Der Laplacesche Dämon: Kosmos, Erde, Mensch und Atom in Differentialgleichungen [1. Aufl.] 9783662616468, 9783662616475

Dieses Buch nimmt Sie mit auf eine spannende Reise durch die Welt der Wissenschaft: von den Fallgesetzen des Galilei bis

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German Pages VIII, 210 [213] Year 2020

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Der Laplacesche Dämon: Kosmos, Erde, Mensch und Atom in Differentialgleichungen [1. Aufl.]
 9783662616468, 9783662616475

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VIII
Differentialgleichungen (Wolfgang Tschirk)....Pages 1-46
Die Welt im Großen (Wolfgang Tschirk)....Pages 47-77
Bilder der Natur (Wolfgang Tschirk)....Pages 79-116
Der Mensch (Wolfgang Tschirk)....Pages 117-146
Die Welt im Kleinen (Wolfgang Tschirk)....Pages 147-178
Back Matter ....Pages 179-210

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Wolfgang Tschirk

Der Laplacesche Dämon Kosmos, Erde, Mensch und Atom in Differentialgleichungen

Der Laplacesche Dämon

Wolfgang Tschirk

Der Laplacesche Dämon Kosmos, Erde, Mensch und Atom in Differentialgleichungen

Wolfgang Tschirk Wien, Österreich

ISBN 978-3-662-61646-8 ISBN 978-3-662-61647-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61647-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: © Sergey Nivens/stock.adobe.com Planung/Lektorat: Iris Ruhmann Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Die Naturwissenschaft verdankt einen großen Teil ihres Erfolgs der Mathematik. Zum einen liegt das daran, dass man einen Sachverhalt auf vielerlei Weise ausdrücken kann und uns die Mathematik verlässlich von einem Ausdruck zum anderen leitet. Wer sie anwendet, mag in seinen Prämissen irren, vielleicht weil er unzureichend beobachtet. Sind aber einmal die Prämissen sicher, dann auch alles, was aus ihnen folgt. Zum anderen haben die Mathematiker für viele Erscheinungen passende Bilder gefunden. Eine dieser Erscheinungen ist die Veränderung; ihr Bild die Differentialrechnung, und deren höchste Stufe: das sind die Differentialgleichungen. „Ein Verstand, der für einen gegebenen Augenblick alle die Natur belebenden Kräfte und die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Wesen kennte und zugleich umfassend genug wäre, diese Daten der Analysis zu unterwerfen, würde die Bewegungen der größten Weltkörper und des kleinsten Atoms durch ein- und dieselbe Formel ausdrücken; für ihn wäre nichts ungewiss; vor seinen Augen lägen Zukunft und Vergangenheit.“ Wie könnte ein solcher Verstand (den man nach seinem Erfinder den Laplaceschen Dämon nennt) zu seiner Formel kommen? Zum Beispiel dadurch, dass er feststellt, nach welchem Gesetz die belebenden Kräfte den Zustand der Natur verändern, dann aus dem Gesetz der Zustandsänderungen auf ein Gesetz des Zustands selbst schließt und zuletzt der Natur für einen gegebenen Augenblick die gegebenen Werte zuschreibt. In anderen Worten: dass er eine Differentialgleichung findet, sie löst und in die Lösung eine Anfangsbedingung setzt. Darum geht es in diesem Buch. Zwar müssen wir bescheiden sein; wir können nicht die ganze Natur, sondern immer nur einen Aspekt von ihr der Analysis unterwerfen. Doch was uns diese Analysis enthüllen wird, ist überwältigend: die Bewegungen der größten Weltkörper und des kleinsten Atoms und vieles von dem, was dazwischen liegt. Und nicht weniger überwältigend wird der Blick hinter die Kulissen sein: auf die Verstandesleistungen jener, die dem Dämon Stück für Stück sein Geheimnis ablauschen. Dieses Buch ist kein Lehrbuch der Mathematik. An die Stelle unerbittlicher Strenge ist die Anschaulichkeit gesetzt und der pragmatische Zugang des Naturwissenschaftlers. Dabei vertraue ich auf die mathematische Höflichkeit des Lesers, um mit Edwin Jaynes zu sprechen: „For a courteous reader, the fact that a writer differentiates f(x) twice already implies that he considers it twice differentiable.“

V

VI

Vorwort

Wenn Sie sich dennoch zu unvermittelt in den Formalismus gestoßen fühlen, mögen Ihnen die Grundzüge der Differential- und Integralrechnung im Anhang den Eintritt erleichtern. Wien April 2020

Wolfgang Tschirk

Inhaltsverzeichnis

1 Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Rutherfords Gesetz des radioaktiven Zerfalls . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Differentiale, Grenzwerte, Näherungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.3 Differentialgleichung und Anfangswertaufgabe . . . . . . . . . . . . . . 5 1.4 Wie die Differentialgleichung zur Welt kam. . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.5 Am Anfang war die Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.6 Newtons zweites Axiom und der freie Fall. . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.7 Hatte Aristoteles doch recht?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.8 Das Gesetz von Erwärmung und Abkühlung. . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.9 Die Welt der Schwingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.10 Der elektrische Schwingkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1.11 Die Gleichung der schwingenden Saite. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1.12 Wie man Gleichungen numerisch löst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2 Die Welt im Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.1 Kepler, Newton und die Planetenbahnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.2 Gravitation einer kugelsymmetrischen Masseverteilung. . . . . . . . 53 2.3 Zur Thermodynamik der Planeten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.4 Die Fluchtgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.5 Schwarze Löcher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.6 Beobachtungen in den Tiefen des Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.7 Newtonsche Weltmodelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2.8 Die kritische Dichte des Universums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2.9 Wie alt und wie groß ist die Welt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.10 Einsteins Feldgleichungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2.11 Einsteins Nachlass: Gravitationswellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3 Bilder der Natur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.1 Zur Thermodynamik der Atmosphäre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.2 Die Kunst, das Wetter vorherzusagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.3 Fourier und die Wärmeleitungsgleichung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.4 Die Erhaltungsgrößen der Mechanik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.5 Spekulation über Machs Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.6 Die Maxwell-Gleichungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.7 Wie Populationen wachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 VII

Inhaltsverzeichnis

VIII

3.8 3.9 3.10 3.11

Koexistenz, Konkurrenz, Räuber und Beute. . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Gene, Fitness, Selektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Fraktale Dimensionen. Rätsel des Tigers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Woher wissen alle, wohin? Schwärme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

4 Der Mensch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4.1 Die Skala der Empfindungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4.2 Lernen und Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4.3 Der Trick des Masahiko Harada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4.4 Die Vermessung des Körpers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.5 Modelle für den Stoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4.6 Zur Verbreitung von Infektionskrankheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 4.7 Warum Sprachen sterben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4.8 Kleine Theorie des Verkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4.9 Richardsons Mathematik des Wettrüstens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4.10 Die Grenzen des Wachstums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5 Die Welt im Kleinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.1 Maxwell, Boltzmann und Wahrscheinlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.2 Teilchen als harmonische Oszillatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 5.3 Die Geburt der Quantenphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.4 Rutherford entdeckt den Atomkern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 5.5 Libby und die Radiokarbondatierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5.6 Das Alter der Milchstraße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.7 Die Schrödinger-Gleichung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5.8 Freie Teilchen, gebundene Teilchen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 5.9 Teilchen, wo keine sein sollten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 5.10 Der Bauplan des Wasserstoffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.11 Was ist Leben?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Anhang A Physikalische Größen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Anhang B Mathematischer Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Anhang C Griechisches Alphabet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Namen- und Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

1

Differentialgleichungen

Differentialgleichungen lassen uns staunen: Auf den ersten Blick scheinen sie nur zu beschreiben, was unmittelbar geschehen ist oder geschieht; in ihren Lösungen aber lesen wir Vergangenheit und Zukunft, Nahes und Fernes, sie offenbaren die Gesetze des Größten wie des Kleinsten. Wir beginnen mit einigen Beispielen, klären grundlegende Begriffe und Fakten und unternehmen Ausflüge in die Geschichte.

1.1

Rutherfords Gesetz des radioaktiven Zerfalls

Im Jahr 1896 stieß Henri Becquerel auf eine unbekannte Art von Strahlen, die das Uran aussendet und deren Intensität über Monate nicht nachlässt. Die Strahlen waren unabhängig von der chemischen Verbindung, in der das Uran vorlag; sie mussten daher vom Uran-Atom selbst ausgehen. Becquerel bezeichnete den Effekt als Radioaktivität. Marie Curie, eine Studentin Becquerels, entdeckte kurz darauf die Radioaktivität beim Thorium. Dieses Element wählte Ernest Rutherford zum Objekt seiner Studien. Er beobachtete, wie es „ein Gas“ abgab, das er Thorium-Emanation nannte und das seinerseits radioaktiv war. Die Aktivität dieses Stoffs war, anders als jene des Urans, unbeständig; sie nahm jede Minute etwa um die Hälfte ab. Rutherford erklärte dieses seltsame Verhalten mit der Annahme, die Anzahl n radioaktiver Teilchen (particles; den Begriff des Atomkerns gab es noch nicht) würde mit der Zeit abnehmen; und zwar musste die Anzahl dn der pro Zeitspanne dt zerfallenden Teilchen proportional zur Anzahl der vorhandenen sein: dn = − λn. dt

(1.1)

Damit hatte er eine Beziehung zwischen der Anzahl n und ihrer zeitlichen Änderung dn/dt gefunden: eine Differentialgleichung. Diese Gleichung lösen heißt, eine Funktion n(t) finden, für die sie stimmt. Wir verwenden dazu ein Verfahren, das zum

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Tschirk, Der Laplacesche Dämon, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61647-5_1

1

2

1

Differentialgleichungen

ersten Mal 1690 von Jakob Bernoulli beschrieben wurde, das Trennen der Variablen (Anhang B.4). Wir schreiben (1.1) als dn = − λ dt; n das ist möglich, wenn n = 0 ist. Jetzt integrieren wir beiderseits, erhalten ln n = − λt + C und rechnen n aus: n = e− λt+C = eC e− λt = C e− λt (den Faktor eC nennen wir der Einfachheit halber wieder C). Die Bedeutung von C ergibt sich, wenn wir t = 0 setzen: n(0) = C e− λ·0 = C; es handelt sich also um die Zahl der Teilchen zur Zeit 0. Damit sind wir zur Lösung n(t) = n(0) e−λt

(1.2)

gelangt. Rutherford publizierte sie im Jahr 1900 [44]. Wir können uns davon überzeugen, dass (1.2) tatsächlich eine Lösung von (1.1) darstellt. Leiten wir die Funktion nämlich ab, ergibt sich genau die Gleichung:  dn(t) d  = n(0) e−λt = n(0) e−λt · (− λ) = − λn(t). dt dt Heute wissen wir, dass es sich bei der Thorium-Emanation um das Radon-Isotop handelt. Es hat eine Halbwertszeit von 54,5 Sekunden; in diesem Zeitraum zerfällt jeweils die Hälfte seiner zu Beginn vorhandenen Atome, also ist 220 Rn

n(54,5 s) = 0,5. n(0) Daraus und aus (1.2) lässt sich die Zerfallskonstante λ bestimmen: ln λ=−

n(54,5 s) n(t) ln ln 0,5 n(0) n(0) =− =− = 0,0127 s−1 . t 54,5 s 54,5 s

Schon dieses Beispiel zeigt die Macht der Differentialgleichungen: In (1.1) steht nur, wie sich die Teilchenanzahl im nächsten Augenblick (in der Zeitspanne dt, die wir uns zunächst nur als sehr klein vorstellen) ändern wird; die Lösung (1.2) aber beschreibt deren Entwicklung für alle Zeiten. Dieselbe Lösung, angewandt

1.2 Differentiale, Grenzwerte, Näherungen

3

n

0

0

1

2

3

4

5

6 t (min)

Abb. 1.1 Zerfall des Radon-Isotops 220 Rn: Anzahl n der Kerne als Funktion der Zeit t

auf radioaktiven Kohlenstoff, erlaubt die Datierung jahrtausendealter Objekte; und angewandt auf Uran, enthüllt sie das Alter unserer Galaxis! Rutherfords Entdeckung – aus Thorium wird Radon – hatte für den Physiker noch ein Nachspiel. Mit ihr war der uralte Traum der Alchimisten in Erfüllung gegangen: die Umwandlung eines chemischen Grundstoffs in einen anderen, und Rutherford erhielt dafür den Nobelpreis. Nicht den der Physik, sondern den der Chemie, womit er sich nicht nur Ruhm, sondern auch Spott einhandelte; denn die Kollegen beglückwünschten ihn nun zu seiner „Umwandlung vom Physiker zum Chemiker“.

1.2

Differentiale, Grenzwerte, Näherungen

Betrachtet man Rutherfords Gleichung und ihre Lösung kritisch, so fallen drei Punkte auf, die es zu klären gilt. Erstens, was man unter der Zeitspanne dt zu verstehen hat und dementsprechend unter der Anzahl dn der in dt zerfallenden Teilchen. Hier handelt es sich nicht um messbare Größen, und weder dt noch dn sind, für sich allein genommen, relevant. Bedeutung hat lediglich der Ausdruck dn/dt, und zwar als Grenzwert eines echten Quotienten, der sich aus folgender Überlegung ergibt: Zunächst denke man sich eine messbare Zeitspanne t. In dieser verringert sich die Anzahl n der Teilchen um n, die zerfallen. Rutherford behauptete, n sei proportional zu n : Gibt es doppelt so viele Teilchen, werden auch doppelt so viele zerfallen. Außerdem ist n proportional zu t : In der doppelten Zeit zerfallen doppelt so viele. Insgesamt ist also n = −λnt mit der Proportionalitätskonstanten λ; oder, durch t dividiert: n = −λn. t Da sich gemäß dieser Beziehung innerhalb jeder Zeitspanne die Anzahl der vorhandenen Teilchen ändert, gibt es nicht ein einziges, genaues n für das gesamte

4

1

Differentialgleichungen

Intervall t; und dann ist unklar, was das n auf der rechten Seite der Gleichung bedeutet. Exakt wird seine Bedeutung erst, wenn man t gegen null gehen lässt, denn innerhalb eines „unendlich kleinen“ Zeitintervalls ist n konstant. Auf der linken Seite gelangt man zu einem Grenzwert lim

t→0

n , t

den man dn/dt nennt, und mit diesem ergibt sich (1.1). Im Gegensatz zu n und t, bei denen es sich um echte Differenzen handelt, sind dn und dt keine. Man nennt sie Differentiale und den Ausdruck dn/dt Differentialquotient. Diese Bezeichnungen, die Schreibweise und vor allem die elementaren Rechenregeln für Differentiale hat Leibniz eingeführt und damit, zeitgleich mit Newton, aber im Wesentlichen unabhängig von ihm, die Differentialrechnung erfunden. Was Leibniz als dy/dt schrieb, nämlich die Ableitung einer Größe y nach der Zeit t, hat Newton als y˙ notiert. Wir werden für die Ableitungen nach t wahlweise die eine oder die andere Schreibweise verwenden und für die Ableitung nach x wahlweise dy/d x oder y  . Die Ableitung der Ableitung (die zweite Ableitung) heißt dann d 2 y/dt 2 oder y¨ bzw. d 2 y/d x 2 oder y  . Zweitens haben wir von der Funktion n(t) vorausgesetzt, dass sie differenzierbar sei, was genau genommen nicht stimmt. Sie ist nicht einmal stetig; denn n ist eine Anzahl (von Teilchen) und kann sich daher nur in ganzzahligen Sprüngen ändern. Unter dem Mikroskop sähe man daher nicht, wie in Abb. 1.1, eine glatte Kurve, sondern Treppenstufen. Dieser Einwand lässt sich gegen viele Funktionen erheben, die in den Erfahrungswissenschaften vorkommen und dort ohne Bedenken, dafür aber mit wertvollen Ergebnissen, differenziert werden. Denn viele Größen sind, wie unser n, in Wirklichkeit diskret, und die Annahme ihrer Stetigkeit ist eine Idealisierung. Man kann sogar davon ausgehen, dass jede Größe diskret ist; Erwin Schrödinger, der Schöpfer der Wellenmechanik, merkte nämlich an, dass jedes Experiment von vornherein eine endliche (und daher diskrete) Menge möglicher Ausgänge festlegt: „Wir lokalisieren das Wirkliche innerhalb eines endlichen Diskontinuums von Möglichem“ [47]. Diese Idealisierung funktioniert, weil die diskreten Größen so viele mögliche Werte haben und der Abstand zwischen je zwei benachbarten Werten so klein ist, dass der Eindruck eines Kontinuums entsteht. Beim radioaktiven Zerfall können wir Stetigkeit und Differenzierbarkeit in diesem Sinn voraussetzen, solange n groß ist; und da jede Spur eines Elements ungeheuer viele Atome enthält, ist das in beinahe allen beobachtbaren Fällen erfüllt. Überhaupt werden wir stets voraussetzen, dass unsere Grenzwerte, Ableitungen, Summen oder Integrale existieren, und das nicht mehr eigens erwähnen. Sprechen wir beispielsweise von einer „beliebigen“ Funktion, so meinen wir, dass sie die zu ihrer Verwendung nötigen Eigenschaften hat (genügend oft differenzierbar ist usw.) und ansonsten beliebig. Drittens folgt der radioaktive Zerfall nicht deswegen dem genannten Gesetz, weil jedes Teilchen wüsste, wann es zerfallen muss. Ganz im Gegenteil: Für das einzelne Teilchen existiert, soviel wir wissen, nichts als eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass es in der nächsten Zeiteinheit zerfällt. Das Zerfallsgesetz ist ein statistisches, und tatsächlich beschreibt es nicht die zeitliche Entwicklung der Teilchenanzahl

1.3 Differentialgleichung und Anfangswertaufgabe

5

selbst, sondern die des Erwartungswerts dieser Anzahl. Sehr große Teilchenanzahlen stimmen aber mit ihrem Erwartungswert so gut überein, dass der Fehler jenseits aller Messgenauigkeit liegt und man in den Formeln den Erwartungswert durch die Anzahl selbst ersetzen kann, wie es in (1.1) und (1.2) ja auch geschehen ist. (Eine wahrscheinlichkeitstheoretische Ableitung des Zerfallsgesetzes finden Sie in [55].) Auch viele andere, wenn nicht sogar alle Gesetzmäßigkeiten, von denen in diesem Buch die Rede sein wird, sind statistischer Natur, können aber aus analogen Gründen als deterministisch angesehen werden. Von dieser Freiheit werden wir, wie in den Erfahrungswissenschaften üblich, Gebrauch machen.

1.3

Differentialgleichung und Anfangswertaufgabe

In (1.1) und (1.2) erkennen wir die zwei wesentlichen Merkmale von Differentialgleichungen: Sie enthalten Ableitungen, und ihre Lösungen sind nicht Werte, sondern Funktionen. Handelt es sich bei den Lösungen um Funktionen einer einzigen Variablen, nennt man die Gleichung eine gewöhnliche; handelt es sich um Funktionen mehrerer Variabler, nennt man sie eine partielle. Die Nummer der höchsten in einer Differentialgleichung vorkommenden Ableitung bezeichnet man als deren Ordnung. Im Sinn dieser Klassifikation ist (1.1) eine gewöhnliche Differentialgleichung 1. Ordnung. Neben den genannten Eigenschaften gibt es unzählige weitere: Man unterscheidet implizite und explizite Gleichungen, lineare und nichtlineare, homogene und inhomogene, skalare und vektorielle, Gleichungen mit konstanten und mit variablen Koeffizienten, man kennt exakte, autonome und unter den partiellen Gleichungen 2. Ordnung elliptische, parabolische und hyperbolische. Da es in diesem Buch nicht um eine umfassende Theorie der Differentialgleichungen geht, werden wir nur solche Eigenschaften ansprechen, die im jeweiligen Kontext, beispielsweise bei der Wahl eines Lösungsverfahrens, von Bedeutung sind. Die allgemeine Lösung einer Differentialgleichung ist die Menge ihrer Lösungsfunktionen. Da (1.2) für jeden denkbaren Wert n(0) eine Lösung von (1.1) ist, gibt es unendlich viele Lösungsfunktionen. (Aus mathematischer Sicht kann n(0) auch nicht-ganzzahlig und sogar negativ sein, im physikalischen Experiment natürlich nicht.) Eine bestimmte Lösungsfunktion erhält man, indem man einen Anfangswert festlegt. So entsteht eine Anfangswertaufgabe (Abb. 1.2). Ein Anfangswert muss nicht unbedingt ein Wert der gesuchten Funktion zum Zeitpunkt 0 sein. Man könnte einen anderen Zeitpunkt t0 wählen und n(t0 ) als Anfangswert bezeichnen. Der Begriff des Anfangswerts ist auch nicht daran gebunden, dass die Lösungsfunktion eine Funktion der Zeit ist; die unabhängige Variable kann jede beliebige Bedeutung haben. Und ein Anfangswert muss nicht ein Funktionswert sein, es kann sich um den Wert einer Ableitung handeln. So sind auch durch y(2) = 1 und y  (π ) = 0 Anfangswerte festgelegt. Mit dem bis hierher Besprochenen sind wir dem Geheimnis des Fabelwesens, das man nach seinem Erfinder Pierre-Simon de Laplace den Laplaceschen Dämon nennt, schon auf der Spur. Als Laplace schrieb: „Ein Verstand, der für einen gegebenen Augenblick alle die Natur belebenden Kräfte und die gegenseitige Lage der sie

6

1

Differentialgleichungen

n

t

Abb. 1.2 Einige Lösungsfunktionen von (1.1). Ein Anfangswert von n (Punkt) legt eine davon als Lösung der Anfangswertaufgabe fest

zusammensetzenden Wesen kennte und zugleich umfassend genug wäre, diese Daten der Analysis zu unterwerfen, würde die Bewegungen der größten Weltkörper und des kleinsten Atoms durch ein- und dieselbe Formel ausdrücken; für ihn wäre nichts ungewiss; vor seinen Augen lägen Zukunft und Vergangenheit.“ – da waren die Differentialgleichungen längst erfunden und mit ihnen der Drei-Schritte-Plan, den so ein Dämon braucht. Kann er nämlich erstens feststellen, nach welchem Gesetz die belebenden Kräfte den Zustand der Natur verändern (also eine Differentialgleichung formulieren), zweitens aus dem Gesetz der Zustandsänderungen das Gesetz des Zustands selbst ableiten (also die Gleichung lösen) und drittens der Natur für einen gegebenen Augenblick die gegebenen Werte zuschreiben (also in die Lösung eine Anfangsbedingung setzen), dann entüllen sich ihm die Bewegungen der größten Weltkörper und des kleinsten Atoms und vieles von dem, was dazwischen liegt, einschließlich unserer selbst. Der Anblick einer Gleichung löst bei Mathematikern einen Reflex aus; nämlich die Frage, ob (und unter welchen Umständen) die Gleichung eine Lösung habe, und wenn ja, ob diese eindeutig sei. Der Naturwissenschaftler misst der Frage in der Regel weniger Bedeutung bei: Beschreibt seine Gleichung die Bewegung eines Objekts im Schwerefeld, dann muss sie eine Lösung haben, weil es eine solche Bewegung gibt; und sie kann nur eine einzige Lösung haben, weil ein Objekt sich unter definierten Bedingungen nur auf eine einzige Art bewegt. Betritt er allerdings experimentell unerschlossenes Terrain, dann muss auch er die Frage nach Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen beantworten, sonst geht es ihm wie Paul Dirac. Der fand 1928 eine Gleichung für das Elektron, die zwei Lösungen zuließ: eine für das Elektron und eine zweite für ein Teilchen gleicher Masse, aber entgegengesetzter Ladung. Damals vermuteten alle einen Fehler in Diracs Theorie; bis Carl Anderson 1932 das Positron in der kosmischen Strahlung fand. Wir werden in der Frage der Lösbarkeit einen Mittelweg beschreiten: Die grundlegende und exakte Beweisführung überlassen wir den Mathematikern, deren Resultate wir gern übernehmen (Anhang B.3). Dort aber, wo wir konkrete Lösungsmethoden anwenden, zeigen wir, dass sie tatsächlich das Gewünschte leisten.

1.4 Wie die Differentialgleichung zur Welt kam

1.4

7

Wie die Differentialgleichung zur Welt kam

Als Rutherford sein Gesetz formulierte, waren die Differentialgleichungen fast 300 Jahre alt, ihre systematische Behandlung mehr als 200. Wir können ohne viel Risiko die Urheberschaft Galilei zuschreiben, der um 1600 begann, das Fallen von Körpern zu untersuchen und speziell die Veränderung von deren Geschwindigkeit mit der Zeit. Damals gab es noch keine Differentialrechnung; daher schrieb Galilei seine Gleichungen nicht so, wie wir es heute tun. Dass es aber dem Inhalt nach Differentialgleichungen waren, davon werden wir uns schon im nächsten Abschnitt überzeugen. Die Gleichungen, wie wir sie kennen, entstanden ein Menschenalter später zusammen mit der Differential- und Integralrechnung, und in gewissem Sinn gaben sie den Anstoß zu dieser. In den 1660er-Jahren begann Isaac Newton, seines Zeichens Naturphilosoph, Abläufe in der Natur mathematisch zu beschreiben. Zeitlich veränderliche Größen nannte er Fluenten, deren Veränderungen Fluxionen. Die Fluenten bezeichnete er mit den letzten Buchstaben des Alphabets, x, y, z, ihre Fluxionen, die wir heute Ableitungen nach der Zeit nennen, mit x, ˙ y˙ und z˙ . Newton besprach zwei Aufgaben: aus der Beziehung zwischen Fluenten die Beziehung zwischen ihren Fluxionen zu ermitteln und umgekehrt [23,51]. Jene seiner Gleichungen, die Fluxionen enthalten, sind Differentialgleichungen im heutigen Sinn, und die zweite newtonsche Aufgabe, aus ihnen die Gleichungen der Fluenten zu finden, entspricht dem Lösen. Newton unterschied drei Typen von Differentialgleichungen: solche mit zwei Fluxionen und einer ihrer Fluenten, mit zwei Fluxionen und beiden Fluenten und mit mehr als zwei Fluxionen. Für jeden Typ gab er Lösungswege an. Diese hatten mit den heutigen wenig zu tun, und auch die Gleichungen selbst sind vergessen. Newtons Version der Differential- und Integralrechnung überlebte ihren Schöpfer nicht. Was wir heute haben, das haben wir von Leibniz. Eigentlich war Gottfried Wilhelm Leibniz ein Amateurwissenschaftler, ein barockes Universalgenie im schönsten Sinn des Wortes. Studiert hatte er Philosophie, Theologie, Mathematik, Physik und Astronomie, promoviert wurde er zum Doktor der Rechte. Die Nachwelt ehrt ihn als Philosophen, von Beruf gab er Diplomat an. Und gerade dieser Mann legte den Grundstein nicht nur zur modernen Logik, sondern auch zur Differential- und Integralrechnung unserer Tage. Sein Novus methodus pro maximis et minimis, itemque tangentibus analysiert nicht die Bewegung, sondern die statische Kurve [23]. Leibniz führte die unendlich kleinen Differenzen, die Differentiale, ein; an die Stelle des Differenzenquotienten y/x, der im Allgemeinen nur eine Näherung für die Steigung der Tangente ist, trat der Differentialquotient dy/d x, der sie exakt wiedergibt. Das begriffliche Problem der unendlich kleinen Größen löste Leibniz pragmatisch: Er schlug vor, sie einfach hinzunehmen als die kleinsten vorstellbaren Dinge, gerade noch nicht null. Leibniz gab Rechenregeln für Differentiale an und baute sie zum „Calculus differentialis“ aus, den er 1684 veröffentlichte. Nun konnte man zu jeder Funktion, die eine Kurve beschreibt, eine Funktion finden, die die Steigung der Tangente beschreibt: die erste Ableitung. Fasst man die erste Ableitung wieder als Kurve auf, kann man auch ihr eine Steigungsfunktion zuordnen, die zweite Ableitung, usw. Für die zweiten Differentiale schrieb

8

1

Differentialgleichungen

Leibniz dd x und ddy. Er erkannte, dass die Bestimmung der Fläche darauf reduziert werden kann, eine Kurve zu finden, die ein gegebenes Gesetz für die Tangenten besitzt, dass also die Berechnungen von Steigung und Fläche invers zueinander sind. Über die Flächenberechnung berichtet sein „Calculus summatorius“ von 1686. Wenn die Ableitung einer Funktion wieder eine Funktion sein kann, dann sollte das auch für die Umkehrung der Ableitung gelten, die Leibniz Integral nannte. Zur Fläche zwischen zwei festen Grenzen, dem bestimmten Integral, kam so das unbestimmte hinzu, nämlich die Fläche als Funktion der Kurve und der Grenzen selbst. Über unbestimmte Integrale schrieb Leibniz zum ersten Mal 1694. Dass unsere Differential- und Integralrechnung auf die leibnizsche zurückgeht und Newtons Fluxionen in ihr nicht mehr vorkommen, liegt zuerst daran, dass Leibniz’ Ansatz der allgemeinere, rein mathematische ist, während in Newtons Methode stets die Einschränkung auf die Physik erkennbar bleibt, und dass Leibniz für einen klaren formalen Aufbau sorgte, während Newtons Beispiele Rezepte für den Einzelfall sind. Es ist aber auch eine Folge des Zorns, den Leibniz’ Schriften in England hervorriefen, wo doch der Calculus auf der Insel erfunden worden war und nur Newtons notorische Abscheu vor dem Publizieren (sein Beitrag blieb dreißig Jahre lang ungedruckt) die Prioritätsfrage überhaupt hatte aufkommen lassen. Trotzig weigerten sich die Briten, ihr Wissen mit den Gelehrten auf dem Kontinent zu teilen, und Newton schwieg, von Seitenhieben auf den Deutschen abgesehen, erst recht, so dass seine Ideen isoliert blieben. Leibniz nahm die Sache gelassen (schließlich war er Philosoph) und hielt sich mit Kommentaren zurück (schließlich war er Diplomat). Vielleicht fände Newton Trost, vielleicht aber auch Anlass für neuerlichen Ärger darin, dass seine Mechanik, dargelegt in drei Axiomen und dem Gravitationsgesetz, nicht zuletzt durch die Mathematik des Kontrahenten unsterblich wurde.

1.5

Am Anfang war die Bewegung

Wie sich Körper bewegen, beschreibt die Kinematik. Manches von ihr, darunter die ältesten – 400 Jahre alten – Differentialgleichungen, verdanken wir Galilei. Die Beschreibung der Translation, die wir vorrangig behandeln, verwendet Ort, Geschwindigkeit und Beschleunigung, jeweils als Funktion der Zeit oder als Funktionen voneinander. Bei der Beschreibung der Rotation treten an die Stelle dieser Größen Winkel, Winkelgeschwindigkeit und Winkelbeschleunigung, die Zeit bleibt. Warum Körper sich bewegen, also die Diskussion von Kräften, Drehmomenten und daraus abgeleiteten Größen, ist nicht Gegenstand der Kinematik, sondern der Dynamik, von der erst in Abschn. 1.6 die Rede sein wird. Wir entwickeln im Folgenden die Gesetze der Translation bei konstanter Beschleunigung. Die maßgeblichen Differentialgleichungen sind so einfach, dass man sie auf den ersten Blick gar nicht als Differentialgleichungen auffasst. Sie bergen einige Überraschungen – von der Erkenntnis, dass die gesamte Kinematik bei konstanter Beschleunigung in nur fünf Schriftzeichen zusammengefasst werden kann, bis hin zur Antwort auf die Frage, was es eigentlich ist, das Galilei entdeckt hat, als er der Legende nach seine Kugeln vom schiefen Turm zu Pisa warf.

1.5 Am Anfang war die Bewegung

9

(1) Kinematik der Translation Legt ein Körper in der Zeit dt den Weg dr zurück, dann sagt man, er habe eine Geschwindigkeit v=

dr . dt

(1.3)

Ändert sich seine Geschwindigkeit in der Zeit dt um dv, dann sagt man, er habe eine Beschleunigung dv . (1.4) dt Das sind zwei wohlbekannte Begriffsbestimmungen, ausgedrückt in besonders einfachen Differentialgleichungen. Diese lassen sich auch leicht lösen, nämlich durch Trennen der Variablen und Integrieren: a=

 r=

v dt,

(1.5)

a dt.

(1.6)

 v=

Wir haben stillschweigend angenommen, ein Körper hätte zu jeder Zeit einen definierten Ort. Reale und daher ausgedehnte Körper besetzen aber unendlich viele Punkte im Raum gleichzeitig. Das wollen wir nicht berücksichtigen; wir sehen von der Ausdehnung der Körper ab und betrachten sie als Punkte. Dabei ignorieren wir auch alle Erscheinungen, die eine Ausdehnung mit sich bringen könnte, beispielsweise Drehung im Raum oder Formänderung. Die Physik hat für diese Idealisierung den Begriff des Massepunkts geprägt. Er kommt in zweierlei Hinsicht der Wirklichkeit nahe: Zum einen betrachtet man meist Änderungen des Orts, die viel größer sind als die Abmessungen des Körpers, so dass Letztere praktisch keine Rolle spielen. Zum anderen gelten die Gesetze der Translation sogar für ausgedehnte Körper exakt, wenn man als Ort des Körpers den Ort seines Schwerpunkts ansieht. Nun wenden wir uns der Lösung des durch (1.3) und (1.4) gegebenen Gleichungssystems für den Fall konstanter Beschleunigung zu. Es sei also a(t) = a = const. Dann ist gemäß (1.6)

 v(t) =

adt = at + C

mit einer noch unbestimmten Konstanten C. Wir haben unendlich viele Lösungsfunktionen erhalten (für jeden Wert von C eine) und damit die allgemeine Lösung von (1.4). Die Bedeutung von C wird klar, wenn wir t = 0 setzen: v(0) = a · 0 + C = C.

10

1

Differentialgleichungen

C ist also die Anfangsgeschwindigkeit, und damit ist v(t) = v(0) + at.

(1.7)

(Oft schreibt man v0 anstatt v(0). Auf diese Schreibweise verzichten wir, um nicht eine neue Größe einzuführen.) Mit (1.7) ist eine Lösung v(t) von (1.4) gefunden; und da (1.4) zusammen mit einem Wert v(0) eine lineare Anfangswertaufgabe 1. Ordnung darstellt und eine solche eindeutig lösbar ist (Anhang B.3), ist die Lösung auch die einzige. Nun können wir die Ortsfunktion ermitteln. Mit (1.5) und (1.7) ist  a r (t) = [v(0) + at] dt = v(0) t + t 2 + C 2 mit einer weiteren vorerst unbestimmten Konstanten C. Das ist die allgemeine Lösung von (1.3). Setzen wir hier t = 0, ergibt sich r (0) = v(0) · 0 +

a 2 · 0 + C = C; 2

also ist C der Anfangsort und r (t) = r (0) + v(0) t +

a 2 t 2

(1.8)

die einzige Lösung der linearen Anfangswertaufgabe 1. Ordnung aus (1.3) und einem Wert r (0). Die Gl. (1.7) und (1.8) bilden zusammen eine vollständige Beschreibung der Bewegung bei konstanter Beschleunigung, oft auch gleichmäßig beschleunigte Bewegung genannt. An diese Tatsache knüpfen sich drei interessante Feststellungen und eine noch interessantere Frage. Erste Feststellung: Nimmt man die Begriffe Ort und Zeit als gegeben an, enthält die Beschreibung der gleichmäßig beschleunigten Bewegung keinerlei Physik. Denn (1.3) und (1.4) sind bloße Definitionen, und (1.7) und (1.8) folgen aus ihnen durch mathematische Umformungen. Daher kann es kein Experiment geben, das diese Beschreibung widerlegen würde. Insofern handelt es sich bei allem, was wir dazu bisher besprochen haben, um ein reines Gedankenspiel. Zweite Feststellung: Die vielen verschiedenen Bewegungsgesetze, die vor allem in Schulbüchern auftauchen, gehen aus (1.7) und (1.8) durch Einsetzen spezieller Bedingungen hervor. Beispielsweise folgen die Gesetze des freien Falls: g 2 t , 2 v = gt,  v = 2gr r=

1.5 Am Anfang war die Bewegung

11

aus den Anfangsbedingungen v(0) = 0 (der Körper wird ohne Anfangsgeschwindigkeit losgelassen), r (0) = 0 (wir messen vom Ort des Loslassens aus) und der Gleichsetzung a = g (die Beschleunigung entspricht der Erdbeschleunigung). Die Gleichungen der unbeschleunigten (gleichförmigen) Bewegung ergeben sich wiederum durch Einsetzen von a = 0. Dritte Feststellung: Wir haben den Ort als skalare Größe behandelt und das Problem damit als räumlich eindimensional. Nimmt man zur ersten Raumdimension x die zweite und dritte, y und z, dazu und führt die Vektoren ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ax x vx r = ⎝ y ⎠ , v = ⎝v y ⎠ , a = ⎝a y ⎠ vz az z ein, ändert sich nichts Grundlegendes. Denn die Ableitung eines Vektors ist ein Vektor, dessen Komponenten die Ableitungen der Komponenten des ersten sind: ⎛ ⎞ d x/dt dr ⎝ = dy/dt ⎠ dt dz/dt usw. Mit der Punktschreibweise für die Ableitung nach t enthält die Formel r¨ = v˙ = a

(1.9)

alles über die gleichmäßig beschleunigte Bewegung im dreidimensionalen Raum. Und nun zur entscheidenden Frage: Wenn die Bewegungsgesetze bloße Definitionen sind – was hat Galilei eigentlich entdeckt? (2) Galilei und der freie Fall Zweitausend Jahre lang waren schwere Körper schneller gefallen als leichte. Und zwar, weil Aristoteles das so gesagt hatte. Dann kam Galileo Galilei und zeigte, dass dem nicht so ist, indem er es einfach ausprobierte. Ob er seine schwere und leichte Kugel tatsächlich vom schiefen Turm zu Pisa geworfen hat, wissen wir nicht; wir wissen aber, wie es ausgegangen ist. Ein solches Experiment wäre Aristoteles undenkbar erschienen, denn die antiken Philosophen vertrauten ihren Gedanken eher als dem trügerischen Sinneseindruck. Dass es auch in der Folge nicht dazu kam – Zeit, zwei Kugeln fallen zu lassen, hatte man ja genug –, liegt vor allem daran, dass die Lehre des Aristoteles mehr und mehr den Charakter einer Religion annahm und das Wort schwerer wog als die Fakten. Nachdem Galilei also geklärt hatte, dass alle Körper, sofern sie keinen Widerstand erfahren, gleich schnell fallen, erhob er die Frage, nach welchem Gesetz sich ihre Geschwindigkeit ändert. Das war schwerer zu beantworten, denn man konnte zwar Wegstrecken zuverlässig messen, nicht aber die Zeit. Die genauesten Uhren

12

1

Differentialgleichungen

waren Wasseruhren: Behälter, aus denen sich ein feiner Wasserstrahl ergoss, der anschließend gewogen wurde. Damit waren die kurzen Zeiten des freien Falls nicht zu bestimmen. Deshalb kam Galilei auf die Idee, Kugeln nicht fallen, sondern eine schiefe Ebene hinabrollen zu lassen. Er nahm an, dass dies die Bewegung verlangsamen, ihr Gesetz aber ansonsten nicht antasten würde, und hatte Glück damit. Nun maß Galilei die Wegstrecken, die eine rollende Kugel in jeweils gegebenen Zeitintervallen (deren Länge in Sekunden keine Rolle spielt) zurücklegte; seine Ergebnisse zeigt Tab. 1.1. Tab. 1.1 Galileis Kugel-Experiment auf der schiefen Ebene. Die Zeiteinheit ist nicht bekannt, der Weg wurde in punti, entsprechend etwa Millimetern, gemessen Zeit

1

2

3

4

5

6

7

8

Weg

33

130

298

526

824

1192

1620

2104

Ob Galilei tatsächlich eine Wasseruhr verwendet oder die Zeit anders gemessen hat (worüber es in [21] eine reizende Spekulation gibt), in nicht von Belang. Wesentlich ist das Muster, das er fand: Die Wege verhalten sich etwa proportional zum Quadrat der Zeiten. Mit den 33 punti der ersten Messung als Einheit betragen die Wege der anderen beinahe exakt 4, 9, 16, 25, 36, 49 und 64. Damit war das Gesetz r (t) = ct 2 gefunden. Nun meldete sich der Mathematiker in Galilei: Wenn er annahm, die Geschwindigkeit nähme in gleichen Zeitabschnitten um den gleichen Betrag zu (in unseren Worten: die Beschleunigung wäre konstant), erhielt er durch Rechnung exakt das quadratische Gesetz, ebenso wie wir es im vorigen Abschnitt erhalten haben. Andere Gesetzmäßigkeiten, so fand er, standen im Widerspruch zu den Daten. Das zu berechnen war keine geringe Leistung, denn zu Galileis Zeiten gab es noch keinen Differential- und Integralkalkül; doch sein Scharfsinn überwand auch dieses Problem. Zu guter Letzt übertrug er sein Ergebnis, experimentell an der schiefen Ebene erhalten, auf den freien Fall. Denkt man sich nämlich die Ebene steiler und steiler und folgt die Kugel stets dem quadratischen Gesetz, dann muss sie das auch im Grenzfall der unendlich steilen, also senkrechten Ebene tun: im freien Fall. In heutiger Sprache zusammengefasst, hat Galilei also gefunden, dass frei fallende Körper eine konstante, vom Körper unabhängige Beschleunigung erfahren. Das ist der physikalische Inhalt seines Gesetzes, und erst dadurch wird unsere Voraussetzung aus dem letzten Abschnitt (a = const) auf die reale Bewegung im erdnahen Schwerefeld anwendbar.

1.6 Newtons zweites Axiom und der freie Fall

1.6

13

Newtons zweites Axiom und der freie Fall

In Abschn. 1.5 haben wir die Bewegung von Körpern bei konstanter Beschleunigung beschrieben. Die Frage, warum sie sich so bewegen, haben wir ausgeklammert; nun beantworten wir sie in Newtons Worten: „Mutationem motus proportionalem esse vi motrici impressae, et fieri secundum lineam rectam qua vis illa imprimitur.“ (Die Änderung der Bewegung ist proportional zur bewegenden Kraft und erfolgt in Richtung der geraden Linie, in der die Kraft wirkt.) Das ist Newtons zweites Axiom, erschienen 1687 in seinem Hauptwerk Philosophiae naturalis principia mathematica, den mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie. Was Newton Bewegung nannte, nennen wir heute Impuls, und unter der Änderung verstand er die Änderung pro Zeiteinheit, also die Ableitung nach der Zeit. Da Newton auch die Richtung der Kraft angegeben hat, ist dieses Gesetz ein vektorielles. Mit den Bezeichnungen p für den Impuls- und F für den Kraftvektor lautet es dp = kF, dt wobei k eine zunächst unbestimmte Konstante ist. Der Impuls ist das Produkt aus Masse m und Geschwindigkeit v. Wir können das Axiom daher schreiben als kF =

dv d = ma. [mv] = m dt dt

Wählt man die Einheiten passend: Kilogramm für die Masse, Meter für den Weg, Sekunden für die Zeit und Newton für die Kraft, dann ist k = 1 und es ergibt sich die bekannte Formel F = ma.

(1.10)

Nun, da wir den Zusammenhang zwischen Kraft und Bewegung kennen, können wir Bewegungen von Körpern unter dem Einfluss von Kräften berechnen. Wir beschränken uns auf zwei Kräfte: Schwerkraft und Reibung, stellen uns also einen fallenden Körper vor, den das umgebende Medium behindert. (Wenn man trotz Reibung vom freien Fall spricht, drückt man aus, dass der Körper nicht etwa durch Zwangskräfte auf einer bestimmten Bahn geführt wird.) Das Medium sei in Ruhe; dann ist jede Reibungskraft, welchem Gesetz sie ansonsten auch immer folgen mag, der Bewegung entgegengerichtet. Der Körper sei diesmal nicht auf einen Massepunkt reduziert, da Reibung nur auf ausgedehnte Körper wirkt. Wir denken uns alle Kräfte an seinem Schwerpunkt angreifend. Der Körper soll ohne Anfangsgeschwindigkeit losgelassen werden. Auf den Beweis, dass er dann senkrecht fällt, verzichten wir – das überlassen wir der Anschauung. Wegen des senkrechten Fallens genügt es, die Bewegung in einer Dimension zu betrachten und ebenso alle Kräfte, also Vektoren beiseite zu lassen und skalar zu rechnen (Abb. 1.3).

14

1

Differentialgleichungen

Abb. 1.3 Freier Fall mit Reibung. Gewicht FG und Reibungskraft FR greifen im Schwerpunkt der Masse m an

Wir ermitteln nun den zeitlichen Verlauf der Fallgeschwindigkeit: die Funktion v(t). Wählt man als positive Richtung die Richtung der Bewegung, dann wirkt auf den Körper in Summe die Kraft FG − FR . Nach (1.10) ist dann FG − FR = ma. Das Gewicht des Körpers ist das Produkt aus seiner Masse m und der Erdbeschleunigung g. Damit und mit (1.4) können wir die letzte Beziehung schreiben als mg − FR = m

dv . dt

Das kürzen wir durch m und erhalten für v die Differentialgleichung dv FR =g− . dt m

(1.11)

Diese Gleichung lösen wir nun für drei Fälle: dass die Reibung (1) null, (2) proportional zur Geschwindigkeit und (3) proportional zum Quadrat der Geschwindigkeit ist. (1) Die Reibung ist null Ist FR = 0, dann ist die rechte Seite von (1.11) und damit die Beschleunigung konstant. Bewegungen dieser Art haben wir schon in Abschn. 1.5 behandelt. Gemäß (1.7) ergibt sich, wenn die Anfangsgeschwindigkeit v(0) = 0 ist: v(t) = gt. Die Geschwindigkeit ist proportional zur Zeit und nur dadurch begrenzt, dass der Fall einmal endet. (2) Die Reibung ist proportional zur Geschwindigkeit Zur Geschwindigkeit proportionale Reibungskräfte treten auf, wenn Körper sich durch zähes Medium bewegen. Dann ist FR = 6π ηr v,

1.6 Newtons zweites Axiom und der freie Fall

15

worin η die dynamische Viskosität des Mediums ist und r eine charakteristische Abmessung des Körpers, also ein Maß für seine Größe. Dieses Gesetz hat George Stokes um 1845 entdeckt. Die Gl. (1.11) wird damit zu dv 6π ηr v =g− . dt m

(1.12)

Wir trennen die Variablen: dv = dt, 6π ηr v g− m und erhalten durch Integrieren die allgemeine Lösung

6πηr m g − C e− m t . v(t) = 6π ηr Mit v(0) = 0 folgt C = g und damit mg v(t) = 6π ηr



6πηr 1 − e− m t

.

(1.13)

Auch hier nimmt die Geschwindigkeit mit der Zeit zu, doch anders als im Fall ohne Reibung ist sie begrenzt durch lim v(t) =

t→∞

mg . 6π ηr

(1.14)

Bei dieser Geschwindigkeit sind Gewicht und Reibung gleich groß, die Gesamtkraft auf den Körper ist null damit auch seine Beschleunigung. (3) Die Reibung ist proportional zum Quadrat der Geschwindigkeit Beim freien Fall in Luft ist die Reibungskraft durch FR =

cw Av 2 2

gegeben. Hier ist  die Dichte der Luft, cw der Widerstandsbeiwert, der klein ist bei aerodynamisch günstigen („stromlinienförmigen“) Körpern, und A die in Bewegungsrichtung projizierte (von vorn sichtbare) Fläche des Körpers. Die Gl. (1.11) wird zu dv cw Av 2 =g− . dt 2m Wir trennen wieder die Variablen: dv = dt, cw Av 2 g− 2m

(1.15)

16

1

Differentialgleichungen

und integrieren zur allgemeinen Lösung v(t) =

2 mg tanh cw A



cw Ag t +C 2m

 .

Hier ist tanh der Tangens hyperbolicus tanh(x) =

e x − e−x . e x + e−x

Mit v(0) = 0 folgt C = 0 und damit v(t) =

2 mg tanh cw A



cw Ag t. 2m

(1.16)

Wieder nimmt die Geschwindigkeit mit der Zeit zu und hat eine Grenze: lim v(t) =

t→∞

2 mg , cw A

(1.17)

bei der Gewicht und Reibung gleich groß sind und die Beschleunigung null. Abb. 1.4 fasst die drei Fälle in einer qualitativen Darstellung zusammen. Die genauen Kurvenverläufe und die Grenzgeschwindigkeiten bei Reibung hängen von Masse und Abmessungen des fallenden Körpers sowie Dichte bzw. Zähigkeit des Mediums ab.

Abb. 1.4 Freier Fall. (1) Reibung null, (2) Reibung proportional zur Geschwindigkeit, (3) Reibung proportional zum Quadrat der Geschwindigkeit

1.7 Hatte Aristoteles doch recht?

1.7

17

Hatte Aristoteles doch recht?

Aristoteles gilt als Begründer der Logik, als Begründer der Dynamik gilt er nicht. Er hat zwar auch zu diesem Gebiet einiges beigetragen, doch seine Lehre ist seit Galilei nur noch von historischem Interesse. Wir prüfen nun einen ihrer Aspekte genauer, und zwar die Bewegung irdischer Körper. Nach Aristoteles’ Meinung bedarf es einer Kraft, um einen Körper zu bewegen. Hört die Kraft zu wirken auf, kommt der Körper zur Ruhe. Die Geschwindigkeit des Körpers ist bestimmt durch das Verhältnis zwischen der bewegenden Kraft und dem Widerstand, den sie überwinden muss: Doppelte Kraft führt zu doppelter Geschwindigkeit, doppelter Widerstand zu halber. Wir würden diese Beziehung schreiben als v∝

F W

(1.18)

mit F für die bewegende Kraft, W für den Widerstand und ∝ für Proportionalität. Daraus folgt unter anderem, dass schwere Körper schneller fallen als leichte, weil auf sie eine größere Kraft wirkt, und dass es kein Vakuum geben kann, denn dort wäre der Widerstand null und die Geschwindigkeit unendlich [51]. Mit heutigen Maßstäben gemessen, ist daran so ziemlich alles falsch: Kräfte rufen nicht Geschwindigkeit hervor, sondern Beschleunigung – das ist das zweite newtonsche Axiom; kräftefreie Körper behalten ihre Bewegung bei – das ist das Trägheitsgesetz, das im zweiten Axiom enthalten ist und das auch Galilei und Descartes schon kannten; für die Beschleunigung maßgebend ist nicht das Verhältnis zwischen Kraft und Widerstand, sondern ihre Differenz; ein Vakuum ist, zumindest aus Sicht der Mechanik, möglich; und dass alle Körper gleich schnell fallen, das lernt heute jedes Kind. Wie also kam ein Mann von der geistigen Größe des Aristoteles zu solchen Ansichten? Um das zu verstehen, müssen wir nur einsehen, dass Aristoteles’ Lehre weitgehend mit der Erfahrung übereinstimmt: Ein welkes Blatt, ein Fallschirmspringer, ein Stein, der in tiefes Wasser fällt – alle sinken mit einer Geschwindigkeit, die abhängt von der bewegenden Kraft und dem Widerstand der Umgebung; und natürlich fallen Steine schneller als Blätter. Das ist es, was wir wirklich sehen, und das hat (bis auf den Fallschirmspringer) auch Aristoteles gesehen. Und es gilt noch mehr: Betrachten wir dazu die Grenzgeschwindigkeiten, die wir für den freien Fall mit Reibung erhalten haben. Bei FR ∝ v ist die Grenzgeschwindigkeit nach (1.14) durch v=

mg 6π ηr

gegeben. Im Zähler steht das Gewicht des Körpers, also die bewegende Kraft; im Nenner die Proportionalitätskonstante der Reibung, also der Widerstand; und damit haben wir nichts anderes erhalten als Aristoteles’ Gesetz (1.18)!

18

1

Differentialgleichungen

Bei FR ∝ v 2 ergibt sich mit (1.17) v=

2 mg . cw A

Hier steht im Zähler des Wurzelausdrucks erneut das Gewicht, im Nenner die Proportionalitätskonstante der Reibung, und bis auf die Wurzel ergibt sich wiederum (1.18). Da fallende oder im Wasser sinkende Körper ihre Grenzgeschwindigkeit oft innerhalb von Sekundenbruchteilen erreichen, entspricht das Gesetz des Aristoteles beinahe exakt den Vorgängen, die unsere Erfahrung ausmachen – viel eher als das Gesetz des Galilei. Doch erst Galilei hat den entscheidenden Schritt getan: nämlich in Gedanken den Vorgang des freien Fallens von dem des Aufgehaltenwerdens im Medium zu trennen. Der so erhaltene freie Fall war zwar keine reale Bewegung, sondern eine abstrakte, also eine, von der in Gedanken alles weggelassen ist, was nicht zu ihr gehört. Aber gerade das Weglassen des Unwesentlichen ermöglichte es ihm, das Wesentliche zu durchschauen. Bei dieser Methode ist die Wissenschaft bis heute geblieben.

1.8

Das Gesetz von Erwärmung und Abkühlung

Stehen zwei Körper miteinander in Kontakt, so fließt Wärme vom wärmeren zum kälteren. Die pro Zeit dt transportierte Wärmemenge d Q ist proportional zur Kontaktfläche A und zur Temperaturdifferenz zwischen den Körpern. Denken wir uns den einen Körper so groß, dass die von ihm aufgenommene oder abgegebene Wärme seine Temperatur TU (die Umgebungstemperatur) nicht merklich ändert, und sehen wir diese als konstant an. Die Temperatur des anderen, kleineren Körpers sei T . Dann ändert sich nach dem soeben Gesagten die im kleineren Körper enthaltene Wärme Q gemäß dQ = − α A (T − TU ). dt Der kleinere Körper habe die Masse m und bestehe aus einer Substanz mit der spezifischen Wärme c. Dann ist d Q = mc dT und es ergibt sich für seine Temperatur (von der wir annehmen, sie sei zu jedem Zeitpunkt im gesamten Körper dieselbe): αA dT =− (T − TU ). dt mc

(1.19)

1.8 Das Gesetz von Erwärmung und Abkühlung

19

Diese Gleichung lässt sich durch Trennen der Variablen lösen und bietet insofern nichts Neues. Ändert sich aber die Umgebungstemperatur mit der Zeit, dann ist dT αA =− [T − TU (t)]. dt mc

(1.20)

In dieser Gleichung lassen sich die Variablen nicht trennen. Um sie zu lösen, brauchen wir ein neues Verfahren. In Anhang B.5 ist es dargelegt, und dieses Verfahren wenden wir nun an. Schreiben wir (1.20) in der Form αA αA T = TU (t), T˙ + mc mc erkennen wir, dass es sich um eine Gleichung vom Typ (B.8) handelt. Nehmen wir konkret an, die Umgebungstemperatur steige linear mit der Zeit, TU (t) = TU (0) + kt, wie es näherungsweise die Lufttemperatur an einem Sommermorgen tut. Was geschieht dann mit der Temperatur T der am Frühstückstisch vergessenen Schale Kaffee? Für diese gilt die inhomogene Gleichung αA αA T = [TU (0) + kt]. T˙ + mc mc

(1.21)

Wir lösen im ersten Schritt die homogene Gleichung αA T˙ + T = 0. mc

(1.22)

Dazu trennen wir die Variablen: αA dT =− dt T mc und integrieren zur Lösung Th der homogenen Gleichung: αA

Th (t) = Ce− mc t .

(1.23)

Im zweiten Schritt bestimmen wir eine partikuläre Lösung T p mittels Variation der Konstanten. Wir setzen αA

T p (t) = c(t) e− mc t

20

1

Differentialgleichungen

in (1.21) ein und erhalten αA

c(t) ˙ e− mc t =

αA [TU (0) + kt]. mc

Daraus folgt  c(t) =

  αA mc  α A t αA e mc [TU (0) + kt] e mc t dt = TU (0) + k t − mc αA

und damit

 mc  . (1.24) T p (t) = TU (0) + k t − αA Im dritten Schritt addieren wir Th und T p zur allgemeinen Lösung von (1.21):  αA mc  . T (t) = Ce− mc t + TU (0) + k t − αA

(1.25)

Zuletzt ermitteln wir die noch unbestimmte Konstante C, indem wir t = 0 setzen: C = T (0) − TU (0) +

kmc . αA

Damit ergibt sich für T ein eindeutiger Zeitverlauf:  kmc − α A t mc  e mc + TU (0) + k t − . T (t) = T (0) − TU (0) + αA αA

(1.26)

Dieser ist, für realistische Werte der physikalischen Parameter, in Abb. 1.5 dargestellt. Besonders interessant ist das Langzeitverhalten der Lösung. Erinnern wir uns daran, dass TU (0) + kt gleich der Umgebungstemperatur TU (t) ist. Man kann daher (1.26) in der Form

kmc − α A t kmc e mc − T (t) − TU (t) = T (0) − TU (0) + αA αA schreiben. Die rechte Seite dieser Beziehung (und damit auch die linke) konvergiert gegen den konstanten Wert lim [T (t) − TU (t)] = −

t→∞

kmc . αA

Der vergessene Kaffee wird sich also langfristig mit derselben Geschwindigkeit erwärmen wie die Umgebung, dabei aber um den konstanten Wert kmc/α A kühler sein als sie, auch wenn er anfangs wärmer war (Abb. 1.5).

