - wird gewonnen. Und - was zu beweisen war - es handelt sich bei ihr um ein echtes Wissen, das dennoch nicht de dicto ist, sich also z.B. in keinem Lehrbuch der Physik nachschlagen läßt. Dieses Wissen ist natürlich ein welteröffnendes Selbst-Wissen, das wir vorhin Selbsterkenntnis genannt haben. Das läßt sich an einem berühmten Beispiel illustrieren, das sich John Perry ausgedacht hat:47 Der unglückselige Rudolf Lingens hat das Gedächtnis fast gänzlich verloren. In diesem Zustand hat er sich in die Bibliothek der Stanford-Universität begeben. Alle möglichen Informationen, die er dort findet, z.B. eine genaue Lageskizze der Bibliothek, womöglich mit einem kleinen roten Pfeil „Sie befinden sich hier", sowie eine ausführliche Lebensbeschreibung von Rudolf Lingens, können ihm nicht helfen, zwei Kenntnisse zu erwerben: wer er ist und wo er sich befindet. Gewiß sind diese Kenntnisse nicht für die Katz. Sie verhelfen ihm dazu, sich im logischen Raum zu orten. Er weiß eine Reihe von wahren Propositionen über Rudolf Lingens, der er wirklich {de re) ist. Was ihm fehlt, ist auch nicht die Fähigkeit, sich selbst eine bestimmte Wahrnehmungssituation (de se) zuzuschreiben. Es gebricht ihm lediglich an der Fähigkeit, sich eine oder alle der für wahr gehaltenen Propositionen selbst zuzuschreiben. Und diese Fähigkeit (die Eigenschaß der Selbstzuschreibung) ist eben keine, die einem propositionalen Wissen entspricht. Daraus folgt, daß einige Kenntnis nicht-propositional, aber eben doch eine wirkliche Erkenntnis ist.48 Ihre kognitive Relevanz zeigt sich darin, daß Rudolf Lingens sein Verhalten völlig ändern wird, wenn ihm bewußt geworden ist, daß er selbst Rudolf Lingens ist. 46 47

Ebd., 135 f., 139. John Periy, Frege on Demonstratives. 492.

48

Lewis, Attitudes, wie Anm. 44, 139.

In: Philosophical Review 86 (1977), 474-497, hier:

SIND BEWUSSTSEIN UND DENKEN WESENTLICH SPRACHLICH?

125

Was folgt? Daß es eine gewisse subjektive Kenntnis gibt, die objektivem (oder Welt-) Wissen ebenso notwendig entgeht wie sprachlichem Wissen. Auch eine ideale Physik, auch eine ideale Grammatik wird sie uns nicht liefern.49

WITTGENSTEINS

ARGUMENT

G E G E N D I E M Ö G L I C H K E I T VON

PRIVATSPRACHEN

Kommen wir zum Abschluß zurück auf Wittgensteins Privatsprachenargument, von dem die Philosophie eine Weile verzaubert war wie das Eichhörnchen von der Schlange. Gleichwohl ist gerade diese Wunderwaffe im Kampf gegen die sogenannte Bewußtseinsphilosophie von analytischen Philosophen in jüngerer Zeit vielfach zu einem Papiertiger erklärt worden. 50 Castañeda hat neben der Privatheit des Erlebens auch einiges Denken vor dem alles vereinnahmenden Übergriff des linguistic turn zu bewahren versucht. Dabei muß zunächst gar nicht bestritten werden, daß Denken in gewissem Grade auf einer sprachlichen Tätigkeit beruht. So verfügen wir über gewisse Gedanken einfach darum nicht, weil das Sprachsystem, in das wir hineingeboren wurden, für sie keine Ausdrucksmöglichkeiten vorgesehen hat: Die alten Griechen dachten nicht an die nicht-euklidische Geometrie, Isaac Newton (1642-1727) nicht an die Krümmung des Raums usw. Doch gibt es Bereiche des Denkens, die aus ganz prinzipiellen Gründen den linguistischen Ausdruck übersteigen. Dazu gehören jene voll bestimmten Qualitäten, die die scholastische Tradition (und noch Gottfried Wilhelm Leibniz, 1646-1716) die species infimae der Wahrnehmung nannte. Da es keine Gegenstände mehr gibt, als deren Klasse sie gelten dürften (sie sind ja schon die allerkleinste Art), sind sie per deßnitionem nicht konzeptualisierbar. Eine alte aristotelische Einsicht: „Vom Einzelnen gibt es keinen Begriff." Es kann z. B. keine Wörter geben für jede der voll individuierten Farbabschattungen. Die Grenzen meiner Sprache sind also nicht einfach die Grenzen meiner Welt, wie Wittgenstein behauptet hatte.51 Eher scheint es sinnvoll, die Sprache als 49

Ebd., 144.

50

Hector-Neri Castañeda, Ort Philosophical

Method, Indiana University, Noüs Publica-

tions 1 (1980), 57 ff. 51

Ludwig Wittgenstein, Traclatus logico-philosophicus, Main 1984, 7-85, hier 67, Nr. 5.6.

