Der lange Schatten des Antisemitismus: Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert 9783737001458, 9783847101451, 9783847001454

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Der lange Schatten des Antisemitismus: Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert
 9783737001458, 9783847101451, 9783847001454

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Zeitgeschichte im Kontext

Band 8

Herausgegeben von Oliver Rathkolb

Oliver Rathkolb (Hg.)

Der lange Schatten des Antisemitismus Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert

Mit zahlreichen Abbildungen

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0145-1 ISBN 978-3-8470-0145-4 (E-Book) Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Wien, der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und der Kulturabteilung der Stadt Wien. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Rektor Heinz W. Engl Eröffnungsrede zum Symposium „Der lange Schatten des Antisemitismus“. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . .

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Oliver Rathkolb Danksagung anläßlich der Eröffnung des Symposions . . . . . . . . . . .

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Eric Kandel The Productive Interaction of Christians and Jews that led to the Creation of Modernism in Vienna 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Götz Aly Zur Soziologie des Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . .

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Oliver Rathkolb Gewalt und Antisemitismus an der Universität Wien und die Badeni-Krise 1897. Davor und danach . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mitchell G. Ash Jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Universität Wien von der Monarchie bis nach 1945. Stand der Forschung und offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Maisel Arthur Goldmann – ein jüdischer Archivar im Dienst der Universität Wien (1905 – 1929) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

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Inhalt

Birgit Nemec/Klaus Taschwer Terror gegen Tandler. Kontext und Chronik der antisemitischen Attacken am I. Anatomischen Institut der Universität Wien, 1910 bis 1933 . . . . . 147 Birgit Peter Antiziganismus, Antislawismus und Antisemitismus als Karrierestrategie. Über einen theaterwissenschaftlichen „Gründungsvater“ . . . . . . . . . 173 Ilse Reiter-Zatloukal Antisemitismus und Juristenstand. Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät und Rechtspraxis vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum „Anschluss“ 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Friedrich Stadler Antisemitismus an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien – Am Beispiel von Moritz Schlick und seines Wiener Kreises . . . . . . . . 207 Andreas Stadler Warum die Antisemitismus-Forschung noch auf lange Zeit wichtig bleiben wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Linda Erker Hochschulen im Austrofaschismus und in der NS-Zeit. Ein kooperatives Lehrprojekt der Österreichischen HochschülerInnenschaft . . . . . . . . 245

Anhang Kommentar zu Anhang 1 (Broschìre „Der Stich ins Wespennest“, um 1907) und 2 (Josef Redlichs Gegenschrift gegen Karl Luegers antisemitische Polemik gegen die „Judenherrschaft“ an der Universit•t Wien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Autor/innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Rektor Heinz W. Engl

Eröffnungsrede zum Symposium „Der lange Schatten des Antisemitismus“. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Universität Wien stellt sich mit diesem Symposium auch öffentlich ihrer Vergangenheit in den Dreißiger- und Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts (und auch davor). Ich werde nicht versuchen, dem Thema generell gerecht zu werden, da dies Aufgabe der Tagung ist, sondern besinne mich auf Beispiele aus meinem eigenen Fach und auch aus der Gegend, aus der ich stamme, um die Situation der Vertreibung und Ermordung jüdischer Wissenschaftler im Bereich der Mathematik zu schildern: Der 2010 verstorbene Walter Rudin kam aus einer österreichisch-jüdischen Familie. Den sogenannten Anschluss erlebte er als 17-Jähriger in Wien und flüchtete dann über die Schweiz nach Frankreich und 1940 weiter nach England. „In einer Hinsicht ging es uns besser als den deutschen Juden. In Deutschland wurden die Schrauben nur langsam angezogen. Darum zögerten viele deutsche Juden, bis es zu spät war. In Österreich wurde innerhalb weniger Tage klar, dass es keine Alternative zum Verlassen des Landes gab“, so Walter Rudin. Er promovierte 1949 an der Duke University bei John Gergen und wurde schließlich 1959 Professor an der University of Wisconsin-Madison; 2005 bekam er das Ehrendoktorat der Universität Wien. Die Rudin-Osher-Fatemi-Methode ist inzwischen ein Standardverfahren in der Bildverarbeitung, auch Schüler von mir haben sie verwendet und weiterentwickelt. Mit Beginn des Sommersemesters 1938 war die „Säuberung“ an der Universität Wien bereits vollzogen. Allein an der Philosophischen Fakultät zählten 14 von 45 Ordinarien, 11 von 22 außerordentlichen Professoren, 13 von 32 emeritierten Professoren und 56 von 159 Privatdozenten als sogenannte „Abgänge“. Einige der Wiener Mathematiker und Mathematikerinnen hatten die Vorzeichen richtig erkannt und waren schon vor dem Anschluss emigriert, beispielsweise Karl Menger, der von den USA aus nach dem Anschluss seine Professur per Telegramm niederlegte, oder der mathematische Ökonom Oskar

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Rektor Heinz W. Engl

Morgenstern, der später gemeinsam mit John von Neumann die Spieltheorie schuf. Der Platz vor dem gemeinsamen Gebäude der Fakultäten für Mathematik und Wirtschaftswissenschaften der Universität Wien wird nach Oskar Morgenstern benannt. Schnell mussten auch Franz Alt – der zu einem wichtigen Computerpionier wurde – oder Abraham Wald (mathematische Statistik) und Eduard Helly (einer der Begründer der Funktionanalysis) emigrieren. Honorarprofessor Alfred Tauber gelang es nicht, zu emigrieren, er wurde in Theresienstadt ermordet. Andere, wie etwa Kurt Gödel, fielen nicht unter die „Rassengesetze“, aber das Bleiben wurde ihnen unmöglich gemacht, etwa weil sie, wie Gödel, (ich zitiere) „in jüdisch-liberalen Kreisen“ verkehrt hatten. Aus meinem eigenen fachlichen und örtlichen Umfeld – Linz – möchte ich Olga Taussky-Todd, eine der bedeutendsten Mathematikerinnen des 20. Jahrhunderts, nennen. Olga Taussky, geboren am 30. August 1906 in Olmütz in Mähren in einer jüdischen Familie, war die mittlere von drei Schwestern. Ihre Mutter kam aus einfachen Verhältnissen auf dem Land, Vater Julius D. Taussky war Industriechemiker und hatte für die Essigherstellung Verfahren entwickelt, die heute noch verwendet werden. 1916 wurde er Direktor der Essigfabrik Mostny – nach deren Chef die gleichnamige Straße in Linz benannt ist. Das Unternehmen der Brüder Mostny galt als die größte „jüdische“ Firma in Linz. Die Enteignung wurde von den Nazis regelrecht inszeniert. Der Eigentümer der Firma, Leopold Mostny, war 25 Jahre lang deutschnationaler Abgeordneter im Gemeinderat Urfahr, weshalb ihn Gauleiter Eigruber vorerst vor Verfolgung schützte. 1942 wurde er jedoch in Abwesenheit Eigrubers als 99-Jähriger nach Theresienstadt deportiert, wo er wenige Tage darauf verstarb (6. Oktober 1942). Er ist das älteste von über 200 Linzer Opfern der Shoah. Die Querverbindung Taussky – Mostny wurde mir erst durch einen kürzlich erschienenen Artikel von Professorin Gabriella Hauch bekannt. Früh erkannte Olga Tausskys Vater ihr Interesse für Mathematik und ließ sie Mischungsverhältnisse für Essig berechnen. Im Wintersemester 1925 begann sie an der Universität Wien mit dem Studium der Mathematik und promovierte 1930 bei Philipp Furtwängler. Nach kleinen Assistenzen an der Universität Wien erhielt sie für das Studienjahr 1933/34 eine Einladung an das Bryn Mawr College unweit von Princeton, wo sich viele deutsche Emigranten aufhielten und das ein Zentrum der Mathematik war. Ein Stipendium führte sie dann an das Girton College in Cambridge und damit zurück nach Europa. Ihren späteren Mann John Todd (Mathematiker, 1911 – 2007) traf sie in England, als sie nach Ablauf des Stipendiums in England auf Arbeitssuche war. Später waren beide jahrzehntelang in den USA am CalTech, dem California Institute of Technology, wissenschaftliche tätig. Ich habe sowohl Olga Taussky als auch John Todd bei Kongressen gehört.

Eröffnungsrede zum Symposium

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Bei der amerikanischen Society for Industrial and Applied Mathematics konnte ich anregen, eine als Preis vergebene besondere Vorlesung beim jeweiligen Jahreskongress nach Olga Taussky-Todd zu benennen: die Olga TausskyTodd Lectures. Olga Taussky konnte Österreich rechtzeitig verlassen, aber für die Universität Wien war das natürlich ein großer wissenschaftlicher Verlust. Vielleicht wäre sie die erste Mathematikprofessorin geworden, ein Ereignis, auf das wir bis vor etwa zwei Jahren warten mussten. Ihre ältere Schwester Ilona maturierte 1922 und wurde die erste Juristin in Linz. Viele ähnliche Schicksale wurden in einer Ausstellung dokumentiert, die Professor Karl Sigmund für die Österreichische Mathematische Gesellschaft vor einigen Jahren in Wien gestaltete. Ich wünsche mir, dass dieses Symposium und ihr öffentliches Echo zur Erinnerung und zum Bewusstsein beitragen, dass die Universität Wien ihre eigene Rolle in dieser schrecklichen Zeit reflektiert.

Oliver Rathkolb

Danksagung anläßlich der Eröffnung des Symposions

Erlauben Sie mir eingangs, dass ich allen Kolleginnen und Kollegen danke, so kurzfristig bereit gewesen zu sein, an dieser Veranstaltung teilzunehmen und auch ein Referat zu halten. Wir alle freuen uns, dass Professor Eric Kandel, um dessen Wien-Besuch wir diese Veranstaltung organisiert haben, ebenfalls sprechen wird. Ohne die aktive Unterstützung von Rektor Heinz Engl und der Dekanin der historisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät Claudia Theune-Vogt hätten wir diesen prachtvollen Raum nicht für diese Veranstaltung entsprechend justieren können. Herzlichen Dank auch an den Gastgeber, den Leiter des Universitätsarchivs Hofrat Thomas Maisel, der auch meine eigenen Archivarbeiten sehr unterstützt hat, sowie an Direktor Andreas Stadler vom Austrian Cultural Forum in New York, Agnes Meisinger und dem UNI-Veranstaltungsservice um Falk Pastner sowie Frau Magistra Elisabeth Mattes und Frau Magistra Cornelia Blum für wichtige Hintergrundunterstützung.

Eric Kandel

The Productive Interaction of Christians and Jews that led to the Creation of Modernism in Vienna 1900

“Der Lange Schatten des Antisemitismus,” “The Long Shadow of Anti-Semitism at the University of Vienna Dating Back to 1870” is an appropriate name for this symposium – and a wonderful example of the transparency that has come to characterize Austria’s new attitude toward its past. But anti-Semitism didn’t begin in Vienna in 1870. Historically, Austria has been one of the most antiSemitic countries in Europe: its culture was dominated by the Catholic Church, and until recently, anti-Judaism was part of the Church’s culture. Although Jews have lived in Vienna for over a thousand years – since 996 – and have been instrumental in developing the city’s vibrant culture, anti-Semitism has been endemic in its social and political life. The small but remarkably productive and important Jewish community living in Vienna in the fifteenth century was annihilated in 1420 by Duke Albert V. It was reconstituted in the sixteenth century, only to be expelled again in 1671 by Emperor Leopold. Periodic expulsions continued into the eighteenth century, when Queen Maria Theresa became the last ruler of a great European nation to expel Jews from parts of her lands. Not until the second half of the nineteenth century, under Emperor Franz Joseph, were Austrian Jews accorded the same civil rights as Christians – rights that allowed them to enjoy political and religious freedom, as well as the freedom to travel. As a result of Franz Joseph’s policies, many talented, ambitious young Jews from the Eastern countries of the Hapsburg Empire were inspired to move to Vienna. The number of Jews in Vienna grew from 2,617, or 1.3 percent of the total population, in 1857 to 147,000 in 1900 and finally to 175,000, or 8.6 percent of the population, in 1910 – the largest Jewish population of any city in Western Europe. During this time, a remarkably productive interaction sprang up between Jewish and Christian artists, scientists, and intellectuals, leading to the explosion of culture in 1900 that gave birth to Modernism, the movement that defines the age in which we live. I have recently published a book on this period – “Das Zeitalter der Erkenntnis” – “The Age of Insight.” In writing it, I was acutely aware of the un-

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precedented interaction between Jews and Christians and its effects on their individual creativity and on Viennese culture. But a discussion of that interaction was tangential to my subject: understanding the unconscious in art, mind, and brain from Vienna 1900 to the present. In this essay I return to Vienna 1900 and take up some of those fruitful interactions, beginning with Carl von Rokitansky, an influential and liberal leader of the Modernist movement in Vienna who openly defended the position of Jews and other foreigners in the University of Vienna School of Medicine. In exploring these interactions, I emphasize how greatly they benefited the emergence of Modernism in the world in general and in Vienna in particular.

The Origins of Modernism Modernism in Vienna, as elsewhere, was a mid-nineteenth century response not only to the restrictions and hypocrisies of everyday life, especially as they related to women, but also to the Enlightenment idea that human action is governed by reason and that our mind can control our emotions and feelings. The immediate catalyst for the Enlightenment, the Age of Reason, in the eighteenth century was the scientific revolution of the sixteenth and seventeenth centuries, which included three momentous discoveries in astronomy : Johannes Kepler’s delineation of the rules that govern the movement of the planets, Galileo Galilei’s discovery that the sun is at the center of the universe, and Isaac Newton’s discovery of gravity. In using the calculus he had invented to describe the three laws of motion, Newton joined physics and astronomy and showed that even the deepest truths in the universe can be revealed by the methods of science. These contributions were celebrated in 1660 with the formation of the world’s first scientific society : The Royal Society of London for Improving Natural Knowledge, which elected Newton its president in 1703. The founders of The Royal Society thought of God as a mathematician who had designed the universe to function according to logical and mathematical principles. The role of the scientist – the natural philosopher – was to employ the scientific method to discover the physical principles underlying the universe and thereby decipher the codebook that God had used in creating the cosmos. Success in the realm of science led eighteenth-century thinkers to assume that other aspects of human action, including political behavior, creativity, and art could be improved by the application of reason, ultimately leading to an improved society and better conditions for all humankind. This confidence in reason and science affected all aspects of political and social life in Europe and soon spread to the North American colonies. There, the Enlightenment ideas that society can be improved through reason and that rational people have a

The Productive Interaction of Christians and Jews

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natural right to the pursuit of happiness contributed to the Jeffersonian democracy that we enjoy today in the United States. The Modernist reaction to the Enlightenment came in the aftermath of the Industrial Revolution and reflected a new understanding of the world. As astronomy and physics inspired the Enlightenment, so biology inspired Modernism. Charles Darwin’s book “On the Origin of Species by Means of Natural Selection,” published in 1859, introduced the idea that all animal life is related. We were not created uniquely by God but are biological beings that evolved from simpler animal ancestors. In this and later books Darwin discussed the role of sexual selection in evolution. He argued that the primary biological function of any organism is to reproduce itself and therefore that sex is central to human behavior. Sexual attraction and mate selection are critical in evolution: males compete with each other for females, and females choose some males rather than others. These ideas later found expression in Sigmund Freud’s emphasis on the sexual instincts as the driving force of the unconscious and on the central role of sexuality in human behavior. Darwin also held that since we evolved from simpler animals, we must have the same instinctual behaviors they do, not only in regard to sex but also in regard to eating and drinking. Freud saw in Darwin’s concept of instinctual behavior a way of explaining much of our innate behavior. Finally, in his last great work, “The Expression of the Emotions in Man and Animals,” published in 1872, Darwin points out that our emotions are part of a primitive, virtually universal approach-avoidance system that is designed to seek out pleasure and decrease exposure to pain. This system exists across cultures and is conserved throughout evolution, and it is the basis of Freud’s pleasure principle – the hedonistic seeking of pleasure and avoidance of pain. Thus, Freud – often referred to as the Darwin of the Mind – extended Darwin’s revolutionary ideas about natural selection, instincts, and emotions to his own ideas about the unconscious mind.

The Distinctive Features of Viennese Modernism Modernism took root in Germany, Italy, and France as well as in the AustroHungarian Empire, but for the period of 1890 to 1918, the center of Modernist thought and culture was in Vienna. The Viennese Modernists not only confronted conventional attitudes and values with new ways of thought and feeling, they questioned what constitutes reality, what lies below the surface appearances of people, objects, and events. By exploring what lies below surface appearances, Viennese Modernism assumed attitudes that characterize the world in which we

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live today : in particular, the view of ourselves as not truly rational, but rather as being driven by unconscious sexual and aggressive drives; and the attempt, driven by science, to integrate and unify knowledge. These elements of Viennese Modernism developed over three intellectually and chronologically distinct phases. I discuss those phases at length in “The Age of Insight” and explain here how each of them was advanced by the interaction of Christians and Jews. The first phase is the independent discovery of unconscious emotion by the psychologist Sigmund Freud, the writer Arthur Schnitzler, and the three Viennese Modernist painters, Gustav Klimt, Oskar Kokoschka, and Egon Schiele. Those independent discoveries can be traced to a common source: the Vienna School of Medicine and the teachings of Carl von Rokitansky, its intellectual and scientific leader. The Vienna School of Medicine was a driving force in the emergence of Austrian Expressionism because of Rokitansky’s emphasis on discovering the cause of disease – the truth lying deep beneath the surface of the body. The dramatic explorations of our unconscious emotional life by Freud, Schnitzler, and the Austrian Expressionists stemmed from Rokitansky’s teachings and contributed to the Modernist view of ourselves as not truly rational and to the idea that self-examination is a first step in discovering the rules that govern mind. The second phase of Viennese Modernism is the bringing together of art and science, initiated by Alois Riegl, a professor at the University of Vienna and a leader of the Vienna School of Art History in the 1890s. Riegl focused on psychology as the scientific discipline to which art naturally relates and argued that art, in particular modern art, invites the viewer’s participation. The emotions and experiences each person brings to a work of art are essential to the completion of the picture. Understanding the viewer’s response to art is the natural bridge between psychology and art. Two students of Riegl’s, Ernst Kris and Ernst Gombrich, asked the logical next question: To what extent is reality shaped by the way in which it is perceived by the viewer? To what degree is beauty in the eye of the beholder? Cognitive psychology’s insights into the viewer’s response to Modernist art led to the third phase of Viennese Modernism. The third phase integrates the psychology of the beholder’s share with its underlying biology, an advance made possible by the advent of a new biology of perception, emotion, and empathy. This advance began in the 1950s and continues to this day in the discipline of neuroaesthetics. Pioneering work in the science of vision was carried out by Stephen Kuffler, a contemporary of Gombrich and Kris, who trained at the Vienna School of Medicine in the 1930s.

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The Vienna School of Medicine and the Origins of Modernist Thought In 1745 Queen Maria Theresa recruited the great Dutch physician Gerard van Swieten to lead the medical faculty of the University of Vienna. Van Swieten began, and Rokitansky completed, the transformation of Viennese medical practice from therapeutic quackery to scientific medicine. By 1840 the Vienna School of Medicine had acquired such international prominence that Rudolf Virchow called it the “Mecca of Medicine.” The medical school achieved this renown by creating a scientific basis for medicine at the Vienna General Hospital, Das Allgemeine Wiener Krankenhaus (Fig. 1). The hospital was part of the Vienna School of Medicine and shared its high academic standards.

Figure 1. Das Allgemeine Wiener Krankenhaus der Stadt Wien, 1784.

The Vienna School of Medicine was the first to use the insights of pathology to develop a rational and objective method of diagnosis. The key to this development was the collaboration between Rokitansky (Fig. 2), the great head pathologist at the Vienna General Hospital who became a professor at the University of Vienna in 1844, and his brilliant clinician colleague Joseph Sˇkoda (Fig. 3). The Vienna General Hospital provided a unique opportunity for this collaboration. Unlike other hospitals in Europe, in which each physician carried out autopsies on his own patients, the Vienna General Hospital sent every patient who died to Rokitansky for autopsy. As a result, Rokitansky is thought to have performed some 60,000 autopsies! Based on this wealth of material, Rokitansky argued that before a physician can treat a patient, he must have an accurate diagnosis of the patient’s disease. A bedside examination of the patient is not sufficient, because the same symptoms

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Figure 2. Carl von Rokitansky (1804 – 1878).

Figure 3. Joseph Sˇkoda (1805 – 1881).

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and signs can be produced by very different illnesses. The physician must understand the biological substratum of the disease. Rokitansky therefore insisted not only that every patient who died in the Wiener Allgemeine Krankenhaus be studied at autopsy, but that the results of those postmortem studies be correlated with the clinical picture of the patient, which had often been obtained by Sˇkoda. The systematic correlation of clinical and pathological findings enabled physicians to diagnose disease in live patients. This revolutionary idea made “naturalphilosophical” explanations of disease obsolete and laid the foundation for a scientific medicine. This flowering of biological research in the service of clinical care still characterizes academic medicine. Vienna’s seminal ideas – that research and clinical practice are inseparable and inspire one another ; that the patient is an experiment of nature and the bedside is the doctor’s laboratory ; and that the teaching hospital of the university is nature’s school – are the basis of modern scientific medicine. Rokitansky emerged as a leader of and public spokesman for science. In this role he brought his liberal and humanitarian beliefs to bear on the resolution of conflicts between the university, the government, and the church. Moreover, his insistence on seeking the truth below surface appearances was an essential influence in the rise of Modernist thinking. But another aspect of his character – and his actions – was equally important. Felicitas Seebacher documents this in her book “Das Fremde im ‘deutschen’ Tempel der Wissenschaften” (“The Foreigner in the ‘German’ Temple of Sciences”). The University of Vienna in Rokitansky’s era tended toward a purely German version of academic life, largely as a result of the incendiary writings of Theodor Billroth, an extraordinary physician and the greatest surgeon of the time, who helped raise the University of Vienna School of Medicine to an even higher level of scientific excellence. Billroth thought that Jewish culture, especially Eastern European Jewish culture, was lowering the quality of medical practice, and he wanted to limit the access of Jews to the medical school. His writings ignited an anti-Semitic reaction within the university, leading to violent clashes between German Christian and Jewish students at the University of Vienna Medical School. Rokitansky stood up against this idea. He insisted that access to medical education be open to all, based only on scholarly excellence. Billroth, a powerful force in university politics, attacked Rokitansky’s tolerance and his multicultural attitude. Having the courage to challenge Billroth, who was almost as powerful as Rokitansky himself and whom Rokitansky had recruited to the School of Medicine, required remarkable strength of character.

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Sigmund Freud Two notable Jewish students who trained as physicians at the Vienna School of Medicine, and who were influenced by Rokitansky’s thinking, were Sigmund Freud and Arthur Schnitzler. Freud, who was trained as a neuroscientist (Fig. 4), attended the School of Medicine during the last years of Rokitansky’s tenure as dean. In fact, Rokitansky attended Freud’s early research seminars. When Rokitansky died, Freud went to his funeral and wrote to his friends about the tragic loss this represented for Viennese medicine. When Freud died, a number of his obituaries pointed out how fortunate he had been to have come under Rokitansky’s influence. Psychoanalysis is a theoretical and speculative science, and Freud’s strong scientific background was essential to its early development into a respected field.