1.8 Das Gesetz von Erwärmung und Abkühlung

21

Abb. 1.5 Umgebungstemperatur TU und Temperatur T des Kaffees als Funktion der Zeit t gemäß (1.26). Anfangstemperatur T (0) = 45 ◦ C, Masse m = 150 g, spezifische Wärme c = 4,2 kJ/kg K, Oberfläche A = 160 cm2 , Wärmeübergangskoeffizient α = 20 W/m2 K . Die Umgebung erwärmt sich von TU (0) = 20 ◦ C mit k = 3 K/h

Bei der Ableitung von (1.26) haben wir keine speziellen Werte der physikalischen Parameter vorausgesetzt. Die Gleichung beschreibt daher auch den Zeitverlauf von T bei sinkender Umgebungstemperatur oder die Erwärmung eines Körpers, der anfangs kälter als die Umgebung ist. Bei konstanter Umgebungstemperatur (k = 0) ergibt sich das newtonsche Gesetz des Temperaturausgleichs (Abb. 1.6): T (t) = TU + [T (0) − TU ] e− λt .

(1.27)

Abb. 1.6 Temperatur T des Kaffees bei konstanter Umgebungstemperatur TU = 20◦ C als Funktion der Zeit t gemäß (1.27) (newtonsches Gesetz des Temperaturausgleichs). Anfangstemperatur T (0) = 45 ◦ C, λ = α A/mc mit Masse m = 150 g, spezifische Wärme c = 4,2 kJ/kg K, Oberfläche A = 160 cm2 , Wärmeübergangskoeffizient α = 20 W/m2 K

Wir haben angenommen, die Temperatur des Kaffees sei stets an jedem Punkt dieselbe. Das stimmt nicht exakt, denn die Flüssigkeit kühlt außen schneller ab als innen. Wer das berücksichtigen will, braucht die Wärmeleitungsgleichung, der wir in Abschn. 3.3 begegnen.

22

1

1.9

Differentialgleichungen

Die Welt der Schwingungen

Differentialgleichungen 2. Ordnung erschließen die Welt der Schwingungen: von Federschwingungen, Pendeln, Booten, die auf dem Wasser schaukeln, über elektrische Schwingkreise und Antennen bis zum harmonischen Oszillator der Quantenphysik. Wir besprechen das Phänomen am Beispiel der Federschwingung. Eine Masse hänge an einer (selbst als masselos gedachten) Feder im Gleichgewicht zwischen Schwere und Federkraft. Wird die Feder gedehnt oder gestaucht, wirkt eine rücktreibende Kraft proportional zur Längenänderung (Abb. 1.7).

x m

x

F

m

F

m Abb. 1.7 Verformen einer Feder. Links: natürliche Länge (Gleichgewicht); Mitte: gedehnt; rechts: gestaucht. Die auf die Masse m wirkende Kraft F ist porportional zur Auslenkung x und gegen diese gerichtet

Auf die Masse m wirkt also bei der Auslenkung x eine Kraft F, gegeben durch F = −κ x, wobei die Konstante κ > 0 von der Feder abhängt. Dieses Gesetz hat Robert Hooke 1676 gefunden. Ist die Masse ansonsten frei, erfährt sie durch F die Beschleunigung a=

F . m

Da die Beschleunigung die zweite Ableitung des Weges nach der Zeit ist (a = x), ¨ ergeben die beiden Gleichungen zusammen x¨ +

κ x = 0. m

Das ist die Gleichung einer freien ungedämpften Schwingung. Nun können noch zwei weitere Kräfte auf die Masse wirken. Erstens eine Reibungskraft, die die Bewegung hemmt und zu einer gedämpften Schwingung führt. Ist die Reibung proportional zur Geschwindigkeit, dann ist die Gesamtkraft F = − κ x − δ x. ˙

1.9 Die Welt der Schwingungen

23

Zweitens eine von außen kommende (externe) Kraft FE , die zu einer erzwungenen Schwingung und der Gesamtkraft F = − κ x + FE führt. Kommen alle Kräfte zusammen, ist F = − κ x − δ x˙ + FE . Man kann also 4 Fälle unterscheiden: κ m δ κ x¨ + x˙ + m m κ x¨ + m δ κ x¨ + x˙ + m m x¨ +

freie unged¨ampfte Schwingung: freie ged¨ampfte Schwingung: erzwungene unged¨ampfte Schwingung: erzwungene ged¨ampfte Schwingung:

x = 0.

(1.28)

x = 0.

(1.29)

FE . m FE x= . m x=

(1.30) (1.31)

Jeder Fall wird durch eine lineare Differentialgleichung 2. Ordnung beschrieben. Die Gleichungen haben ein gemeinsames Merkmal: Die gesuchte Funktion x und ihre erste Ableitung sind mit konstanten Koeffizienten multipliziert und nicht, wie im allgemeinen Fall (B.5), mit Funktionen der unabhängigen Variablen. Das erlaubt einen bequemen Lösungsweg, den wir in Anhang B.6 beschreiben. Wir untersuchen nun die Fälle (1.28) bis (1.30). Der Fall (1.31) ist Gegenstand von Abschn. 1.10. Zum Zeitpunkt 0 sei die Feder um die Strecke A gedehnt (x(0) = A) und die Masse in Ruhe (x(0) ˙ = 0). (1) Freie ungedämpfte Schwingung Im ersten Fall wirkt auf die Masse nur die Kraft der Feder. Dann gilt mit den genannten Anfangswerten κ ˙ = 0. (1.32) x¨ + x = 0, x(0) = A, x(0) m Die Differentalgleichung ist homogen. Ihre charakteristische Gleichung, λ2 +

κ = 0, m

hat zwei konjugiert komplexe Lösungen:  κ . λ1,2 = ±i m

24

1

Differentialgleichungen

Daraus folgt nach Tab. B.3 mit der Bezeichnung  ω0 =

κ m

die allgemeine Lösung x(t) = C1 sin ω0 t + C2 cos ω0 t. Da die Gleichung homogen ist, brauchen wir keine partikuläre Lösung. Mit den Anfangswerten bestimmen wir C1 und C2 : x(0) = C2 = A, x(0) ˙ = ω0 C1 = 0. Damit ist die Anfangswertaufgabe (1.32) gelöst; die Auslenkung der Masse folgt dem Gesetz x(t) = A cos ω0 t.

(1.33)

Es beschreibt eine harmonische Schwingung mit der Amplitude A und der Winkelgeschwindigkeit ω0 (Abb. 1.8). Die Frequenz, die Anzahl der Schwingungsperioden pro Sekunde, ist gegeben durch ω0 1 f0 = = 2π 2π



κ , m

sofern die Federkonstante κ in Newton pro Meter und die Masse in Kilogramm gemessen werden. Sie ist also umso höher, je stärker die Feder und je geringer die Masse ist.

x A

0

0

Abb. 1.8 Freie ungedämpfte Schwingung gemäß (1.33)

t

1.9 Die Welt der Schwingungen

25

(2) Freie gedämpfte Schwingung Muss die schwingende Masse eine Reibungskraft überwinden, die proportional zu ihrer Geschwindigkeit und gegen diese gerichtet ist, so ergibt sich mit unseren Anfangswerten die Aufgabe x¨ +

κ δ x˙ + x = 0, x(0) = A, x(0) ˙ = 0. m m

(1.34)

Die Differentialgleichung ist wiederum homogen. Ihre charakteristische Gleichung, λ2 +

δ κ λ+ = 0, m m

hat die Lösungen λ1,2

δ =− ± 2m





δ 2m

2 −

κ . m

Welcher der Lösungsfälle von Tab. B.3 vorliegt, hängt vom Ausdruck unter der Wurzel (der Diskriminante D) ab. Betrachten wir die drei Fälle getrennt. Fall 1: λ1 = λ2 , reell. Dazu muss D > 0 sein, also der Ausdruck (δ/2m)2 der Dämpfung größer als der Ausdruck κ/m der Federkraft. Man spricht hier von starker Dämpfung. Die allgemeine Lösung ist dann x(t) = C1 eλ1 t + C2 eλ2 t . Dabei sind λ1 , λ2 < 0, da δ/2m und κ/m positiv sind. Mit den Anfangswerten x(0) = C1 + C2 = A, x(0) ˙ = λ1 C1 + λ2 C2 = 0 ergeben sich C1 und C2 und mit ihnen die Lösung der Anfangswertaufgabe (Abb. 1.9):

x(t) = A

λ2 λ1 e λ1 t + e λ2 t . λ2 − λ1 λ1 − λ2

(1.35)

x A

0

0

t

Abb. 1.9 Freie stark gedämpfte Schwingung gemäß (1.35). Die Dämpfung lässt kein Schwingen (im herkömmlichen Sinn des Wortes) zustande kommen

26

1

Differentialgleichungen

Fall 2: λ1 = λ2 = λ, reell. Dazu muss D = 0 sein; der Ausdruck (δ/2m)2 der Dämpfung und der Ausdruck κ/m der Federkraft sind gleich groß. In diesem Fall liegt kritische Dämpfung vor. Die allgemeine Lösung ist x(t) = (C1 + C2 t) eλt mit λ < 0 (da δ/2m > 0). Die Anfangswerte x(0) = C1 = A, x(0) ˙ = λC1 + C2 = 0 liefern C1 und C2 und damit (Abb. 1.10) x(t) = A (1 − λt) eλt .

(1.36)

x A

0

0

t

Abb. 1.10 Freie kritisch gedämpfte Schwingung gemäß (1.36). Die Auslenkung klingt rascher ab als bei starker Dämpfung; die kritische Dämpfung reicht gerade noch aus, ein Schwingen zu unterbinden

Fall 3: λ1,2 = a ± ib mit b = 0 . Dazu muss D < 0 sein, also der Ausdruck (δ/2m)2 der Dämpfung kleiner als der Ausdruck κ/m der Federkraft. Das ist der Fall schwacher Dämpfung. Die allgemeine Lösung ist x(t) = (C1 sin bt + C2 cos bt) eat mit a < 0 (da δ/2m > 0 ). Die Anfangswerte x(0) = C2 = A, x(0) ˙ = bC1 + aC2 = 0 legen C1 und C2 fest und mit ihnen (Abb. 1.11)   a x(t) = A cos bt − sin bt eat . b

(1.37)

1.9 Die Welt der Schwingungen

27

x A

0

0

t

Abb. 1.11 Freie schwach gedämpfte Schwingung gemäß (1.37)

Die Winkelgeschwindigkeit der gedämpften Schwingung ist b=

κ − m



δ 2m



2 =

ω02



δ 2m

2 .

Sie liegt unter der Winkelgeschwindigkeit ω0 der ungedämpften Schwingung und sinkt mit steigender Dämpfung. (3) Erzwungene ungedämpfte Schwingung Nun sehen wir von der dämpfenden Kraft wieder ab, lassen aber nicht nur die Feder auf die Masse wirken, sondern dazu eine externe periodische Kraft Fˆ E sin ωt . Mit den Bezeichnungen  ω0 = aE =

κ , m

Fˆ E m

und unseren Anfangswerten lautet die Aufgabe: ˙ = 0. x¨ + ω02 x = a E sin ωt, x(0) = A, x(0)

(1.38)

Die Differentialgleichung ist nun inhomogen. Die homogene Gleichung haben wir im Abschnitt über die freie ungedämpfte Schwingung gelöst: x h (t) = C1 sin ω0 t + C2 cos ω0 t. Nun suchen wir eine partikuläre Lösung. Die Störfunktion a E sin ωt ist eine Funktion vom Typ Pn (t) eαt sin βt

28

1

Differentialgleichungen

mit n = 0 (die Konstante a E ist ein Polynom vom Grad 0), α = 0 und β = ω . Wir können daher Tab. B.4 verwenden und müssen nur noch unterscheiden, ob Resonanz vorliegt oder nicht. Resonanz bedeutet α + iβ = iω = λ1(2) = iω0 , also ω = ω0 ; die von außen kommende Kraft hat dieselbe Frequenz wie die Eigenschwingung des Systems. Wir nehmen uns die Fälle wieder getrennt vor. Fall 1: ω = ω0 (keine Resonanz). Dann ist gemäß Tab. B.4 x p (t) = a1 sin ωt + a2 cos ωt. Die Koeffizienten a1 und a2 bestimmen wir, indem wir x p in die inhomogene Gleichung einsetzen: − ω2 a1 sin ωt − ω2 a2 cos ωt + ω02 (a1 sin ωt + a2 cos ωt) = a E sin ωt. Da diese Gleichheit für alle Werte von t gelten muss, müssen die Koeffizienten der Sinus- bzw. der Kosinusfunktionen links und rechts übereinstimmen: − ω2 a1 + ω02 a1 = a E , − ω2 a2 + ω02 a2 = 0. Daraus erhalten wir a1 und a2 und damit x p (t) =

ω02

aE sin ωt. − ω2

Nun addieren wir x h und x p und erhalten die allgemeine Lösung der inhomogenen Gleichung: aE sin ωt. x(t) = C1 sin ω0 t + C2 cos ω0 t + 2 ω0 − ω 2 Die Anfangswerte x(0) = C2 = A, aE x(0) ˙ = ω0 C 1 + ω 2 =0 ω0 − ω 2 liefern C1 und C2 und damit die Lösung von (1.38) ohne Resonanz (Abb. 1.12): x(t) = A cos ω0 t +

ω02

aE ω (sin ωt − sin ω0 t). 2 ω0 −ω

(1.39)

1.9 Die Welt der Schwingungen

29

x A

0

0

t

Abb. 1.12 Erzwungene ungedämpfte Schwingung ohne Resonanz gemäß (1.39). Es bildet sich eine stationäre Schwingung aus

Fall 2: ω = ω0 (Resonanz). Dann ist gemäß Tab. B.4 x p (t) = t (a1 sin ω0 t + a2 cos ω0 t). Das setzen wir in die inhomogene Gleichung ein und erhalten durch Koeffizientenvergleich die partikuläre Lösung x p (t) = −

aE t cos ω0 t. 2ω0

Wieder addieren wir x h und x p und erhalten die allgemeine Lösung der inhomogenen Gleichung: aE t cos ω0 t. x(t) = C1 sin ω0 t + C2 cos ω0 t − 2ω0 Die Anfangswerte x(0) = C2 = A, aE x(0) ˙ = ω0 C 1 − =0 2ω0 liefern C1 und C2 und damit die Lösung von (1.38) im Resonanzfall (Abb. 1.13): x(t) = A cos ω0 t +

aE (sin ω0 t − ω0 t cos ω0 t). 2ω02

(1.40)

Ist ω = ω0 , dann wächst im ungedämpften Fall die Amplitude über alle Grenzen; zumindest, solange die rücktreibende Kraft proportional zur Auslenkung ist. Irgendwann ist es mit dieser Proportionalität vorbei: wenn die Feder so weit gedehnt wird, dass sie ihre Spiralform verliert, oder so weit gestaucht, dass ihre Windungen aufeinander liegen; oder wenn die Kräfte das System zerstören.

30

1

Differentialgleichungen

x

A

0

0

t

Abb. 1.13 Erzwungene ungedämpfte Schwingung mit Resonanz gemäß (1.40). Nach einer Phase des Einschwingens übernimmt die externe Kraft das Kommando und die Amplitude wächst über alle Grenzen

Der Einsturz der Tacoma Bridge Ein spektakuläres Beispiel für eine Resonanzkatastrophe, bei der das Letztere geschah, ist der Einsturz der Tacoma Bridge im US-Bundesstaat Washington im Jahr 1940. Die Brücke wurde vom Wind in Schwingungen versetzt, die unvorstellbare Ausmaße annahmen und sie nach einer Dreiviertelstunde im wahrsten Sinn des Wortes zerrissen. Alles hatte ganz harmlos begonnen, mit einem kleinen Auf und Ab, wie es jede Brücke erleidet, sobald Menschen über sie gehen, ein Wagen sie befährt oder Wind sie anbläst. Die Tacoma Bridge verbog sich ein wenig im Rhythmus ihrer Eigenschwingung. Dadurch aber schwangen im selben Rhythmus die Angriffsfläche, die sie dem Wind bot, und mit dieser die Kräfte, die der Wind auf sie ausübte, so dass die Frequenz der äußeren Kraft zwangsläufig die Eigenfrequenz der Brücke traf. Die Resonanz war also kein Zufall. Dass es gerade die Tacoma Bridge so schlimm erwischte, lag vermutlich daran, dass sie besonders schlank und biegsam war und die Schwingungen nicht ausreichend dämpfte, wie andere Brücken es tun. Tatsächlich war sie schon vor dem Unglück wegen ihres Schwingens als „Galloping Gertie“ bekannt und eine Touristenattraktion gewesen.

1.10

Der elektrische Schwingkreis

Die in Abb. 1.14 dargestellte Anordnung dreier Bauelemente – Widerstandselement, Spule und Kondensator – heißt Serienschwingkreis. Das Widerstandselement ist durch seinen ohmschen Widerstand R beschrieben, die Spule durch ihre Induktivität L und der Kondensator durch seine Kapazität C. (Man nennt die Bauelemente selbst oft auch Widerstand, Induktivität und Kapazität.)

1.10 Der elektrische Schwingkreis

31

R

L

UR

UL

UE

U

C

I Abb. 1.14 Serienschwingkreis. An Widerstand R, Induktiviät L und Kapazität C fallen die Spannungen U R , U L und U ab. Der Kreis wird vom Strom I durchflossen und von der externen Spannung (auch Eingangsspannung) U E angeregt

Worum es uns geht, ist die Spannung am Kondensator. Um sie hervorzuheben, bezeichnen wir sie nicht als UC analog zu den anderen Spannungen, sondern als U . Nach der kirchhoffschen Maschenregel ist die Summe der Spannungen im Schwingkreis null, sofern alle Spannungen im Uhrzeigersinn oder alle gegen ihn gemessen werden. Berücksichtigt man die eingezeichneten Richtungen, folgt U R + UL + U = UE .

(1.41)

In dieser Gleichung lassen sich U R und U L durch U ausdrücken. Erstens ist nach dem ohmschen Gesetz UR = R I ; der Strom ist die transportierte Ladung pro Zeit: I =

dQ ; dt

diese Ladung gelangt an den Kondensator und hängt mit seiner Spannung gemäß Q = CU zusammen. Aus alldem ergibt sich UR = R I = R

dQ dU = RC . dt dt

Zweitens ist nach der Definition der Induktivität UL = L

dI . dt

Mit den schon genannten Zusammenhängen folgt UL = L

d 2U dI d2 Q = LC . =L dt dt 2 dt 2

32

1

Differentialgleichungen

Setzt man die Ausdrücke für U R und U L in (1.41) ein, erhält man RC

dU d 2U + U = UE . + LC dt dt 2

(1.42)

Nach Umordnen der Terme und Division der Gleichung durch LC entsteht mit R 1 1 U¨ + U˙ + U= UE L LC LC

(1.43)

eine inhomogene Differentialgleichung für die Kondensatorspannung U , die von derselben Form ist wie (1.31); sie beschreibt eine erzwungene gedämpfte Schwingung. Aus Anhang B.6 wissen wir, dass ihre Lösung die Summe aus der Lösung der homogenen Gleichung und einer partikulären Lösung der inhomogenen ist: U (t) = Uh (t) + U p (t). Für Uh gibt es nach Tab. B.3 drei Möglichkeiten: Uh (t) = C1 eλ1 t + C2 eλ2 t , Uh (t) = (C1 + C2 t) eλt , Uh (t) = (C1 sin bt + C2 cos bt) eat . Die Exponentialfunktionen klingen in allen Fällen ab, da im ersten Fall λ1 und λ2 , im zweiten Fall λ und im dritten Fall a negativ sind. Es ist also stets lim Uh (t) = 0,

t→∞

womit für große t nur die partikuläre Lösung übrig bleibt: U (t) = U p (t). Diese wollen wir nun berechnen. Dazu nehmen wir eine sinusförmige Eingangsspannung mit Amplitude Uˆ E und Winkelgeschwindigkeit ω (die man im Zusammenhang mit Schwingkreisen auch Kreisfrequenz nennt) an: U E (t) = Uˆ E sin ωt. Dann ergibt sich die partikuläre Lösung gemäß Tab. B.4 aus dem Ansatz U p (t) = a1 sin ωt + a2 cos ωt. (Eine Resonanz im Sinn von Tab. B.4 ist ausgeschlossen, da in der Störfunktion α = 0 und β = ω ist, in der einzigen komplexen homogenen Lösung (dritter Fall)

1.10 Der elektrische Schwingkreis

33

jedoch a < 0 .) Die Konstanten a1 und a2 ergeben sich durch Einsetzen von U p in (1.43); das Resultat lässt sich zweckmäßig schreiben als U p (t) = Uˆ sin(ωt + ϕ). Die partikuläre Lösung ist eine Sinusschwingung mit der Kreisfrequenz ω der Eingangsspannung. Ihre zeitliche Verschiebung gegenüber U E , gegeben als ϕ/ω, ist meist belanglos; bedeutender ist ihre (von ω abhängige) Amplitude Uˆ E . Uˆ (ω) =  (ω RC)2 + (ω2 LC − 1)2

(1.44)

Diese nimmt ihr Maximum dort an, wo der Ausdruck unter der Wurzel des Nenners minimal ist. Aus der notwendigen Bedingung für ein Minimum dieses Ausdrucks,  d  (ω RC)2 + (ω2 LC − 1)2 = 0, dω ergibt sich jene Kreisfrequenz ωr =

1 R2 , − LC 2 L2

bei der die Kondensatorspannung maximale Amplitude hat. Man sagt dann, der Schwingkreis ist auf diese Kreisfrequenz (oder die zugehörige Frequenz ωr /2π ) abgestimmt (Abb. 1.15).

90

100

110

f (MHz)

Abb. 1.15 Amplitude der Kondensatorspannung U des Schwingkreises in Abb. 1.14 als Funktion der Eingangsspannungsfrequenz f = ω/2π nach (1.44). R = 10 , L = 1 μH und C = 2,5 pF

Auf dem Abstimmen von Schwingkreisen beruht der analoge Empfang von Radio und Fernsehen: Die Antenne (oder das Kabel) liefert eine Eingangsspannung, in der die Signale sämtlicher Kanäle enthalten sind, wobei jedem Kanal ein eigener Frequenzbereich zugeteilt ist. Durch Abstimmen des Empfängers auf die Mittenfrequenz eines Kanals wird dieser gegenüber den anderen verstärkt. Die Ausgangsspannung

34

1

Differentialgleichungen

(entsprechend der Kondensatorspannung in unserem Beispiel) enthält dann nur mehr das Signal des ausgewählten Kanals, das ungestört von den anderen zur Wiedergabe kommt.

1.11

Die Gleichung der schwingenden Saite

Bisher haben wir gewöhnliche Differentialgleichungen behandelt: solche, deren Lösungen Funktionen einer einzigen Variablen sind. Nun kommen wir zu den partiellen; deren Lösungen sind Funktionen mehrerer Variabler. Sie beschreiben die Ausbreitung von Wellen, den Verlauf von Temperatur, Dichte und Konzentration in Raum und Zeit, die Gestalt von Gravitations- oder elektromagnetischen Feldern bis hin zum Wahrscheinlichkeitsfeld der Quantenphysik. Wir analysieren das Schwingen einer Saite, die angeschlagen und dann sich selbst überlassen wird, indem wir ihre Auslenkung u(x, t) berechnen. Deren Gleichung heißt Wellengleichung. Zu irgendeinem Zeitpunkt möge die Saite die in Abb. 1.16 dargestellte Form haben.

Abb. 1.16 Auslenkung u(x, t) einer schwingenden Saite der Länge L, an den Enden eingespannt, zu einem festen Zeitpunkt t. F1 und F2 sind die an den Endpunkten des Saitenabschnitts [x, x +x] wirkenden Kräfte

(1) Ableitung der Wellengleichung Wir betrachten speziell die an den herausgehobenen Punkten wirkenden Kräfte F1 und F2 und von diesen wiederum die horizontalen und vertikalen Komponenten. Andere Kräfte berücksichtigen wir nicht. Wir sehen von der Schwerkraft ab (die im Vergleich mit den Zugkräften tatsächlich kaum ins Gewicht fällt), ignorieren jegliche Dämpfung (was für kurze Zeiten der Wirklichkeit nahe kommt) und nehmen an, dass die Saite ihrer Biegung keinen Widerstand entgegensetzt (was für schwache Biegungen annähernd stimmt). Jeder Abschnitt der Saite, und daher auch der Abschnitt [x, x + x], möge sich, abgesehen von seiner geringfügigen Verformung, nur vertikal bewegen. Dann befindet er sich horizontal im Gleichgewicht: Nach rechts wie nach links wirkt auf ihn jeweils eine Kraft vom gleichen Betrag F:

1.11 Die Gleichung der schwingenden Saite

35

F2 cos β = F1 cos α = F. Vertikal erfährt der Abschnitt die Kraft F2 sin β − F1 sin α, die ihm nach dem zweiten newtonschen Axiom eine vertikale Beschleunigung ∂ 2 u/∂t 2 verleiht, die wir kurz u tt schreiben. Um sie zu bestimmen, benötigen wir die Masse m des Abschnitts. Hat die Saite im Ruhezustand die Querschnittfläche A und die Dichte , ist m =  A x und damit F2 sin β − F1 sin α =  A x u tt . Dividiert man diese Gleichung durch F, erhält man wegen der vorhin festgestellten Gleichheit der Horizontalkräfte F2 sin β F1 sin α  A x − = u tt . F2 cos β F1 cos α F Der Quotient aus Zugkraft und Querschnittfläche ist die Zugspannung σ . So ergibt sich (nach Kürzen durch F2 bzw. F1 auf der linken Seite) tan β − tan α =

 x u tt . σ

Da der Tangens eines Steigungswinkels die Steigung selbst ist, in unserem Fall die Ableitung von u nach x (wir schreiben u x für ∂u/∂ x), wird die Gleichung zu u x (x + x, t) − u x (x, t) =

 x u tt . σ

Dividiert man durch x und bildet man den Grenzwert für x → 0, u x (x + x, t) − u x (x, t)  = u tt , x→0 x σ lim

steht links die zweite Ableitung von u nach x, und so folgt uxx =

 u tt . σ

Zuletzt führen wir eine Bezeichnung ein, die sich als hilfreich erweisen wird: Da  und σ stets positiv sind, können wir eine Größe c durch c2 =

σ 

36

1

Differentialgleichungen

definieren und erhalten die eindimensionale Wellengleichung u tt = c2 u x x .

(1.45)

(2) Lösung nach d’Alembert Gefunden hat die Gleichung der schwingenden Saite Jean le Rond d’Alembert im Jahr 1747 [3]. Seine Ableitung, die auch schon die Lösung enthält, ist ein Wunder an Esprit; wie es viele Arbeiten aus der Frühzeit der Naturwissenschaft sind, als man schwierige Probleme mit unzulänglichen Mitteln angehen musste. D’Alembert schrieb zunächst die Änderung von u bei Änderung von x und t, also das totale Differential von u, als du = p d x + q dt mit unbekannten Funktionen p(x, t) und q(x, t) (die Bezeichnungen passen wir hier und im Folgenden an unsere bisherigen an). Die totalen Differentiale von p und q wiederum schrieb er als dp = α d x + β dt und dq = γ d x + δ dt mit ebenso unbekannten Funktionen α, β, γ und δ von x und t. Was d’Alembert nun zum Teil aus physikalischen Überlegungen, zum Teil aus einem Theorem von Euler schloss, erhalten wir einfacher aus unserem Wissen über partielle Ableitungen und aus der Wellengleichung, die wir ja (anders als d’Alembert) schon fertig vor uns haben. Wir wissen, dass sich hinter den unbekannten Funktionen partielle Ableitungen verbergen: p = u x , q = u t , α = px = u x x , β = pt = u xt , γ = qx = u t x , δ = qt = u tt . Wenn u xt und u t x stetig sind, was wir für dieses Problem annehmen dürfen, dann sind sie gleich und β = γ . Das ist der Punkt, wo sich d’Alembert auf Euler berief. Seine physikalischen Argumente stecken in der Wellengleichung selbst: Gemäß (1.45) ist δ = c2 α . Beides zusammen führt auf dq = β d x + c2 α dt, und mit dieser Beziehung ergibt sich c dp + dq = cα d x + cβ dt + β d x + c2 α dt = (cα + β)(d x + c dt), c dp − dq = cα d x + cβ dt − β d x − c2 α dt = (cα − β)(d x − c dt). Daraus schloss d’Alembert, dass cα + β eine Funktion von x + ct sei und cα − β eine Funktion von x − ct ; daraus wiederum, dass p = φ(x + ct) + ψ(x − ct) sei und q = φ(x + ct) − ψ(x − ct) mit unbekannten Funktionen φ und ψ; und weil u = ( p d x + q dt) ist, ergab sich u(x, t) = (x + ct) + (x − ct)

(1.46)

1.11 Die Gleichung der schwingenden Saite

37

mit unbekannten Funktionen  und  als Lösung von (1.45). Jede Wahl von  und  macht (1.46) zu einer Lösung. Die konkrete Form der Funktionen ergibt sich erst aus den Umständen des speziellen Falls, was wir im Folgenden betrachten. Eine moderne (und nach heutigem Maßstab schlüssigere) Ableitung von d’Alemberts Lösung finden Sie in Anhang B.7. (3) Anfangswertaufgaben Bei den gewöhnlichen Differentialgleichungen konnten wir aus der allgemeinen Lösung, also der Menge aller Lösungsfunktionen, eine Funktion auszeichnen, indem wir so viele Anfangsbedingungen festgelegt haben, wie der Ordnung der Gleichung entspricht: eine bei Gleichungen 1. Ordnung, zwei bei Gleichungen 2. Ordnung. Bei den partiellen Gleichungen ist das ebenso, nur sind die Anfangsbedingungen nicht einzelne Werte, sondern Funktionen. Legt man beispielsweise die Auslenkung u und ihre Geschwindigkeit u t zum Zeitpunkt 0 durch Funktionen f und g fest, entsteht mit u tt = c2 u x x , u(x, 0) = f (x), u t (x, 0) = g(x)

(1.47)

eine Anfangswertaufgabe. Diese wollen wir nun lösen. Wir wissen schon, dass jede Lösung die Form (1.46) hat und erwarten (zu Recht), dass die Anfangsbedingungen  und  bestimmen werden. Setzt man (1.46) in die Anfangsbedingungen ein, ergibt sich u(x, 0) = (x) + (x) = f (x), u t (x, 0) = c  (x) − c   (x) = g(x). (Da  und  Funktionen nur jeweils einer Variablen sind, bezeichnen  und   die Ableitungen nach ebendieser.) Wir dividieren die zweite Gleichung durch c und integrieren sie nach x : (x) − (x) =

1 G(x) + C, c

wo G eine Stammfunktion von g ist und C eine beliebige Konstante. Nun haben wir zwei Gleichungen für  und  : (x) + (x) = f (x), 1 (x) − (x) = G(x) + C, c aus denen sich  und  ergeben: 1 f (x) + 2 1 (x) = f (x) − 2 (x) =

1 1 G(x) + C, 2c 2 1 1 G(x) − C 2c 2

38

1

Differentialgleichungen

und damit 1 f (x + ct) + 2 1 (x − ct) = f (x − ct) − 2 (x + ct) =

1 G(x + ct) + 2c 1 G(x − ct) − 2c

1 C, 2 1 C. 2

Laut (1.46) ist die Summe dieser beiden Funktionen die Lösung von (1.47): u(x, t) =

1 1 [ f (x + ct) + f (x − ct)] + [G(x + ct) − G(x − ct)]. 2 2c

(1.48)

(4) Ein Gitarrenton Nun lassen wir einen Gitarrenton erklingen. Wir zupfen die Saite leicht an, bringen sie also in eine Ausgangslage, die von der Ruhelage ein wenig abweicht und durch u(x, 0) = f (x) beschrieben ist (Abb. 1.17).

0

L

x

Abb. 1.17 Ausgangslage u(x, 0) = f (x) einer Gitarrensaite der Länge L

Dort halten wir sie einen Moment lang fest (damit ist ihre Anfangsgeschwindigkeit u t (x, 0) = g(x) = 0) und lassen sie dann los. Ihr Schwingen wird durch (1.48) beschrieben. Da g(x) = 0 und damit G(x) = const ist, vereinfacht sich (1.48) zu u(x, t) =

1 [ f (x + ct) + f (x − ct)]. 2

(1.49)

Das Verhalten der Saite ist also für alle Orte x zwischen 0 und L und alle nichtnegativen Zeiten t durch die Funktion f festgelegt. Allerdings kennen wir f (x) vorerst nur im Intervall [0, L] . Um u für alle x und t bestimmen zu können, müssen wir f (x) für alle x kennen; denn x + ct kann jeden positiven Wert annehmen, x − ct jeden negativen. Dazu bedenken wir, dass die Saite an beiden Enden fixiert ist: Für alle t gelten die Randwerte u(0, t) = 0 = u(L, t). Die linke Seite dieser Beziehung führt auf f (ct) + f (−ct) = 0, f (−ct) = − f (ct) für alle t. Also ist f eine ungerade Funktion. Die rechte Seite ergibt f (L + ct) + f (L − ct) = 0, f (L − ct) = − f (L + ct).

1.11 Die Gleichung der schwingenden Saite

39

Da f ungerade ist, gilt f (−L − ct) = − f (L + ct), und zusammen mit der letzten Gleichung erhalten wir f (L − ct) = f (−L − ct) für alle t. Daher nimmt f im Abstand von 2L jeweils dieselben Werte an. f ist also ungerade und periodisch mit einer Periode von 2L (Abb. 1.18).

Abb. 1.18 Funktion f , die die Ausgangslage einer Gitarrensaite der Länge L beschreibt

Bisher war die Betrachtung eine statische. Sehen wir nun nach, wie sich die Teilfunktionen von u aus (1.49), f (x +ct)/2 und f (x −ct)/2, mit der Zeit verhalten. Es ist f (x + ct)/2 konstant, wo x + ct konstant ist: Zwei Punkte (x1 , t1 ) und (x2 , t2 ) haben gleiche Amplitude f (xi + cti )/2, wenn x1 + ct1 = x2 + ct2 ist und damit x2 − x1 = − c. t2 − t1 Die Teilwelle f (x + ct)/2 bewegt sich also mit der Geschwindigkeit c nach links. Eine analoge Überlegung zeigt, dass sich die Teilwelle f (x − ct)/2 mit der Geschwindigkeit c nach rechts bewegt. Die beiden laufen also, zur Zeit 0 vom selben Ort ausgehend, auseinander (Abb. 1.19).

Abb. 1.19 Die Teilwellen f (x + ct)/2 (durchgezogen) und f (x − ct)/2 (strichliert) laufen, vom selben Ort ausgehend, mit den Geschwindigkeiten − c bzw. +c auseinander. Beobachtbar ist nur der Bereich von 0 bis L, in dem sich die Saite befindet

40

1

Differentialgleichungen

Unsere Ergebnisse legen nahe, dass man eine Welle als Schwingung ansehen kann, die sich im Raum ausbreitet. Zugleich haben wir eine Interpretation der willkürlich eingeführten Größe c gefunden: Es handelt sich um die Geschwindigkeit der Teilwellen, die man, wie Abb. 1.20 zeigt, als Ausbreitungsgeschwindigkeit der Welle ansehen kann.

Abb. 1.20 Schwingende Gitarrensaite der Länge L mit den Anfangsbedingungen u(x, 0) = f (x) und u t (x, 0) = 0 . Die Welle u(x, t) (dicke Linie) ist die Summe der Teilwellen f (x+ct)/2 (dünne Linie, durchgezogen) und f (x − ct)/2 (strichliert). Die Teilwellen bewegen sich mit Geschwindigkeit c nach links bzw. rechts. Nach der Zeit 2L/c ist die Saite wieder in Ausgangslage; die Welle hat die räumliche Periode 2L durchlaufen, ihre Ausbreitungsgeschwindigkeit ist also c

Nachdem alle Vorarbeiten abgeschlossen sind, können wir unseren Gitarrenton „hören“: als Summe der Teilwellen im Bereich 0 ≤ x ≤ L . In Abb. 1.20 ist eine zeitliche Periode dargestellt.

1.11 Die Gleichung der schwingenden Saite

41

Nach der Zeit 2L/c befindet sich die Saite wieder in ihrer Ausgangslage. Das ist kein Zufall; denn wegen der Periodizität von f gilt für jeden Ort x 







1 2L 2L 2L = f x +c t + + f x −c t + u x, t + c 2 c c 1 1 = [ f (x +ct +2L) + f (x −ct −2L)] = [ f (x + ct) + f (x − ct)] = u(x, t). 2 2 Auch die Geschwindigkeit der Auslenkung, u t (x, t) =

1 c [c f  (x + ct) − c f  (x − ct)] = [ f  (x + ct) − f  (x − ct)] , 2 2

hat nach der Zeit 2L/c an jedem Ort wieder ihren ursprünglichen Wert: 





c 2L 2L 2L   u t x, t + = f x +c t + − f x −c t + c 2 c c c  c    = [ f (x +ct +2L) − f (x −ct −2L)] = [ f (x +ct) − f (x −ct)] = u t (x, t). 2 2

Damit schwingt die Saite mit der Periode T = 2L/c und der Grundfrequenz f0 =

1 c 1 = = T 2L 2L



σ . 

An dieser letzten Gleichung sieht auch der Nichtmusiker, wie man eine Saite stimmt: auf einen höheren Ton, indem man die Zugspannung erhöht; auf einen niedrigeren, indem man sie verringert. Die Vielfalt der partiellen Gleichungen Partielle Differentialgleichungen sind noch vielgestaltiger als gewöhnliche. Nicht nur gibt es auch hier Gleichungen von beliebiger Ordnung, lineare und nichtlineare, homogene und inhomogene, Gleichungen mit konstanten und variablen Koeffizienten – sie unterscheiden sich noch dazu in der Anzahl der unabhängigen Variablen. Gewöhnliche Gleichungen haben immer genau eine; die eindimensionale Wellengleichung hat zwei, Ortskoordinate und Zeit; die zweidimensionale Wellengleichung, die das Schwingen von Membranen beschreibt, hat zwei Ortskoordinaten und die Zeit, also drei; und die Ausbreitung von Wellen im dreidimensionalen Raum wird mit vier unabhängigen Variablen modelliert. Auch Wärmeleitung und Diffusion, Strömung, elektromagnetische Felder oder die Schwerkraft lassen sich in ein, zwei und drei Raumdimensionen vorstellen und führen dann auf Gleichungen mit entsprechend vielen unabhängigen Variablen.

42

1

Differentialgleichungen

Vielgestaltiger sind auch die Lösungswege. Während wir über Schemata für große Klassen gewöhnlicher Differentialgleichungen verfügen, suchen wir Gleichwertiges bei den partiellen vergeblich. Selbst die am häufigsten angewandten Strategien: das Rückführen partieller Gleichungen auf gewöhnliche und das Reduzieren höherdimensionaler Probleme auf eindimensionale werden, je nach Fall, ganz verschieden realisiert. Beispielsweise hat d’Alembert die eindimensionale Wellengleichung durch geschickte Substitution der Variablen auf zwei gewöhnliche Differentialgleichungen zurückgeführt. Doch schon die zweidimensionale Wellengleichung erfordert einen ganz anderen Weg, und die dreidimensionale einen dritten [11]. Wir bemühen uns daher gar nicht um breit anwendbare Methoden für partielle Gleichungen analog jenen, die wir in den Anhängen B.4, B.5 und B.6 für gewöhnliche gefunden haben. Stattdessen legen wir für jede der uns begegnenden einen passenden Lösungsweg dar, wie es auch im Wesentlichen der historischen Entwicklung entspricht. Sowohl bei gewöhnlichen als auch bei partiellen Differentialgleichungen stößt man auf Probleme, die keine analytische Lösung haben oder für die zumindest noch keine bekannt ist. Dann bleibt nur das numerische Lösen. Diesem widmen wir den folgenden Abschnitt.

1.12

Wie man Gleichungen numerisch löst

In den vorangegangenen Abschnitten haben wir eine Reihe von Differentialgleichungen gelöst, alle auf analytischem Weg. Das heißt, es war immer möglich, Formeln für die gesuchten Funktionen zu finden. Das heißt aber auch, dass jeder Fall eine Ausnahme war, denn die meisten Differentialgleichungen sind nicht analytisch lösbar. Wir wissen zwar von vielen Problemen, dass sie eine Lösung haben, doch daraus folgt nicht, dass man in jedem Fall eine Lösungsfunktion angeben könnte. Oft braucht man aber gar keine, weil es genügt, die richtigen Zahlen zu finden. Ein Beispiel einer solchen Situation ist die Wettervorhersage: Die Gleichungen, die die Atmosphäre beschreiben, sind so kompliziert, dass an eine analytische Lösung nicht zu denken ist. Es wäre zwar schön, eine solche zu haben, aber es geht auch ohne sie – wir wollen ja nur wissen, wie das Wetter wird, welche Werte also Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck und Windgeschwindigkeit annehmen werden, wie viel Regen oder Schnee zu erwarten ist oder ob die Sonne scheinen wird. In anderen Worten: Wir begnügen uns mit einer numerischen Lösung. Jede Anfangswertaufgabe, die eine Lösung hat, lässt sich, in nahezu beliebig guter Näherung, numerisch lösen. Ein anschauliches numerisches Verfahren ist die Differenzenmethode, die auf einer Idee von Euler beruht. Sie eignet sich sowohl für gewöhnliche als auch für partielle Gleichungen (Anhang B.8). In diesem Abschnitt illustrieren wir beide Fälle mit je einem Anwendungsbeispiel: dem vergessenen Kaffee von Abschn. 1.8 und dem Gitarrenton von Abschn. 1.11.

1.12 Wie man Gleichungen numerisch löst

43

(1) Numerik einer gewöhnlichen Differentialgleichung Als Beispiel für das numerische Lösen von Anfangswertaufgaben mit gewöhnlichen Differentialgleichungen wählen wir die Temperaturentwicklung des vergessenen Frühstückskaffees von Abschn. 1.8. Zwar haben wir hier eine analytische Lösung und bräuchten kein numerisches Verfahren; wir werden aber gerade aus dem Gegenüberstellen von analytischer und numerischer Lösung einiges lernen. Zu bestimmen ist der Zeitverlauf der Temperatur, T (t), aus der Gleichung αA αA T = [TU (0) + kt] T˙ + mc mc

(1.50)

mit der Anfangsbedingung T (0) = 45 ◦ C und den Parametern: Masse m = 150 g, spezifische Wärme c = 4,2 kJ/kg K, Oberfläche A = 160 cm2 , Wärmeübergangskoeffizient α = 20 W/m2 K, Anfangstemperatur der Umgebung TU (0) = 20 ◦ C, Erwärmungsgeschwindigkeit der Umgebung k = 3 K/h . Das sind die Daten der in Abb. 1.5 dargestellten Lösung, und mit dieser Lösung werden wir die Ergebnisse vergleichen. Wir denken uns ab nun die Temperatur in Grad Celsius und die Zeit in Stunden gemessen und lassen bei den Zwischenrechnungen die Einheiten weg. Die Gleichung lautet dann T˙ + 1,829 T = 1,829 · [20 + 3t]. Wir schreiben sie ein wenig um, fügen die Anfangsbedingung hinzu und erkennen eine Anfangswertaufgabe vom Typ (B.3): T˙ = 1,829 · [20 + 3t − T ], T (0) = 45. Sie hat gemäß (B.21) die Lösung T0 = 45, Ti+1 = Ti + 1,829 · [20 + 3it − Ti ] t,

(1.51)

wo Ti für T (it) steht. Wählt man als Zeitschritt t = 0,05 (in Stunden, also 3 Minuten), ergibt die Rekursion T0 T1 T2 T3

= 45,00, = 45,00 + 1,829 · [20 + 3 · 0 · 0,05 − 45,00] · 0,05 = 42,71, = 42,71 + 1,829 · [20 + 3 · 1 · 0,05 − 42,71] · 0,05 = 40,65, = 40,65 + 1,829 · [20 + 3 · 2 · 0,05 − 40,65] · 0,05 = 38,79

usw. Diese Werte vergleichen wir mit jenen der analytischen Lösung (1.26), die nach Einsetzen der Parameterwerte durch T (t) = 26,64 e−1,829 t + 20 + 3 (t − 0,5469) bestimmt ist (Tab. 1.2).

(1.52)

44

1

Differentialgleichungen

Tab. 1.2 Werte der analytischen (exakten) und der numerischen (genäherten) Lösung der Gleichung (1.50) mit den dort angegebenen Parametern bei einer Schrittweite von 0,05 Stunden t (h)

analytisch T (◦ C)

numerisch T (◦ C)

0,00 0,05 0,10 0,15 ···

45,00 42,82 40,85 39,06 ···

45,00 42,71 40,65 38,79 ···

Abgesehen von kleinen Ungenauigkeiten ergibt die Näherung den in Abb. 1.5 dargestellten Verlauf. Die Unterschiede zwischen den exakten und den genäherten Werten hängen von der Schrittweite t ab. Je kleiner man diese wählt, desto genauer wird die Rechnung. Im Prinzip kann man t beliebig klein wählen und damit beliebig genau rechnen. Allerdings gibt es zwei praktische Grenzen: Erstens die Genauigkeit der Zahlendarstellung und der Rechenoperationen im Computer selbst – die kann man durch die Schrittweite nicht beeinflussen; zweitens die Rechenzeit – denn mit kleiner werdendem t steigt die Zahl der notwendigen Iterationen, und bei komplexen Aufgaben kann das ins Gewicht fallen. Verfahren, die von vornherein genauer sind als die Differenzenmethode, aber auch komplizierter, finden Sie in [25]. (2) Numerik einer partiellen Differentialgleichung Das numerische Lösen einer Anfangswertaufgabe mit partieller Differentialgleichung zeigen wir am Beispiel des Gitarrentons von Abschn. 1.11. Zu bestimmen ist die Auslenkung u(x, t) der Saite aus der Gleichung u tt = c2 u x x

(1.53)

mit den Anfangsbedingungen u(x, 0) = f (x) (Anfangsauslenkung), u t (x, 0) = g(x) = 0 (Anfangsgeschwindigkeit null – die Saite ruht zu Beginn) sowie den Randbedingungen u(0, t) = u(L, t) = 0 (die Saite ist an beiden Enden eingespannt). Den Großteil der Vorarbeit haben wir in Anhang B.8 mit der Ableitung von (B.22) erledigt. Es bleiben nur noch die Schrittweiten x und t festzulegen und die Werte der Anfangsfunktionen f und g einzusetzen. Um nicht allzu viele Zahlen aufschreiben zu müssen, wählen wir ein ziemlich grobes Raster: ein Achtel der Saitenlänge für den Ort: x = L/8 und ein Sechzehntel der Periode für die Zeit: t = L/8c . Damit wird der Faktor (c t/x)2 in (B.22) gleich eins und kann entfallen. g(x) = 0 bedeutet g(xi ) = 0 für alle i, und u(0, t) = u(L, t) = 0 bedeutet u 0, j = u 8, j = 0 für alle j . Für die anderen Werte von u lautet (B.22) nun: u i,0 = f (xi ), u i,1 = f (xi ), u i, j+1 = u i+1, j − u i, j−1 + u i−1, j , wobei die Werte von f in den ersten beiden Zeilen von Tab. 1.3 stehen.

1.12 Wie man Gleichungen numerisch löst

45

Tab. 1.3 Werte der Auslenkung u i, j als numerische Lösung der Gleichung (1.53) mit den dort angegebenen Anfangs- und Randwerten und den Schrittweiten x = L/8 und t = L/8c . Die ersten beiden Zeilen enthalten die Anfangsbedingungen, die dritte Zeile das Resultat der ersten Iteration, die vierte Zeile das Resultat der zweiten usw. Ein Zahlenbeispiel (in der Tabelle hervorgehoben): u 3,2 = u 4,1 − u 3,0 + u 2,1 = 0,469 − 0,368 + 0,249 = 0,350 j j j j

=0 =1 =2 =3 ···

i =0

i =1

i =2

i =3

i =4

i =5

i =6

i =7

i =8

0,000 0,000 0,000 0,000 ···

0,125 0,125 0,124 0,119 ···

0,249 0,249 0,244 0,225 ···

0,368 0,368 0,350 0,305 ···

0,469 0,469 0,429 0,333 ···

0,530 0,530 0,452 0,278 ···

0,513 0,513 0,379 0,090 ···

0,362 0,362 0,151 0,017 ···

0,000 0,000 0,000 0,000 ···

Von Ungenauigkeiten wieder abgesehen, ergibt die Näherung die in Abb. 1.20 dargestellte Welle, und wiederum können die Ungenauigkeiten durch Verkleinern der Schrittweiten prinzipiell (in der Praxis begrenzt durch die Eigenschaften des Computers) beliebig klein gehalten werden. Auch für partielle Differentialgleichungen gibt es Verfahren, die von vornherein genauer sind, aber auch komplizierter als die dargestellte Methode [25]. Der große Unbekannte Da alles, was wir in diesem Abschnitt gelernt haben, auf einen Gedanken von Leonhard Euler zurückgeht, wollen wir auch über den Menschen sprechen. Fachleute reihen ihn unter die größten Mathematiker aller Zeiten; aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit ist er beinahe verschwunden und wäre es vermutlich ganz, gäbe es da nicht e, die eulersche Zahl. Jeder kennt, zumindest dem Namen nach, Pythagoras und Archimedes; Newton (obgleich als Physiker), Leibniz (obgleich als Philosophen), Gauß als Hersteller der gleichnamigen Glockenkurve; und den sprichwörtlichen Adam Riese, der eigentlich Ries hieß und sein e‘ nur deshalb abbekam, weil ’ man im 16. Jahrhundert „vom Riese“ sagte, wie man „vom Manne“ gesagt hätte. Euler kennt man nicht. Dabei war er zeitlebens einflussreich und produktiv wie kein Zweiter. Sein Werk umfasst beinahe neunhundert Titel, betreffend Zahlentheorie, Algebra, Analysis, Mechanik der Erde und des Himmels, Hydraulik, Optik, Musik, Schiffsbau, Lebenserwartung und die Chance, im Lotto zu gewinnen. Allein in der Mathematik gibt es (unter anderem) die eulersche Identität der komplexen Analysis, die eulerschen Drehwinkel, die eulersche Funktion der Zahlentheorie, die eulersche Gerade, eulersche Integrale und natürlich eine eulersche Differentialgleichung. Seine Schriften haben die Mathematik nicht nur inhaltlich entwickelt, sondern auch  ihr Erscheinungsbild geprägt. Er übernahm das Integralsymbol ‘ von Leibniz (das  ’ ursprünglich nur ein großes S‘ für „summa“ war), führte das Zeichen ‘ für die ’ ’ gewöhnliche Summe ein, das i‘ für die Wurzel aus −1, das π‘ für die Kreiszahl ’ ’ und die Funktionsschreibweise f (x)‘. Verewigt aber ist sein Name vor allem in ’ der eulerschen Zahl e, der man in Schule und Studium kaum entkommt, weil sie in den unmöglichsten Zusammenhängen auftaucht: So ist die Ableitung der Funktion e x selbst wieder e x , die Darstellung komplexer Zahlen durch Betrag und Winkel

46

1

Differentialgleichungen

beruht auf e, ebenso die Form einer durchhängenden Kette, der Endwert bei stetiger Verzinsung und die Normalverteilung der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die erstgenannte Eigenschaft der Zahl war es, die 1728 den Einundzwanzigjährigen auf ihre Spur brachte. Euler fand, dass Funktionen, deren Ableitungen Vielfache von ihnen sind, als Lösungen linearer Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten in Frage kommen, und dass Funktionen der Form c x ebendiese Eigenschaft besitzen. Und er fand, dass es einen speziellen Wert von c gibt, für den die Ableitung von c x selbst wieder c x ist: die heute nach ihm benannte Konstante.

2

Die Welt im Großen

Das Studium des Sternenhimmels ist so alt wie die Wissenschaft selbst. Ob die Erde im Mittelpunkt der Welt steht oder die Sonne oder ob es gar keinen Mittelpunkt gibt; ob die Welt unendlich groß ist oder, wenn nicht, wie groß sie ist; ob sie unendlich alt ist oder, wenn nicht, wie alt sie ist – diese Fragen haben Menschen durch Jahrtausende bewegt. Dass wir den Antworten heute näher sind als zu Ptolemäus’ Zeiten, liegt zum einen an Männern wie Newton und Einstein, nicht zuletzt aber auch an der Mathematik. Sehen wir nun, was sie uns über die Welt im Großen zu sagen hat.

2.1

Kepler, Newton und die Planetenbahnen

Als im Jahr 1601 der dreißigjährige Johannes Kepler seinen Dienst als Hofmathematiker Rudolfs II. in Prag antrat, war der Streit der Weltbilder in vollem Gang: Die Kirche stellte die Erde in den Mittelpunkt und verwarf die Lehre des Kopernikus, die die Sonne im Zentrum sah. Kopernikus’ Buch, erschienen 1543, war auf dem Index der verbotenen Schriften gelandet, wo es dreihundert Jahre lang blieb. Von seinem Amtsvorgänger Tycho Brahe hatte Kepler einen Schatz geerbt: die umfangreichste Sammlung von Planetenpositionen, über die je ein Astronom verfügt hatte. Mit diesen Daten nahm Kepler das Problem der Planetenbahnen in Angriff. Bald kam er zu dem Schluss, dass es nicht, wie Kopernikus gedacht hatte, Kreise um die Sonne sind – was aber sind sie dann? Eine Planetenbahn berechnen war ein langwieriges Unterfangen, da man von Hand rechnen musste und grundlegende mathematische Methoden wie analytische Geometrie oder Differential- und Integralrechnung in ferner Zukunft lagen. Nicht einmal Logarithmentabellen gab es, und Gleichungen ab dem vierten Grad konnte man nur durch Probieren lösen. Die Physik bezog ihre Vorstellungen von Kräften und von Ursache und Wirkung aus der aristotelischen Mechanik oder den mittelalterlichen Studien zum Magnetismus und war eher Mythologie. Beschleunigung, Impuls, Drehimpuls und Energie waren unbekannt, ganz zu schweigen vom Gravita-

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Tschirk, Der Laplacesche Dämon, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61647-5_2

47

48

2

Die Welt im Großen

tionsgesetz, das sich noch ein Dreivierteljahrhundert versteckt halten sollte. Kepler rechnete zehn Jahre lang, dann gab er seine Resultate bekannt: Die Planeten laufen auf Ellipsen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. Das ist das erste keplersche Gesetz. Jeder Planet wird schneller, wenn er der Sonne näherkommt, und zwar so viel, dass die gerade Verbindungslinie zwischen ihm und der Sonne in gleichen Zeiträumen gleiche Flächen überstreicht. Das ist Keplers zweites Gesetz. Später fand er noch ein drittes: Die Quadrate der Umlaufzeiten der Planeten sind proportional den dritten Potenzen ihrer mittleren Entfernungen von der Sonne. Warum die Planeten sich gerade so verhalten, darüber konnte Kepler nur spekulieren. Er war der Ansicht, sie würden von magnetischen Kräften bewegt, die entlang der Bahntangente wirken. Der Erste, der eine Anziehung zwischen Körpern entlang ihrer Verbindungslinie annahm, war 1677 Robert Hooke. Newton griff den Gedanken auf und gründete auf ihn sein Gravitationsgesetz: Zwei Körper mit den Massen M und m im Abstand r voneinander ziehen einander mit einer Kraft F=G

Mm r2

(2.1)

an, wobei G eine Konstante ist; das heißt, auf jeden der Körper wirkt eine Kraft dieses Betrags in Richtung des anderen. Sind die Massen beider Körper kugelsymmetrisch verteilt, kann man von ihrer Ausdehnung absehen und so rechnen, als wären sie in den Schwerpunkten konzentriert. Als Edmond Halley die Frage aufwarf, was wohl die Bahn eines Körpers wäre, der einen festen Punkt umläuft und von diesem angezogen wird, wobei die Kraft mit dem Quadrat des Abstands sinkt, wusste Newton die Antwort: eine Ellipse. Und in der Tat passen seine Formeln nicht nur zu den keplerschen Ellipsen, also zu dessen erstem Gesetz, sondern auch zum zweiten und zum dritten. Das zeigen wir nun auf der Grundlage von Newtons Axiomen und seinem Gravitationsgesetz. Moderne Lehrbücher verwenden zum Berechnen der Planetenbahnen die Erhaltung der Energie und des Drehimpulses. Wir verzichten darauf, weil diese Begriffe zu Newtons Zeit noch nicht existierten und wir einen Eindruck gewinnen wollen, wie man ohne solch fortgeschrittene Konzepte zu einer Lösung kommt. Lediglich Newtons unvergleichliches Gespür für mathematische und physikalische Zusammenhänge ersetzen wir durch unsere Kenntnis der Differentialrechnung. Wir beginnen mit einer Vereinfachung, indem wir annehmen, die Sonne stehe still und der Planet bewege sich. Die Massenverhältnisse lassen das zu: Die Kraft der Sonne auf den Planeten ist dem Betrag nach gleich der Kraft des Planeten auf die Sonne, und mit dem zweiten newtonschen Axiom (F = ma) folgt, dass die Beschleunigungen der beiden Körper im umgekehrten Verhältnis ihrer Massen stehen. Die Sonne ist 300 000-mal so schwer wie die Erde und 1000-mal so schwer wie der schwerste Planet, der Jupiter. Entsprechend klein sind die Beschleunigungen, die sie von den Planeten erfährt, und damit steht sie, verglichen mit diesen, beinahe still. Weiters sehen wir, dass jeder Planet in einer Ebene läuft, die festgelegt wird durch seine Position und die der Sonne sowie seinen Geschwindigkeitsvektor zu einem beliebigen Zeitpunkt. Denn die Kraft auf den Planeten weist von diesem zur Sonne, damit auch seine Beschleunigung; und eine Ebene, in der Geschwindigkeit

2.1 Kepler, Newton und die Planetenbahnen

49

und Geschwindigkeitsänderung liegen, kann der Planet nicht verlassen. Seine Bahn ist daher in zwei Dimensionen beschreibbar (Abb. 2.1).