In: Werkausgabe 1, Frankfurt am

126

Manfred Frank

eine conditio sine qua non, aber nicht als eine causa per quam meines Weltzugangs anzuerkennen. Auch Castañeda sieht das so. Indem er zugibt, daß zumindest das hochentwickelte menschliche Denken den Besitz der Sprache (als eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung) voraussetzt, grenzt er sich umso schroffer von einer überzogenen Konsequenz ab. Ihr zufolge sei „Sprache als Mittel des Denkens eben damit auch ein Mittel der Mitteilung (communication)". Der Überschritt vom einen zum anderen bilde den Kern des sogenannten Privatsprachen-Arguments. Ich will das Argument kurz so in Erinnerung bringen, wie Castañeda es rekonstruiert: Privat möge eine Sprache heißen, die nur der Sprecher allein verstehen kann. Was soll aber kann bedeuten? Hier liegt eine der Dunkelheiten des Arguments. Es muß sich um einen starken Sinn von Können handeln, einen begrifflichen (oder analytischen oder apriorischen), denn kann drückt hier eine vom rechten Verständnis der Begriffe Sprache, Privatheit und Verstehen determinierte Unmöglichkeit aus. Aufgrund der stillschweigenden Identifikation von Denken und Verstehen mit Sprachbesitz und von Sprachbesitz mit Mitgliedschaft in einer Kommunikationsgemeinschaft ergibt sich dann die These, unmöglich könne ein Wesen eine Sprache verwenden, die nur es allein versteht. So etwa sähe eine Skizze der Schlüsselannahmen aus, die ins Anti-Privatsprachen-Argument eingehen: 52 (1) Eine Sprache ist ein System von Regeln, und Sprechen oder Schreiben ist Regelbefolgen. (2) Es gehört zum Wesen einer Regel, falsch verwendet (oder verletzt) werden zu können. (5) Privatus (so möge der Sprecher der angenommenen Privatsprache heißen, und diese selbst Privatisch) kann die Regeln von Privatisch nicht falsch anwenden. Aus diesen Prämissen ergibt sich erstens, daß Privatus Privatisch nicht sprechen oder benutzen kann, und zweitens, daß Privatisch überhaupt keine echte Sprache ist. Die Dialektik der Gegenargumentation beginnt mit der Prüfung der 3. Prämisse und geht dann weiter zu der Frage, in welchem Sinn Sprachen Regelsysteme sind oder besser: in welchem

52

Castañeda, On Philosophical Method, wie Anm. 50, 58 f.

S I N D B E W U S S T S E I N UND D E N K E N W E S E N T L I C H S P R A C H L I C H ?

127

Sinn das sprachliche Handeln ein regelgeleitetes Verhalten (behavior) ist. 53 Fangen wir also mit der Prüfung von Prämisse (5) an. Es ist, glaube ich, klar, worauf Wittgenstein damit hinauswill: Hätte der Phänomenalist recht, so würden die Bedeutungen der Ausdrücke seiner Privatsprache durch die vorsprachlichen (inneren) Gedanken bestimmt, die er damit verbindet; und dann könnte er sich natürlich darüber nicht täuschen, geschweige Fehlanwendungen der Bedeutungsregeln machen. (Genau, wie das Husserl für das „einsame Seelenleben" annahm.) Nun ist es aber das jedenfalls unterstellt Wittgenstein - für eine Sprache notwendig, daß solche Fehlanwendungen möglich sind. Und dann ist auch notwendig, daß das, was ich über die Bedeutungsregeln denke, nicht ausschlaggebend für das ist, was sie wirklich (und damit meint Wittgenstein: im intersubjektiv kodifizierten und kontrollierten Gebrauch) bedeuten. Das ist die These, die Davidson als die viel zu starke des „social externalism" zurückweist. 54 Ihre klassische Formulierung findet sich in Fragment Nr. 202 des ersten Teils der Philosophischen Untersuchungen: „Darum ist ,der Regel folgen' eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ,privatim' folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, w i e der Regel folgen." 5 5

Castañeda destilliert aus diesem Fragment folgendes Prinzip (das er RL nennt: iiule of Language): „Für jede Regel einer Sprache L und jeden Sprecher S von L ist es möglich, daß 5 manchmal denkt, er folge der Regel R, ohne sie wirklich einzuhalten." 56 Und dies Prinzip hält Castañeda für falsch. Regel-Befolgung beruht auf der Freiheit des Handelnden, und vergangener Regelgebrauch bindet nicht (in der Weise einer logischen oder kausalen Determination) mein gegenwärtiges Verständnis (bzw. den Gebrauch, den ich gegenwärtig von der überlieferten Regel mache). 57 Ferner: Diese Freiheit einmal abgerechnet, kann vergangene Konditionierung nie hinreichend sein für die Erklärung aktueller Sinneffekte. 53 54 55 56 57

Ebd., 39. Donald Davidson, Reply to Tyler Bürge. In: The Journal of Philosophy 85 (1988), 664 f. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, wie Anm. 2, 225-580, hier: 345, § 202. Castañeda, On Philosophical Method, wie Anm. 50, 40. Hector-Neri Castañeda, Self-Profile. In: J.E. Tomberlin (ed.), Profiles: Hector-Neri Castañeda, Dordrecht, Boston, Lancaster, Tokyo 1986, 3-137 (bes. 86 ff. und 94 f.).

128

Manfred Frank

Regeln können - wie alles in der Vergangenheit Erworbene - vergessen werden. Warum sollte der Benützer einer Privatsprache sich nicht auch mal versprechen können, also etwa grau statt blau sagen, wenn er einen wolkenlosen Herbsthimmel sieht, und damit die Regel verletzen, die da besagt: „Wenn etwas ein x ist, mußt du es blau nennen"? 5 8 Auch kann Privatus denken, er folge der Regel R, während er in Wirklichkeit die Regel R1 befolgt, einfach durch einen Identifikationsfehler. Warum sollte Privatus nicht widerfahren, was einem kundigen Deutschsprecher ständig widerfährt? Nehmen wir an, dieser denkt, folgende Regel zu befolgen: „Wenn x ein Stuhl ist, mußt du es Stuhl nennen." Nun sieht er einen Stuhl und nennt ihn nicht so. Dann befolgt er die Regel offenbar nicht. 59 Manche Regeln sind nun freilich geradezu so beschaffen, daß der Gedanke an ihre Befolgung mit ihrer tatsächlichen Befolgung (sozusagen performativ) zusammenfallt. So die Regel „Wenn du denkst, eine überstürzte Handlung verzögern zu sollen, denke ,1 + 2 + 5 + . . . + 2 4 = 500'." Denke ich, diese Regel zu befolgen, dann denke ich, daß ich sie anwende und daß ich damit eine Kurzschluß-Reaktion vermeiden will; und während ich an die Regel denke, denke ich „1 + 2 + 5 + ... + 24 = 500". 6 0 So weiß der König von Peru (der in A.A. Milnes berühmtem Gedicht auch ein Kaiser ist), 61 wenn sich wieder ein cholerischer oder ein Schüchternheits-Anfall oder sonst etwas Kritisches in seinem Gemüt ankündigt, eine Regel für diesen Fall. Und wenn er an diese Regel denkt, so befolgt er sie auch schon - stets erfolgreich: The King of Peru (Who was Emperor too) Had a sort of a rhyme Which was useful to know, If he felt very shy When a stranger came by, Or they asked him the time When his watch didn't go; Or supposing he fell (By mistake) down a well, Or he tumbled when skating

58 59 60 61

Castañeda, On Philosophical Method, wie Anm. 50, 59, 41. Ebd., 41 Ebd. Alan Alexander Milne, The Emperor's Rhyme. In: Ders., Now We Are Six (1927), New York 1988, 50-52.