Figure 4. Sigmund Freud (1856 – 1939)

Freud wanted to be a full-time research scientist, but in his era an independent income was necessary to a scientific career. He did not have such an income, so he turned to clinical practice. Influenced by his senior colleague Josef Breuer, Freud became interested in psychiatry, particularly the emerging field of psychoanalysis, which Breuer was just beginning to develop. Freud expanded on Breuer’s analysis of mental processes by applying Rokitansky’s principle to

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mental illness: to understand a mental illness, the analyst must go below the symptoms to the underlying unconscious conflicts that cause the disease. In addition to introducing the concept of the unconscious, Freud introduced three other themes that contributed to the Modernist outlook. First, he emphasized that human beings are not rational creatures: we are driven by irrational, unconscious mental processes. Second, he argued that adult character, including unconscious sexuality and aggression, can be traced to the child’s mind. Finally, he argued that no mental events occur by chance: they adhere to scientific laws and follow the principle of psychic determinism. This was a critical point. Before Freud, psychology was thought of as an extension of philosophy. Freud was the first practitioner to insist that psychology is an independent science, and by applying Rokitansky’s principles to psychology, Freud essentially developed a cognitive psychology. He realized that the analyst has to try to understand the unconscious motivations leading to a patient’s illness. Still, Freud missed a number of important points. One of the interesting things about Vienna 1900 is that Freud was not the only person developing insights into unconscious mental processes. There were Schnitzler, on the one hand, and Klimt, Kokoschka, and Schiele, on the other. All of them were exploring the human mind at the same time, living in the same zeitgeist, and they brought to bear upon the examination of human psychology a number of new insights that Freud lacked.

Arthur Schnitzler’s Challenge to Freud Although trained as a physician, Schnitzler became a writer. He had many affairs with women, and these led him to develop insights into female sexuality that Freud lacked (Fig. 5). Schnitzler kept a detailed log not only of the women with whom he had affairs, but the number of orgasms he had with each one. Thus, whereas Freud thought that women had a very limited sexual life, that they were passive and did not enjoy sex as much as men did, Schnitzler knew that women could have a rich sexual life. He wrote an attack on Freud’s case study of Dora and the narrow and nave view of women’s attitudes toward sexuality presented in that study. In “Fragment of an Analysis of a Case of Hysteria,” Freud wrote about Dora, a 16-year-old girl named Ida Bauer, and her interaction with Mr. K. Ida’s parents were very friendly with Mr. and Mrs. K, and in time Ida’s father began to have an affair with Mrs. K. In retaliation, Mr. K made advances to Ida, who was 14 years old at the time and deeply offended by Mr. K’s attentions. Ida complained to her father, who then spoke to Mr. K. Mr. K insisted that Ida was making the whole

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Figure 5. Arthur Schnitzler (1862 – 1931).

thing up. She is a young girl. She has a rich fantasy life. She reads pornographic literature. There is nothing to it! Mr. Bauer, not wanting to start any trouble because he was sleeping with Mr. K’s wife, went along with Mr. K’s story and ignored Ida’s complaints. With time, Ida became more and more depressed. Her father went with her to see Freud, who took her into treatment. As the therapy progressed, Freud began to side with Ida’s father, thinking that Ida must be imagining Mr. K’s advances. Freud could not understand why a 14-year-old girl would not be flattered by the fact that a mature man was sexually interested in her. Schnitzler criticized Freud’s lack of insight into a young woman’s sensitivity in “Fräulein Else,” a novella in which a young, upper-class woman is put into a somewhat similar situation by her parents. Else’s father had accumulated a serious gambling debt that he could not pay, and he was going to be thrown into prison. Else’s mother wrote to her daughter, who was on holiday at a resort, saying that the only way Else’s father could be saved was by Else’s asking an old friend of the family, who was wealthy and was also vacationing at the resort, to lend her father money. Else went to see the family friend, who implied that he would lend her father money if she would sleep with him. Else was horrified. The family friend compromised: “I’ll lend the money if you just stand in front of me, nude, for half an hour.” Else was repelled, but she ultimately prepared to yield to his request – and to

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commit suicide afterward. She dressed only in her coat and went to the man’s room. He wasn’t there, so Else went to look for him. She found him in a small room, attending a concert with other people. In trying to catch his attention, Else accidentally exposed her naked body to everyone present. Mortified, she subsequently committed suicide. Schnitzler clearly shows the reader that the responsibility for this tragic outcome rests with Else’s parents and their preposterous request.

Gustav Klimt and the Liberation of Female Sexuality Austrian Modernist art represents an extension of the intellectual search for deeper meaning that was introduced into medicine by Rokitansky and elaborated in psychology by Freud and in literature by Schnitzler. The artists penetrated the Victorian veneer of middle-class Viennese life – particularly society’s restrictive and hypocritical attitudes toward mental life, sex and aggression, and women and their sexuality – to reveal the reality that lies beneath the surface.

Figure 6. Gustav Klimt (1862 – 1918).

Klimt (Fig. 6) focused on becoming a psychological painter of women. Over the course of his life, he replaced the angelic feminine types in his earlier pictures with portraits of women as sensual creatures developing their full potential for pleasure and pain, life and death. In a long series of drawings, Klimt tried to

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capture the feeling of femaleness. In his exploration of the erotic, he banished the sense of sin surrounding sex that had plagued his father’s generation and portrayed the variety of sexual pleasures women can achieve, alone or with a male or female partner (Fig. 7). In capturing the fullness of female sexuality that had eluded Freud and many of his contemporaries, Klimt became a great liberator of women’s sensuality. Klimt introduced a new dimension to eroticism in Western art – he portrayed real women with no regard to the viewer. The traditional nude (Figs. 8 – 11) was characterized by three features. First, she is a mythological creature: Venus, Maja, Olympia. Second, she looks at the beholder as if her only satisfaction is the satisfaction of the (usually male) viewer. Third, she often covers her pubic region with her hand. In two of the paintings shown here, the purpose of covering her genitalia is ambiguous (Figs. 8, and 9): is she being modest, or is she masturbating? With Klimt there is never any doubt (Figs. 7 and 12). In addition, Klimt sensed that a fear of sex haunted many of the men of his generation. He recognized that the liberation of female sensuality carried with it an anxiety about death. In his painting “Judith” (Fig. 13), a major example of his erotic art, Klimt introduces the themes of aggression and castration, in this case disguised as decapitation. Judith, fresh from killing Holofernes after seducing him, glories in her voluptuousness. Klimt pictures her as a young, extravagantly made-up woman, her semi-clothed body handled with great sophistication. She faces the viewer, whom she regards sensually, through half-open eyes. She is absentmindedly stroking the head of a man in the lower part of the picture. Although we know from the title of the painting that this woman is the Jewish heroine Judith and therefore that the head is that of her people’s nemesis Holofernes, this dangerous beauty is clearly contemporary. Her jewelry is archaic in style but obviously of modern production, while the dress recalls the fine materials that were the hallmark of the Wiener Werkstätte. Klimt portrays Judith in the same way as the elegant ladies of the contemporary Viennese upper class whom he painted and with whom he had affairs. In fact, she looks like Adele Bloch-Bauer. Judith is a true femme fatale. She evokes both lust and fear. Nevertheless, the murder of Holofernes is presented in sublime form: there is no trace of blood or violence in the picture. Although Judith is a murderess, the murder is symbolic only.

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Figure 7. Gustav Klimt, “Seated Woman in Armchair” (c. 1913). Pencil and white chalk on paper.

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Figure 8. Giorgione da Castelfranco, “The Sleeping Venus” (1508 – 10). Oil on canvas.

Figure 9. Titian, “Venus of Urbino” (before 1538). Oil on canvas.

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Figure 10. Francisco Jos¦ de Goya y Lucientes, “The Naked Maja” (c. 1800). Oil on canvas.

Figure 11. Êdouard Manet, “Olympia” (1863). Oil on canvas.

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Figure 12. Gustav Klimt, “Reclining Nude Facing Right” (1912 – 13). Pencil and red and blue pencil.

Figure 13. Gustav Klimt, “Judith” (1901). Oil on canvas.

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The Zuckerkandl Salon Klimt, a Christian, had extensive interactions with the Jewish community in Vienna. Most of his patrons were Jews, and two of his Jewish supporters and friends, Emil and Berta Zuckerkandl (Figs. 14 and 15), introduced him to Rokitansky’s ideas. Emil, an anatomist and an important scientist in his own right, was an associate of Rokitansky’s. Berta ran the greatest salon in Vienna, which attracted scientists, business people, writers, and physicians, including her husband. As she liked to say, “on my divan, Austria comes alive.” The idea of bringing together art and science in his work was something that Klimt achieved by visiting the Zuckerkandls.

Figure 14. Emil Zuckerkandl (1849 – 1910).

Berta Zuckerkandl was a journalist who wrote about art. In that role she became a great defender of Klimt. When the faculty of the University of Vienna refused to display Klimt’s murals on Philosophy, Medicine, and Jurisprudence, attacking them as “pornography,” Berta wrote strong articles in his defense. When the legal and medical faculties deemed the murals ugly, Berta pointed out that the function of modern art is to convey truth and that some aspects of truth are in fact ugly. Through Emil Zuckerkandl, Klimt became interested in biology. He began to read Darwin and Rokitansky. Emil showed him slides of sperm cells and egg

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Figure 15. Berta Zuckerkandl (1864 – 1945).

cells, and invited him to his lectures. Klimt not only attended himself, he encouraged other artists to attend Zuckerkandl’s seminars. Klimt began to incorporate biological symbols into his art: rectangles symbolized sperm and ovals symbolized eggs. We see this in “DanaÚ,” the Greek princess who was imprisoned by her father and impregnated by Zeus in the form of a golden shower (Fig. 16). If we look closely at the painting, we can see rectangles in the golden raindrops. On the other side of “DanaÚ,” we see oval shapes. These are embryos, fertilized ova. Klimt shows us DanaÚ, through her generative power, transforming sperm into the earliest stage of life. These biological symbols, which Klimt used for the first time in this painting, recur throughout his later work. We see the apex of this symbolism in “The Kiss” (Fig. 17), probably the most popular of Klimt’s paintings. Klimt intensifies the sensuousness of the painting by expanding the use of symbols at the expense of realistic ornamentation. Thus in the lovers’ clothing, as well as in the flowery base, the symbols serve as ornament. The rectangle that Klimt used in his painting of DanaÚ as a phallic symbol is proliferated in “The Kiss” on the man’s cloak, while the woman’s dress is alive with ovular and floral symbols. These two defined fields of sexual symbols are brought into a union of opposites in the vibrant cloth of gold that is their common ground. Here again, Klimt has indirectly portrayed strong and harmonious erotic feelings.

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Figure 16. Gustav Klimt, “DanaÚ” (1907 – 08). Oil on canvas.

Figure 17. Gustav Klimt, “The Kiss” (1907 – 08). Oil on canvas.

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Bringing Psychology and Art Together The second phase of Viennese Modernism, the bringing together of science and art, resulted from the interaction of the extraordinarily gifted art historian Alois Riegl (Fig. 18), who was Christian, and two of his students, Ernst Kris (Fig. 19) and Ernst Gombrich (Fig. 20), both of Jewish origin.

Figure 18. Alois Riegl (1858 – 1905).

Riegl was the first art historian to apply scientific thinking systematically to art criticism. He and his colleagues at the Vienna School of Art History attained international renown at the end of the nineteenth century for their efforts to establish art history as a scientific discipline by grounding it in psychology and sociology. Riegl discovered a new, psychological aspect of art: namely, that art is incomplete without the perceptual and emotional involvement of the viewer. Not only does the viewer collaborate with the artist in transforming a two-dimensional likeness on a canvas into a three-dimensional depiction of the visual world, the viewer interprets what he or she sees on the canvas in personal terms, thereby adding meaning to the picture. Riegl called this phenomenon the “beholder’s involvement” (Gombrich later elaborated on this concept and referred to it as the “beholder’s share”). Based on ideas derived from Riegl and from contemporaneous schools of psychology and psychoanalysis, Kris and Gom-

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Figure 19. Ernst Kris (1900 – 1957).

Figure 20. Ernst Gombrich (1909 – 2001).

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brich devised a new approach to the mysteries of visual perception and incorporated that approach into art criticism. Kris studied ambiguity in visual perception, and those studies led him to elaborate on Riegl’s insight that the viewer completes a work of art. Kris argued that every powerful image is inherently ambiguous because it arises from experiences and conflicts in the artist’s life. The viewer responds to this ambiguity in terms of his or her own experiences and conflicts. The extent of the viewer’s contribution depends on the degree of ambiguity in the image. The idea of ambiguity as Kris used it was introduced by the literary critic William Empson, who held that ambiguity exists when “alternative views [of a work of art] might be taken without sheer misreading.” Empson implied that ambiguity allows the viewer to read the aesthetic choice, or conflict, that exists within the artist’s mind, whereas Kris held that ambiguity enables the artist to transmit his sense of conflict and complexity to the viewer’s brain. Gombrich extended Kris’s ideas about ambiguity to visual perception per se. This led him to realize that the brain is not simply a camera, it is a creativity machine. It takes incomplete information from the outside world and makes it complete. Our brain has evolved to do this. Many things we take for granted are built into our brain by evolution. For example, the brain realizes that the sun is always above us, no matter where we are. We therefore expect light to come from above. If it does not – as in a visual illusion – our brain can be tricked. Gombrich was fascinated by how the brain responds to such illusions. Perception also incorporates knowledge based on learning, hypothesis testing, and goals – and this knowledge is not necessarily built into the developmental program of our brain. Because much of the sensory information that we receive through our eyes can be interpreted in a variety of ways, we must use inference to resolve this ambiguity. We must guess, based on experience, what is the most likely image in front of us. Hermann von Helmholtz, one of the most important physicists of the nineteenth century, first discovered this top-down processing in visual perception. Helmholtz realized that the images our eyes transmit to our brain contain poorquality, incomplete information. To reconstruct the dynamic, three-dimensional world from these static, two-dimensional images, the brain needs additional information. He therefore concluded that perception is also a process of guessing and hypothesis testing in the brain, based on our past experiences. Such educated guessing enables us to infer what an image represents. Since we normally are not aware of constructing visual hypotheses and drawing conclusions from them, Helmholtz called this top-down process of hypothesis testing unconscious inference. The importance of top-down processing in visual perception was later established by Freud. He described people

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who could accurately detect features of an object, such as edges and shapes, but could not put them together to recognize the object. Helmholtz’s remarkable insight is not restricted to perception: top-down processing applies to emotion and empathy as well. The noted cognitive psychologist Chris Frith of the Wellcome Center for Neuroimaging at University College London has summarized Helmholtz’s insight: “We do not have direct access to the physical world. It may feel as if we have direct access, but this is an illusion created by our brain.” The influence of top-down processing on perception convinced Gombrich that there is no “innocent eye:” that is, all visual perception is based on classifying concepts and interpreting visual information. We cannot perceive that which we cannot classify, he argued. Riegl, Kris, and Gombrich realized that each of us brings to a work of art our memories, in addition to our bottom-up, built-in visual processes. We remember other works of art that we have seen. We remember scenes and people that have meaning to us. And when we look at a work of art, we relate it to those memories. In a sense, to see what is actually painted on a canvas, we have to know beforehand what we might see in a painting. In this way the artist’s modeling of physical and psychic reality parallels the intrinsically creative operations of our brain in everyday life. These psychological insights into perception were to serve as a solid footing for a bridge between the visual perception of art and biology.

The Brain As a Creativity Machine As Gombrich’s fascination with visual perception deepened, he became intrigued by Kris’s ideas about ambiguity in art and began to study the ambiguous figures and illusions made famous by Gestalt psychologists. Simple illusions allow for two distinctly different readings of an image. Such illusions are uncomplicated examples of the nature of ambiguity, which Kris held was the key to all great works of art and to the beholder’s response to great art. Other illusions contain ambiguous images that can lure the brain into making perceptual errors. Gestalt psychologists used these errors to explore the cognitive aspects of visual perception. In the process, they deduced several principles of the brain’s perceptual organization before neuroscientists discovered them. Ambiguous figures and illusions intrigued Gombrich because he knew that in viewing a portrait or a scene, multiple choices are possible to the viewer. Often, several ambiguities are embedded in a great work of art, and each of them may present the beholder with a number of different decisions. Gombrich was particularly interested in ambiguous figures and illusions that cause perception to

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flip between two rival interpretations. One such figure is the drawing of a duckrabbit (Fig. 21) created in 1892 by the American psychologist Joseph Jastrow and used by Gombrich in his book “Art and Illusion.” The viewer cannot see both animals at the same time. If we focus on the two horizontal bands at the left that look like long ears, we see the image of the rabbit; if we focus on the right, we see the duck, and the two bands at the left become a beak. We can initiate the switch between rabbit and duck with a movement of our eyes, but that eye movement is not essential for the switch.

Figure 21. The duck-rabbit.

What impressed Gombrich about this drawing was that the visual data on the page do not change. What changes is our interpretation of the data. We see the ambiguous image and unconsciously infer, based on our expectations and past experiences, that the image is a rabbit or a duck. This is the top-down process of hypothesis testing that Helmholtz described. Once we have formed a hypothesis about the image, it not only explains the visual data, it also excludes alternatives. In other words, once the image of the duck or the rabbit is dominant, nothing remains to be explained; the image is no longer ambiguous. It is either a duck or a rabbit, but never both. This principle, Gombrich realized, underlies all of our perceptions of the world. Rather than seeing the image and then consciously interpreting it as a duck or a rabbit, we unconsciously interpret the image as we view it. Thus interpretation is inherent in visual perception itself. Simply by seeing the image, we recognize it as either a duck or a rabbit. We can consciously flip from one interpretation to the next, but we cannot see both animals in the image at the same time. The Rubin vase (Fig. 22), devised by the Danish psychologist Edgar Rubin in 1920, while also an example of perception flipping between two rival interpretations, relies on unconscious inferences made by the brain. Unlike the rabbit-duck illusion, the Rubin vase requires the brain to construct an image by

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differentiating an object (figure) from the background (ground). The Rubin vase also requires that the brain assigns “ownership” of the outline, or contour, that separates the figure from the ground. Thus, when our brain assigns ownership of the contour to the vase, we see the vase, and when it assigns ownership to the faces, we see the faces. The reason the illusion works, according to Rubin, is that the contours of the vase match the contours of the faces, thus forcing us to select one image or the other.

Figure 22. The Rubin vase.

Figure 23. The Kanizsa square.

The Kanizsa square (Fig. 23) is still another example of the visual system constructing a reality that is not there. In this illusion, created in 1950 by the Italian artist and psychologist Gaetano Kanizsa, the brain constructs an image of a black square lying on top of four white circles. It seems perfectly clear ; how-

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Figure 24. Semi-circles forming the Kanizsa square (left); the same semi-circles rotated (right).

ever, there is no black square there at all. The brain is making it up! What we actually see is four white, 2708 semi-circles. There are no lines at all. If we turn the semicircles around, the illusion of the square disappears completely (Fig. 24). This is one of many examples that Gombrich used to show how much of the information that we take in is fantasy. Recently, Semir Zeki, a professor of neuroaesthetics at University College London, has argued that the Kanizsa square is an example of the brain trying to complete, and thereby make sense of, an incomplete or ambiguous image. Zeki’s brain imaging experiments indicate that several areas of our brain become active when we look at implied lines, including an area of the cortex that is critical for object recognition. Presumably, our brain completes lines because nature often presents us with occluded contours that must be completed in order to perceive an image correctly – the sort of thing that might happen when we see someone coming around a corner. As Richard Gregory reminds us, “our brains create much of what we see by adding what ‘ought’ to be there. We only realize that the brain is guessing when it guesses wrongly …” [Seeing Through Illusion, p. 212]. Kris’s and Gombrich’s studies of ambiguity and of the beholder’s share led them to conclude that the brain is creative – it generates internal representations of what we see in the world around us, whether as an artist or a beholder. Moreover, they held that we are all wired to be “psychologists” because our brain also generates internal representations of other people’s minds – their perceptions, motives, drives, and emotions. These ideas contributed greatly to the emergence of a modern cognitive psychology of art. But Kris and Gombrich realized that their ideas resulted from sophisticated insights and inferences; they could not be examined directly and therefore could not be analyzed objectively. To examine these internal representations directly –

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to peer into the brain – cognitive psychology had to join forces with brain biology.

The Beholder’s Share: Biology and Psychology The third and final phase in Viennese Modernism – discovering the brain mechanisms underlying the beholder’s share – also results from the interaction of Jews and Christians; specifically, the influence of Riegl on Kris and Gombrich. Had it had not been for Riegl, Kris and Gombrich would never have focused on the beholder’s share. As we look at a portrait, our brain is busy analyzing facial contours, forming a representation of the face, analyzing the body’s motion, forming a representation of the body, experiencing empathy, and forming a theory of the person’s mind. These are all components of the beholder’s share, and modern biology makes it possible for us to explore them. Theory of mind is the idea that someone else has a mind of his or her own, with separate feelings, aspirations, and ideas. For example, when you look at a painting of someone walking toward you, you may feel an urge to move and walk toward the person. When you look at a portrait of a person who is really interesting, you have empathy for that person; you understand his or her aspirations and goals. You try to understand what is going on in the person’s mind. Theory of mind also enables us to predict what other people will do. It is a very important skill, and our brain has a special area devoted to it. The brain’s representation of faces is also essential to the beholder’s share. We have learned a great deal about the psychology of face recognition and the biological processes underlying it. Let us first consider the psychological aspects of face recognition and then the biology. Our brain is specialized to deal with faces. Darwin pointed out that the face and the emotion it conveys are key to all human interactions. We judge whether we trust people or are scared of them in part by the facial expressions they show us when we interact with them. We are attracted to people, of the same sex and the opposite sex, because of their physical appearance and their facial expressions. Face recognition is a difficult task. Computers, which can do complicated calculations that we could never come close to doing, cannot recognize faces very well. But we can recognize hundreds of faces effortlessly. We do even better when we see them in cartoon form, because our brain responds powerfully to exaggeration. Thus we are likely to recognize a cartoon of the Mona Lisa even more readily than the original image because the cartoon exaggerates her features.

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The brain treats faces very differently from other objects. For example, if we turn a bottle of water upside down, we will still recognize it as a bottle of water. But we may not recognize a face when it is upside down. Moreover, if we view two images of the Mona Lisa upside down (Fig. 25), we may recognize both of them as the Mona Lisa, but not realize that they have different expressions. One is the enigmatic Mona Lisa; the other has a smirk on her face that we don’t see when the image is upside down (Fig. 26). With an object other than a face, we would see the difference.

Figure 25. Inverted images of da Vinci’s “Mona Lisa”. Adapted from Thomas, P., 1980. “Margaret Thatcher : a new illusion.” Perception, 9: 483 – 484. p. 483 Fig. 1.

Figure 26. Upright images of da Vinci’s “Mona Lisa”. Adapted from Thomas, P. 1980. “Margaret Thatcher : a new illusion.” Perception, 9: 483 – 484. p.483 Fig. 2.

How do we recognize faces? In brief, our brain has four lobes: frontal, parietal, occipital, and temporal. The occipital lobe is where visual information first comes into the brain; the temporal lobe is where facial representation occurs. Visual information comes in through our eyes. At the back of the eye is the retina, a sheet of nerve cells whose long axons form the optic nerve. The optic nerve ends in an area of the brain called the lateral geniculate nucleus, which then

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relays the information to the visual cortex. The information is processed in several stages, which are called V1, V2, and V3. In each stage the information is treated in a progressively more complex manner. Our understanding of vision owes much to another interaction of Jews and Christians. Stephen Kuffler, a Viennese scientist of Jewish origin, studied at the Vienna School of Medicine but left Vienna in 1938. He moved first to Australia and then to the United States, where he did his great work on the physiology of the visual system. Two of his students, David Hubel and Torsten Wiesel, who are not Jewish, continued in his tradition. Kuffler began to record electrical signals produced by cells in the retina. He found that when he shone a diffuse light on the retina, those cells did not respond. But when he shone small spots of light on the retina, some of the cells did respond. Kuffler realized that each cell responds only to one particular, small point on the retina known as its receptive field. Moreover, each cell responds only to contrasts in its receptive field. Some cells respond to a spot of light surrounded by darkness; Kuffler called these “on-center” cells. Other cells respond to a spot of darkness surrounded by light; these he called “off-center” cells. When Kuffler shone a light in the center of an on-center cell, its electrical firing increased. When he shone a light on the periphery, its firing slowed. When he shone a diffuse light, the cell did not respond at all. Off-center cells respond in the opposite way – but both types of cells are responding to contrast. In addition, if two circles of light, both of the same intensity, are shone on the retina, one may appear brighter than the other because the contrast is greater. So a bit of what we see is the contrast between surfaces, not absolute intensity of light. When all this information about circular forms reaches the cortex, it is turned into lines. Thus, cells in the cortex respond not to small spots of light, but to linear stimuli. Some cells respond to vertical stimuli, some to oblique stimuli, and some to horizontal stimuli. (These are the cells that respond to the Kanizsa Square, the optical illusion in which the brain creates a square because most objects that look like it are in fact squares.) In this way our brain begins to put contours together and to recreate faces.