Abb.2.1 Elliptische Planetenbahn. M : Mittelpunkt, S : Position der Sonne (im linken Brennpunkt, zugleich Koordinatenursprung); P : Position des Planeten. Punktiert: Konstruktion von P mit dem Umkreis der Ellipse, dessen Radius der großen Halbachse entspricht

Der Vektor der Kraft auf den Planeten ist nach (2.1) durch F = −G

Mm r r2 r

 gegeben, wobei r der Betrag des Vektors von S nach P ist, also r = x 2 + y 2 , und daher −r/r der Einheitsvektor von P nach S. Daraus folgt mit F = ma = m r¨ : m r¨ = − G Mm

r r3

oder, durch m gekürzt und in Koordinaten geschrieben, x¨ = − G M y¨ = − G M

x (x 2

+ y

3 y2) 2 3

(x 2 + y 2 ) 2

,

(2.2a)

.

(2.2b)

(2.2) ist ein System aus zwei nichtlinearen Differentialgleichungen 2. Ordnung für die gesuchten Funktionen x(t) und y(t). Unter seinen Lösungen finden sich, je nach

50

2

Die Welt im Großen

Anfangswerten, Kreis, Ellipse, Parabel und Hyperbel. Fliegt der Planet direkt auf die Sonne zu, ist die Lösung eine Gerade und die Sonne um einen Planeten ärmer. Wir lösen es für den Fall der Ellipse mit der Sonne in einem Brennpunkt, indem wir zeigen, dass eine solche Bahn (und damit das erste keplersche Gesetz) mit den Axiomen und dem Gravitationsgesetz vereinbar ist und dass aus ihr Keplers zweites und drittes Gesetz folgen. Seien a die große und b die kleine Halbachse der Ellipse. Dann ist (Abb. 2.1) x = a cos ϕ + e, y = b sin ϕ.

(2.3a) (2.3b)

Die zweiten Ableitungen dieser Koordinaten nach der Zeit, also die Beschleunigungen in x- und y-Richtung, sind   x¨ = − a ϕ˙ 2 cos ϕ + ϕ¨ sin ϕ ,   y¨ = − b ϕ˙ 2 sin ϕ − ϕ¨ cos ϕ . In einer Ellipse ist b2 = a 2 − e2 , und damit folgt x 2 + y 2 = a 2 cos2 ϕ + 2ae cos ϕ + e2 + b2 sin2 ϕ = (a + e cos ϕ)2 . Das alles setzen wir in (2.2) ein und erhalten   − a ϕ˙ 2 cos ϕ + ϕ¨ sin ϕ = − G M

a cos ϕ + e , (a + e cos ϕ)3   b sin ϕ − b ϕ˙ 2 sin ϕ − ϕ¨ cos ϕ = − G M . (a + e cos ϕ)3

Wir drücken aus beiden Gleichungen ϕ¨ aus und setzen die Ausdrücke gleich: G M a cos ϕ + e b sin ϕ GM − ϕ˙ 2 cos ϕ − ϕ˙ 2 sin ϕ a (a + e cos ϕ)3 b (a + e cos ϕ)3 ϕ¨ = =− . sin ϕ cos ϕ Multiplizieren des rechten Gleichungsteils mit sin ϕ cos ϕ führt auf a sin2 ϕ G M a cos2 ϕ + e cos ϕ GM 2 2 − ϕ ˙ cos ϕ = − + ϕ˙ 2 sin2 ϕ a (a + e cos ϕ)3 a (a + e cos ϕ)3 (wobei der rechts verbleibende Bruch mit a/b erweitert wurde). Aus dieser Beziehung drücken wir ϕ˙ 2 aus, GM ϕ˙ = a 2



a cos2 ϕ + e cos ϕ a sin2 ϕ + (a + e cos ϕ)3 (a + e cos ϕ)3

 =

1 GM , a (a + e cos ϕ)2

2.1 Kepler, Newton und die Planetenbahnen

51

und erhalten eine Differentialgleichung 1. Ordnung für ϕ(t):  ϕ˙ (a + e cos ϕ) = ±

GM . a

(2.4)

Das Vorzeichen auf der rechten Seite bestimmt den Umlaufsinn. Da es nicht darauf ankommt, wählen wir der Einfachheit halber die positive Form. Keplers Ellipse ist mit Newtons Gesetzen vereinbar, wenn (2.4) eine Lösung hat. Eine solche lässt sich leicht ermitteln: Wir trennen die Variablen,  GM dt, (a + e cos ϕ) dϕ = a integrieren zu beiden Seiten und erhalten  t(ϕ) = t(0) +

a (aϕ + e sin ϕ). GM

(2.5)

Damit ist das erste keplersche Gesetz belegt in dem Sinn, dass unter Newtons Axiomen und dessen Gravitationsgesetz Ellipsen mögliche Planetenbahnen sind. Dass auch Kreise, Parabeln, Hyperbeln und Gerade möglich sind, kann man auf analoge Weise nachrechnen. Aus (2.5) ergibt sich Keplers drittes Gesetz; denn die Umlaufzeit T eines Planeten ist jene Zeit, in der er den Winkel 2π durchläuft: T = t(2π ) − t(0), woraus mit (2.5) 3 2π a2, T =√ GM

(2.6)

T 2 ∝ a3

(2.7)

also folgt. Keplers drittes Gesetz im üblichen Wortlaut, die Quadrate der Umlaufzeiten seien proportional den dritten Potenzen der mittleren Entfernungen von der Sonne, ist nun exakt gefasst: Unter der mittleren Entfernung verstehen wir die große Halbachse. Wie in Abb. 2.1 ersichtlich, ist sie der Mittelwert zwischen der kleinsten und der größten Entfernung des Planeten von der Sonne, denn die Summe der beiden Entfernungen ist gerade die große Achse. In (2.6) steckt aber mehr als die bloße Proportionalität. Wir können beispielsweise die Masse der Sonne bestimmen, wenn wir einsetzen: die Gravitationskonstante G = 6,67408·10−11 m3 /kg s2 , die große Halbachse der Erdbahn a = 1,4960·1011 m und die Länge des Erdumlaufs um die Sonne, also des Sternenjahrs T = 365,26 Tage: M=

4π 2 a 3 = 1,9885 · 1030 kg. GT 2

52

2

Die Welt im Großen

Alle vier Werte stimmen bis zur letzten dargestellten Stelle mit den heute angenommenen überein. Nun fehlt nur noch das zweite keplersche Gesetz, demzufolge die gerade Verbindungslinie zwischen dem Planeten und der Sonne in gleichen Zeiträumen gleiche Flächen überstreicht. In der Zeit dt überstreicht die Linie die Fläche (Abb. 2.2) dA =

1 1 · r · r dψ = r 2 ψ˙ dt. 2 2

(2.8)

Abb. 2.2 Vom Planeten in der Zeit dt überstrichene Fläche d A (schraffiert)

Nach Abb. 2.1 ist y ψ = arctan . x Daraus folgt mit (2.3) und (2.4) 1 d y x2 y˙ x − y x˙ 2 = y˙ x − y x˙ = r  y 2 2 2 dt x x +y x2 1+ x = b ϕ˙ cos ϕ (a cos ϕ + e) − b sin ϕ ϕ˙ (−a sin ϕ)  GM . = b ϕ˙ (a + e cos ϕ) = b a

r 2 ψ˙ = r 2

Das setzen wir in (2.8) ein und erhalten den keplerschen Flächensatz,  dA b GM = = const, dt 2 a

(2.9)

in Form einer Differentialgleichung 1. Ordnung für A(t). Auch aus diesem Gesetz könnte man die Masse der Sonne bestimmen. Denn trennt man die Variablen und integriert über einen Umlauf, muss sich die Fläche der Bahnellipse ergeben:

T A= 0

b 2



GM b dt = a 2



GM T = abπ ; a

und die letzte Gleichung liefert für M genau das vorhin erzielte Resultat.

2.2 Gravitation einer kugelsymmetrischen Masseverteilung

2.2

53

Gravitation einer kugelsymmetrischen Masseverteilung

In den folgenden Abschnitten werden wir es oft mit der Gravitation zu tun haben, die eine Materieverteilung kugelsymmetrischer Dichte auf eine Masse m ausübt, die sich im Abstand r vom Zentrum der Verteilung befindet. Deshalb berechnen wir diese nun ein für alle Mal. Zunächst betrachten wir nicht die gesamte Verteilung, sondern eine Kugelschale mit Radius R und Dicke d R, deren Mittelpunkt im Zentrum der Verteilung liegt. Die kugelsymmetrische Dichte (R) ist in der Schale konstant. Wir wählen ein Koordinatensystem mit Ursprung im Zentrum der Verteilung und so orientiert, dass m, gedacht als Massepunkt, auf der z-Achse liegt. Dabei kann m innerhalb oder außerhalb der Schale liegen; diese Lagen entsprechen den Bedingungen r < R bzw. r > R (der nur mit Wahrscheinlichkeit null realisierte Fall r = R spielt keine Rolle). Abb. 2.3 zeigt eine Situation, wo m außerhalb der Schale liegt.

Abb. 2.3 Kugelschale mit Radius R um das Zentrum der Materieverteilung. Das Volumenelement d V der Schale (im Punkt P) zieht die Masse m (im Punkt Q) mit der Kraft dF an

In den Kugelkoordinaten R, θ, ϕ von Abb. 2.3 ist das Volumenelement der Schale gegeben durch d V = R 2 cos θ d R dϕ dθ. Die Anziehungskraft der Schale auf m erhalten wir, indem wir die von d V ausgeübte Kraft ⎛ ⎞ −→ R cos θ cos ϕ (R) d V m Q P −→ ⎝ → mit Q P = R cos θ sin ϕ ⎠ dF(R, θ, ϕ) = G −→ 2 − Q P R sin θ − r Q P

54

2

Die Welt im Großen

über die Schale integrieren. Das Ergebnis ist selbst wieder ein (nur mehr von R abhängiges) Differential. Wegen der Symmetrie der Anordnung sind seine x- und y-Komponente null. Für die z-Komponente gilt

π/2 2π

(R) R 2 cos θ d R m (R sin θ − r ) dϕ dθ ⎛ ⎞ R cos θ cos ϕ 3 −π/2 0 ⎝ R cos θ sin ϕ ⎠ R sin θ − r 

π/2 2π r cos θ sin θ − R = G (R) d R m ⎛ ⎞ dϕ dθ. cos θ cos ϕ 3 −π/2 0 ⎝ cos θ sin ϕ ⎠ sin θ − r /R

d Fz (R) =

G

Der Nenner des Integranden ist 

 r 2  23 r cos θ cos ϕ + cos θ sin ϕ + sin θ − 2 sin θ + R R   r 2  23 r = 1 − 2 sin θ + . R R 2

2

2

2

2

Der Integrand hängt somit nicht von ϕ ab und es ergibt sich

π/2

 ⎛ 2π ⎞ r

cos θ sin θ − R ⎝ dϕ ⎠ dθ d Fz (R) = G (R) d R m   r 2  23 r 0 −π/2 1 − 2 sin θ + R R 

π/2 r cos θ sin θ − R = 2π G (R) d R m dθ.  3  r r 2 2 −π/2 1 − 2 sin θ + R R Im verbleibenden Integral substituieren wir u =1−2

 r 2 r ; sin θ + R R

2.2 Gravitation einer kugelsymmetrischen Masseverteilung

55

damit wird das Integral zu  1−

R2 − 2 4r

r 2

R  1−

 1+

r R

2

 r 2  R

3 u− 2

1 − u− 2



R2 du = 2 r2



 2  1− r  r 2  1 √ 1− √ + u  R r 2 . R u 1+ R

Ab hier müssen wir unterscheiden, ob m innerhalb oder außerhalb der Schale liegt. Im ersten Fall (r < R) ergibt sich für das Integral ⎤ ⎛ ⎞ ⎡     r 2  r ⎥ 1 ⎟ r ⎜ 1 ⎢ − 1+ − ⎦ = 0. ⎝ ⎠+ 1− ⎣ 1− r r 2 2r R R R 1− 1+ R R R2

Liegt also die Masse innerhalb der Schale, erfährt sie von dieser keine Kraft. Im zweiten Fall (r > R) ergibt sich ⎤ ⎛ ⎞ ⎡     r 2  r ⎥ 2 R2 1 1 ⎟ r ⎜ ⎢ − 1 + = − − − − 1 − 1 − , ⎦ ⎝ ⎠ ⎣ r r 2 r2 R R R r2 1− 1+ R R R2

wodurch d Fz (R) = − G

4π R 2 d R (R) m r2

wird. Dabei ist 4π R 2 d R (R) nichts anderes als die Masse der Kugelschale. Betrag und Richtung der auf m wirkenden Kraft sind also genau so, als wäre die Masse der Schale im Mittelpunkt konzentriert. Damit haben wir die Gravitation der Kugelschale vollständig bestimmt. Nun müssen wir nur noch überlegen, dass die Gravitation der gesamten Materieverteilung die Summe der Beiträge aller Schalen ist:

R M Fz =

d Fz (R), 0

worin R M der Radius der Verteilung ist. Das führt zu folgendem Schluss: Materie, die vom Zentrum weiter entfernt ist als m, wirkt nicht auf m; Materie, die dem Zentrum näher ist als m, wirkt so, als wäre sie im Zentrum konzentriert. Auf dieses bemerkenswerte Resultat ist schon Newton gekommen – und wer sich klar macht, wie viel von der Mathematik, die wir soeben verwendet haben, ihm noch nicht verfügbar war, muss sich fragen, wie der Löwe (um mit Johann Bernoulli zu sprechen) das wieder angestellt hat.

56

2.3

2

Die Welt im Großen

Zur Thermodynamik der Planeten

Die sonnennahen Planeten: Merkur, Venus, Erde und Mars sind Festkörper mit zum Teil flüssigem Kern. Die sonnenfernen: Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun bestehen aus Gas und haben Kerne aus Gestein und Metall. Wir entwerfen nun ein Modell für die Verteilungen von Druck und Dichte und (im Fall der Gasplaneten) Temperatur im Inneren. Wir setzen voraus, dass ein Planet isotrop ist, speziell also Druck, Dichte und Temperatur nur vom Abstand zum Mittelpunkt abhängen und nicht von der Richtung. Wenn ein Planet seine stabile Größe erreicht hat, halten die kontrahierenden und expandierenden Kräfte einander die Waage. Denken wir uns eine Kugel vom Radius r um den Planetenmittelpunkt und an deren Oberfläche eine kleines Volumen mit Fläche A und Dicke dr . Dann gilt die Gleichgewichtbedingung d F + Ap(r + dr ) = Ap(r ), wobei d F für die Gravitationskraft auf das betrachtete Volumen steht und p für den Druck (Abb. 2.4). Ist (r ) die Dichte des Planeten im Abstand r vom Mittelpunkt, so hat das Volumen die Masse (r ) A dr . Maßgeblich für die Kraft, mit der es zum Mittelpunkt gezogen wird, ist, wie im vorigen Abschnitt gezeigt, nur die innerhalb des Radius r befindliche Masse m(r ), die man sich in M konzentriert denken kann; die Wirkungen der Massen außerhalb r heben einander auf. Also wirkt auf das Volumen die Gravitationskraft dF = G

m(r ) (r ) A dr . r2

Abb.2.4 Gleichgewicht im Planeten. Die Kräfte auf das Volumen an der Oberfläche einer gedachten Kugel mit Radius r um den Planetenmittelpunkt M heben einander auf. p(r ), p(r + dr ): Druck im Abstand r bzw. r + dr vom Mittelpunkt, d F: Gravitationskraft

Aus dem Obigen folgt für die Differenz dp zwischen dem Druck an der Außenseite des betrachteten Volumens und dem an seiner seiner Innenseite: dp = p(r + dr ) − p(r ) = −

dF m(r ) (r ) dr , = −G A r2

2.3 Zur Thermodynamik der Planeten

57

woraus sich für p(r ) die Gleichung dp m(r ) (r ) = −G dr r2

(2.10)

ergibt. Sie gilt für jeden isotropen Himmelskörper, ob Stern, Planet oder Mond. Beim Lösen für die Planeten unseres Sonnensystems unterscheiden wir zwei Fälle: (1) die Gestein- und (2) die Gasplaneten. (1) Die Gesteinplaneten: Merkus, Venus, Erde und Mars Merkus, Venus, Erde und Mars bestehen aus Material, das, sei es fest oder flüssig, in guter Näherung inkompressibel ist. Nehmen wir es noch dazu als homogen an, vereinfacht sich das Problem erheblich; denn nun ist die Dichte konstant, (r ) =  = const, und die Masse der gedachten Kugel vom Radius r um den Mittelpunkt durch m(r ) =

4πr 3  3

gegeben. Damit wird (2.10) zu dp 4π G2 r =− . dr 3

(2.11)

Trennen der Variablen und Integrieren gibt p(r ) = −

2π G2 r 2 + C. 3

Aus der Bedingung, dass der Druck an der Planetenoberfläche (verglichen mit den Drücken im Inneren so gut wie) null ist: p(R) = 0, folgt C = 2π G2 R 2 /3 und damit die Lösung  2π G2  2 (2.12) R − r2 . 3 Die Dichte haben wir als konstant vorausgesetzt; der Druck ist am höchsten im Mittelpunkt (r = 0). Für die Erde mit einer Masse von 5,9723 · 1024 kg und einem mittleren Radius von 6371 km ergibt sich p(r ) =

 = 5514 kg/m3 , p(0) = 1,725 · 106 bar. Der Druck ist im Erdinneren rund zwei Millionen Mal so hoch wie in der Atmosphäre. Unter solchen Umständen ist selbst Gestein kompressibel, so dass die Annahme

58

2

Die Welt im Großen

konstanter Dichte nur eine grobe Näherung darstellt. Doch immerhin entsprechen die Werte unseres einfachen Modells den heute geschätzten bis auf einen Faktor 2 bis 3, geben also die richtige Größenordnung wieder. (2) Die Gasplaneten: Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun Für Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun denken wir uns einen festen, inkompressiblen Kern, umgeben von Gas. Der Kern lässt sich analog zu den Gesteinplaneten berechnen, nur dass der Druck an seiner Oberfläche nicht null ist; er habe den Radius RC und die Masse m C . Interessant (und schwierig) wird es beim Gas. Eine Gasschicht mit Kugelradius u, Dicke du und Dichte  hat die Masse 4π u 2  du, und so umschließt eine Kugel vom Radius r ≥ RC , die also den Planetenkern enthält, die Masse

r m(r ) = m C +

4π u 2 (u) du.

RC

Weil Gase Wärme schlecht leiten, nehmen wir näherungsweise an, dass sich der Planet ohne Wärmetransport, also adiabatisch, verdichtet. Dann hängen Druck, Volumen und Temperatur (eines idealen Gases) über die Adiabatengleichungen pV κ = const, p 1−κ T κ = const (mit dem stoffabhängigen Adiabatenkoeffizienten κ) zusammen. Da die Dichte proportional zum Kehrwert des Volumens ist, folgt aus der ersten Gleichung p/κ = const. Daraus ergibt sich, wenn p0 und 0 Druck und Dichte an einer Stelle sind, 0

(u) =

1 p0κ

1

p κ (u).

Damit ist m(r ) = m C +

4π 0

r

1 p0κ RC

1

u 2 p κ (u) du.

Das in (2.10) eingesetzt, ergibt ⎛ 4π 0 ⎜ ⎝m C + 1 dp = −G dr

p0κ

r

⎞ 1 ⎟ 0 1 u 2 p κ (u) du ⎠ 1 p κ

RC

r2

p0κ

2.3 Zur Thermodynamik der Planeten

59

oder r 2 p 1

=−

Gm C 0



1

4π G02



r

2

p0κ

p0κ

1

u 2 p κ (u) du.

RC

Wir leiten beiderseits nach r ab, 

 1 1 1 2r p  + r 2 p  p κ − r 2 p  p κ −1 p  4π G02 2 1 κ = − r pκ , 2 2 κ κ p p 0

und erhalten durch Umordnen für p(r ) die Gleichung p  2



+

2 p 2

rpκ



p 2 2

κ p κ +1

=−

4π G02 2 p0κ

.

(2.13)

Sie ist von 2. Ordnung, nichtlinear mit variablen Koeffizienten und lässt sich mit unseren Methoden nicht allgemein lösen. Wir können aber Lösungen der Form p(r ) = β r −α finden. Dazu leiten wir den Ansatz ab: p  = −βαr −α−1 und p  = βα(α+1)r −α−2 , setzen das ein und erhalten   2α 2 4π G02 α2 1− κ r κ −α−2 = − α(α + 1) − 2α − β . 2 κ p0κ Die rechte Seite hängt nicht von r ab, daher auch nicht die linke; also ist 2α/κ − α − 2 = 0 und damit 2κ . α= 2−κ (2.13) besitzt somit Lösungen der Form p∝r

2κ − 2−κ

.

(2.14)

Aus den Adiabatengleichungen und (2.14) folgen für Dichte und Temperatur: ∝r T ∝

2 − 2−κ

,

2κ−2 − r 2−κ .

(2.15) (2.16)

60

2

Die Welt im Großen

Diese Ergebnisse erlauben die Bestimmung von Druck, Dichte und Temperatur an einem beliebigen Ort im Gas, sofern man die Werte der Größen an irgendeinem anderen Ort im Gas kennt. Nehmen wir als Beispiel den Jupiter [35]: Sein Nullniveau (der Abstand vom Mittelpunkt, bei dem der Druck 1 bar beträgt), liegt bei 70 000 km. Dort herrschen eine Dichte von 0,16 kg/m3 und eine Temperatur von −108 ◦ C. Die Gashülle des Jupiter besteht zu 90 % aus Wasserstoff mit einem κ von 1,3 (bei 2000 ◦ C) bis 1,5 (bei −100 ◦ C) und zu 10 % aus Helium mit κ = 1, 67. Mit einem mittleren κ von 1,5 ergeben sich aus diesen Daten für Druck, Dichte und Temperatur an der Grenze zum Kern ( r = RC = 5000 km) die Werte p = 7,5 · 106 bar,  = 6100 kg/m3 , T = 32 000 ◦ C. Sie liegen in den heute angenommenen Größenordnungen. Sie sagen aber auch, dass die Annahme eines idealen Gases im Inneren des Planeten falsch ist, da unter solchen Drücken und Dichten kein Gas mehr existiert. Für die äußeren Schichten trifft sie eher zu, und dort liefert unser Modell eine atemberaubende Aussage: Druck und Dichte sind nicht, wie bei einem Gesteinplaneten, jenseits der Oberfläche null; ein Gasplanet hat keine Oberfläche, sondern erstreckt sich unbegrenzt in den Raum hinaus. Was sich ihm nähert, erreicht ihn nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern taucht allmählich in ihn ein. Und wenn Sie hier auf der Erde zugreifen, halten Sie auch Jupitermoleküle in der Hand.

2.4

Die Fluchtgeschwindigkeit

Die Erde umläuft die Sonne, weil sie zu langsam ist, um deren Schwerefeld zu entkommen. Wäre sie schnell genug, dann wäre ihre Bahn nicht eine Ellipse und damit geschlossen, sondern eine Parabel oder eine Hyperbel, und wir würden uns unaufhaltsam von der Sonne entfernen. Das Gleiche gilt für den Mond in Bezug auf die Erde; auch er würde, wäre er schnell genug, entfliehen. Das bringt uns zu der Frage, wie schnell ein Körper sein muss, um das Schwerefeld eines anderen zu verlassen. (Genauer müssten wir sagen: wie schnell zwei Körper relativ zueinander sein müssen, um ihre gegenseitige Anziehung zu überwinden; wir bleiben aber bei der Sprechweise, die den großen Körper als ruhend und anziehend beschreibt und den kleinen als bewegt und angezogen.) Eine Rakete entferne sich von einem Himmelskörper, wie in Abb. 2.5 gezeigt. Sofern sie ohne Antrieb und ohne Reibung fliegt, wirkt auf sie nur die Anziehung F = −G

m mR , r2

2.4 Die Fluchtgeschwindigkeit

61

r˙ r

Rakete

Abb. 2.5 Eine Rakete entfernt sich mit der Geschwindigkeit r˙ in radialer Richtung von einem Himmelskörper

wo m und m R die Massen von Himmelskörper und Rakete sind. Das Vorzeichen zeigt an, dass die Kraft gegen die Bewegung der Rakete weist. Die Rakete erfährt die Beschleunigung r¨ =

m F = −G 2. mR r

Daraus wollen wir nun eine Gleichung für die Geschwindigkeit der Rakete erhalten. Wir multiplizieren beiderseits mit 2˙r : 2˙r r¨ = −

2Gm r˙ . r2

Die linke Seite ist nun die zeitliche Ableitung von r˙ 2 , die rechte von 2Gm/r : d 2 d 2Gm r˙ = . dt dt r Daraus folgt durch Integrieren und Berücksichtigen von r˙ > 0  r˙ =

2Gm +C r

mit einer noch unbestimmten Konstanten C. Ist C < 0, gibt es eine Entfernung r , wo r˙ = 0 √ ist; dort kehrt die Rakete um. Ist C > 0, nähert sich r˙ dem positiven Grenzwert C. Wir interessieren uns für den Grenzfall, wo r˙ immer positiv ist, aber den Grenzwert null hat: wo die Rakete gerade schnell genug√ist, nicht umkehren zu müssen. Aus lim r˙ = 0 folgt C = 0 und damit r˙ = 2Gm/r . Setzt man r →∞ r gleich dem Radius R des Himmelskörpers, ergibt sich jene Geschwindigkeit, die ein antriebs- und reibungsfreier Körper, der sich radial entfernt, an der Oberfläche braucht, um das Schwerefeld verlassen zu können: die Fluchtgeschwindigkeit  vF =

2Gm . R

(2.17)

Da wir r˙ parallel zu r gewählt haben, konnten wir skalar rechnen. Eine vektorielle (und entsprechend kompliziertere) Rechnung würde für einen Körper, der sich

62

2

Die Welt im Großen

in anderer als radialer Richtung entfernt, dasselbe Ergebnis liefern. Die Fluchtgeschwindigkeit ist also von der Bewegungsrichtung unabhängig. Sie hängt auch sonst nicht vom entfliehenden Körper (der Rakete in unserem Beispiel) ab, sondern nur vom anziehenden Himmelskörper, und ist umso höher, je schwerer und je kleiner dieser ist. Für die Erde beträgt sie 11,2 km/s. Den Mond könnte man mit 2,4 km/s hinter sich lassen, die Sonne erst mit 618 km/s.

2.5

Schwarze Löcher

Wie Einstein gezeigt hat, unterliegt auch Licht der Gravitation. Sehen wir nun, unter welchen Umständen die Fluchtgeschwindigkeit eines Körpers so hoch ist, dass nichts, nicht einmal das Licht, von seiner Oberfläche entkommen könnte. Die Grenze zu dieser Situation ist offenbar dann erreicht, wenn die Fluchgeschwindigkeit v F gleich der Lichtgeschwindigkeit c, also mit (2.17)  c=

2Gm R

ist. Der Radius, bei dem das zutrifft, R=

2Gm , c2

(2.18)

heißt Schwarzschild-Radius. Er ist benannt nach Karl Schwarzschild, der ihn 1916 aus der allgemeinen Relativitätstheorie abgeleitet hat. Für die Erde beträgt er 9 mm, für die Sonne 3 km. Wäre die Masse eines Körpers innerhalb des SchwarzschildRadius vereinigt, könnte kein von ihm ausgesandter Lichtstrahl seinem Schwerefeld entkommen; darum nennt man ein solches Objekt schwarzes Loch. Man stellt sich ein schwarzes Loch oft als riesige, auf engem Raum gepackte Masse vor. Tatsächlich kann ein schwarzes Loch entstehen, wenn ein Stern, nachdem sein Brennstoff verbraucht ist und kein Druck ihn mehr im Gleichgewicht hält, unter seiner eigenen Gravitation zusammenstürzt zu einem Objekt unvorstellbar hoher Dichte. Das andere Extrem, ein Objekt unvorstellbar niedriger Dichte, ist das Universum selbst: Wären Sterne klein wie Sandkörner, träfe man nur alle paar hundert Kilometer einen an – dazwischen ist Leere. Umso überraschender wird daher die folgende Berechnung sein. Denken wir uns einen (der Einfachheit halber homogenen und kugelförmigen) Körper der Dichte , für den (2.18) gilt. Seine Masse ist 4π R 3 /3. Setzen wir das in (2.18) ein und rechnen  aus, ergibt sich ein kritischer Wert von c =

3c2 . 8π G R 2

(2.19)

Sobald die Dichte eines Körpers über diesem Wert liegt, ist er ein schwarzes Loch. Wie wir sehen, hängt die kritische Dichte vom Radius des Körpers ab: Je größer ein

2.6 Beobachtungen in den Tiefen des Raums

63

Körper ist, umso kleiner ist seine kritische Dichte. Ein Körper von der Größe der Erde müsste eine Dichte von 4 · 1012 kg/m3 haben und damit eine Milliarde mal so dicht sein, wie es die Erde tatsächlich ist. Einem Körper von Sonnengröße würde ein Zehntausendstel davon reichen. Und ein Objekt von der (zurzeit vermuteten) Größe des Universums wäre bereits mit einer Dichte von 8,7 · 10−27 kg/m3 ein schwarzes Loch – das ist gerade jene Dichte, die das Universum nach heutigem Wissen hat. Sie und ich könnten also in einem schwarzes Loch leben.

2.6

Beobachtungen in den Tiefen des Raums

Mit unseren letzten Betrachtungen sind wir mitten in der Kosmologie gelandet, der Wissenschaft vom Universum als Ganzem. Sie wird uns für den Rest des Kapitels beschäftigen. Die Theorie dazu haben vor allem Newton und, ein Vierteljahrtausend später, Einstein geliefert. Ehe wir uns ihr zuwenden, werfen wir einen Blick auf zwei Beobachtungen, mit deren Hilfe wir später aus den Möglichkeiten, die die Mathematik offenhält, jene wählen, die sich die Natur ausgedacht hat. Lange hielt man das Universum für unendlich groß, unendlich alt und überall gleich dicht mit Sternen besetzt. Heinrich Wilhelm Olbers überlegte um 1820, wie ein solches Weltall für uns aussehen müsste. Dazu dachte er sich, mit der Erde als Zentrum, eine Folge von Kugelschalen gleicher Dicke, eine die andere umhüllend, immer weiter in den Raum hinaus. Vergleicht man zwei Schalen, deren größere den doppelten Radius der kleineren hat, entdeckt man Überraschendes: Die größere besitzt das vierfache Volumen der kleineren, sollte daher im Mittel viermal so viele Sterne enthalten und viermal so viel Licht aussenden. Da sie doppelt so weit entfernt ist, wird ihr Licht viermal so stark geschwächt; so fällt aus der größeren Schale gleich viel Energie auf die Erde wie aus der kleineren. Dieser Zusammenhang gilt allgemein: Aus jeder Schale sollte uns im Mittel gleich viel Licht erreichen. In einem unendlich großen Universum gäbe es unendlich viele Schalen; unendlich viel Energie würde zur Erde gelangen – sie wäre unendlich heiß. Dieser Sachverhalt ist als Olbers’ Paradoxon bekannt. Hier muss etwas falsch sein. Entweder ist das Universum nicht unendlich groß – dann gibt es nur endlich viele Kugelschalen; oder nicht unendlich alt – dann hat uns das Licht der fernen Sterne noch nicht erreicht; oder nicht gleichmäßig mit Sternen besetzt, sondern weit draußen ziemlich leer. Eine weitere Beobachtung steuerte Edwin Hubble 1929 bei. Er fand, dass die Galaxien sich von der Erde entfernen, und zwar umso schneller, je weiter sie schon entfernt sind. Seine Daten ließen vermuten, dass die Geschwindigkeit proportional zur Entfernung ist: r˙ = H0 r . Der Proportionalitätsfaktor H0 heißt heute HubbleKonstante. Nimmt man nicht an, dass die Erde eine Sonderstellung hat, muss man schließen, dass sich, im großen Maßstab gesehen, alles von allem entfernt, mit anderen Worten: dass das Universum expandiert. Hubbles Befund kam unerwartet; man hatte sich das Universum immer als statisch vorgestellt, und noch 1917 hatte Einstein seine Feldgleichungen um einen Term erweitert, der statische Lösungen zulässt. Wir wollen nun der Frage nachgehen, ob ein räumlich oder zeitlich oder in beiderlei Hinsicht endliches, expandierendes Universum mit unserer Mechanik vereinbar ist oder sich sogar aus ihr ergibt. Dabei beschränken wir uns zunächst auf die newton-

64

2

Die Welt im Großen

sche Mechanik, da wir diese mathematisch im Griff haben; erst im letzten Abschnitt wagen wir uns an das, was den Bereich der großen Massen, Räume und Geschwindigkeiten noch genauer beschreibt: Einsteins allgemeine Relativitätstheorie. Wenn wir im Folgenden das Universum als homogen oder isotrop annehmen, wenn wir ihm eine Dichte zuschreiben oder von Geschwindigkeiten reden, denken wir an den großen Maßstab. Im Kleinen ist es inhomogen (im Inneren der Himmelskörper herrschen andere Verhältnisse als im leeren Raum), anisotrop (in jeder Blickrichtung erwartet uns ein etwas anderes Bild) und seine Dichte variiert ebenso von Ort zu Ort wie die Leuchtkräfte und Geschwindigkeiten der Sterne und der Galaxien. Doch von solchen lokalen Unregelmäßigkeiten sehen wir im Folgenden ab.

2.7

Newtonsche Weltmodelle

Denken wir uns das Universum als einen homogenen, isotropen, mit Materie erfüllten Raum. Das Gravitationsfeld eines solchen Raums kann, selbst wenn er unbegrenzt ist, eindeutig bestimmt werden. Dazu geht man von einer zunächst begrenzten Masseverteilung unbestimmter Größe aus, und zwar – wegen der Isotropie – von einer Kugel [8]. Wie in Abschn. 2.2 gezeigt, wirkt auf ein Teilchen der Masse m einer solchen Verteilung eine zu deren Zentrum gerichtete Kraft F = −G

M(r ) m , r2

wo r der Abstand des Teilchens vom Zentrum ist und M(r ) die, vom Zentrum aus gesehen, innerhalb des Radius r befindliche Masse. In homogener Materie ist die Dichte  räumlich konstant und M(r ) =

4πr 3  . 3

M ist jene Masse, die dem Zentrum näher liegt als unser betrachtetes Teilchen. Wenn sich die Materie ausdehnt oder zusammenzieht, also r zu- oder abnimmt, ändert sich M nicht. Wir können daher einen beliebigen Zeitpunkt wählen und M durch die zu diesem Zeitpunkt gültigen Werte von r und  ausdrücken: M=

4πr03 0 . 3

Damit ergibt sich die Kraft F = −G

4πr03 0 m . 3r 2

Durch sie erfährt das Teilchen die Beschleunigung r¨ =

4πr03 0 F . = −G m 3r 2

2.7 Newtonsche Weltmodelle

65

Nun führen wir eine neue Größe ein: den Skalenfaktor a(t) =

r (t) . r0

(2.20)

Mit ihm ist r (t) = r0 a(t) ; aus der Beschleunigungsgleichung folgt r0 a¨ = − G

4πr03 0 3r02 a 2

,

und daraus für a die Differentialgleichung 2. Ordnung a¨ = −

4π G0 . 3a 2

In ihr kommt r0 nicht mehr vor. Also ist der Skalenfaktor vom Ort des Teilchens unabhängig und beschreibt in einem homogenen Universum sämtliche Abstandsänderungen: Steigt a(t), so wird die Welt zu einer vergrößerten Kopie ihrer selbst. Um die Gleichung zu lösen, multiplizieren wir sie mit 2a: ˙ 2a˙ a¨ = −

8π G0 a, ˙ 3a 2

erkennen beiderseits zeitliche Ableitungen, d 2 d 8π G0 a˙ = , dt dt 3a und erhalten durch Integrieren a˙ 2 =

8π G0 + C. 3a

Diese Gleichung hat Alexander Friedmann 1922 aus der allgemeinen Relativitätstheorie abgeleitet und dabei die Bedeutung der Integrationskonstanten C erkannt: In der Friedmann-Gleichung 8π G0 −k (2.21) 3a steht k für die Krümmung der Raumzeit. Den Begriff der Raumzeit gibt es in der newtonschen Mechanik nicht und wir werden erst in Abschn. 2.10 auf ihn zu sprechen kommen. Vorläufig stellen wir uns darunter einfach den Raum selbst vor. Dementsprechend unterscheiden wir beim Lösen der Friedmann-Gleichung drei Fälle: (1) flacher, (2) negativ gekrümmter, (3) positiv gekrümmter Raum. a˙ 2 =

66

2

Die Welt im Großen

(1) Flacher Raum: k = 0 In diesem Fall reduziert sich (2.21) zu a˙ 2 =

8π G0 . 3a

Wegen der Expansion ist a˙ > 0. Dafür ist die positive Wurzel  a˙ =

8π G0 3a

(2.22)

ein passender Lösungsansatz. Wir trennen die Variablen: √ a da =



8π G0 dt, 3

integrieren und lösen nach a auf: 2   3 3 8π G0 . t +C a(t) = 2 3 Für jedes C gibt es einen Wert von t, wo a = 0 ist. Lassen wir unsere Zeitrechnung dort beginnen, legen wir also mit a(0) = 0 zugleich C = 0 fest, ergibt sich die Urknall-Lösung   2 3 3 8π G0 . a(t) = t 2 3

(2.23)

Am Anfang (unserer kosmischen Zeitrechnung) war das Universum in einem Punkt konzentriert, da mit a(0) = 0 auch r (0) = 0 für jedes Teilchen ist. Aus a(0) = 0 folgt mit (2.22) a(0) ˙ = ∞ ; die Bezeichnung Urknall ist nicht übertrieben. Danach sinkt a˙ und strebt dem Grenzwert null zu, bleibt aber positiv: Das Universum dehnt sich unaufhörlich aus. (2) Negativ gekrümmter Raum: k < 0 Auch hier lässt sich (2.21) durch Trennen der Variablen lösen. Die Lösung ist aber kompliziert und a(t) nicht explizit darstellbar. Daher begnügen wir uns mit einer qualitativen Analyse der Gleichung; sie wird uns alles Wesentliche verraten. Mit k < 0 ist a˙ 2 stets positiv und fällt mit steigendem a. Ist einmal a˙ > 0, dann fällt a˙ √ mit steigendem a (und daher auch mit steigendem t) gegen den positiven Grenzwert −k. Wäre hingegen einmal a˙ < 0, dann bliebe a˙ stets negativ, weshalb angesichts der Expansion auch hier nur die positive Wurzel ein Lösungsansatz ist. Für kleine a geht die positive Wurzel aus (2.21),  a˙ =

8π G0 −k , 3a

2.7 Newtonsche Weltmodelle

67

in (2.22) über. Der Anfang des negativ gekrümmten Universums entspricht also dem Anfang des flachen, dem Urknall. Die Expansionsgeschwindigkeit bleibt aber über der des flachen Universums und strebt einem positiven Grenzwert zu, während sie im flachen den Grenzwert null hat. (3) Positiv gekrümmter Raum: k > 0 Wir bleiben auch in diesem Fall bei einer qualitativen Analyse, die uns alles Wichtige zeigen wird. Mit k > 0 kann die rechte Seite von (2.21) negativ werden. Dem entspricht keine Lösung, da die linke Seite als Quadrat stets größer oder gleich null ist. a˙ = 0 wird bei a = 8π G0 /3k erreicht. Das ist der größte Wert, den a annehmen kann und korrespondiert mit der maximalen Ausdehnung des Universums. Ist a˙ > 0, wird a bis zu dieser Grenze wachsen. Dann wird a˙ < 0 und das Universum sich zusammenziehen. Da für kleine a auch hier die positive Wurzel aus (2.21) in (2.22) übergeht, beginnt auch das positiv gekrümmte Universum mit einem Urknall. Da zudem die negative Wurzel aus (2.21) bis auf das Vorzeichen Gleiches tut, endet das positiv gekrümmte Universum in einem Spiegelbild des Big Bang, dem Big Crunch. Die drei Weltmodelle Wir haben aus der Annahme einer homogenen, isotropen Materieverteilung, den newtonschen Gesetzen und heutigem Wissen über die Expansion drei Weltmodelle gewonnen. Interessanterweise gewinnt man die gleichen Modelle auch aus der allgemeinen Relativitätstheorie (die darüber hinaus die Erkenntnis liefert, dass die Integrationskonstante die Krümmung der Raumzeit beschreibt). Abb. 2.6 zeigt die zeitliche Entwicklung des Skalenfaktors a und damit den Verlauf der Ausdehnung des flachen, des negativ gekrümmten und des positiv gekrümmten Universums. Da wir für die gekrümmten Universen die Funktion a(t) nicht explizit bestimmt haben, sind die Kurven mit Hilfe der eulerschen Näherung (B.21) aus (2.21) und einem von (2.23) bezogenen Anfangswert nahe t = 0 berechnet.

Abb.2.6 Drei Weltmodelle: Entwicklung des Skalenfaktors a als Funktion der Zeit t im (1) flachen, (2) negativ gekrümmten, (3) positiv gekrümmten Universum

68

2.8

2

Die Welt im Großen

Die kritische Dichte des Universums

Welches der drei Modelle des vorigen Abschnitts unsere Welt am besten beschreibt, wissen wir nicht; die Beobachtungen reichen nicht aus. Dennoch lohnt es sich, darüber nachzudenken. In einem homogenen Universum konstanter Masse ist =

0 , a3

weil jedes Volumen mit dem Faktor a 3 wächst oder schrumpft. Drücken wir daraus 0 = a 3 aus und setzen das in (2.21) ein, ergibt sich die Standardform der Friedmann-Gleichung:  2 a˙ 8π G k = (2.24) − 2. a 3 a Diese lösen wir nach  auf:

=

   a˙ 2 k + 2 3 a a 8π G

.

Nun sehen wir, dass einem flachen Universum (k = 0) eine Dichte von 3 c =

 2 a˙ a 8π G

(2.25)

entspricht, die man kritische Dichte nennt. Ist k < 0, dann ist  < c , mit k > 0 ist  > c . Das wird auch anschaulich klar. Denn c ist jene Dichte, bei der das Universum seine eigene Gravitation gerade noch überwindet und unaufhaltsam expandiert (k = 0 in Abb. 2.6). Bei kleinerer Dichte und dann kleinerer Gravitation expandiert es rascher (k < 0 in Abb. 2.6), bei größerer Dichte kommt die Expansion zum Stillstand und die Massen stürzen unter ihrer gegenseitigen Anziehung zusammen (k > 0 in Abb. 2.6). Die Frage nach dem passenden Weltmodell läuft also darauf hinaus, ob die Dichte des Universums kleiner, gleich oder größer als die kritische Dichte ist. Um einer Antwort näher zu kommen, benötigen wir deren Wert. Aus (2.25) allein erhalten wir ihn nicht, da wir erst den Betrag von a/a ˙ ermitteln müssen. Dazu greifen wir auf die Definition (2.20) des Skalenfaktors zurück: a(t) = r (t)/r0 . Aus ihr folgt a˙ r˙ = a r für große und ansonsten beliebige Abstände r zwischen zwei Objekten. Nun ist es tatsächlich gelungen, das Verhältnis zwischen r˙ : der Geschwindigkeit, mit der sich eine Galaxie von der Erde entfernt, und r : dem Abstand, den sie von der Erde hat, zu

2.9 Wie alt und wie groß ist die Welt?

69

messen. Wie in Abschn. 2.6 berichtet, ist dieses Verhältnis für alle Galaxien dasselbe, nämlich die Hubble-Konstante H0 , und damit ist a˙ = H0 . a

(2.26)

Da a/a ˙ zeitabhängig ist, nennt man das Verhältnis den Hubble-Parameter H und versteht unter der Hubble-Konstanten seinen heutigen Wert. Dieser wird aktuell auf H0 = 2,20 · 10−18 s−1 geschätzt. Mit der Hubble-Konstanten lässt sich die kritische Dichte als 3H02 (2.27) 8π G schreiben. Setzt man den Wert von H0 ein, ergibt sich c = 8,7 · 10−27 kg/m3 . Exakt dasselbe Resultat haben wir in Abschn. 2.5 erhalten als Dichte, die das Universum haben müsste, um ein schwarzes Loch zu sein. Das ist kein Zufall; wie die beiden Kriterien – (i) das Universum ist flach und (ii) seine Fluchtgeschwindigkeit ist die Lichtgeschwindigkeit – zusammenhängen, werden wir im folgenden Abschnitt sehen. Noch aber geht es um die Frage nach dem passenden Weltmodell. Und da die tatsächliche Dichte des Universums im Rahmen unserer Messgenauigkeit mit der kritischen Dichte übereinstimmt, wir also nicht sagen können, ob sie kleiner, gleich groß oder größer ist, lässt sich die Frage heute nicht beantworten. c =

2.9

Wie alt und wie groß ist die Welt?

Auf der nächsten Etappe unserer Reise in die Tiefen des Alls wollen wir herausfinden, wie alt und wie groß dieses ist. Da jedes unserer Weltmodelle auf einen Anfang hinweist, kann man sinnvoll von einem Alter sprechen: der seit dem Urknall vergangenen Zeitspanne. Die Dichte des Universums ist nach heutigem Wissen etwa (oder genau) gleich groß wie die des flachen. Daher wählen wir als Ausgangspunkt die Lösung der Friedmann-Gleichung für ein flaches Universum, (2.23), geschrieben als   2 3 8π G0 3 2 t3. a(t) = 2 3 t = 0 entspricht dem Urknall; damit entspricht der heutige Wert von t dem Alter, das wir nun bestimmen. Durch Ableiten nach t erhalten wir 2   3 8π G0 3 2 − 1 · · t 3. a(t) ˙ = 2 3 3 Dividiert man die beiden Beziehungen durcheinander, ergibt sich a 3 = t. a˙ 2

70

2

Die Welt im Großen

Der Ausdruck links ist nach (2.26) der Kehrwert der Hubble-Konstanten, woraus folgt: t=

2 = 9,6 Millarden Jahre. 3H0

Dieser Wert ist kleiner als das heute angenommene Alter (13,8 Milliarden Jahre), in das neben Gravitation und Expansion weitere Daten eingeflossen sind, wie der kosmische Mikrowellenhintergrund und die relativen Häufigkeiten der Elemente. Ein Weltmodell, welches das heute angenommene Alter vorhersagt, könnte man aus der Friedmann-Gleichung auf zweierlei Weise erhalten: durch Annahme einer passenden Krümmung oder durch Addition eines Terms, der kosmologischen Konstanten, die auf eine abwechslungsreiche Karriere zurückblickt: von Einstein eingeführt, um ein statisches Universum als Lösung der Feldgleichungen zu ermöglichen; von Einstein als „größte Eselei meines Lebens“ verworfen, als Hubble die Expansion nachgewiesen hatte; und 1998 wieder eingeführt, um die neu entdeckte Beschleunigung der Expansion zu erklären. Wenn wir abschließend nach der Größe des Universums fragen, müssen wir klären, was wir damit meinen. Unsere Modelle lassen einen Kosmos zu, der unbegrenzt und dennoch endlich ist und zudem expandiert, wie die Oberfläche eines Luftballons, den man aufbläst. Die Ausdehnung eines solchen könnte man definieren als den größten Abstand, den zwei Punkte in ihm haben. Wir wählen einen einfachen Weg und fragen nach der Größe des (von uns) beobachtbaren Universums: Wie weit darf ein Objekt von uns entfernt sein, so dass wir noch Information von ihm empfangen können? Darauf gibt es eine überraschend einfache Antwort: Damit wir von einem Objekt Information empfangen können, muss es sich langsamer als mit Lichtgeschwindigkeit von uns fortbewegen. Das ist eine Folgerung aus der speziellen Relativitätstheorie, womit wir die newtonsche Mechanik für dieses Kapitel verlassen. Die Grenzgeschwindigkeit ist also c. Setzt man in Hubbles Beziehung, r˙ = H0 r , für r˙ die Lichtgeschwindigkeit c und für r die Grenzentfernung, also den (heutigen) Radius R des beobachtbaren Universums, ergibt sich R=

c = 14,4 Millarden Lichtjahre. H0

Mit dieser Beziehung werden die beiden Ausdrücke für die kritische Dichte, (2.19) und (2.27), identisch. Damit ist geklärt, warum die Fluchtgeschwindigkeit des flachen Universums gerade die Lichtgeschwindigkeit ist. Da der Hubble-Parameter im expandierenden Universum sinkt, blicken wir (zumindest noch einige Zeit) immer tiefer in den Raum – und damit in die Vergangenheit.

2.10

Einsteins Feldgleichungen

Die Physik von 1900 gipfelte in zwei Theorien: der newtonschen Mechanik, die seit Boltzmann auch Teile der Wärmelehre umfasste, und der maxwellschen Elektrodynamik, die auch die Optik enthielt. Jede ist in sich konsistent und beschreibt

2.10 Einsteins Feldgleichungen

71

beinahe sämtliche Erscheinungen, die in ihren Bereich fallen, mit äußerster Präzision. Sie widersprechen einander aber aus zwei Gründen. Erstens sind die Kräfte der Mechanik unabhängig von Geschwindigkeiten; die Kräfte der Elektrodynamik hängen jedoch von Geschwindigkeiten ab, denn bewegte Ladungen erzeugen magnetische Felder, unbewegte nicht. Daraus folgt, dass die Elektrodynamik, anders als die Mechanik, den Begriff der absoluten Ruhe kennt. Zweitens sagt die Elektrodynamik, dass Licht, unabhängig von der Geschwindigkeit seiner Quelle, immer gleich schnell ist; die Mechanik aber würde die Geschwindigkeit der Quelle zu der des Lichts addieren. Diese Unstimmigkeiten beseitigte der sechsundzwanzigjährige Albert Einstein 1905 mit seiner (später so benannten) speziellen Relativitätstheorie: einer Vereinigung von Elektrodynamik und Mechanik, deren bekannteste Folgerung die Äquivalenz von Energie und Masse ist, ausgedrückt in der berühmten Gleichung E = mc2 [15,16], und die zu einer neuen physikalischen Größe geführt hat: der Raumzeit. Die Theorie gilt in allen unbeschleunigten Systemen, nicht aber in beschleunigten, und das warf eine neue Schwierigkeit auf: In Bezug worauf ist ein beschleunigtes System beschleunigt? Um dieses Problem mitsamt seiner Wurzel zu entfernen, suchte Einstein nach einer Formulierung der Naturgesetze, die in allen Systemen gilt. Dabei unternahm er das wohl folgenschwerste Gedankenexperiment der Wissenschaftsgeschichte: Er stellte sich einen Fahrstuhl vor, der im Weltraum schwebt und dort gleichmäßig nach oben beschleunigt wird. Eine Person im Fahrstuhl könnte dann glauben, sie befände sich in einem Schwerefeld, und kein Experiment der Welt würde das Gegenteil beweisen. Das brachte Einstein auf den Gedanken der Nichtunterscheidbarkeit von Beschleunigung und Schwerkraft. Fiele ein Lichtstrahl durch ein Seitenfenster in den Fahrstuhl, so erschiene er wegen dessen Beschleunigung gekrümmt. Daher sollte, wenn Beschleunigung und Schwerkraft nicht zu unterscheiden sind, auch ein Schwerefeld Lichtstrahlen krümmen. Nun galt ein Lichtstrahl, speziell im Vakuum, als gerade Linie, nämlich als kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. Wenn ein Lichtstrahl unter Einfluss der Gravitation gekrümmt wird und dennoch die kürzeste Verbindung zweier Punkte darstellt: wie ist dann der Raum beschaffen? Übersetzt man das Problem ins Zweidimensionale, dann sieht man, dass nur in der Ebene die kürzeste Verbindung zweier Punkte eine gerade Strecke ist; in gekrümmten Flächen ist auch sie gekrümmt, auf einer Kugel beispielsweise folgt sie einem Großkreis. Einstein nahm daher eine Krümmung der Raumzeit an, die durch die Gravitation, in anderen Worten: durch die Massen bewirkt wird. Den Zusammenhang zwischen der Geometrie der Raumzeit und den Massen beschreiben die im November 1915 gefundenen Feldgleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie [18], 1 (2.28) gi j R = − κ Ti j , 2 die wir nun besprechen. Auf ihre physikalische Begründung oder gar ihre Herleitung verzichten wir – die war schon für Einstein schwer genug. Wir bescheiden uns damit, die Struktur der Gleichungen und die Bedeutung der einzelnen Terme zu klären und besonders interessante Lösungen vorzustellen. Ri j −

72

2

Die Welt im Großen

(1) Die Struktur der Feldgleichungen Die Indizes i und j laufen von 1 bis 4 (wir verwenden Einsteins Nummerierung). Demnach gibt es 16 Feldgleichungen: 1 g11 R = − κ T11 , 2 1 R12 − g12 R = − κ T12 , 2 ··· 1 R44 − g44 R = − κ T44 , 2 R11 −

die man in eine Matrixgleichung zusammenfassen kann: ⎛

R11 ⎜ R21 ⎜ ⎝ R31 R41

R12 R22 R32 R42

R13 R23 R33 R43

⎛ ⎞ g11 R14 ⎜g21 1 R24 ⎟ ⎟ − ⎜ R34 ⎠ 2 ⎝g31 R44 g41

g12 g22 g32 g42

g13 g23 g33 g43

⎞ ⎛ g14 T11 ⎜T21 g24 ⎟ ⎟ R = −κ ⎜ ⎝T31 g34 ⎠ g44 T41

T12 T22 T32 T42

T13 T23 T33 T43

⎞ T14 T24 ⎟ ⎟. T34 ⎠ T44

Jede Matrix dieser Gleichung teilt eine Eigenschaft, die sie zu einem erst um 1900 voll entwickelten mathematischen Objekt: einem Tensor macht und die bewirkt, dass die Feldgleichungen   in allen Koordinatensystemen gelten. Die Matrix gi j heißt Fundamentaltensor und quantifiziert die Metrik der Raumzeit. Um sie zu verstehen, stellen wir uns zunächst in der Ebene ein zweidimensionales rechtwinkeliges Koordinatensystem vor und darin zwei Punkte P und Q, die in x-Richtung den Abstand d x und in y-Richtung den Abstand dy haben (Abb. 2.7). Nach dem Satz von Pythagoras ist der Abstand ds zwischen P und Q gegeben durch ds 2 = d x 2 + dy 2 .

(2.29)

Q ds P

dy

dx

Abb. 2.7 Zwei Punkte P und Q in der Ebene mit rechtwinkeligen Koordinaten x und y

Nun denken wir uns P und Q auf eine Kugel mit Radius R gesetzt. Ausgedrückt in Kugelkoordinaten R, θ, ϕ, wie wir sie in Abschn. 2.2 verwendet haben, beträgt der entlang der Kugeloberfläche gemessene Abstand (Abb. 2.8) ds 2 = (R dθ )2 + (R cos θ dϕ)2 = R 2 dθ 2 + R 2 cos2 θ dϕ 2 .