S I N D BEWUSSTSEIN UND DENKEN WESENTLICH SPRACHLICH?

129

And sat on his hat, Or perhaps wasn't told, Till his porridge was cold, That the breakfast was waiting Or something like that; Oh, whenever the Emperor Got into a temper, or Felt himself sulky or sad, He would murmur and murmur, Until he felt firmer, This curious rhyme which he had: Eight eights are sixty-four; Multiply by seven. When it's done, Carry one, And take away eleven. Nine nines are eighty-one; Multiply by three. If it's more, Carryfour, And then it's timefor tea.

So auch die Regel „Entscheide dich immer, das zu tun, wovon du denkst, es würde dir gerade am meisten Spaß machen". Wie könnte ich diese Regel zu befolgen glauben, ohne sie damit auch wirklich zu befolgen? Womit Wittgensteins Prämisse umgestoßen ist, daß zwischen dem Befolgungsglauben und dem wirklichen Befolgen prinzipiell ein Unterschied sein muß, soll von einer wirklichen Sprachxege\ die Rede sein können. Diese Prämisse beruht einfach auf einer petitio principii: Sie setzt zur Verhinderung der Rede von einer Privatsprache genau eine solche Definition von Sprache ein, nach der eine Privatsprache eben keine Sprache ist, weil in ihr der Unterschied zwischen Befolgungsglauben und wirklichem Befolgen zusammenbricht. Ein weiteres Argument gegen die Möglichkeit privater Sprachen und für die Prämisse, daß Privatus die Regeln von Privatisch nicht fehlanwenden kann, lautet, daß Privatus richtigen und unrichtigen Sprachgebrauch nicht unterscheiden könne. 62 Aber in diesem Einwand geht zweierlei durcheinander: (A) der Grundsatz (tenet), wonach es private Entitäten in dem Sinne gibt, daß ihre Existenz nur dem Denker oder 62

Castañeda, On Philosophical Method, wie Anm. 50, 41 f.

130

Manfred Frank

Sprecher der betreffenden Sprache bekannt ist; und (B) der Grundsatz, daß Sprachen notwendig strukturierte Gebilde sind, also eine Grammatik haben. Man kann das letztere (daß Sprachen, also auch Privatsprachen, grammatikalisch strukturiert sind) aber ruhig zugeben, ohne auch schon zugeben zu müssen, Privatus könne grammatisch richtiges und grammatisch falsches Sprechen nicht unterscheiden. Hier wird das Kriterium intersubjektiver Kommunizierbarkeit auf dasjenige der regelkonformen Denkbarkeit projiziert und dann gesagt, zur Korrigierbarkeit gehöre notwendig die Kontrolle durch die Sprachgemeinschaft, und die fehle ja gerade dem Privatsprecher. 63 Aber das ist wiederum gar nicht triftig, sondern beruht auf demselben Typ von Erschleichung. Denn natürlich wird man von niemandem sagen, er beherrsche eine Sprache vollkommen, wenn er nicht von selbst, ohne Korrekturen durch Fremde, sprechen und neue Sätze aus eigenem Vermögen formen kann. „Wenn man aber letzten Endes beim Denken mit sich allein ist, dann scheint die Frage unverständlich, inwiefern man es nicht schon von Anfang an hat sein können". 6 4 Schließlich wird den Gegnern des Privatsprachen-Arguments gern zu bedenken gegeben (z. B. und mit Vorliebe von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas), daß wir Sprechen von anderen (gewöhnlich von den Eltern) lernen. Aber das sieht mehr nach einem Schluß als nach dem Obersatz eines ordentlichen Arguments aus. Und in der Tat ist es als Einwand nicht haltbar. Es steckt dahinter eine merkwürdige Ansicht von Kausalität: „ D i e Vorstellung, eine Sprache m ü s s e von anderen gelernt werden, und zwar in einer Gemeinschaft von Sprechern derselben Sprache, mit denen m a n gleiche Handlungsweisen ausübt, läuft auf eine sehr strenge Kausalthese hinaus, nämlich: daß die sprachlichen Dispositionen, die unserem Hirn und unseren Muskeln eingepflanzt worden sind, ihnen nicht anders haben eingetrichtert werden können als durch die Reizwirkungen (Stimuli) von Geräuschen und Verhaltensweisen anderer Sprecher in geeigneten Umständen. Das ist eine sehr starke und unplausible Kausalthese. Auf der M a k r o - E b e n e sprechender Organismen scheint überhaupt kein Grund für die A n n a h m e zu bestehen, daß bestimmte Typen von Wirkungen durch einen und nur durch einen Typ von Ursache hervorgebracht werden k ö n n e n . " 6 5 65 64 65

Ebd., 42 f. Ebd., 43. Ebd., 45.

S I N D BEWUSSTSEIN UND D E N K E N WESENTLICH SPRACHLICH?