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The Representation of Faces in the Brain Scientists learned an enormous amount about the representation of faces in the brain from people who have face blindness, or prosopagnosia. The condition was first described in 1947 by Joachim Bodamer (Fig. 27). It results from damage to the inferior temporal cortex, whether acquired or congenital. About 10 percent of people have a modest degree of face blindness.

Figure 27. Bodamer’s prosopagnosia – representation of faces. Adapted from Gilbert, C. 2012. “Intermediate-level visual processing and visual primitives.” In: “Principles of Neural Science,” 5th ed., edited by Kandel et al. 2012: 602 – 620, p. 604 Fig. 27 – 2.

People with damage in the front of the inferior temporal cortex can recognize a face as a face but cannot tell whose face it is. People with damage to the back of the inferior temporal cortex cannot see a face at all. In Oliver Sacks’s famous story “The Man Who Mistook His Wife for a Hat,” a man with face blindness tried to pick up his wife’s head and put it on his head because he thought her head was his hat. Charles Gross at Princeton, followed by Margaret Livingston, Doris Tsao, and Winrich Freiwald at Harvard, has made several advances in analyzing faces. They homed in on a particular region of the brain, the inferior temporal cortex, in macaque monkeys (Fig. 28), using a combination of brain imaging and recording from individual cells. They found six small structures, which they called face patches, in the temporal lobe of monkeys that lit up when they showed the animals a face. They also found a similar, although smaller, set of face patches in the human brain. When they recorded electrical signals from cells in the monkeys’ face patches,

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Figure 28. Faces patches in the human and macaque brain. Adapted from Freiwald, W., Tsao, D., 2010. “Functional compartmentalization and viewpoint generalization within the macaque faceprocessing system.” Science, 330 (6005): 845 – 851, p. 846 Fig. 1.

they found that different patches respond to different aspects of the face: headon view, side view, and so on. Figure 29 shows a cell in a monkey’s face patch responding to various images. Not surprisingly, the cell fires very nicely when the monkey is shown a picture of another monkey (Fig. 29a). The cell fires even more dramatically in response to a cartoon face (b): monkeys, like people, respond more powerfully to cartoons than to real objects because the features in a cartoon are exaggerated. But the cell in the monkey’s face patch follows Gestalt principles: a face has to be complete in order to elicit a response. When the monkey is shown two eyes in a circle (c), there is no response. A mouth and no eyes elicits no response (d). Two eyes and a mouth – a nose is not necessary – inside a square, also no response (e). If you show only a circle, no response (f). The cell responds only to two eyes and a mouth inside a circle (g). If the circles and the mouth are only outlined, there is no longer a response (h). In addition, if the monkey is shown an inverted face, it does not respond.

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Figure 29. Using a visual stimulus to excite a single cell in a macaque face patch. Adapted from Kobatake, E., Tanaka, K. 1994. “Neuronal selectivities to complex object features in the ventral visual pathway of the macaque cerebral cortex.” J. Neurophysiol. 71 (3): 856 – 2280, p. 859 Fig. 4.

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The Beholder’s Share of Brain, Body, Movement, Empathy, and Theory of Mind The brain creates representations not only of faces, but also of bodies, and these are part of the beholder’s share as well. Behind the visual cortex is an area called the extrastriate cortex, which responds to bodily parts: arms, hands, legs. Behind that is an area concerned not just with the body but also with the processing of motion – all kinds of motion, artificial as well as biological. Another area analyzes just biological motion, such as an arm reaching forward or legs moving. Two additional areas in the brain are called the mirror neuron systems. Studies of monkeys have shown that mirror neurons respond when one monkey watches another monkey move; for example, when the monkey picks up a glass of water and drinks it. But these cells also respond when a monkey observes a person pick up a glass of water and drink it; they even respond when a person simply picks up a glass. The cells in the monkey’s brain mirror movement. They respond to actions that another monkey or a person carries out without prompting any movement on the part of the observer. This shows us that simply by observing things we are training our motor systems to carry out those acts. Babies do this; we now think that they acquire some aspects of language by actually reading their parents’ lips and quietly simulating their mouth movements, in addition to listening to them.

The Emergence of a Jewish Contribution to Painting in Vienna 1900 The Second Commandment of the Bible forbids the making of any “graven image.” This commandment has been interpreted by Jewish people (and even more strictly by Islamic people) as not just images for the purpose of worship, but any representation, irrespective of its purpose. This prohibition held, with rare exceptions, until the beginning of the twentieth century. It is generally thought that the first outburst of Jewish painting was the Paris School of the 1920s, consisting on Marc Chagall, Chaim Soutine, Jules Pascin, Amadeo Modigliani, and Michel Kikoine. In Vienna, none of the well-known Austrian Modernist artists – Klimt, Kokoschka, and Schiele – were Jewish. Yet the same cultural forces that inspired these three painters loosened the constraints that had historically inhibited Jews from making images. As a result, turn-of-thecentury Vienna saw the rise of a group of Jewish painters, two men and three woman, whose work proved both interesting and important. Moreover, this burst of creativity, although not generally appreciated, emerged even earlier

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than that which engaged the Jewish painters in Paris: Chagall, Soutine, Pascin, Modigliani, and Kikoine. One of the most gifted Viennese painters was Richard Gerstl (1883 – 1909), the first Austrian Expressionist. Even before Kokoschka, Gerstl captured the intensity of emotion and color that Van Gogh and Munch had introduced into modern painting (Fig. 30). Gerstl also preceded Schiele in depicting himself nude, as we see in his extraordinary self-portrait against a blue background (Fig. 31). Although he had a very brief career – he committed suicide at age 25 – Gerstl was nevertheless a major force in Expressionism, his work being on the same level as that of Kokoschka and Schiele.

Figure 30. Richard Gerstl, “Self-Portrait (Nude on a Blue Ground)” (1904 – 5). Oil on canvas (left). Figure 31. Richard Gerstl, “Self-Portrait as an Act” (c 1908). Oil on canvas (right).

During the last two years of his life, Gerstl joined the intellectual circle and spent the summers in the Resort of Traunsee with another, ever more influential Jewish artist of the period, Arnold Schönberg, whom Gerstl instructed in painting. Schönberg is perhaps best known as a composer and leader of the Second Vienna School of Music. In 1908 he introduced a conception of harmony that has no central key – only changes in timbre and tone. This revolutionary form of composition, referred to as “atonality,” also led to a new conceptualization of art. After hearing a concert of Schönberg’s music in 1911,

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Wassily Kandinsky, the Russian painter and art theorist, created the first truly abstract work of art, thus beginning the most radical artistic movement of the twentieth-century. But Schönberg also proved to be a talented and original painter. Between 1908 and 1912 he carried Gerstl’s emotional intensity and subjective impressions a step further in his paintings, both in his conventional portraits (Fig. 32) and in his later “visions” (Figs. 33 and 34). His “visions” moved beyond expressionism to symbolic and abstract representation (Fig. 35).

Figure 32. Arnold Schönberg, “Self Portrait” (c 1910). Oil on cardboard (left). Figure 33. Arnold Schönberg, “Vision Rouge” (1910). Oil on cardboard (right).

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Figure 34. Arnold Schönberg, “Self-Portrait” (1910). Oil on cardboard (left). Figure 35. Arnold Schönberg, “Vision” (1910). Oil on cardboard (right).

In addition to these two men, there were in Vienna 1900 three particularly talented Jewish women painters, who knew and interacted with Klimt, Kokoschka, and Schiele. Their art did not receive the same recognition as did the male artists they associated with, and it is only now that critics are beginning to remedy that. Tina Blau painted beautiful Impressionist landscapes (Fig. 36). Her 1882 “Prater Spring,” a major work that depicts Vienna’s great public park, was bought by the city. Broncia Koller-Pinell, a personal friend of Klimt and Schiele, painted interiors and focused on domestic subjects, including female nudes, then a rarity for female artists to undertake (Fig. 38). Perhaps the most recognized by the public and the art critics was Teresa Reis (Fig. 37), a major sculptor whose work caught the interest of Theodore Herzl, Stefan Zwers, and Mark Twain.

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Figure 36. Tina Blau, “Prater Spring” (c 1882). Oil on wood (left). Figure 37. Teresa Reis, “Self-Portrait” (1902). Oil on canvas (right).

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Figure 38. Broncia Koller-Pinell, “Seated Nude” (1907). Oil on canvas.

Gallerists, Patrons, and the Pleasures of Ownership Most of the patrons of Modernist artists were Jewish, as were the gallery owners who promoted and supported them, notably Otto Kallir. There is a bit of psychology involved in why this is so. The Jews wanted a new sense of identity ; they wanted to become assimilated into Viennese culture. Modernism was a new, interesting movement, and they wanted to be part of it. One way of doing so was by buying Modernist art. But Jewish patrons also supported Modernist art because they loved it. One important Jewish patron was Ferdinand Bloch, who commissioned Klimt to paint his wife, Adele (Fig. 39). Another Jewish patron who loved Modernist art came onto the scene much later. This patron is Ronald Lauder, an American. In 1958, when he was 14 years old, Lauder visited Vienna for the first time and fell in love with Klimt’s painting of Adele Bloch-Bauer, which was hanging in the Upper Belvedere. Forty-eight years later, Lauder bought the painting for $135 million, then the highest price ever paid for a painting. What accounts for the fact that Ronald Lauder loved the painting of Adele so much that he was willing to pay $135 million for it?

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Figure 39. Gustav Klimt, “Adele Bloch-Bauer I” (1907). Oil and silver and gold leaf on canvas.

When Lauder first looked at the painting, at the age of 14, his brain’s dopamine system, which is associated with pleasure, responded forcefully. This response not only increased the production of dopamine, it also recruited very powerful neurons in the orbitofrontal cortex that are associated with romantic love (Fig. 40). The dopamine system is like a sprinkler system: it affects every aspect of the beholder’s share. It is also recruited in response to food, drink, sex, and addictive substances such as opium, cocaine, smoking, and drinking. Lauder wanted to own the painting, but of course he couldn’t. He came back summer after summer to the Upper Belvedere, and thought, “Wouldn’t it be nice to own this?” When the painting finally came on the market, Lauder’s dopamine system had been in high gear for years. He desperately wanted the painting. Ultimately, he bought it because he got so much pleasure from it, and from what it represented to him, that he had become addicted to it.

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Figure 40. Romantic love lights up cells in the brain’s dopamine system. Reproduced from Aron, A., et al. 2005. “Reward, motivation, and emotion systems associated with early stage intense romantic love.” J. Neurophysiol. 94: 327 – 337, p. 332 Fig. 4.

Jews, Christians, and the Emergence of Modernism in Perspective Although Vienna 1900 was a remarkable city at a remarkable time, Vienna had already been at the center of Western musical culture for over a century. The city had been home to Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms, and Mahler, followed by Schönberg, Berg, and Webern. This great musical tradition was supported both by the court and the middle class. Not until 1870 and subsequent years did Vienna begin to excel, for the first time, in medicine, psychology, philosophy, economics, and art. The Jewish writer Stefan Zweig described Vienna before World War I in the following terms: “There is hardly a city in Europe where the drive towards cultural ideals was as passionate as it was in Vienna. Precisely because the monarchy, because Austria itself, for centuries had been neither politically ambitious nor particularly successful in military actions, the native pride had turned more strongly towards a desire for artistic supremacy. . . . Here rode the Nibelungs, here the immortal Pleiades of music shone out over the world, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms, and Johann Strauss, here all the streams of European culture converged. . . . Hospitable and endowed with a particular talent for receptivity, the city drew the most diverse forces to it, loosened, propitiated, and pacified them. It was sweet to live here, in this atmosphere of spiritual conciliation, and subconsciously every citizen became supernational, cosmopolitan, a citizen of the world.”

The Jews who came to Vienna in the years after Franz Joseph’s reforms were hungry for culture and scholarship, and they found in the city a new Jerusalem. Throughout its long history, Judaism’s interest in scholarship has been char-

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acterized by three features. The first is historical storytelling. From their origins in about 1900 BC, Jews have emphasized the historical sweep of their religion in the five books of Moses, the Prophets, and the Talmud. The second feature is universal literacy. Following the destruction of the Second Temple in Jerusalem by the Romans in 70 AD, the Jews could no longer communicate with God through their priests: they had to communicate with God directly. To do this, each Jew had to learn to read the Bible, the Talmud, and the commentaries for himself. At a time when the Greeks and Romans were only educating their elite, every Jew, irrespective of social class, had to become literate. The Jews thus became the People of the Book, and study became, for them, the highest form of worship. The third feature is learning to think critically about different perspectives on the same issue. This ability derives from the study of the various commentaries on the holy texts, commentaries that argue about the meaning of specific statements. This was, in a sense, the Jews’ first encounter with the beholder’s share, which would later encourage Jewish art historians to study ambiguity in art. The destruction of the Second Temple also caused the dispersion of the Jewish people, known as the Diaspora. As Jews left the Holy Land and spread through the Middle East and Europe, they interacted with Muslim and Christian inhabitants. From the eighth to the twelfth century they found Nirvana in Muslim Spain. The Muslims encouraged the Jews to live an independent life, and this led to a creative interaction between Jews and Muslims, scholars and scientists. The Jews translated Arabic texts into Hebrew and Hebrew texts into Arabic, encouraging communication between themselves and other peoples. They began to make important contributions to botany, medicine, and mathematics. The closest thing to that wonderful burst of creativity and its contribution to a communal culture in Muslim Spain was Vienna 1900. As we have seen, dozens of Jews – among them Theodor Herzl, Josef Breuer, Sigmund Freud, Arthur Schnitzler, Berta and Emil Zuckerkandl, Hugo von Hofmannsthal, Ludwig Wittgenstein, Karl Kraus, Gustav Mahler, and Arnold Schönberg – owed their considerable creativity in part to their interactions with non-Jewish Austrians. Hans Tietze, the great Viennese Jewish art historian, wrote that “without the Jews, Vienna would not be what it is, and the Jews without Vienna would lose the brightest era of their existence during recent centuries.”

“Der Lange Schatten” in Perspective Anti-Semitism is universal, but it is often countered by people who speak out in opposition to it. Thus, while France had the Dreyfus Affair, it also had Emile Zola and many other people who supported Dreyfus. Similarly, during the liberal era

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that characterized Franz Joseph’s reign, Austria had the Emperor and Rokitansky. In later years, however – during the Dollfuss, Schuschnigg, and Hitler periods – few eminent Austrians spoke up for the Jews. In fact, following Hitler’s annexation of Austria, a particularly virulent form of anti-Semitism erupted in Austria. According to the historical record, nearly half the crimes committed during the Holocaust were committed by Austrians, even though the Austrian population made up only 8 percent of Hitler’s Greater Germany. After the war, Austria devoted enormous energies to hiding its crimes. While Germany proved admirably transparent about its past, Austria was not. Thomas Bernhard and a few writers and artists did speak out immediately after the war, but very few others did. As a result, anti-Semitism continued in Austria after World War II and is still present today, although thankfully in attenuated form. Only in 1991, a full 46 years after the end of World War II, did Chancellor Franz Vranitzky make the first explicit statement acknowledging that Austria participated in the Holocaust. Even Bruno Kreisky, the only chancellor of Jewish origin that Austria has ever had, did not address anti-Semitism. I found this difficult to accept understand until Andreas Stadler, the head of the Austrian Cultural Forum in New York, defined Kreisky for me in terms of Robert Musil’s central character, Ulrich, in his classic novel “A Man Without Quality.” Kreisky, Stadler argued, was the opposite of Ulrich: he was a man of qualities. He had many good qualities. Largely because of Kreisky, who served as foreign minister from 1959 to 1966 before his tenure as chancellor from 1970 to 1983, Austria began to regain confidence in itself as an independent nation. Kreisky was the first socialist chancellor in the history of Austria. He stabilized the country’s economy and moved it in the direction of prosperity. He established a distinctive, independent, and strong foreign policy. Thanks to Kreisky, Austria was, for the first time since 1914, economically secure, politically stable, and influential in the affairs of central Europe. Also for the first time since 1914, Austria had gained the eyes and ears of the world. Kreisky created a powerful social democratic state with a solid base of health care and other benefits for its population. In recognition of Austria’s growing importance on the international scene, the United Nations in 1979 established a third headquarters, in Vienna. By the time Kreisky left office, Austria was a modern state: open to the world, socially concerned, economically well off, and pluralistic. It was a different country by far than it was in 1970, when he took on the chancellorship. This was and is an extraordinary accomplishment, and Kreisky has justifiably been recognized as Austria’s most important chancellor in the postwar era. In this sense, Kreisky is an extraordinary example of a productive interaction between a Jew and his largely Christian countrymen. But Kreisky also had less

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exemplary qualities, and occasionally his attitude toward his own Judaism was an example of them. As a young leader of the Socialist Party of Austria, Kreisky was convicted of high treason and imprisoned for fifteen months by Engelbert Dollfuss’s Austrofascist government, which had outlawed all other political parties. In September 1938, shortly after Hitler annexed Austria, Kreisky escaped to Sweden, where he spent World War II safe from the anti-Semitic onslaught raging in Austria. Kreisky undoubtedly suffered in prison as a socialist; however, to declare, as Kreisky did after the war in a dispute with Simon Wiesenthal, that he found it more difficult to be a socialist in Austria than to be a Jew is simply astounding. The open fact is that six million people were killed, with Austrian help, in the Holocaust – the vast majority of them not because they were socialists, but because they were Jews. We are fortunate that Kreisky had in the parliament Heinz Fischer, our present-day Zola and Rokitansky. To my mind, Austria’s Bundespräsident, who has consistently fought against the neo-Nazis since the 1960s, has contributed as much to Austria’s acceptance of minorities and its repudiation of anti-Semitism as Kreisky contributed to its national identity. Moreover, Fischer’s leadership and openness created an atmosphere that encouraged other people to speak out. Perhaps foremost among them is Ernst Kirchweger, who demonstrated against the neo-Nazis with Fischer in 1965, took a strong stand against anti-Semitic comments made by one of the neo-Nazis, and was subsequently killed by them. Kirchweger is a true hero, as are the three thousand people who demonstrated in January 2013 against the neo-Nazi ball at the Hofburg. Many other people in Austria today do not countenance intolerance. Among the people that I have had the privilege to know, I have been inspired by Barbara Prammer, the President of Parliament; Werner Faymann, the chancellor of Austria; Michael Häupl, the mayor of Vienna; Anton Zeilinger, Austria’s leading physicist; and my friends Andreas Stadler and Peter Brezovsky, the Austrian Consul General in New York. I am delighted not only that Austria has finally achieved the status of a great liberal democratic country, but also that, inspired by Fischer, Häupl, Prammer, and Faymann, it is rectifying what for me has been a painful and entrenched shortcoming: its inability to recognize the enormous contribution that Jewish citizens have made to its economy, to its academic life, and to its creativity. George Berkley, the historian of Jewish life in Vienna, wrote that “the fierce attachment of so many Jews to a city that throughout the years demonstrated its deep-rooted hate for them remains one of the greatest ironies of them all.” I have a dream that one of these days young Jews will again flock to Vienna because life there is so pleasant and so welcoming of all people. Perhaps they would create a new age in Vienna, one that recapitulates Vienna 1900, in which

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Jews and non-Jews together bring science and culture to still another great creative flowering. The recent renaming of the Ringstraße, from Karl-Lueger-Ring to University Ring, is a turning point in “Der Lange Schatten des Antisemitismus” at the University of Vienna. It is certainly a key point in my personal history and my gradual reconciliation with Austria. I am therefore particularly grateful to Andreas Mailath-Pokorny, to Andreas Stadler, to Anton Zeilinger, and to the many other young people who have worked to produce this change – a change that Austria will continue, I hope!

Notes and Sources The discussion of art and science, which makes up the majority of this essay, derives from and is based on my book The Age of Insight: The Quest to Understand the Unconscious in Art, Mind, and Brain, From Vienna 1900 to the Present (New York: Random House, 2012). I particularly rely on Chapters 2, 3, 6, 7, 8, 11, 12, 13, 15, 25, and the references within. My discussion of Jews in Muslim Spain is based on: Menocal, Maria Rosa. 2002. The Ornament of the World: How Muslims, Jews and Christians Created a Culture of Tolerance in Medieval Spain. New York: Little, Brown and Company. My discussion of Jews in Vienna, including Jewish painters, is based on: Beller, Steven. 1995. Vienna and the Jews 1867 – 1938: A Cultural History. New York: Cambridge University Press. Breincha, Otto. 1993. Gerstl und Schönberg: eine Beziehung. Salzburg: Galerie Welz. Howarth, Herbert. 1950. Jewish Art and the Fear of the Image: The Escape from an Age-Old Inhibition. Commentary Magazine. Johnson, Julie M. 2012. The Memory Factory : The Forgotten Women Artist of Vienna 1900. West Lafayette, Indiana: Purdue University Press. McCagg Jr., William O. 1992. A History of Habsburg Jews 1670 – 1918. Bloomington, Indiana: Indiana University Press. Meyer, Christian, and Therese Muxender, eds. 2005. Arnold Schönberg: Catalogue Raisonn¦. London: Thames and Hudson. Zweig, Stefan. 1943. The World of Yesterday : An Autobiography by Stefan Zweig. Lincoln, Nebraska: University of Nebraska Press. My discussion of Rokitansky and Billroth is based on detailed comments from Felicitas Seebacher, the major scholar in this area, as well as from her book: Seebacher, Felicitas. 2011. Das Fremde im “deutschen” Tempel der Wissenschaft. Vienna: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften, Mathematik und Medizin.

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Additional sources are as follows: Billroth, Theodor. 1875. Über des Lehren und Lernen der medicinischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation nebst allgemeinen Bemerkungen über Universitäten: Eine culturhistorische Studie. Vienna: Druck und Verlag von Carl Gerold’s Sohn. Rumpler, Helmut, Denk, Helmut, Ottner, Christine, eds. 2005. Carl Freiherr von Rokitansky (1804 – 1878): Pathologe – Politiker – Philosoph; Gründer der Wiener Medizinischen Schule des 19. Jahrhunderts; Gedenkschrift zum 200. Geburtstag. Vienna, Cologne, and Weimar : Böhlau. Rokitansky, Carl von. 1862. “Freiheit der Naturforschung.” Speech presented at Feierliche Eröffnung des pathologisch-anatomischen Instituts im k. k. allg. Krankenhaus. May 24, Vienna. The Kreisky years are described in: Fischer, Heinz. 1994. Die Kreisky Jahre, 1967 – 1983 (Sozialistische Bibliothek). Vienna: Löcker Verlag. I am gratefully indebted to Blair Potter, whose superb editing guided my writing of “The Age of Insight” and who brought her wonderful insights to bear on this essay. I have also benefitted from the excellent and extensive comments of Felicitas Seebacher. Finally, I owe a great debt to my colleague Chris Willcox who helped me put the art program for this essay together.