(2.30)

2.10 Einsteins Feldgleichungen

73

Abb. 2.8 Zwei Punkte P und Q auf einer Kugel mit Radius R und Koordinaten θ und ϕ

Wir stellen die beiden Fälle in einer gemeinsamen Schreibweise dar, die auf alle Koordinatensysteme anwendbar ist. Dazu bezeichnen wir die jeweils erste Koordinate mit x1 , die jeweils zweite mit x2 ; und wir berücksichtigen, dass die Formel für ds 2 in anderen Koordinatensystemen neben den Quadraten der Koeffizienten auch deren gemischte Produkte enthalten kann: ds 2 = g11 d x12 + g12 d x1 d x2 + g21 d x2 d x1 + g22 d x22 =

2  2 

gi j d xi d x j . (2.31)

i=1 j=1

Die Metrik-Koeffizienten gi j sind im ebenen Fall (2.29) durch die Matrix 

gi j





10 = 01



gegeben, im Fall der Kugeloberfläche (2.30) durch 

 gi j =



 0 R2 . 0 R 2 cos2 x1

Wir haben damit für beide Fälle den Fundamentaltensor bestimmt. Im ersten Fall sind seine Komponenten von den xi unabhängig; das ist stets der Fall in einem flachen Raum, und tatsächlich handelt es sich hier um die Ebene. Im zweiten Fall ist das anders (g22 hängt von x1 ab), und hier beschreiben die gi j eine Kugeloberfläche, also einen gekrümmten zweidimensionalen Raum. Die Raumzeit ist vierdimensional. 1908 erkannte Hermann Minkowski, dass sich die spezielle Relativitätstheorie in einfache Gleichungen fassen lässt, wenn man zu den drei Raumdimensionen eine Zeitdimension hinzunimmt, so dass der Vektor des resultierenden vierdimensionalen Gebildes als ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ x x1 ⎜x2 ⎟ ⎜ y ⎟ ⎟ ⎜ ⎟ x=⎜ ⎝x3 ⎠ = ⎝ z ⎠ x4 ct geschrieben wird. Darin sind x, y, z die Raumkoordinaten, t die Zeit und c die Lichtgeschwindigkeit. (Moderne Darstellungen führen ct als x0 , doch wie eingangs

74

2

Die Welt im Großen

erklärt, bleiben wir bei Einsteins Nummerierung.) Für den Abstand ds zweier Punkte in der Raumzeit gilt, analog zu (2.31), ds 2 =

4  4 

gi j d xi d x j ,

(2.32)

i=1 j=1

der Raumund der Fundamentaltensor der gi j beschreibt vollständig die Geometrie   zeit. Aus ihm leiten sich in drei Schritten der Ricci-Tensor Ri j und der RicciSkalar R ab. Im ersten Schritt bildet man mit den ersten partiellen Ableitungen der gi j nach den Koordinaten die Christoffel-Symbole 4

ikj =

1  kl g 2 l=1



∂ g jl ∂ gi j ∂ gil + − ∂x j ∂ xi ∂ xl

 .

(2.33)

Dabei sind die g kl (mit hochgestellten Indizes) Komponenten eines Tensors, der    −1 ergibt. Im zweiten Schritt entstehen aus sich in Matrixnotation als g kl = gkl Fundamentaltensor und Christoffel-Symbolen die Komponenten des Ricci-Tensors: Ri j = −

4 ∂ k  ij k=1

∂ xk

+

4  4 

ilk ljk +

l=1 k=1

4  ∂ k

ik

k=1

∂x j



4  4 

l

ikj kl .

(2.34)

l=1 k=1

Sie enthalten die Christoffel-Symbole und deren Ableitungen, zusammen also die Komponenten des Fundamentaltensors sowie deren erste und zweite partielle Ableitungen. Im dritten Schritt bildet man den Ricci-Skalar R=

4  4 

g i j Ri j .

(2.35)

i=1 j=1

Die linken Seiten der Feldgleichungen sind somit Funktionen des Fundamentaltensors und beschreiben die Geometrie der Raumzeit. Sie bilden den EinsteinTensor G i j mit 1 (2.36) gi j R. 2 Da d xi d x j = d x j d xi , gilt für die Metrik-Koeffizienten gi j = g ji , und diese Symmetrie folgt auch für den Einstein-Tensor: G i j = G ji . So sind 6 seiner 16 Komponenten durch die anderen bestimmt, womit es nur 10 unabhängige Feldgleichungen gibt. Nun kommen wir zu den rechten Seiten. Sie enthalten   einen vorläufig unbestimmten Faktor κ und den Energie-Impuls-Tensor Ti j , der bei Einstein noch Energietensor der Materie hieß. Die Symmetrie der linken Seiten muss auch für die rechten gelten und daher Ti j = T ji sein. Der Energie-Impuls-Tensor enthält jene Eigenschaften der Materie, die mit der Geometrie der Raumzeit verknüpft sind. G i j = Ri j −

2.10 Einsteins Feldgleichungen

75

Drei wichtige Fälle sind (i) leerer Raum: hier sind alle Ti j = 0 ; (ii) ruhende Materie konstanter Dichte , die keinen Druck erzeugt (Kosmologen nennen das Staub): hier sind alle Ti j = 0 bis auf T44 = − c2 ; (iii) Galaxien, die aufeinander entlang ihrer Verbindungslinien wirken (das erlaubt einen Druck p), aber keine Querkräfte aufeinander ausüben, wie die Teilchen einer Flüssigkeit: hier ist ⎛

p   ⎜0 Ti j = ⎜ ⎝0 0

0 p 0 0

⎞ 0 0 0 0 ⎟ ⎟. p 0 ⎠ 0 − c2

(2.37)

Wir haben nun die mathematische Struktur der Feldgleichungen erkannt: Es handelt sich um 10 unabhängige partielle Differentialgleichungen 2. Ordnung, deren Lösungen die 16 Funktionen gi j (x1 , x2 , x3 , x4 ) sind. Die Gleichungen sind linear in den zweiten Ableitungen der gi j , nicht jedoch in den gi j selbst und deren ersten Ableitungen (der Einstein-Tensor enthält Produkte dieser Größen). Sie sind gekoppelt in dem Sinn, dass jede Gleichung jede Lösungsfunktion enthält. Einem solchen System entlockt man seine Geheimnisse nicht in einem Nachmittag. Einstein hat zehn Jahre gebraucht, die Feldgleichungen aufzustellen – die Periode ihrer Lösungen und Lösungsversuche dauert noch an. Einen wesentlichen Aspekt der Gleichungen hat Einstein schon 1916 in seiner ersten zusammenfassenden Darstellung Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie [17] gezeigt: dass aus ihnen im nichtrelativistischen Grenzfall (kleine Krümmung und kleine Geschwindigkeiten) das newtonsche Gravitationsgesetz folgt, sofern man κ den Wert κ=

8π G c4

(2.38)

zugesteht. Damit war eine entscheidende Anforderung an die Feldgleichungen erfüllt und zugleich κ festgelegt. Weiter gehende Lösungen stammen überwiegend von anderen Physikern. Wir wenden uns nun jener zu, auf der das Standardmodell des Universums ruht. (2) Die Friedmann-Lösung der Feldgleichungen Alexander Friedmann löste 1922 die Gleichungen für den Fall einer homogenen und isotropen Materieverteilung. Seinen Weg skizzieren wir hier. Zunächst, was sich aus Friedmanns Annahmen für die beiden Seiten der Gleichungen ergibt, und danach, wie aus dem so entstandenen System Friedmanns Lösung folgt. Für die linke Seite maßgeblich ist, dass eine homogene und isotrope Materieverteilung konstante Krümmung der Raumzeit erwarten lässt. Eine Metrik des zweidimensionalen Raums konstanter Krümmung erhält man durch unseren Ansatz (2.30), der eine Kugelfläche beschreibt. Unser R 2 (das Quadrat des Kugelradius) ist dabei der Kehrwert einer Größe K , die nach Carl Friedrich Gauß gaußsche Krümmung heißt. Nimmt man zu den Raumkoordinaten θ und ϕ den variablen Radius r hinzu

76

2

Die Welt im Großen

und als Zeitkoordinate ct, kommt man zum Ansatz   1 2 2 2 2 2 2 2 2 dr + r dθ + r cos θ dϕ − c2 dt 2 . ds = a (t) 1 − Kr2 Dabei ist a(t) der Skalenfaktor, den wir aus Abschn. 2.7 kennen. Im Koordinatensystem ⎛ ⎞ r ⎜θ ⎟ ⎟ x=⎜ ⎝ϕ ⎠ ct ist der Fundamentaltensor daher durch ⎛ a2 0 ⎜1 − Kr2 0   ⎜ 2 2 ⎜ 0 a r 0 gi j = ⎜ ⎝ 0 0 a 2 r 2 cos2 θ 0 0 0

⎞ 0 ⎟ ⎟ 0 ⎟ ⎟ 0 ⎠ −1

gegeben. Aus ihm folgen mittels (2.33) bis (2.36) die linken Seiten der Feldgleichungen, also der Einstein-Tensor. Dabei zeigt sich, dass dieser nur auf der Hauptdiagonalen Komponenten ungleich null enthält. Rechts ergibt sich aus Friedmanns Annahmen, neben κ laut (2.38), gerade der Flüssigkeitstensor (2.37); auch er hat nichtverschwindende Komponenten nur auf der Hauptdiagonalen. Damit bleiben 4 unabhängige Gleichungen mit den Variablen r und θ , den Parametern p und  sowie den Unbekannten a und K übrig. Eliminiert man r , θ und p, verbleibt eine einzige Gleichung:  2 a˙ 8π G K c2 = − 2 . a 3 a Das ist Friedmanns Lösung der einsteinschen Feldgleichungen: die FriedmannGleichung in der Form (2.24) (wir haben dort lediglich den Krümmungsterm K c2 vereinfacht k genannt). Die allgemeine Relativitätstheorie, die Krone der Physik, ist eine umfassende Lehre von Raum, Zeit und Gravitation, in der die newtonsche als Grenzfall weiterlebt. Sie erklärt alles, was die newtonsche erklärt, und darüber hinaus einiges, was diese nicht erklärt: die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, die Lichtablenkung und das Verhalten von Uhren im Schwerefeld, die Periheldrehung des Merkur, die Gleichheit von träger und schwerer Masse und die 2015 nachgewiesenen Gravitationswellen. Und dennoch liefern beide, wo es um die Welt als Ganzes geht, in Gestalt der Friedmann-Gleichung nicht nur ungefähr, sondern exakt dasselbe Resultat, womit die einsteinschen Weltmodelle den newtonschen gleichen. Das hätte dem Löwen gefallen.

2.11 Einsteins Nachlass: Gravitationswellen

2.11

77

Einsteins Nachlass: Gravitationswellen

Beinahe auf den Tag genau hundert Jahre nach Veröffentlichung der allgemeinen Relativitätstheorie wurden Gravitationswellen im Experiment gefunden. Aus Einsteins Gleichungen folgt, dass es solche Wellen gibt; aber auch, dass sie von äußerst kleiner Amplitude sind, und Einstein selbst hielt sie für zu schwach für einen Nachweis. Aus den Feldgleichungen kann man auf die Existenz der Wellen schließen, indem man die Metrik-Koeffizienten als gi j = ηi j + h i j

(2.39)

darstellt, wo die ηi j die gravitationsfreie (flache) Metrik beschreiben und die h i j für die gravitationsbedingten Abweichungen stehen. Im leeren Raum, hinreichend entfernt von Massen, sind die h i j klein und mit ihnen auch die Christoffel-Symbole, so dass Produkte von Christoffel-Symbolen vernachlässigt werden können. Setzt man unter dieser Bedingung (2.39) in (2.33) bis (2.36) ein und berücksichtigt, dass im Vakuum alle Koeffizienten des Energie-Impuls-Tensors null sind, ergeben sich die Wellengleichungen ∂ 2hi j ∂ 2hi j ∂ 2hi j 1 ∂ 2hi j + + = 2 . 2 2 2 ∂x ∂y ∂z c ∂t 2

(2.40)

Sie sind dreidimensionale Gegenstücke zur eindimensionalen Gleichung (1.45). Ihre Lösungen hängen, wie auch jene von (1.45), von Anfangs- und Randbedingungen ab, speziell von der Erzeugung der Welle. Gravitationswellen werden von beschleunigten Massen erzeugt, beispielsweise von Doppelsternen, die um einen gemeinsamen Schwerpunkt kreisen. Wie Einstein schon 1916 feststellte, erzeugen selbst riesige, schnell rotierende Massen nur schwache Wellen, was den direkten Nachweis ein Jahrhundert lang unmöglich machte. Immerhin beobachteten Russell Hulse und Joseph Taylor 1974 ein rotierendes System zweier Neutronensterne, das beständig Energie verliert, und zwar gerade so viel, wie es gemäß Einsteins Theorie durch die Abstrahlung von Gravitationswellen verlieren müsste. Der erste direkte Nachweis gelang im September 2015 und wurde im Februar darauf der Welt vorgestellt [1]. Die beobachtete Welle entstammt einem Paar schwarzer Löcher von je dreißigfacher Sonnenmasse, die einander in immer kleiner werdendem Abstand immer rascher umkreisten und schließlich miteinander verschmolzen. Kurz vor dem Kollaps erreichte die Welle ihre maximale Amplitude: Die Metrik der Erde erfuhr eine relative Veränderung von 10−21 ; genug, um von zwei Detektoren in den USA bemerkt zu werden – und die Krone der Physik mit einen weiteren Diamanten zu schmücken.

3

Bilder der Natur

In diesem Kapitel betrachten wir Bilder der Natur. Wir beginnen beim Wetter und stoßen vor bis zu Grundpfeilern der Naturwissenschaft: den Erhaltungsgesetzen von Impuls, Drehimpuls und Energie sowie den Gleichungen des Elektromagnetismus. Dann erforschen wir die Dynamik des Lebenden: Aspekte des Wachsens, Aufeinandertreffens und Vergehens von Populationen, Mechanismen von Anpassung und Selektion, Gesetze des Körperbaus und schließlich das kollektive Verhalten von Lebewesen im Schwarm.

3.1

Zur Thermodynamik der Atmosphäre

Wir haben in Abschn. 2.3 eine Gleichung für den Druck im Abstand r vom Mittelpunkt eines isotropen Planeten abgeleitet: dp m(r ) (r ) . = −G dr r2 Hier ist m(r ) die Masse innerhalb einer gedachten Kugel vom Radius r um den Planetenmittelpunkt, (r ) die an der Oberfläche der Kugel herrschende Dichte und G die Gravitationskonstante. Die Beziehung gilt auch in der Erdatmosphäre, und wir werden aus ihr und den Gasgesetzen die Verteilungen von Druck, Dichte und Temperatur gewinnen. Zunächst setzen wir m(r ) gleich der Erdmasse; da die Atmosphäre nur ein Millionstel der gesamten Erde wiegt, erzeugt das praktisch keinen Fehler. Weiters setzen wir, da wir die Atmosphäre nur bis in einige zehn Kilometer Höhe ansehen wollen, r gleich dem Erdradius. Diese beiden Näherungen führen auf eine dritte – denn nun ist Gm(r )/r 2 nichts anderes als die Erdbeschleunigung g. Weil Luft ein schlechter Wärmeleiter ist, nehmen wir an, dass Kompression und Expansion ohne Temperaturausgleich, also adiabatisch vor sich gehen. Dann hängen Druck, Volumen und Temperatur der Luft, aufgefasst als ideales Gas, über die © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Tschirk, Der Laplacesche Dämon, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61647-5_3

79

80

3

Bilder der Natur

Adiabatengleichungen pV κ = const, p 1−κ T κ = const (mit dem Adiabatenkoeffizienten κ) zusammen. Aus der ersten Gleichung folgt, da die Dichte proportional zum Kehrwert des Volumens ist: p/κ = const . Daraus ergibt sich, wenn p0 und 0 Druck und Dichte an einer Stelle sind, (r ) =

0

1

p κ (r ).

1 p0κ

Setzen wir das alles in unsere Anfangsbeziehung ein, erhalten wir 1

dp g0 p κ =− 1 dr p0κ oder, mit getrennten Variablen notiert: dp 1 pκ

=−

g0 1 p0κ

dr .

(3.1)

Beim Integrieren von (3.1) unterscheiden wir zwei Fälle: κ = 1 und κ > 1 (der Fall κ < 1 kommt in der Natur nicht vor). (1) κ = 1 : Die isotherme Atmosphäre Hier erhalten wir durch Integrieren und Auflösen nach p: p(r ) = C e

g − p0 r 0 .

Legen wir fest, dass p0 den Druck auf Meeresniveau, also im Abstand eines Erdradius R vom Erdmittelpunkt bezeichnet, folgt C = p0 e

g0 p0 R

und damit die barometrische Höhenformel p(h) = p0 e

g − p0 h 0 ,

wo h = r − R die Höhe über Meeresniveau ist. Die Formel wird oft mit der Skalenhöhe p0 (3.2) H= g0

3.1 Zur Thermodynamik der Atmosphäre

81

geschrieben: p(h) = p0 e−

h H

.

(3.3)

0◦ C:

9,81 m/s2

1,29 kg/m3

Mit g = und den Werten für Luft bei 0 = und p0 = 1013 mbar ergibt sich eine Skalenhöhe von H = 8000 m: Beim Aufstieg um diese Höhe nimmt der Druck um den Faktor 1/e ≈ 0,37 ab. Da gemäß den Adiabatengleichungen für κ = 1 Druck und Dichte proportional sind und die Temperatur konstant ist, folgt mit den auf Meeresniveau geltenden Werten T0 und 0 (h) = 0 e− T (h) = T0 .

h H

,

(3.4) (3.5)

Nun wissen wir, dass (3.5) nicht stimmt, sondern die Luft beim Aufstieg kälter wird. Dieses Verhalten wird sich mit κ > 1 zeigen. (2) κ > 1: Die adiabatische Atmosphäre Hier führt Integrieren und Auflösen nach p auf ⎞



⎟ ⎜ κ − 1 g0 r + C⎠ p(r ) = ⎝− 1 κ p0κ

κ κ−1

.

Mit p(R) = p0 folgt κ−1

C = p0 κ +

κ − 1 g0 R 1 κ p0κ

und daraus  p(h) = p0

κ − 1 g0 1− h κ p0



κ κ−1

mit h = r − R. Neuerlich verwenden wir die Skalenhöhe: 

κ −1 h 1− κ H

p(h) = p0



κ κ−1

.

(3.6)

Mit den Adiabatengleichungen folgen für Dichte und Temperatur 

κ −1 (h) = 0 1 − κ  κ −1 T (h) = T0 1 − κ

1 h κ−1 , H h . H

(3.7) (3.8)

82

3

Bilder der Natur

Luft hat bei Atmosphärentemperaturen ein κ von 1,4. Mit diesem und einer Skalenhöhe von 8000 m ergibt sich eine Temperaturabnahme von 10 Kelvin pro Kilometer Höhe. Die gemessene erdnahe Temperaturänderung liegt hingegen im Mittel bei − 6,5 K/km. Das weist darauf hin, dass die Atmosphäre nicht ideal adiabatisch ist, wie sie auch nicht ideal isotherm ist, und dass die Wirklichkeit dazwischen liegt. Tatsächlich findet ein teilweiser Temperaturausgleich durch Konvektion statt, indem warme Luft aufsteigt und kalte sinkt.

3.2

Die Kunst, das Wetter vorherzusagen

Wir haben nun einiges über die Verteilung von Druck, Dichte und Temperatur in der Atmosphäre erfahren. Damit daraus ein Wetter wird, bedarf es noch diverser Zutaten. Erstens brauchen wir Wind und Feuchtigkeit; zweitens horizontale Koordinaten, da das Wetter nicht an jedem Ort der Erdoberfläche gleich ist; drittens die Zeit, weil es sich ja ändert; und viertens Gesetze, die diese Variablen verknüpfen. Der Erste, der mit Nachdruck den Gedanken vertrat, man könne das Wetter auf der Grundlage physikalischer Gesetze vorhersagen, war Vilhelm Bjerknes. 1904 erschien in der Meteorologischen Zeitschrift seine Arbeit Das Problem der Wettervorhersage, betrachtet vom Standpunkte der Mechanik und der Physik [5], worin er als Voraussetzungen nannte: „1. Man muss mit hinreichender Genauigkeit den Zustand der Atmosphäre zu einer gewissen Zeit kennen. 2. Man muss mit hinreichender Genauigkeit die Gesetze kennen, nach denen sich der eine atmosphärische Zustand aus dem anderen entwickelt.“ Bjerknes zählte sieben Variable auf, die den Zustand der Atmosphäre bestimmen: die drei Komponenten des Windes sowie Druck, Dichte, Temperatur und Feuchtigkeit. Jede von ihnen ist eine Funktion dreier Raumkoordinaten und der Zeit. Um diese Funktionen eindeutig festzulegen, sind sieben Gleichungen und ausreichend viele Anfangsbedingungen nötig. Dementsprechend schlug Bjerknes sieben Gleichungen vor; sechs von ihnen gehören noch heute zum Standardinventar der Meteorologen, den meteorologischen Grundgleichungen, die siebente (der 2. Hauptsatz der Thermodynamik) wurde durch eine Gleichung für den Wasserdampf ersetzt. Wir beschreiben nun die Grundgleichungen und die in ihnen vorkommenden Konstanten und Variablen. Dabei verwenden wir den Gradienten des Drucks, ⎛ ⎞ ∂ p/∂ x grad p = ⎝∂ p/∂ y ⎠ , ∂ p/∂z die Divergenz der Luftgeschwindigkeit, div v =

∂v y ∂vz ∂vx + + , ∂x ∂y ∂z

3.2 Die Kunst, das Wetter vorherzusagen

83

und das Kreuzprodukt ω × v von Winkelgeschwindigkeit der Erddrehung und Luftgeschwindigkeit. Damit ergeben sich die meteorologischen Grundgleichungen ∂v ∂t ∂ ∂t ∂w ∂t ∂T ∂t

=−

1 grad p − 2 ω × v + g + f R , 

(3.9a)

= −  div v,

(3.9b)

˙ = − w div v + w,

(3.9c)

=

1 ∂p 1 q, ˙ + c p ∂t cp

p =  RT .

(3.9d) (3.9e)

Die in ihnen vorkommenden Größen sind in Tab. 3.1 beschrieben. Tab. 3.1 Konstante und Variable der meteorologischen Grundgleichungen Konstante g Erdbeschleunigungsvektor ω Winkelgeschwindigkeitsvektor der Erddrehung R universelle Gaskonstante c p spezifische Wärme der Luft bei konstantem Druck Variable x x-Koordinate des Raums y y-Koordinate des Raums z z-Koordinate des Raums t Zeit v Geschwindigkeitsvektor p Druck  Dichte der Luft w Dichte des Wasserdampfs T Temperatur f R Reibungskraftvektor pro Masseeinheit q˙ Wärmezu- oder -abfuhr pro Masseeinheit w˙ Wasserdampfdichteänderung durch Kondensation und Verdunstung

Da (3.9a) vektoriell in drei Dimensionen ist, bilden (3.9a) bis (3.9e), skalar betrachtet, ein System von sieben Gleichungen für die sieben Variablen v, p, , w und T , jeweils als Funktion von x, y, z und t. Die Größen f R , q˙ und w˙ sind keine Lösungsfunktionen, sondern Parameter. Die Bewegungsgleichung (3.9a) folgt aus dem zweiten newtonschen Axiom: Die Beschleunigung einer Luftzelle ist die auf sie wirkende Kraft dividiert durch ihre Masse. Da alle Gleichungen auf eine Volumeneinheit normiert sind, enthalten sie statt

84

3

Bilder der Natur

der Masse die Masse pro Volumeneinheit, also die Dichte. Die Kraft auf die Zelle setzt sich aus vier Summanden zusammen: der Kraft aus Druckunterschieden, der Corioliskraft aufgrund der Erddrehung, der Erdanziehung und der Reibung. Die Kontinuitätsgleichung (3.9b) folgt aus der Masseerhaltung und besagt, dass die relative Dichteänderung gleich dem Nettofluss (der Divergenz) des Luftstroms ist. Die Wasserdampfgleichung (3.9c) enthält Analoges für den Wasserdampf und berücksichtigt zudem Kondensation und Verdunstung. Die Beziehung (3.9d) drückt die Erhaltung der Energie aus: Bei konstantem Volumen resultiert die Temperaturänderung aus der Zu- oder Abfuhr von Arbeit, die sich als Druckänderung zeigt, und aus der Zuoder Abfuhr von Wärme, beispielsweise durch Strahlung oder Phasenübergänge. Die letzte Gl. (3.9e) ist die Zustandsgleichung des idealen Gases. (3.9a) bis (3.9d) sind partielle Differentialgleichungen, (3.9e) ist eine algebraische Gleichung. Bis auf w kommt jede Lösungsfunktion in mehr als einer Gleichung vor. Das System besitzt keine analytische Lösung und muss numerisch behandelt werden. Erinnern wir uns an die numerische Berechnung des Gitarrentons in Abschn. 1.12. Dort hatten wir eine partielle Differentialgleichung einer Funktion zweier Variabler vor uns: u(x, t), der Auslenkung der Saite als Funktion einer Ortskoordinate und der Zeit. Als Anfangswerte haben wir u(x, 0) an neun äquidistanten Punkten der Saite vorgegeben; dann haben wir die Werte in Sechzehntelperioden-Zeitschritten aktualisiert. Hätten wir mehr Punkte oder einen kleineren Zeitschritt genommen, wäre die Lösung genauer ausgefallen. Analog fällt auch eine Wetterprognose umso genauer aus, je mehr Anfangswerte man hat und je öfter man die Daten aktualisiert. Da man hier aber nicht nur Werte für eine einzige Größe vorgibt, sondern für sämtliche Lösungsfunktionen, und der Raum nicht ein-, sondern dreidimensional ist, benötigt man erstens eine ungeheure Anzahl von Anfangswerten und zweitens enorme Rechenleistungen. Vor dem Computerzeitalter lag die Bewältigung dieses Problems in unerreichbarer Ferne. Die erste kleinräumige Prognose mit einem Zeithorizont von 24 Stunden gelang 1950 in den USA. Programm und Daten befanden sich auf 25 000 Lochkarten und der Computer – der legendäre ENIAC – rechnete 24 Stunden lang. 1966 entstand das erste Wettermodell, das die gesamten USA umspannte, mit einer horizontalen Auflösung von 300 Kilometern und 6 vertikalen Schichten. Die Komplexität heutiger Wettervorhersagen kann man anhand von Daten des Deutschen Wetterdienstes DWD ermessen: Das Regionalmodell für Deutschland [13] besitzt eine horizontale Auflösung von 2,2 Kilometern und 65 vertikale Schichten, somit mehr als 10 Millionen Gitterpunkte, und einen Zeitschritt von 20 Sekunden. Es umfasst neben den oben genannten sieben Variablen auch den spezifischen Wolkeneisgehalt und die spezifischen Wassergehalte von Regen, Schnee und Graupel. Der DWD betreibt ein Computersystem, das 1014 Operationen pro Sekunde ausführt. Wollte man das per Hand erledigen, müsste jeder Mensch der Erde in jeder Sekunde 10 000 Operationen ausführen. Dass Berechnungen solchen Umfangs einmal Realität sein würden, hätte sogar Lewis Richardson überrascht, jenen zweiten Pionier der Wettervorhersage, der 1922 seine Vision einer weather forecast factory, einer riesigen Halle mit (menschlichen) Rechnern, computers, wie folgt einleitete [42]: „If the time step were 3 hours, …the co-ordinate chequer were 200 km square in plan, …64 000 computers would be needed to race the weather for the whole globe“.

3.3 Fourier und die Wärmeleitungsgleichung

3.3

85

Fourier und die Wärmeleitungsgleichung

Wir untersuchen nun einen Aspekt der Thermodynamik, der zur Entwicklung eines besonders fruchtbaren Gebiets der angewandten Mathematik geführt hat: zu den Fourier-Reihen. In seiner Théorie analytique de la chaleur, erschienen 1822, hat Joseph Fourier die damals nur vermuteten Gesetze der Wärmeleitung in eine Gleichung verpackt, für die er auch einen Lösungsweg vorlegte [51]. Die Wärmeleitungsgleichung erlaubt die Ermittlung der Temperaturverteilung in einem Körper als Funktion der Ortskoordinaten und der Zeit. Wir besprechen den einfachsten Fall, in dem nur eine einzige Ortskoordinate vorkommt. (1) Fouriers Ableitung der Gleichung Denken wir uns einen Stab mit konstanter Querschnittfläche A, auf ganzer Länge isoliert außer an den Enden. Die in der Zeit ∂t durch den Querschnitt fließende Wärme ∂ Q ergibt die Wärmestromdichte ∂ Q(x, t) ∂t . J (x, t) = A

Abb. 3.1 Wärmestromdichte J in einem Stab mit konstanter Querschnittfläche A. Dargestellt ist ein Stababschnitt der Länge x

In der Zeit t ändert sich der Wärmeinhalt des in Abb. 3.1 dargestellten Volumenelements um Q = J (x, t) A t − J (x + x, t) A t





Zufluss Abfluss J (x + x, t) − J (x, t) =− A x t. x Daraus folgt für kleine x Q = − Jx (x, t) A x t. Der Stab sei aus homogenem Material mit Dichte  und spezifischer Wärme c. Dann bewirkt die Änderung des Wärmeinhalts eine Temperaturänderung T entsprechend Q =  A x c T ,

86

3

Bilder der Natur

da  A x die Masse des Volumenelements A x ist. Setzt man die beiden Ausdrücke für Q gleich, − Jx (x, t) A x t =  A x c T , folgt T 1 =− Jx , t c woraus sich mit t → 0 Tt = −

1 Jx c

ergibt. Nun hat Fourier richtig vorausgesetzt, dass die Wärmestromdichte proportional ist der Temperaturänderung pro Längeneinheit, also dem Temperaturgradienten, und die Wärme vom Heißen zum Kalten strömt: J = − γ Tx mit einer stoffabhängigen Konstanten γ . Leiten wir diese Beziehung beiderseits nach x ab, Jx = − γ Tx x , und setzen das Resultat in den soeben erhaltenen Ausdruck für Tt ein, ergibt sich die eindimensionale Wärmeleitungsgleichung Tt =

γ Tx x . c

(3.10)

(2) Fouriers Lösung Auf den ersten Blick sieht die Wärmeleitungsgleichung (3.10) der eindimensionalen Wellengleichung (1.45) zum Verwechseln ähnlich. Leider besitzt sie keine so elegante Lösung wie jene, die d’Alembert für die Wellengleichung gefunden hat. Sehen wir, wie Fourier die Sache anpackt. Zunächst suchen wir nach Lösungen der Form T (x, t) = ψ(x) φ(t),

(3.11)

die also das Produkt einer nur von x und einer nur von t abhängigen Funktion sind. Setzen wir den Ansatz in (3.10) ein, erhalten wir ψ(x) φ  (t) =

γ  ψ (x) φ(t), c

und daraus c φ  (t) ψ  (x) = . γ φ(t) ψ(x) Ändert sich nur x, bleibt die linke Seite unverändert; daher kann sich wegen der Gleichheit der beiden Seiten auch die rechte nicht ändern. Ändert sich nur t, bleibt

3.3 Fourier und die Wärmeleitungsgleichung

87

die rechte Seite unverändert und, wiederum wegen der Gleichheit, auch die linke. Beide Seiten sind also konstant. Nennen wir die Konstante b, ergeben sich aus der partiellen Differentialgleichung (3.10) zwei gewöhnliche: φ  (t) −

γ b φ(t) = 0, c

ψ  (x) − b ψ(x) = 0.

(3.12)

(3.13)

Wir beginnen mit (3.13) und lösen diese Gleichung wie in Anhang B.6 beschrieben. √ Ihre charakteristische Gleichung, λ2 − b = 0, hat die Lösungen λ1,2 = ± b. Nach Tab. B.3 ergeben sich folgende Lösungsfälle, je nachdem, ob b positiv, null oder negativ ist: b>0: b=0: b 0. L Das ist die Anfangsbedingung (Abb. 3.2).

Abb. 3.2 Temperaturverteilung im Stab zu Beginn

88

3

Bilder der Natur

Aus (3.15) folgt zunächst, dass T (x, 0) nicht für alle x gleich null ist; wir schreiben dafür T (x, 0) ≡ 0 (T ist nicht identisch null). Mit (3.11) bedeutet das: ψ(x) ≡ 0 und φ(0) = 0. Da φ(0) = 0 ist, muss wegen (3.11) und (3.14) ψ(0) = ψ(L) = 0 sein. Für die ersten beiden Lösungsfälle, b > 0 und b = 0, folgt daraus jeweils So verbleibt C1 = C2 = 0, was der Forderung ψ(x) ≡ 0 widerspricht. √ √nur der dritte Fall, √ b < 0. Für diesen folgt C2 = 0 und sin −b L = 0, so dass −b L = nπ , also −b = nπ/L sein muss. Daraus ergibt sich die Lösung unseres aus (3.10), (3.11), (3.14) und (3.15) bestehenden Problems. Zunächst lautet nun der Ansatz für die Funktion von x in (3.11) ψ(x) = C1 sin

nπ x . L

Mit ihm und mit (3.11) und (3.15) erhalten wir T (x, 0) = C1 sin

nπ x πx φ(0) = T0 sin ; L L

daher ist n = 1 und C1 = T0 /φ(0), so dass ψ(x) = wird. Weiters ist wegen

T0 πx sin φ(0) L

√ −b = nπ/L und n = 1 b=−

 π 2 L

.

Damit ergibt sich für die Funktion von t in (3.11) durch Trennen der Variablen in (3.12) und Integrieren φ(t) = φ(0) e

γ  π 2 − c L t

.

Zuletzt multiplizieren wir ψ(x) und φ(t) gemäß (3.11) zur Lösung γ π x − c T (x, t) = T0 sin e L



π L

2

t

.

(3.16)

Abb. 3.3 Temperaturverteilung im Stab zu t = 0, 1, 2, 3 Halbwertszeiten (von oben nach unten). Die Wärme wird aus der Mitte abgeleitet und verlässt den Stab über seine Enden

3.3 Fourier und die Wärmeleitungsgleichung

89

Da das durch (3.10), (3.14) und (3.15) gestellte Problem eindeutig lösbar ist, stellt (3.16) trotz der anfänglichen Einschränkung (3.11) die einzige Lösung dar (Abb. 3.3). (3) Die Erfindung der Fourier-Reihe Man könnte meinen, unsere Lösung wäre dem glücklichen Zufall zu verdanken, dass sich Differentialgleichung, Lösungsansatz, Rand- und Anfangsbedingung auf eine Sinusfunktion „einigen“ konnten. Denn wie hätten wir die angesichts (3.10), (3.11) und (3.14) einzig mögliche Funktion ψ(x), also C1 sin(nπ x/L), mit einer Anfangsbedingung zur Deckung bringen können, die nicht wie (3.15) eine Sinusfunktion, sondern eine andere verlangt? Dass Fourier dieses Kunststück zuwege brachte, hat seinen Namen unsterblich gemacht. Wie das geschah, besprechen wir nun. Dazu ändern wir die Anfangsbedingung: Die Temperatur im Stab zu Beginn soll nicht wie in (3.15) durch eine Sinusfunktion, sondern durch eine (fast) beliebige Funktion vorgegeben sein: T (x, 0) = f (x)

mit

f (0) = f (L) = 0.

(3.17)

Ein Gedankengang analog dem vorhergegangenen legt nahe, dass jede Funktion, die erstens die Differentialgleichung (3.10) löst, zweitens dem Ansatz (3.11) entspricht und drittens die Randbedingungen (3.14) erfüllt, von der Form γ nπ x − c e C sin L



nπ L

2

t

ist. Man kann aber durch Einsetzen verifizieren, dass auch jede Linearkombination solcher Funktionen diese Eigenschaften hat. Die allgemeine Lösung unseres Problems vor Berücksichtigung der Anfangsbedingung lautet daher T (x, t) =

∞ 

Cn sin

n=1

γ nπ x − c e L



nπ L

2

t

.

Die Frage ist nun, ob die Cn so gewählt werden können, dass die Lösung auch die Anfangsbedingung (3.17) erfüllt. Es muss also T (x, 0) =

∞  n=1

Cn sin

nπ x = f (x) L

sein, in anderen Worten: Man muss f als unendliche Reihe von Sinusfunktionen darstellen können. Fourier hat gezeigt, dass das geht, sofern f unendlich oft differenzierbar ist. Die Berechnung der Cn , der Fourier-Koeffizienten, hat er explizit angegeben und so die erste Fourier-Reihe entwickelt. Später kamen die Kosinusfunktionen hinzu, die Darstellung von nichtperiodischen Funktionen als Fourier-Integral, und die Differenzierbarkeitsforderung verschwand.

90

3

Bilder der Natur

Mit dem Ansatz (3.11) lässt sich auch die Wellengleichung lösen. Der Weg ist schwerfälliger als der d’alembertsche, den wir in Abschn. 1.11 verwendet haben, er bietet aber einen Vorteil: Fouriers Sinus- und Kosinusfunktionen sind genau das, was man hört, wenn die Saite schwingt. Ihre Frequenzen bestimmen die Tonhöhe der jeweiligen Teilschwingung, des Grundtons und der Obertöne, und das Spektrum ihrer Amplituden, der Fourier-Koeffizienten, bestimmt den Klang. Beinahe wäre Fouriers Arbeit umsonst gewesen; ihre Verbreitung wurde jahrelang von den Gutachtern Lagrange, Laplace und Legendre abgelehnt, ehe sie doch einen Herausgeber fand. Damit steht Fourier in einer Reihe mit Größen wie Évariste Galois, Julius Robert Mayer und Louis-Victor de Broglie, deren revolutionäre Ideen – Gruppentheorie, Energieerhaltung und Materiewellen – ebenfalls um ein Haar dem Immunsystem der Wissenschaft zum Opfer gefallen wären.

3.4

Die Erhaltungsgrößen der Mechanik

Ein System, das mit seiner Umwelt nicht wechselwirkt, nennt man abgeschlossen. Ein abgeschlossenes System kann leer sein, aus einem einzigen Teilchen oder aus beliebig vielen bestehen. Die Teilchen können vereinzelt sein wie die Moleküle eines Gases oder zu Körpern verbunden, sie können einander anziehen oder abstoßen, kollidieren oder aber gar nicht aufeinander wirken. Viele mechanische Größen eines solchen Systems verändern sich im Allgemeinen mit der Zeit, darunter die Aufenthaltsorte, Abstände, Geschwindigkeiten und Beschleunigungen der einzelnen Teilchen, ihre Impulse, Drehimpulse und Energien. Einige Größen aber bleiben von alldem unbetroffen, ihre Werte unverändert erhalten: Masse, Impuls, Drehimpuls und Energie des Systems. Dabei verstehen wir unter der Masse des Systems die Summe der Teilchenmassen, unter dem Impuls des Systems die Summe der Teilchenimpulse usw. Diese unveränderlichen Größen heißen Erhaltungsgrößen. Unter ihnen hat die Masse eine Sonderstellung: Ihre Erhaltung stimmt nur in einem Bild, das die Äquivalenz von Masse und Energie nicht beachtet, und ist dort eine reine Beobachtungstatsache. Deshalb werden wir uns mit ihr nicht beschäftigen. Die Erhaltung der anderen drei Größen – Impuls, Drehimpuls und Energie – lässt sich aus den newtonschen Axiomen folgern. Das zweite Axiom haben wir in Abschn. 1.6 ausführlich besprochen und seither oft verwendet. Das dritte ist für die kommenden Überlegungen genau so wichtig wie das zweite, daher stellen wir es nun vor: „Actioni contrariam semper et aequalem esse reactionem: sive corporum duorum actiones in se mutuo semper esse aequales et in partes contrarias dirigi.“ (Die Wirkung ist immer entgegengesetzt und gleich der Gegenwirkung: oder die Wirkungen zweier Körper aufeinander sind immer gleich und von entgegengesetzter Richtung.) Kräfte treten danach immer paarweise auf: Übt ein Körper 1 auf einen Körper 2 die Kraft F21 aus, so übt der zweite auf den ersten die Kraft F12 = − F21 aus. Dabei spielt die Natur der Kräfte keine Rolle: Gravitation, elektrostatische Anziehung und Abstoßung, direkter Kontakt durch Zug, Stoß oder Reibung, starre Verbindung der Körper – das dritte Axiom gilt (ebenso wie das zweite) für alle.

3.4 Die Erhaltungsgrößen der Mechanik

91

Newton hat auch festgestellt, dass Kräfte sich addieren: Die gesamte auf einen Körper wirkende Kraft ist die Summe der einzelnen. Dieses Gesetz wird heute oft als sein viertes Axiom bezeichnet, obwohl er selbst es nicht so genannt hat. Aus ihm und dem dritten Axiom können wir einen Schluss ziehen, den wir im Folgenden mehrfach verwenden werden: In einem abgeschlossenen System ist die Summe der Kräfte null. Denn erstens wirken keine Kräfte von außen (sonst wäre das System nicht abgeschlossen), es bleiben also nur die inneren Kräfte. Ist das System leer oder besteht es aus nur einem Teilchen, gibt es keine inneren Kräfte und die Summe ist null. Besteht es aus zwei und wirkt auf das eine die Kraft F21 , dann wirkt auf das andere nach dem dritten Axiom die Kraft − F21 , und das System als Ganzes erfährt wegen des „vierten“ die Summe der beiden Kräfte, F21 −F21 = 0. Diese Überlegung kann man auf ein System mit beliebig vielen Teilchen erweitern. In einem solchen System ist die Summe der Kräfte gegeben durch N  N  i=1 j=1

 1   1  Fi j + F ji = Fi j − Fi j = 0. 2 2 N

Fi j =

N

N

i=1 j=1

N

(3.18)

i=1 j=1

(Ein Teilchen wirkt nicht auf sich selbst, doch wir müssen hier und im Folgenden die Terme Fii , da sie ohnehin null sind, nicht ausdrücklich aus den Summen ausschließen.) Wir leiten nun die Erhaltung (1) des Impulses, (2) des Drehimpulses und (3) der Energie für ein abgeschlossenes System von N Teilchen, idealisiert als Massepunkte, aus den newtonschen Axiomen ab. Ist N = 0, das System also leer, dann sind Impuls, Drehimpuls und Energie konstant null. Daher müssen wir uns nur mehr um nichtleere Systeme kümmern, also solche mit N ≥ 1. (1) Erhaltung des Impulses Auf jedes Teilchen der Masse m i wirkt eine Kraft Fi und erteilt ihm eine Beschleunigung gemäß Fi = m i r¨ i . Summiert man diese Beziehung über alle Teilchen, ergibt sich N 

Fi =

i=1

N 

m i r¨ i .

i=1

Die Kraft auf ein Teilchen ist die Summe aller von den anderen Teilchen ausgeübten Kräfte: Fi =

N 

Fi j .

j=1

Setzen wir die zweite Beziehung in die erste ein, ergibt sich N  N  i=1 j=1

Fi j =

N  i=1

m i r¨ i .

92

3

Bilder der Natur

Die linke Seite ist die Summe über alle inneren Kräfte und nach (3.18) gleich null. Die rechte Seite und daher ebenfalls gleich null ist die Ableitung des Gesamtimpulses p nach der Zeit: 0=

N 

m i r¨ i =

i=1

N N  d d  dp m i r˙ i = . [m i r˙ i ] = dt dt dt i=1

i=1

Auf diese Weise sind wir zu einer Differentialgleichung für den Impuls gelangt: dp = 0. dt Trennen der Variablen und Integrieren gibt die Lösung p(t) = p(0), wo p(0) der Impuls zu einem beliebigen Anfangszeitpunkt ist. Damit bleibt der Gesamtimpuls zeitlich unverändert, also erhalten. (2) Erhaltung des Drehimpulses Wir betrachten den Drehimpuls in Bezug auf den Koordinatenursprung. Da man jeden Punkt zum Ursprung wählen kann, gelten die Überlegungen für den Drehimpuls in Bezug auf jeden beliebigen Punkt. Der Drehimpuls eines Teilchens mit Masse m i und Ort ri ist Li = m i (ri × r˙ i ). Daher ist der Drehimpuls des gesamten Systems gegeben durch L=

N 

m i (ri × r˙ i ) .

i=1

Seine Ableitung ergibt sich (mit der Produktregel, die auch für Skalar- und Kreuzprodukt gilt) als dL  m i [(˙ri × r˙ i ) + (ri × r¨ i )] . = dt N

i=1

Da das Kreuzprodukt paralleler Vektoren null ist, bleibt   dL  m i (ri × r¨ i ) = ri × m i r¨ i = ri × Fi . = dt N

N

N

i=1

i=1

i=1

3.4 Die Erhaltungsgrößen der Mechanik

Wieder ist Fi =

N 

93

Fi j und damit

j=1

⎛ ⎞ N N N  N N N    dL  ⎝ 1  ⎠ ri × Fi j + r j × F ji ri × Fi j = ri ×Fi j = = dt 2 i=1

j=1

=

1 2

N  N  i=1 j=1

i=1 j=1



i=1 j=1

N  N  1   ri × Fi j − r j × Fi j = ri − r j × Fi j . 2 i=1 j=1

Nun ist ri − r j der Vektor vom Teilchen j zum Teilchen i und damit parallel zu Fi j , da Kräfte zwischen Teilchen stets entlang von deren Verbindungslinie wirken. Folglich sind alle Kreuzprodukte der letzten Summe null und damit auch die zeitliche Ableitung des Gesamtdrehimpulses. Daraus ergibt sich für den Drehimpuls die Gleichung

mit der Lösung

dL =0 dt

L(t) = L(0), wo L(0) der Drehimpuls zu einem beliebigen Anfangszeitpunkt ist. Also bleibt der Gesamtdrehimpuls erhalten. (3) Erhaltung der Energie Für die Erhaltung von Impuls und Drehimpuls spielt die Natur der inneren Kräfte keine Rolle. Die mechanische Energie bleibt hingegen nur für gewisse Kräfte erhalten, was man wie folgt einsieht: Bewegen sich zwei Körper der Masse m mit den Geschwindigkeiten v und −v zentral aufeinander zu, ist die Summe ihrer Bewegungsenergien vor dem Stoß mv 2 . Verschmelzen die Körper beim Stoß zu einem einzigen, so ruht dieser, und die vordem vorhandene Bewegungsenergie ist in eine andere Form, beispielsweise in thermische Energie, umgewandelt. Also bleibt die mechanische Energie nicht erhalten, wenn Verformungskräfte auftreten. Wir zeigen nun, dass sie erhalten bleibt, wenn nur solche Kräfte Fi auftreten, die sich durch den Gradienten einer skalaren Funktion des Orts, einer Potentialfunktion V (r1 , · · · , r N ) gemäß ⎛ ⎞ ∂ V /∂ xi Fi = − ⎝∂ V /∂ yi ⎠ ∂ V /∂z i darstellen lassen. Beispiele sind Gravitation, elektrostatische Anziehung und Abstoßung sowie alle ideal elastischen Kräfte. Die Potentialfunktion heißt potentielle Energie. Ihre Ableitung nach der Zeit ist gegeben durch ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ N N ∂ V /∂ xi d xi /dt   dV ∂ V d x1 ∂ V dz N ⎝∂ V /∂ yi ⎠ · ⎝dyi /dt ⎠ = − Fi · r˙ i , = +...+ = dt ∂ x1 dt ∂z N dt dz i /dt i=1 ∂ V /∂z i i=1

94

3

Bilder der Natur

wo der Multiplikationspunkt in den letzten beiden Summen das Skalarprodukt anzeigt. Wir ersetzen in der letzten Summe Fi gemäß dem zweiten Axiom durch m i r¨ i und erhalten   dV − (m i r¨ i ) · r˙ i = − m i (˙ri · r¨ i ) . = dt N

N

i=1

i=1

Nun ist r˙ i · r¨ i die zeitliche Ableitung von r˙ i2 /2, und damit N N N  dV d r˙ i2 dT d  m i r˙ i2 d  mi Ti = − =− =− =− dt dt 2 dt 2 dt dt i=1

i=1

i=1

mit der kinetischen Energie T des Gesamtsystems als Summe der kinetischen Energien Ti der einzelnen Teilchen. Daraus folgt dV dT + =0 dt dt und für die gesamte mechanische Energie E = V + T , die Summe aus potentieller und kinetischer Energie, die Gleichung dE = 0. dt Sie hat die Lösung E(t) = E(0), wo E(0) der Wert von E zu einem beliebigen Anfangszeitpunkt ist. So zeigt sich, dass in einem System, für dessen innere Kräfte eine Potentialfunktion existiert, die mechanische Energie erhalten bleibt. Das Erhaltungsgesetz der Energie für beliebige Kräfte umfasst alle Energieformen; in makroskopischer Betrachtung sind das mechanische, thermische, elektromagnetische, chemische und Kernenergie. Erhalten ist dann nicht die mechanische Energie, sondern die Summe aller. Zu diesem Gesetz, einer Folgerung aus dem 1. Hauptsatz der Thermodynamik, können wir mit unseren Mitteln allein nicht gelangen.

3.5

Spekulation über Machs Prinzip

Zur Frage, was Wissenschaft sei, gibt es viele Bücher mit sehr vielen Seiten und sehr, sehr vielen Fremdwörtern. Die schönste, treffendste Antwort aber hat der Physiker Ernst Mach in einem einzigen Satz gegeben: „Wissenschaft ist die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen.“ Theorien ergänzen unsere Sinneserfahrung durch Beschreibungen, so dass nicht jedes Problem ein neues Experiment erfordert, das ist

3.5 Spekulation über Machs Prinzip

95

alles. Mit diesem Standpunkt (und einigen anderen) hat Mach die Erkenntnistheorie seiner Zeit so sehr beeinflusst, dass noch Jahrzehnte später die Philosophen des Wiener Kreises unter dem Namen „Verein Ernst Mach“ an die Öffentlichkeit gingen. Einer Idee von Mach, die noch heute Köpfe rauchen lässt, widmen wir uns nun. Aus dem zweiten newtonschen Axiom folgt, dass ein kräftefreier Körper entweder ruht oder sich geradlinig und gleichförmig bewegt. Um einem Körper der Masse m eine Beschleunigung r¨ zu erteilen, ist eine Kraft F = m r¨ nötig. Das wäre, Newton zufolge, auch dann der Fall, wenn der Raum nichts enthielte als den zu beschleunigenden Körper. Der setzt also der Änderung seiner Geschwindigkeit gegenüber dem absoluten Raum eine Kraft F = − m r¨ ,

(3.19)

die Trägheitskraft, entgegen. Mach hingegen vertrat in seinem Buch Die Mechanik in ihrer Entwicklung, historisch-kritisch dargestellt von 1883 [28] die Ansicht, die Bewegung eines Körpers sei ausschließlich als Änderung seiner Lage relativ zu anderen Körpern aufzufassen. An die Stelle des absoluten Raums träten dann die Massen im Universum, und die Trägheitskraft hinge zusammen mit einer Beschleunigung relativ zu diesen. Befände sich m in einem ansonst masselosen Universum, gäbe es keine Trägheit. Das machsche Prinzip, wie Einstein den Gedanken nannte, hat eine Flut von Arbeiten ausgelöst, die bis heute anhält und Esoterisches ebenso umfasst wie ernsthafte Physik. Wir erlauben uns eine Spekulation darüber, wie man Machs Behauptung in der nichtrelativistischen Physik (jener, in deren Begriffen Mach dachte) quantifizieren und auf die Probe stellen könnte. Dazu betrachten wir die Trägheit als eigenständige Erscheinung und berücksichtigen allfällige Bezüge zur Gravitation nicht. Sie soll eine Wechselwirkung zwischen Massen sein und in einem leeren Universum verschwinden: Hat ein Punkt der Masse m von einem Punkt der Masse M den Abstand r, so sei die auf m wirkende, von M hervorgerufene Trägheitskraft gegeben durch FM = −

TM m r¨ , rn

(3.20)

wobei r = |r| ist und die Konstanten T und n vorläufig unbestimmt sind. Die Beziehung ist heuristisch und durch keinen Mechanismus begründet. Alle bekannten Kräfte der Natur: Gravitation, elektromagnetische Kräfte, starke und schwache Wechselwirkung nehmen mit zunehmender Entfernung zwischen den beteiligten Körpern oder Teilchen ab. Soll das auch für die Trägheitskraft gelten, muss in unserem Ansatz n > 0 sein. Mach selbst nahm eine von der Entfernung unabhängige Wirkung an, was n = 0 bedeuten würde. Wir schließen daher von vornherein nur jene Fälle aus, in denen die Kraft mit der Entfernung zunimmt, also n < 0. Die Regel (3.20) mit n = 0 kann aber durch kein Experiment von der newtonschen Auffassung unterschieden werden. Betrachten wir dazu ein Koordinatensystem S, in dem eine zunächst unbeschleunigte Masse m keine Trägheitskraft erfahre. Beschleunigt man nun m, so rührt unserer Heuristik zufolge die resultierende Trägheitskraft von der Summe aller anderen im Universum vorhandenen Massen her,

96

3

Bilder der Natur

gleich wo sich diese im Einzelnen befinden. Denn bezeichnen wir mit Mi diese anderen Massen, mit r¨ i die Beschleunigung von S gegen Mi und mit r¨ die Beschleunigung von m gegen S, dann ist mit (3.20) und n = 0 die Trägheit von m gegeben durch     F Mi = − T Mi m (¨ri + r¨ ) = − T Mi m r¨ i + − T Mi m r¨ ; F= i

i

i

i

hier ist die erste Summe auf der rechten Seite gleich null, weil m, solange nicht gegen S beschleunigt, nach Voraussetzung ohne Trägheitskraft ist, und damit F=



− T Mi m r¨ = − T m r¨

i



Mi .

i

F wird durch Ändern der Lage irgendwelcher Massen nicht beeinflusst, und daher kann man auf diesem Weg nicht feststellen, ob Massen die Trägheit von m verursachen. Sie könnte genau so gut aus der Beschleunigung von m in Bezug auf S resultieren und damit aus der Beschleunigung in Bezug auf den (durch S definierten) absoluten Raum. Man könnte nun, anstatt m zu beschleunigen, einer Masse M die Beschleunigung − r¨ erteilen und erwarten, dass m dadurch eine Kraft gemäß (3.20) erfährt. Aber um M zu beschleunigen, ist eine Kraft M r¨ nötig; nach dem dritten newtonschen Axiom muss dann eine gleich große Gegenkraft auf eine Masse M  wirken und dieser eine Beschleunigung r¨  erteilen derart, dass M r¨ + M  r¨  = 0 ist und die von M induzierte Kraft durch jene von M  aufgehoben wird: F M + F M  = − T Mm r¨ − T M  m r¨  = − T m (M r¨ + M  r¨  ) = 0. Bei Beschleunigung von M bliebe also m weiter ohne Trägheitskraft, wie es auch die newtonsche Sicht vorhersagt. Da wir die Summe der Massen im Universum nicht ändern können, bleibt kein Experiment, Machs Vermutung in ihrer ursprünglichen Fassung, die n = 0 bedingt, zu testen. So untersuchen wir im Folgenden nur mehr n > 0. Wegen der Analogie zu den Abstandsgesetzen von Gravitation und Elektrostatik beschränken wir uns dabei auf ganzzahlige n. Wir ermitteln Werte für T und n nach Maßgabe der Forderung, dass die gesamte Masse des Universums gerade jene Trägheit bewirke, die nach Newton der Raum bewirkt und die durch (3.19) ausgedrückt wird. Dabei treffen wir die (reichlich willkürliche) Annahme, nur jene Massen mögen auf m wirken, die sich innerhalb des von m aus beobachtbaren Universums befinden. Nach Abschn. 2.9 ist dieses eine Kugel vom Radius R = c/H0 mit m im Mittelpunkt. Weiters nehmen wir an, es sei homogen mit der Dichte  = 3H02 /8π G nach (2.27). Da wir unser Universum nun schon so gut kennen, geben wir ihm auch einen Namen: Wir taufen es U , daran ist es vermutlich schon gewöhnt. Vom Masseelement d M = d V von U , von welchem m den Abstand r habe, erfährt m nach (3.20) eine Kraft dF = −

T d V m r¨ . rn

3.5 Spekulation über Machs Prinzip

97

Die einzelnen Masseelemente von U seien gegeneinander nicht beschleunigt. Um die gesamte von U hervorgerufene Trägheitskraft F auf m zu berechnen, wählen wir zunächst kartesische Koordinaten, deren x-Achse mit der Richtung von r¨ zusammenfällt, so dass r¨ = (a, 0, 0) ist. Für F = (Fx , Fy , Fz ) ist dann Fy = Fz = 0, und es bleibt nur mehr Fx zu ermitteln:   T Fx = d Fx = − n ma d V . r U

U

Mit den Kugelkoordinaten von Abschn. 2.2 ist R π/2 2π Fx = − T ma 0 −π/2 0

1 2 r cos θ dϕ dθ dr . rn

Endliche Werte nimmt dieses Integral nur für n < 3 an:  Fx =

− 2π T  R 2 ma n = 1, − 4π T  R ma n = 2.