131

Schon Immanuel Kant ( 1 7 2 4 - 1 8 0 4 ) hatte gelegentlich bemerkt, daß Wirkungen immer mehrere Ursachen haben können, so daß aus ihrem Vorliegen nie mit Sicherheit die „richtige Ursache" rückerschlossen werden kann. 66 Kurz, allen versteckten Zweideutigkeiten in den Anti-PrivatsprachenArgumenten zum Trotz, scheint ein Punkt klar: „Diese Argumente beweisen nicht, daß es keine privaten Entitäten gibt (die nur dem Sprecher selbst [...] bekannt sind); sie beweisen eher, daß Privatheit nicht isoliert werden kann von, sondern verknüpft werden muß mit den Strukturen öffentlich zugänglicher Gegenstände. Mit andern Worten, die Stärke dieser Argumente liegt darin, daß sie ein starkes Plädoyer für die Einheit unserer Weltansicht liefern

Über diese Welt kann ich aber sehr wohl private Gedanken haben, die nicht mit Wörtern zusammenfallen, über die ich mit anderen Personen kommuniziere. Der Kreis unseres Durchgangs scheint sich zu schließen und eine alt-ehrwürdige Tradition scheint sich zu bewähren. Danach steht am Anfang und am Ende des Sprachgeschehens ein Wesen, dessen Selbstverständnis nicht im Gewebe der Sprache aufgeht, sondern das dies Gewebe erst spinnt und dann am Leben erhält. Nennen wir es in humanistischer Tradition ein menschliches Subjekt.

66 67

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 368. Castañeda, On Philosophical Method, wie Anm. 50, 43.

Ruth Wodak DISKURS,

POLITIK,

EINLEITENDE ÜBERLEGUNGEN Z W I S C H E N DISKURS,

IDENTITÄT

ZU D E N

POLITIK,

ZUSAMMENHÄNGEN

IDENTITÄT

Umberto Eco beschreibt in seinem neuen Essayband Derrick oder Die Leidenschaß fiir das Mittelmaß die großen Veränderungen, die mit Globalisierungsphänomenen und gleichzeitigem steigenden Nationalismus und Chauvinismus verbunden sind. An einer Stelle, in einem Essay über den Krieg im Kosovo, meint er beispielsweise folgendes: „Wenn der Krieg alten Schlages das Ziel hatte, möglichst viele Feinde zu vernichten, scheint es für den Krieg neuen Schlages typisch zu sein, daß man bemüht ist, möglichst wenige Feinde zu töten, da man sich sonst den Unmut der Medien zuziehen würde. Im Krieg neuen Schlages ist man nicht darauf bedacht, den Feind zu vernichten, denn die Medien machen uns sensibel für seinen Tod; der Tod ist nicht mehr ein fernes unbestimmtes Ereignis, sondern eine unerträgliche visuelle Evidenz f...]." 1

Wie richtig diese Bemerkung ist, weist sich jeden Tag aufs neue, nicht zuletzt anhand der schrecklichen Bilder eines 12jährigen palästinensischen Buben in Israel, der im Kugelhagel fiel, oder anhand der Aufnahmen fliehender Kurden aus dem Irak vor einigen Jahren. Kriege gewinnen einen sterilen Charakter, Bomben fallen aus der Luft „irgendwohin"; diese Art der Kriegsberichterstattung, besonders durch CNN, löste ja vor allem während des Golfkrieges und während des NATO-Angriffes in Jugoslawien viele Debatten aus. 2 Der sterile, visuelle Krieg steht im Gegensatz zum Krieg als Text, wie Klaus Naumann sein Buch über die Erinnerungen und das Gedenken des Zweiten Weltkriegs in Deutschland benannt hat. 3 Wie Eco richtig beschreibt, sind wir vom Text zum Bild gekommen; und dieser Schritt manifestiert mehrfache qualitative Veränderungen auf vielen Ebenen; auf einige soll im folgenden eingegangen werden. Beispielsweise weist diese Einschätzung von Umberto Eco auf Globali1 2

Umberto Eco, Derrick oder Die Leidenschaftfiir das Mittelmaß, München 2000, 54-55. Douglas Kellner, The Persian Gul/TV War, Boulder 1992.

3

Klaus Naumann, Der Krieg als Text. Das Jahr Presse, Hamburg 1999.

1945 im kulturellen

Gedächtnis

der

154

Ruth Wodak

sierungsphänomene und auch auf die Entwicklung neuer Diskurse und neuer Kommunikationstechniken hin. Traditionelle Konzepte und Begriffe passen also nicht mehr ganz; Kriege finden anderswo und in anderen Dimensionen statt, obwohl es weiterhin die Kategorien von „Freund" und „Feind" als konstitutive Momente von Politik und von politischem Diskurs gibt. Denn die Trennung der Welt in „Gute" und „Böse", in „Wir" und die „Anderen" als relevante Dichotomisierung besitzt weiterhin entscheidende Funktionen, diese Trennung erlaubt nämlich Solidarisierung und Ausgrenzung, sie trägt zur diskursiven Konstruktion von Identitäten und Differenzen entscheidend und maßgeblich bei. In diesem Artikel können die zentralen und wichtigen Konzepte im Titel nicht eingehend abgedeckt werden; 4 vielmehr sollen, auf dem Hintergrund rezenter Forschungen, Überlegungen angestellt werden, inwieweit sich aufgrund von Globalisierungstendenzen und dem damit zusammenhängenden Zusammenrücken der Nationalstaaten neue Eingrenzungs- und Ausgrenzungsdiskurse sichten lassen; und inwieweit auch heute, aufgrund der genannten Veränderungen, die traditionellen Werte und Institutionen noch Platz haben.5 Identitätsforschung muß sich daher heutzutage besonders mit den Spannungen beschäftigen, die sich zwischen supranationalen, nationalen, regionalen und lokalen Identitäten ergeben, die alle diskursiv zu fassen sind, die Spannungen produzieren und reproduzieren und daher auch über eine Analyse der Diskurse sichtbar und transparent werden. 6 4

Vgl. Ruth Wodak, Rudolf d e Cillia, Martin Reisigl, Karin Liebhart, Klaus Hofstätter, M a r i a Kargl, Zur diskursiven

Konstruktion

nationaler

Identität,

Frankfurt a m M a i n

1998; Ruth Wodak, Rudolf d e Cillia, Martin Reisigl, Karin Liebhart, Klaus Hofstätter, Martin Kargl, The discursive

Construction

Reisigl, Ruth Wodak, Discourse

semitism, 5

Identity, Edinburgh 1999; Martin Rhetorics

Vgl. Peter Muntigl, Gilbert Weiss, Ruth Wodak, European

organizational Anthropology Europe,

of Racism

and

Anti-

L o n d o n , N e w York 2001.