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Zur Soziologie des Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert1

„Die Stadt ohne Juden“, so hieß der 1922 im Wiener Gloriette-Verlag erschienene Groschenroman, versehen mit dem Untertitel „Ein Roman von übermorgen“. Er wurde 250.000 Mal verkauft. Wie im wirklichen Leben herrschen in dem Roman Inflation und Krise. Das Volk wählt die Erlösergestalt Dr. Karl Schwertfeger zum Bundeskanzler. Eine Massenszene vor dem Parlamentsgebäude eröffnet das Geschehen. Ganz Wien ist auf den Beinen: „Bürger und Arbeiter, Damen und Frauen aus dem Volke, halbwüchsige Burschen und Greise, junge Mädchen, kleine Kinder, Kranke in Rollwagen.“ Alles quirlt und quillt an jenem herrlich warmen Junitag durcheinander, schreit, politisiert und schwitzt. Immer wieder ertönt der Ruf: „Hinaus mit den Juden!“ Schlagartig verebben der Lärm und das Stakkato der Parolen. Wie aus einem Mund erschallt das „Hoch Dr. Karl Schwertfeger, hoch, hoch, hoch! Hoch der Befreier Österreichs!“ Langsam rollt die offene schwarze Staatskarosse durch die Menge. Schwertfeger, „unser geistvoller Führer“, ein Mann, der im Dienst der nationalen Aufgabe – wie Lueger und später Hitler – Junggeselle blieb, entsteigt dem Wagen. Über die Freitreppe schreitet er ins Hohe Haus. Dort wird er das in der Öffentlichkeit schon länger besprochene „Gesetz zur Ausweisung aller Nichtarier aus Österreich“ eingehend begründen. Warum erscheint Dr. Schwertfeger und seinen jubelnden Anhängern das Gesetz überhaupt erforderlich? Der Erlöser Österreichs nennt dafür ein einziges Motiv. Er schildert seine christlichen Landsleute als Angehörige eines „naiven“, „treuherzigen“, „guten“, sich etwas langsam entwickelnden Bergvolkes, das den Juden „nicht gewachsen“ sei. Deshalb schlägt er Alarm: „Die Juden unter uns dulden diese stille Entwicklung nicht.“ Schwertfeger kreidet ihnen ihren schnellen sozialen Aufstieg und den wirtschaftlichen Erfolg an: „Wer fährt im 1 Der hier erstmals gedruckte Vortrag basiert auf meinem Buch „Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800 – 1933“ (Frankfurt am Main 2011). Dort finden sich die Verweise auf die in diesem Text benutzten Quellen. Zur weiteren Lektüre sei das Buch von Yuri Slezkine „Das jüdische Jahrhundert“ (Göttingen 2006) empfohlen.

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Automobil, wer prasst in den Nachtlokalen, wer füllt die Kaffeehäuser, wer die vornehmen Restaurants, wer behängt sich und seine Frau mit Juwelen und Perlen? Der Jude!“ Wie konnten es die Juden so viel weiter bringen? „Mit ihrer unheimlichen Verstandesschärfe, ihrem von Tradition losgelösten Weltsinn, ihrer katzenartigen Geschmeidigkeit, ihrer blitzschnellen Auffassung, ihren durch jahrtausendelange Unterdrückung geschärften Fähigkeiten haben sie uns überwältigt, sind unsere Herren geworden, haben das ganze wirtschaftliche, geistige und kulturelle Leben unter ihre Macht bekommen.“ Brausender Beifall. In der folgenden Woche bereiten arische Schriftsteller das Ende ihres Mauerblümchendaseins im österreichischen Literaturbetrieb vor. Bis dahin hatten ihre lähmend langweiligen Theaterstücke „jahrelang in den Schubladen der Dramaturgen geschlummert“, fanden die schwergängigen Traktate, die sich Historiker in endlosen Jahren abgequält hatten, kaum einen Leser. Jetzt aber fiebern diese Autoren künftigem Ruhm entgegen. Nur die Wiener Huren tragen Trauer. Ihnen bleiben die knauserigen Christenmänner, die kurz und günstig bevorzugen und von höher zu dotierenden Genüssen nichts wissen wollen. Die üppige Juno mit der verrauchten Stimme findet an Baron Stummerl vom Auswärtigen Amt wenig, viel an Herschmann von der Anglobank: „Seither flieg’ ich nur auf die Israeliten!“ In Bettauers Roman wird eines überdeutlich: Der Antisemitismus in Österreich (und in Deutschland) basierte auf Minderwertigkeitsgefühlen, auf Neid und Schwäche. Ich möchte das an einem Wiener Beispiel erläutern. Im Schuljahr 1913/14 untersuchte der Handelsschullehrer Dr. Ottokar Neˇmecˇek die Lernerfolge christlicher und jüdischer Handelsschüler. Er fragte nicht, wie viel Prozent der jeweiligen Gruppe überhaupt solche weiterführenden Schulen besuchten (die Unterschiede waren offenkundig), sondern wie die durchschnittlichen Leistungen der beiden Gruppen zu bemessen seien. Dafür wertete er die Zeugnisse von 1539 Schülern und Schülerinnen aus, die an der Neuen Wiener Handelsakademie, der Handelsschule für Knaben und Mädchen und der Staatsrealschule Wien IX unterrichtet wurden. Zudem führte Neˇmecˇek mit einigen Hundert Schülern verschiedene Tests durch, um die unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten zu erkunden: sprachliches Ausdrucksvermögen, Gedächtnisleistung, Assoziations- und Schreibgeschwindigkeit. Die Zusatztests fielen durchweg zugunsten der jüdischen Schüler aus, nicht so die Noten für Betragen. Die Ursache dafür sah Neˇmecˇek „in der größeren Lebhaftigkeit der Juden, die als Schwätzer und Ruhestörer – wie jeder Lehrer bestätigen wird – die christlichen Mitschüler überragen“. In den Fleißnoten schnitten die jüdischen Schüler ebenfalls bedeutend schlechter ab, dennoch lagen sie in den mit „sehr gut“ und „gut“ benoteten Gesamtleistungen eindeutig an der Spitze (26 : 16 Prozent), wohingegen sie in der Gruppe der mäßigen Gesamtleistungen kaum vertreten waren (4 : 23 Prozent). In den Fächern

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Deutsch, Französisch, Englisch und Geschichte erzielten sie durchweg bessere Leistungen. Dasselbe Bild ergaben die Noten für Mathematik, Chemie und Physik, ebenso in den kaufmännischen und juristischen Fächern. Durchschnittlich bessere Noten erzielten die christlichen Wiener Handelsschüler, wie gesagt, in Fleiß und Betragen, ferner in den Fächern Zeichnen, Schönschreiben und Turnen. Gleichgültig, welche Ursachen die Fachwelt für den Bildungsvorsprung der Juden annahm, die Nichtjuden spürten die Differenz und reagierten darauf heftig. Im Jahr 1880 sprach der liberale deutsche Reichstagsabgeordnete Ludwig Bamberger vom „ungewöhnlichen Lerntriebe“ der Juden, von der „sichtbaren Eile“, das ihnen so lange Vorenthaltene nachzuholen, und folgerte: „Sicher ist, dass die Rekrudeszenz der Gehässigkeiten mit diesen Dingen eng zusammenhängt.“ Während der zweitägigen Generaldebatte zur Judenfrage, die am 20. und 22. November 1880 im preußischen Abgeordnetenhaus stattfand, wies der freisinnige Abgeordnete Rudolf Virchow die Behauptung von den Besonderheiten der jüdischen Rasse als für jedes „normal organisierte Gehirn“ unverständliches Geschwätz zurück. Es gehorche „in erster Linie dem Neid“ darauf, dass viele Juden sich nach oben arbeiteten, „es zustande bringen“. Unter diesem Gesichtspunkt zerpflückte er die soeben erschienene Broschüre „Das moderne Judenthum in Deutschland, besonders in Berlin“. Verfasst hatte sie Adolf Stoecker, ebenfalls Mitglied des Abgeordnetenhauses und einer der Dom- und Hofprediger in Berlin. Die Juden drängten unverhältnismäßig stark an höhere Schulen, so lautete Stoeckers Hauptvorwurf: „Ein solcher Trieb nach sozialer Bevorzugung, nach höherer Ausbildung verdient an sich die höchste Anerkennung; nur bedeutet er für uns einen Kampf um das Dasein in der intensivsten Form. Wächst Israel in dieser Richtung weiter, so wächst es uns völlig über den Kopf.“ Nachdem Virchow das Zitat verlesen hatte, wandte er sich direkt an Stoecker : „Dann hört jede mögliche friedliche Entwicklung auf, da ist kein Friede mehr zu halten, wenn Sie so weit gehen, dass Sie dem Vater einen Vorwurf daraus machen, dass er seine Kinder in die höhere Schule schickt.“ Die zentrale Parole, unter die Stoecker seine antijüdische Polemik stellte, sollte nicht vergessen werden: „Bitte, etwas mehr Gleichheit!“ Ähnlich wie Virchow argumentierte der liberale Abgeordnete Arthur Hobrecht. Er führte „ein gut Teil des hässlichsten Neides“ gegen Juden auf den „beklagenswerten Mangel an ruhigem, festen Selbstvertrauen und an Energie“ zurück. Wie dieser Mangel sich äußerte, dokumentieren neben Stoecker die anderen damals prominenten Antisemiten. So jammerte Wilhelm Marr : „Wir sind diesem fremden Volksstamme nicht mehr gewachsen.“ Für ihn und seine Anhänger stand „das flinke, kluge Israel“ gegen „die bärenhäutige germanische Indolenz“, standen die Juden, die mit ihren „Talenten wuchern“, gegen den „sittlichen Ernst“ der christlichen Deutschen. Konstantin Frantz, ein führender

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Bismarck-Kritiker, sagte in etwas gehobener Diktion dasselbe: „So ist der Jude durch Schärfe des Blickes, gewandte Reflexion und kalte Berechnung dem Christen durchschnittlich weit überlegen.“ Heinrich Claß, der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, forderte 1912 eine massive Beschränkung der Berufsfreiheit und Sondersteuern zu Lasten der Juden. Als Gründe nannte er „den Vorteil der Erziehung“ und die „Begabung“, die den Juden den schnellen Aufstieg ermöglicht hätten, während „die Masse sich schwer und langsam zurecht(-fand), ja man kann sagen, dass ganze Schichten bis heute noch nicht den Anschluss gefunden haben“. In all diesen Grundlagentexten des modernen deutschen Antisemitismus geht es um die unterschiedlichen Geschwindigkeiten des sozialen Aufstiegs von Christen und Juden – selten um Rasse. Wer die Antisemiten jener Jahre einfach als Rassenantisemiten abtut, argumentiert auf empirisch fragwürdiger Grundlage. Was hatte es mit dem Bildungsvorsprung der deutschen Juden auf sich? Im Jahr 1869 stammten 14,8 Prozent der Berliner Gymnasiasten aus jüdischen Familien, während sich vier Prozent der Einwohner zur mosaischen Religion bekannten. 1901 erzielten 56,3 Prozent der jüdischen Schüler Preußens einen höheren Schulabschluss als Volksschule, aber nur 7,3 Prozent der christlichen Schüler. Gleichfalls an der Bevölkerungszahl gemessen, besuchten im Jahr 1901 in Berlin 11,5-mal so viele jüdische Mädchen eine Höhere Töchterschule wie christliche. Im Vergleich zu christlichen Schulkindern erreichten jüdische rund achtmal so häufig mittlere und höhere Schulabschlüsse. An den Universitäten wurden diese Unterschiede erst recht sichtbar, und es bestätigt meine Überlegungen zum deutschen und österreichischen Antisemitismus, dass dieser dort besonders stark hervortrat, eben weil es um den schwierigen Erwerb höherer Bildung, um sozialen Aufstieg ging. In Preußen lag der Anteil jüdischer Studenten 1886/87 bei knapp zehn Prozent, der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung bei knapp einem Prozent, und die amtliche Statistik stellte fest, „dass die katholischen Studenten durchschnittlich das höchste, die jüdischen das niedrigste Lebensalter haben“. Die Protestanten lagen dazwischen. In der Regel begannen Juden das Studium erheblich früher und studierten schneller als die christlichen Kommilitonen. Die preußischen Statistiker konstatierten: „Die jüdischen Studierenden scheinen danach durchschnittlich mehr Befähigung zu besitzen und mehr Fleiß zu entwickeln als die Christen.“ 1902 kommentierte der Reformpädagoge und Philosoph Friedrich Paulsen diese „eigentümlichen Verhältnisse“: „Die Ursachen des starken Überwiegens der jüdischen Bevölkerung im Universitätsstudium liegen nahe. Sie ist so gut wie ausschließlich städtische und über dem Durchschnitt wohlhabende Bevölkerung. Dazu kommt ein starker Drang, die soziale Stellung zu verbessern, und hierzu ist das Universitätsstudium der nächste und der allein offene Weg. Auch wird man nicht verkennen können, dass der jüdischen Bevölkerung bei

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geistiger Regsamkeit eine hervorragende Zähigkeit des Willens eigen ist. Die Folge ist, dass die sonst Zurückgewiesenen in die wenigen ihnen offen stehenden Berufe mit starker Wucht hineindrängen: den des Arztes und den des Rechtsanwalts und auch den akademischen Lehrberuf.“ In Wien, Prag, Kaunas oder Budapest beobachtete man dieselbe Wissbegier, ebenso in den russischen Gebieten, in denen Juden siedeln durften. Als um 1870 das erste altsprachliche Gymnasium in Nikolajew eröffnet wurde, bestanden 38 christliche und 105 jüdische Schüler die Aufnahmeprüfung. Aus Odessa wurde zur selben Zeit berichtet: „Alle Schulen sind von oben bis unten voll mit jüdischen Schülern, und um ehrlich zu sein, sind die Juden immer die Besten in der Klasse.“ Chaim Weizmann berichtet aus seiner Kinderzeit in Motol, nahe der weißrussischen Stadt Pinsk, dass für die russischen Bauernkinder um 1880 keine Schulpflicht bestand. Manche gingen unregelmäßig zur Schule, andere nie. Ganz anders die Juden, sie schickten alle ihre Söhne in die jüdische Schule, die so „einen hohen Grad an formaler Bildung“ gewannen: „Die nichtjüdische Bevölkerung hatte einfach nicht diesen überwältigenden Bildungsdurst wie die Juden, die ununterbrochen an die Schultüren klopften.“ Weizmann stammte aus einer bettelarmen Familie. Er absolvierte das Real-Gymnasium in Pinsk und wechselte dann zum Chemiestudium nach Darmstadt. Um diese Zeit ließ der russisch-jüdische Schriftsteller Scholem Alejchem seinen Helden Tewje, den Milchmann, über dessen Tochter Hodel nachdenken: „Sie strahlt wie ein Stück Gold. Und zu meinem Unglück hat sie obendrein einen scharfen Verstand; sie schreibt und liest jiddisch und russisch und verschlingt Bücher wie Knödel. Werdet ihr doch fragen, wie kommt Tewjes Tochter zu Büchern, wenn ihr Vater mit Butter und Käse handelt?“ Und Tewje weiß von anderen jungen Leuten zu berichten, Kindern von Schneidern und Schustern, die aufs Gymnasium und dann auf die Universitäten gehen: „Ihr hättet sehen sollen, mit welchem Fleiß, mit welcher Ausdauer sie lernen! (…) Sie wohnen auf Dachböden, haben zu Mittag Plagen und Unglück und zum Nachtisch die Kränke. Monatelang bekommen sie kein Stückchen Fleisch zu sehen. Und wenn es ein Fest gibt, so kaufen sich sechs Personen zusammen eine Semmel und einen Hering.“ Wie reagierten christliche Studenten auf die so bildungshungrig und selbstbewusst in die Moderne stürmenden Juden? Nehmen wir als Beispiel Curt Müller. Er studierte 1890 in Leipzig, gehörte zur schlagenden Verbindung Dresdensia und verfasste das Flugblatt „Das Judentum in der deutschen Studentenschaft“. An seinen jüdischen Kommilitonen missfiel ihm zweierlei: Sie setzten sich „aufopfernst“ für ihre Glaubensgenossen ein und es gab „prozentual nicht so viele verkrachte jüdische Studenten wie germanische“. Und warum? Auch das wusste Müller nur zu genau. Die Juden sind „fleißiger und strebsamer – das muss man ihnen lassen“, sie „büffeln zu Hause wie toll“: „Der jüdische Student der Jurisprudenz spricht bei seinem Gläschen Bier mehr vom Studium,

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als es nötig ist! Er schwatzt viel, und das imponiert. Er erfasst rasch, aber nichts tief. Wozu auch? Auf diese Weise kommt er zur gesetzten Frist durch das Examen, und Deutschland ist mit einem jüdischen Referendarius mehr beglückt.“ Hinterher verdienten sie als Ärzte, Anwälte und Chemiker das schnelle Geld! So klang es bei Müller aus jedem zweiten Satz – und daraus folgte der letzte: „Bietet den jüdischen Kommilitonen stolz und überlegen die Stirn!“ Nicht so grob wie der Student Müller rückte der damals vergleichsweise linke Ökonom und Soziologe Werner Sombart die Differenz zwischen bockigem Beharren und geistesgegenwärtiger Elastizität ins Zentrum seiner Analyse, weil allein sie das intellektuelle Gefälle zwischen Juden und Christen bewirke. Er befand 1912, die Juden seien im Durchschnitt „so sehr viel gescheiter und betriebsamer als wir“ und würden „die Klippen des sozialen Aufstiegs drei- bis viermal schneller überwinden“. Mit diesen Beobachtungen rechtfertigte Sombart deren weitgehenden Ausschluss von Hochschullehrerstellen. Im Interesse der Wissenschaft, so Sombart, müsse man zwar bedauern, wenn von zwei Bewerbern fast nie der jüdische, sondern im Allgemeinen „der dümmere gewählt“ werde. Gleichwohl hielt er die Schutzmaßnahme für geboten, weil andernfalls „sämtliche Dozenturen und Professuren an den Hochschulen mit Juden – getauften und ungetauften, das bleibt sich natürlich gleich – besetzt“ würden. In Sombarts Bemerkung „getaufte oder ungetaufte“ Juden, „das bleibt sich natürlich gleich“, wird offenbar, wo der Rassenantisemitismus ansetzte. Er folgte der schlichten Erfahrung, dass die intellektuelle Überlegenheit der Juden mit dem Übertritt zum Christentum keineswegs erlosch. Nicht selten übergossen die solcherart berufenen „dümmeren“ Professoren ihre zurückgesetzten jüdischen Kollegen mit übler Nachrede – zum Beispiel die Historiker Max Lenz und Dietrich Schäfer und der Ökonom Gustav Schmoller. Letzterer rezensierte 1916 ein Werk, das der ewige Privatdozent Hugo Preuß verfasst hatte, erklärte diesen zu einem „der begabtesten neueren Staatsrechtslehrer“ und stellte ihn sodann seinem Publikum vor: „Er ist einer der Häuptlinge des Berliner kommunalen Freisinnes geworden, der, sozial auf semitischer Millionärsbasis beruhend, unsere Hauptstadt mehr oder weniger beherrscht.“ Deshalb hielt es auch Schmoller für richtig, Juden nur sehr dosiert in den höheren Staats- und Militärdienst aufzunehmen, weil sie sich anderenfalls „rasch zur intoleranten Herrscherin des Staates bzw. der betreffenden Verwaltung zu machen“ wüssten. Am Ende seiner Suada rief Schmoller empört aus: „Wie bewahrheitete sich in manchen Fällen die Prophezeiung, dass der erste jüdische Ordinarius in zehn Jahren fünf und mehr andere Juden nach sich ziehe!“ Der Historiker Dietrich Schäfer, Sohn eines Bremer Hafenarbeiters, promovierte bei Treitschke und folgte diesem auf dem Berliner Lehrstuhl nach. Im Jahr 1908 schrieb er ein Gutachten mit dem Ziel, die Berufung des Berliner Extraordinarius Georg Simmel auf einen Lehrstuhl in Heidelberg zu verhindern.

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Simmel gehört zu den Begründern der modernen Soziologie, anders als Schäfers Werke werden seine noch heute weltweit gelesen. Der Gutachter warf dem zu Begutachtenden „geistreiche und geistreichelnde Art“ vor und eine geringe Fähigkeit für „starkes, zusammenhängendes Denken“: „Er spricht überaus langsam, tropfenweise und bietet wenig Stoff, aber knapp, abgerundet und fertig. Das wird von gewissen Hörerkreisen, die hier in Berlin zahlreich vertreten sind, geschätzt. Dazu würzt er seine Worte mit Pointen. Seine Hörerschaft setzt sich dementsprechend zusammen. Die Damen bilden ein selbst für Berlin starkes Kontingent. Seine ganze Art ist ihrer Richtung, ihrem Geschmack entsprechend. Allzu viel Positives wird aus den Vorlesungen nicht hinweggenommen; aber mancherlei prickelnde Anregung und vorrübergehenden geistigen Genuss lässt man sich gerne bieten.“ Simmel wurde nicht berufen. Neider, im Fall Schäfers noch dazu, brandmarken die Klügeren als zwar schlau, aber nicht tiefsinnig, als schnell, aber oberflächlich; sie zernagt der Erfolg der anderen, sie schmähen die Beneideten als gierig, unmoralisch, egoistisch und verachtenswert. Sich selbst erheben sie zu anständigen, moralisch hochstehenden Wesen. Sie bemänteln das eigene Versagen als Bescheidenheit und werfen dem Beneideten vor, er spiele sich lärmend in den Vordergrund. Zum hundertjährigen Jubiläum der Berliner Universität im Jahr 1910 verfasste der Historiker Max Lenz im Auftrag des preußischen Unterrichtsministeriums eine vierbändige Geschichte der Königlichen Friedrich-WilhelmsUniversität und wurde dafür anschließend Rektor. Darin kam er auf die akademische Karriere von Eduard Gans (1798 – 1839) zu sprechen. Dieser wurde 1825, nachdem er zum Protestantismus übergetreten war, als 27-Jähriger mit massiver Hilfe Hardenbergs Professor in Berlin. Lenz charakterisierte den Juristen und Rechtsphilosophen Gans als „keck auftretendes Wunderkind“. Seiner Dissertation attestierte er „oberflächliches Bestreben nach neuen und glänzenden Entdeckungen“, das aber „gänzlich misslungen und ohne Gewinn für die Wissenschaft“ sei. Vor allem aber warf er ihm voller Ingrimm vor, dass er sich nicht „bei der Zwischenstufe des Privatdozententums hatte aufhalten müssen“. Er selbst hatte nahezu 20 Jahre für die akademische Ochsentour bis zum Berliner Ordinariat benötigt. Dort endlich angekommen, musste sich der staubtrockene Aktenfuchs Lenz noch einige Jahre lang an dem glanzvollen Rhetoriker Heinrich von Treitschke messen lassen. Max Lenz gehört in die Reihe meiner Urgroßonkel. Seine Schwester Anna heiratete 1874 den Historiker Bernhard Erdmannsdörffer, der im selben Jahr auf Betreiben des nach Berlin berufenen Heinrich von Treitschke dessen Heidelberger Lehrstuhl übernahm. Zwei von Annas Briefen, die im Familienarchiv überliefert sind, sprechen aus, welche Rolle die Judenfrage damals in einer christlichen Ehe spielen konnte und was Dietrich Schäfer in seinem Gutachten