Da Fx = − ma sein soll, ergeben sich für T die Werte ⎧ ⎪ ⎨

1 4G = 2 = 9,90 · 10−28 m/kg n = 1, 2 3c T = 2π1 R 2G ⎪ ⎩ = = 6,75 · 10−2 m2 /kg n = 2. 4π  R 3H0 c Ist n > 0, so wirken Massen umso stärker, je näher sie sind, womit ihr Einfluss auf die Trägheit prinzipiell beobachtbar wird. Bei n = 2 wäre der Effekt naher Massen so stark, dass wir diesen Fall ausschließen können. Es würden nämlich 15 Kilogramm in 1 Meter Entfernung von m die gesamte Trägheit von m erklären. Denn aus F = F M in (3.19) und (3.20) folgt M = r n /T , woraus sich mit r = 1 m der genannte Wert ergibt. Hingegen wären nach analoger Rechnung bei n = 1 dazu 170 Erdmassen nötig. Die einzige verbleibende Möglichkeit, die man experimentell vom newtonschen Fall unterscheiden könnte, ist also durch n = 1 gegeben: FM = −

4G M m r¨ . 3c2 r

(3.21)

Genaue Resultate können wir aufgrund unserer kühnen Vereinfachungen nicht erwarten. Wir haben das Universum als homogen vorausgesetzt, seine Expansion nicht berücksichtigt und auch nicht Beschleunigungen der einzelnen Massen gegeneinander; nicht in Rechnung gestellt, dass die Trägheit sich mit endlicher Geschwindigkeit, beispielsweise Lichtgeschwindigkeit, übertragen könnte, und auch sonst nichts von dem, was die Relativitätstheorie lehrt. Eine entsprechend tiefer gehende Analyse

98

3

Bilder der Natur

hätte aber nur die Zahlen geändert und nicht die Form des erhaltenen Gesetzes (3.21). Das ist bemerkenswert, weil auch ein völlig anderer Ansatz zu dieser Form führt: 1846 legte Wilhelm Eduard Weber eine mittlerweile vergessene Theorie elektrischer Kräfte vor, die die Tatsache wiedergab, dass bewegte oder beschleunigte Ladungen andere elektrische Kräfte erfahren als ruhende oder unbeschleunigte. Ein Vierteljahrhundert später übertrug Félix Tisserand Webers Formel auf die Gravitation. Dabei ergab sich ein von der Beschleunigung abhängiger Schwerkraftanteil der Gestalt GM m r¨ , c2 r der bis auf den Faktor 4/3 mit unserem Resultat übereinstimmt und noch heute im Mittelpunkt vieler Überlegungen zum Ursprung der Trägheit steht. Nach dem machschen Prinzip müssen Trägheitskräfte auch auftreten, wenn Massen gegeneinander rotieren – ein Satellit spürt die Rotation des Körpers, den er umläuft. 1918 berechneten Joseph Lense und Hans Thirring diesen Effekt auf der Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie, die ihn ebenfalls vorhersagt. Er ist so klein, dass bis in die 1990er-Jahre an einen experimentellen Nachweis nicht zu denken war. Heute, nach zwei Jahrzehnten des Experimentierens, betrachtet ihn die Mehrheit der Physiker als bestätigt.

3.6

Die Maxwell-Gleichungen

James Clerk Maxwell war ein vieltalentierter Mann, prämiert schon als Schüler für herausragende Leistungen in der Mathematik, aber auch für seine Gedichte. Später trug er entscheidend zur statistischen Theorie der Gase bei, beschäftigte sich mit boolescher Logik ebenso wie mit den Ringen des Saturn, besprach Fragen der Moral, übersetzte Sophokles- und Vergiltexte und untersuchte Farbwahrnehmung und Farbenblindheit. Im Dachgarten seines Hauses entstand 1861 das erste Farbfoto der Welt. Doch über allem stehen die Gleichungen, derentwegen man ihn in erster Linie kennt: die Grundgleichungen des Elektromagnetismus, die seinen Namen tragen. Seit der ersten mathematischen Beschreibung elektrischer Kräfte durch CharlesAugustin de Coulomb 1788 war fast ein Jahrhundert vergangen. In dieser Zeit hatte Alessandro Volta die Batterie erfunden (1800); Hans Christian Ørsted hatte entdeckt, dass ein stromdurchflossener Draht eine Kompassnadel ablenken kann (1820); in den Jahren darauf hatten Jean-Baptiste Biot und Félix Savart den Zusammenhang zwischen der Stromstärke, der Geometrie des Stromkreises und seiner magnetischen Wirkung gefunden, André-Marie Ampère die Kräfte zwischen stromdurchflossenen Leitern und Michael Faraday die Induktion: die Erzeugung elektrischen Stroms durch Magnetismus. Für Faraday war der Raum von elektrischen und magnetischen Kräften erfüllt, und aus dieser Vorstellung war der Begriff des Feldes entstanden: der Eigenschaft des Raums, auf einen Körper eine bestimmte Wirkung auszuüben. Maxwell wagte sich an die Gesetze, die hinter all diesen Befunden stecken, und präsentierte sie nach mehreren Teilveröffentlichungen abschließend in seinem Treatise

3.6 Die Maxwell-Gleichungen

99

on Electricity and Magnetism von 1873 [29]. Die Maxwell-Gleichungen verknüpfen elektrische und magnetische Feldstärke mit Ladungs- und Stromdichte und drei materieabhängigen Parametern. Besonders einfach sind sie im Vakuum, wo es keine Materie gibt. Dort lauten sie:  , ε0 div H = 0, div E =

∂H , ∂t ∂E rot H = ε0 + j. ∂t rot E = − μ0

(3.22a) (3.22b) (3.22c) (3.22d)

Hier ist E = (E x , E y , E z ) die elektrische Feldstärke, H = (Hx , Hy , Hz ) die magnetische,  die Ladungs- und j die Stromdichte. Alle diese Größen hängen vom Ort r = (x, y, z) und der Zeit t ab. ε0 ist die elektrische und μ0 die magnetische Feldkonstante. div und rot sind die Vektorfunktionen Divergenz und Rotation: Für das elektrische Feld ist ∂ Ey ∂ Ez ∂ Ex + + , ∂x ∂y ∂z ⎛ ⎞ ∂ E z /∂ y − ∂ E y /∂z rot E = ⎝ ∂ E x /∂z − ∂ E z /∂ x ⎠ , ∂ E y /∂ x − ∂ E x /∂ y

div E =

und Analoges gilt für das magnetische. Die Gleichungen drücken aus: Elektrische Ladungen erzeugen elektrische Felder (3.22a); magnetische Ladungen gibt es nicht (3.22b); sich ändernde Magnetfelder erzeugen elektrische Felder (3.22c); sich ändernde elektrische Felder sowie Ströme erzeugen Magnetfelder (3.22d). Nimmt man drei weitere Formeln hinzu, ist auch der gesamte Elektromagnetismus der Materie erfasst. (3.22a) bis (3.22d) bilden ein System von gekoppelten partiellen Differentialgleichungen für die Lösungsfunktionen E(r, t) und H(r, t). Wir lösen es für den einfachen Fall, dass keine Ladungen und Ströme anwesend sind ( = 0 und j = 0) und E und H nur von x und t abhängen, nicht aber von y und z. Damit folgt aus (3.22a) ∂ Ex = 0, ∂x

(3.23)

∂ Hx = 0, ∂x

(3.24)

⎛ ⎞ ⎞ 0 ∂ Hx /∂t ⎝− ∂ E z /∂ x ⎠ = −μ0 ⎝∂ Hy /∂t ⎠ ∂ E y /∂ x ∂ Hz /∂t

(3.25)

aus (3.22b)

aus (3.22c)



100

und aus (3.22d)

3

Bilder der Natur



⎛ ⎞ ⎞ 0 ∂ E x /∂t ⎝− ∂ Hz /∂ x ⎠ = ε0 ⎝∂ E y /∂t ⎠ . ∂ Hy /∂ x ∂ E z /∂t

(3.26)

Gemäß (3.23) und (3.26) hängt E x weder von x noch von t ab und ist daher konstant. Ebenso ist wegen (3.24) und (3.25) Hx konstant. Wir betrachten ab nun den Sonderfall, wo beide null sind. (Am Ende diskutieren wir kurz, was geschieht, wenn man die Einschränkungen, die wir getroffen haben und noch treffen werden, aufhebt.) In (3.25) steckt die Beziehung ∂ Hy ∂ Ez = μ0 , ∂x ∂t

(3.27)

während aus (3.26) nach Multiplikation mit μ0 ε0 μ0

∂ Hy ∂ Ez = μ0 ∂t ∂x

(3.28)

folgt. Differenziert man (3.27) partiell nach x und (3.28) partiell nach t, entstehen zwei Beziehungen, deren rechte Seiten gleich sind; also sind es auch die linken, und das führt mit der Bezeichnung c2 für 1/ε0 μ0 auf 2 ∂ 2 Ez 2 ∂ Ez = c . ∂t 2 ∂x2

(3.29)

Die Gleichung kennen wir: Es ist die eindimensionale Wellengleichung (1.45). Ihre Lösung beschreibt, wie in Abschn. 1.11 gezeigt, eine Welle, die sich mit Geschwindigkeit c in x-Richtung ausbreitet und quer zur Ausbreitungsrichtung schwingt. In (3.29) ist dieses c, wie schon Maxwell ahnte, nichts anderes als die Lichtgeschwindigkeit. Eine gleichartige Welle folgt aus (3.27) und (3.28) für Hy . Nun treffen wir eine weitere Einschränkung, nämlich E y = Hz = 0, was sich mit dem Bisherigen verträgt, und sind auf diese Weise zu einer Lösung der Maxwell-Gleichungen gelangt: einer ebenen Welle des elektrischen Feldes, die sich in x-Richtung fortpflanzt und in z-Richtung schwingt, begleitet von einer ebenen Welle des magnetischen Feldes, die sich ebenfalls in x-Richtung fortpflanzt, aber in y-Richtung – und damit senkrecht zum elektrischen Feld – schwingt. Dass Maxwells Wellen mit Lichtgeschwindigkeit fortschreiten, nährte den Verdacht, Licht sei eine elektromagnetische Welle. Ebene Lichtwellen entsprechen linear polarisiertem Licht. Hätten wir auch E y und Hz ungleich null zugelassen, wären wir zu anderen Wellen gekommen, beispielsweise zu zirkular polarisierten. Hätten wir E und H auch von y und z abhängen lassen, wäre das Ergebnis eine Ausbreitung in alle Richtungen gewesen. Hätten wir die Zeitabhängigkeit entfernt, hätten sich stationäre Lösungen ergeben. Und durch das Hinzunehmen von Materieeigenschaften erschließen Maxwells Gleichungen die gesamte klassische Elektrodynamik.

3.7 Wie Populationen wachsen

3.7

101

Wie Populationen wachsen

In den bisherigen Abschnitten dieses Kapitels stand die unbelebte Natur im Mittelpunkt, nun konzentrieren wir uns auf Aspekte des Lebens. Zunächst auf das Wachsen und Vergehen von Populationen. Die Lebewesen, die eine Population bilden, können Pflanzen, Tiere oder Menschen sein, und unsere Frage ist, nach welchen Gesetzen sich ihre Anzahl im Lauf der Zeit entwickelt. (1) Exponentielles Wachstum Wir beginnen mit einem einfachen Modell: Wie viele Lebewesen pro Zeiteinheit hinzukommen und wie viele verschwinden, hängt davon ab, wie viele da sind; je mehr es gibt, desto mehr werden geboren und desto mehr sterben. Die Änderung d N der Anzahl N der Lebewesen, bezogen auf die Zeitspanne dt, ist proportional zu N : dN = λ1 N − λ2 N , dt wobei λ1 N die Anzahl der Geburten und λ2 N die Anzahl der Tode pro Zeiteinheit bezeichnen. Sofern die Differenz zwischen spezifischer Geburt- und Sterberate, λ = λ1 − λ2 , zeitlich konstant ist, ergibt sich die Gleichung dN = λN . dt

(3.30)

Ihre Lösung erhält man durch Trennen der Variablen und Integrieren: N (t) = N (0) eλt .

(3.31)

Sie beschreibt drei mögliche Szenarien: für λ > 0 unbeschränktes Wachstum, für λ = 0 konstante Größe und für λ < 0 das Aussterben der Population (Abb. 3.4).

Abb. 3.4 Exponentielles Wachstum gemäß (3.31). Drei Szenarien mit gleicher Anfangsgröße N (0) der Population

102

3

Bilder der Natur

Für die Weltbevölkerung hat Thomas Malthus 1798 ein Modell exponentiellen Wachstums mit λ > 0 als gegeben angenommen, und es hat ihn zu einer pessimistischen Prognose veranlasst. In An Essay on the Principle of Population schrieb er: „The power of population is indefinitely greater than the power in the earth to produce subsistence for man“, denn: „Population, when unchecked, increases in a geometrical ratio“. Dieses Missverhältnis zwischen dem Wachstum der Weltbevölkerung und der Fähigkeit der Erde, ihre Bewohner auf Dauer zu ernähren, werde zu Hunger und Armut führen. Dem könne man nicht durch Steigerung der Produktion begegnen, sondern nur durch vorausschauende Begrenzung des Wachstums. (2) Logistisches Wachstum Nehmen wir nun an, der Lebensraum einer Population sei beschränkt, so dass auf Dauer höchstens K Individuen in ihm existieren können. Die Vermehrungsrate d N /dt könnte dann sowohl proportional zu N sein als auch proportional zum verbleibenden Kapazitätsanteil 1 − N /K :  N dN = λN 1 − dt K

(3.32)

mit λ > 0. Was folgt daraus? Zunächst erkennt man, dass für K → ∞, wie zu erwarten, (3.32) in (3.30) übergeht. Für K < ∞ trennen wir die Variablen und integrieren:   dN = λ dt.  N N 1− K Den linken Integranden zerlegen wir in Partialbrüche, 

1

N N 1− K

=

1 1 + , N K−N

und erhalten 

  dN dN + = λ dt, N K−N    N   = λt + C, ln  K −N K N (t) = . 1 + Ce−λt

Wir ermitteln den Wert von C und damit das logistische Wachstumsgesetz: N (0) =

K 1+C

−→

C=

K − 1, N (0)

3.7 Wie Populationen wachsen

103



N (t) = 1+

K . K − 1 e−λt N (0)

(3.33)

Während exponentielles Wachstum unbeschränkt ist, gilt hier stets lim N (t) = K ; t→∞ damit nähert sich die Anzahl der Individuen der Kapazität des Lebensraums (Abb. 3.5).

Abb. 3.5 Logistisches Wachstum gemäß (3.33) für verschiedene Anfangswerte. N nähert sich der Kapazität K des Lebensraums

Die Gl. (3.32) lässt sich auch noch aus einem anderen Blickwinkel sehen. Ohne sie zu lösen, kann man Gleichgewichte finden: Zustände, in denen sich die Größe der Population nicht ändert, also d N /dt = 0 ist. Offensichtlich gibt es zwei solcher Zustände: N = 0 und N = K . Das erste Gleichgewicht ist labil; denn ändert sich N um einen kleinen Wert, N = ε mit 0 < ε < K , dann ist  ε dN >0 = λε 1 − dt K und N wird weiter wachsen. Das zweite Gleichgewicht ist stabil; vergrößert sich N ein wenig, N = K + ε mit ε > 0, dann ist  dN K +ε 0 und diese Population wächst. Tauchen Exemplare beider auf, wachsen beide. Ein weiteres Gleichgewicht liegt bei N1 = 0, N2 = K 2 vor. Ob es stabil ist, hängt von den Parametern des Systems ab; es ist sowohl möglich, dass N1 = ε1 ein Wachsen von N1 auslöst, als auch, dass die Art wieder ausstirbt; und Analoges gilt für N2 = 0, N1 = K 1 .

106

3

Bilder der Natur

Ein drittes kann existieren, muss aber nicht. Sind N1 , N2 > 0 und μ1 μ2 = 1, dann hat (3.34) ein Gleichgewicht der Form μ2 K 2 K1 K1, N1 = 1 − μ1 μ2 μ1 K 1 1− K2 N2 = K2. 1 − μ1 μ2 1−

(3.35a)

(3.35b)

Dieses ist stabil, sofern μ1 K 1 /K 2 < 1 und μ2 K 2 /K 1 < 1 gilt. Andernfalls ist es entweder nicht realisierbar, weil eine der Populationsgrößen negativ wäre, oder aber instabil – dann verdrängt eine Spezies die andere. Welche in diesem Fall die Oberhand behält, hängt von den Parametern des Systems und den Anfangsbedingungen ab. Mit (3.34) liegt ein System gekoppelter nichtlinearer Gleichungen ohne allgemeine analytische Lösung vor. Wir verwenden einmal mehr Eulers Differenzenmethode, um Lösungsverläufe Ni (t) zu erhalten. Abb. 3.8 zeigt zwei mögliche Szenarien.

Abb. 3.8 Zwei mögliche Entwicklungen zweier Populationen gemäß (3.34) bei gleichen Anfangszuständen, aber verschiedenen Parameterwerten. (i) N1 und N2 streben gegen stabile Gleichgewichtwerte (durchgezogen). (ii) Eine Art verdrängt die andere (punktiert)

Bereits die Konkurrenz nur zweier Populationen lässt eine Vielfalt von Geschehnissen zu, und was tatsächlich passieren wird, hängt oft empfindlich von Parametern und Anfangsbedingungen ab. Denkt man an die unzähligen konkurrierenden Arten der Wirklichkeit, die noch dazu in einer zeitlich veränderlichen Umwelt leben, so kann man ermessen, wie schwierig (und in vielen Fällen unmöglich) es ist, die Auswirkungen von Eingriffen in die Natur vorherzusehen.

3.8 Koexistenz, Konkurrenz, Räuber und Beute

107

(3) Räuber und Beute Eine weitere Beziehung zwischen zwei Arten ist jene, wo sich eine von der anderen ernährt, wie der Fuchs von der Maus. Für solche Fälle haben Alfred Lotka 1925 und, unabhängig von ihm, Vito Volterra 1926 ein Modell geschaffen. Volterras Ausgangspunkt war die scheinbar paradoxe Beobachtung, dass in einer Zeit reduzierten Fischfangs die nunmehr verschonten Speisefische, Makrele und Thunfisch, weniger wurden, während ihre Jäger, die Haie, sich auffallend vermehrten. Die Überlegungen, die zu Lotkas und Volterras Gleichungen führen, lauten zusammengefasst wie folgt. Gäbe es keine Beute, nähme die Anzahl R der Räuber proportional zu ihrem augenblicklichen Wert ab: d R/dt = −λ R R; die Abnahme wird durch die Beute verlangsamt oder in eine Zunahme verwandelt: d R/dt = −λ R R(1 − μ B B). Die Größe B der Beutepopulation nähme ohne Räuber zu: d B/dt = λ B B; ihre Zunahme wird durch die Räuber gebremst oder in eine Abnahme verwandelt, so dass sich insgesamt die Lotka-Volterra-Gleichungen dR = −λ R R (1 − μ B B) , dt dB = λ B B (1 − μ R R) dt

(3.36a) (3.36b)

ergeben. Neben dem offensichtlichen Gleichgewicht R = B = 0, wo also weder Räuber noch Beute existieren, gibt es ein einziges weiteres, R = 1/μ R , B = 1/μ B , das aber nur dann angenommen würde, wenn R und B zufällig genau diese Anfangswerte hätten. In realen Fällen bildet sich stattdessen eine periodische Schwingung aus, wie in Abb. 3.9 gezeigt. Eine Darstellung, die zwar das Zeitverhalten der Veränderungen nicht wiedergibt, aber die gegenseitige Beeinflussung der Populationsgrößen verständlich macht, ist Abb. 3.10.

Abb. 3.9 Periodische Zu- und Abnahme der Anzahlen R der Räuber- und B der Beuteexemplare nach (3.36)

108

3

Bilder der Natur

Abb. 3.10 Zusammenhang zwischen Räuber- und Beutepopulation nach (3.36) für drei verschiedene Anfangsbedingungen. Gibt es wenige Räuber, vermehrt sich die Beute (unten); dadurch steigt die Anzahl der Räuber (rechts); diese dezimieren die Beute (oben); der resultierende Mangel an Beute verkleinert die Räuberpopulation (links), worauf der Kreislauf von vorn beginnt

Das Modell (3.36) berücksichtigt nicht die intraspezifische Konkurrenz, die dem logistischen Gesetz zugrunde liegt. Nimmt man diese hinzu, erhält man mit den Kapazitäten K R für Räuber und K B für Beute  dR R − μB B , = −λ R R 1 + dt KR  dB B − μR R . = λB B 1 − dt KB

(3.37a) (3.37b)

Die intraspezifische Konkurrenz dämpft das Schwingen der Populationsgrößen und lässt diese einem Gleichgewicht zustreben. Für ein System, in dem (zumindest anfangs) Räuber und Beute existieren, gibt es zwei Möglichkeiten: (i) Ist μ B K B > 1, dann sind die Gleichgewichtwerte durch −1 + μ B K B K R, 1 + μR μB K R K B 1 + μR K R B= KB 1 + μR μB K R K B R=

gegeben. Das entspricht der Situation von Abb. 3.11 und 3.12.

(3.38a) (3.38b)

3.9 Gene, Fitness, Selektion

109

Abb. 3.11 Gedämpfte Zu- und Abnahme der Anzahlen R der Räuber- und B der Beuteexemplare nach (3.37)

Abb. 3.12 Zusammenhang zwischen Räuber- und Beutepopulation nach (3.37). Das System strebt einem Gleichgewicht zu

(ii) Ist μ B K B ≤ 1, dann ist die Beute zu spärlich oder zu wenig nahrhaft; die Räuber sterben aus und es ergibt sich R = 0, B = KB.

(3.39a) (3.39b)

Zuletzt spüren wir noch einen Effekt auf, den das System (3.37) bereithält: Reduziert man, ausgehend vom Gleichgewicht in Abb. 3.12, den Bestand der Räuber oder der Beute oder beider, beispielsweise weil man sie als Schädlinge bekämpft, gelangt man in den äußeren Bereich der Spirale – und erlebt einige Zeit später eine Plage ungeahnten Ausmaßes. So geschehen zu Beginn der massenhaften Anwendung von Pestiziden in den 1950er-Jahren [54]. Das kommt davon, wenn man die Differentialgleichungen nicht beachtet.

3.9

Gene, Fitness, Selektion

Gene sind jene Abschnitte der DNA von Mensch, Tier und Pflanze, die die Erbinformation tragen. Der Mensch beispielsweise hat zwischen 20 000 und 30 000 Gene in

110

3

Bilder der Natur

jeder Zelle, lokalisiert in 46 Chromosomen im Zellkern, und alle Zellen eines Menschen haben den gleichen Chromosomensatz. Von den 46 Chromosomen treten 44 in Paaren auf. Die beiden Gene, die an einander entsprechenden Orten eines Chromosomenpaars – am Genort oder kurz Ort – liegen, bilden ein Paar von Allelen. Wir betrachten nun einen solchen Ort und gehen der Frage nach, wie sich die Häufigkeiten der dort möglichen Allele im Genpool (der Gesamtheit der Gene einer Population) mit der Zeit entwickeln. Dabei folgen wir im Wesentlichen der Darstellung in [41]. (1) Die Fisher-Haldane-Wright-Gleichungen Sei N (t) die Anzahl der Individuen und damit auch die Anzahl der Allelpaare (am betrachteten Ort, was wir künftig nicht mehr erwähnen) in einer Population. Seien weiters A1 , . . . , An die möglichen Allele und Ni j die Anzahl der Allelpaare (Ai , A j ) in der Population. Dann ist die relative Häufigkeit des Paars (Ai , A j ) gegeben durch Ni j (t) . pi j (t) = N (t) Um Schwierigkeiten der Zählung gering zu halten, denken wir uns die Chromosomen jedes Paars willkürlich in eine Reihenfolge gebracht, so dass zwischen den Paaren (Ai , A j ) und (A j , Ai ) unterschieden werden kann, und zählen das erste Allel jedes Paars. Unter diesen sei Ni (t) die Anzahl der Ai und deren relative Häufigkeit damit pi (t) =

Ni (t) . N (t)

Ist der Typ des ersten Allels im Paar unabhängig von dem des zweiten (und dann auch der zweite vom ersten), gilt pi j = pi p j . Klarerweise ist Ni =

n 

Ni j

j=1

und N=

n  i=1

Ni =

n  n 

Ni j .

i=1 j=1

Jeder Genotyp (Ai , A j ) verändere seine Anzahl gemäß (3.30): N˙ i j = λi j Ni j ; seine spezifische Wachstumsrate λi j nennt man Fitness. Unter diesen Voraussetzungen ermitteln wir nun, wie sich die relative Häufigkeit eines Allels entwickelt.

3.9 Gene, Fitness, Selektion

111

Aus pi = Ni /N folgt n 

n n  

N˙ i j

N˙ kl N˙ N˙ i N − Ni N˙ N˙ i j=1 k=1 l=1 p˙ i = = − pi = − pi N2 N N N N n n  n   λi j Ni j λkl Nkl n  n n   j=1 k=1 l=1 = λi j pi j − pi λkl pkl − pi = N N j=1

=

n 

λi j pi p j − pi

j=1

n  n 

k=1 l=1

λkl pk pl ,

k=1 l=1

so dass wir schließlich ein System von gekoppelten Differentialgleichungen für p1 , . . . , pn erhalten, die Fisher-Haldane-Wright-Gleichungen ⎛ p˙ i = pi ⎝

n 

n  n 

λi j p j −

j=1

⎞ λkl pk pl ⎠ .

(3.40)

k=1 l=1

Die erste Summe in der Klammer ist die Fitness λi des Allels Ai ; denn

N˙ i =

n 

N˙ i j =

j=1

n 

λi j Ni j =

j=1

n 

n 

λi j pi j N =

j=1

⎛ λi j pi p j N = ⎝

j=1

n 

⎞ λi j p j ⎠ Ni = λi Ni

j=1

mit λi =

n 

λi j p j .

j=1

Die zweite Summe in der Klammer von (3.40) ist die Fitness λ der Population:

N˙ =

n  n  k=1 l=1

N˙ kl =

n  n 

λkl Nkl =

k=1 l=1

n  n 

⎛ λkl pkl N = ⎝

k=1 l=1

n  n 

⎞ λkl pk pl ⎠ N = λN

k=1 l=1

mit λ=

n  n 

λkl pk pl .

k=1 l=1

Die Fisher-Haldane-Wright-Gleichungen erhalten damit die einfache Form p˙ i = pi (λi − λ).

(3.41)

112

3

Bilder der Natur

(2) Der Fundamentalsatz der natürlichen Selektion Die relative Häufigkeit eines Allels steigt nach (3.41) in dem Maß, in dem seine Fitness höher ist als die der Population. Da sich fitte Allele stärker vermehren als weniger fitte (und unterdurchschnittlich fitte sich gar vermindern), kann man annehmen, dass die Fitness einer Population im Allgemeinen mit der Zeit steigt. Dass das stimmt, zeigen wir nun. Wegen λi j = λ ji ist zunächst λ˙ =

n n  n n n n    d  λi j pi p j = 2 λi j p˙ i p j = 2 λi p˙ i = 2 λi pi (λi − λ). dt i=1 j=1

i=1 j=1

i=1

i=1

Wir formen die Summe rechts um und verwenden dabei, dass (i) die Summe aller n  relativen Häufigkeiten 1 ist: pi = 1, und (ii) aus den obigen Definitionen von λi n 

und λ sich

i=1

λi pi = λ ergibt:

i=1 n 

λi pi (λi − λ) =

i=1

n 

λi2 pi −

i=1

=

n 

n 

 λi pi λ + λ −

i=1

λi2 pi − 2

n 

i=1

i=1

λi pi λ +

n 

n 

λi pi + λ

i=1

pi λ2 =

i=1

0 n 

n  i=1

 pi

pi (λi − λ)2 .

i=1

Damit wird λ˙ = 2

n 

pi (λi − λ)2 ≥ 0.

(3.42)

i=1

Die Fitness der Population sinkt also nie; ihre Zunahme ist proportional zur Varianz der Fitnesswerte der Allele in der Population. Das ist der Fundamentalsatz der natürlichen Selektion. Der Fundamentalsatz wurde erstmals von Ronald Aylmer Fisher im Jahr 1930 formuliert [19]. Zu dieser Zeit war die Struktur der DNA unbekannt und der Begriff des Gens dementsprechend unscharf, was Fishers Leistung noch aufwertet. Trotz seiner grundlegenden Resultate als Biologe und Genetiker ist Fisher der Nachwelt eher als Statistiker bekannt. Auf ihn gehen viele Standards der klassischen Statistik zurück, darunter Maximum-Likelihood-Methode und Varianzanalyse, Fisher’s Z, Fisher-Verteilung und Fisher-Information sowie das Prinzip des Signifikanztests. Im Bewusstsein ist Statistikern auch sein beinahe lebenslanger Streit mit den Vertretern der bayesschen Wahrscheinlichkeitsauffassung, der noch heute weiterlebt. Die Erkenntnisse dieses Abschnitts gelten für Populationen ohne Mutation und ohne Zuwanderung in den Genpool oder Abwanderung aus ihm; für Verhältnisse, die zwar idealisiert sind, aber den tatsächlichen oft nahe kommen.

3.10 Fraktale Dimensionen. Rätsel des Tigers

3.10

113

Fraktale Dimensionen. Rätsel des Tigers

Ein ausgewachsener Kater ist einen halben Meter lang und fünf Kilogramm schwer. Ein 6-mal so langer Tiger ist, bei gleichen Proportionen, auch 6-mal so breit und 6-mal so hoch, hat also das 6 × 6 × 6 = 216-fache Volumen. Und da er aus dem gleichen (Katzen mögen mir die Respektlosigkeit verzeihen) Material besteht, sollte er 216-mal so schwer sein, also eine Tonne auf die Waage bringen. Der Tiger wiegt aber keine Tonne, sondern nur ein Viertel davon. Die Frage, wo die fehlende Masse geblieben ist, führt uns zum Begriff der fraktalen Dimension. Misst man die Länge einer Strecke, muss man den Maßstab soundso oft anlegen; halbiert man den Maßstab, muss man ihn doppelt so oft anlegen. Misst man eine Fläche mit einem Quadrat als Maßstab, dann passt dieses soundso oft hinein; halbiert man aber die Seite des Quadrats, dann passt es nicht zweimal, sondern viermal so oft in die Fläche. Und ein Würfel mit halber Kantenlänge passt achtmal so oft in ein gegebenes Volumen wie der ursprüngliche. Allgemein passt ein in der Länge um den Faktor k verkleinerter Maßstab k n -mal so oft in ein n-dimensionales Objekt wie der ursprüngliche. Das ist nichts Neues; doch sehen wir, was daraus nach einer Entdeckung von Lewis Richardson für die Küstenlinie von Großbritannien folgt: An ihr kann man einen 100 Kilometer langen Maßstab 38-mal anlegen; einen halb so langen jedoch weit mehr als doppelt so oft, weil der kleinere Maßstab den Unregelmäßigkeiten der Küste besser folgt als der größere. Verkleinert man den Maßstab um den Faktor k, passt er nicht k-mal, sondern k 1,36 -mal so oft in die Küstenlinie. Die Küste von Großbritannien scheint also nicht, wie eine normale Linie, die Dimension 1 zu haben, sondern die Dimension 1,36: eine gebrochene oder fraktale Dimension. Ausgehend vom gewöhnlichen Potenzgesetz für Länge, Fläche und Rauminhalt sind wir zu einem merkwürdigen Ergebnis gelangt, das aber nicht nur die Küste von Großbritannien betrifft, sondern beinahe alle Objekte der Natur: Felsen, Bäume, Wolken, Berge oder Galaxienhaufen ebenso wie sämtliche Lebewesen haben fraktale Dimensionen. Das ist kein Zufall, sondern ein notwendiges Konstruktionsprinzip. Bedenken wir beispielsweise, dass Warmblüter einen großen Teil ihrer Nahrung dazu verwenden, den Körper warm zu halten. Der Wärmeverlust eines solchen Tiers ist etwa proportional zu seiner Hautoberfläche, also bei gleichem Körperbau proportional zum Quadrat seiner Länge. Der Tiger verliert demnach 36-mal so viel Wärme über seine Haut wie der Kater. Wäre die Stoffwechselrate proportional zum Volumen der beteiligten Organe, so könnte der Tiger 216-mal so viel Nahrung verwerten wie der Kater, womit die Wärmebilanz zumindest eines der beiden nicht stimmen würde. Die Organe gleichen aber, wie alle Gewebe, nicht massiven Körpern, sondern unzählige Male gefalteten Flächen; sie haben eine fraktale Dimension von rund 2,22 und verändern sich daher mit der Körpergröße etwa im gleichen Maß wie die Hautoberfläche, so dass kleine wie große Tiere warm bleiben. Oder nehmen wir die Tragfähigkeit einer Struktur. Bei Tieren wird diese oft vom Querschnitt der Knochen, Sehnen und Muskeln bestimmt, bei stehenden Pflanzen vom Querschnitt ihrer Stämme und Zweige. Ein nur mit dem Quadrat der Größe steigender Querschnitt könnte aber nicht ein mit der dritten Potenz der Größe steigendes Gewicht tragen,

114

3

Bilder der Natur

und auch hier hat sich die Natur fraktaler Dimensionen bedient – große Bäume brechen nicht zusammen und Tiger können laufen und springen. Die fraktale Dimension lässt sich exakt fassen als Koeffizient in den Grundgleichungen der Allometrie, der Wissenschaft von der Messung einer Größe durch eine andere. Diese Gleichungen bestimmen wir nun und nehmen dazu als Beispiel das Volumen einer Kugel, V =

4πr 3 . 3

Wir leiten V nach r ab, dV = 4πr 2 , dr trennen die Variablen und dividieren beide Seiten durch V : dV dr 4πr 2 dr =3 = . 3 V r 4πr 3 Das Resultat sagt, dass die relative (kleine) Änderung des Volumens das 3-fache der relativen (kleinen) Änderung des Radius ist: Ein um 1 % größerer Radius geht mit einem um 3 % größeren Volumen einher. Der Faktor 3 ist dabei gerade die Dimension des Volumens. Für die (2-dimensionale) Oberfläche O = 4πr 2 erhalten wir auf analogem Weg dO dr =2 O r und für den (1-dimensionalen) Umfang U = 2πr dU dr =1 . U r Stehen also zwei positive Größen x und y in der Relation dy dx =D , y x

(3.43)

dann ist D die Dimension von y in Bezug auf x. (3.43) ist die Differentialgleichung der Allometrie. Integrieren ergibt die Lösung y(x) = C x D ,

(3.44)

die Otto Snell 1892 beschrieben hat [53]. Im Reich der Katzen werden Masse m und Körperlänge L durch die allometrische Gleichung dm dL = 2,22 m L

3.11 Woher wissen alle, wohin? Schwärme

115

verknüpft. Sie hat die Lösung m(L) = C L 2,22 . Mit den Daten des Katers, m(0,5) = 5, folgt C = 5/0,52,22 = 23,3, also m(L) = 23,3 L 2,22 , wenn die Masse in Kilogramm und die Länge in Metern gemessen werden. Für den Tiger ergibt sich m(3) = 23,3 · 32,22 = 267 kg. Damit ist das Rätsel des Tigers gelöst.

3.11

Woher wissen alle, wohin? Schwärme

1986 beobachtete Craig Reynolds einen Schwarm Amseln und beschloss, das Verhalten in einem Computerprogramm nachzubilden. So wurde die Wissenschaft von den Schwärmen geboren. Bemerkenswert am Schwarmverhalten ist, dass eine scheinbar zielgerichtete Bewegung einer großen Anzahl von Individuen (Vögeln, Fischen, Insekten, aber auch Menschen) keinerlei übergeordnete Steuerung erfordert, sondern das Resultat einfacher Regeln ist, denen jedes Individuum folgt. Ein solches Regelwerk beschrieben Felipe Cucker und Steve Smale 2007, wobei sie einen Vogelschwarm vor Augen hatten [12]. Jeder Vogel passe seine Geschwindigkeit in Größe und Richtung den anderen im Schwarm an. Er orientiere sich dabei an jedem anderen, und zwar umso stärker, je näher ihm der andere ist. Für den Ortsvektor r, den Geschwindigkeitsvektor r˙ und den Beschleunigungsvektor r¨ jedes Exemplars i ist dann nach Cucker und Smale r¨ i = k

N  j=1

r˙ j − r˙ i (a + |r j − ri |2 )b

(3.45)

mit k, a > 0 und b ≥ 0. Die Summe läuft über alle N Vögel des Schwarms. Das Modell enthält manche (in aufwändigeren Modellen berücksichtigte) Komponenten nicht, beispielsweise Reize von außerhalb des Schwarms oder einen Mechanismus zum Verhindern von Kollisionen, doch die schwarmtypische scheinbare Zielstrebigkeit lässt sich an ihm erkennen. Wir lösen das System numerisch mit Eulers Verfahren von Anhang B.8, indem wir, ausgehend von Anfangswerten für Orte und Geschwindigkeiten, die Beschleunigungen nach (3.45) berechnen und dann neue Orte Geschwindigkeiten gemäß ri (t + t) = ri (t) + r˙ i (t) t, r˙ i (t + t) = r˙ i (t) + r¨ i (t) t bestimmen. Ein Lösungsbeispiel ist in Abb. 3.13 gezeigt.

116

3

Bilder der Natur

Abb. 3.13 Zweidimensionale Simulation eines Schwarms von 50 Vögeln zu Beginn (links unten) und nach 10 Sekunden (rechts oben) gemäß (3.45) mit k = 5 und a = b = 1 (alle Einheiten basieren auf Metern und Sekunden). Die Anfangspositionen sind zufällig in einem Quadrat von 25 Metern Seitenlänge gewählt, die Anfangsgeschwindigkeiten in jeder Koordinate zufällig zwischen −1 und +9 Metern pro Sekunde, die Bildfläche beträgt 70 × 70 Meter im Quadrat

4

Der Mensch

Das Thema dieses Kapitels ist der Mensch. In seinem Kopf entstehen alle Theorien, und so ist er gleichermaßen Akteur und Objekt der Forschung: als Individuum aus Körper und Geist, mit dessen Betrachtung wir beginnen; in seinem kollektiven Erleben und Wirken, das uns danach beschäftigen wird; aber auch als Veränderer der Umwelt und als Gefahr für sich selbst, womit wir schließen werden.

4.1

Die Skala der Empfindungen

Meine Frau ist Pianistin, ich weniger, und zu Hause haben wir ein Klavier. Eines Tages mischte ich in einen Begleitakkord ein G, wo der Komponist der Ansicht gewesen war, dort gehöre ein Gis hin. Nun liegt das G nur um einen Halbton unter dem Gis. Auf dem Klavier ist das der kleinstmögliche Tonabstand und für einen Musiker meiner Klasse so gut wie ein Volltreffer. Für meine Frau nicht. Die rief mir aus dem Nebenzimmer durch die geschlossene Tür zu: „Linke Hand, zweiter Finger einen Halbton höher!“ Sehen wir einmal von der gespenstischen Tatsache ab, dass ein Mensch bei einem Musikstück, das er nicht kennt und dessen Noten er noch nie gesehen hat, durch bloßes Zuhören sagen kann, wann wo welcher Finger sein sollte. Dann bleibt die Frage, wie man Tonunterschiede hört und wovon es abhängt, welche Unterschiede man hört. Machen Sie dazu (sofern Sie nicht ohnehin Bescheid wissen) folgenden Versuch: Sie schlagen am Klavier, in der Mitte der Klaviatur, nacheinander G und Gis an (Abb. 4.1). Wiederholen Sie den Versuch eine Oktave höher und eine Oktave tiefer. Sie werden den Unterschied zwischen G und Gis in allen Fällen gleich empfinden. Dabei sind die Differenzen der Grundfrequenzen ganz verschieden: Im ersten Versuch beträgt die Differenz 23,309 Hz, im zweiten 46,619 Hz, im dritten 11,655 Hz (alle Werte gelten für ein temperiert auf den Kammerton a1 = 440 Hz gestimmtes Instrument). Was gleich bleibt, sind Verhältnisse; beispielsweise das Verhältnis zwischen der Differenz der Grundfrequenzen,  f , und der Grundfrequenz f des tieferen

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Tschirk, Der Laplacesche Dämon, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61647-5_4

117

118

4 Cis Dis

C

D E

Fis Gis Ais

F

Cis Dis

G A H C

D E

Der Mensch

Fis Gis Ais

F

G A H

Abb. 4.1 Ausschnitt aus einer Klaviatur. Der Abstand zwischen zwei aufeinander folgenden Tönen heißt Halbton, der Abstand zwischen einem Ton und dem nächsten gleichnamigen heißt Oktave und entspricht einer Verdopplung der Grundfrequenz

Tons. Die Grundfrequenz des G beträgt im ersten Versuch 391,995 Hz, im zweiten 783,991 Hz, im dritten 195,998 Hz, und f 23,309 46,619 11,655 = = = = 0,05946. f 391,995 783,991 195,998 Dasselbe Verhältnis finden wir auch bei jedem anderen Halbtonschritt, und es bestimmt die Empfindung: Die Differenz E zwischen den Empfindungen der beiden Tonhöhen entspricht dem Verhältnis zwischen der Frequenzdifferenz  f und der Frequenz f des tieferen Tons: E =

f . f

Dieser Zusammenhang gilt nicht nur für Halbtonschritte, sondern für jegliche Entfernung zwischen zwei Tönen. Daher gilt er auch im Grenzfall  f → 0 . Hier treffen tieferer und höherer Ton zusammen; wir hätten also alle Überlegungen auch mit der Grundfrequenz des höheren Tons anstellen können, denn in beiden Fällen führt der Grenzübergang zur Differentialgleichung dE =

df f

(4.1)

mit getrennten Variablen (Empfindung E und Frequenz f ). Integrieren ergibt E = ln f + C. Durch Festlegen eines Empfindungsnullpunkts: jener Frequenz f 0 , bei der E = 0 ist: 0 = ln f 0 + C, bestimmen wir C = − ln f 0 und erhalten mit   f E = ln f0 eine Empfindungsskala für Tonhöhen.

(4.2)

4.2 Lernen und Vergessen

119

Von der Wahl des Nullpunkts unbeeinflusst bleibt das Gesetz, dass die Empfindung einer Tonhöhe mit dem Logarithmus der Frequenz steigt. Das ist gleichbedeutend damit, dass gleiche relative Änderungen der Frequenz zu gleichen absoluten Änderungen der Empfindung führen. So wird eine Verdopplung der Frequenz (ein Oktavsprung) stets als gleiche Veränderung empfunden, unabhängig davon, in welchem Tonhöhenbereich sie stattfindet. Das Gesetz gilt nicht nur für Tonhöhen. Im Jahr 1834 bemerkte Ernst Heinrich Weber, dass manche Sinnesorgane die Veränderung eines Reizes gerade noch wahrnehmen, wenn diese zur Größe des davor empfangenen Reizes in einem bestimmten, stets gleichen Verhältnis steht. Beim Tasten musste sich der Druck auf die Haut um etwa 3 Prozent ändern, beim Helligkeitssehen die Lichtstärke um 1 bis 2 Prozent, beim Heben das Gewicht um etwa 2 Prozent, damit die Veränderung registriert wurde. Bei jedem dieser Sinne führte also ein stets gleiches Verhältnis R/R , wobei R die physikalisch messbare Größe des Reizes ist, zu einer gerade wahrnehmbaren Veränderung der Empfindung. Gustav Theodor Fechner verallgemeinerte 1860 Webers Erkenntnis. Er nahm an, dass ein stets gleiches Verhältnis R/R zu einer stets gleichen Differenz E der Empfindungen führt – das ist gerade das, was wir am Klavier für die Empfindung der Tonhöhe entdeckt haben. Aus dieser Annahme folgt die Differentialgleichung d E = k · d R/R , analog zu (4.1), jedoch für beliebige Reize. Die Konstante k ist im Grunde beliebig; durch ihre Wahl wird lediglich eine Einheit der Empfindung festgelegt. Die Lösung der Gleichung ist heute als Weber-Fechner-Gesetz bekannt: die Beziehung zwischen einer Empfindung E, dem sie auslösenden Reiz R und einer Reizschwelle R0 :   R . (4.3) E = k ln R0 Im Fall der Lautstärke hat das Weber-Fechner-Gesetz zur Festlegung einer logarithmischen Skala geführt, der Dezibelskala. Eine Erhöhung des Schallenergiepegels um 3 dB in Technikersprache (genauer sind es 10 · lg 2 = 3,0103 dB) entspricht einer Verdopplung der Schallenergie; der frequenzabhängige Nullpunkt wird Hörschwelle genannt. Womit wir wieder beim Hören und damit bei der Musik wären – so verbinden sich Kunst und Wissenschaft.

4.2

Lernen und Vergessen

Das 19. Jahrhundert hat nicht nur zu einer Theorie der Empfindungen geführt, sondern auch zu Einsichten in den Mechanismus des Lernens. Der Erste, der das Problem experimentell anging, war Hermann Ebbinghaus [14]. In Selbstversuchen hat er das Lernen und Vergessen von Silben untersucht: Arbeitsaufwand, Lernzeit, nach welcher Zeitspanne sich noch wie viel vom Gelernten im Gedächtnis findet; und wie diese Daten von der Art des zu Lernenden und der Lernmethode abhängen. Das bekannteste seiner Resultate ist die ebbinghaussche Vergessenskurve.

120

4

Der Mensch

Mit einem Modell, das Gemeinsamkeiten mit dem von Ebbinghaus hat und zu einer ähnlichen Vergessenskurve führt, wollen wir nun auf dem Papier experimentieren. Wir denken an ein Auswendiglernen, etwa von Vokabeln, Ziffernfolgen oder Verkehrszeichen (im Gegensatz zum Erlernen von Zusammenhängen). Material dieser Art lässt sich verhältnismäßig leicht durch eine Wissensmenge w quantifizieren, die durch Lernen größer und durch Vergessen kleiner wird. Vom Lernen nehmen wir an, es erfolge mit konstanter Rate r . Für das Vergessen stellen wir uns vor, (i) es gebe eine konstante Menge P permanenten Wissens, das man nicht vergisst; (ii) liegt das Wissen unter dem permanenten, werde nichts vergessen; (iii) liegt es darüber, gehe von der Differenz in gleichen Zeitspannen der gleiche Anteil verloren. Diesen Annahmen zufolge ist dw = dt



r w < P, r − λ (w − P) w ≥ P.

(4.4)

Im ersten Fall, w < P und daher w˙ = r ,

(4.5)

erhalten wir durch Integrieren und Setzen eines Anfangswerts die Lösung w(t) = w(0) + r t.

(4.6)

Für den zweiten Fall, w ≥ P , schreiben wir die Gleichung in der Form w˙ + λw = r + λP

(4.7)

und erkennen eine inhomogene Differentialgleichung 1. Ordnung. Diese lösen wir nun für λ > 0 . Die allgemeine Lösung der homogenen Gleichung w˙ + λw = 0 , erhalten durch Trennen der Variablen und Integrieren, ist wh (t) = C e−λt . Eine partikuläre Lösung der inhomogenen Gleichung ergibt sich durch Variation der Konstanten: Wir setzen w p (t) = c(t) e−λt in (4.7) ein; das führt auf c˙ = (r + λP) eλt , woraus sich c(t) =

r λ

 + P eλt

und daraus wiederum w p (t) =

r +P λ

4.2 Lernen und Vergessen

121

ergibt. So folgt die allgemeine Lösung von (4.7): r + P. λ

w(t) = C e−λt + C bestimmen wir über einen Anfangswert, C = w(0) −

r

 +P ,

λ

und erhalten damit die Lösung der Anfangswertaufgabe im zweiten Fall: w(t) =

r

  r  + P + w(0) − + P e−λt . λ λ

(4.8)

Ehe wir die Teillösungen (4.6) und (4.8) zu einer Gesamtlösung zusammenführen, bedenken wir, dass der erste Fall in den zweiten übergehen kann. Ist nämlich w(0) < P , dann steigt w gemäß (4.6) und erreicht nach der Zeit tP =

P − w(0) r

den Wert P. Die Anfangsbedingung für den zweiten Fall lautet dann w(t P ) = P. Daraus folgt für die allgemeine Lösung von (4.7) P = C e−λ t P + C =−

r + P, λ

r λ tP e , λ

so dass nach Einsetzen des Ausdrucks für t P die Lösung des zweiten Falls ⎡ w(t) = P +

r ⎣ 1−e λ

 −λ

t−

P−w(0) r

⎤



(4.9)

entsteht. Zusammengefasst ergibt sich die Wissensmenge w(t) als ⎧ P − w(0) ⎪ ⎪ w(0) + r t w(0) < P, t < , ⎪ ⎪ r ⎤ ⎡   ⎪ ⎪ P−w(0) ⎨ −λ t − P − w(0) r r ⎦ w(t) = P + ⎣1 − e w(0) < P, t ≥ , ⎪ λ r ⎪ ⎪ ⎪      ⎪ ⎪ ⎩ r + P + w(0) − r + P e−λt w(0) ≥ P. λ λ (4.10)

122

4

Der Mensch

Abb. 4.2 zeigt drei Verläufe von w(t) mit verschiedenen Anfangswerten. In jedem Fall strebt w gegen den Grenzwert lim w(t) =

t→∞

r + P. λ

Abb. 4.2 Entwicklung des Wissens mit der Zeit, w(t), nach (4.10) für drei Anfangswerte: w(0) > r r + P (oben), P < w(0) < + P (Mitte), w(0) < P (unten) λ λ

Eine große Menge an Wissen der betrachteten Art erreicht man (wenig überraschend), indem man schnell lernt (hohes r ), langsam vergisst (niedriges λ) und viel auf Dauer behält (hohes P).

4.3

Der Trick des Masahiko Harada

Skispringer beginnen ihre Anfahrt in halbtiefer Hocke und behalten diese bis zum Absprung bei. Masahiko Harada, in den 1990er-Jahren Gewinner von neun Weltcupspringen, startete beinahe aufrecht und ging während der ersten Meter der Anfahrt langsam in die Hocke über. Darin sahen Sportreporter eine Marotte, die den Springer wegen des anfangs höheren Luftwiderstands bremsen müsste. Nicht besprochen wurde, dass der aufrechte Körper mehr potentielle Energie enthält als der gehockte und diese in kinetische Energie und damit in Geschwindigkeit umgesetzt werden könnte. Ob der Übergang in die Hocke zu Beschleunigung führt, hängt von den Einzelheiten des Vorgangs ab: Wer im Bad eine Kniebeuge macht, muss nicht fürchten, in der Dusche zu landen; auf einer reibungsfreien schiefen Ebene wird hingegen potentielle Energie vollständig in kinetische umgewandelt. Sehen wir nach, was beim Skispringen passiert. Dazu leiten wir eine Gleichung für die Anfahrtgeschwindigkeit als Funktion des zurückgelegten Wegs her; sie wird sowohl auf die herkömmliche als auch auf Haradas Technik anwendbar sein und die Geschwindigkeiten für beide Fälle liefern. Wir gehen von der Erhaltung der Energie aus: Die Summe aus kinetischer Energie, potentieller Energie und Arbeit gegen die Reibung ist konstant: E kin + E pot + W Reibung = const.

4.3 Der Trick des Masahiko Harada

123

Die kinetische Energie eines Körpers mit Masse m und Geschwindigkeit v ist E kin =

mv 2 . 2

Die potentielle Energie messen wir in Bezug auf den vom Balken abfahrenden Springer mit herkömmlicher Technik, also in Anfahrthocke (der Bezugspunkt beeinflusst das Ergebnis nicht). Die y-Koordinate des Schwerpunkts sei dort null; nach zurückgelegtem Weg s beträgt sie −s sin α , wenn α der Neigungswinkel der Schanze ist. Bei Harada kommt ein Stück dazu, das wir als festen Bruchteil β seiner zusätzlichen Körperhöhe H annehmen (Abb. 4.3), so dass insgesamt E pot = mg (−s sin α + β H ) ist. Das gilt mit H = 0 auch für die herkömmliche Technik, die Beziehung beschreibt also beide Fälle. Die Reibung ist die Summe zweier Kräfte: (i) der Gleitreibung zwischen Ski und Spur, μmg cos α , wo μ der Reibungskoeffizient ist und g die Erdbeschleunigung, und (ii) des Luftwiderstands cw b (h + H ) v 2 /2 mit Luftdichte , Widerstandsbeiwert cw , Körperbreite b und Körperhöhe h. Damit beträgt die für den Weg s aufgewandte Arbeit gegen die Reibung s  W Reibung =

cw b (h + H ) v 2 μmg cos α + 2

 du.

0

Abb.4.3 Skispringer in Anfahrthocke (durchgezogen) und Haradas Starthaltung (strichliert). Haradas zusätzliche Schwerpunkthöhe wird als fester Bruchteil β seiner zusätzlichen Körperhöhe angenommen

Mit den so bestimmten Energien wird die Erhaltungsgleichung zu mv 2 + mg (−s sin α + β H ) + 2

s  μmg cos α + 0

cw b (h + H ) v 2 2

 du = const.

124

4

Der Mensch

Wir leiten nach s ab, berücksichtigen, dass d H /ds = (d H /dt)(dt/ds) = H˙ /v ist und erhalten eine Differentialgleichung für v(s) : mvv  + mg

 − sin α + β

 cw b (h + H ) v 2 H˙ + μmg cos α + = 0. v 2

(4.11)

Diese lösen wir numerisch mit Eulers Differenzenmethode und verwenden dazu die in Tab. 4.1 angeführten Werte. Tab. 4.1 Konstante in (4.11), Anfangswerte und Randbedingungen. Die Körperdaten entsprechen jenen von Masahiko Harada. Für H˙ ist angenommen, dass der Springer während der ersten 2 Sekunden der Anfahrt gleichmäßig in die Hocke übergeht. Die Schanzendaten sind die der Bergiselschanze in Innsbruck [52] und typisch für Großschanzen zu Haradas Zeiten. Die Anfangsgeschwindigkeit erreicht der Springer durch das Abstoßen vom Balken g  μ cw m b h H (0) H˙ β α − −

Erdbeschleunigung Dichte der Luft bei 0◦ C und 1013 mbar Gleitreibungskoeffizient zwischen Ski und Anfahrtspur (Eis) Widerstandsbeiwert des Körpers Masse des Körper-Ski-Systems mittlere Körperbreite Körperhöhe (in Hocke) zusätzliche Körperhöhe zu Anfahrtbeginn: Harada / andere d H /dt, solange H > 0 Beitrag von H zur Schwerpunkthöhe Schanzenneigung im ersten Anfahrtteil / am Tisch Länge der Anfahrt (mittleres Gate) / des Tischs Anfangsgeschwindigkeit

9,81 m s−2 1,29 kg m−3 0,02 0,8 65 kg 0,3 m 0,9 m 0,6 m / 0 − 0,3 m s−1 0,4 35◦ / 10,75◦ 85 m / 6,5 m 1 m s−1

Mit diesen Daten würde Harada beim Absprung 97,5 km/h erreicht haben, ein sonst gleicher Springer mit herkömmlicher Technik 97,3 km/h. Harada verbliebe ein Vorsprung von 0,2 km/h. Berücksichtigt ist dabei, weil in (4.11) enthalten, der höhere Luftwiderstand durch die anfangs aufrechtere Haltung und durch die dauernd höhere Geschwindigkeit. Variiert man die Parameterwerte innerhalb realistischer Grenzen, so variieren die errechneten Geschwindigkeiten geringfügig; ihre Differenz und damit Haradas Vorsprung bleiben praktisch gleich. Weltklassespringer mit guter Anfahrttechnik erreichen typisch um 0,5 bis 1,5 km/h höhere Geschwindigkeiten als ihre Kollegen mit weniger guter Technik. Haradas möglicher Gewinn liegt also im Rahmen der üblichen stilbedingten Unterschiede.