Un/employment:

6

of National

and Discrimination:

An

interdisciplinary

change,

approach

to employment

Union

Discourses

policy-making

on and

A m s t e r d a m 2000; Irene Bellier, Tom M . Wilson (ed.), An

of the European

Union: Building,

Imagining

and Experiencing

the New

Oxford, N e w York 2000.

Stuart Hall, Introduction:

Who needs „Identity"?

In: St. Hall, P. D u Gay (ed.),

Ques-

tions of Cultural Identity, L o n d o n 1996, 1-17; Denis-Constant Martin, The Choices of Identity. In: Social Identities 1, 1 (1995), 5 - 2 0 ; Benedict Anderson, Die Erfindung Nation.

Zur Karriere

(engl. 1983).

eines folgenreichen

Konzepts,

der

Frankfurt a m M a i n , N e w York 1988

D I S K U R S , P O L I T I K , IDENTITÄT

135

Meinen Ausführungen lege ich daher zwei Thesen zugrunde, die auf die genannten Veränderungen Bezug nehmen und erste theoretische Erwägungen beinhalten: Erstens, daß Experten und Expertinnen mit Hilfe von Wissensmanagement und Netzwerken althergebrachte Entscheidungsstrukturen abgelöst haben; dies ist eine unmittelbare Folge von Globalisierung. 7 Supranationale dynamische und flexible Kommissionen und Gremien lösen schwerfallige nationale Institutionen mehr und mehr ab. Damit werden auch in vielen Bereichen schnelle Entscheidungen und Beurteilungen wichtig und möglich, die in statischen bürokratischen Apparaten zu lange dauern und zu vielen Hindernissen ausgesetzt sind. 8 Die Zeit ist schneller geworden und grenzüberschreitend. 9 Die Probleme sind komplexer geworden, damit sind Wissen und Expertise relevanter als je zuvor; Bürokraten alten Stils, Generalisten (im diplomatischen Jargon) können diese Komplexität nicht mehr überschauen. Wir sprechen daher auch von neuen Eliten, von Wissenseliten.

Zweitens, daß zwar Eingrenzungs- und Ausgrenzungsdiskurse weiterhin konstitutives Moment politischer Kommunikation, einer Politik von Identität und Differenz, geblieben sind; daß aber gleichzeitig signifikant neue dynamische Grenzen geschaffen wurden und werden, zeitlich wie räumlich, was Anthony Giddens treffend mit „time and space distantiation" umschreibt und David Harvey für einige Bereiche der Politik wie Kultur empirisch nachgewiesen hat. 10 Die Verunsicherung, die aufgrund von Globalisierungen entsteht, verlangt nach einfachen Antworten (siehe auch dazu neue Überlegungen von Zygmunt Baumann zu drei Dimenunsafety ü), sionen der Verunsicherung, zu uncertainty, unsecurity und und diese schaffen immer wieder neue Fragmentierungen und Dichotomien. Konzepte wie Zeit, Raum, Grenze, „Wir" und die „Anderen" müssen grundsätzlich aufgrund neuer Öffentlichkeiten und der Aufhebung traditioneller politischer Werte überdacht werden. Damit hängt auch das Verschwimmen der Grenzen zwischen „privat" und „öffentlich" zusamHelmut Wilke, Inevitable unemployment: On the impact of the knowledge society on the labor market, University of Bielefeld 1999. 8 Mauritius Bach, Die Bürokratisierung Europas. Verwaltungseliten, Experten und politische Legitimation in Europa, Frankfurt am Main, New York 1999. 9 Anthony Giddens, The Constitution of Society, Cambridge 1994. 10 David Harvey, Justice, Nature and the Geography of Difference, London 1996. 11 Zygmunt Baumann, In Search of Politics, (Differenzierung von „Unsicherheit" in spezifische Formen von uncertainty/insecurity/insafety), London 1999. 7

136

Ruth Wodak

men; „System- und Lebenswelt" im Habermas'schen Sinne12 sind nicht mehr trennbar, wie noch vor einigen Jahrzehnten. Die Auflösung der Dichotomie zwischen „privat" und „öffentlich" ist beispielsweise Thema der Gender-Literatur seit einigen Jahren;13 hier sei nur auf den bahnbrechenden Aufsatz von Bonnie McElhinny hingewiesen,14 die dies anhand ethnographischer soziolinguistischer Untersuchungen von Polizeivernehmungen schlüssig nachweist. In den vorliegenden Ausführungen wende ich mich zunächst einigen Merkmalen politischer Kommunikation zu, auf dem Hintergrund eines theoretischen Modells, das Martin Reisigl und ich in unserem neuen Buch Discourse and Discrimination ausgearbeitet haben15 und das eine Weiterfuhrung des diskurshistorischen Ansatzes im Rahmen der Critical Discourse Analysis darstellt;16 Martin Reisigl elaborierte in seiner Dissertation Wie man eine Nation herbeiredet diese Überlegungen noch weiter.17 Danach steht der „Wir-Diskurs" mit seinen Funktionen der Identitätsbildung im Mittelpunkt als ein wichtiges Merkmal populistischer Rhetorik als Antwort auf Globalisierungsphänomene.