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mit dem Hinweis auf die vielen Damen, die Georg Simmel in Berlin zu Füßen saßen, wohl gemeint haben mochte. Im Juli 1879 schrieb Anna ihrer Mutter in Greifswald: „Fesselnde Lektüre ,Die Familie Mendelssohn‘ von Hensel. Bernhards Abneigung gegen das Jüdische. Ich ihm nur daraus erzählt; mich geneckt: Ich verjudele ganz. Hilft alles nicht, interessiert mich, liebenswerte, geistreiche Menschen, schreiben die reizendsten Briefe.“ Den Bericht über einen handfesten Ehekrach beendete sie 1881 mit dieser Bemerkung: „Manchmal könnte mein lieber Schatz etwas mehr das Wesen, die zarte Aufmerksamkeit eines jüdischen Ehemannes haben. Er ist ein echter Germane, so wie die alten Germanen auf der Bärenhaut lagen und die Weiber arbeiten ließen …“ Als Annas Vater Gustav Lenz im Alter schwermütig wurde und über seine (infolge der 48er-Umtriebe) „verpfuschte“ Karriere lamentierte, wies ihn Schwiegersohn Bernhard Erdmannsdörffer tröstend auf seine dennoch erreichten bedeutenden Lebensleistungen hin: „… Nicht zuletzt die Gründung von fünf guten deutschen Familienständen (aus einem davon stamme ich, G. A.), deren Haupt und Patriarch Du bist. Und kein Tropfen falschen Semitenblutes dabei – das ist doch auch etwas.“ Der „schnellblütige, kecke, bis zur Frivolität gesteigerte Humor des jüdischen Ingeniums“ und dessen „wundersam beweglicher, sarkastischer, skeptischer, undisziplinierbarer Geist“ (Sombart) reizte die bedächtig-gehorsame christliche Volksmehrheit bis zur Weißglut. Der Sozialdemokrat Karl Kautsky kommentierte die Rassentheorie mit dem Hinweis: „Die geistigen Qualitäten des Juden sind der Stein des Anstoßes.“ Der britische Historiker John Foster Fraser spottete 1915, die deutschen Akademiker klammerten sich an berufliche Zulassungssperren für Juden, weil der Wettlauf „zwischen den Söhnen des Nordens mit ihrem blonden Haar und trägen Intellekt und den Söhnen des Orients mit ihren schwarzen Augen und wachen Köpfen“ so ungleich verlaufe. Mit anderen Worten: In dem Maße, wie die Verspäteten den Aufstieg betrieben, empfanden sie fehlende Bildung und Gewandtheit als Mangel. Das Manko wurde ihnen peinlich und ließ sich hinter der Rassentheorie gut verstecken. Dazu noch zwei Beispiele: Dem gepflegten, bürgerlichen Judengegner Wilhelm Stapel machte 1932 die Schlagfertigkeit der Juden zu schaffen: „Es würde keinen Antisemitismus geben, wenn die Juden ihren Mund zu halten im Stande wären. Alles können sie, nur den Mund halten können sie nicht.“ Dem verdrucksten deutschen Schweigen maß der seinerzeit gern gelesene Volksdenker herrliche Qualitäten bei: „Grazie“, „adelige Natur“, „Vornehmheit“ und „Tiefe“. Die Geschichte, die der Philosoph Rudolf Schottlaender 1936 erlebte und später laut lachend gern erzählte, spielte im proletarischen Milieu. Schottlaender hatte sich mit seiner christlichen Frau und den Kindern ins preisgünstige BerlinHeiligensee zurückziehen müssen. Die Nachbarn wussten, warum. Materiell in

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misslicher Lage, vermietete er zwei Zimmer an eine Arbeiterfamilie. Deren Kinder gingen gemeinsam mit den Kindern der gegenüber wohnenden SS-Familie zur Schule, brachten allerdings die besseren Zeugnisse nach Hause. Das erboste die edelrassige SS-Mutter. Lautstark schimpfte sie über den Gartenzaun: „Kunststück, wenn man beim Juden wohnt!“ Der Student Curt Müller, die SS-Mutter, der damals linke Professor Werner Sombart, der deutschtümelnde Publizist Wilhelm Stapel, der gestandene Staatswissenschaftler Gustav Schmoller, meine Historiker-Vorfahren Max Lenz und Bernhard Erdmannsdörffer beneideten Juden um deren Bildung, Schlagfertigkeit, gedankliche Eleganz und gute Examina. Deshalb propagierten sie den angeberischen, hohlen Stolz der Schwachen, derer, die sich unterlegen fühlten, die als Erste in ihren Familien den Sprung an die Universitäten geschafft hatten. Müller behauptete ein Superioritätsbewusstsein, das nach Fritz Bernsteins Beobachtung nur eines dokumentierte: „Selbstentschuldigung für die eigene Furcht, Vortäuschung eines fehlenden Kraftbewusstseins, Verhüllung der Einsicht in eigene Verletzlichkeit.“ Dieser nagende Neid, den der Einzelne weder sich noch anderen eingesteht, drängte zur Rassentheorie. Sie kam den niedergedrückten, mit sich selbst unglücklichen Deutschen wie gerufen. Unbeholfene christliche Studenten, wenig innovative Unternehmer oder Kaufleute, die sich verkalkulierten, konnten nicht dauerhaft auf die besseren Ergebnisse der jüdischen Konkurrenten schimpfen. Das schadete der eigenen Moral, steigerte die Versagensangst. Es lag nahe, den Neid- und Sozialantisemitismus zur Rassenverleumdung weiterzuentwickeln. Zwischen materiell ähnlich gestellten, benachbarten Gruppen oder Personen, deren Erfolgskurven nur mäßig differieren, findet man häufig sehr viel aggressiveren Neid als zwischen sozial stärker unterschiedenen und daher meist räumlich getrennten Menschengruppen. Erst die Nähe ermöglicht den ständigen Vergleich. Der populäre Antisemitismus des Neides richtete sich nicht vorzugsweise gegen jüdische Bankiers, Revolutionäre, Warenhausbesitzer, Rassenoder Religionsfeinde, sondern sehr konkret gegen zumindest scheinbar besser gestellte jüdische Nachbarn, Mitschüler, Kommilitonen, Kollegen oder Vereinskammeraden. „Erst das neue Gleichgefühl der Empörer“, schrieb Max Scheler 1903, gibt dem sozialen „Ressentiment seine Schärfe“. Er bezeichnete es als „seelische Selbstvergiftung“, die er auf unausgelebte, also rechtlich und moralisch gebändigte Rachegefühle, auf „Hass, Bosheit, Neid, Scheelsucht, Hämischkeit“ zurückführte. Scheler führte das Ressentiment auf unschöne, jedoch weitverbreitete menschliche Dispositionen zurück, die ihrerseits in einem „ausgeprägten Gefühl des ,Nichtkönnens‘, der ,Ohnmacht‘“ wurzeln, und endete in der Feststellung: „Der ohnmächtige Neid ist zugleich der furchtbarste Neid. Der Neid, der die stärkste Ressentimentbildung auslöst, ist daher derjenige Neid, der sich auf das individuelle Wesen und Sein einer fremden Person richtet: der

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Existenzialneid. Dieser Neid flüstert gleichsam fortwährend: ,Alles kann ich dir verzeihen; nur nicht, dass du bist und das Wesen bist, das du bist; nur nicht, dass nicht ich bin, was du bist.‘“ Nach Scheler führt diese Art von Neid dazu, die pure Existenz einer derart beneideten Person „als furchtbares Maß der eigenen Person zu empfinden“. Die auf der sozialen Aufstiegsleiter seit der Kaiserzeit nachdrängenden Deutschen waren den vorangeeilten Juden auf den Fersen. Sie erklärten diese zu Untermenschen, um selbst – endlich – soziale Obermenschen zu werden. Demnach folgte der rapide Anstieg des Antisemitismus seit 1880 und erst recht seit den 1920er-Jahren einem zentralen und in jeder Weise gerechtfertigten Projekt gesellschaftlichen Fortschritts in Deutschland: der spät, dann jedoch sprunghaft einsetzenden, massenhaften sozialen Aufwärtsmobilisierung. Dazu gehörte vor allem Bildung! Die Weimarer Republik hat die Zahl der Abiturienten verdreifacht und diese gut ausgebildeten jungen Leute wurden dann die Funktionäre des Dritten Reichs. Wer meinen Überlegungen und den von mir präsentierten Quellen bis zu diesem Punkt folgt, kann den Antisemitismus nicht länger als Produkt begreifen, das in einer düsteren und stinkenden Ecke unserer Nationalgeschichte entstanden sei. Wenn Antisemitismus und tödlicher Hass wesentlich auch aus Gründen des nachholenden Strebens nach guter Bildung und sozialem Aufstieg entstand, dann kommt eine unangenehme geschichtliche Wahrheit zum Vorschein: Unter Umständen können soziale Aufwärtsmobilisierung und damit verbundene gute Bildungspolitik, können also das prinzipiell Gute und Richtige abgrundtief Böses bewirken.

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Gewalt und Antisemitismus an der Universität Wien und die Badeni-Krise 1897. Davor und danach

Der Focus der meisten historischer Arbeiten über Antisemitismus an der Universität Wien liegt auf dem Zeitraum nach 1918.1 Es fällt auch auf, dass die Begriffe „Antisemitismus“ und „Universität Wien“ in einer umfassenden Bibliographie im Titel nur in einem alten Beitrag von mir aus 1989 sowie in einem Text zum Siegfriedskopf aus 2002 vorkommen sowie in einem von Tamara Ehs aus 2011.2 Natürlich spielt das Thema Antisemitismus in zahlreichen Publikationen eine wichtige Rolle, als prioritäre Analyseebene wird sie aber nicht hervorgehoben. Peter Pulzer hingegen thematisierte bereits 1964 sehr wohl die Funktion und tiefgreifende Wirkung der Auseinandersetzungen an den Universitäten in Deutschland und im Habsburger Imperium bei der Ausbreitung und der gesellschaftlichen Verankerung des ,Rassenantisemitismus‘.3 Aber spätestens mit der Erklärung deutschnationaler „wehrhafter Studentenverbindungen“ vom 11. März 1896 (Waidhofener Prinzip oder Erklärung), mit der jüdischen Studenten die Satisfaktionsfähigkeit und die Ehre abgesprochen wurden, war der Schlusspunkt unter die Diskussion über Rassenantise1 Siehe dazu die Literaturzusammenstellung des Forum Zeitgeschichte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien (http://www.univie.ac.at/universitaet/forum-zeitgeschichte/ literatur/literaturauswahl/#c1286, aufgerufen am 8. April 2013). Vgl. als rezente Studie über verschiedene Bereiche der Wissenschaftskultur an der Universität Wien bis 1918 mit aktuellsten neuen Studien und Literaturhinweisen Mitchel Ash and Jan Surman (ed.), The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848 – 1918, Basingstoke 2012. 2 Oliver Rathkolb, Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien zwischen Antisemitismus, Deutschnationalismus und Nationalsozialismus 1938, davor und danach, in: Gernot Heiß u. a. (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 – 1945, Wien 1989, 197 – 232. Siegfrieds Köpfe: Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus an der Universität. Wien, 2002. Tamara Ehs, Das extramurale Exil. Vereinswesen als Reaktion auf universitären Antisemitismus, in: Evelyn Adunka/Gerald Lamprecht/Georg Traska (Hg.), Jüdisches Vereinswesen in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, InnsbruckWien 2011, 15 – 29. 3 Peter G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914. Mit einem Forschungsbericht des Autors, erweiterte Neuausgabe der 1964 publizierten deutschen Fassung, München 2004, 266.

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mitismus gesetzt worden, die seit 1875 kontrovers und nicht nur innerhalb der universitären Öffentlichkeit geführt wurde. Warum ich trotzdem die BadeniKrise 1897, d. h. die gewaltgeladenen Demonstrationen gegen die Zweisprachigkeit in der Bürokratie in Böhmen und Mähren, als das eigentliche ,Wendeereignis‘ ansehe, werde ich im Folgenden ausführen. Dazu ist es notwendig, die Entwicklung des Antisemitismus im öffentlichen Diskurs an der Universität Wien zu rekonstruieren und vor allem die konkreten Reaktionen der jeweiligen Rektoren und Dekane im Rahmen des akademischen Senats, dessen Unterlagen ich mir im Universitätsarchiv angesehen habe, zu analysieren, wobei letztlich auch die Rolle der k. k. Ministers für Kultus und Unterricht thematisiert wird. Die Frühgeschichte des Verhältnisses zwischen Juden und Nichtjuden, d. h. Christen als Studenten und Lehrende an der Universität Wien kann ich hier nicht integrieren. Nur ganz kurz einige Eckdaten: Seit Josef II. konnten Juden an den Fakultäten für Medizin und Jus studieren – 1782 wurden Juden und Protestanten zugelassen – und Salomon Löw aus Pressburg ist 1783 der erste Jude, der zum Medizinstudium zugelassen wurde4. Unter den Märzgefallenen der gescheiterten Revolution von 1848 befand sich auch der jüdische Technik-Student Karl Heinrich Spitzer aus Mähren5 und der jüdische Webergeselle Bernhard Herschmann.6 Aber erst mit dem Staatsgrundgesetz 1867 und vor allem der ersten Globalisierung, welche die Binnenmigration in die Reichs- und Residenzstadt Wien gigantisch steigerte, erhöhte sich die Zahl der Studierenden jüdischen Glaubens. Entsprechend der Bedeutung von Bildung für den sozialen Aufstieg in einer an sich noch von einer Fülle von autoritären und klassenspezifischen Vorurteilen geprägten Gesellschaft nahm auch die Zahl jüdischer Studenten zu. Über Bildung bot sich zumindest in einigen Berufsfeldern eine Nische, um in einer im Grunde noch eher geschlossenen Gesellschaft einen Platz finden zu können. Die Durchlässigkeit für Juden war trotz Toleranzpatent und zunehmende religiöse Konvertierung nach wie vor nicht gegeben. Insgesamt stiegen aber auch die Gesamtzahlen der Studenten in Cisleithanien, der „österreichischen Reichshälfte“, von 5.646 im Jahr 1859 auf 25.941 Studenten 19097. Die intensive Binnenmigration im Habsburger Imperium und 4 Gerson Wolf, 1823 – 2892: Geschichte der Juden in Wien (1156 – 1876). Mit einem Nachwort von Erika Weinzierl, Repr. D. Ausgabe 1876, Wien 1974, 87. 5 Colin Walker, Karl Heinrich Spitzer ,Märzgefallener“, in: Hermann Rasche und Christiane Schönfeld (Hg.), Denkbilder. Festschrift für Eoin Bourke, Würzburg 2004, 108 – 117. 6 Michael Brenner (Hg.), Deutsch-Jüdische Geschichte der in der Neuzeit, hrsg. Im Auftrag des Leo-Baeck-Instituts von Michael A. Meyer, München 1996, 292. 7 Gary Cohen, Die Studenten der Wiener Universität von 1860 bis 1900. Ein soziales und geographisches Profil, in: Richard Georg Plaschka/Karlheinz Mack (Hg.), Wegenetz europäischen Geistes. Wissenschaftszentren und geistige Wechselbeziehungen zwischen Mittelund Südosteuropa vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. In Schriftenreihe

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der Nachholbedarf bisher vernachlässigter Schichten und Regionen bilden den Hintergrund der sogenannten „Gründerzeit“. An der Universität Wien, wo knapp die Hälfte der jüdischen Studierenden in Cisleithanien inskribierten, betrug der Anteil der aus allen Teilen der Monarchie stammenden jüdischen Studenten 1890 rund ein Drittel (33,4 Prozent).8 Noch bildungshungriger waren jüdische Studentinnen, als 1897 nach langen Kämpfen erste Studien für Frauen geöffnet wurden. Kaum war das Frauenstudium erlaubt, stieg der Anteil der Frauen an der Studentenschaft sprunghaft an9 : Von 0,4 Prozent (37 Studentinnen von insgesamt 6812 Studierenden) im Jahr 1897, dem ersten Jahr des Frauenstudiums, auf 7,7 Prozent (805 Studentinnen von insgesamt 10.441 Studierenden) im Wintersemester 1913/14, dem letzten Studienjahr vor dem Ersten Weltkrieg. Zwischen 1900 und 1914 schwankte der Anteil der jüdischen Studentinnen zwischen 51,2 Prozent als Mindestzahl im Wintersemester 1906/07 und 68,3 Prozent als höchster Quote im Wintersemester 1908/09. Bis 1919 durften keine Frauen an der juridischen Fakultät studieren. Soweit die Statistik, obwohl festzuhalten ist, dass das Grundproblem des Antisemitismus an den Universitäten – wie Studien zu Graz10 oder Innsbruck11 mit wesentlich weniger jüdischen Studenten zeigen – letztlich tiefer liegt und nicht durch Quantitäten allein erklärt werden kann. Die Durchsicht der Senatsakten und der Sonderbestände zu „Demonstrationen“ der Studenten hat folgende Schlüsseljahre als „Leitkonflikte“ ergeben, die es erlauben, auch den Kontext der antisemitischen Auseinandersetzung in einem größeren Zusammenhang zu analysieren. Beginnen wir 1875 mit dem Erscheinen des 500-seitigen Buches von Theodor Billroth „Über das Lehren und Lernen der medicinischen Wissenschaften an den Universitäten der Deutschen Nation nebst allgemeinen Bemerkungen über Universitäten. Eine culturhistorische Studie“.12 Der norddeutsche Protestant und glühend deutschnationale Chirurg war 1867 nach Wien berufen worden.

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des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts, vol. VIII, Wien 1983, 291. Siehe auch in einem breiteren Kontext Gary Cohen, Education and middle-class society in imperial Austria : 1848 – 1918, West Lafayette, Ind. 1996. Gary Cohen, Die Studenten, 296. Rebeca Cäcilia Loder, Die ersten jüdischen Studentinnen an Österreichs Universitäten (bis 1939), ungedruckte Diplomarbeit, Universität Graz 2011, 107. Silvia Kornberger, Grazer Studentenverbindungen. Von den Anfängen bis zur Reorganisation nach dem Zweiten Weltkrieg, Dipl. Arbeit, Universität Graz 2001. Andreas Bösche, Zwischen Kaiser Franz Joseph I. und Schönerer. Die Innsbrucker Universität und ihre Studentenverbindungen 1859 – 1918, phil. Diss. Universität Wien 2008. Theodor Billroth „Über das Lehren und Lernen der medicinischen Wissenschaften an den Universitäten der Deutschen Nation nebst allgemeinen Bemerkungen über Universitäten. Eine culturhistorische Studie, Wien 1876. Das Buch war aber bereits Ende 1875 erhältlich und wurde sofort heftig diskutiert.

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Seine Polemik gegen jüdische Studierende aus Galizien und Ungarn in diesem Buch liegt bereits durchaus in dem politischen Trend des Rassenantisemitismus: „ Alles in Allem genommen wurzelt das leider nicht ganz auszurottende Unkraut der Wiener Studentenschaft nicht in der Wiener Universität und ihren Einrichtungen, sondern in der mit den verschiedensten nationalen Elementen überfüllten Weltstadt Wien, in welche die Universität nun einmal hineingesetzt ist. Ich habe wiederholt der Wahrheit entsprechend hervorgehoben, dass es meistens nicht deutsche, sondern vorwiegend schlimme galizische und ungarische jüdische Elemente sind, welche in früher erwähnter Weise nur in Wien gedeihen können.“13 Zwar versucht sich Billroth in einer Anmerkung von den „modernen Judenschimpfern“ zu distanzieren und konstatiert „Talent und Phantasie“ auch für Naturwissenschaften, verschärft aber letztlich seine negative Konstruktion einer „Jüdischen Rasse“, die er unter dem Nationsbegriff abhandelt. Sein Schlußsatz in dieser ,Fußnote‘, die über zwei Seiten geht, zeigt eindeutig die rassistische Grundtendenz seiner Interpretation: „Daß bedeutende Menschen aller Zeiten und aller Nationen sich in den großen allgemeinen menschlichen Fragen stets sympathisch begegnen werden, ist klar, ebenso klar ist, doch eben so klar ist mir auch, dass ich innerlich trotz aller Reflexion und individueller Sympathie die Kluft zwischen rein deutschem und rein jüdischem Blut heute noch so tief empfinde, wie von einem Teutonen die Kluft zwischen ihm und einem Phönizier empfunden sein mag“.14 Schon zuvor bestritt er überdies, dass Juden je „deutsch-national“ werden können – es fehle ihnen die „deutschen Empfindungen“ und das spezifische Verhältnis zur mittelalterlichen Romantik und zur Antike.15 Auch generell fühlte sich Billroth, der 1867 – ein Jahr nach der Niederlage der Habsburger in Königgrätz – mit einem hochdotierten Gehalt nach Wien berufen worden war, als deutscher Minderheitenrepräsentant und am 2. März 1871 beklagte: „Wir deutschen sind hier ja nur geduldet, der Staat wir ja immer slavischer und ungarischer“.16 Felicitas Seebacher hat 2011 die wohl umfassendste Analyse des Kontextes, aber auch der Folgen dieser Publikation Billroth aus 1875 geliefert.17 Als die Billroth, Über das Lehren, 152. Billroth, Über das Lehren, 154. Ebd. Zitiert nach Werner Michler, Darwinismus und Literatur – Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich 1859 – 1994. Wien 1999, 62. Billroth erhielt 1869 4.000 Gulden Gehalt, fast das Doppelte des Durchschnittsgehalts. 17 Felicitas Seebacher, Das Fremde im „deutschen“ Tempel der Wissenschaften. Brüche in der Wissenschaftskultur der Medizinischen Fakultät der Universität Wien (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften, Mathematik und Medizin / Österreichische Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse; 65), Wien 2011.

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öffentliche Gegendebatte und die zustimmenden Huldigungen der Deutschnationalen losbrachen, versuchte Billroth, seine Aussagen teilweise zurückzunehmen. Selbst im antiliberalen deutschnationalen Leseverein, dem von 1873 bis 1878 auch Sigmund Freud angehörte, der Billroth ursprünglich gegen Angriffe, ein Antisemit zu sein, in Schutz genommen hatte18, argumentierte der spätere Gründer der Sozialdemokratischen Partei, Victor Adler, gegen Billroths Polemik.19 Adler betonte die Assimilationsthese und die Bedeutung der Juden für die deutsche Nationsbildung. Ziel dieses Buches waren primär die Liberalen und deren Hochschulpolitik gewesen, und Billroth war doch überrascht über die Debatte, welche die wenigen Stellen über jüdische Studenten ausgelöst hatte. Im Abgeordnetenhaus des Reichsrats wiederum wurde am 11. Dezember 1875 Billroths Streitschrift von katholischer Seite – Monsignore Josef Greuter aus Innsbruck, seit 1864 ein kämpferischer Vertreter des Klerikalismus im Österreichischen Abgeordnetenhause – zum Anlass für die Forderung genommen, die Universitäten den Jesuiten zu unterstellen, um dadurch den katholischen und österreichischen Charakter vor der ,Verpreußung‘ zu schützen.20 Der zuständige liberale Kultusminister Karl von Stremayr, der sich ursprünglich hinter Billroth gestellt hatte21, rügte dann aber in weiterer Folge im Reichsrat das Buch als „taktlos”, und auch die Berliner Klinische Wochenschrift distanzierte sich von Billroth und seinen studentischen Unterstützern: „Zu einer Ovation für Billroth von Seiten der Wiener Studenten scheint uns in der That nicht der mindeste Anlass vorzuliegen“. Diese Debatte zeigt überdies, wie tief die Distanz zwischen den noch dominierenden Liberalen, Klerikalen und der Universität war, und dieser Konflikt ist auch der häufig nicht berücksichtigte ideologische Hintergrund der Auseinandersetzungen an der Universität Wien. Je geringer gleichzeitig der Einfluss der radikalen deutschnationalen Gruppierung im Reichsrat wurde, umso heftiger agitierten die deutschnationalen schlagenden Studentenverbindungen auf universitärem Boden. Dies ist ein zusätzliches Erklärungsmodell, warum die radikalen deutschnationalen Burschenschaften trotz allmählich abnehmender genereller politischer Bedeutung trotzdem eine Art „Platzhirsch“-Funktion einnahmen. Unter dem Deckmantel der Verteidigung der demokratischen Grundwerte der 1848er-Revolution beanspruchten sie ein mit allen Mitteln durchzusetzendes Monopol und begannen – wie noch gezeigt wird –, sich dem Rassenantisemitismus als Teil ihrer Gruppenidentität zu verschreiben. Bereits 18 Michael Wladika, Hitlers Vätergeneration. Die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k. u. k. Monarchie, Wien 2005, 46. 19 Robert S. Wistrich, „Die“ Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs, Wien 1999, 447. 20 Seebacher, Freiheit, 117. 21 Christiane Peddinghaus, Das Rudolfinerhaus. Die architektonische Entwicklung der Krankenhäuser von der Baracke zum Pavillon, phil. Diss., Universität Wien 2009, 16.