4.4 Die Vermessung des Körpers

4.4

125

Die Vermessung des Körpers

Beim Neugeborenen macht der Kopf ein Viertel der Körpergröße aus, beim Erwachsenen weniger als ein Siebentel. Während sich die Körpergröße in den ersten zwanzig Lebensjahren mehr als verdreifacht, steigt die Höhe des Kopfes kaum auf das Doppelte. Der Kopf wächst also, relativ zum Ausgangswert, langsamer als der Körper insgesamt. Die Wachstumsbeziehung zwischen Kopfhöhe K und Körpergröße G können wir durch dK dG =D (4.12) K G mit D < 1 beschreiben. Diese Formel kennen wir schon; es ist die Differentialgleichung der Allometrie (3.43). In Abschn. 3.10 haben wir mit ihr Größenverhältnisse verschiedener Individuen verglichen. Nun verwenden wir sie, um Größenverhältnisse ein- und desselben Individuums oder ein- und derselben Gesamtheit in verschiedenen Stadien des Wachstums zu beschreiben. Die Mathematik ist in allen Fällen die gleiche. Wir lösen (4.12) durch Integrieren. Das Ergebnis, K (G) = C G D ,

(4.13)

hat zwei unbestimmte Parameter, C und D, die wir mittels zweier Wertepaare (G, K ) festlegen. Nehmen wir männliche Neugeborene mit einer Körpergröße von 52 und einer Kopfhöhe von 13 sowie Zwanzigjährige mit Körpergröße 176 und Kopfhöhe 24 (alle Werte in Zentimetern): 13 = C · 52 D , 24 = C · 176 D . Diese Daten bestimmen C = 1,78 und D = 0,503 und damit K (G) = 1,78 · G 0,503 . Der Wert von C hängt von der gewählten Maßeinheit ab. Nicht jedoch der Wert von D ; dieser beschreibt die Beziehung zwischen den relativen Wachstumsgeschwindigkeiten von Körper und Kopf in den ersten zwanzig Lebensjahren: Wächst der Körper um 1 %, dann wächst der Kopf um 0,503 %. Dabei haben wir vereinfachend angenommen, das Wachstumsgesetz bliebe über den genannten Zeitraum unverändert. Allometrische Beziehungen bestehen zwischen vielen Körperparametern: zwischen den Abmessungen von Körper, Kopf, Rumpf, Gliedmaßen und inneren Organen, der Masse des Körpers und seiner Teile, der Tragfähigkeit des Skeletts, den Stoffwechselraten, dem Energieumsatz und der Kraft der Muskeln. Wir untersuchen nun den Zusammenhang zwischen Körpergröße G und Masse m von Mädchen nach Daten der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie (Tab. 4.2).

126

4

Der Mensch

Tab. 4.2 Körpergröße G in Zentimetern und Masse m in Kilogramm von Mädchen nach Daten aus [49]. Zu jeder Körpergröße ist der Median der Masse angegeben G 50 60 70 80 90 100 110 120

m 3,50 6,05 8,25 10,20 12,55 15,15 18,55 22,80

Wieder interessieren uns die Konstanten C und D der Beziehung m(G) = C G D ,

(4.14)

und analog zu vorhin könnten wir sie mittels zweier Paare (G, m) festlegen. Unsere Tabelle enthält aber acht Paare, und jede Wahl zweier von ihnen würde zu etwas anderen Werten für C und D führen. Besser suchen wir nach einer Lösung, die sämtlichen Daten gerecht wird. Wir logarithmieren (4.14) und erhalten ln m = ln C + D ln G. Im doppelt logarithmischen Koordinatensystem beschreibt diese Gleichung eine Gerade (Abb. 4.4). Deren Parameter ln C und D lassen sich aus Tab. 4.2 durch lineare Regression bestimmen: ln C = − 6,54 und D = 2,02. Die ursprüngliche Beziehung (4.14) wird zu m(G) = 0,00144 · G 2,02

m (kg) 20 15 10 5 50

75

100

125

G (cm)

Abb. 4.4 Körpergröße G und Masse m in doppelt logarithmischen Koordinaten. Die Daten von Tab. 4.2 (Punkte) werden durch m = 0,00144 · G 2,02 angenähert

4.5 Modelle für den Stoffwechsel

127

mit der Masse in Kilogramm und der Körpergröße in Zentimetern. In jenem Lebensabschnitt, für den die Daten gelten (das sind die ersten sechs bis acht Lebensjahre), steigt also die Masse etwa quadratisch mit der Größe.

4.5

Modelle für den Stoffwechsel

Bei der Analyse des Stoffwechsels wird der Körper oft als Gesamtheit von Kompartments betrachtet [50]. Ein Kompartment ist ein Raum, in dem ein Stoff gleichmäßig verteilt ist, so dass an jedem Punkt die gleiche Konzentration (Masse pro Verteilungsvolumen) herrscht. Das Verteilungsvolumen ist eine fiktive Größe: jenes Volumen, in dem der Stoff homogen verteilt sein müsste, um die im Plasma vorliegende Konzentration zu haben. Für Stoffe, die an Gewebe gebunden sind, kann es weit über dem geometrischen Volumen des Kompartments liegen. Chemische Prozesse und Stoffaustausch zwischen Kompartments lassen sich durch Änderungen der Konzentration c beschreiben. Bei konstanter Änderungsgeschwindigkeit, dc/dt = const ∝ c0 , spricht man von einem Prozess 0. Ordnung; bei zur Konzentration proportionaler, dc/dt ∝ c1 , von einem Prozess 1. Ordnung usw.

4.5.1

Einkompartmentmodell

In diesem Abschnitt betrachten wir den Körper als ein einziges Kompartment und darin zwei Vorgänge: (1) die Ausscheidung eines Stoffs ohne gleichzeitige Zufuhr und (2) die Ausscheidung bei gleichzeitiger Zufuhr mit konstanter Rate. Denken wir bei dem Stoff an ein Medikament, dann entsprechen die Fälle (1) einer Einmalgabe und (2) einer Infusion. (1) Einmalgabe Ein Stoff werde einmal verabreicht und verteile sich im Körper zu einer Konzentration D (4.15) c(0) = , V wo D die Dosis in Masseeinheiten ist und V das Verteilungsvolumen. Danach werde er gemäß einem Prozess 1. Ordnung (der häufigste Fall) ausgeschieden (eliminiert): dc = − kc. dt

(4.16)

Wir lösen (4.16) durch Trennen der Variablen, Integrieren und Einsetzen des Anfangswerts (4.15) und erhalten c(t) = Dieser Verlauf ist in Abb. 4.5 dargestellt.

D −kt e . V

(4.17)

128

4

Der Mensch

c D V

0

t

0

Abb. 4.5 Verlauf der Konzentration nach Einmalgabe einer Dosis D in das Verteilungsvolumen V bei Elimination 1. Ordnung

(2) Infusion Ein Stoff werde mit konstanter Rate r (Masse pro Zeit) zugeführt und nach einem Prozess 1. Ordnung eliminiert. Seine Konzentration verändert sich dann entsprechend dc r = − kc. (4.18) dt V Trennen der Variablen und Integrieren führt, zusammen mit der Anfangsbedingung c(0) = 0 , auf  r  1 − e−kt . (4.19) c(t) = kV Bei Dauerinfusion ( t → ∞ ) stellt sich eine Gleichgewichtkonzentration von c=

r kV

(4.20)

ein. Wird die Infusion hingegen nach einer Zeit T beendet, so erreicht c dort ein Maximum und folgt im Weiteren dem Verlauf nach Einmalgabe (Abb. 4.6).

Abb. 4.6 Verlauf der Konzentration bei Zufuhr mit konstanter Rate r bis zur Zeit T in das Verteilungsvolumen V und Elimination 1. Ordnung (Eliminationskonstante k)

4.5 Modelle für den Stoffwechsel

4.5.2

129

Zweikompartmentmodell

Detailliertere Analysen des Stoffwechsels erfordern Modelle, die jedem beteiligten Organ ein Kompartment zuweisen. Ein wichtiges Modell umfasst zwei Kompartments: Magen-Darm-Trakt und Blut (Abb. 4.7). Die Konzentration des Stoffs im Magen-Darm-Trakt sei c1 , jene im Blut c2 . Wir untersuchen zwei Fälle: den häufigsten, dass Invasion und Elimination von 1. Ordnung sind; und den Fall des Alkohols, der aus dem Magen-Darm-Trakt gemäß 1. Ordnung in das Blut geführt und dort nach 0. Ordnung ausgeschieden wird. In beiden Fällen betrachten wir Einmalgabe und Dauerzufuhr.

Abb. 4.7 Aus dem Magen-Darm-Trakt gelangt ein Stoff in den Blutkreislauf (Invasion) und wird dort über die Nieren ausgeschieden (Elimination)

(1) Invasion und Elimination 1. Ordnung, Einmalgabe Die Konzentration im Magen-Darm-Trakt ändert sich gemäß dc1 = − k 1 c1 . dt

(4.21)

Die Gleichung ist analog zu (4.16). Damit verhält sich das Kompartment wie jenes in Abschn. 4.5.1: Gelangt eine Dosis D1 in sein Verteilungsvolumen V1 , ergibt sich c1 (t) =

D1 −k1 t e . V1

(4.22)

Sehen wir nun, was im Blut geschieht: Diesem wird einerseits in der Zeit dt eine Menge −V1 dc1 = V1 k1 c1 dt zugeführt und dadurch die Konzentration um V1 k1 c1 dt/V 2 erhöht, wobei V2 das Verteilungsvolumen des Blutes ist; andererseits verringert sich die Konzentration durch Ausscheidung um k2 c2 dt , so dass insgesamt dc2 /dt = (V1 /V2 ) k1 c1 − k2 c2 gilt. Mit (4.22) folgt dc2 D1 k1 e−k1 t − k2 c2 . = dt V2

(4.23)

Hier lassen sich die Variablen nicht trennen. Wir lösen daher, wie in Anhang B.5 beschrieben, erst die homogene Gleichung dc2 /dt = − k2 c2 mit dem Resultat c2h (t) = C e−k2 t .

130

4

Der Mensch

Dann bilden wir eine partikuläre Lösung durch Variation der Konstanten: c2 p (t) = c(t) e−k2 t mit einer noch unbekannten Funktion c(t), setzen c2 p (t) in (4.23) ein und erhalten für k1 = k2 c2 p (t) =

D1 k 1 e−k1 t . V2 (k2 − k1 )

(Den nur mit Wahrscheinlichkeit null realisierbaren Sonderfall k1 = k2 lassen wir außer Acht.) Durch Addieren von c2h und c2 p gelangen wir, zusammen mit der Anfangsbedingung c2 (0) = 0 , zur Lösung c2 (t) =

  D1 k 1 e−k1 t − e−k2 t . V2 (k2 − k1 )

(4.24)

Diese Differenz zweier Exponentialfunktionen hat Harry Bateman 1910 beschrieben, sie ist heute nach ihm benannt (Abb. 4.8). c2

0

t

0

Abb. 4.8 Konzentration im Blut nach Einmalgabe bei Invasion 1. Ordnung aus dem Magen-DarmTrakt und Elimination 1. Ordnung aus dem Blut (Bateman-Funktion)

(2) Invasion und Elimination 1. Ordnung, Dauerzufuhr Vom Magen-Darm-Trakt wissen wir schon, dass er sich wie das Einkompartmentmodell von Abschn. 4.5.1 verhält. Wird ihm ein Stoff mit konstanter Rate zugeführt, entsteht ein Gleichgewicht, in dem der Trakt den Stoff genau so rasch abgibt, wie er ihn aufnimmt. Er kann dann als vermittelndes Organ vernachlässigt werden und die Aufnahme des Stoffs so verstanden, als geschähe sie direkt in das Blut. Dieses wiederum verhält sich bei Elimination 1. Ordnung ebenso. Also erlangt ein Stoff, der dem Magen-Darm-Trakt mit Rate r1 dauernd zugeführt wird, gemäß (4.20) im Blut die Gleichgewichtkonzentration c2 =

r1 . k2 V2

(4.25)

4.5 Modelle für den Stoffwechsel

131

(3) Invasion 1. Ordnung, Elimination 0. Ordnung, Einmalgabe Wer Alkohol trinkt, trinkt vor allem Ethanol. Dieser Hauptbestandteil des Alkohols wird aus dem Blut nach einem Prozess 0. Ordnung mit Rate r2 eliminiert. Die Zufuhr in das Blut erfolgt wie im Fall (1), und so ist bei Einmalgabe einer Dosis D1 dc2 r2 D1 k1 e−k1 t − . = dt V2 V2

(4.26)

Daraus folgt durch Trennen der Variablen, Integrieren und Setzen der Anfangsbedingung c2 (0) = 0 (Abb. 4.9)  r D1  2 1 − e−k1 t − c2 (t) = t. (4.27) V2 V2 c2

0

t

0

Abb. 4.9 Konzentration des Alkohols im Blut nach einem kräftigen Schluck

(4) Invasion 1. Ordnung, Elimination 0. Ordnung, Dauerzufuhr Gelangt Ethanol dauernd mit Rate r1 in den Magen-Darm-Trakt, stellt sich dort analog zu Fall (2) ein Gleichgewicht ein. Wieder kann man dann den Trakt vernachlässigen und die Ethanolaufnahme so ansehen, als geschähe sie direkt in das Blut. Wird das Ethanol dort mit Rate r2 eliminiert und ist r1 > r2 , steigt seine Konzentration im Blut gemäß dc2 r1 − r2 . = dt V2

(4.28)

Anders als bei den meisten anderen Stoffen kann der Körper bei Ethanol stärkeren Zufluss nicht durch stärkeren Abfluss ausgleichen. Die Lösung von (4.28), r1 − r2 t, (4.29) V2 besagt, dass der Blutalkoholspiegel, solange man „genug“ trinkt, kein Gleichgewicht erreicht, sondern über alle Grenzen zunimmt. „Genug“, also r1 > r2 , ist nicht viel. Denn beim Erwachsenen entspricht r2 einer Abnahme des Spiegels um 0,1 bis 0,2 Promille pro Stunde und wird bereits durch stündlichen Konsum eines Achtelliters Wein überkompensiert. c2 (t) = c2 (0) +

132

4.6

4

Der Mensch

Zur Verbreitung von Infektionskrankheiten

Beim gehäuften Auftreten von Infektionskrankheiten unterscheidet man Epidemie, Endemie und Pandemie. Bei einer Epidemie tritt die Krankheit zeitlich und räumlich beschränkt auf, wie es Grippe, Cholera oder Typhus meist tun. Herrscht die Krankheit lokal, aber über lange Zeiträume, spricht man von einer Endemie; beispielsweise ist in manchen Tropenregionen zu jeder Zeit ein Teil der Bevölkerung an Malaria erkrankt. Herrscht sie über große Gebiete, liegt eine Pandemie vor; die Krankheit erfasst ganze Kontinente, wie die Pest im 14. Jahrhundert, die Spanische Grippe nach dem 1. Weltkrieg oder die Corona-Pandemie unserer Tage, und auch die Dauerdurchseuchung eines großen Teils der Erde mit Aids fällt in diese Kategorie. Wir beginnen mit dem einfachsten Fall. (1) Epidemie ohne Immunisierung Nach überstandener Grippe ist man wegen der Variabilität der Grippeviren gegen eine neuerliche Infektion nur kurz oder gar nicht immun. Wir unterscheiden die Anzahl I der Infizierten und die Anzahl N − I der Nichtinfizierten in einer Population der Größe N , von der wir annehmen, dass jeder Infizierte die Krankheit weitergeben und jeder Nichtinfizierte sie empfangen kann. Von den verschiedenen Stadien der Krankheit – Infektion, Ausbruch, Abklingen – sehen wir ab. Wir nehmen an, bei jedem Kontakt zwischen einem Infizierten und einem Nichtinfizierten werde die Krankheit mit bestimmter Wahrscheinlichkeit übertragen. Die Anzahl der Kontakte sei proportional sowohl zur Anzahl der Infizierten als auch zur Anzahl der Nichtinfizierten. Dann nimmt die Anzahl der Infizierten pro Zeiteinheit um κ I (N − I ) mit einer Proportionalitätskonstanten κ zu. Zugleich nimmt sie um μI ab, da in jeder Zeitspanne ein gewisser Anteil der Infizierten wieder gesundet. Insgesamt ist daher ⎛ ⎞     I ⎟ μ μ dI ⎜ I ⎝1 − = κ I (N − I ) − μI = κ I N − − I = κ N − μ⎠ dt κ κ N− κ oder, anders geschrieben:

  I dI = λI 1 − dt K

(4.30)

mit K =N− λ = κK.

μ , κ

(4.31a) (4.31b)

Bis auf ein entscheidendes Detail entspricht (4.30) der Gleichung des logistischen Wachstums (3.32). Es liegt darin, dass in (3.32) die Kapazität K fest und stets positiv ist. Hier aber hängt K gemäß (4.31a) von drei Parametern ab, die man in der Regel beeinflussen kann: (i) der Anzahl N der potentiellen Krankheitsempfänger, die man durch Impfung verkleinert, (ii) der spezifischen Gesundungsrate μ, die man mit Therapien vergrößert, und (iii) dem Übertragungsfaktor κ, den man durch Desinfektion

4.6 Zur Verbreitung von Infektionskrankheiten

133

und Kontaktvermeidung reduziert. Ist K nach Anwenden aller Maßnahmen konstant und positiv, stellt sich eine konstante Anzahl Infizierter ein (vgl. Abb. 3.5) und aus der Epidemie wird eine Endemie. Ist K aber negativ, dann wird d I /dt negativ und die Epidemie geht zu Ende. Die genannten Bedingungen für K führen auf eine neue Größe, mit der sich die Ausbreitung einer Infektion anschaulich beschreiben lässt: K > 0 bedeutet ja N > μ/κ und damit κ N /μ > 1 ; analog ist K < 0 gleichbedeutend mit κ N /μ < 1 . Die Größe κ N /μ heißt Basis-Reproduktionsrate der Infektion, R0 =

κN ; μ

(4.32)

sie gibt an, wie viele Neuinfektionen eine infizierte Person innerhalb einer zur Gänze infizierbaren Population durchschnittlich verursacht. Ist R0 > 1 , breitet sich die Krankheit bis zu einer konstanten Anzahl Infizierter aus, ist R0 < 1 , geht sie zu Ende; und die erwähnten Maßnahmen: Impfung, Therapie, Desinfektion und Kontaktvermeidung sollen R0 so klein wie möglich machen. (2) Epidemie mit Immunisierung Die Analyse der Epidemie ohne Immunisierung, die nur Infizierte und Nichtinfizierte unterscheidet, kann in eine einzige Differentialgleichung (4.30) gefasst werden. In anderen Fällen setzt sich die Population aus mehreren relevanten Gruppen zusammen und es entstehen Systeme von Gleichungen. Bei der Epidemie mit Immunisierung gibt es die Anzahlen der Infizierbaren S (susceptibles), der Infizierten I (infected) und der Immunisierten R (resistants). Wir betrachten Infektionen, gegen die Gesundete dauerhaft immun sind, wie die Masern. Bei anderen, wo der Immunschutz nach einiger Zeit verloren geht, gelten die nachfolgenden Resultate für die Zeit, in der noch jeder Gesundete vor neuerlicher Infektion geschützt ist, also ehe der erste Immunverlust eintritt. Wir nehmen wieder an, dass (i) bei jedem Kontakt zwischen einem Infizierten und einem Infizierbaren die Krankheit mit bestimmter Wahrscheinlichkeit übertragen wird, (ii) die Anzahl solcher Kontakte proportional sowohl zur Anzahl der Infizierten als auch zur Anzahl der Infizierbaren ist und (iii) die Infizierten mit konstanter Rate gesunden, wobei nun die Gesundeten immun sind. Dann ist dI = κ I S − μI , dt dS = − κ I S, dt dR = μI . dt

(4.33a) (4.33b) (4.33c)

Das System (4.33a–c) wurde 1927 von William Ogilvy Kermack und Anderson Gray McKendrick formuliert [24] und heißt heute nach seinen Variablen SIR-Modell. Zum Zeitpunkt dieser Niederschrift (April 2020) hat es durch die COVID-19(„Corona“)Pandemie, die man lokal als Epidemie ansehen kann, traurige Aktualität erlangt.

134

4

Der Mensch

Seine vollständige analytische Lösung ist kompliziert, mit ihr beschäftigen wir uns nicht. Stattdessen berechnen wir numerisch nach Euler mögliche Verläufe einer Epidemie mit Immunisierung in Österreich. Die Ergebnisse können sinngemäß auf ähnliche Populationen, wie jene Deutschlands und der Schweiz, übertragen werden. Nach heutiger Schätzung hat die Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2, ohne Impfstoff und bei derzeitigen Therapien, in einer Gesellschaft wie der österreichischen eine Basis-Reproduktionsrate nach (4.32) von R0 = 2,5 und eine mittlere Genesungsdauer von 8 Tagen (d. h. μ = 0,125/Tag). Diese Parameter legen wir dem Folgenden zugrunde. Die Genesungsdauer ist hier nicht, wie das Wort vermuten lässt, die Dauer bis zum Verschwinden aller Symptome, sondern die Zeitspanne, innerhalb derer ein Infizierter das Virus weitergeben kann. Neben der BasisReproduktionsrate R0 spielt die effektive Reproduktionsrate Re f f =

κS μ

(4.34)

eine Rolle. Sie gibt an, wie viele Neuinfektionen eine infizierte Person bei gegebener Anzahl S von Infizierbaren durchschnittlich verursacht. Zu Beginn ist S = N und damit Re f f = R0 . Wenn die Immunität nach überstandener Krankheit von Dauer ist, sinkt S mit der Zeit und damit auch Re f f . Sobald Re f f < 1 ist, ist wegen (4.33a) d I /dt < 0 und die Krankheit stirbt aus. Zuvor kann ihre Verbreitung jedoch ein – möglicherweise verhängnisvolles – Maximum erreichen (Abb. 4.10).

Abb. 4.10 Mögliche Verläufe einer Epidemie mit Immunisierung in Österreich. Populationsgröße 8,9 Millionen, mittlere Genesungsdauer 8 Tage. Anzahl I der jeweils aktuell Infizierten (oben) und R der Gesundeten, also in der Vergangenheit Infizierten (unten) für drei Basis-Reproduktionsraten R0

4.7 Warum Sprachen sterben

135

(3) Endemie, Pandemie und weitere Modelle Bisher haben wir epidemische, also räumlich und zeitlich begrenzte Verbreitung von Infektionen, besprochen, und hier die eher einfachen Fälle: konstante Population, keine mit dem Ort oder der Zeit variierenden Parameterwerte. Bei der Endemie, die über lange Zeiträume zu verfolgen ist, muss das Modell Geburten und Tode berücksichtigen und bei der Pandemie, die große, oft heterogene Gebiete betrifft, die regionalen Unterschiede. Noch detailliertere Modelle, wie sie Planungen der Gesundheitsbehörden zugrunde liegen, umfassen unter anderem Impfungen, Abschwächung oder Verlust der Immunisierung, Bevölkerungsgruppen mit verschiedenen Ansteckungsraten, zeitabhängige (beispielsweise jahreszeitlich bedingte) Ansteckung, Verschleppen durch Reisen (vom Urlaubsflug bis zur Migration), Übertragung durch nichtmenschliche Träger, Wechselwirkungen zwischen Erkrankungen und die Entstehung neuer Erreger. Mit der Anzahl der Parameter steigt die Komplexität der Systeme, und geschlossene Lösungen sind nur in Spezialfällen möglich. Analysen einiger wichtiger Verbreitungsformen finden Sie in [41].

4.7

Warum Sprachen sterben

Im August 2003 erschien in der Zeitschrift Nature ein Aufsatz, weniger als eine Seite lang, der richtungweisend für die Erforschung des Sprachensterbens werden sollte [2]. Unter dem Titel Modelling the dynamics of language death berichten Daniel Abrams und Steven Strogatz, Tausende von Sprachen seien im Begriff zu verschwinden, und entwerfen ein Modell, das dieses Verschwinden erklären soll. In einer Population gebe es zwei Sprachen, X und Y. Die Sprache X werde vom Anteil x der Menschen gesprochen, die Sprache Y vom Anteil y . Jeder spreche nur eine einzige Sprache, so dass y = 1 − x ist. Ein X-Sprecher wechsle innerhalb des Zeitintervalls dt mit Wahrscheinlichkeit PX Y dt zu Y, ein Y-Sprecher mit Wahrscheinlichkeit PY X dt zu X. Der Anteil der X-Sprecher verhält sich dann gemäß dx = (1 − x) PY X − x PX Y . dt

(4.35)

Für PX Y und PY X stellen die Autoren folgende Überlegung an: Ein X-Sprecher wird umso eher zu Y wechseln, je mehr Menschen bereits Y sprechen und je höher der Status von Y ist. Ebenso wird ein Y-Sprecher umso eher zu X wechseln, je mehr Menschen bereits X sprechen und je höher der Status von X ist. Zu einer Sprache, die niemand spricht oder deren Status den kleinstmöglichen Wert hat, wechselt niemand. Den Status s X bzw. sY einer Sprache, „a parameter that reflects the social or economic opportunities afforded to its speakers“, beschreiben die Autoren jeweils durch eine reelle Zahl mit 0 ≤ s X , sY ≤ 1 und s X + sY = 1 . Wir formulieren nun ein Modell, das diesen Regeln genügt und analytisch lösbar ist. Danach stellen wir den allgemeineren (und nur numerisch lösbaren) Ansatz von Abrams und Strogatz vor.

136

4

Der Mensch

Es seien PX Y = λysY = λ(1 − x)(1 − s X ), PY X = λxs X

(4.36a) (4.36b)

mit einer Konstanten λ > 0 . In (4.35) eingesetzt, ergibt das dx = (1 − x)λxs X − xλ(1 − x)(1 − s X ) = λ(x − x 2 )(2s X − 1). dt Wir trennen die Variablen, dx = λ(2s X − 1) dt, x − x2 integrieren und erhalten mit dem Anfangswert x(0) > 0 

x(t) = 1+

1  . 1 −λ(2s −1) t X −1 e x(0)

(4.37)

Für s X > 0,5 entspricht (4.37) der Gl. (3.33) des logistischen Wachstums und es gilt lim x(t) = 1 , für s X < 0,5 ist lim x(t) = 0 . Die Sprache mit dem t→∞ t→∞ höheren Status wird sich also langfristig in der gesamten Population etablieren und die andere verdrängen. Eine stabile Koexistenz der beiden gibt es nur in dem mit Wahrscheinlichkeit null realisierbaren Fall s X = 0,5 oder beim Nebeneinander der Sprachen in Parallelgesellschaften, die einander nicht berühren. Zum gleichen Schluss kommen Abrams und Strogatz auch bei der Analyse ihres allgemeineren Ansatzes PX Y = λy a sY = λ(1 − x)a (1 − s X ), PY X = λx a s X

(4.38a) (4.38b)

mit einem Exponenten a, den sie für reale Daten aus 42 Regionen zu 1,31 ± 0,25 (Mittelwert plus/minus Standardabweichung) bestimmt haben. Das Modell von Abrams und Strogatz lässt sich mit realen Daten in Übereinstimmung bringen. Beinahe perfekt beschreibt es den Rückgang der Sprecheranteile von Sprachen mit niedrigem Status: Schottisch-Gälisch in Sutherland, Schottland; Quechua in Huánuco, Peru; Walisisch in Monmouthshire, Wales; und Walisisch in ganz Wales. Dabei berücksichtigt (4.38) nur Wahrscheinlichkeiten dafür, dass Menschen einer gegebenen Population von einer Sprache zur anderen wechseln, nicht aber die Veränderung der Population durch Geburten und Tode oder durch Zu- und Abwanderung, wie es angesichts der langen betrachteten Zeiträume (typisch mehrere Generationen) geboten wäre. Nicht zwingend ist die Interpretation von s X und sY als Status der jeweiligen Sprache; in den Gleichungen sind es einfach Parameter, die auch ganz anderes bedeuten könnten.

4.8 Kleine Theorie des Verkehrs

4.8

137

Kleine Theorie des Verkehrs

Den Verkehr von Fußgängern oder Fahrzeugen kann man in zwei Maßstäben sehen. Die makroskopische Sicht richtet sich auf das Kollektiv: Verkehrsfluss, Verkehrsdichte und Geschwindigkeit als Funktionen des Ortes und der Zeit; die mikroskopische auf das Verhalten des einzelnen Verkehrsteilnehmers [22]. Wir kombinieren nun ein makroskopisches und ein mikroskopisches Modell zu einem Gleichungssystem, das die Bewegung einer einspurigen Fahrzeugkolonne beschreibt. (1) Makroskopisches Modell: Kontinuitätsgleichung Eine Fahrzeugkolonne befahre einen einspurigen Straßenabschnitt ohne Zufahrt oder Abfahrt zwischen den x-Koordinaten a und b (Abb. 4.11). Die Anzahl der Fahrzeuge pro Strecke ist die Dichte (x, t) =

∂n(x, t) . ∂x

(4.39)

Abb. 4.11 Zwischen a und b fährt eine Kolonne mit Dichte (x, t) und Geschwindigkeit v(x, t)

Die Geschwindigkeit der Kolonne sei v(x, t). Die Anzahl N der Fahrzeuge zwischen den Orten a und b ergibt sich als Integral der Dichte über diesen Bereich: b N (a, b, t) =

(x, t) d x, a

ihre zeitliche Ableitung ist ∂ N (a, b, t) ∂ = ∂t ∂t

b

b (x, t) d x =

a

a

∂(x, t) d x. ∂t

Die Anzahl der Fahrzeuge pro Zeit ist der Fluss ϕ(x, t) =

∂n(x, t) . ∂t

(4.40)

138

4

Der Mensch

Auch mit diesem können wir ∂ N /∂t ausdrücken, und zwar als Differenz zwischen dem Fluss in den Straßenabschnitt hinein und dem Fluss aus ihm hinaus: ∂ N (a, b, t) = ϕ(a, t) − ϕ(b, t) = − ∂t

b a

∂ϕ(x, t) d x. ∂x

Gleichsetzen der beiden Ausdrücke für ∂ N /∂t ergibt b  a

 ∂(x, t) ∂ϕ(x, t) d x = 0. + ∂t ∂x

Diese Beziehung gilt unabhängig von den Werten von a und b. Das ist nur möglich, wenn der Integrand null ist, also die Kontinuitätsgleichung t + ϕx = 0

(4.41)

erfüllt. Dichte und Fluss hängen über die Geschwindigkeit zusammen; denn ∂n ∂n d x = , ∂t ∂ x dt also ϕ = v.

(4.42)

t + (v)x = 0.

(4.43)

Damit wird (4.41) zu Eine Gleichung für  allein erhalten wir, wenn wir einen Zusammenhang zwischen  und v finden. Dazu ziehen wir ein mikroskopisches Modell heran. (2) Mikroskopisches Modell: Car Following Model Car Following Models beruhen auf der Annahme, das Verhalten eines Fahrzeugs orientiere sich am Verhalten der vor ihm fahrenden. Denken wir uns die Koordinaten der Fahrzeuge nummeriert: x1 (t) für den Ort des ersten Fahrzeugs in der Kolonne usw. Dann ist xi−1 −xi der Abstand des Fahrzeugs mit der Nummer i zu dem vor ihm fahrenden und x˙i−1 − x˙i die Differenz der Geschwindigkeiten beider. Wir nehmen an, das Fahrzeug i beschleunige, wenn es langsamer als das vor ihm fahrende ist, und zwar umso mehr, je größer sein Geschwindigkeitsrückstand ist und je kleiner der Abstand. Ebenso wird es bremsen, wenn es schneller als das vor ihm fahrende ist, und zwar umso mehr, je größer sein Geschwindigkeitsvorsprung ist und je kleiner der Abstand. Kreuzungen, Verkehrsampeln oder andere Hindernisse gebe es nicht,

4.8 Kleine Theorie des Verkehrs

139

ebenso keine (etwa durch Überholmanöver oder Unfälle) bedingten Abweichungen vom beschriebenen Verhalten. In erster Näherung ist dann x¨i = k

x˙i−1 − x˙i xi−1 − xi

mit einer positiven Konstanten k . Sofern man zu einem Zeitpunkt Ort und Geschwindigkeit jedes Verkehrsteilnehmers kennt, kann man dieses Gleichungssystem numerisch lösen und die Entwicklung des Verkehrs für alle Zeiten bestimmen. Man bräuchte dann gar kein makroskopisches Modell, weil dessen Parameterwerte aus der Lösung des mikroskopischen folgen würden. In der Regel hat man aber die nötige Information nicht, und dann kann man vorgehen wie folgt. Wir integrieren zu beiden Seiten und erhalten x˙i = k ln (xi−1 − xi ) + C. Die Verkehrsdichte ist definitionsgemäß der Kehrwert des Fahrzeugabstands; also ist sie im Bereich der beiden Fahrzeuge gegeben durch =

1 , xi−1 − xi

und so folgt x˙i = − k ln  + C. Die Konstante C wählen wir so, dass bei einer Dichte max die Geschwindigkeit null ist: C = k ln max . Schreiben wir v statt x˙i , ergibt sich v = − k ln

 max

.

(4.44)

Diese Beziehung gilt für min ≤  ≤ max , wobei min jene Dichte ist, bei der die Geschwindigkeit eine Grenze erreicht, beispielsweise das Tempolimit zuzüglich eines Temposünderzuschlags. Diese Grenzen behalten wir im Gedächtnis, ohne sie weiter zu erwähnen. (3) Gesamtmodell Wir setzen (4.44) in (4.43) ein:  t − k  ln





max

= 0, x

leiten den Klammerausdruck nach x ab und erhalten eine nichtlineare partielle Differentialgleichung für (x, t):  t = k x ln

 max

 +1 .

(4.45)

140

4

Der Mensch

Diese lösen wir numerisch nach dem Muster von Anhang B.8. Wir wählen Schrittweiten x und t und schreiben die Differentiale als Differenzen:   (x, t) (x, t + t) − (x, t) (x + x, t) − (x, t) ln +1 , =k t x max und drücken daraus (x, t + t) aus:

  k t (x, t) (x, t + t) = (x, t) + +1 . [(x + x, t) − (x, t)] ln x max

Mit der Bezeichnung i, j = (ix, jt) und einem Anfangsverlauf der Dichte, i,0 = f (ix), ergibt sich ein rekursives Verfahren zur Bestimmung von  :   i, j k t +1 . i, j+1 = i, j + [i+1, j − i, j ] ln x max

(4.46)

Zu jedem so bestimmten Dichtewert i, j ergeben sich mit (4.44) ein Wert der Geschwindigkeit und mit diesem und (4.42) ein Wert des Flusses. Damit ist der einspurige Verkehr ohne Zu- oder Abfahrt, ohne Kreuzung, Verkehrsampel oder anderes Hindernis und ohne Überholen oder Unfall beschrieben.

4.9

Richardsons Mathematik des Wettrüstens

Lewis Fry Richardson war ein genialer Hansdampf in allen Gassen. Über seine Vision einer weather forecast factory haben wir in Abschn. 3.2 berichtet und über das von ihm entdeckte Küstenlinienparadoxon in Abschn. 3.10. Nun wenden wir uns seiner Arbeit ein drittes Mal zu, und wieder betrifft sie ein ganz anderes Thema: 1939 legte Richardson eine mathematische Analyse des Wettrüstens vor [43]. Er betrachtete die Rüstungsausgaben zweier Nationen, von denen sich jede durch die andere bedroht fühlt. Wir folgen nun seinem Gedankengang, beschränken uns jedoch auf die gegenseitige Bedrohung und vernachlässigen die zugleich existierende Kooperation, die Richardson in Form des Handelsvolumens berücksichtigte. Die Nation 1 verändert ihre jährlichen Rüstungsausgaben A1 gemäß dreier Kriterien: Sie wird sie umso stärker (i) erhöhen, je höher die Ausgaben A2 der Nation 2 sind, um der Bedrohung durch den gerüsteten Gegner entgegenzuwirken; (ii) reduzieren, je höher sie schon sind, um zu sparen; (iii) erhöhen, je höher das Misstrauen gegenüber dem Gegner unabhängig von dessen Waffenarsenal ist. Die Nation 2 handelt ebenso. Nimmt man für jedes Kriterium Proportionalität an, ergibt sich d A1 = α1 A2 − β1 A1 + γ1 , dt d A2 = α2 A1 − β2 A2 + γ2 dt

(4.47a) (4.47b)

4.9 Richardsons Mathematik des Wettrüstens

141

mit positiven Konstanten αi , βi , γi , die, in dieser Reihenfolge, für die Kriterien (i) bis (iii) stehen. Wir lösen das System (4.47) für A1 und werden damit alle Einsicht in sein Verhalten gewinnen, denn die Lösung für A2 ist analog. Aus der ersten Gleichung drücken wir A2 aus: A˙ 1 + β1 A1 − γ1 , α1

A2 =

setzen das in die zweite Gleichung ein und erhalten A¨ 1 + (β1 + β2 ) A˙ 1 + (β1 β2 − α1 α2 )A1 = α1 γ2 + β2 γ1 .

(4.48)

Das ist eine lineare inhomogene Gleichung 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten, die wir nach dem Muster von Anhang B.6 behandeln. Die allgemeine Lösung der homogenen Gleichung A¨ 1 + (β1 + β2 ) A˙ 1 + (β1 β2 − α1 α2 )A1 = 0 erhalten wir, indem wir zunächst deren charakteristische Gleichung λ2 + (β1 + β2 )λ + β1 β2 − α1 α2 = 0 lösen: λ1,2

β1 + β2 =− ± 2





β1 + β2 2

2 − β1 β2 + α1 α2 .

Den Ausdruck unter der Wurzel kann man schreiben als 

β1 − β2 2

2 + α1 α2

und sieht dann, dass er stets positiv ist. Damit ergeben sich zwei verschiedene reelle λ und nach Tab. B.3 als Lösung der homogenen Gleichung A1h (t) = C1 eλ1 t + C2 eλ2 t mit β1 + β2 λ1 = − − 2 β1 + β2 λ2 = − + 2









β1 + β2 2 β1 + β2 2

2 − β1 β2 + α1 α2 , 2 − β1 β2 + α1 α2 .

142

4

Der Mensch

Immer ist λ1 < 0 . Für λ2 gibt es drei Möglichkeiten: ⎧ ⎪ ⎨ > 0 α 1 α 2 > β1 β2 , λ2 = 0 α1 α2 = β1 β2 , ⎪ ⎩ < 0 α 1 α 2 < β1 β2 . Den nur mit Wahrscheinlichkeit null realisierbaren Sonderfall λ2 = 0 lassen wir außer Acht. Für die beiden anderen ist die partikuläre Lösung gemäß Tab. B.4 eine Konstante. Deren Wert erhalten wir durch Einsetzen in (4.48): A1 p (t) =

α1 γ2 + β2 γ1 . β1 β2 − α 1 α 2

Die allgemeine Lösung der homogenen Gleichung und die partikuläre der inhomogenen addieren sich zur allgemeinen Lösung von (4.48): A1 (t) = C1 eλ1 t + C2 eλ2 t +

α1 γ2 + β2 γ1 β1 β2 − α 1 α 2

(4.49)

mit den vorhin bestimmten λi . Die Konstanten C1 und C2 ergeben sich aus Anfangswerten, beispielsweise A1 (0) und A˙ 1 (0). Wir lassen sie unbestimmt und fragen stattdessen nach dem Langzeitverhalten von A1 . Wegen λ1 < 0 geht der erste Summand in (4.49) gegen null. Ist auch λ2 < 0 , dann verschwindet auch der zweite und A1 konvergiert gegen den Grenzwert A1 =

α1 γ2 + β2 γ1 . β1 β2 − α 1 α 2

Das geschieht genau dann, wenn α1 α2 < β1 β2 ist, wenn also das Produkt der „Sparkoeffizienten“ jenes der „Rüstkoeffizienten“ überwiegt. Dann strebt nach analogem Schluss auch A2 einem Grenzwert zu: A2 =

α2 γ1 + β1 γ2 . β1 β2 − α 1 α 2

Die Grenzwerte definieren ein Gleichgewicht, in dem beide Nationen ihre jährlichen Rüstungsausgaben konstant halten. Ist jedoch α1 α2 > β1 β2 , überwiegt also das Produkt der „Rüstkoeffizienten“ jenes der „Sparkoeffizienten“, dann dreht sich die Rüstungsspirale und A1 und A2 nehmen unbeschränkt zu.

4.10 Die Grenzen des Wachstums

4.10

143

Die Grenzen des Wachstums

1972 erschien ein Buch mit dem Titel The Limits to Growth und schlug ein wie eine Bombe. Sein Fazit lautet: „Wenn das Wachstum von Weltbevölkerung, Industrialisierung, Umweltverschmutzung, Nahrungsproduktion und Ressourcenverbrauch unverändert weitergeht, werden die Grenzen des Wachstums auf diesem Planeten irgendwann innerhalb der nächsten 100 Jahre erreicht. Das wahrscheinlichste Ergebnis wird ein plötzlicher und unkontrollierter Zusammenbruch von Bevölkerung und industrieller Kapazität sein.“ The Limits to Growth [31] war Ergebnis einer Studie am Massachusetts Institute of Technology und wurde von vier knapp dreißigjährigen Wissenschaftlern vorgelegt: Donella Meadows, die als Hauptautorin gilt, ihrem Ehemann Dennis Meadows, Jørgen Randers und William Behrens. Beauftragt war das Projekt vom Club of Rome, einer 1968 gegründeten Vereinigung von Geschäftsleuten, Politikern und Wissenschaftlern, die sich mit den Zukunftsfragen der Menschheit befasst; sein Gegenstand waren die langfristigen Auswirkungen des Wachstums von Bevölkerung und Industrie. Die Forscher modellierten ihre Zusammenhänge im Wesentlichen durch ein System von Differentialgleichungen. Nun haben wir im vorigen Abschnitt gesehen, wie komplex bereits ein Wechselwirken von 2 Variablen sein kann; ganz zu schweigen von der Wettervorhersage des Abschn. 3.2 mit ihren (je nach Realisierung) meist 7 bis 11 Variablen. Das Modell der Limits to Growth verknüpft aber mehr als 200 Variable durch rund ebensoviele Gleichungen. Das Verhalten eines solchen Modells hängt von Parameterwerten und sonstigen Annahmen ab. Daher war das Ziel keine exakte Prognose, sondern die Feststellung, wie sich Änderungen – in den Annahmen, den Randbedingungen, aber auch im Verhalten der Menschen – auswirken würden. Referenzobjekt war der „Standard Run“: eine Simulation der Welt, die damalige Verhältnisse zugrunde legte, von der Erschließung der Ressourcen über die technische bis hin zur gesellschaftlichen Entwicklung. Sie zeigte einen Zusammenbruch der Weltbevölkerung bereits im frühen 21. Jahrhundert. Dieses Szenario ist in Abb. 4.12 dargestellt. Noch beunruhigender war, dass optimistische Annahmen, beispielsweise über die Menge der verfügbaren Ressourcen, wenig ändern, und dass selbst gravierende Maßnahmen zur Verhinderung der Katastrophe diese in der Regel nur aufschieben können. Ein solches Szenario zeigt Abb. 4.13. Für den Menschen von heute ist es nichts Neues, dass er die Erde zerstört; für die Menschen von damals war es ein Schock. Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, hagelte es Kritik. Zum einen hielt man den Forschern vor, sie hätten den technischen Fortschritt unterschätzt, der die Probleme entschärfen würde, zum anderen wurde die Empfindlichkeit der Resultate gegenüber den Annahmen bemängelt, und man warf die Frage auf, warum für die simple Erkenntnis, dass in einer begrenzten Welt kein unbegrenztes Wachstum möglich sei, so viele Formeln nötig wären. So fand jeder, der es finden wollte, ein Haar in der Suppe. Zwei Dinge aber lassen sich nicht leugnen. Erstens löste die Arbeit eine Flut von Untersuchungen aus, die auch Taten zur Folge hatten: von der Erforschung und Verkleinerung des Ozonlochs über den sparsamen Umgang mit Energie bis zum Abbau der Müllberge bei gleichzeitiger Ressourcenschonung durch Recycling. Zweitens gibt es ein halbes Jahrhundert,

144

4

Der Mensch

Abb. 4.12 Szenario 1 (Standard Run) [33]: Die Gesellschaft verhält sich wie im 20. Jahrhundert. Bevölkerung und Produktion wachsen, bis das Wachstum durch immer schwerer erreichbare nichterneuerbare Ressourcen angehalten wird. Güter, Dienstleistungen und medizinische Versorgung werden knapp, damit sinkt die Lebenserwartung. Abgebildet mit freundlicher Genehmigung von Dennis Meadows

4.10 Die Grenzen des Wachstums

145

Abb. 4.13 Szenario 4 [33]: Doppelt so hohe Ressourcen, eine Reduktion der Umweltbelastung um 4 % pro Jahr und deutliche Ertragsteigerungen der Landwirtschaft schieben den Kollaps um einige Jahrzehnte hinaus. Abgebildet mit freundlicher Genehmigung von Dennis Meadows

146

4

Der Mensch

nachdem die Autoren ihr Modell fertig hatten, noch immer kein besseres, und wenn, dann stammt es von ihnen selbst. Denn während die Kritiker kritisierten, ohne eine Alternative anzubieten, präsentierten das Ehepaar Meadows und Jørgen Randers zwei Nachfolgewerke [32,33]. Diese berücksichtigen das zwischenzeitliche Geschehen und ergänzen, wie schon das Vorgängerbuch, die Warnung durch Vorschläge von Wegen aus der Krise. Sollten wir und unsere Nachkommen künftig eine intakte Umwelt vorfinden, dann werden wir das nicht zuletzt Donella Meadows und ihren Differentialgleichungen verdanken.

5

Die Welt im Kleinen

Im letzten Kapitel sprechen wir von der Welt im Kleinen, von den Bausteinen der Materie: Atomen, Elementarteilchen und Strahlung. Mit ihnen befassen sich statistische Physik und Quantenphysik. Das statistische Element führten im 19. Jahrhundert Maxwell und Boltzmann ein; ihnen begegnen wir zu Beginn des Kapitels. Dann erleben wir in Gedanken die Geburt der Quantenphysik und die Entdeckung des Atomkerns, ziehen Schlüsse aus dem radioaktiven Zerfall und widmen uns der zentralen Gleichung der Quantenphysik, der Schrödinger-Gleichung. Und im allerletzten Abschnitt gehen wir der Frage des Lebens nach und hören, was uns die Physik dazu sagen kann.

5.1

Maxwell, Boltzmann und Wahrscheinlichkeit

Den ersten glaubwürdigen Hinweis auf Atome verdanken wir der Chemie: AntoineLaurent de Lavoisier hatte um 1790 chemische Elemente als nicht weiter zerlegbare „substances simples“ beschrieben. Joseph-Louis Proust stellte fest, dass die Elemente in den chemischen Verbindungen in festen Masseverhältnissen vertreten sind, und John Dalton entdeckte Vielfache dieser Verhältnisse. So verbinden sich 7 Gramm Stickstoff mit 8 Gramm Sauerstoff zu Stickstoffmonoxid, aber auch mit 16 Gramm Sauerstoff zu Stickstoffdioxid. Das deutete darauf hin, dass die Teilchen der Verbindungen (Moleküle) aus jeweils wenigen Teilchen der Elemente (Atomen) bestehen: ein Molekül des Stickstoffmonoxids aus je einem Stickstoff- und einem Sauerstoffatom, hingegen ein Molekül Stickstoffdioxid aus einem Stickstoff- und zwei Sauerstoffatomen. In der Physik war es zunächst die kinetische Theorie der Wärme, die die Hypothese von kleinsten Bausteinen der Materie stützte. Versuche von Robert Boyle und Edmé Mariotte bereits um 1670 sowie Joseph-Louis Gay-Lussac um 1800 hatten ergeben: Erwärmt man Gas in einem Behälter konstanten Volumens, steigt sein Druck; erwärmt man es bei konstantem Druck, steigt das Volumen; hält man die Temperatur

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Tschirk, Der Laplacesche Dämon, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61647-5_5

147

148

5

Die Welt im Kleinen

konstant, dann steigt der Druck, wenn man das Volumen verkleinert, und umgekehrt. Das alles wurde um 1850 verständlich, als man anzunehmen begann, das Gas bestehe aus durcheinander fliegenden Teilchen, der Druck komme von deren Aufprall auf die Wände und Wärme sei nichts anderes als Bewegungsenergie der Teilchen. (1) Die maxwellsche Geschwindigkeitsverteilung Die Frage nach der Verteilung der Teilchengeschwindigkeiten beantwortete James Clerk Maxwell 1860 durch eine Analyse [30], die wir nun wiedergeben. In einem elastischen Gefäß bewegen sich Teilchen  eines Gases. Ihre Geschwindigkeitsvektoren seien (vx , v y , vz ) mit dem Betrag vx2 + v 2y + vz2 . Kollisionen der Teilchen und Stöße gegen die Gefäßwände ändern die Geschwindigkeiten der einzelnen Teilchen, doch für die Gesamtheit stellt sich ein Gleichgewicht ein. In diesem hängt der Anteil der Teilchen, deren Geschwindigkeitskomponenten zugleich zwischen vx und vx + dvx , zwischen v y und v y + dv y sowie zwischen vz und vz + dvz liegen, nicht von den Komponenten ab (denn keine Richtung ist bevorzugt), sondern nur vom Betrag der Geschwindigkeit; der Anteil ist also durch   φ vx2 + v 2y + vz2 dvx dv y dvz mit einer noch unbekannten Funktion φ gegeben. Den Anteil p(v) dv der Teilchen, deren Geschwindigkeitsbetrag zwischen v und v + dv liegt, erhält man, indem man über alle Geschwindigkeitsvektoren mit solchen Beträgen summiert:    p(v) dv = φ vx2 + v 2y + vz2 dvx dv y dvz ,  wobei das Integral über alle vx , v y und vz mit v ≤ vx2 + v 2y + vz2 ≤ v + dv läuft. Da der Integrand nicht von den einzelnen Komponenten abhängt, können wir ihn vor das Integral ziehen:    dvx dv y dvz . p(v) dv = φ vx2 + v 2y + vz2 Das verbleibende Integral ist das Volumen einer Kugelschale mit Radius v und Dicke dv, so dass   p(v) = 4π v 2 φ vx2 + v 2y + vz2 ist. Wenn die Geschwindigkeitskomponenten voneinander unabhängig sind, ist   φ vx2 + v 2y + vz2 = f (vx ) f (v y ) f (vz ) mit einer noch unbekannten, aber für alle Komponenten identischen Funktion f , und damit wird p(v) = 4π v 2 f (vx ) f (v y ) f (vz ).

(5.1)

5.1 Maxwell, Boltzmann und Wahrscheinlichkeit

149

Wir logarithmieren diese Beziehung und leiten das Resultat nach vx ab: ln p(v) = ln(4π ) + 2 ln v + ln f (vx ) + ln f (v y ) + ln f (vz ), p  (v) dv 2 dv f  (vx ) = + . p(v) dvx v dvx f (vx )  Wegen v = vx2 + v 2y + vz2 ist dv/dvx = vx /v und damit p  (v) f  (vx ) 2 = 2+ . v p(v) v vx f (vx ) Analog ergibt Ableiten nach v y f  (v y ) p  (v) 2 = 2+ . v p(v) v v y f (v y ) Die linken Seiten der beiden letzten Formeln sind gleich, also auch die rechten. Daraus folgt f  (v y ) f  (vx ) = . vx f (vx ) v y f (v y ) Ändert sich nur vx , bleibt der rechte Ausdruck konstant und wegen der Gleichheit auch der linke. Also ist f  (vx ) = − 2γ vx f (vx ) mit einer passenden Konstanten γ . Nun liegt eine Differentialgleichung für f (vx ) vor, die wir durch Trennen der Variablen und Integrieren lösen: df = − 2γ vx dvx , f f (vx ) = Ce− γ vx . 2

Die Größe von C folgt daraus, dass vx für jedes Teilchen irgendeinen Wert annimmt, ∞ ∞ −γ v 2 √ x dv = also f (vx ) dvx = 1 ist. Da e π/γ ist, ergibt sich x −∞

−∞

 f (vx ) =

γ − γ vx2 . e π

Analoge Resultate erhält man für f (v y ) und f (vz ). Setzt man all drei in (5.1) ein, ist das Ergebnis die maxwellsche Geschwindigkeitsverteilung 3

4γ 2 2 p(v) = √ v 2 e− γ v . π

(5.2)

150

5

Die Welt im Kleinen

(2) Die Maxwell-Boltzmann-Verteilung Das maxwellsche Gesetz (5.2) enthält einen Parameter γ , auf dessen Bedeutung wir nun zu sprechen kommen. Dazu bestimmen wir zunächst den Mittelwert von v 2 : ∞ v2

=

∞ v p(v) dv = 2

0

0

3

4γ 2 4 − γ v 2 3 dv = . √ v e 2γ π

Wenn alle Teilchen die gleiche Masse m haben, ist ihre mittlere kinetische Energie E kin =

mv 2 3m m = v2 = . 2 2 4γ

Aus der Gasgleichung (3.9e) und der Annahme, der Druck rühre von den Stößen der Teilchen her, leitete James Joule 1848 die Proportionaliät von mittlerer kinetischer Energie und Temperatur T ab, heute geschrieben als E kin =

3 kT , 2

worin k die Boltzmann-Konstante ist. Aus den beiden letzten Beziehungen folgt γ = m/2kT , und damit wird (5.2) zu  p(v) =

3 2  m  2 2 − mv 2 v e 2kT . π kT

(5.3)

Das ist die Maxwell-Boltzmann-Verteilung (Abb. 5.1).

Abb. 5.1 Maxwell-Boltzmann-Verteilung der Geschwindigkeiten (5.3) für drei Temperaturen

(3) Die Boltzmann-Verteilung Ludwig Boltzmann hat das größte Rätsel gelöst, vor das uns die kinetische Gastheorie stellt: Wenn Wärme nichts ist als Bewegung von Teilchen und, wie die Mechanik lehrt, alle Bewegungen auch umgekehrt laufen können, dann sollten auch alle

5.1 Maxwell, Boltzmann und Wahrscheinlichkeit

151

Wärmevorgänge umkehrbar sein: Wie heißes und kaltes Wasser sich zu lauwarmem vermischen, so sollte lauwarmes Wasser sich zu heißem und kaltem entmischen können; Wärme sollte nicht nur vom heißen zum kalten Körper fließen, sondern auch in die andere Richtung. Solche Dinge geschehen aber nicht; der 2. Hauptsatz sagt, dass ein Prozess, der die Entropie eines Systems erhöht, niemals umgekehrt und auch auf keinem anderen Weg zur Gänze rückgängig gemacht werden kann. Boltzmann zufolge ist es aber nicht unmöglich, sondern nur extrem unwahrscheinlich, dass Wärme in beobachtbarem Maß vom kalten zum heißen Körper fließt. Er verband auf diese Weise zwei Konzepte, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben: Wahrscheinlichkeit und Entropie. Die Maxwell-Boltzmann-Verteilung (5.3) ist ein Spezialfall einer allgemeineren Verteilung. Da E kin = mv 2 /2 , kann man den Exponentialterm in (5.3) als e−

E kin kT

schreiben. Boltzmann zeigte 1868 [7], dass die Einschränkung auf kinetische Energie unwesentlich ist und die Wahrscheinlichkeit eines Zustands mit der Gesamtenergie E stets proportional zu E

e− kT (einer Größe, die heute Boltzmann-Faktor heißt) und weiters proportional zur Anzahl g(E) d E der Zustände, die mit Energien zwischen E und E + d E verträglich sind. Aus beiden Proportionalitäten folgt die Wahrscheinlichkeit p(E) d E dafür, ein Teilchen eines Systems der Temperatur T im Energiebereich zwischen E und E + d E zu finden: E

p(E) d E = C g(E) e− kT d E. Die Konstante C ergibt sich daraus, dass die Summe aller Wahrscheinlichkeiten ∞ p(E) d E = 1 ist, und damit gelangen wir zur Boltzmann-Verteilung 0 E

p(E) =

g(E) e− kT ∞ 0

u

g(u) e− kT du

.

(5.4)

152

5.2

5

Die Welt im Kleinen

Teilchen als harmonische Oszillatoren

Im vorigen Abschnitt haben wir Wärme als Bewegung freier Teilchen, wie sie in einem Gas vorkommen, betrachtet. In einem Festkörper sind die Teilchen gebunden; ihre Bewegung lässt sich als Schwingung um eine Ruhelage auffassen. In erster Näherung ist eine solche Schwingung harmonisch, das heißt, die rücktreibende Kraft ist proportional zur Auslenkung und es erfolgt keine Dämpfung. Laut Abschn. 1.9 erfüllt dann die Auslenkung x(t) eine Differentialgleichung 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten: κ (5.5) x¨ + x = 0, m wobei m die schwingende Masse ist und κ die Federkonstante der rücktreibenden Kraft. Der ungedämpfte harmonische Oszillator tauscht keine Energie mit seiner Umgebung aus. Daher ist seine Gesamtenergie E, die Summe aus potentieller und kinetischer Energie, konstant: E = E pot (x) + E kin (x) = const. Potentielle und kinetische Energie hängen von x ab. Am Punkt maximaler Auslenkung x = A (Amplitude) ruht die Masse; ihre kinetische Energie ist null und damit ist E = E pot (A). E pot (x) entspricht der Arbeit, die aufgewandt werden muss, um die Masse um x auszulenken: x E pot (x) = −

x F(u) du = −

0

− κu du =

κx2 , 2

0

also ist κ A2 . 2 Nun bestimmen wir die mittlere kinetische Energie des Oszillators. Wie in Abschn. 1.9 gezeigt, ist die Lösung von (5.5) bei geeigneten Anfangswerten (auf die es im Folgenden nicht ankommt) durch E=

 x(t) = A cos gegeben. Daraus folgt

 x(t) ˙ =−A

κ t m

κ sin m



κ t m

5.3 Die Geburt der Quantenphysik

153

und E kin (t) =

m x˙ 2 κ A2 = sin2 2 2



κ t = E sin2 m



κ t. m

Da die Sinusquadratfunktion den Mittelwert 1/2 hat, ist E kin =

E . 2

In Abschn. 5.1 haben wir verwendet, dass die mittlere kinetische Energie eines freien Teilchens 3kT /2 ist. Ein solches Teilchen hat mit x, y und z drei voneinander unabhängige Bewegungsrichtungen; auf jede entfällt die mittlere Energie kT /2 . Unser Oszillator schwingt in nur einer Richtung, und für ein Teilchen, das einem solchen Modell entspricht, ist 1 kT . 2 Aus den letzten beiden Beziehungen folgt E = kT . Wie es in einem Gas energiereichere und energieärmere Teilchen gibt, so auch in einem Festkörper. Daher ist kT ein Ausdruck für die mittlere Energie: E kin =

E = kT .