DISKURS UND

POLITIK

Sprache und Politik waren in ihren dialektischen Vernetzungen und Interdependenzen schon seit der Antike Thema von Wissenschaft, Philosophie und Literatur.18 Heutzutage diskutieren aber auch die Medien und 12

13 14 15 16 17

18

Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt am Main 1998; Lilie Chouliarki, Norman Fairclough, Discourse in Late Modernity: Rethinking Critical Discourse Analysis, Edinburgh 1999. Ruth Wodak (ed.), Gender and Discourse, London 1997; Helga Kotthoff, Ruth Wodak (ed.), Communicating Gender in Context, Amsterdam 1997. Bonny McElhinney, Ideologies of public and private language in Sociolinguistics. In: Wodak (ed.), Gender and Discourse, wie Anm. 15, 106-139. Reisigl, Wodak, Discourse and Discrimination, wie Anm. 4. Vgl. Norman Fairclough, Ruth Wodak, Critical Discourse Analysis. In: T.A. van Dijk (ed.), Introduction to Discourse Analysis, London 1997, 258-284. Martin Reisigl, Wie man eine Nation herbeiredet. Eine diskursanalytische Untersuchung zur sprachlichen Konstruktion der östereichischen Identität in politischen Gedenkreden, (Dissert., unpubliziert), Wien 2001. Vgl. Walther Dieckmann, Ireformation oder Überredung. Zum Wortgebrauch der politischen Werbung in Deutschland seit der Französischen Revolution, Marburg 1964; Adrian Beard, The Language of Politics, London 2000.

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Bürger und Bürgerinnen den politischen Sprachgebrauch. Wie selten zuvor wird über einzelne Äußerungen von Politikerinnen debattiert, sie werden zitiert und entwickeln eine rasante Eigendynamik, sie werden in viele Sprachen übersetzt und vielfach interpretiert. Und sie werden sogar beurteilt, wie zuletzt in einigen Paragraphen des „Weisenberichts" 1 9 , aus d e m einige Bemerkungen zitiert werden sollen; dabei interessiert vor allem der symbolische Stellenwert des Weisenberichts innerhalb der politischen Kultur in Österreich, im Jahre 2000, nach der Regierungsbildung a m 4. Februar 2000 und der sogenannten „Wende" mit einer Regierungskoalition zwischen ÖVP und FPÖ. Der Weisenbericht stellte die „Exitstrategy" der 14 anderen EU-Mitgliedstaaten dar, als sich die Maßnahmen gegen die österreichische Regierung als unproduktiv erwiesen haben, da sie eher zur Bestätigung als zur Schwächung der Koalition führten. Der Weisenbericht wurde medial groß inszeniert und letztlich von der Regierung erwartet und dann als Bestätigung auch gefeiert: 2 0 ,,c) Der fortwährende Gebrauch zweideutiger Formulierungen durch führende Mitglieder der FPÖ. 88. Es scheint tatsächlich zu einem typischen Kennzeichen in der österreichischen Politik geworden zu sein, dass Vertreter der FPÖ äußerst mißverständliche Formulierungen verwenden. Hohe Parteifunktionäre der FPÖ haben über eine lange Zeit hinweg Stellungnahmen abgegeben, die als fremdenfeindlich oder sogar als rassistisch verstanden werden können. Viele Beobachter erkennen in den verwendeten Formulierungen nationalistische Untertöne, manchmal sogar Untertöne, die typisch nationalsozialistischen Ausdrücken nahe kommen, oder sie sehen in ihnen eine Verharmlosung der Geschichte dieser Zeit". Und der Bericht wird dann deutlicher und weniger vage: „89. Offenbar hat die FPÖ keine Maßnahmen gegen Mitglieder ergriffen, die öffentiich fremdenfeindliche Stellungnahmen abgegeben haben; sie hat diese Stellungnahmen weder verurteilt noch unterbunden und sich auch nicht eindeutig für sie entschuldigt. Wenn diese Äußerungen ihren Urhebern vorgehalten werden, bestreiten sie jegliche national-sozialistische Absicht oder einen entsprechenden Charakter der Äußerung". 19

M a r k u s Kopeinig, Christoph Kotanko, Eine europäische Pelinka, Österreich und Europa.

Wie „westlich"

Ajfaire,

ist die österreichische

W i e n 2000; Anton

Demokratie?

trag für W a l d e m a r H u m m e r und Anton Pelinka (in Vorbereitung), Manuskript. 20

Vgl. Kopeinig, Kotanko, Eine europäische

Affaire, wie A n m . 19.

Bei-

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Ruth Wodak

Diese zwei Paragraphen, und es folgen noch einige ähnliche, die sich mit den Handlungen - und Sprechen ist natürlich immer Handeln, wie wir spätestens seit Ludwig Wittgenstein 21 wissen - von FPO-Funktionärlnnen sehr kritisch auseinandersetzen, dokumentieren, daß selbst ein so prominentes Gremium aus zwei „elderly statesmen" und einem sehr angesehenen Politikwissenschaftler der politischen Kommunikation, der Sprache der Politik wie auch der Sprache in der Politik, eine eminente Rolle beimessen. Für das Thema meines Artikels sind zumindest drei Aspekte relevant: einerseits die obengenannte Tatsache, daß politische Rhetorik bei der Beurteilung von Politikern als derart erheblich betrachtet wird; andererseits die Wirkung und Verarbeitung des Weisenberichts in den österreichischen Medien und in der österreichischen Politik; drittens die Sprache des Berichts selbst, ebenfalls ein Genre politischen Diskurses. Zunächst sollen Reaktionen innerhalb der Domäne der Politik auf solche Einschätzungen und Beurteilungen analysiert werden: Auffällig ist die Rolle der Medien: denn die Paragraphen 76 ff. (also der große Teil des „Weisenberichts" mit der Überschrift Die politische Natur der FPO) wurden selten zitiert oder berichtet, ja schon kaum kommentiert oder diskutiert; er wird eigentlich im großen und ganzen in Osterreich verschwiegen. 22 Gleichzeitig, und dies ist natürlich nicht nur ein Merkmal der österreichischen politischen Diskurse, sondern auch ein Charakteristikum von politischer Kommunikation, historisch gesehen und auch synchron, 23 werden einige Aussagen des Berichts umbedeutet, umdefiniert, fokussiert, andere verharmlost, abgestritten oder auch als illegitim bezeichnet. Dabei möchte ich nur auf zwei politische Begriffe und Konzepte hinweisen, die zu Fahnenwörtern der Politik gehören, im Sinne von Oswald Panagl und seinen wichtigen Forschungen zum Thema, 24 und die teilweise systematisch von einigen Eliten in Osterreich von ihrer negativen Konnotation zu einer positiven umbedeutet werden: radikal und populistisch. Besonders das Konzept radikal hat einen sehr raschen Wandel er21 22 23 24

Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1967. Vgl. Kopeinig, Kotanko, Eine europäische Affaire, wie Anm. 19. Vgl. Beard, The Language of Politics, wie Anm. 18. Oswald Panagl, Walter Weiss (Hg.), Noch einmal: Dichtung und Politik. Vom Text zum politisch-sozialen Kontext, und zurück, Wien 2000; Oswald Panagl (Hg.), Fahnenwörter der Politik. Kontinuitäten und Brüche, Wien 1998; Maximilian Gottschlich, Oswald Panagl, Manfried Welan (Hg.), Was die Kanzler sagten, Wien 1989.

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lebt, den man selten in der Genese so klar verfolgen kann wie zur Zeit; und einmal in die Welt gesetzt, wird es schwierig werden, die anderen traditionellen Bedeutungen weiter zu behalten. Führende Politikerinnen der FPO waren beispielsweise am 8.9.2000 bei der Pressekonferenz im Bundeskanzleramt und auch nachher in der ZIB2 im ORF bemüht, dem bekannten und alten Konzept radikal seine alltags sprachlichen Bedeutungen zu nehmen, da ja der „Weisenbericht" die FPO als „rechtspopulistische Partei mit extremistischer Ausdrucksweise" bezeichnet (Paragraph 92) und auch als „radikal" (Paragraph 110). Die erste Bezeichnung mit Hilfe des Begriffs „extremistisch" wurde im Weisenbericht zitiert als Aussage von nicht genannten Quellen, die Charakterisierung der FPO hingegen als „rechtspopulistische Partei mit radikalen Elementen" ist die Einschätzung der Drei Weisen selbst. Zwei Strategien wurden nun von führenden Politikerinnen angewendet: eine Kontextisolierung und Abkoppelung von der vorhandenen Intertextualität, etwa zu den Paragraphen 77 und 92, und eine Umbedeutung. So schlugen sie rasch im Wörterbuch nach (wie explizit in den live gesendeten Interviews betont wurde, nur nicht in welchem) und griffen hier eines der vielen angeführten semantischen Felder heraus, nämlich die ursprüngliche Kernbedeutung und ich zitiere nun beispielsweise das DTV Lexikon 1997, S. 26: „radix die Wurzel, vollständig; bis zum Äußersten gehend, kompromißlos, extremistisch". Die ebenfalls angeführte Bedeutung „extremistisch" wurde glatt verschwiegen. Die entscheidende diskursive Strategie bei der Umdefinition, die wir auch diskursanalytisch als Dekontextualisierung mit darauffolgender Rekontextualisierung bezeichnen - semantische Konzepte werden aus dem Kontext isoliert und in neue Kontexte gestellt beschränkte sich (wie ersichtlich) auf die lateinische Etymologie und die neutralen und positiven semantischen Merkmale. Die anderen, die bislang die politische alltagssprachliche Bedeutung des Begriffs radikal definierten, werden ausgeklammert. Radikal wird daher zu einem positiven Begriff, Politiker, die sich tiefgehend, tiefschürfend und „eben bis zur Wurzel" mit Ereignissen und Problemen beschäftigen. Eine solche Rekontextualisierung steht im Widerspruch zu früheren Äußerungen von Regierungsmitgliedern und FPÖ Funktionärinnen, wie beispielsweise die Äußerungen von Klubobmann Westenthaler belegen: Peter Westenthaler 2 5 zu Alexander Van der Bellen in einer News25

Ing. Peter Westenthaler, Abg. zum Nationalrat, Klubobmann der FPO, Publikationsdatum: www.gesagt.at: News, 21.06.2000.

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Diskussion: „Wäre die FPÖ rechtsextrem oder rechtsradikal, hätte sie verboten gehört." Daß diskursive Strategien wie im eben ausgeführten Beispiel engstens mit Identitätskonstruktionen zusammenhängen, kann klar nachgewiesen werden: denn die Umbedeutung von negativen in positive Konnotationen, die einer Bezeichnung einer Gruppe angefügt werden, führt zu einer positiven Selbstdarstellung der In-Group, damit zur Solidarisierung und der Abwertung der Out-Group. So ist radikal plötzlich ein „positiver" Begriff... Als nächste Analyseebene stellt sich die Frage nach dem Status von Expertinnen und Wissensmanagement, wie im vorliegenden Fall der „Drei Weisen". Kommissionen werden zur Zeit transnational vielfach eingesetzt (vgl. die „Waldheimkommission" und den „Historikerbericht" 26 ). In gewisser Hinsicht fallen die „Drei Weisen" aus diesem Schema heraus, da es sich nicht nur um wissenschaftliche Experten handelt, sondern um elderly statesmen, die noch dazu unter großem Zeitdruck diplomatisches und politisches Konfliktmanagement zu bewältigen hatten. So meinte Romano Prodi im Juni 2000, als die „Drei Weisen" eingesetzt wurden, sie sollten „schnell, schnell, schnell" urteilen. Die Diplomatie spiegelt sich auch in der von ihnen verwendeten Redeweise, einer nicht wissenschaftlichen, sondern in einer - teilweise - von Vagheit gekennzeichneten Sprache. 27 Die Übernahme von Policy Making und anschließendem politischen Handeln durch solche „Politische Entrepreneurs", wie sie von Paul Krugman 28 bezeichnet werden, ist ein Charakteristikum der globalen Prozesse. Paul Krugman und auch Ulrich Beck sprechen gar von einem „Committee regime". 29 Statische, nationale Organisationen werden immer mehr durch solche transnationale Netzwerke ersetzt. Dies konnten wir in einer rezenten Studie über Entscheidungsmechanismen in der EU nachweisen, 30 wo wir durch ethnographische Studien und teilnehmende Beobachtungen Entscheidungsabläufe in Expertengremien auch auf Ton26

27 28 29 50

Ruth Wodak, Florian Menz, Richard Mitten, Frank Stern, Die Sprachen der Vergangenheiten. Öffentliches Gedenken in österreichischen und deutschen Medien, Frankfurt am Main 1994 Vgl. Wodak e. a., Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, wie Anm 4. Paul Krugman, Pop Internationalism, Cambridge/MA 1998. Ulrich Beck (Hg.), Wie wird Demokratie im Zeitalter der Globalisierung möglich? Eine Einleitung, Politik der Globalisierung, Frankfurt am Main 1998. Vgl. Muntigl, Weiss, Wodak, Discourses on Un/employment, wie Anm 5.