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1878 wurde von der „Libertas“ dekrediert, „daß Juden als Deutsche nicht angesehen werden können, und zwar auch dann nicht, wenn sie getauft sind“.22 Die konkrete Debatte an der Universität reduzierte sich aber auf die „jüdische Frage“. Fast eine Woche lang protestierten jüdische Studenten gegen und deutschnationale Studenten für Billroth. Ausgangspunkt der Aktionen in einem Hörsaal, in dem Billroth lesen sollte, war ein Präsentierteller mit dem Präparat eines Krebsgeschwürs, auf dem Zündhölzer lagen.23 Billroth bezeichnete Zündhölzer polemisch als Handelsobjekte für mittellose ostjüdische Studenten. 1875 studierten an der Medizinischen Fakultät 512 „Katholiken“ und 421 „Israeliten“, an der juridischen Fakultät betrug der Anteil jüdischer Studenten 25 Prozent, an der philosophischen Fakultät lag er unter 20 Prozent.24 Vom eigentlichen Inhalt des Billrothschen Buches blieb kaum etwas und in der späteren Rezeption gedachte man nur der antisemitischen Passagen. Bereits am 10. Dezember 1875 gab es in seiner Vorlesung die ersten – dokumentierten – antisemitischen Ausschreitungen an der Universität Wien mit „Juden hinaus!“Rufen. Auch bei anderen Professoren kam es zu Auseinandersetzungen, so nach einem anonymen Brief an Ferdinand von Arlt, ordentlicher Professor der Ophthalmologie an der Universität Wien und Leiter der Augenklinik; in diesem Brief war kritisiert worden, dass die „Halbblinden“ – gemeint waren Juden – die besten Plätze in den vorderen Reihen blockierten. Arlt stellt sich ausdrücklich hinter seine jüdischen Studierenden.25 Billroth versuchte zwar in weiterer Folge die Wogen zu beruhigen und trat später formal sogar dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus bei, in seinem privaten Briefverkehr aber bediente er sich weiterhin der Zuschreibungen Jude oder Katholik – häufig mit entsprechender Wertschätzung verbunden.26 Ende 1885 nahm, wie auch der jüdische Gelehrte und Prediger Adolf Jellinek zu Recht feststellt, der Antisemitismus zu, wobei die Schönerianer eine ganze Generation von Studenten auf den Weg der „Untreue“ gegen der Staat und gegen das Haus Habsburg gebracht hatten und den rabiaten Antisemitismus zur politischen Mobilisierung benützten.27 Die jüdischen Studenten reagierten mit „Selbstorganisation“ und gründeten 1882 den ein Jahr später genehmigten „Akademischen Verein Kadimah“, die 22 Zitiert nach Pulzer, Entstehung Antisemitismus, 266. 23 Die Presse, Lokalanzeiger, 11. Dez. 1875. 24 Seebacher, Freiheit, 177 sowie Albert Lichtblau, Als hätten wir dazugehört. Österreichischjüdische Lebensgeschichte aus der Habsburgermonarchie, Wien 1999, 74. 25 Neue Freie Presse, 11. Dez. 1875, 6. 26 Vgl. dazu und auch zur gesamten Diskussion Petra Zudrell, Der Kulturkritiker und Schriftsteller Max Nordau. Zwischen Zionismus, Deutschtum und Judentum. Würzburg 2003, 101 – 106. 27 Wistrich, „Die“ Juden Wiens, 106 – 107.

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erste jüdisch-nationale Studentenverbindung in Westeuropa, mit dem Ziel, gegen Assimilation aufzutreten, sich zum Judentum zu bekennen und die Kolonisierung Palästinas zu fördern28. Die meisten jüdischen Studenten blieben diesen Ideen gegenüber aber vorerst wenig aufgeschlossen. Ende 1884 hatte die Verbindung 58 Mitglieder (vor allem aus den Bereichen Medizin, Technik und Recht). 1893 wurde – auch als eine Folge des deutschnationalen Antisemitismus, der die Juden aus den schlagenden Korporationen hinausdrängte – aus dem akademischen Verein eine schlagende Verbindung. Nach einer Beleidigung, die nicht durch eine formelle Entschuldigung aus der Welt geschafft werden konnte, musste Satisfaktion durch Mensur gefordert werden. Allein 1894 wurden 30 „Duelle“ gegen Mitglieder der deutschnationalen Burschenschaft „Gothia“ ausgefochten29. 1896 wurden Theodor Herzl und sein Buch „Der Judenstaat“ im Rahmen eines Kommerses gefeiert. Kadimah war an einem Zwischenziel angekommen, wobei Herzl die Studenten bremste, sofort eine Einheit nach Jaffa zu schicken. Zahlreiche andere schlagende und nicht-schlagende Verbindungen, die ich noch später anführen werde, sollten folgen.30 Damit wurde auch das Monopol der deutschnationalen Verbindungen an der Universität infrage gestellt und trotz zahlreicher anderer Verbindungen blieben die jüdischen Studenten das zentrale Feindbild. Inwieweit beispielsweise die diversen slawischen Verbindungen den deutschnationalen Antisemitismus letztlich ebenfalls mittrugen, würde ich mangels Primärquellen-orientierter Forschungen als These von Steven Beller31 im Raum stehen lassen. Letztlich verachteten die Deutschnationalen die Tschechen ebenso wie die Italiener, mit denen vor allem in Innsbruck blutige Kämpfe ausgetragen wurden. Im Umfeld der medizinischen Fakultät wurden die Auseinandersetzungen bald heftiger, wie u. a. das Beispiel von Johann Schnitzler – Vater des Arztes und Schriftstellers Arthur Schitzler – zeigt.32 Als Leiter der Poliklinik wurde er zur Zielscheibe einer im Mai 1886 vom medizinischen Professorenkollegium eingesetzten Kommission, die diverse „separatische“ Tendenzen untersuchen und die Entwicklung einer zweiten Medizinischen Universität verhindern sollte. Arthur Schnitzler selbst ortete Ende der 1880er-Jahre eine antisemitische 28 Julius H. Schoeps, Modern Heirs of the Maccabees – The Beginnings of the Vienna Kadimah, 1882 – 1897, in: Leo Baeck Yearbook XXVII, London 1982, 155 – 170; Marsha L. Rozenblit, The Assertion of Identity – Jewish Student Nationalism at the University of Vienna before the First World War, Leo Baeck Yearbook XXVII, London 1982, 171 – 186. 29 Wistrich, „Die“ Juden Wiens, 623. 30 Wistrich, “Die” Juden Wiens, 305 – 306. 31 Steven Beller, Vienna and the Jews 1867 – 1938. A Cultural History, Paperback Edition Cambridge 1991, 193. 32 Nikolaj Beier, „Vor allem bin ich ich…“. Judentum, Akkulturation und Antisemitismus in Arthur Schnitzlers Leben und Werk, Göttingen 2008, 305 – 306.

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Gruppe unter den Assistenten der von jüdischen Ärzten und mit dem Geld von Juden betriebenen Poliklinik. Je schwächer die radikalen deutschnationalen Gruppierungen im Reichsrat wurden, desto aggressiver das Verhalten der schlagenden Verbindungen auf Universitätsboden gegenüber jüdischen schlagenden Korporationsstudenten, aber auch gegenüber Studentenvereinigungen von Südslawen/Slowenen, Kroaten, Serben, Polen und Tschechen. Zunehmend gerieten nun auch die neuen, nicht-schlagenden, „progressiven“ katholischen Verbindungen ins Visier der Deutschnationalen. Immer wieder gab es Scharmützel – so etwa bei der Rektorsinauguration am 24. Oktober 1895, als die „Katholischen“, die Duellverbot hatten, mit Gewalt abgehalten wurden, in „Wichs“ zu erscheinen.33 Während es damals 28 deutschnationale Verbindungen gab, waren „Norica“ und „Austria“ die einzigen katholischen Verbindungen. Schon früh gab es trotzdem Debatten, ob die nichtfechtenden Katholischen mit „Schlägern“ in der Aula promenieren durften. In der „Austrierschlacht“ am 26. Oktober 1889 standen angeblich 18 Noriker und 35 Austern 600 bis 800 Schlagenden gegenüber34. Am 11. März 1896 nützte eine Versammlung von Repräsentanten sogenannter wehrhafter Studentenverbindungen einen Beitrag eines Medizinstudenten in „Unverfälschte Deutsche Worte. Monatshefte für deutsche Volkserziehung und Volksveredlung, alldeutsche Politik, Volkswirtschaft, Kunst und Literatur“, dem Zentralorgan der „Alldeutschen Bewegung“ Georg Ritter von Schönerers35. In diesem Pamphlet war Juden die Satisfaktionsfähigkeit wegen „Ehrlosigkeit und Charakterlosigkeit“ abgesprochen wurde, und es wurde in weiterer Folge der Beschluss gefasst, „dem Juden auf keine Waffen mehr Genugthuung zu geben“. Diese Waidhofener Erklärung sollte in weiterer Folge die Ausrichtung der deutschnationalen schlagenden Burschenschaften bestimmen, auch wenn sie nicht sofort von allen Verbindungen angenommen wurde.36 Der Verfasser des Artikels, Florian Albrecht, wurde zwar von der Universität Wien verwiesen, studierte aber in Innsbruck weiter37; gegen zwei weitere Studenten, Josef Lukan 33 Hedwig Pfarrhofer, Friedrich Funder. Ein Mann zwischen gestern und morgen, Graz 1978, 285. 34 Gerhard Hartmann, Für Gott und Vaterland. Geschichte und Wirken des CV in Österreich, Kevelaer 2006, 110. 35 Florian Albrecht, „Ist der Jude satisfactionsfähig oder nicht?, in: Unverfälschte Deutsche Worte 14 (1896), Heft 5, 52 f. Vgl. dazu auch Wladika, Hitlers Vätergeneration, 288 mit Hinweis auf einen „Reprint“ 1923. 36 Benz, Wolfgang (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Organisationen, Institutionen, Bewegungen, Band 5, Berlin 2012, 142. 37 Michael Gehler, Studenten und Politik. Der Kampf um die Vorherrschaft an der Universität Innsbruck, 1918 – 1938, Innsbruck 1990, 27 und Peter Goller, Die Matrikel der Universität Innsbruck: 1869 – 1900 – Band 1, Innsbruck 1995, 39.

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(Medizin)38 und Anselm Mosler („Candidat der Philosophie“)39 wurde eine Rüge auf Bewährung ausgesprochen, d. h. bei der nächsten Disziplinlosigkeit würden sie von der Universität verwiesen werden.40 Den meisten Obmännern der diversen Korporationen passierte aber letztlich nichts. Zwar wurden die Verbindungen von der Statthalterei aufgelöst, aber schnell wieder neu gegründet. Auch war diese Entscheidung eine Auflösung zu erbitten, inneruniversitär umstritten – sowohl der Rektor, Anton Menger, als auch der antiklerikale Senator Emil Schrutka von Rechtenstamm sprachen sich gegen die Mehrheitsentscheidung der drei Dekane Eugen von Philippovich (Juridische Fakultät), Julius Wagner Ritter v. Jauregg (Medizinische Fakultät) und Albrecht Penk (Philosophische Fakultät) aus. Inzwischen war über die disziplinären Maßnahmen, die zudem den Obmann der Campia, Winkelmaier, der für vier Semester von der Universität relegiert wurde, auch eine öffentliche Debatte in der neuen Freien Presse und im Abgeordnetenhaus entstanden. Aber auch das Stimmverhalten des Senats war uneinheitlich und zeigt die Schwäche des Senats, eine klare Position gegenüber den aggressiven und gewalttätigen Verbindungen zu beziehen. Eine genaue Analyse einzelner Verbindungen zeigt allerdings, dass es bereits Billroths Publikation war, die zuvor eine punktuelle antisemitische Debatte ausgelöst hatte – so etwa schon 1878 – wie erwähnt – bei der Burschenschaft „Libertas“, wo man sich auf den Satzungszusatz einigte, dass Juden nicht als Deutsche angesehen werden, auch wenn sie getauft sind. 1883 folgte die „Teutonia“ mit einem ähnlichen Zusatz; gemeinsam mit „Bruna“ und „Silesia“ wurde ein Delegiertenkonvent gegründet, der Juden ausschloss. In Prag hingegen – wo der „Kampf gegen die Tschechen im Vordergrund stand und viele deutschsprachige Einwohner jüdischer Herkunft waren – funktionierte diese Politik vorerst nicht. Dort war es zentrales Ziel, die Tschechen auszugrenzen. Dass die Statthalterei die Verbindungen, welche die antisemitische Waidhofener Erklärung unterfertigt hatten, auflöste, überraschte. Dieses harte Vorgehen der Behörden hing wohl auch mit den Gegendemonstrationen jüdischer Studenten zusammen. Es gab heftige Proteste von jüdischen nationalen Korporationen, die fürchteten, dass Juden dadurch in der Bürokratie und der Armee (als Reserveoffiziere mit einem Ehrenkodex) keine Beschäftigung mehr finden würden – was übrigens tatsächlich einer der Beweggründe für diesen frühen „Arierparagraphen“ war. 38 Vgl. dazu auch Klaus Plitzner/Harald Seewann (Hg.), J. A. V. Charitas Graz 1897—1938. Die Geschichte einer jüdischen Studentenverbindung in Worten, Bildern und Dokumenten (= Historia Academica Judaica 7), Graz 2001, 183. 39 Ein späterer aktiver Linkssozialist (vgl. dazu Rick Kuhn, Henryk Grossman and the Recovery of Marxism, Urbana IL 2007, 12 u. 40). 40 Archiv der Universität Wien (= UAW), Rektoratsakten SZ 2164, Disziplinarkommission vom 18. März 1896.

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Schon 1862 war sich auch Kaiser Franz Joseph bewusst, dass die steigende Zahl von Studentenvereinen und -verbindungen ein Problem für den Zusammenhalt der Monarchie darstellte und er daher eine Überwachung „nachdrücklich empfahl“.41 1888 versuchte der neue Unterrichtsminister Paul Freiherr Gautsch von Frankenthurn das Abgeordnetenhaus von einer Gesetzesvorlage zu überzeugen (25. Jänner 1888), die „politischen“ unter den damals 235 Vereinen an österreichischen Universitäten (81 deutschnationale, 36 slawische, drei extrem-italienische Vereine sowie ein rumänischer Verein) stärker einzuschränken. Gautsch wurde sofort im Reichsrat als „Knecht der jüdischen Presse“ attackiert. Dieses Projekt scheiterte aber ebenso wie ein ähnliches Vorhaben auf Ebene der Universität Wien, wo die medizinische Fakultät schon 1881 gegen eine zusätzliche Überwachung der Studentenvereine gestimmt hatte. Diese Nachgiebigkeit, die von vielen Professoren in ihrer Funktion als Dekane unter Hinweis auf die Unabhängigkeit der Universität sowie aus grundsätzlichen demokratischen Überlegungen mitgetragen wurde, sollte sich sehr bald rächen. Auslöser für die gewalttätigen Studentenproteste waren die sogenannten Badeni-Sprachenverordnungen 1897. Der polnische Graf Kasimir Badeni war von Kaiser Franz Joseph 1895 zum Ministerpräsidenten bestellt worden, und versuchte mit einer Mischung aus Naivität und autoritärer Härte ohne besondere Rückdeckung bei den politischen Parteien des Abgeordnetenhauses den Reformstau zu lösen. Am 5. April 1897 wurde mit dem Erlass von Sprachenverordnungen für Böhmen und Mähren ein Versuch unternommen, die zunehmende Opposition der nationale tschechische Bewegung zu integrieren: Tschechisch sollte – ausgenommen in der Armee – im Amtsgebrauch in Böhmen und Mähren dem Deutschen gleichgestellt werden. Damit hätten zahlreiche deutschsprachige Beamte Tschechisch lernen müssen, umgekehrt war die Zweisprachigkeit nicht das Problem. Nach heftigen Demonstrationen und massiven Auseinandersetzungen im Abgeordnetenhaus eskalierte die Situation vollends, nach der Verhaftung des deutschnationalen Abgeordneten Karl Hermann Wolf, der sich mit Badeni bereits ein Pistolenduell geliefert und diesen am Arm verletzt hatte. Im Zuge der immer gewalttätiger werdenden Auseinandersetzungen im Parlament wurde Wolf während einer Sitzungsunterbrechung in dieser turbulenten Sitzung am 27. November 1897 verhaftet und dann der Reichsrat sistiert. Die unmittelbar darauf folgenden Demonstrationen zur Freilassung von Wolf wurden maßgeblich auch von deutschnationalen schlagenden Verbindungen organisiert. Da sie aber sehr rasch von der berittenen 41 Peter Urbanitsch, Zwischen Revolution und Konstituionalismus. Rokitanskys Weg in die Politik; in: Helmut Rumpler/Helmut Denk (Hg.), Carl Freiherr von Rokitansky. Pathologe Philosoph - Politiker. Gründer der Wiener Medizinischen Schule des 19. Gedenkschrift zum 200. Geburtstag, Wien 2005, 155.

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Schutzmannschaft aus der Nähe zum Parlament vertrieben wurden, zogen sie sich in das Universitätsgebäude am Franzensring zurück, da die Polizei begann, die Universitätsrampe zu stürmen und Verhaftungen vorzunehmen. Für die Universitätsgeschichte bedeuteten diese Demonstrationen eine einschneidende Zäsur, obwohl dies in der bisherigen Literatur nicht wahrgenommen wird. Die deutschnationalen Studenten, die besonders aktiv bei den Demonstrationen mitgemacht hatten, nützten die Gelegenheit, die Universität zum ersten Mal auch physisch gegen den Staat in Geiselhaft zu nehmen. Zunehmend standen nicht mehr nur die Badeni-Dekrete, sondern in weiterer Folge wurden die Auseinandersetzungen von deutschnationalen mit tschechischen, aber auch katholischen Studenten, die nicht bereit waren, gegen Badeni zu demonstrieren, immer gewalttätiger. Hinter Badeni hatte sich ursprünglich auch Karl Lueger gestellt, ehe er erkannte, dass sich die Massendemonstrationen geschickt zum eigenen Vorteil umkodieren ließen, und er über Nacht den Rücktritt Badenis forderte. Lueger hatte die Kritik am ursprünglichen Verhalten der Christlichsozialen Partei, die Obstruktion gegen die Badeni-Dekrete nicht mitzutragen, im Wiener Gemeinderat übrigens zu heftiger Kritik an den Schönerianern und den Juden genützt: „Von welcher Seite gehen nun die Verleumdungen aus? Sie gehen von der Schönerianer Presse und der Judenpresse aus“.42 Populismus pur auf allen Ebenen. Und das christlichsoziale Parteiorgan Die Reichspost hetzte wenige Tage später im Zusammenhang mit der Dreyfuss-Affäre in Frankreich auch gleich gegen „das internationale Judenthum“ und die „Judenpresse“.43 Schon 14 Tage zuvor hatte der Rektor der Universität Wien, der Mediziner Carl Toldt, versucht, die sich abzeichnende Gewalttätigkeit, die sich bereits am Samstag, den 13. November 1897, anlässlich des „Bummels“ in den Arkaden und der Aula entzündet hatte, durch eine Kundmachung einzudämmen. Er drohte Strafen im Falle von Ausschreitungen an, appellierte an die „Herren Studierenden“, Ruhe zu bewahren, und verbot Ansammlungen in der Säulenhalle sowie in den Gängen des Universitätsgebäudes.44 Den deutschnationalen Studentenvertretern galt Toldt aber als ihren Zielen gegenüber beinahe „freundschaftlich“ eingestellt. Nach der Verhaftung von Wolf wegen öffentlicher Gewalttätigkeit im Reichsratsgebäude waren aber, wie bereits erwähnt, einige Hundert Studenten neben dem Parlamentsgebäude, von der berittenen Schutzmannschaft abgedrängt worden und flüchteten letztlich ins Universi-

42 Reichspost, 5. Nov. 1897, 4. 43 Reichspost, 10. Nov. 1897, 2. 44 Reichspost, 17. Nov. 1897, 6.

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tätsgebäude, das die Polizei nicht betreten durfte.45 In weiterer Folge wurde auch ein Wachmann verprügelt.46

Abb. 1: Polizisten beim Eingang Reichsratsstraße der Universität Wien während der Auseinandersetzungen über die Badeni-Sprachenverordnungen.

Noch am Abend demonstrierten hunderte Studenten aber wieder vor dem Parlament.47 Am nächsten Tag wurden die Demonstrationen stärker, da auch die Sozialdemokraten um Franz Schuhmeier ihre Anhänger mobilisiert hatten und gemeinsam demonstrierten. Der Rektor ließ die Universität für den kommenden Montag und Dienstag, den 29. und 30. November 1897, schließen.48 Eine Reihe von Universitätsprofessoren aller Fakultäten schickte eine „Kundgebung“ an die beiden Häuser des Reichsrats, in der sie einerseits gegen den Bruch parlamentarischer Grundsätze durch die Polizeimaßnahmen protestierten, sich andererseits als Angehörige „unserer alten deutschen Universi45 Reichspost, 28. Nov. 1897,6. 46 Egon Berger-Waldenegg/Heinrich Berger-Waldenegg, Biographie im Spiegel. Die Memoiren zweier Generationen, Wien-Köln-Weimar 1998, 182 f. 47 Neue Freie Presse, 28. Nov. 1897, 6. 48 Neue Freie Presse, 29. Nov. 1897, 4.

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tät“ dagegen verwehrten, „die sprachliche, politische, geistige Bedeutung des deutschen Volkes in Österreich herabzudrücken“.49 Zwar sollte die Universität Wien auch Heimstätte der anderen „Nationen“ des Völkerstaates sein – aber unter dem deutschen Kulturprimat. Rektor Toldt hatte ebenfalls unterzeichnet, obwohl er gleichzeitig die immer intensiver eskalierende Gewaltspirale an der Universität einzudämmen suchte. Nur Ludwig Boltzmann, Heinrich Lammasch, Wilhelm Neumann und Otto von Zallinger hatten in einem Sondervotum festgehalten, dass sie damit die „verübten Rechtsverletzungen“ einzelner Abgeordneter nicht billigten. Toldt hingegen erklärte bereits am 29. November 1897, dass dafür eintreten werde, dass die Folgen für die Übergriffe der Studenten möglichst „milde gestaltet“ werden.50 Die Karikatur auf Seite 82 zeigt auch, dass hinter den Badeni-Dekreten auch die Juden vermutet wurde – entsprechend auch die antisemitische Darstellung im Humoristischen Volksblatt Kikeriki.51 Der österreichische Michel wird von den tschechischen Sprachenverordnungen und den Unterstützern Badenis, den Juden, bedrängt. Noch heftiger wurden die Straßenschlachten in Prag ausgefochten, sodass das Standrecht verhängt wurde und auch hier radikale deutschnationale Studenten maßgeblich die Eskalation hervorriefen. Als dann der Unterrichtsminister Gautsch die ständigen Provokationen zwischen deutschen und tschechischen Studenten durch das Verbot des „Farbentragens“ für alle Korporationen reduzieren wollte, eskalierte die Situation vollends. Am 20. 1. 1898 hatte der Prager Polizeidirektor ein „Verbot des Tragens demonstrativer Abzeichen“52 erlassen und damit ins „Herz“ der symbolischen Inszenierung der Studentenverbindungen getroffen. Die deutschnationalen Burschenschaften organisierten an allen Universitäten einen Hochschulstreik, woraufhin der ehemalige Unterrichtsminister und nunmehrige Ministerpräsident Gautsch, der nach der Entlassung Badenis nominiert worden war, die vorzeitige Beendigung des Wintersemesters – mit Ausnahme von Czernowitz – anordnete. Am 2. März wurde dann dieses Verbot wieder aufgehoben, und die Vorlesungen konnten überall am 7. März beginnen. Auch dies natürlich ein Zeichen der Schwäche der Exekutive und ein weiterer Sieg der deutschnationalen Korporationen. Vor allem bei symbolischen Machtdemonstrationen wie dem Farben- und Waffentragen beim samstäglichen „Bummel“ im Arkadenhof und in der Aula der Universität Wien kam es nunmehr immer wieder zu gewalttätigen Ausein49 50 51 52

Neue Freie Presse, 30. Nov. 1897, 5. Neue Freie Presse, 30. Nov. 1897, 4. Kikeriki, 4. Juli 1897, 2. Ich verdanke diesen Hinweis Dr.in Birgit Peter. Wilhelm von Hartel an Heinrich Friedjung, 4. Nov. 1898, in: Franz Adlgasser/Margret Friedrich (Hg.), Heinrich Friedjung. Geschichte in Gesprächen. Aufzeichnungen 1898 – 1919, Band 1, Wien 1997, 201.