(5.6)

Diese Beziehung werden wir im folgenden Abschnitt verwenden.

5.3

Die Geburt der Quantenphysik

Fällt Strahlung auf einen Körper, wird ein Teil absorbiert und ein Teil reflektiert. Je mehr Strahlung einer Frequenz ein Körper absorbiert, desto mehr Strahlung derselben Frequenz emittiert er, wenn man ihn erhitzt. Ein schwarzer Körper, das ist ein Körper, der sämtliche Strahlung absorbiert, emittiert daher auf jeder Frequenz mit der maximal möglichen Intensität. Deshalb war die Strahlung des schwarzen Körpers Ende des 19. Jahrhunderts, im Zeitalter der elektromagnetischen Wellen, ein bevorzugtes Studienobjekt. Einen ideal schwarzen Körper gibt es nicht. Am nächsten kommt ihm die Öffnung eines Hohlraums mit geschwärzten Innenwänden wie die Ofentür meiner Großmutter. Strahlung, die in diese Öffnung fällt, wird verschluckt. Heizt man den Ofen, beginnen seine Wände zu glühen und die Öffnung strahlt. Wir bestimmen nun die Energiedichte (Energie pro Volumeneinheit eines gedachten Hohlraums) der Strahlung des schwarzen Körpers. Aus Gründen, denen wir hier nicht nachgehen wollen, kann man sich die Strahlung als Ensemble harmonischer Oszillatoren vorstellen, von denen pro Volumeneinheit die Anzahl dn =

8π ν 2 dν c3

(5.7)

154

5

Die Welt im Kleinen

im Frequenzbereich zwischen ν und ν + dν schwingen, wobei c die Lichtgeschwindigkeit ist. Nun erinnern wir uns an das Resultat des vorigen Abschnitts, dass die mittlere Energie eines Oszillators kT ist: Damit entfällt auf den Frequenzbereich zwischen ν und ν + dν die Energie du(ν, T ) =

8π ν 2 kT dν. c3

(5.8)

Dieses Ergebnis haben im Juni 1900 John William Strutt (Lord Rayleigh) und James Jeans gewonnen. Es beruht auf den Prinzipien der klassischen Physik und ist falsch. Ihm zufolge müsste die Energiedichte mit steigender Frequenz unbegrenzt zunehmen. In Wahrheit verhält sich die Strahlung anders, wie Messungen von Otto Lummer und Ernst Pringsheim zwischen 1897 und 1899 zeigten (Abb. 5.2).

Abb. 5.2 Energiedichte der Strahlung des schwarzen Körpers für drei Temperaturen

Am 19. Oktober 1900 trug Max Planck der Deutschen Physikalischen Gesellschaft eine Formel vor, die zu den Daten von Lummer und Pringsheim passte. Planck hatte sein Gesetz mehr oder weniger erraten; die Begründung lieferte er acht Wochen später nach [40]. Um sie zu erhalten, musste er eine Annahme treffen, die der Physik seiner Zeit (die man für unverrückbar hielt) widersprach: Die Oszillatoren des schwarzen Körpers dürfen Energie nicht in beliebigen Mengen aufnehmen und abgeben, sondern nur in Vielfachen eines bestimmten Quantums, und dieses muss proportional zur Frequenz sein. Der Proportionalitätsfaktor hat die Dimension von Energie mal Zeit – einer Größe, die man Wirkung nennt – und wurde als plancksches Wirkungsquantum h bekannt. Planck selber, klassischer Physiker durch und durch, bezeichnete diesen Ansatz als Akt der Verzweiflung. Noch Jahre rang er um eine Erklärung, die seinem konservativen Weltbild eher entsprochen hätte, doch es war zu spät: Die Geister, die er gerufen, wurde er nicht mehr los. Sehen wir uns also Plancks Akt der Verzweiflung an. Wir denken uns Oszillatoren der Frequenz ν; ihre möglichen – quantisierten – Energiewerte sind 0, hν, 2hν usw. Wenn n 0 die Anzahl der Oszillatoren niedrigster Energie ist, ergeben sich die Anzahlen für alle anderen Energien aus der Boltzmann-Verteilung (5.4):

5.3 Die Geburt der Quantenphysik

155 j hν kT .

n j = n 0 e− Die Gesamtanzahl der Oszillatoren ist dann n=

∞ 

n j = n0

∞ 

j=0

j hν kT ,

e−

j=0

ihre Gesamtenergie E=

∞ 

n j j hν = n 0 hν

j=0

∞ 

j e−

j hν kT

j=0

und die mittlere Energie eines Oszillators hν E=

E = n



j e−

j hν kT

j=0 ∞

j hν e− kT

.

j=0 hν

Bezeichnet man hier e− kT mit x , erhält man, da 0 < x < 1 ist,

d

x + x2 + x3 + · · · hνx hν x + 2x 2 + 3x 3 + · · · dx E= = 1 + x + x2 + · · · 1 + x + x2 + · · ·   x d hνx hνx hν hν dx 1 − x = . = = hν = 1 1 1−x −1 e kT − 1 1−x x Plancks Quantisierung der Energie hat also zur Folge, dass die mittlere Energie der Oszillatoren einen anderen Wert annimmt als im klassischen Fall. Nun ergibt sich mit (5.7) im Frequenzbereich zwischen ν und ν + dν die Energie du(ν, T ) =

8π ν 2 c3

hν hν e kT

dν.

(5.9)

−1

Das ist die plancksche Strahlungsformel, die den Beobachtungen (Abb. 5.2) gerecht wird. So erblickte die Quantenphysik am 14. Dezember 1900 in Berlin das Licht der Welt.

156

5.4

5

Die Welt im Kleinen

Rutherford entdeckt den Atomkern

Um 1910 war man von der Existenz der Atome überzeugt und hatte auch schon einiges über sie in Erfahrung gebracht. Joseph John Thomson hatte 1897 einen stoffunabhängigen Bestandteil der Materie entdeckt, Teilchen mit äußerst kleiner Masse und Ladung, für die George Stoney die Bezeichnung Elektronen prägte. Thomson baute auf den Elektronen das erste mathematisch formulierte Atommodell auf. Ihre Ladung hatte sich als negativ erwiesen, also musste der Rest des Atoms positiv geladen sein, denn Atome sind als Ganzes elektrisch neutral. Thomson dachte sich das Atom als Kontinuum positiver Ladung, in die die Elektronen eingebettet sind wie Rosinen in einen „plum pudding“ (er war Engländer). Nähere Aufschlüsse über die Struktur des Atoms erhoffte man sich von Streuversuchen. Ernest Rutherford hatte an radioaktiven Elementen zwei Sorten von Strahlen beobachtet, die er Alpha- und Betastrahlen nannte. Die Alphastrahlen identifizierte er als positiv geladene Teilchen von etwa der Masse eines Heliumatoms. Mit ihnen beschoss er dünne Metallfolien, um aus der Ablenkung des Strahls auf die Ladungsverteilung im Metallatom zu schließen. Seine berühmte Streuformel, die ihm 1911 das gewünschte Resultat lieferte, ist nicht ganz einfach abzuleiten und zu interpretieren [45]. Zum Erkennen des Wesentlichen braucht man sie aber nicht; denn das steckt bereits in einer Notiz, die Rutherford seinen Berechnungen voranstellte, um einen Eindruck von den Kräften zu vermitteln, die Alphateilchen um große Winkel streuen. Es war ihm nämlich aufgefallen, dass beim Durchgang des Strahls durch die Folie zwar die meisten Teilchen ihre Flugrichtung kaum ändern, einzelne jedoch stark abgelenkt, ja sogar zurückgeworfen werden. Daraus schloss er, dass die positive Ladung ein weit kleineres Volumen einnehmen muss, als sie Thomsons Modell zufolge einnehmen würde. Das betrachten wir nun genauer. Ein Alphateilchen fliege zentral auf ein Atom zu. Seine Wechselwirkung mit den Elektronen vernachlässigen wir, denn Elektronen sind siebentausendmal leichter als Alphateilchen und damit nicht in der Lage, sie merklich abzulenken. Die positive Ladung des Metallatoms wiederum ist viel schwerer als ein Alphateilchen; wir setzen sie daher als ruhend voraus, wie wir in Abschn. 2.1 die Sonne bei ihrer Wechselwirkung mit den Planeten als ruhend vorausgesetzt haben. Die einzige maßgebliche Kraft ist die elektrostatische zwischen der Ladung des Alphateilchens und der positiven Ladung des Atoms. Nach dem Gesetz von Coulomb ist die Kraft zwischen zwei Punktladungen Q und q im Abstand r gegeben durch F=

1 Qq , 4π ε0 r 2

(5.10)

wo ε0 die elektrische Feldkonstante ist. F wirkt entlang der Verbindungslinie der Ladungen, und zwar abstoßend, wenn die Ladungen gleiche Vorzeichen haben, und andernfalls anziehend. Dieses Gesetz ähnelt dem newtonschen Gravitationsgesetz (2.1). Deshalb wirkt auch eine kugelsymmetrische Ladungsverteilung ähnlich auf ein Teilchen, wie laut Abschn. 2.2 eine kugelsymmetrische Masseverteilung wirkt: Ladung, die vom Zentrum der Verteilung weiter entfernt ist als das Teilchen,

5.4 Rutherford entdeckt den Atomkern

157

wirkt nicht auf es; Ladung, die dem Zentrum näher ist, wirkt so, als wäre sie im Zentrum konzentriert. Stellen wir uns die positive Ladung im Atom kugelsymmetrisch und homogen vor, so können wir aus dem Vorstehenden berechnen, wie sie auf das einfliegende Alphateilchen wirkt. Für die Rückwärtsstreuung sind zwei Fälle denkbar: Fall 1: Das Teilchen wird außerhalb der positiven Ladungsverteilung rückwärts gestreut (Abb. 5.3). Alphateilchen haben eine positive Ladung vom Doppelten der Elementarladung e. Die positive Ladung des Atoms sei Z e mit einem vorläufig unbestimmten Faktor Z . Dann wirkt auf das Teilchen im Abstand r ≥ R vom Zentrum des Atoms die abstoßende Kraft F(r ) =

1 Z e2 1 Z e · 2e = . 4π ε0 r 2 2π ε0 r 2

Abb. 5.3 Ein Alphateilchen fliegt zentral auf ein Atom zu, wird von dessen positiver Ladung (einer homogenen Kugel mit Radius R) abgestoßen und im Abstand b ≥ R rückwärts gestreut

Mit dieser Kraft und dem zweiten newtonschen Axiom könnten wir nun in bewährter Weise die Bewegungsgleichung ableiten und lösen. Einfacher ist es, die Erhaltung der mechanischen Energie zu verwenden, die wir schon in Abschn. 3.4 gezeigt haben. In unserem Fall besagt sie, dass die anfängliche kinetische Energie des Teilchens gleich der Arbeit ist, die es aufwenden muss, um zum Umkehrpunkt seiner Bahn zu gelangen: m α v2 = 2

b − ∞

1 Z e2 Z e2 dr = . 2π ε0 r 2 2π ε0 b

Daraus folgt b=

Z e2 . π ε0 m α v 2

Aus Rutherfords Annahmen: Z ≈ 100 , e = 1,55 · 10−19 C und v = 2,09 · 107 m/s sowie den heutigen Werten für ε0 und m α ergibt sich b = 3,0 · 10−14 m.

158

5

Die Welt im Kleinen

Rutherford, der auch ε0 und m α nicht genau kannte und in seinem Papier nicht angab, erhielt b = 3,4 · 10−14 m . Nun war aber schon 1911 klar, dass Atomradien in der Größenordnung 10−10 m liegen, also mehrere tausend Mal so groß sind wie der soeben errechnete Umkehrabstand. Soll also das Teilchen außerhalb der positiven Ladungsverteilung gestreut werden, darf diese nur einen winzigen Bruchteil des Atoms einnehmen. Fall 2: Das Teilchen wird innerhalb der positiven Ladungsverteilung rückwärts gestreut (Abb. 5.4). Außerhalb der Ladungsverteilung wirkt die Kraft wie im Fall 1. Innerhalb wirkt, da nur die dem Zentrum nähere Ladung zur Abstoßung beiträgt, die Kraft  r 3 1 Z e2 r 1 Z e R · 2e = . F(r ) = 4π ε0 r2 2π ε0 R 3

Abb. 5.4 Ein Alphateilchen fliegt zentral auf ein Atom zu, wird von dessen positiver Ladung (einer homogenen Kugel mit Radius R) abgestoßen und im Abstand b < R rückwärts gestreut

Damit wird die Energiebilanz zu m α v2 = 2

R ∞

1 Z e2 − dr + 2π ε0 r 2

woraus

b − R

1 Z e2 r Z e2 2 dr = 3R − b2 , 3 3 2π ε0 R 4π ε0 R

 b = R 3−

2π ε0 m α v 2 R Z e2

folgt. Ein Wert für b existiert gemäß dieser Beziehung nur dann, wenn der Ausdruck unter der Wurzel nicht negativ ist. Dazu muss R≤

3Z e2 = 4,5 · 10−14 m 2π ε0 m α v 2

sein. Auch eine Streuung innerhalb der positiven Ladung ist somit nur möglich, wenn diese im Zentrum des Atoms konzentriert ist. In einem Atom groß wie ein Basketball

5.5 Libby und die Radiokarbondatierung

159

nähme sie nicht einmal den Raum eines Sandkorns ein. Wäre sie größer, könnten Alphateilchen beim Durchgang durch eine Metallfolie nur geringfügig abgelenkt, niemals aber rückwärts gestreut werden. Damit war gezeigt, dass das Atom einen positiv geladenen Kern besitzt.

5.5

Libby und die Radiokarbondatierung

Wir haben unsere Reise durch die Wissenschaft mit Rutherfords Gesetz vom radioaktiven Zerfall begonnen. Nun wenden wir uns einer für die Geschichtsforschung bedeutenden Anwendung des Gesetzes zu. Kohlenstoff kommt auf der Erdoberfläche hauptsächlich in zwei Formen vor: in Form der stabilen Isotope 12 C und 13 C, die zusammen beinahe die gesamte Masse ausmachen, und in Form von Spuren der instabilen, radioaktiven, darunter das Radiokarbon 14 C. Dieses zerfällt mit einer Halbwertszeit von 5730 ± 40 Jahren; zugleich wird es durch den Einfall kosmischer Strahlung mit einer konstanten Rate q neu gebildet. Für die Anzahl n der Radiokarbonkerne gilt daher dn = q − λn. dt

(5.11)

Durch Trennen der Variablen und Integrieren ergibt sich n(t) =

q − C e−λt . λ

(5.12)

Da dieser Prozess seit Jahrmillionen abläuft und lim n(t) =

t→∞

q = const λ

ist, hat die Menge des Radiokarbons und mit ihr das Mengenverhältnis zwischen Radiokarbon und stabilem Kohlenstoff heute einen festen Wert. Lebende Organismen nehmen Kohlenstoff mit der Nahrung auf und enthalten daher Radiokarbon und stabilen Kohlenstoff in ebendiesem Verhältnis. Mit dem Tod des Organismus endet aber auch dessen Stoffwechsel. Dann bleibt die Anzahl n s der stabilen Kohlenstoffkerne unverändert, während die Anzahl nr der radioaktiven durch den Zerfall (1.2) abnimmt. Das Verhältnis u = nr /n s der Anzahlen wird dann zeitabhängig: u(t) = u(0) e−λt , worin λ die Zerfallskonstante des 14 C ist und t die seit dem Tod des Organismus vergangene Zeit. Diese Zeit – das Alter des Objekts – lässt sich also aus dem gegenwärtigen Verhältnis und jenem zum Zeitpunkt seines Todes ermitteln: t =−

1 u(t) ln . λ u(0)

(5.13)

160

5

Die Welt im Kleinen

Das ist die Idee der Radiokarbondatierung, die Willard Libby in den 1940er-Jahren entwickelte. Das Verhältnis zum Todeszeitpunkt des Organismus, u(0), ist bekannt, da es nach dem oben Gesagten gleich dem Verhältnis ist, in dem Radiokarbon und stabiler Kohlenstoff heute auf der Erdoberfläche vorkommen. Um das gegenwärtige Verhältnis im zu datierenden Objekt, u(t), zu ermitteln, entnahm Libby diesem ein Probe und isolierte den darin enthaltenen Kohlenstoff. Die Gesamtanzahl der Kohlenstoffatome bestimmte er aus der Masse der gereinigten Probe, die Anzahl der radioaktiven unter ihnen aus der Häufigkeit der Zerfallsereignisse, gemessen mit einem Geigerzähler. 1960 erhielt Libby dafür den Nobelpreis der Chemie. In einer Festrede [26] fasste er die Meilensteine seiner Arbeit zusammen und zeigte einmal mehr die „Curve of Knowns“: Radiokarbonmessungen an Objekten bekannten Alters, mit denen er in den ersten Jahren sich selbst und die Welt vom Funktionieren der Methode überzeugte.

5.6

Das Alter der Milchstraße

Im folgenden Beispiel gibt uns die Wissenschaft vom ganz Kleinen – von den Teilchen – Information über das ganz Große: über die Milchstraße. Im Jahr 1957 publizierten Margaret und Geoffrey Burbidge, William Fowler und Fred Hoyle eine Arbeit zur Synthese der Elemente in Sternen [10]. Den Autoren zufolge standen die radioaktiven Uranisotope 235 U und 238 U beim Entstehen unserer Galaxis im Mengenverhältnis n 235 (0) u(0) = = 1,64, n 238 (0) während ihr Verhältnis heute u(t) =

n 235 (t) = 0,0072 n 238 (t)

beträgt. Hier ist t die seit dem Entstehen der Galaxis vergangene Zeit. Die Halbwertszeiten der Isotope gaben sie mit τ235 = 7,13 · 108 Jahre, τ238 = 4,51 · 109 Jahre an. Aus diesen Daten und dem Gesetz des radioaktiven Zerfalls (1.2) können wir t berechnen. Zunächst ermitteln wir die Zerfallskonstanten der Isotope: ln 0,5 0,972 = 9 , 7,13 · 108 Jahre 10 Jahre ln 0,5 0,154 =− = 9 . 9 4,51 · 10 Jahre 10 Jahre

λ235 = − λ238

5.7 Die Schrödinger-Gleichung

161

Mit ihnen ist u(t) =

n 235 (0) e−λ235 t = u(0) e(λ238 −λ235 ) t , n 238 (0) e−λ238 t

woraus für das Alter der Milchstraße folgt: u(t) 0,0072 ln u(0) 1,64 t= = · 109 Jahre = 6,6 · 109 Jahre. λ238 − λ235 0,154 − 0,972 ln

Die zitierte Arbeit enthält auch Schätzungen auf der Grundlage anderer radioaktiver Elemente, wie Thorium oder Kalium, mit ähnlichen Ergebnissen. Entsprechend den Annahmen, die in die Berechnungen eingeflossen sind, sehen die Burbidges, Fowler und Hoyle in den Resultaten eine untere Grenze für das Alter der Isotope und damit der Galaxis. Messungen aus dem Jahr 2004 zufolge ist sie etwa doppelt so alt und damit in der Frühzeit des Universums entstanden.

5.7

Die Schrödinger-Gleichung

Newton hatte das Licht als Teilchenstrom aufgefasst, Huygens zur gleichen Zeit als Welle. Das Doppelspaltexperiment von Thomas Young von 1800 sprach für Huygens, der von Philipp Lenard 1902 beobachtete fotoelektrische Effekt für Newton. Die Frage wurde 1905 von Einstein entschieden, der im Vorwort seiner Arbeit Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt anmerkte, die Wellentheorie eigne sich zwar zur Erklärung von Beugung, Reflexion und Brechung, aber die Erzeugung des Lichts und seine Verwandlung in andere Energieformen scheinen besser verständlich, wenn man annimmt, die Energie sei nicht kontinuierlich im Raum verteilt, sondern körnig verstreut. 1923 erkannte Louis-Victor de Broglie, dass nicht nur das Licht, sondern auch die Materie zugleich Teilchen- und Welleneigenschaften hat. Die Beziehung E = hν zwischen Energie E, Wirkungsquantum h und Frequenz ν ist auch auf Materie anwendbar. Damit konnte de Broglie jedem Objekt mit Impuls p eine Wellenlänge λ=

h p

(5.14)

zuschreiben. Er erklärte damit unter anderem die Elektronenbahnen, die Niels Bohr 1913 eingeführt hatte und für die es bislang keine Begründung gab. De Broglie fasste seine Thesen in einer Dissertation zusammen und brachte damit die Professoren der Sorbonne in Not – keiner wusste, was er von alldem halten sollte. Erst als Einstein sich für die Arbeit ausgesprochen hatte, war man zu ihrer Annahme bereit. Zwei Jahre später war aus de Broglies Ideen eine neue Theorie hervorgegangen: die Wellenmechanik von Erwin Schrödinger. Ihr Urheber sah eine Parallele zwischen Licht und Materie: Wie die Optik der Strahlen aus der Wellentheorie des Lichts folgt, so musste die Mechanik der Teilchen aus der Wellentheorie der Materie folgen. Der

162

5

Die Welt im Kleinen

Lichtstrahl in der Optik und die Teilchenbahn in der Mechanik sind vereinfachte Bilder – in Wahrheit gibt es nur die Wellen. Schrödinger legte eine Wellengleichung vor, deren Lösungen das jeweils Beobachtbare, also auch Teilchen, beschreiben. Die Gleichung ist nicht aus physikalischen Gesetzen ableitbar, sondern an den Anfang gestellt. Dennoch ist sie nicht aus der Luft gegriffen. Welche Erwägungen zu ihr führen, besprechen wir nun. Die Welleneigenschaften eines Objekts werden durch die Wellengleichung beschrieben. In Abschn. 1.11 haben wir ihre eindimensionale Version, u tt = c2 u x x ,

(5.15)

eine partielle Differentialgleichung für die Funktion u(x, t) , abgeleitet. Von dieser gehen wir vorerst aus. Diesmal behandeln wir sie mit Fouriers Methode von Abschn. 3.3, einem Ansatz u(x, t) = ψ(x) φ(t). Einsetzen in (5.15) und Trennen von φ und ψ führt auf φ  (t) ψ  (x) = c2 . φ(t) ψ(x) Ändert sich nur x, bleibt die linke Seite unverändert; daher kann sich wegen der Gleichheit der beiden Seiten auch die rechte nicht ändern. Ändert sich nur t, bleibt die rechte Seite unverändert und, wiederum wegen der Gleichheit, auch die linke. Beide Seiten sind also konstant. Nennen wir die Konstante b, ergeben sich aus der partiellen Differentialgleichung (5.15) zwei gewöhnliche: φ  (t) − b φ(t) = 0,

(5.16)

b ψ(x) = 0. (5.17) c2 Wir beginnen mit (5.16) und lösen diese Gleichung wie in Anhang B.6 beschrieben. √ Ihre charakteristische Gleichung, λ2 − b = 0 , hat die Lösungen λ1,2 = ± b . Nach Tab. B.3 ergeben sich folgende Lösungsfälle, je nachdem, ob b positiv, null oder negativ ist: ψ  (x) −

b>0: b=0: b 0 oder b = 0 ist φ entweder konstant oder wächst über alle Grenzen. Wellen, die stabile Teilchen darstellen könnten, ergeben sich nur √ für b < 0; hier beschreibt φ eine harmonische Schwingung der Frequenz ν = −b/2π : φ(t) = C1 sin 2π νt + C2 cos 2π νt.

(5.18)

5.7 Die Schrödinger-Gleichung

163

Mit diesem b = − 4 π 2 ν 2 wird (5.17) zur zeitunabhängigen Wellengleichung ψ  (x) +

4 π 2ν2 ψ(x) = 0. c2

(5.19)

Nun nehmen wir die Teilcheneigenschaften des zu beschreibenden Objekts hinzu. Die Gesamtenergie E eines Teilchens mit Masse m und Geschwindigkeit v (und daher Impuls p = mv) ist die Summe aus seiner kinetischen Energie mv 2 /2 und seiner potentiellen, die wir durch eine Potentialfunktion V beschreiben: E=

mv 2 p2 +V = + V. 2 2m

Daraus lässt sich p 2 = 2m (E − V ) ausdrücken. Andererseits folgt aus de Broglies’ Formel (5.14) und der Beziehung c = λν , die zwischen Geschwindigkeit, Wellenlänge und Frequenz jeder Welle gilt, p2 =

h2ν2 . c2

Gleichsetzen der beiden Ausdrücke für p 2 ergibt ν2 2m = 2 (E − V ). c2 h Setzt man das in (5.19) ein, erhält man eine Gleichung, die Teilchen- und Wellencharakter eines Objekts vereint, die eindimensionale zeitunabhängige SchrödingerGleichung 8 π 2m (E − V ) ψ(x) = 0. (5.20) h2 Eine analoge Überlegung für drei Raumdimensionen führt zur dreidimensionalen zeitunabhängigen Schrödinger-Gleichung ψ  (x) +

ψ(r) +

8 π 2m (E − V ) ψ(r) = 0, h2

wo für den Laplace-Operator =

∂2 ∂2 ∂2 + + ∂x2 ∂ y2 ∂z 2

steht. Mit dem Hamilton-Operator H =−

h2 +V 8π 2 m

(5.21)

164

5

Die Welt im Kleinen

bzw. seinem eindimensionalen Analogon lassen sich (5.20) und (5.21) schreiben als H ψ = Eψ.

(5.22)

Die zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung beschreibt stationäre Vorgänge. Setzt man für ein solches Problem die potentielle Energie V (r) ein, kann man die ortsabhängige Funktion ψ bestimmen, und das Zeitverhalten der Lösung ergibt sich, wenn man ψ mit φ, gegeben durch (5.18), multipliziert. Nun sind aber nicht alle Vorgänge stationär; beispielsweise könnte V von t abhängen. Die zeitabhängige Schrödinger-Gleichung, die auch diesem Umstand Rechnung trägt, beschreibt eine Funktion ψ(r, t) und ist in der Form iψ˙ = H ψ (mit  = h/2π ) in Schrödingers Büste im Arkadenhof der Wiener Universität verewigt. Schrödinger veröffentlichte seine Ergebnisse, verteilt auf sechs Arbeiten, in der ersten Hälfte des Jahres 1926 [46]. Dass sie sich im Experiment glänzend bewährten, war die eine Sache; eine andere jedoch, was die Wellenfunktion konkret bedeuten sollte. Für Schrödinger gab es keine Teilchen im herkömmlichen Sinn. Jedes Objekt ist eine Welle; wo deren Amplitude hoch ist, findet sich viel von ihm, wo sie niedrig ist, wenig. Die scheinbare Lokalisiertheit eines Teilchens folgt daraus, dass die Welle nur einen kleinen Raumbereich ausfüllt und überall sonst verschwindet. Fast alle seiner Kollegen aber sahen, einem Vorschlag von Max Born folgend, die Sache anders: Teilchen existieren, und die Wellen geben lediglich an, wann und wo mit welcher Wahrscheinlichkeit eines auftaucht: Die Wahrscheinlichkeit dp(r, t) dafür, ein Objekt zur Zeit t in einem Volumen d V um den Ort r zu finden, ist dp(r, t) = |ψ(r, t)|2 d V .

(5.23)

Aus der Wahrscheinlichkeitsinterpretation der Wellenfunktion ergibt sich eine Normierungsbedingung für diese: Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich das Teilchen irgendwo befindet, ist gleich 1, denn irgendwo befindet es sich sicher. Daher ist  |ψ(r, t)|2 d V = 1, (5.24) V

wobei das Integral über den gesamten verfügbaren Raum V läuft. (5.24) setzt voraus, dass das Quadrat der Wellenfunktion integrierbar ist und der Wert des Integrals zeitlich konstant. Dass das stets zutrifft, nehmen wir ohne Beweis hin. Die meisten Physiker deuten die Wellen statistisch. Wir befinden uns also in Gesellschaft, wenn auch wir statistisch interpretieren; obgleich selbst Einstein noch 1926 an Born geschrieben hat: „Die Quantenmechanik ist sehr achtung-gebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, daß das noch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß der‘ nicht würfelt.“ ’

5.8 Freie Teilchen, gebundene Teilchen

5.8

165

Freie Teilchen, gebundene Teilchen

In diesem Abschnitt lösen wir die Schrödinger-Gleichung für zwei Grenzfälle: (1) den potentialfreien Raum und (2) den unendlich tiefen Potentialtopf – einen Fall, wo das Potential innerhalb eines gewissen Bereichs null und außerhalb unendlich ist. (Wie in der Literatur zur Schrödinger-Gleichung üblich, verwenden wir die Ausdrücke „Potential“ und „potentielle Energie“ synonym.) Wir beschränken uns der Einfachheit halber auf eine Raumdimension und stationäre Lösungen. (1) Potentialfreier Raum: freie Teilchen Im potentialfreien Raum ist V = 0 ; auf das Teilchen wirken keine Kräfte, in diesem Sinn ist es frei. Die eindimensionale zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung (5.20) wird dann zu ψ  (x) +

8 π 2m E ψ(x) = 0. h2

(5.25)

√ Ihre charakteristische Gleichung hat die Lösungen λ1,2 = ± 2π/h 2m E i, woraus folgt:     2π √ 2π √ 2m E x + C2 cos 2m E x . (5.26) ψ(x) = C1 sin h h C1 und C2 ergeben sich aus Anfangsbedingungen, was wir nicht weiter verfolgen. Worauf wir unser Augenmerk richten, sind zwei Umstände: Erstens, dass ψ für jeden Wert von x existiert – der Raum, in dem sich ein freies Teilchen aufhalten kann, ist unbeschränkt. Zweitens, dass ψ für jeden positiven Wert von E existiert – freie Teilchen können jede beliebige positive Energie haben. (2) Unendlich tiefer Potentialtopf: gebundene Teilchen Nun sei V = 0 für 0 < x < L und V = ∞ andernfalls (Abb. 5.5).

0

L

x

Abb. 5.5 Unendlich tiefer Potentialtopf: Zwischen 0 und L ist das Potential null, außerhalb unendlich

Für 0 < x < L gelten (5.25) und (5.26), das Teilchen ist im Inneren des Topfs frei. Am Rand erfährt es Kräfte, in diesem Sinn ist es gebunden. Außerhalb des

166

5

Die Welt im Kleinen

Topfs hat (5.20) nur die Lösung ψ = 0 , das Teilchen kann sich dort nicht aufhalten (das erkennt man, indem man (5.20) für V > E löst und in der Lösung V gegen unendlich gehen lässt). Daraus ergeben sich für das im Inneren freie Teilchen die Grenzbedingungen lim ψ(x) = lim ψ(x) = 0

x→0

x→L

und damit ψ(0) = ψ(L) = 0 in (5.26). Wegen ψ(0) = 0 muss in (5.26) C2 = 0 sein; wegen ψ(L) = 0 muss in der verbleibenden Lösung,  ψ(x) = C1 sin

 2π √ 2m E x , h

(5.27)

entweder C1 = 0 sein (dann wäre aber ψ identisch null und gar kein Teilchen da) oder das Argument des Sinus für x = L ein Vielfaches von π . Beschreibt die Lösung ein Teilchen, gilt daher 2√ 2m E L = n h mit n = 1, 2, 3, . . . . Diese Bedingung ist nur für spezielle Energiewerte En =

n2h2 8m L 2

(5.28)

erfüllt. Mit diesem Resultat hat die Quantisierung der Energie, 1900 von Planck als ad-hoc-Hypothese eingeführt und 1913 von Bohr in das Atommodell übernommen, nach einem Vierteljahrhundert eine Begründung gefunden: Die SchrödingerGleichung gebundener Teilchen ist nur für bestimmte, diskrete Energiewerte lösbar, und daher können gebundene Teilchen nur solche Energien haben. Setzt man die E n in (5.27) ein, erhält man die zugehörigen Wellenfunktionen ψn (x) = C1 sin

nπ x . L

Sie sind nun bis auf ihre Amplitude C1 festgelegt. Diese ergibt sich aus der Normierungsbedingung (5.24),  die man für stationäre Lösungen bei passender Wahl der Konstanten in (5.18) als V |ψ(r)|2 d V = 1 schreiben kann. In unserem Fall einer einzigen Raumdimension, in der die Wellenfunktion nur zwischen 0 und L von null verschieden ist, lautet sie L

L |ψn (x)| d x = 2

0

C12 sin2 0

C2L nπ x d x = 1 = 1, L 2

5.9 Teilchen, wo keine sein sollten

woraus C1 =



167

2/L und damit  ψn (x) =

2 nπ x sin L L

(5.29)

folgt. Abb. 5.6 zeigt die ersten drei Energieniveaus und die zugehörigen Wellenfunktionen.

Abb. 5.6 Die ersten drei Energieniveaus und die zugehörigen Wellenfunktionen eines Teilchens im unendlich tiefen Potentialtopf

5.9

Teilchen, wo keine sein sollten

War vor hundert Jahren schon die Quantisierung der Energie schwer zu verdauen, so trifft das noch mehr auf die Erscheinung zu, die wir nun besprechen: dass Teilchen sich an Orten finden, wo sie nach den (damaligen) Gesetzen der Physik gar nicht sein können. In Abschn. 2.4 haben wir festgestellt, dass ein Körper, um den Anziehungsbereich eines anderen zu verlassen, eine bestimmte Mindestgeschwindigkeit haben muss. Man kann auch sagen, er muss eine bestimmte Mindestenergie haben. Dieser Überlegung zufolge muss auch ein Atomkernteilchen eine bestimmte Mindestenergie haben, um sich vom Rest des Kerns lösen zu können. Im Atomkern herrschen starke Anziehungskräfte, aber nur über Distanzen, die etwa den Abmessungen des Kerns gleichen; hat ein Teilchen diese überwunden, ist es frei. Die Situation kann man grob durch das Bild einer Potentialschwelle veranschaulichen (Abb. 5.7). Ein Teilchen in A (im Kern) kann nur in den Bereich C (außerhalb des Kerns) gelangen, wenn seine Energie zumindest der Höhe V0 der Potentialschwelle in B entspricht. Ein Teilchen mit E < V0 hingegen ist nach den Gesetzen der klassischen Physik

168

5

Die Welt im Kleinen

Abb. 5.7 Potentialschwelle: Im Atomkern (A) und außerhalb des Kerns (C) ist das Potential null. Die Grenze zwischen A und C bildet B, wo das Potential größer als null ist (V0 > 0). Ein im Kern befindliches Teilchen mit E < V0 kann ihn nach den Gesetzen der klassischen Physik nicht verlassen

im Kern gefangen. Was die Quantenphysik dazu sagt, erfahren wir, wenn wir die Schrödinger-Gleichung eines solchen Teilchens lösen. Wir tun das in zwei Schritten: Im ersten Schritt lösen wir sie getrennt für jeden der Bereiche A, B und C und erhalten eine abschnittweise bestimmte Wellenfunktion mit fünf freien Parametern. Im zweiten bestimmen wir vier dieser Parameter; das genügt, um das Verhalten des Teilchens zu erkennen. (1a) Bereich A: x < 0 und V = 0 Hier haben wir es mit der Gleichung des freien Teilchens zu tun: ψ A (x) +

8 π 2m E ψ A (x) = 0. h2

Als deren Lösung erhalten wir analog zu Abschn. 5.8     2π √ 2π √ ψ A (x) = A1 sin 2m E x + A2 cos 2m E x . h h

(5.30)

(1b) Bereich B: 0 ≤ x ≤ L und V = V0 > 0 Die Gleichung dieses Falls lautet ψ B (x) +

8 π 2m (E − V0 ) ψ B (x) = 0. h2

Ihre charakteristische Gleichung hat für E < V0 die beiden reellen Lösungen λ1,2 = √ ± (2π/h) 2m(V0 − E) , woraus folgt: ψ B (x) = B1 e

2π √ h 2m(V0 −E) x

+ B2 e−

2π √ h 2m(V0 −E) x .

Hier muss B1 = 0 sein, weil andernfalls der erste Summand mit zunehmendem x unbeschränkt wachsen würde und ψ B für L → ∞ nicht normierbar wäre. Daher bleibt

5.9 Teilchen, wo keine sein sollten

169

ψ B (x) = B2 e−

2π √ h 2m(V0 −E) x .

(5.31)

(1c) Bereich C: x > L und V = 0 In C liegt wieder ein freies Teilchen vor, also  ψC (x) = C1 sin

   2π √ 2π √ 2m E x + C2 cos 2m E x . h h

(5.32)

(2) Bestimmen der freien Parameter Ergebnis des ersten Schritts ist eine Wellenfunktion, die abschnittweise durch ψ A , ψ B und ψC gegeben ist und die Parameter A1 , A2 , B2 , C1 und C2 enthält. Wir drücken nun vier davon – A1 , A2 , C1 und C2 – durch den fünften aus und geben zuletzt einen Weg an, auch diesen festzulegen. Damit eine Funktion ψ die Schrödinger-Gleichung erfüllen kann, muss sie zweimal differenzierbar sein. Jede der Teilfunktionen ψ A , ψ B und ψC erfüllt diese Bedingung. Damit auch die zusammengesetzte Funktion ψ sie erfüllt, darf an den Übergangstellen kein Sprung oder Knick auftreten; es müssen dort sowohl die Funktionswerte als auch die Werte der ersten Ableitungen gleich sein: lim ψ A (x) = ψ B (0),

x→0

lim ψ A (x) = ψ B (0),

x→0

lim ψC (x) = ψ B (L),

x→L

lim ψC (x) = ψ B (L).

x→L

Diese Beziehungen ergeben, zusammen mit (5.30) bis (5.32), A1 , A2 , C1 und C2 als Funktion von B2 :  A1 = −

V0 − E B2 , E

A2 = B2 ,

(5.33a) (5.33b)

 V0 − E 2π √ C1 = 2m E L − 2m E L B2 , (5.33c) sin cos h E h      2π √ 2π √ V0 − E 2π √ B2 . (5.33d) C2 = e− h 2m(V0 −E) L 2m E L + cos 2m E L sin E h h 2π √ e− h 2m(V0 −E) L





2π √







Bleibt noch der Wert von B2 zu bestimmen; er muss gerade so groß sein, dass die Normierungsbedingung (5.24) erfüllt ist. Wir ersparen uns die Rechnung, denn das Wesentliche sehen wir auch so. Bildet man nämlich die Wellenfunktion gemäß (5.30) bis (5.33), ergibt sich Abb. 5.8.

170

5

Die Welt im Kleinen

Abb. 5.8 Potentialschwelle (oben) und Wellenfunktion eines Teilchens in A mit E < V0 (unten). Entgegen den Erwartungen der klassischen Physik ist ψ und damit die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Teilchens auch in B und C nicht null

Ein Teilchen kann mit gewisser Wahrscheinlichkeit aus dem Kern (A) entfliehen (nach C gelangen), obwohl seine Energie nach klassischen Maßstäben dazu nicht ausreicht. Die Wahrscheinlichkeit ist umso höher, je geringer das Energiedefizit des Teilchens ist. Da es die Potentialschwelle nicht „überspringen“ kann, „gräbt es durch sie hindurch einen Tunnel“ – man spricht hier vom Tunneleffekt. 1928 erklärte der Physikstudent George Gamow mit dem Tunneleffekt den Alphazerfall: jene Art der Radioaktivität, die Rutherford auf die Spur des Zerfallsgesetzes gebracht und die ihm schließlich die Entdeckung des Atomkerns ermöglicht hatte. Die Gamow-Theorie begründet auch die 1911 im Experiment gefundene GeigerNuttall-Regel, den Zusammenhang zwischen der Lebensdauer eines Kerns und der Energie der emittierten Teilchen. Der Tunneleffekt spielt aber nicht nur beim radioaktiven Zerfall eine Rolle, sondern auch bei der Kernfusion in der Sonne; ohne ihn würde sie nicht leuchten. Sogar in der Elektronenhülle macht er sich bemerkbar und regiert damit sowohl die Chemie als auch die Halbleiterphysik. Ein spezielles Halbleiterelement, die 1957 von Leo Esaki erfundene Tunneldiode, trägt ihr physikalisches Prinzip im Namen.

5.10

Der Bauplan des Wasserstoffs

Das Wasserstoffatom ist das einfachste aller Atome. Seine Eigenschaften sind leichter zu erfassen als die der anderen, und so wusste man über den Wasserstoff um 1900 gut Bescheid. Jede Theorie des Atombaus muss seitdem, um anerkannt zu werden,

5.10 Der Bauplan des Wasserstoffs

171

seine Eigenschaften beschreiben oder darf ihnen zumindest nicht widersprechen: „Das Wasserstoffatom ist invariant gegen jede Theorie.“ Auch Schrödingers Wellenmechanik musste diese Probe bestehen. Wie sie es geschafft hat, werden wir im Folgenden sehen. (1) Die Atommodelle von Rutherford und Bohr Rutherfords Atom von 1910 besteht aus einem positiv geladenen Kern und negativ geladenen Elektronen, die sich in einiger Entfernung vom Kern befinden. Dort können sie nicht bewegungslos verharren, da sie wegen der ungleichen Ladungsvorzeichen zum Kern gezogen werden. Rutherford schrieb ihnen eine Bewegung um den Kern zu, ähnlich jener der Planeten um die Sonne, bei der Anziehungs- und Zentrifugalkraft einander im Mittel die Waage halten. Damit taten sich zwei neue Schwierigkeiten auf und eine dritte blieb. Erstens war es ein Rätsel, warum alle Atome eines Elements gleich groß sind – Trabanten können in beliebiger Ellipse um das Zentrum laufen, doch die Elektronen machen von dieser Freiheit anscheinend keinen Gebrauch. Zweitens besagen die Maxwell-Gleichungen, dass beschleunigte Ladungen Energie abgeben – die Elektronen müssten langsamer werden und in den Kern stürzen, was sie auch nicht tun. Das dritte Problem betraf die Spektrallinien der Gase: Schickt man Licht durch ein Gas, dann fehlen Wellen gewisser Frequenzen im Spektrum der austretenden Strahlung. Erhitzt man das Gas und bringt es so zum Leuchten, dann besteht sein Licht aus Wellen mit genau diesen Frequenzen. Es gibt für jedes Gas ein charakteristisches Spektrum von Wellen, die je nach Versuchsanordnung absorbiert oder emittiert werden. Johann Jakob Balmer hatte 1885 für die Wellenlängen der vier im sichtbaren Licht liegenden Wasserstofflinien, gemessen in Angström (10−10 m), die Formel 3645,6 ·

m2 −4

m2

mit m = 3, 4, 5, 6 gefunden und daraus die Vermutung abgeleitet, das Wasserstoffspektrum einschließlich seiner Infrarot- und Ultraviolettlinien lasse sich durch λ = 3645,6 ·

m2 m 2 − n2

mit n = 1, 2, . . . und m = n + 1, n + 2, . . . beschreiben [4]. Aus dieser Beziehung ging eine noch allgemeinere für die Frequenz der Wasserstofflinien hervor:  ν = 3,2898 · 10 Hz · 15

1 1 − 2 2 n1 n2

 (5.34)

mit n 1 = 1, 2, . . . und n 2 = n 1 + 1, n 1 + 2, . . . . Niels Bohr ersann 1913 eine Hypothese, die alle drei Probleme – die Größe der Atome, ihre Stabilität und die Existenz von Spektrallinien – zugleich lösen sollte: Es gibt im Atom nur bestimmte Bahnen, die den Elektronen zugänglich sind; dort

172

5

Die Welt im Kleinen

können sie aber umlaufen, ohne Energie zu verlieren. Das sind jene Bahnen, für die das Produkt aus dem Impuls des Elektrons und der Weglänge eines Umlaufs ein ganzzahliges Vielfaches des planckschen Wirkungsquantums ist [6]. Dreizehn Jahre davor hatte Planck die Quantisierung der Energie gefunden, und so klang die Quantisierung der Elektronenbahnen weniger befremdlich, als sie andernfalls geklungen hätte. Ein Elektron mit Masse m e und Geschwindigkeit v (und daher Impuls m e v ) kann also nach Bohr Kreisbahnen nur solcher Radien r durchlaufen, für die m e v · 2πr = nh

(5.35)

mit n = 1, 2, . . . gilt. Für stabile Bahnen müssen die auf das Elektron wirkende Anziehung durch den Kern und die Zentrifugalkraft gleich groß sein. Da Wasserstoffkern und Elektron jeweils Ladungen vom Betrag der Elementarladung e haben, bedeutet das m e v2 1 e2 = . 2 4π ε0 r r

(5.36)

(5.35) und (5.36) ergeben zusammen die möglichen Bahnradien und damit die mögliche Gesamtenergien En = −

m e e4 1 8ε02 h 2 n 2

(5.37)

des (einzigen) Elektrons im Wasserstoffatom. Das Vorzeichen resultiert aus der Konvention, die potentielle Energie auf die unendliche Entfernung vom Kern zu beziehen und ihr dort den Grenzwert null zuzuschreiben, was die Rechnung vereinfacht, an den Resultaten aber nichts Wesentliches ändert. Die Zahl n in (5.37) heißt heute Hauptquantenzahl. Wechselt das Elektron von einem Energieniveau in ein anderes, so muss es ein passendes Energiequantum entweder aufnehmen (wenn das neue Niveau höher liegt) oder abgeben (wenn es tiefer liegt). Der Betrag der aufgenommenen oder abgegebenen Energie beim Übergang zwischen Niveaus mit den Hauptquantenzahlen n 1 und n 2 > n 1 ist   1 m e e4 1 E= 2 2 − 2 . 8ε0 h n 21 n2 Ihm entspricht wegen E = hν eine Frequenz von m e e4 ν= 2 3 8ε0 h



1 1 − 2 n 21 n2

 .

Da m e e4 /8ε02 h 3 = 3,2898 · 1015 Hz ist, ergibt sich (5.34) aus den bohrschen Postulaten.

5.10 Der Bauplan des Wasserstoffs

173

Ungeklärt blieb, warum (5.35) gelten sollte. Diese Beziehung konnte aus keinem physikalischen Prinzip abgeleitet werden, und ausgerechnet sie bildete die Grundlage für Quantenzahlen, Energieniveaus und Spektrallinien – bis sie überflüssig wurde, weil sich Bohrs Modell aus der Schrödinger-Gleichung ergab. (2) Die Schrödinger-Gleichung des Wasserstoffatoms Wir interessieren uns für die stationären Zustände des Elektrons im Wasserstoffatom und gehen daher von seiner zeitunabhängigen Schrödinger-Gleichung aus; diesmal aber, um ein räumliches Bild zu erhalten, von ihrer dreidimensionalen Fassung (5.21). Das Potential V wird bestimmt von der Anziehung des Elektrons durch den Kern. Wir beziehen die potentielle Energie des Elektrons auf die unendliche Entfernung vom Kern, setzen also ihren entsprechenden Grenzwert gleich null. Im Abstand r vom Kern ist sie um jenen Betrag geringer, den das Elektron aufwenden müsste, um von dort ins Unendliche zu entkommen: ∞ V (r ) = 0 − r

1 e2 e2 du = − . 4π ε0 u 2 4π ε0 r

(5.38)

 Da V nicht explizit von x, y und z abhängt, sondern nur von r = x 2 + y 2 + z 2 , ist es günstig, die Schrödinger-Gleichung in Kugelkoordinaten r , θ, ϕ , wie wir sie in Abschn. 2.2 verwendet haben, zu formulieren. Dann lässt sich die Wellenfunktion als Produkt einer nur von r und einer nur von θ und ϕ abhängigen Funktion schreiben: ψ(r , θ, ϕ) = R(r ) Y (θ, ϕ), und man erhält eine Gleichung für R(r ) allein und eine zweite für Y (θ, ϕ) allein. Schon das Aufstellen dieser Gleichungen ist schwierig, ihr Lösen erst recht, und daher begnügen wir uns damit, die Etappenziele zu beschreiben. Die Winkelabhängigkeit der Wellenfunktion wollen wir vorerst außer Acht lassen und uns auf R(r ) konzentrieren. Für dieses ergibt sich aus (5.21) und (5.38): R  +

2  8π 2 m e R + r h2

 E+

e2 l (l + 1)h 2 − 4π ε0 r 8π 2 m e r 2

 R = 0.

(5.39)

Wie die Gleichung für den Potentialtopf, so ist auch (5.39) nur für bestimmte Energiewerte lösbar; und zwar für die bohrschen Energien E n aus (5.37). Für jedes E n hat (5.39) genau n Lösungen, denn der Parameter l in (5.39) – die Drehimpulsquantenzahl – muss, damit eine Lösung existiert, ganzzahlig sein und einen Wert von 0 bis n − 1 annehmen. Auf diese Weise gelangt man zu einer Serie von Lösungen Rn,l (r ) für den Radialanteil der Wellenfunktion:

174

5

R1,0 (r ) = R2,0 (r ) = R2,1 (r ) = R3,0 (r ) = R3,1 (r ) = R3,2 (r ) =

1

r −a

Die Welt im Kleinen

0, 3 √ π a02   r r 1 − 2a 0, 1 − e 3 √ 2a0 π (2a0 ) 2 r − 2ar 1 e 0, 3 a √ 2 3π (2a0 ) 2 0   r 1 2r 2 2r − + 1− e 3a0 , 3 2 √ 3a0 27a0 π (3a0 ) 2   r r 4 r2 − − 2 e 3a0 , 3 √ a0 6a0 9 2π (3a0 ) 2 r 2 − 3ar 2 e 0 3 a2 √ 27 10π (3a0 ) 2 0

e

(5.40a)

(5.40b) (5.40c)

(5.40d)

(5.40e)

(5.40f)

usw. Die darin vorkommende Konstante a0 =

ε0 h 2 = 5,29 · 10−11 m π m e e2

ist der bohrsche Radius: jener Radius, der sich für n = 1 aus (5.35) und (5.36) ergibt und in Bohrs Modell die innerste Elektronenbahn beschreibt. In Schrödingers Theorie, interpretiert nach Born, hat die Wahrscheinlichkeitsdichte des Aufenthalts für das Elektron im energieärmsten Zustand bei a0 ein Maximum: Das Elektron befindet sich am ehesten im Abstand a0 vom Kern. Die Wahrscheinlichkeit dafür, das Elektron in einer Kugelschale der Dicke dr mit Mittelpunkt im Kern und Radius r zu finden, beträgt wegen (5.23) dp(r ) = |ψ(r )|2 · 4πr 2 dr .

(5.41)

Ersetzt man hier ψ(r ) durch den Radialanteil R(r ) und lässt die Winkelabhängigkeit der Wellenfunktion beiseite, ergibt sich Abb. 5.9. Die Abbildung lässt bevorzugte Entfernungen des Elektrons vom Kern erkennen: jene, für die die Aufenthaltswahrscheinlichkeiten hoch sind. Nimmt man die Winkelabhängigkeit Y (θ, ϕ) hinzu, ergeben sich bevorzugte Aufenthaltsbereiche. In diesem Zusammenhang nennt man die Wellenfunktionen (mitunter auch die Aufenthaltsbereiche selbst) Orbitale. Sie erstrecken sich auch auf Orte mit E < V , die das Elektron aus klassischer Sicht nicht erreichen könnte. Hier zeigt sich der Tunneleffekt beim Elektron.

5.11 Was ist Leben?

175

Abb. 5.9 Die ersten drei Energieniveaus des Elektrons im Wasserstoffatom und die zugehörigen Aufenthaltswahrscheinlichkeiten für l = 0 (durchgezogen), l = 1 (strichliert) und l = 2 (punktiert). Die Hyperbel zeigt das Potential V . Die Aufenthaltswahrscheinlichkeiten sind auch in Bereichen mit E < V , also bei Kernabständen, die das Elektron nach den Gesetzen der klassischen Physik nicht erreichen könnte, größer als null; hier zeigt sich der Tunneleffekt. Abstände sind in Angström ( 1 Å = 10−10 m ) angegeben, Energien in Elektronvolt ( 1 eV = 1,602 · 10−19 Joule )

Was zuerst für den Wasserstoff gelang, nämlich die Aufklärung seiner Struktur als Lösungsgesamtheit der Schrödinger-Gleichung, das gelang in der Folge auch für komplizierter gebaute Atome und sogar für Moleküle. Damit nehmen Schrödingers Schriftzeichen in der Wissenschaft von der Materie einen ähnlichen Rang ein wie die newtonschen in der Wissenschaft von der Bewegung: Chiffren der Ewigkeit – auch wenn eines Tages ein neuer Einstein kommen wird.

5.11

Was ist Leben?

Auf die Frage, was Leben sei, gibt es so viele Antworten wie Befragte, und eine abschließende werden auch wir nicht finden. Wir nehmen sie aber zum Anlass, über einen Aspekt des Lebens nachzudenken; weil nämlich Erwin Schrödinger What is Life? zum Titel eines Buchs gewählt hat, in dem er darlegt, dass Leben, wie wir es kennen, im Rahmen der klassischen Physik nicht zu verstehen ist, sondern (wenn überhaupt) nur durch die Quantenphysik [48]. Schrödinger hat seinem Essay eine Entschuldigung vorangestellt, die den Ausflug auf fremdes Terrain rechtfertigen sollte: dass man dem Ziel eines ganzheitlichen, alles umfassenden Wissens nur näherkomme, wenn „einige von uns sich an die Zusammenschau von Tatsachen und Theorien wagen, auch wenn ihr Wissen teilweise aus zweiter Hand stammt und unvollständig ist und sie Gefahr laufen, sich lächerlich zu machen“. Seinen Gedanken folgen wir nun.