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band festhielten, damit Entscheidungsabläufe objektivieren und analysieren konnten. Die Intervention durch solche internationale Expertengremien weist aber darauf hin, daß die traditionellen nationalen Grenzen nicht mehr halten, daß also Ausland und Inland (Heimat) verschwimmen, daß Außenpolitik zur Innenpolitik wird und daß auch die Expertensprache eine dominante Rolle zugesprochen bekommt. Gleichzeitig gibt es ja die Nationalstaaten noch, d.h. daß es auch Innenpolitik gibt und daß daher manche Politiken als Interventionen aufgefaßt werden müssen. Die Berufsrollen und -definitionen verändern sich ebenfalls: Bei unserer EU-Forschung zeigte sich deutlich, daß es zu einer Politisierung der Bürokratie und zu einer Entpolitisierung der Politik kommt; ein ganzes Register an Kompetenzen wird erwartet und gebraucht, Bürokraten müssen diplomatisch verhandeln können, sind oft Experten im Thema und bereiten Entscheidungen vor; Politiker administrieren diese und versuchen sie „zu verkaufen". Es handelt sich - auch bei den „Drei Weisen" um ein Beispiel jener epistemic communities bzw. transnationalen Wissens* und Expertengemeinschaften, die, wie Ulrich Beck sagt, „gemeinsame Problemdefinitionen, Kausalannahmen und Politikempfehlungen erarbeiten, besitzen, anbieten".31 Internationale Organisationen stützen sich zunehmend auf diese Art von transnationaler Expertenrationalität, die umgekehrt in immer mehr Bereiche sozialer Praxis eindringt. Charakteristisch für diese Gemeinschaften ist, daß die Grenze zwischen reflexivdistanzierter Expertise einerseits und politischem Handeln andererseits (das, was wir heute policy making nennen) verschwimmt. Es ist eben nicht mehr eindeutig zu bestimmen, wer Politiker und wer Experte ist. Die für Osterreich dargestellten politischen Muster sind natürlich weder auf Osterreich noch auf die heutige Zeit beschränkt. In ganz Westeuropa breiten sich sowohl Globalisierungsrhetorik und Heimatrhetorik als auch Rechtspopulismus aus, wie viele Wahlkampagnen, etwa in Belgien vom Vlaamsblok, eindringlich beweisen.32 Gerade deshalb waren und sind die Maßnahmen gegen die neue österreichische Regierung auch auf diesem Hintergrund zu sehen, wobei das spezifisch österreichische Moment, der „schlampige Umgang mit der NS-Vergangenheit" als entscheidender Grund dazukam. Auch Umbedeutungen, De- und Rekontextualisierungen, Metaphern, Metonymien und Synekdochen sind natür51 32

Beck (Hg.), Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, wie Anm. 29, 22. Jan Blommaert, Jef Verschueren, The Diversity Debate, London 1999.

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lieh alles althergebrachte Mittel klassischer Rhetorik. Bei Beard33 wird beispielsweise einleuchtend die historisch gewachsene negative Konnotierung und der Wandel des Begriffs Politiker beleuchtet, wobei der Autor Shakespeare, Orwell, Plato und auch Georges Pompidou zitiert. Um diesem Dilemma zu entgehen, nämlich der herrschenden negativen Konnotierung des Begriffs Politiker, schlug Pompidou in einer Rede vor, zwischen elderly statesmen und Politiker zu unterscheiden. Die elderly statesmen seien die moralischen Autoritäten, die heutzutage Anerkennung verdienen, und daher positiv konnotiert. Ob sich solche Begriffsverschiebungen durchsetzen können und werden, bleibt also abzuwarten.

DER UND

DISKURSHISTORISCHE CRITICAL DISCOURSE

ANSATZ ANALYSIS

Zunächst soll das Programm einer Kritischen Diskursanalyse (CDA) kurz zusammengefaßt werden, das unseren Forschungen und der diskurshistorischen Methode zugrundeliegt:34 -

CDA ist problemorientiert.

-

CDA ist trans- und interdisziplinär. CDA ist theoriegeleitet und bietet ein Kontextmodell. CDA bezieht die historische Dimension mit ein, damit Intertextualität und Interdiskursivität. CDA bezieht Grammatikmodelle ein und arbeitet multimethodisch, angepaßt an Genres und an Fragestellungen. CDA trachtet auch nach Anwendungen ihrer Ergebnisse. CDA versucht, den Zusammenhang zwischen Diskurs, Text und Gesellschaft, anders als die traditionelle Soziolinguistik, theoretisch zu erfassen (mediation).

33 54

Vgl. Beard, The Language of Politics, wie Anm. 18. Vgl. Ruth Wodak, Disorders of Discourse, London 1996; Dies., The rise of racism: An Austrian or a European phenomenon? In: Discourse & Society 11, 1 (2000), 5-6; Reisigl, Wodak, Discourse and Discrimination, wie Anm. 4.

DISKURS, P O L I T I K , IDENTITÄT

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e r s e t z t w e r d e n s o l l . D i e s e ist f r e i l i c h i m m e r n o c h e i n e U n t e r -

m e n g e von S G M L . Abbildung 2: H T M L als Beispiel einer Beschreibungssprache

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