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Abb. 2: Antitschechische und antisemitische Karikatur aus: Krikeri, 4. Juli 1897.

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andersetzungen, welche die Universitätsleitung durch Zuteilung von Plätzen sowie das temporäre Verbot des Farbentragens vergeblich zu verhindern versuchte. Wie angespannt die Stimmung war, dokumentiert ein Bericht des Studenten der Rechte Ivo Pilar aus Zagreb – nach 1918 ein bekannter kroatischer Jurist, Historiker und Politiker53. Er versuchte, seine Studentenverbindungen aus dem Konflikt zwischen „Deutschen und Juden“ herauszuhalten, als das Gerücht kursierte, es wollten rund 400 „Südslawen/Slovenen, Croaten und Serben überdies ca. 30 Polen und 30 Böhmen“ gegen den Abgeordneten Wolf demonstrieren.54 Während die deutschnationalen Studenten ihre privilegierten Bummelplätze im Arkadenhof hatten, blieben die „Slawen“ auf das Vestibül beschränkt, ebenso wie die jüdischen Korporationen. Bereits um 1900 waren alle Platz-Möglichkeiten ausgeschöpft, und der Senat teilte neuen Verbindungen – sowohl jüdischen als auch katholischen – vorerst keinen Bummelplatz zu. Auch diese Maßnahme nützte den radikalen Korporationen. 1911 war kaum mehr Spielraum für die begehrten „Bummelplätze“ als sichtbares Zeichen der politischen Präsenz an der Universität Wien. Seit dem Studienjahr 1906/07 waren die konservativen Korporationen fast geschlossen auf der Juristen-Seite des Arkadenhofes gebündelt – insgesamt 23 Korporationen, auf der Philosophen-Seiten durften 10 Verbindungen promenieren, auf dem deutlich kleineren Gang unter der Bibliothek 11 Korporationen.55 Dass sich Universitätsleitung und Senat, letztlich aber auch das Cultus- und Unterrichtsministerium nicht zu einer klaren Linie gegenüber den immer aggressiver auftretenden Studentenverbindungen durchringen konnten, stand in Zusammenhang mit der nach wie vor von den meisten mitgetragenen Vorstellung von der „deutschen Kulturhegemonie“, die in der Sprachen- und Schulfrage beansprucht wurde, sowie dem Glauben, sich dadurch eine größere Unabhängigkeit vom Staat zu sichern. Dass damit die Abhängigkeit von den radikalen deutschnationalen Korporationen stieg, sahen nur wenige – unter ihnen ein völlig vergessener Rektor (Studienjahr 1882/1883): der Kirchenrechtler und Professor für Römisches Recht Friedrich Maassen, ein Deutscher aus Mecklenburg, der von Protestantismus zum katholischen Glauben konvertiert war.56 In einer Rede im Niederösterreichischen Landtag hatte er versucht, die Sprachen der anderen Völker der Monarchie zu ihrem Recht kommen zu lassen. Als 53 54 55 56

http://dbpedia.org/page/Ivo_Pilar (aufgerufen am 13. April 2013) UAW, Rektoratsakten SZ 787/1898. UAW, Rektoratsakten SZ 787 ex 1911/12, Sitzung vom 15. Dez. 1911, 7. Othenio Abel, Die feierliche Inauguration des Rectors der Universität Wien für das Studienjahr 1899/1900 am 17. Oktober 1899, Wien 1900, 43. Vgl. auch Nikolaus Grass, Maassen Friedrich Bernhard. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 – 1950 (ÖBL). Band 5, Wien 1972, 384 f. sowie http://www.mgh.de/geschichte/portraitgalerie/friedrichmaassen/ (abgerufen am 14. April 2013).

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Mitglied der Katholisch-konservativen Partei verteidigte er die Politik der Regierung hinsichtlich tschechischer Schulen in Wien und NÖ. Diese Wortmeldung löste lang anhaltende Studentenunruhen aus und auch das Professorenkollegium wandte sich in großer Mehrheit gegen ihn.57 Ein weiteres Mal erregte er das Missfallen der Medien und der deutschnationalen Burschenschaften, als er eine Disziplinaruntersuchung gegen Universitätsangehörige einleitete, die bei einem Trauer-Kommers zu Ehren Richard Wagners offen deutschnationale und „grobkörnige antisemitische Auslassungen“ getätigt hatten. Einer der aktivsten Studenten auf diesem Kommers am 5. März 1883, der den Tod Wagners benützte, um die Vereinigung mit Deutschland zu fordern, war der junge 20 Jahre alte „Kneipschwanz“ Hermann Bahr, der der schlagenden Verbindung Albia angehörte.58 Als ein Polizist Bahr in seiner immer politischer werdenden Rede unterbrechen will, stößt Schönerer mit einem „Schläger“ in der Hand Bahr zur Seite und benützt die Bühne für seine Agitation, die von der Polizei als Aufruf zur Revolution interpretiert wird. Rektor Maassen, der aus Norddeutschland stammte, zog sich die ewige Feindschaft der deutschnationalen Burschenschaften zu, die nach der temporären Relegierung von hunderten Studenten und dem Ausschluss von Bahr und dem Obmann des Veranstalters, Franz Dafert, heftig protestierten: „Das erste Mal seit 1848 hat ein Rektor der Universität in das Parteigetriebe der Universität eingegriffen. Wir sind Patrioten. Für unser deutsches Vaterland!“.59 Bahr, der auch Mensuren gefochten und entsprechende Narben hatte, sollte sich aber später von den Idolen seiner Jugend, insbesondere Georg Schönerer, abwenden und zu einem Paradebeispiel für einen Habsburgloyalen Schriftsteller werden, der als (alt)Österreichideologe eine wichtige Rolle spielte.60 Vorlesungen wurden zunehmend gestört – so zum Beispiel die Lehrveranstaltungen des Leiters der ersten Medizinischen Klinik, Hermann Nothnagel, der als aktives Mitglied dem am 4. Mai 1891 gegründeten Verein zur Abwehr des Antisemitismus angehörte.61 Formal trat auch Billroth bei, und besonders aktiv war die Begründerin der Österreichischen Friedensgesellschaft und spätere Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner. Nothnagel wandte sich immer

57 Hannelore Burger, Sprachenrecht und Sprachgerechtigkeit im österreichische Unterrichtswesen 1867 – 1918 (= Studien zur Geschichte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, hg. von der Kommission für die Geschichte der Habsburgermonarchie, Bd. 26), Wien 1995, 115 f. 58 Wladika, Vätergeneration, 159. 59 Ebd., 160. 60 Vgl. dazu http://www.univie.ac.at/bahr/ (abgerufen am 14. April 2013) mit zahlreichen Literatur- und Forschungsverweisen. 61 Vgl. dazu Benz, Organisationen, 1 f. sowie Erika Weinziel, http://www.uibk.ac.at/gfpa/ab lage/dokumente/informationen/Information%2070.pdf (aufgerufen am 14. April 2013)

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wieder – so auch z. B. am 13. Oktober 1892 – gegen den Anachronismus und die Gefahren des immer stärker werdenden Antisemitismus.62 Rektor Hofrat von Philippovich wiederum wurde in Schönerers Ostdeutscher Rundschau als Rektor mit „der eisernen Faust bezeichnet“, da er offen den „Hochschulausschluss“ jener deutschen Studenten forderte, die die Vorlesungen des Kunsthistorikers Max Dvorˇ‚k gestört hatten.63 Eugen von Philippovich, ein auch international anerkannter Nationalökonom, war in Graz als Student Mitglied der Burschenschaft „Armine“ gewesen und wurde im Wintersemester 1905/06 aufgefordert, sein „Band zurückzulegen“. Philippovich war auch Abgeordneter im Niederösterreichischen Landtag für die liberale Sozialpolitische Partei, die den Luegerschen Antisemitismus nicht mittragen wollte, und in sozialpolitischen Fragen insgesamt sehr aktiv. Die Christlichsoziale Partei und Karl Lueger selbst fachten die antisemitische Agitation zunehmend von außen an, so etwa 1904 mit der Forderung nach dem „deutschen Charakter“ der Universität Wien, die sich gegen die tschechischen und jüdischen Studierenden richtete. Schon 1894 hatte Lueger gegen „Ungarn und Galizianer“ agitiert und einen Numerus clausus zugunsten der „Deutschösterreicher“ gefordert.64 Auch die katholischen Verbindungen wurden immer deutlicher vom Luegerschen Antisemitismus geprägt. Seit 1890 stieg die deutsche Kulturprägung in den katholischen Verbindungen deutlich an und wurde neben der „Vaterlandsliebe“ zum Haus Habsburg und der Monarchie Teil der Identitätsdebatte.65 So nahm beispielsweise die CV-Korporation „Austria Wien“ nur mehr Studierende „deutscher Muttersprache“ auf – ein klarer Code in die Luegersche Richtung, wenn auch noch kein offener Rassenantisemitismus wie ihn beispielsweise später der ehemalige Unterrichtsminister Emmerich Czermark 1936 im CV propagierte.66 Die Gegnerschaft zu den „Schlagenden“ deutschen Korporationen auf universitären Bodenblieb jedoch bis zum Ersten Weltkrieg bestehen, der großdeutsche Nationalismus hingegen nahm deutlich zu. Immer wieder kam es trotzdem zu Konflikten über die symbolische Dominanz auf universitärem Boden – so zum Beispiel 1904, diesmal vor allem wegen 62 Wistrich, „Die“ Juden Wiens, 155. 63 Oskar Scheuer, Die geschichtliche Entwicklung des Deutschen Studententums in Österreich mit besonderer Berücksichtigung der Universität Wien von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Wien 1910, 374. Zur Biographie von Eugen von Philippovich siehe die Kurzbiographie von Reinhard Müller: http://agso.uni-graz.at/sozio/biografien/p/philippovich_ eugen_von.htm (aufgerufen am 14. April 2013). 64 Felicitas Seebacher, „Der operierte Chirurg“. Theodor Billroths Deutschnationalismus und akademischer Antisemitismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54, Heft 4, 2006, 336. 65 Christopher Dowe, Auch Bildungsbürger. Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich, Göttingen 2006, 171. 66 Gerhard Popp, CV in Österreich 1864 – 1938, Wien 1984, 202.

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der katholischen Studenten, die in Uniform und mit Säbel am Bummel teilnehmen wollten.67 Der akademische Senat beschloss überdies einen „Numerus Clausus“ für Katholische Studentenverbindungen, die – wenn neu gegründet – keine Farben tragen durften und keinen Bummelplatz zugeteilt bekamen. In weiterer Folge verbündeten sich aber auch sie über alle Gräben hinweg, und „zum ersten Male ging die deutsche antisemitische Studentenschaft“ gegen die alteingesessenen jüdischen Korporationen vor.68 1907 demonstrierten italienische Studenten für eine eigene Universität in Triest, was wiederum die Deutschnationalen zum gewaltsamen Einschreiten veranlasste.69 Nachdem die italienischen Studenten für ihr Verhalten am 11. November in der Aula der Universität Wien vom Rektor gerügt worden waren, wurden eine Woche später an der Prager Universität anlässlich der Rektorsinauguration katholische Studenten von in Wichs angetretenen „Deutschradikalen“ zurückgedrängt bzw. eingeschlossen, da diese gleichberechtigt auftreten wollten.70 In dieser hoch explosiven Atmosphäre benützte der Wiener christlichsoziale Bürgermeister Karl Lueger eine Rede auf dem Katholikentag, um „wieder die alte christliche Weltanschauung an die Stelle jener zu setzen, welche eigentlich gar keine Weltanschauung ist […]“ und dabei hoffte, „[…] daß wir auch jene Universitäten zurückerobern, die unsere Kirche eigentlich gegründet hat“.71 In Anspielung auf ein Gebet aus der Zeit der Türkenkriege schloss er seine kämpferische Rückeroberungsrede mit dem Satz „Herrgott, steh‘ nur den Juden nicht bei, wir wollen mit ihnen schon fertig werden! (Brausender Beifallsturm)“. Im Bericht in dem christlichsozialen Zentralorgan Reichspost, aus dem hier zitiert wurde, war aber ein Zitat nicht enthalten, das Lueger selbst aber später im Abgeordnetenhaus bestätigte: „Das wird noch einen schweren, harten Strauß kosten. Solange es möglich ist, dass unter acht neu ernannten Professoren sieben Juden sind (Entrüstung), bedarf es noch eines schweren Kampfes bis wir es dahin bringen, dass unter acht ernannten Professoren sieben Christen sind (Beifall)“72. Eigentlich wollte Lueger gegen die deutschnationalen radikalen Kräfte an der Universität Wien polemisieren, aber erkannte rasch, dass die antisemitische Polemik mehr Wirkung hatte. Dies betonte er dann auch ganz offen am 5. Dezember im Abgeordnetenhaus: „Die ,Neue Freie Presse‘ hat den Sinn der Rede […] sofort erkannt […] daß sie sich gegen die jetzt auf den Univer67 Hartmann, Für Gott und Vaterland, 116. 68 Ebd., 116. 69 Helge Zoitl, „Student kommt vom Studieren!“. Zur Geschichte der sozialdemokratischen Studentenbewegung in Wien (= Materialien zur Arbeiterbewegung, 62), Wien 1992, 90 f. 70 Reichspost, 19. Nov. 1907. 71 Reichspost, 18. Nov. 1907, 5. 72 Neue Freie Presse, 17. Nov. 1907, 7.

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sitäten beinahe übermächtig herrschende Judenschaft gerichtet ist“.73 Hingegen vermied er im Reichsrat die Polemik mit den eigentlichen Unruhestiftern, den Deutschradikalen, da er „mit den geehrten Herren Kollegen, welche dem deutschen Volke angehören, nicht polemisieren will“. In der im Anhang zu diesem Sammelband publizierte Broschüre des Salzburger Universitätsvereins, vor dem Lueger die Rede auf dem Katholikentag gehalten hatte, zeigt wie Luegers antisemitische Polemik noch intensiviert und radikal vertieft wurde. Zur wirklichen Explosion und neuerlichen totalen Lähmung der Universitäten kam es 1908 im Zuge der Affäre rund um den Innsbrucker Kirchenrechtler Professor Ludwig Wahrmund – übrigens ein Schüler von Maassen. Wahrmund, einst katholischer „Hoffnungsträger“, setzte sich mit modernistischen Ideen auseinander und griff die katholische Kirche als Hort des Dogmatismus und der Intoleranz an (so bekämpfte er u. a. das Eherecht) und publizierte seine Vorstellungen. Nach heftigen Auseinandersetzungen, bei denen Deutschnationale, Liberale und Sozialdemokraten als Antiklerikale Wahrmund unterstützen – wobei die Burschenschaften an der Universität Wien besonders aktiv waren –, wurden die Hochschulen geschlossen, Wahrmund wurde nach Prag versetzt.74 Ein Blick in die Verbindungslandschaft mit Status 190875 genügt, um zu zeigen wie vielfältig und damit auch wie heftig die Konkurrenz zwischen den unterschiedlichen national ausgerichteten Korporationen war, politische Sichtbarkeit für Ihre nationalen Anliegen an der Universität zu erstreiten: „15 zionistische und jüdische Verbindungen: „Bar giora“, „Bar Kochba“, „Jvria“, „Kadimah“, „Libanonia“, „Makkabäa“, „Unitas“, „Erez Israel“, „Esperanza“, „Herzlonia“, „Jordania“, „Jüdische Kultur“, „Theodor Herzl“, „Zephiria“ und „Zwiezda“; die ersten sieben sind schlagende Verbindungen. Die deutschfreisinnigen Korporationen, die meist jüdische Mitglieder, aus dem Assimilationsstandpunkt stehende Mitglieder haben, sind: „Fidelitas“, „Marchia“, „Juventus“, „Turnverein der Wiener Hochschulen“ und die „Leseund Redehalle“ Die dritte deutschfreiheitliche Gruppe umfaßt 13 Burschenschaften: „Albia“, „Alemania“, „Arminia“, „Gothia“, „Libertas“, „Markomania“, „Moldavia“,

73 Stenographische Protokolle – Abgeordnetenhaus, 41. Sitzung der XVIII. Session am 5. Dez. 1907, 2998 (http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0& aid=spa& datum= 00180003& seite=00002996& zoom=2). 74 Hermann J. W. Kuprian, „Machen Sie diesem Skandal ein Ende. Ihre Rektoren sind eine nette Gesellschaft.“ Modernismusdiskussion, Kulturkampf und Freiheit der Wissenschaft: Die Wahrmund-Affäre 1907/08, in: Michael Gehler/Hubert Sickinger (Hg.), Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim, Thauer-Wien-München 1995, 99 – 127. 75 Deutsche Wacht, 16. Mai 1908, Jg. 33, 40

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„Olympia“, „Silesia“, „Teutonia“ und „Vandalia“, sowie zwei nationale Korps, 16 Verbindungen und die Lesehalle „Germania”. Zur vierten katholischen Gruppe endlich gehören die Verbindungen: „Amelungia“, „Austria“ „Norica“ und „Rudolfina.“ 1908 waren die exzessiven Prügeleien an der Universität Wien fast schon „Normalität“, obwohl die Realität bereits blutige Gewaltanwendung war. So berichtete die sozialdemokratische Arbeiterzeitung über „Schlägereien zwischen den deutschnationalen und den jüdischnationalen Studenten.“76 Diese blutige Stockprügelei, die auch Wachleute traf, und die auch die linke Balustrade der Universitätsrampe zum Einsturz brachte, hätte im Falle von Arbeitern für diese mehrere Jahre Kerker wegen öffentlicher Gewalttätigkeit zur Folge gehabt, so die durchaus korrekte Interpretation des sozialdemokratischen Zentralorgans. 1908 gab überdies eine weitere Debatte mit antisemitischem Hintergrund, die bisher ebenfalls nicht Eingang in die Universitätsgeschichte gefunden hat, und zwar jene gegen den Privatdozenten und Nationalökonomen Siegmund Feilbogen, der an der Exportakademie unterrichtete und an der Universität Wien Privatdozent war. Feilbogen hatte mit seiner Frau und seiner Schwägerin an der Ostermesse in der Sixtinischen Kapelle in Rom teilgenommen. Seine Schwägerin, die Jüdin war, hatte eine Hostie empfangen, sie dann aber aus dem Mund genommen und in ein Taschentuch eingewickelt. Die deutschradikale Presse machte daraus eine „Hostienschändung“ und sogar im Abgeordnetenhaus würde heftig über diesen Vorfall diskutiert.77 Feilbogen wurde sofort beurlaubt und zu Semesterende im Juli 1908 pensioniert. Der katholische Druck war zu stark geworden und das Thema „Hostienschändung“ bediente urkatholische antisemitische Stereotype. Arthur Schnitzler verarbeitete diese Affäre Feilbogen, die auch die „Ungleichbehandlung“ deutlich macht, in seinem Drama „Professor Bernhardi“. Schnitzler thematisierte die Unterschiede zur Affäre Wahrmund, mit dem er befreundet war, und der „nur“ nach Prag strafversetzt wurde, hingegen Feilbogen sofort aus der Exportakademie und der Universität Wien gedrängt wurde.78 Zumindest der immer wieder geforderte Prozess wegen Religionsstörung wurde vermieden.

76 Arbeiterzeitung, 11. Nov. 1908. 77 Beier, Vor allem bin ich, 317. Vgl auch Neue Freie Presse, 24. April 1908, 6 f. 78 Vgl. dazu Adolf Gaisbauer, Der historische Hintergrund von Arthur Schnitzlers „Professor Bernardi“, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 13, Jg. 50, 1974, 156.

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Zusammenfassung Bis zum Ersten Weltkrieg reagierten die nach wie vor „deutsch“ geprägten Senate, Rektoren und Dekane – unter ihnen auch einige jüdischer Herkunft – beschwichtigend und zurückhaltend; im Zweifel handelten sie zugunsten der Deutschnationalen, wie etwa das Farbenverbot für neue Verbindungen aus 190479 dokumentiert. Von den Wiener Rektoren wurden von den deutschradikalen Studenten80 neben Friedrich Maassen der international renommierte Geologe Eduard Süss81 als „Deutschösterreicher“ und nicht als Deutschnationaler eingestuft. Das Denkmal von Süss in den Arkaden ließen die Nationalsozialisten aufgrund seiner rassistischen Einstufung als „Mischling“ gemeinsam mit den Denkmälern anderer jüdischer Professoren beseitigen.82 Er war auch als Abgeordneter der Liberalen im Niederösterreichischen Landtag aktiv und engagierte sich für die Wiener Donauregulierung sowie den Bau der ersten Wiener Hochquellenwasserleitung.83 Ob sein Rücktritt als Rektor mit der Kritik an Regierungsmaßnahmen zusammenhing oder aus Frust über die radikalen deutschnationalen Verbindungen erfolgte, wie ein Teil der Literatur es behauptet, ließ sich aus den Senatsakten nicht eruieren. Im Mai 1913 kam es zu einer blutigen Schlacht zwischen deutsch- und jüdisch-nationalen Studenten mit mehreren Verletzten.84 Der Senat konnte sich dabei erstmals dazu durchringen, in einer Kundmachung festzuhalten, dass den deutschnationalen Studierenden der aktivere Teil zuzuschreiben war. Auch wurde darauf hingewiesen, dass „bereits im Jahre 1896, als eine Gruppe deutschnationaler Studenten die jüdischen Studierenden als der Ehre bar erklärte und ihnen deswegen die Satisfaktionsfähigkeit absprach, eine derartige schwere Beleidigung verurteilt und ist gegen Teilnehmer an jener Beschlussfassung auf disziplinarem Weg vorgegangen. Der akademische Senat hat auch im 79 Popp, CV in Österreich, 195. 80 Paul Molisch, Politische Geschichte der deutschen Hochschulen in Österreich 1848 – 1918, Wien 1939, 100. 81 Molisch, Politische Geschichte, 51. 82 Thomas Maisel, Gelehrte in Stein und Bronze. Die Denkmäler im Arkadenhof der Universität Wien, Wien 15 83 Vgl. dazu zuletzt in einer umfassenden Würdigung Johannes Seidl (Hg.), Eduard Suess und die Entwicklung der Erdwissenschaften zwischen Biedermeier und Sezession: 8… Zusammenschau der Vorträge, die anlässlich eines dem österreichischen Erdwissenschafter Eduard Suess (1831 – 1914) gewidmeten Symposions gehalten wurden, das vom 1. bis 3. Dezember 2006 an der Geologischen Bundesanstalt in Wien stattfand; Tagung, die als 6. Wissenschaftshistorisches Symposion der Österreichischen Arbeitsgruppe für Geschichte der Erdwissenschaften … veranstaltet wurde); Göttingen 2009. 84 Neue Freie Presse, 19. Mai 1913, 10. UAW, Rektoratsakten SZ 1362 ex 1912/13, Sitzung vom 21. Juni 1913,

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Vorjahre den Vertretern der jüdischen Studentenschaft erklärt, dass er jedes Vorgehen auf das entschiedenste missbillige, wodurch einzelne Studenten oder Studentengruppen in ihrer Ehre gekränkt werden. Der akademische Senat steht heute auf demselben Standpunkte wie von jeher. Er betrachtet und behandelt alle Studierenden als gleichberechtigte akademische Bürger“. Doch mit dieser Deklaration, die in der Praxis keineswegs immer umgesetzt wurde, wenn es um Disziplinarmaßnahmen ging, blieb auch der Senat letztlich passiv stehen, da eine Auflösung der Verbindungen, die den Waidhofener-Beschluss trugen, mangels Kompetenz abgelehnt wurde, obwohl es – wie halbherzige Versuche in der Vergangenheit gezeigt hatten, durchaus ein derartiger Schritt bei Unterrichtsministerium und Reichsstatthalterei hätten initiiert werden können. Der Universitätsleitung in Wien fehlt hier eindeutig ein Konzept in Richtung wehrhafter Demokratie. So wurde ein Antrag studentische Korporationen ähnlich wie im deutschen Reich akademischen Behörden zu unterstellen, wegen „Schwierigkeiten“ in der „Durchführung“ einstimmig abgelehnt.85 Lediglich der Dekan der philosophischen Fakultät, Leopold von Schröder, wollte eine neue Kundmachung, in welcher das den Deutschnationalen zugefügte „Unrecht“ zurechtgerückt würde.86 Schröder war ein deutscher Indologe, der unter anderem 1910 „Die Vollendung des arischen Mysteriums in Bayreuth“ publizierte, aber bei den „Arier“-Theoretikern umstritten war, da er Arier und Semiten als „Schöpfer großer Weltreligionen“ gelten ließ und damit das Judentum auf die gleiche Stufe stellt.87 Letztlich dominierte jedoch an der Universität Wien die „Politik des Ausgleichs“, indem eine Trennung bei ,umkämpften Lehrstühlen‘ wie bei den Bummelplätzen im Arkadenhof vorgenommen wurde. Diese Politik des Nachgebens und des Ausgleichs – die übrigens eindeutig dem Gleichheitsprinzip widersprach, auf das sonst so sehr Wert gelegt wurde –wurde zentral vom k.k. Ministerium für Kultus und Unterricht und den jeweiligen Ministern gesteuert. An der medizinischen Fakultät beispielsweise gab es im Bereich der Anatomie zwei Lehrstühle – einen für Juden und einen für Nicht-Juden (Carl Toldt und Emil Zuckerkandl).88 Die chemischen Institute wurden nach demselben Prinzip 85 UAW, Rektoratsakten SZ 767 ex 1913/14, Sitzung vom 6. Feb. 1914, 26. 86 UAW, Rektoratsakten SZ 1469, ex 1912/13. 87 Wilhelm, Friedrich, „Schroeder, Leopold Alexander von“, in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), 551 – 552 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/ pnd117072796.html (aufgerufen am 18. April 2013). 88 Tatjana Buklijas, The Politics of Fin-de-SiÀcle Anatomy, in: Mitchel Ash and Jan Surman (ed.), The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848 – 1918, Basingstoke 2012, 209 – 244; Tatjana Buklijas, Surgery and national identity in late nineteenth-century Vienna’, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 38 (2007), 756 – 774.