176

5

Die Welt im Kleinen

Das Funktionieren eines Organismus verlangt exakte physikalische Gesetze, und solche kommen nur zustande, wenn eine ungeheure Anzahl von Teilchen beteiligt ist. Wir wissen seit Maxwell und Boltzmann, dass die Teilchen eines Gases sich ungeordnet bewegen und ihre scheinbare Ordnung eine statistische ist. Denken wir uns ein Volumen, das bei Normaldruck ein einziges Sauerstoffmolekül enthält, in zwei Hälften geteilt. Eine Hälfte enthält das Molekül, die andere nicht. Würden wir in Portionen solcher Halbvolumina atmen, so blieben wir bei der Hälfte aller Atemzüge ohne Sauerstoff. Auch beim Atmen von nur zehn oder hundert Molekülen würden wir einmal zu viel, einmal zu wenig Sauerstoff aufnehmen. Die √ absolute Schwann und damit die kung der Anzahl n eingeatmeter Moleküle liegt in der Ordnung √ relative in der Ordnung 1/ n ; sie beträgt also bei hundert Molekülen noch immer rund zehn Prozent. Tatsächlich aber enthält ein Atemzug etwa 1022 Sauerstoffmoleküle; die relative Schwankung dieser Anzahl beträgt nur 10−11 , wir können uns also auf das Atmen verlassen. So ist es bei allem, was im Körper vorgeht. Die Stoffwechselmodelle unseres Abschn. 4.5 sind ja in Wahrheit statistische und beziehen ihre Exaktheit nur aus der Anzahl der beteiligten Teilchen. Gleiches gilt für unsere Sinne: Wäre das Sehen vom Einfang einiger weniger Photonen bestimmt, so nähmen wir anstatt Helligkeit und Farbe nichts als Flackern wahr; wäre das Hören die Wirkung einzelner das Trommelfell treffender Luftteilchen, verkäme der schönste Geigenton zu einem Prasseln und Knattern; wir würden weder Druck fühlen noch Wärme und Kälte noch Geruch und Geschmack, lediglich ein unregelmäßiges Einschlagen bewegter Teilchen. Und wie der Reiz, der eine Empfindung auslöst, durch ein Zusammenwirken vieler Teilchen zustande kommen muss, so muss auch das Empfangsorgan aus vielen Teilchen bestehen, sonst wäre die Zufälligkeit der Wechselwirkung nur auf die andere Seite verlegt. Alles Beständige, von den physikalischen Parametern des Körpers über die Stabilität seiner Funktionen bis zur Konstanz der Empfindungen, resultiert aus der Statistik großer Zahlen. Es ist daher kein Wunder, dass alle bekannten Organismen aus unzähligen Teilchen bestehen – selbst die Einzeller, denn eine einzige Zelle enthält Millionen von Molekülen. Die vorstehenden Überlegungen sagen zwar nicht, wie Leben entsteht, und sie geben auch sonst wenig Auskunft über dieses wohl rätselhafteste aller Phänomene. Doch immerhin liefert die Erkenntnis, dass alles, was Leben ausmacht, Millionen und Milliarden von Teilchen erfordert, ein sicheres Fundament für die weiteren Studien. So dachte man bis 1935, und dann kam alles ganz anders. Eine Besonderheit des Lebens ist, dass es neues Leben zeugt, und die Merkmale der Nachfolger ähneln denen der Vorgänger so sehr, dass man fast von Kopien sprechen kann: Bäume zeugen Bäume, Fische zeugen Fische, Menschen zeugen Menschen. Auch die individuellen Eigenschaften sind auffällig beständig: dunkelhäutige Menschen zeugen dunkelhäutige, große Eltern haben meist große Kinder, und die Ähnlichkeit der Erscheinung bleibt oft über Generationen erhalten. Diese Weitergabe nennen wir Vererbung. Die Chromosomen als Träger der Erbinformation wurden Ende des 19. Jahrhunderts gefunden. Dass dort bestimmte Abschnitte für die einzelnen Merkmale zuständig sind, entdeckte Wilhelm Johannsen 1909; er nannte die Abschnitte Gene. Eine Veränderung der Erbinformation, die zum Auftreten eines neuen Merkmals (oder zum Verschwinden eines alten) führt, ist eine Veränderung,

5.11 Was ist Leben?

177

Mutation, des zuständigen Gens. 1935 fanden Nikolai Timofejew-Ressowski, Karl Günther Zimmer und Max Delbrück dreierlei heraus: Erstens, man kann Mutationen durch Röntgenstrahlung hervorrufen; zweitens, Mutationen sind Einzelereignisse und nicht eine Sammelwirkung – ein einmal bestrahltes, nicht mutiertes Gen zeigt in der Folge keine höhere Neigung zur Mutation als ein unbestrahltes; drittens, die für die Mutation maßgebliche veränderliche Struktur umfasst nur etwa tausend Atome, vielleicht sogar viel weniger. Mutationen sind außerordentlich seltene Ereignisse; die Beständigkeit des Erbmaterials hat die Forscher ja überhaupt erst auf die richtige Fährte gebracht. Fast alle der 20 000 bis 30 000 Gene der Zelle, aus der ein Nachfolger hervorgeht, bleiben im Lauf ihres Lebens unverändert. Nun haben wir eingangs die Beständigkeit des Lebendigen mit dem Zusammenwirken einer riesigen Anzahl von Teilchen erklärt. Auf die Beständigkeit der Atomgruppen, die die Konstanz der Erbanlagen garantiert, ist diese Erklärung nicht anwendbar. Sie bestehen aus wenigen Atomen und befinden sich zudem in lebenslangem Kontakt mit einer körperwarmen Umgebung, werden also bombardiert von Teilchen, die Energie tragen – da ist es unerklärlich, warum nicht über kurz oder lang (in makroskopischen Begriffen: augenblicklich) ein neuer stabiler Zustand entsteht und damit ein mutiertes Gen. Unerklärlich im Rahmen der klassischen Physik; in der Quantenphysik sieht die Sache anders aus. Aus der Schrödinger-Gleichung folgt ja, dass gebundene Teilchen nur bestimmte Energieniveaus und damit nur bestimmte Konfigurationen haben können. Um von einem stabilen Zustand in einen anderen überzugehen, muss ein System eine bestimmte Energiemenge aufnehmen (auch wenn der neue Zustand energetisch tiefer liegt; denn der Übergang erfordert einen Zwischenzustand höherer Energie, sonst hätte der Ausgangszustand nicht stabil sein können). Wenn die nötige Energiemenge groß ist, ist ihre Aufnahme unwahrscheinlich. Wie unwahrscheinlich, das sagt uns die Boltzmann-Verteilung (5.4): Die Wahrscheinlichkeit dafür, ein System der Temperatur T in einem Zustand mit Energie E zu finden, ist im Wesentlichen proportional zu E

e− kT , wo k die Boltzmann-Konstante ist. Sei nun W die für eine Mutation nötige Zusatzenergie. Die Wahrscheinlichkeiten der Zustände mit den Energien E + W und E verhalten sich wie e−

E+W kT E

W

= e− kT .

e− kT Hier kommt E nicht mehr vor. Die Energie des Ausgangszustands spielt also keine Rolle für die Wahrscheinlichkeit einer Mutation und damit für die Zeit, die ein Gen im Mittel auf sein Mutieren warten muss. Diese Zeit beträgt laut Schrödinger W

τ e kT ,

178

5

Die Welt im Kleinen

wobei τ bei 10−13 oder 10−14 Sekunden liegt. Mit W = 30kT ist das rund 1 Sekunde; mit W = 60kT bereits um die 100 000 Jahre. Die Werte für W sind nach einem Beispiel von Delbrück gewählt und vermutlich realistisch. Damit ist gezeigt, dass langsam mutierende Gene möglich sind. Rasch mutierende sterben aus, weil die meisten Mutationen nachteilig sind und damit auch der Gesamteffekt gleichzeitiger Mutationen nachteilig ist. Nur langsam mutierende geben der Natur die Möglichkeit, günstige Veränderungen zu selektieren. Also folgt erst aus der Quantenphysik, dass es beständige Erbsubstanz und natürliche Selektion geben kann. Schrödingers Text entstand vor einem Dreivierteljahrhundert. Das Wissen der Fachleute war bruchstückhaft, die Molekularbiologie gerade im Entstehen, und erst ein Jahrzehnt später entschlüsselten James Watson und Francis Crick die DNA. Wir dürfen nicht erwarten, dass die hier vertretene These der letzte Schrei wäre; vielleicht ist sie falsch. Doch das würde ihren Wert nicht schmälern, denn jede naturwissenschaftliche Theorie ist vorläufig, und die Erkenntnisse von morgen heißen deswegen so, weil man sie heute noch nicht hat. Wir sind nun am Ende unserer Reise durch die Wissenschaft. Wenn ein Mann wie Schrödinger eine Entschuldigung für nötig hielt ob seiner Gedanken zu einem Thema, das er nach eigenen Worten nicht beherrschte, dann ist auch eine Entschuldigung für das vorliegende Buch angebracht, enthält es doch Gedanken zu vielen Themen, die sein Autor nicht beherrscht. Ich bitte um Nachsicht von Seiten derer, die sie beherrschen, und möchte einen mildernden Umstand anführen: Das alles Verbindende, die Differentialgleichungen – die sind entstanden, weil sich ein Naturphilosoph und ein Diplomat in Dinge eingemischt haben, die sie nichts angingen.

Anhang A Physikalische Größen

Größe

Symbol Wert

Gravitationskonstante Vakuumlichtgeschwindigkeit elektrische Feldkonstante magnetische Feldkonstante universelle Gaskonstante Boltzmann-Konstante plancksches Wirkungsquantum Elementarladung Masse des Elektrons Masse des Alphateilchens bohrscher Radius Hubble-Konstante

G c ε0 μ0 R k h e me mα a0 H0

6,674 08 · 10−11 m3 kg−1 s−2 2,997 924 58 · 108 m s−1 8,854 187 817 · 10−12 F m−1 1,256 637 0614 · 10−6 N A−2 8,314 4598 J mol−1 K−1 1,380 648 52 · 10−23 J K−1 6,626 070 040 · 10−34 J s 1,602 176 6208 · 10−19 C 9,109 383 56 · 10−31 kg 6,644 657 230 · 10−27 kg 5,291 772 1067 · 10−11 m 2,20 · 10−18 s−1

[38] [38] [38] [38] [38] [38] [38] [38] [38] [38] [38] [39]

Lit.

Masse der Erde Radius der Erde1 Erdbeschleunigung1 große Halbachse der Erdbahn Sternenjahr Masse der Sonne Radius der Sonne1 Masse des Mondes Radius des Mondes1 1 Mittelwert

− − g − − − − − −

5,9723 · 1024 kg 6,371 000 · 106 m 9,81 m s−2 1,4960 · 1011 m 365,256 36 Tage 1,9885 · 1030 kg 6,957 · 108 m 7,346 · 1022 kg 1,7374 · 106 m

[34] [34] [34] [34] [39] [37] [37] [36] [36]

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Tschirk, Der Laplacesche Dämon, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61647-5

179

Anhang B Mathematischer Anhang

B.1

Grundzüge der Differentialrechnung

Naturwissenschaftler drücken Zusammenhänge zwischen Größen als Funktionen aus: das Gewicht eines Körpers als Funktion seiner Masse, den Impuls als Funktion von Masse und Geschwindigkeit, den Druck eines Gases als Funktion von Menge, Volumen und Temperatur. Ein Zweck der Differentialrechnung ist es, aus Zusammenhängen zwischen Größen Zusammenhänge zwischen deren Veränderungen zu finden. Ist eine Größe y Funktion einer Größe x, also y = f (x) , dann ist zu ermitteln, nach welchem Gesetz sich y ändert, wenn x sich ändert. Ein Maß dafür ist die Steigung der Tangente an den Graphen von f . Um sie in einem Punkt (x, f (x)) zu bestimmen, nimmt man neben diesem einen weiteren Punkt (x + x, f (x + x)) an, ermittelt die Steigung der Sekante zwischen den beiden und lässt dann x gegen null gehen (Abb. B.1). Die so als Grenzwert erhaltene Tangentensteigung nennt man erste Ableitung der Funktion und schreibt sie als f  (x): f  (x) = lim

x→0

f (x + x) − f (x) . x

(B.1)

Abb. B.1 Die Ableitung von f an der Stelle x ist die Steigung der Tangente im Punkt (x, f (x)) (durchgezogen). Sie ist der Grenzwert der Steigung einer Sekante (strichliert) für x → 0 © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Tschirk, Der Laplacesche Dämon, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61647-5

181

182

Anhang B Mathematischer Anhang

f  (x) (auch als y  geschrieben) hängt von x ab, ist also eine Funktion von x . Leitet man diese wiederum ab, erhält man die zweite Ableitung f  (x) usw. Für die „unendlich kleinen“ Differenzen der y- und x-Werte, die sich bei der Grenzwertbildung (B.1) in Zähler und Nenner ergeben, schreibt man auch dy und d x, und so sind dy f  (x) = y  = dx dasselbe, ebenso d2 y dx2 usw. Die Ableitung dy/d x heißt auch Differentialquotient. Die Regeln des Ableitens ergeben sich aus (B.1). Beispielsweise ist die Ableitung von f (x) = x 2 gegeben durch f  (x) = y  =

(x + x)2 − x 2 x 2 + 2 x x + (x)2 − x 2 = lim x→0 x→0 x x x (2x + x) = lim = lim (2x + x) = 2x. x→0 x→0 x

f  (x) = lim

Einige oft gebrauchte Ableitungen sind in Tab. B.1 zusammengefasst. Tab. B.1 Oft gebrauchte Ableitungen. x: Variable; k, q: Konstante; f , g: Funktionen Ableitungen bestimmter Funktionen

Ableitungen bestimmter Verknüpfungen

(k) = 0 (x q ) = q x q−1 (e x ) = e x 1 (ln x) = x

(k f ) = k f  ( f + g) = f  + g  ( f − g) = f  − g 

(sin x) = cos x (cos x) = − sin x (tan x) = 1 + tan2 x 1 (arctan x) = 1 + x2

( f g) = f  g + f g    f  g − f g f = g g2 (g( f )) = g  ( f ) f 

Wir haben die Ableitung bisher als Funktion von x betrachtet. Ihren Wert an einer speziellen Stelle x0 erhält man durch Einsetzen dieser Stelle. Drückt man y(x) durch eine neue Variable v(x) aus: y(x) = y(v(x)), gilt nach der letzten Regel in Tab. B.1, der Kettenregel (g( f )) = g  ( f ) f  : dy dy dv = . dx dv d x

Anhang B Mathematischer Anhang

183

Nicht jede Funktion ist überall differenzierbar. Keine Ableitung gibt es, wo der Funktionswert einen Sprung macht (die Funktion nicht stetig ist), der Graph eine Ecke hat oder die Tangente senkrecht verläuft. Viele Größen sind Funktionen mehrerer Variabler. Wir betrachten eine Funktion zweier Variabler, z = f (x, y); was wir finden, kann auf Funktionen von mehr als zwei Variablen verallgemeinert werden. Die Änderung von z, bezogen auf die alleinige Änderung von x, wird ausgedrückt durch die partielle Ableitung ∂z/∂ x, in der x als Variable betrachtet wird, y hingegen als Konstante, und die ansonsten den Regeln von Tab. B.1 folgt. Statt ∂z/∂ x schreibt man auch z x oder f x . Analog wird die Änderung von z, bezogen auf die alleinige Änderung von y, ausgedrückt durch ∂z/∂ y (auch z y oder f y ), wo y variabel und x konstant ist. Die Änderung von z bei Änderung beider Variabler, das totale Differential, ist gegeben durch dz =

∂z ∂z dx + dy. ∂x ∂y

Drückt man z(x, y) durch zwei neue Variable v(x, y) und w(x, y) aus: z(x, y) = z(v(x, y), w(x, y)), lautet die Kettenregel ∂z ∂v ∂z ∂w ∂z = + oder z x = z v vx + z w wx ∂x ∂v ∂ x ∂w ∂ x und analog für ∂z/∂ y . Ebenso wie bei Funktionen nur einer Variablen gibt es höhere Ableitungen: ∂ 2 z/∂ x 2 oder z x x , ∂ 2 z/∂ x∂ y oder z x y usw. Sind z x y und z yx stetig, gilt z x y = z yx .

B.2

Grundzüge der Integralrechnung

Betrachten wir wieder y = f (x). Ein Zweck der Integralrechnung ist es, das Produkt von x und y, speziell bei veränderlichem y, zu ermitteln und das Gesetz, nach dem sich dieses Produkt verändert, wenn x sich ändert. Das Produkt kann durch die Fläche unter dem Graphen von f ausgedrückt werden. Um diese Fläche zwischen zwei Stellen a und x zu bestimmen, nähert man sie durch Rechtecke der Breite x an, addiert deren Flächen und lässt dann x gegen null gehen (Abb. B.2). Die so als Grenzwert erhaltene Fläche heißt Integral von f : x f (u) du = lim a

x→0

 i

f (a + ix) x.

(B.2)

184

Anhang B Mathematischer Anhang

Abb. B.2 Das Integral von f zwischen a und x ist die Fläche unter dem Graphen zwischen den beiden Stellen. Es ist der Grenzwert einer Summe von Rechteckflächen (schraffiert) für x → 0

Für das Integral gibt es noch eine andere Schreibweise,  f (x) d x. Sie bezeichnet die Menge aller Integrale, die sich dadurch ergeben, dass in (B.2) der Parameter a alle möglichen Werte durchläuft. Man spricht hier vom unbestimmten Integral: der Menge aller Stammfunktionen von f . Die Regeln zum Auffinden von Stammfunktionen ergeben sich aus (B.2). Beispielsweise erhält man eine Stammfunktion von f (x) = 2x dadurch, dass man das Intervall von 0 bis x in n Intervalle der Breite x = x/n teilt und n gegen unendlich gehen lässt: x 0

 n−1 n−1   2  x x 2 f (u) du = lim 2 i i = x lim n→∞ n→∞ n 2 n n i=0 i=0   2 (n − 1)n 2 = x 2. = x lim n→∞ n 2 2

Hätten wir als untere Grenze des Integrationsbereichs nicht 0, sondern einen anderen Wert a gewählt, dann hätte sich das Ergebnis vom soeben erhaltenen um einen von a abhängigen Betrag C unterschieden. Um das auszudrücken, schreiben wir für das unbestimmte Integral  f (x) d x = F(x) + C, wobei F eine beliebige Stammfunktion von f ist und C alle Werte durchläuft. Einige oft gebrauchte Integrale sind in Tab. B.2 zusammengefasst.

Anhang B Mathematischer Anhang

185

Tab. B.2 Oft gebrauchte Integrale. x : Variable; k, q : Konstante, q = 1; f , g : Funktionen Integrale bestimmter Funktionen  k d x = kx + C  x q+1 xq dx = +C q +1  ex d x = ex + C  1 d x = ln |x| + C  x  

Integrale bestimmter Verknüpfungen   kf = k f    f +g= f + g    f −g= f − g   f  g = f g − f g  g  ( f ) f  = g( f )

sin x d x = − cos x + C cos x d x = sin x + C 1 d x = arctan x + C 1 + x2

Ist F eine Stammfunktion von f , dann ist die Fläche unter dem Graphen von f zwischen a und b gegeben durch das bestimmte Integral b f (x) d x = F(b) − F(a), a

wofür man auch F(x)|ab oder [F(x)]ab schreibt. Bei unbegrenztem Integrationsbereich liegt ein uneigentliches Integral vor, das als Grenzwert eines gewöhnlichen (eigentlichen) Integrals verstanden werden kann, beispielsweise ∞

b f (x) d x = lim

f (x) d x,

b→∞

a

a

falls dieser Grenzwert existiert. In Anhang B.1 haben wir festgestellt, dass die Ableitung von x 2 gleich 2x ist, und im vorliegenden Abschnitt, dass x 2 eine Stammfunktion von 2x ist. Dieser Zusammenhang gilt allgemein: Die Ableitung einer Stammfunktion von f ist wieder f , und ebenso ist f eine Stammfunktion der Ableitung von f . Das ist der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung. Aus ihm folgt unmittelbar d dx

x f (u) du = f (x). a

Nicht jede, aber jede stetige Funktion ist integrierbar, besitzt also eine Stammfunktion.

186

Anhang B Mathematischer Anhang

Auch Funktionen mehrerer Variabler können integriert werden, wobei bei stetigen Funktionen die Integration der Reihe nach über die einzelnen Variablen geschehen kann (die jeweils anderen werden dabei als Konstante angesehen) und die Reihenfolge egal ist:        f (x, y) d x d y = f (x, y) d x dy = f (x, y) dy d x.

B.3

Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen

Ein erheblicher Teil dieses Buchs handelt von gewöhnlichen Differentialgleichungen 1. Ordnung (linearen und nichtlinearen), von gewöhnlichen linearen Differentialgleichungen 2. Ordnung sowie von den mit solchen Gleichungen verbundenen Anfangswertaufgaben. Deshalb betrachten wir hier diese Fälle. Die Lösbarkeit anderer Aufgaben behandeln wir an Ort und Stelle. Die Anfangswertaufgabe 1. Ordnung y  = f (x, y),

y(x0 ) = c,

(B.3)

bei der f (x, y) in einer Umgebung des Punkts (x0 , c) stetig ist mit einer stetigen partiellen Ableitung nach y, besitzt in einer Umgebung von (x0 , c) eine eindeutige Lösung. Diese Aussage ist eine Folgerung aus dem weiter reichenden Existenzund Eindeutigkeitssatz von Émile Picard und Ernst Lindelöf aus dem Jahr 1890, der etwas schwieriger ist und den wir nicht benötigen. Für die Aufgabe wird nicht einfach die Existenz und Eindeutigkeit einer Lösung behauptet, sondern die Existenz und Eindeutigkeit innerhalb einer Umgebung des Anfangspunkts. Wie groß diese Umgebung ist, darüber ist nichts gesagt. (Der Satz von Picard und Lindelöf klärt hingegen auch das.) Die Einschränkung ist nicht dramatisch, denn der Gültigkeitsbereich einer Lösung ergibt sich in der Regel aus der Anwendung. Die beiden weiteren Fälle betreffen Anfangswertaufgaben mit linearen Differentialgleichungen. Die lineare Anfangswertaufgabe 1. Ordnung y  + p(x) y = s(x),

y(x0 ) = c,

(B.4)

bei der p(x) und s(x) stetig sind auf einem Intervall I , das x0 enthält, hat auf I eine eindeutige Lösung. Linear ist die Gleichung in Bezug auf die gesuchte Funktion y und ihre Ableitung; p(x) und s(x) dürfen auch nichtlinear sein. Die lineare Anfangswertaufgabe 2. Ordnung y  + p(x) y  + q(x) y = s(x),

y(x0 ) = c,

y  (x0 ) = d,

(B.5)

bei der p(x), q(x) und s(x) stetig sind auf einem Intervall I , das x0 enthält, hat auf I eine eindeutige Lösung. Wieder ist die Gleichung linear in Bezug auf die gesuchte Funktion y und ihre Ableitungen; p(x), q(x) und s(x) dürfen auch nichtlinear sein.

Anhang B Mathematischer Anhang

B.4

187

Trennen der Variablen

Durch Trennen der Variablen lassen sich eine große Klasse von Gleichungen lösen, nämlich jene der Gestalt y =

f (x) . g(y)

(B.6)

Die Methode stellt auch bei komplizierteren Gleichungen einen wesentlichen Teil der Lösungsstrategie dar. Wir schreiben (B.6) zunächst als g(y) y  = f (x). Mit Stammfunktionen F von f und G von g können wir das ausdrücken als dG(y) d F(x) = , dx dx wobei links nach der Kettenregel abgeleitet wird, da y eine Funktion von x ist. Die Ableitungen von F und G nach x sind also gleich; daher unterscheiden sich F und G nur um eine additive Konstante: G(y) = F(x) + C.

(B.7)

Damit ist y(x) implizit gegeben und (B.6) gelöst. Meist werden beim praktischen Rechnen die Schritte des Verfahrens anders notiert. Man schreibt (B.6) als f (x) dy = , dx g(y) sammelt die y-Terme links, die x-Terme rechts: g(y) dy = f (x) d x, und integriert diese Zeile beiderseits:   g(y) dy = f (x) d x. So ergibt sich wiederum (B.7). Beim getrennten Aufschreiben der x- und y-Terme, dem das Verfahren seinen Namen verdankt, verfährt man mit d x und dy, als wären sie Ausdrücke, mit denen man multiplizieren könnte. Strenge Mathematiker lassen das nicht durchgehen, denn laut Abschn. 1.2 sind d x und dy für sich genommen ohne Bedeutung und nur dy/d x existiert, als Grenzwert eines echten Quotienten. Physiker und andere Erfahrungswissenschaftler sind weniger zimperlich. Das beginnt schon bei der Sprechweise „Legt ein Körper in der Zeit dt den Weg dr zurück“ und umfasst auch das Rechnen. Und wie schon Leibniz gezeigt hat, kommt man damit zu richtigen Resultaten.

188

B.5

Anhang B Mathematischer Anhang

Lineare Gleichungen 1. Ordnung

Wir leiten nun ein Verfahren zum Lösen der linearen Differentialgleichung 1. Ordnung y  + p(x) y = s(x)

(B.8)

ab. Ist die Störfunktion s(x) = 0 , heißt (B.8) inhomogen. Andernfalls entsteht die homogene Gleichung y  + p(x) y = 0.

(B.9)

Zunächst stellen wir fest, dass die Differenz zweier Lösungen der inhomogenen Gleichung eine Lösung der homogenen ergibt. Denn sind y und y p Lösungen von (B.8) und yh = y − y p ihre Differenz, dann ist yh + p(x) yh = (y − y p ) + p(x) (y − y p ) = y  + p(x) y − (y p + p(x) y p ) = s(x) − s(x) = 0 und damit yh eine Lösung von (B.9). Zu zwei beliebigen Lösungen y und y p der inhomogenen Gleichung gibt es daher eine Lösung yh der homogenen, so dass y = yh + y p ist. Das führt uns auf folgenden Weg: 1. Finde alle Lösungen yh der homogenen Gl. (B.9). 2. Finde eine Lösung y p der inhomogenen Gl. (B.8). 3. Bilde mittels y = yh + y p alle Lösungen y der inhomogenen Gl. (B.8). (1) Alle Lösungen der homogenen Gleichung Wir schreiben (B.9) als dy = − p(x) y, dx trennen die Variablen und erhalten durch Integrieren yh (x) = Ce−P(x) ,

(B.10)

worin P eine Stammfunktion von p ist und C eine noch unbestimmte Konstante. Das ist die allgemeine Lösung der homogenen Gleichung. (2) Eine Lösung der inhomogenen Gleichung Eine Lösung (die partikuläre Lösung y p ) von (B.8) erhält man, wenn man in (B.10) die Konstante C durch eine Funktion c(x) ersetzt: y p = c(x) e−P(x) .

Anhang B Mathematischer Anhang

189

Denn setzt man das in (B.8) ein, ergibt sich zunächst y p + p(x) y p = c (x) e−P(x) − c(x) p(x) e−P(x) + p(x) c(x) e−P(x) = c (x) e−P(x) = s(x). Daraus lässt sich c(x) bestimmen und damit die partikuläre Lösung:  c(x) =

s(x) e P(x) d x,

 y p (x) =

 s(x) e

P(x)

dx

e−P(x) .

(B.11)

Die Methode ist als Variation der Konstanten bekannt. In ihre heutige Form gebracht und 1777 publiziert wurde sie von Joseph-Louis Lagrange. (3) Alle Lösungen der inhomogenen Gleichung Alle Lösungen der inhomogenen Gleichung, also deren allgemeine Lösung, erhalten wir, indem wir die beiden Teillösungen (B.10) und (B.11) addieren:    P(x) d x e−P(x) . y(x) = yh (x) + y p (x) = C + s(x) e

(B.12)

Die Formel (B.12) zeigt, dass der beschriebene Weg stets zur Lösung führt. Beim Rechnen verwendet man sie kaum, denn meist ist es praktischer, einfach den Schritten (1) bis (3) zu folgen.

B.6

Lineare Gleichungen 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten

Wir entwickeln nun ein Verfahren zum Lösen der linearen Differentialgleichung 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten p und q , y  + p y  + q y = s(x).

(B.13)

Obwohl der Gedankengang viel mit jenem in Anhang B.5 gemeinsam hat, führen wir ihn vollständig durch. Ist die Störfunktion s(x) = 0 , heißt (B.13) inhomogen. Andernfalls entsteht die homogene Gleichung y  + p y  + q y = 0.

(B.14)

190

Anhang B Mathematischer Anhang

Zunächst stellen wir fest, dass die Differenz zweier Lösungen der inhomogenen Gleichung eine Lösung der homogenen ergibt. Denn sind y und y p Lösungen von (B.13) und yh = y − y p ihre Differenz, dann ist yh + p yh + q yh = (y − y p ) + p (y − y p ) + q (y − y p ) = y  + p y  + q y − (y p + p y p + q y p ) = s(x) − s(x) = 0 und damit yh eine Lösung von (B.14). Zu zwei beliebigen Lösungen y und y p der inhomogenen Gleichung gibt es daher eine Lösung yh der homogenen, so dass y = yh + y p ist. Das führt uns auf folgenden Weg: 1. Finde alle Lösungen yh der homogenen Gl. (B.14). 2. Finde eine Lösung y p der inhomogenen Gl. (B.13). 3. Bilde mittels y = yh + y p alle Lösungen y der inhomogenen Gl. (B.13). (1) Alle Lösungen der homogenen Gleichung Zu Beginn unserer Suche nach den Lösungen von (B.14) machen wir uns eine Eigenschaft dieser Gleichung klar, die die Aufgabe wesentlich erleichtert. Sind y1 und y2 Lösungen von (B.14), dann ist auch jede Linearkombination C1 y1 + C2 y2 eine Lösung, denn (C1 y1 + C2 y2 ) + p (C1 y1 + C2 y2 ) + q (C1 y1 + C2 y2 ) = C1 (y1 + p y1 + q y1 ) + C2 (y2 + p y2 + q y2 ) = C1 · 0 + C2 · 0 = 0. Es genügt daher, so viele Lösungen zu finden, dass ihre Linearkombinationen sämtliche Lösungen ergeben. Im Fall der Gl. (B.14) sind dafür genau zwei linear unabhängige Lösungen nötig (y1 und y2 heißen linear unabhängig, wenn kein yi Vielfaches des anderen ist). Denn dann und nur dann gibt es genau zwei unbestimmte Konstante C1 und C2 , so dass jedes C1 y1 +C2 y2 Lösung von (B.14) ist und sonst keine Lösung existiert. Wir suchen also zwei linear unabhängige Lösungen von (B.14), die wir Basislösungen nennen. In Anhang B.5 haben wir in der homogenen Gleichung die Variablen getrennt. Das funktioniert aber nur bei Gleichungen 1. Ordnung, und so müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen. Lineare homogene Gleichungen 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten, y  + py = 0, haben Lösungen der Form y = C e− px . Das bringt uns auf die Idee (um die Wahrheit zu sagen: brachte 1728 Leonhard Euler auf die Idee), nach Lösungen vom Typ y = eλx

Anhang B Mathematischer Anhang

191

zu suchen, wobei wir erwarten, dass λ von p und q abhängt. Setzen wir y = eλx in (B.14) ein, ergibt sich λ2 eλx + pλ eλx + q eλx = 0. Da der Exponentialausdruck nie null ist, kann man durch ihn kürzen, und es bleibt die charakteristische Gleichung λ2 + pλ + q = 0.

(B.15)

Für Werte von λ, die (B.15) erfüllen, ist y = eλx eine Lösung von (B.14). Die charakteristische Gleichung ist eine quadratische mit den Lösungen λ1,2

p =− ± 2

  p 2 − q. 2

(B.16)

Hier sind drei Fälle zu unterscheiden: dass der Ausdruck unter der Wurzel von (B.16) positiv, null oder negativ ist. Sie führen zu verschiedenen Basislösungen und damit zu verschiedenen allgemeinen Lösungen der homogenen Gleichung (Tab. B.3). Tab. B.3 Lösungsfälle der charakteristischen Gleichung (B.15) und damit der homogenen Gleichung (B.14) λ1 , λ2

Basislösungen y1 , y2

allgemeine Lösung yh

λ1 = λ2 , reell λ1 = λ2 = λ, reell λ1,2 = a ± ib, b = 0, komplex

eλ1 x , eλ2 x eλx , x eλx eax sin bx, eax cos bx

C1 eλ1 x + C2 eλ2 x (C1 + C2 x) eλx (C1 sin bx + C2 cos bx) eax

Dass in Tab. B.3 im ersten Fall eλ1 x und eλ2 x bzw. im zweiten Fall eλx die homogene Gleichung lösen, ist klar, denn diese Funktionen entsprechen genau dem Ansatz, von dem die Untersuchung ausgegangen ist. Es bleibt nachzuweisen, dass im zweiten Fall x eλx bzw. im dritten eax sin bx und eax cos bx dasselbe leisten. Wie man auf diese Basislösungen kommt, finden Sie in [25]. Wir begnügen uns damit, sie durch Einsetzen in (B.14) zu verifizieren. Für den zweiten Fall ergibt sich

x eλx



 + p x eλx + q x eλx = (λ2 + pλ + q) x eλx + (2λ + p) eλx .

Der erste Klammerausdruck der rechten Seite ist null, da λ eine Lösung von (B.15) ist. Der zweite ist ebenfalls null; denn λ ist eine Doppellösung, und das bedeutet, dass der Wurzelausdruck in (B.16) null und damit λ = − p/2 ist. Somit ist die gesamte rechte Seite null und x eλx eine Lösung von (B.14).

192

Anhang B Mathematischer Anhang

Beim dritten Fall beschränken wir uns auf den Nachweis, dass eax sin bx die homogene Gleichung löst (der Nachweis für eax cos bx gelingt analog). Wir setzen die Funktion in (B.14) ein:

eax sin bx



 + p eax sin bx + q eax sin bx = (a 2 − b2 + pa + q) eax sin bx + (2a + p)b eax cos bx.

Der zweite Klammerausdruck der rechten Seite ist null, da der Realteil des komplexen λ nach (B.16) durch a = − p/2 gegeben ist. Setzt man das in den ersten Klammerausdruck ein, wird dieser zu −b2 −

 p 2 2

+ q.

Auch das ist null, denn für den Imaginärteil von λ gilt nach (B.16): − b2 =

 p 2 −q . 2

Damit ist eax sin bx Lösung von (B.14). In jedem der drei Fälle haben wir zwei linear unabhängige Lösungen, denn e λ2 x = e(λ2 −λ1 ) x = const , e λ1 x x eλx = x = const, eλx eax cos bx = cot bx = const. eax sin bx Damit enthält Tab. B.3 alle Lösungen der homogenen Gleichung.

(2) Eine Lösung der inhomogenen Gleichung Wie bei der Gleichung 1. Ordnung, so können wir auch hier eine partikuläre Lösung über die Variation der Konstanten finden. Das ist aber im Allgemeinen kompliziert, da zwei Konstante zu variieren und zwei Ableitungen zu bilden sind. Bei linearen Gleichungen mit konstanten Koeffizienten und speziellen Störfunktionen steht uns eine einfachere Methode zur Verfügung. Zunächst definieren wir den Normalansatz: Ist die Störfunktion von der Form s(x) = Pn (x) eαx sin βx oder s(x) = Pn (x) eαx cos βx, wo Pn ein Polynom vom Grad n bezeichnet, dann ist der Normalansatz gegeben durch y N (x) = Q n (x) eαx sin βx + Rn (x) eαx cos βx, worin Q n und Rn ebenfalls Polynome vom Grad n sind. Diese Regel umfasst auch alle Fälle, in denen die Störfunktion nur ein Polynom, eine Exponentialfunktion oder eine Sinus- oder Kosinusfunktion ist oder eine Kombination zweier solcher

Anhang B Mathematischer Anhang

193

Elemente. Beispielsweise gilt für s(x) = x 2 der Ansatz y N (x) = a2 x 2 + a1 x + a0 . Denn x 2 ist ein Polynom vom Grad 2; daher kann die Störfunktion geschrieben werden als s(x) = P2 (x) e0x cos 0x , woraus folgt: y N (x) = Q 2 (x) e0x sin 0x + R2 (x) e0x cos 0x = R2 (x) , so dass y N ein Polynom vom Grad 2 (mit noch unbestimmten Koeffizienten) ist. Nun vergleichen wir die Lösungen λ1 , λ2 der charakteristischen Gleichung mit der Zahl α + iβ , gebildet aus den Parametern α und β der Störfunktion. Ist α + iβ gleich einem λ der Lösungsfälle 1 und 3 (also gleich einer einfachen Lösung der charakteristischen Gleichung), dann ergibt sich für die partikuläre Lösung der Ansatz y p (x) = x y N (x) . Ist α + iβ gleich dem λ des Lösungsfalls 2 (also gleich einer doppelten Lösung der charakteristischen Gleichung), dann folgt für die partikuläre Lösung y p (x) = x 2 y N (x) . Man spricht in diesen Fällen von Resonanz, und Abschn. 1.9 zeigt, welchen physikalischen Grund diese Sprechweise hat. Liegt keine Resonanz vor, ist y p (x) = y N (x) . Tab. B.4 fasst die partikulären Lösungen aller besprochenen Fälle zusammen. Tab. B.4 Partikuläre Lösung von (B.13) mit s(x) = Pn eαx sin βx oder s(x) = Pn eαx cos βx . Darin sind Pn , Q n und Rn Polynome vom Grad n λ1 , λ2

Resonanz?

partikuläre Lösung y p

λ1 = λ2 , reell λ1 = λ2 , reell λ1 = λ2 = λ, reell λ1 = λ2 = λ, reell λ1,2 = a ± ib, b = 0, komplex λ1,2 = a ± ib, b = 0, komplex

α + iβ α + iβ α + iβ α + iβ α + iβ α + iβ

(Q n sin βx + Rn cos βx) eαx x(Q n sin βx + Rn cos βx) eαx (Q n sin βx + Rn cos βx) eαx x 2 (Q n sin βx + Rn cos βx) eαx (Q n sin βx + Rn cos βx) eαx x(Q n sin βx + Rn cos βx) eαx

= λi = λi = λ =λ = λi = λi

Ist s(x) eine Summe von Funktionen obigen Typs, bildet man für jeden Summanden einen Ansatz gemäß Tab. B.4; die partikuläre Lösung ist dann die Summe dieser Ansätze. Jede partikuläre Lösung in Tab. B.4 enthält einen oder mehrere unbestimmte Parameter, deren Werte man durch Einsetzen von y p in (B.13) und Koeffizientenvergleich erhält. Dass die y p der Tab. B.4 tatsächlich Lösungen von (B.13) sind, kann man durch Einsetzen verifizieren. Weil das aber zu langen Rechnungen ohne weitere Erkenntnis führt, verzichten wir darauf. (3) Alle Lösungen der inhomogenen Gleichung Alle Lösungen der inhomogenen Gleichung, also deren allgemeine Lösung, erhalten wir, indem wir die beiden Teillösungen nach Tab. B.3 und B.4 addieren: y(x) = yh (x) + y p (x).

(B.17)

194

B.7

Anhang B Mathematischer Anhang

Moderne Ableitung von d’Alemberts Lösung der Wellengleichung

Heute wird d’Alemberts Lösung der eindimensionalen Wellengleichung (1.45) oft wie folgt abgeleitet. Man setzt die von d’Alembert gefundenen neuen Variablen x + ct und x − ct an den Anfang, v = x + ct, w = x − ct und fasst u als Funktion dieser Variablen auf: u(x, t) = u(v(x, t), w(x, t)) . Mit der Kettenregel erhält man die partiellen Ableitungen von u : u t = u v vt + u w wt = u v c − u w c = c(u v − u w ), u tt = c[(u v − u w )v vt + (u v − u w )w wt ] = c[(u vv − u wv )c − (u vw − u ww )c] = c2 (u vv − 2u vw + u ww ), u x = u v vx + u w wx = u v + u w , u x x = (u v + u w )v vx + (u v + u w )w wx = u vv + u wv + u vw + u ww = u vv + 2u vw + u ww . Damit wird (1.45) zu c2 (u vv − 2u vw + u ww ) = c2 (u vv + 2u vw + u ww ). Da c2 = 0 ist, sind die Klammerausdrücke gleich, und daher ist u vw = 0. Diese Gleichung lässt sich durch zweimaliges Integrieren lösen:   u v = u vw dw = 0 dw = ϕ(v) mit einer beliebigen Funktion ϕ(v) , und   u = u v dv = ϕ(v) dv = (v) + (w), worin (w) eine beliebige Funktion von w ist und eine Stammfunktion von ϕ , die, da schon ϕ beliebig war, als beliebige Funktion von v angesehen werden kann. Somit ist u(x, t) = (x + ct) + (x − ct) mit beliebigen Funktionen und Lösung von (1.45).

(B.18)

Anhang B Mathematischer Anhang

B.8

195

Eulers Differenzenmethode

1768 präsentierte Leonhard Euler in seinem Buch Institutionum calculi integralis ein Verfahren zum numerischen Lösen von Anfangswertproblemen. Wir haben in Abschn. 1.2 festgestellt, dass die Ableitung der Grenzwert eines Quotienten endlicher Differenzen y und x ist. Daher kann man sie durch den Differenzenquotienten annähern, wenn die Differenzen klein sind. Eine solche Näherung lässt sich auf mehrere Arten realisieren, darunter y(x) − y(x − x) , x y(x + x) − y(x − x) , y  (x) ≈ 2x y(x + x) − y(x) . y  (x) ≈ x

y  (x) ≈

linksseitig: zentral: rechtsseitig:

(B.19a) (B.19b) (B.19c)

Diese drei Möglichkeiten sind in Abb. B.3 dargestellt.

Abb. B.3 Die Ableitung von f an der Stelle x ist die Steigung der Tangente im Punkt (x, y(x)) (durchgezogen). Sie kann durch Differenzenquotienten angenähert werden, das sind die Steigungen der Sekanten (strichliert). Links: linksseitige, Mitte: zentrale, rechts: rechtsseitige Sekante

Auch höhere Ableitungen lassen sich auf diese Weise annähern. Für die zweite Ableitung (als Ableitung der Ableitung) erhält man unter Verwendung des rechtsseitigen Quotienten zunächst y  (x) ≈

y  (x + x) − y  (x) . x

Nähert man hier y  linksseitig an, ergibt sich mit y(x + x) − y(x) y(x) − y(x − x) − x x y  (x) ≈ x ein numerischer Ausdruck für die zweite Ableitung: y  (x) ≈

y(x + x) − 2y(x) + y(x − x) . (x)2

(B.20)

196

Anhang B Mathematischer Anhang

Eulers Methode besteht nun darin, in der Differentialgleichung die Ableitungen durch diese Näherungen zu ersetzen. Ersetzt man beispielsweise in der Anfangswertaufgabe 1. Ordnung (B.3), y  = f (x, y),

y(x0 ) = c,

die Ableitung y  durch ihre rechtsseitige Näherung (B.19c), erhält man eine numerische Formulierung der Aufgabe: y(x + x) − y(x) = f (x, y(x)), x

y(x0 ) = c.

Hier kann man y(x + x) ausdrücken: y(x + x) = y(x) + f (x, y(x)) x,

y(x0 ) = c.

Legt man noch eine Schrittweite x fest, so kann man nun, ausgehend vom Anfangswert, beliebig viele weitere y berechnen: y(x0 ) = c, y(x0 + x) = y(x0 ) + f (x0 , y(x0 )) x, y(x0 + 2x) = y(x0 + x) + f (x0 + x, y(x0 + x)) x usw. Mit den Bezeichnungen xi = x0 + ix und yi = y(xi ) ergibt sich für die Anfangswertaufgabe 1. Ordnung (B.3) die rekursive Lösung y0 = c,

yi+1 = yi + f (xi , yi ) x.

(B.21)

In der Anfangswertaufgabe 2. Ordnung (B.5) gibt es zwei Ableitungen, y  und y  , zu ersetzen. Wir wollen das nicht weiter ausführen, sondern gleich zum interessanteren Fall einer partiellen Aufgabe 2. Ordnung weitergehen, nämlich jenem der Wellengleichung mit Anfangsbedingungen (1.47): u tt = c2 u x x , u(x, 0) = f (x), u t (x, 0) = g(x). Setzen wir hier an die Stelle der zweiten partiellen Ableitungen die Differenzenquotienten (B.20) in partieller Form, wird die Wellengleichung zu u(x, t + t) − 2u(x, t) + u(x, t − t) u(x + x, t) − 2u(x, t) + u(x − x, t) = c2 . (t)2 (x)2

Wir drücken u(x, t + t) aus: 

c t u(x, t+t) = 2u(x, t)−u(x, t−t)+ x

2 [u(x+x, t)−2u(x, t)+u(x−x, t)],

Anhang B Mathematischer Anhang

197

und erhalten mit den Bezeichnungen xi = ix und u i, j = u(ix, jt) ein rekursives Verfahren zur Bestimmung von u : u i,0 = f (xi ), u i,1 = f (xi ) + g(xi ) t,   c t 2 u i, j+1 = 2u i, j − u i, j−1 + [u i+1, j − 2u i, j + u i−1, j ]. (B.22) x

Anhang C Griechisches Alphabet

A α B β γ δ E ε Z ζ H η θ I ι K κ λ Mμ N ν  ξ O o π P   σ T τ Y υ φ, ϕ X χ

ψ " ω

Alpha Beta Gamma Delta Epsilon Zeta Eta Theta Iota Kappa Lambda My Ny Xi Omikron Pi Rho Sigma Tau Ypsilon Phi Chi Psi Omega

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Tschirk, Der Laplacesche Dämon, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61647-5

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Namen- und Sachverzeichnis

A Abkühlung, 18 Ableitung erste, 181 partielle, 183 zweite, 182 Abrams, Daniel (*1978), 135, 136 Alembert, Jean le Rond d’ (1717–1783), 36, 37, 42, 86, 194 Alkohol, 131 allgemeine Lösung einer Differentialgleichung, 5 allgemeine Relativitätstheorie, 62, 64, 71 Allometrie, 114, 125 Ampère, André-Marie (1775–1836), 98 Anderson, Carl (1905–1991), 6 Anfangswert, 5 Anfangswertaufgabe, 5 1. Ordnung, 186 lineare, 1. Ordnung, 186 lineare, 2. Ordnung, 186 Archimedes (um 287–212 v. Chr.), 45 Aristoteles (384–322 v. Chr.), 11, 17, 18 Atmosphäre adiabatische, 81 isotherme, 80 Thermodynamik, 79 Atomkern, 156 Atommodell, 171 von Bohr, 172, 173 von Rutherford, 171 von Thomson, 156 B Balmer, Johann Jakob (1825–1898), 171 barometrische Höhenformel, 80 Bateman, Harry (1882–1946), 130 Becquerel, Henri (1852–1908), 1

Behrens, William (*um 1940), 143 Bernoulli, Jakob (1655–1705), 2 Bernoulli, Johann (1667–1748), 55 Big Bang, 67 Big Crunch, 67 Biot, Jean-Baptiste (1774–1862), 98 Bjerknes, Vilhelm (1862–1951), 82 Bohr, Niels (1885–1962), 161, 166, 171, 172, 174 bohrscher Radius, 174 bohrsches Atommodell, 172, 173 Boltzmann, Ludwig (1844–1906), 70, 147, 150, 176 Boltzmann-Verteilung, 150, 151, 154, 177 Born, Max (1882–1970), 164, 174 Boyle, Robert (1627–1691), 147 Brahe, Tycho (1546–1601), 47 Broglie, Louis-Victor de (1892–1987), 90, 161, 163 Burbidge, Geoffrey (1925–2010), 160, 161 Burbidge, Margaret (*1919), 160, 161 C Car Following Model, 138 charakteristische Gleichung, 191 Coulomb, Charles-Augustin de (1736– 1806), 98, 156 Crick, Francis (1916–2004), 178 Cucker, Felipe (*1958), 115 Curie, Marie (1867–1934), 1 D Dalton, John (1766–1844), 147 Delbrück, Max (1906–1981), 177, 178 Descartes, René (1596–1650), 17 Differential, 4, 7 totales, 183 Differentialgleichung, 1, 5

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Tschirk, Der Laplacesche Dämon, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61647-5

205

206 allgemeine Lösung, 5 gewöhnliche, 5, 43 homogene, 188–190 inhomogene, 188, 189, 192, 193 lineare, 1. Ordnung, 188 lineare, 2. Ordnung, 189 numerisches Lösen, 42, 195 Ordnung, 5 partielle, 5, 34, 41, 44 partikuläre Lösung, 188, 189, 192, 193 Differentialquotient, 4, 7, 182 Differentialrechnung, 4, 181 Differenzenmethode, 195 Differenzenquotient, 7 Dirac, Paul (1902–1984), 6 Divergenz, 82, 99 Drehimpulserhaltung, 92 Drehimpulsquantenzahl, 173 Dynamik, 8 E Ebbinghaus, Hermann (1850–1909), 119, 120 Einkompartmentmodell, 127 Einstein, Albert (1879–1955), 47, 62–64, 70, 71, 75, 77, 161, 164 elektrischer Schwingkreis, 30 Elektron, 156 Endemie, 132, 135 Energieerhaltung, 93 Epidemie, 132–134 Erde, 56, 57 Erhaltung der Energie, 93 des Drehimpulses, 92 des Impulses, 91 Erhaltungsgrößen der Mechanik, 90 Erwärmung, 18 Esaki, Leo (*1925), 170 Euler, Leonhard (1707–1783), 36, 42, 45, 46, 190, 195 eulersche Zahl, 45 F Faraday, Michael (1791–1867), 98 Fechner, Gustav Theodor (1801–1887), 119 Feldgleichungen, 70 Fisher, Ronald Aylmer (1890–1962), 112 Fisher-Haldane-Wright-Gleichungen, 110, 111 Fitness, 110 Fluchtgeschwindigkeit, 60, 62 Fourier, Joseph (1768–1830), 85, 86, 89, 90, 162

Namen- und Sachverzeichnis Fourier-Reihe, 85, 89 Fowler, William (1911–1995), 160, 161 fraktale Dimension, 113 freier Fall, 11, 13 Friedmann, Alexander (1888–1925), 65, 75 Friedmann-Gleichung, 65, 76 Standardform, 68 Friedmann-Lösung, 75 G Galaxis, Alter, 160 Galilei, Galileo (1564–1642), 7, 8, 11, 12, 17, 18 Galois, Évariste (1811–1832), 90 Gamow, George (1904–1968), 170 Gauß, Carl Friedrich (1777–1855), 45, 75 Gay-Lussac, Joseph-Louis (1778–1850), 147 Gene, 110 Gitarrenton, 38 Gleichung charakteristische, 191 Gradient, 82 Gravitationsgesetz von Newton, 48 Gravitationswellen, 77 Grenzen des Wachstums, 143 Grundgleichungen meteorologische, 82 H Halley, Edmond (1656–1742), 48 Harada, Masahiko (*1968), 122–124 harmonischer Oszillator, 152 Hauptquantenzahl, 172 Höhenformel barometrische, 80 Hooke, Robert (1635–1703), 22, 48 Hoyle, Fred (1915–2001), 160, 161 Hubble, Edwin (1889–1953), 63, 70 Hubble-Konstante, 63, 69 Hubble-Parameter, 69 Hulse, Russell (*1950), 77 Huygens, Christiaan (1629–1695), 161 I Impulserhaltung, 91 Infektionskrankheit, 132 Integral, 183 bestimmtes, 185 unbestimmtes, 184 uneigentliches, 185 Integralrechnung, 183

Namen- und Sachverzeichnis J Jeans, James (1877–1946), 154 Johannsen, Wilhelm (1857–1927), 176 Joule, James Prescott (1818–1891), 150 Jupiter, 56, 58, 60 K Kepler drittes Gesetz, 48, 50, 51 erstes Gesetz, 48, 50, 51 zweites Gesetz, 48, 50, 52 Kepler, Johannes (1571–1630), 47, 48 Kermack, William Ogilvy (1898–1970), 133 Kettenregel, 182, 183 Kinematik, 8, 9 Koexistenz, 104 Kompartment, 127, 129 Konkurrenz, 104, 105 Kontinuitätsgleichung, 137, 138 Kopernikus, Nikolaus (1473–1543), 47 kosmologische Konstante, 70 Kreisfrequenz, 32 kugelsymmetrische Masseverteilung, 53 L Lagrange, Joseph-Louis (1736–1813), 90, 189 Laplace, Pierre-Simon de (1749–1827), 5, 90 Lavoisier, Antoine-Laurent de (1743–1794), 147 Leben, 175 Legendre, Adrien-Marie (1752–1833), 90 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716), 4, 7, 8, 45, 187 Lenard, Philipp (1862–1947), 161 Lense, Joseph (1890–1985), 98 Lernen, 119 Libby, Willard (1908–1980), 159, 160 Lichtgeschwindigkeit, 62 Lindelöf, Ernst (1870–1946), 186 Lotka, Alfred (1880–1949), 107 Lotka-Volterra-Gleichungen, 107 Lummer, Otto (1860–1925), 154 M Mach, Ernst (1838–1916), 95, 96 machsches Prinzip, 95, 96, 98 Malthus, Thomas (1766–1834), 102 Mariotte, Edmé (1620–1684), 147 Mars, 56, 57 Masseverteilung

207 kugelsymmetrische, 53 Maxwell, James Clerk (1831–1879), 98, 100, 147, 148, 176 Maxwell-Boltzmann-Verteilung, 150 Maxwell-Gleichungen, 98, 99, 171 Maxwell-Verteilung, 148, 149 Mayer, Julius Robert (1814–1878), 90 McKendrick, Anderson Gray (1876–1943), 133 Meadows, Dennis (*1942), 143, 146 Meadows, Donella (1941–2001), 143, 146 Merkur, 56, 57 meteorologische Grundgleichungen, 82, 83 Milchstraße, Alter, 160 Minkowski, Hermann (1864–1909), 73 N Neptun, 56, 58 Newton drittes Axiom, 90, 96 Gravitationsgesetz, 48 Temperaturausgleichsgesetz, 21 zweites Axiom, 13, 48, 95 Newton, Isaac (1643–1727), 4, 7, 8, 13, 45, 47, 48, 55, 63, 91, 95, 96, 161 Normalansatz, 192 numerisches Lösen von Differentialgleichungen, 42, 195 O Olbers, Heinrich Wilhelm (1758–1840), 63 Olbers’ Paradoxon, 63 Orbital, 174 Ordnung einer Differentialgleichung, 5 Ørsted, Hans Christian (1777–1851), 98 Oszillator harmonischer, 152 P Pandemie, 132, 135 partikuläre Lösung einer Differentialgleichung, 188, 189, 192, 193 Picard, Émile (1856–1941), 186 Planck, Max (1858–1947), 154, 155, 166, 172 plancksches Wirkungsquantum, 154 Planeten Bahnen, 47 Thermodynamik, 56 Pringsheim, Ernst (1859–1917), 154 Proust, Joseph-Louis (1754–1826), 147 Ptolemäus (um 100–160), 47 Pythagoras (um 570–500 v. Chr.), 45

208 Q Quantenphysik, 153 R radioaktiver Zerfall, 1 Radiokarbondatierung, 159 Randers, Jørgen (*1945), 143, 146 Randwert, 38 Räuber und Beute, 104, 107 Raum flacher, 66 gekrümmter, 66, 67 Raumzeit, 65, 71 Rayleigh, Lord, siehe Strutt, John William Relativitätstheorie allgemeine, 62, 64, 71 spezielle, 71 Resonanz, 28–30, 193 Resonanzkatastrophe, 30 Reynolds, Craig (*1953), 115 Richardson, Lewis Fry (1881–1953), 84, 113, 140 Ries, Adam (1492–1559), 45 Rotation, 8, 99 Rutherford, Ernest (1871–1937), 1–3, 156–158, 170, 171 rutherfordsches Atommodell, 171 S Saite, schwingende, 34 Saturn, 56, 58 Savart, Félix (1791–1841), 98 Schrittweite, 196 Schrödinger, Erwin (1887–1961), 4, 161, 162, 164, 171, 174, 175, 178 Schrödinger-Gleichung, 161, 165, 166, 168, 169, 173, 175, 177 zeitabhängige, 164 zeitunabhängige, 163–165, 173 Schwarmverhalten, 115 schwarzer Körper, 153 schwarzes Loch, 62 Schwarzschild, Karl (1873–1916), 62 Schwarzschild-Radius, 62 Schwingkreis, elektrischer, 30 Schwingung, 22 erzwungene, gedämpfte, 23 erzwungene, ungedämpfte, 23 freie, gedämpfte, 23, 25 freie, ungedämpfte, 23 harmonische, 24 Schwingungsgleichung, 22 Selektion, 110 Fundamentalsatz, 112

Namen- und Sachverzeichnis SIR-Modell, 133 Skalenfaktor, 65 Skispringen, 122 Smale, Steve (*1930), 115 Snell, Otto (1859–1939), 114 Sonnenmasse, 51 spezielle Lösung, siehe partikuläre Lösung spezielle Relativitätstheorie, 71 Sprachensterben, 135 Stammfunktion, 184 Stoffwechsel, 127, 129 Stokes, George (1819–1903), 15 Stoney, George (1826–1911), 156 Störfunktion, 188, 189 Strogatz, Steven (*1959), 135, 136 Strutt, John William (1842–1919), 154 T Tacoma Bridge, 30 Taylor, Joseph (*1941), 77 Teilchen als harmonischer Oszillator, 152 freies, 165 gebundenes, 165 Tensor, 72 Thermodynamik der Atmosphäre, 79 der Planeten, 56 Thirring, Hans (1888–1976), 98 Thomson, Joseph John (1856-1940), 156 thomsonsches Atommodell, 156 Timofejew-Ressowski, Nikolai Wladimirowitsch (1900–1981), 177 Tisserand, Félix (1845–1896), 98 Trägheit, 95, 96, 98 Translation, 8, 9 Trennen der Variablen, 2, 187 Tunneleffekt, 170 U Universum Alter, 69 Größe, 69 kritische Dichte, 68 Uranus, 56, 58 Urknall, 66, 67 V Variation der Konstanten, 189 Venus, 56, 57 Vererbung, 176 Vergessen, 119

Namen- und Sachverzeichnis Verkehrstheorie, 137 Volta, Alessandro (1745–1827), 98 Volterra, Vito (1860–1940), 107 W Wachstum, 101 der Weltbevölkerung, 103 exponentielles, 101 Grenzen, 143 logistisches, 102 Wärmeleitungsgleichung, 85 eindimensionale, 86 Wasserstoffatom, 170 Watson, James (*1928), 178 weather forecast factory, 84 Weber, Ernst Heinrich (1795–1878), 119 Weber, Wilhelm Eduard (1804–1891), 98 Weber-Fechner-Gesetz, 119

209 Wellengleichung, 34, 162, 194 eindimensionale, 36, 194 zeitunabhängige, 163 Wellenmechanik, 161 Weltmodelle einsteinsche, 76 newtonsche, 64, 76 Wettervorhersage, 82 Wettrüsten, 140 Wirkungsquantum, 154 Y Young, Thomas (1773–1829), 161 Z Zimmer, Karl Günther (1911–1988), 177 Zweikompartmentmodell, 129