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geteilt, sodass eine Koryphäe wie Guido Goldschmiedt, ein gläubiger Jude, erst nach dem Tod des jüdischen Lehrstuhlhabers berufen wurde.89 Letztlich stärkte aber gerade diese Politik des „Ausgleichs“ die radikalen deutschnationalen Verbindungen und stützte indirekt auch die beginnende rassistische Ausgrenzung von jüdischen Lehrenden sowie Studierenden, da sich diese zunehmend um die jeweilige zugehörig fühlende Lehrkanzel auch aufzuteilen begannen. Zusammenfassend sei festgehalten, dass der Antisemitismus an der Universität Wien bereits seit 1875 in einer rassistisch geprägten Form zu spüren war und letztlich – so meine zentrale These – durch die pro-deutsch-nationale bis konfliktscheue Grundstimmung in Senat und Rektorat sowie durch die Akzeptanz der ab 1896 offen antisemitisch agitierenden und provozierenden schlagenden Verbindungen indirekt gestützt wurde. Bereits ein Jahr später, 1897, eskalierte die Gewalt endgültig an der Universität Wien, als die deutschnationalen Studenten gegen die Sprachenverordnung des Ministerpräsident Badenis, mit der Tschechisch neben Deutsch als zweite Amtssprache in Böhmen und Mähren eingeführt werden sollte, einfach die Universität besetzten und sich mit den Polizeikräften prügelten. Damit war der letzte Damm staatlicher Autorität gebrochen. Völlig unverständlich, dass diese Eskalation der Gewalt häufig in eine Gesamtanalyse des politischen Systems Cisleithaniens nicht als ,Schwellenereignis‘ eingebaut wird. Der Schriftsteller Stefan Zweig reflektierte nach einem verharmlosenden Einleitungsstatement zu Nationalitätenkonflikt und Antisemitismus in seinem autobiographisch gefärbten Roman „Die Welt von gestern“90 siebzig Seiten später die brutale Aggressivität der deutschnationalen Burschenschaften, die schon seit 6. Dezember 1884 beim ,Bummel‘ in der Aula der Universität katholische, und in weiterer Folge auch jüdische und italienische Studenten physisch attackierten. Bereits am 26. Oktober 1889 kam es zu einer regelrechten ,Schlacht‘ zwischen deutschnationalen Korporationsstudenten und Angehörigen der katholischen Verbindungen „Norica“ und „Austria“, da letztere durch „Farbentragen“ das symbolische Monopol der Deutschnationalen in Frage gestellt hatten.91 Der Senat der Universität Wien und die meisten Rektoren wollten sich letztlich nicht zu einer echten Gleichberechtigung aller Studentenverbindungen durchringen, sondern protegierten jene organisierten Studenten, die deutsche 89 Jirˇ† Pesˇek/Nina Lohmann, Guido Goldschmiedt (1850 – 1915). Ein jüdischer Chemiker zwischen Wien und Prag, in: Friedrich Edelmayer/Margarete Grandner/Jirˇ† Pesˇek/Oliver Rathkolb (Hg.), Über die österreichische Geschichte hinaus. Festschrift für Gernot Heiss zum 70. Geburtstag, Münster 2012, 103 – 104. 90 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Taschenbuchausgabe, 37. Auflage Frankfurt/Main 2009, 84 f. 91 Neue Freie Presse, 27. Oktober 1889, 6.

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Tradition und deutsche Kulturmission bereits nach rassistischen Kriterien definierten und insbesondere Juden per se nicht mehr als Mitglieder der Korporationen aufnahmen. Die Ablehnung einer Sprachenvielfalt und die Konflikte mit den katholischen Studentenverbindungen, aber auch den diversen slawischen Verbindungen stärkten die antisemitischen Tendenzen. Der ,Hauptfeind‘ blieben aber jüdische Korporationen, gefolgt von italienischen Verbindungen. Eine nachdrücklichere disziplinarrechtliche Intervention durch die akademischen Behörden wurde auch aus grundsätzlichen Autonomieüberlegungen abgelehnt; aber gerade dadurch erodierte letztlich die Autorität der Universitätsleitung, und der Straßenantisemitismus, der zuletzt 1913 wieder einmal eskalierte, wurde weiter gestärkt.

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Jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Universität Wien von der Monarchie bis nach 1945. Stand der Forschung und offene Fragen

I.

Fragestellungen

Ziel dieses Beitrags ist es, drei Standarderzählungen miteinander zu verbinden, diese aber zugleich kritisch zu hinterfragen. Auf der einen Ebene geht es um die vertraute Erzählung der jüdischen Geschichte als Leidensweg – jetzt mit Terminus ad quem in der Shoah. Diese Erzählung wird hierzulande häufig und, wie ich meine, nicht unbedingt glücklich mit einer Erzählung der österreichischen Geschichte als Weg in den Abgrund verzahnt. Und diese beiden Erzählungen können und werden oft genug mit einer dritten verbunden, nämlich der Erzählung der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte Österreichs als Weg von einstigem Glanz in die Provinzialität. Alle drei Erzählungen mögen sehr wohl etwas auf sich haben – an Beispielen für ihre Schlüssigkeit wird es auch im Folgenden nicht fehlen. Ob sie aber jede für sich tatsächlich ausreichend sind, das jeweils thematisierte Geschehen in ihrer vollen Komplexität und vor allem ihrer Kontingenz abzubilden, und wie das Verhältnis der einen, nämlich der wissenschafts- und universitätshistorischen, zu den anderen beiden Erzählungen zu begreifen sein soll – das sind die Hintergrundfragen der folgenden Ausführungen. Natürlich reicht der Raum eines Aufsatzes nicht aus, diesen Fragen tatsächlich im vollen Detail nachzugehen. Dafür steht die Grundlagenforschung zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte Österreichs im 19. und 20. Jahrhundert noch zu sehr am Anfang. Ich kann an dieser Stelle also nur bestimmte Themen und Fragestellungen aufgreifen, mit Daten und Hinweisen kurz unterfüttern und spätestens am Ende – wie es im Titel schon heißt – offene Fragen benennen. Meine Bemerkungen gliedern sich in vier Abschnitte. Nach einer kurzen Besprechung der Grundsatzfrage, wer hier als „jüdische(r) Wissenschaftler(in)“ zu begreifen sein sollte, sowie des derzeitigen Forschungsstands zum Thema folgen im zweiten Teil Ausführungen zur Zeit der späten Habsburgermonarchie, einschließlich der ersten Berufungen jüdischer Professoren und der hitzigen Debatten um Wissenschaftsstile, die sich daran anschlossen. Im dritten Teil

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werden dann die radikalen Veränderungen in der Ersten Republik, in den beiden Diktaturen der 1930er- und 1940er-Jahre und der unmittelbaren Nachkriegszeit behandelt; zum Schluss folgen abschließende Überlegungen zu den drei eingangs genannten Erzählungen und die versprochene Benennung offener Forschungsfragen.

II.

Grundsätzliches: Von wem ist hier die Rede?

Gleich vorweg ist eine Frage zu stellen, die nicht nur aus methodologischen Gründen wichtig ist: Von wem ist denn hier die Rede, oder : Wer zählt hier als Wissenschaftler oder Wissenschaftlerin und wer zählt hier als Jude? Die Antwort auf die erste der beiden Fragen lautet: In den folgenden Ausführungen zählen als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler potenziell alle Lehrenden und nicht nur die Ordinarien sowie viele außerhalb der Universität tätige Forscherinnen und Forscher, aber nicht die Studierenden. Letztere bleiben zunächst einmal aus rein praktischen Gründen, aber auch und vor allem deshalb außer Betracht, weil ihre Geschichte eine eigene ist, die zwar sehr viel mit jener der Universität als Qualifizierungs- und Sozialisierungseinrichtung, aber nicht unbedingt so viel mit der dort erzeugten Wissenschaft zu tun hat, wie mancherorts gemutmaßt wird. Das Wort „Wissenschaft“ kommt zwar in vielen Buchtiteln vor, in denen es um Studierende geht, doch das Gros der Studierenden begehrte damals wie heute das, was in den Universitätsgesetzen noch heute „wissenschaftliche Berufsvorbildung“ heißt, und wollte niemals selber über die jeweils vorgegebene erste Qualifikationsstufe hinaus in der wissenschaftlichen Forschung tätig sein. Zur anderen, wohl brisanteren Frage, wer hier als Jude gelten kann und soll, muss ich etwas weiter ausholen. Absolut zentral für diese Diskussion ist es nämlich, im Einzelfall möglichst klar festhalten zu können oder wenigstens fragen zu dürfen, erstens, ob mit der Identitätszuschreibung „Jude“ Abstammung, Ethnizität oder Konfession gemeint sind, und zweitens von wem auf welcher Grundlage auch immer diese Zuschreibung ausgegangen ist bzw. getätigt wurde. Warum ist das wichtig? Weil im öffentlichen Diskurs in diesem Themenbereich – in Österreich, aber auch in Deutschland – manchmal recht sorglos, mitunter völlig unreflektiert mit Fremdzuschreibungen umgegangen wurde und heute noch wird. Es ist unzweifelhaft wichtig und richtig, aller zu gedenken, die im Nationalsozialismus und auch in den Jahrzehnten davor aufgrund einer im Wesentlichen völkisch oder rassistisch definierten Zugehörigkeit zum „Judentum“ angegriffen und verfolgt, vertrieben und ermordet wurden. Ebenso richtig und wichtig ist es aber auch, immer wieder die Tatsache in Erinnerung zu rufen, dass viele der Betroffenen nach ihrem eigenen Selbstverständnis gar keine Juden

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waren. Dies gilt sogar für viele, vielleicht sogar die Mehrheit jener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, derer heute in der Öffentlichkeit mit großer Feierlichkeit – und wohl zu Recht! – als Verfolgte gedacht wird. Als Beispiele seien die folgenden Personen genannt: Eduard Suess (1831 – 1914), seit 1856 Professor für Paläontologie, seit 1861 Professor für Geologie an der Universität Wien, von 1898 bis 1911 Präsident der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, zeitweilig auch Mitglied des Wiener Magistrats, Landtagsabgeordneter in Niederösterreich und Mitglied des Reichsrats, bekannt als Vater der Wiener Hochquellenwasserleitung und vieles mehr, ist niemals Jude gewesen, wurde aber von Antisemiten als solcher denunziert, weil seine Mutter jüdische Vorfahren hatte, weshalb er sein Amt als Rektor der Universität Wien 1889 vorzeitig niederlegte.1 Karl Landsteiner (1868 – 1943), ab 1911 außerordentlicher Professor für Pathologie an der Universität Wien, seit 1922 in New York tätig (siehe unten), dessen Foto aufgrund der Verleihung des Nobelpreises für Medizin und Physiologie im Jahre 1930 für die Entdeckung der Blutgruppen einen Ehrenplatz in der Eingangsaula im Universitätshauptgebäude beanspruchen darf, trat 1890 zum Katholizismus über.2 Julius Tandler (1869 – 1936), von 1913 bis 1934 Professor für Anatomie an der Universität Wien, weithin auch als Gesundheitsstadtrat in den 1920er-Jahren bekannt, als der er für die Wiener Gemeindebauten verantwortlich zeichnete, trat 1899 zum Katholizismus über.3 Elise Richter (1865 – 1943), seit 1905 erste habilitierte Frau an der Universität Wien, 1921 – wiederum als erste Frau – zur außerordentlichen Professorin für Romanistik ernannt, konvertierte gemeinsam mit ihrer älteren Schwester, der Anglistin Helene Richter (1861 – 1942), im Jänner 1911 mit 41 Jahren auf eigenen Wunsch zum evangelischen Glauben.4 1 Tilfried Cernajsek, Johannes Seidl und Christoph Mentschl, Eduard Suess. Ein Geologe und Politiker des 19. Jahrhunderts, in: Gerhard Heindl (Hrsg.), Wissenschaft und Forschung in Österreich. Exemplarische Leistungen österreichischer Naturforscher, Techniker und Mediziner. Frankfurt am Main 2000, 59 – 84, hier : 82. 2 Anna L. Staudacher „meldet den Austritt aus dem mosaischen Glauben“. 18.000 Austritte aus dem Judentum in Wien, 1868 – 1914: Namen – Quellen – Daten, Frankfurt am Main 2009, 349, zit. nach http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Landsteiner (abgerufen: 03. 10. 2012). 3 Monika Löscher, Julius Tandler (1869 – 1936), in: Heindl (Hrsg.), Wissenschaft und Forschung in Österreich (wie Anm. 1), 89 – 104, hier : 90. Siehe auch nach wie vor Karl Sablik, Julius Tandler. Mediziner und Sozialreformer, Wien 1983. 4 Elise Richter, Summe des Lebens, Neuaufl. Wien 1997. Zur Religiosität und Konversion Elise Richters unter Einbeziehung weiterer autobiografischer Dokumente vgl. Astrid Schweighofer, Jüdische Konversionen zum Protestantismus in Wien um 1900. Zur Religiosität von Arnold Schönberg, Otto Weininger, Victor Adler, Egon Friedell und Elise Richter. Diplomarbeit Universität Wien, Fakultät für Evangelische Theologie, 2007, Kap. 9. Weiteres hierzu siehe unten.

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Lise Meitner (1878 – 1968), 1906 als zweite Frau im Fach Physik an der Universität Wien promoviert, seit 1911 am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie tätig, seit 1913 dort Mitglied, trat 1908, ein Jahr nach ihrer Übersiedelung nach Berlin, zum evangelischen Glauben über.5 Charlotte Bühler (1893 – 1974), seit 1929 außerordentliche Professorin für Psychologie an der Universität Wien, Leiterin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychologie und de facto mit ihrem Mann Karl Bühler Mit-Direktorin des Wiener Psychologischen Instituts, wurde von ihren Eltern nach ihren eigenen Worten „wie das in der damaligen Assimilationsperiode weitgehend üblich war, protestantisch getauft und erzogen“.6 Die drei zuletzt genannten Frauen seien schon an dieser Stelle angeführt, um einem verbreiteten Missverständnis, nämlich der Behauptung vorzubeugen, man oder frau sei damals nur deshalb zum christlichen Glauben konvertiert, weil die Konversion eine Art Eintrittskarte in die gehobenen Berufe darstellte, wie Heinrich Heine es bereits Jahrzehnte früher umschrieb. Für Elise Richter ist jedenfalls gut belegt, dass eine derartige karrieristische Deutung der Konversion zu kurz greift. Nach ihrer eigenen Schilderung wurden sie und ihre Schwester „überkonfessionell erzogen“; bereits mit 13 Jahren hegte sie erstmals den Wunsch, zum evangelischen Glauben überzutreten.7 Mehrere andere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen jüdischer Herkunft, wie es korrekterweise heißen sollte8, sind trotz aller Widrigkeiten und Diskriminierungen, von denen weiter unten noch die Rede sein wird, Juden geblieben und haben es dennoch zu Stellungen als Wissenschaftlerinnen und 5 Ruth Lewin Sime, Lise Meitner. A Life in Physics, Berkeley, CA 1996, 6; vgl. http://de.wiki pedia.org/wiki/Lise_Meitner (abgerufen: 13. 02. 2013). 6 Charlotte Bühler, Charlotte Bühler, in: Ludwig Pongratz, Werner Traxel, Ernst G. Wehner (Hrsg.), Psychologie in Selbstdarstellungen, Bd. 1, Bern – Stuttgart – Wien 1972, 9 – 42, hier : 9. In einer einschlägigen biografischen Arbeit aus den 1990er-Jahren übernehmen die Autorinnen völlig unreflektiert die oben genannte rassistische Fremdzuschreibung, wenn sie schreiben: „Charlotte Bühler war Jüdin und musste emigrieren um ihr Leben zu retten.“ Eine Seite weiter heißt es aber richtig, dass sie und ihr Bruder „selbstverständlich evangelisch erzogen“ wurden und dass sie und Karl Bühler 1916 in der evangelischen Kirche in Berlin heirateten. Die Autorinnen führen dies merkwürdigerweise darauf zurück, dass Karl Bühler katholisch war, aber der offenkundige Grund war wohl, dass sie nach der Konfession Charlotte Bühlers vorgingen. Ilse Bürmann und Leonie Herwartz-Emden, Charlotte Bühler. Leben und Werk einer selbstbewussten Wissenschaftlerin des 20. Jahrhunderts. Psychologische Rundschau, 44 (1993), 205 – 225, hier: 206, 207. Zur Geschichte des Wiener Psychologischen Instituts sowie zum schwierigen Verlauf der Karriere Charlotte Bühlers in Wien vgl. Gerhard Benetka, Psychologie in Wien. Sozial- und Theoriegeschichte des Wiener Psychologischen Instituts 1922 – 1938, Wien 1995, insbes. 28 – 29. 7 Elise Richter, Summe des Lebens (wie Anm. 4), 58 – 59. 8 So heißt es auch im Standardnachschlagwerk Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft, 18. bis 20. Jahrhundert. Hrsg. Österreichische Nationalbibliothek. München 2002.

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Wissenschaftler, zuweilen zu ordentlichen Professuren an der Universität Wien gebracht. Doch auch die Zuschreibung „Jude geblieben“ ist keine einfache Angelegenheit! Am besten in der Öffentlichkeit bekannt sind diejenigen, die ihre ethnische Identität als Juden trotz säkularistischer Überzeugung beibehielten und nicht konvertierten, wie z. B. die Sozialdemokraten Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda – beide in den 1920er- und 1930er-Jahren MitarbeiterInnen an der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle des Wiener Psychologischen Instituts. Für Jahoda ist allerdings, wie sie später sagte, „mein Judentum erst mit Hitler eine wirkliche Identifikation geworden“.9 Ebenfalls hierher gehört der weitaus ältere Sigmund Freud (1856 – 1939), dem 1902 nach mehrjähriger Verzögerung der Titel eines außerordentlichen und 1920 der Titel eines ordentlichen Professors an der Universität Wien verliehen wurde. Freud nannte sich selbst einmal einen „gottlosen Juden“ und sprach mit der ihm eigenen Ironie gelegentlich sogar von „unserer Rasse“. Aber auch trotz seiner späteren scharf religionskritischen Haltung blieb er Mitglied des jüdischen Männervereins B’nai B’rith und hielt in seiner „Selbstdarstellung“ 1925 lapidar fest: „Meine Eltern waren Juden, auch ich bin Jude geblieben.“10 Es gibt jedoch sehr wohl auch eine gar nicht so kleine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an der Universität Wien, die auch konfessionell Juden blieben oder jedenfalls nicht aus der Kultusgemeinde austraten, ob sie religiöse Juden waren oder nicht. Ich nenne hier lediglich den Musikwissenschaftler Guido Adler (1855 – 1941), Gründer des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Wien und dessen Leiter von 1898 bis 192711, den Biologen Hans Przibram (1874 – 1944), gemeinsam mit Leopold von Portheim 9 Siehe z. B. Marie Jahoda, „Für mich ist mein Judentum erst mit Hitler eine wirkliche Identifikation geworden.“ Gespräch mit Marie Jahoda. Ästhetik und Kommunikation, Heft 51, 1985, 71 – 89; siehe auch dies., „Ich habe die Welt nicht verändert.“ Gespräch mit Marie Jahoda, in: Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern. Aufgezeichnet von Mathias Grefrath, Reinbek bei Hamburg 1979, 103 – 144; dies., „Ich habe die Welt nicht verändert.“ Lebenserinnerungen einer Pionierin der Sozialforschung. Hrsg. Steffani Engler und Brigitte Hasenjürgen, Frankfurt am Main 1997. 10 Sigmund Freud, Selbstdarstellung (1925), in: ders., Gesammelte Werke, XIV, 33 – 96, hier : 34. Vgl. zum Thema nach wie vor Peter Gay, Ein gottloser Jude. Sigmund Freuds Atheismus und die Entwicklung der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1988 (englischer Originaltitel: A Godless Jew: Freud, Atheism and the Development of Psychoanalysis, New Haven 1987). Siehe neuerdings auch Arnold D. Richards (Ed.), Freud’s Jewish Identity : The Jewish World of Sigmund Freud, Jefferson, NC, 2010, sowie im breiteren Kontext Johannes Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt. Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848 – 1938, Bielefeld 2010, Kap. 5. 11 Zu Guido Adler vgl. ders., Wollen und Wirken. Aus dem Leben eines Musikhistorikers, hrsg. Von Barbara Boisits. Wien 1996, erstmals erschienen Wien: Universal Edition 1935, sowie Barbara Boisits, Autobiography and its hidden layers: The case of Guido Adlers Wollen and Wirken (1935), in: Tatjana Markovic´/Vesna Mikic´ (Hrsg.), (Auto)Biography as a Musicological Discourse (Musicological Studies: Collection of Papers 3), Belgrad 2010, 202 – 213.

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und Wilhelm Figdor Gründer der Biologischen Forschungsanstalt „Vivarium“, seit 1913 tit. außerordentlicher Professor für Zoologie, seit 1921 Extraordinarius am II. Zoologischen Institut der Universität Wien, dessen Bruder, den Physiker Karl Przibram (1878 – 1973), seit 1916 tit. außerordentlicher Professor, seit 1926 Extraordinarius für Physik an der Universität Wien12, sowie die jüngere Physikerin Marietta Blau (1894 – 1970), seit 1923 freie Mitarbeiterin am RadiumInstitut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.13 Nach alldem scheint mir jedenfalls die Frage durchaus berechtigt, wie sich diese Vielfalt an Identitäten und Lebenswegen, von Selbst- und Fremdzuschreibungen mit dem eingangs zitierten linearen Verfolgungsnarrativ vertragen soll. Dies ist eine der offenen Fragen, auf die ich am Schluss näher eingehen möchte. Noch ein Wort sei an dieser Stelle zum Stand der Forschung in diesem Themenfeld erlaubt. Ganz allgemein scheint die Literatur zum Thema Juden in den Wissenschaften in Österreich, speziell an der Universität Wien, im Vergleich zur jahrzehntelangen Beschäftigung damit im Deutschland oder zur flächendeckenden Behandlung bedeutender jüdischer Schriftsteller, Musiker und bildender Künstler im Rahmen der Forschungs- und publizistischen Industrie namens „Wien 1900“ überraschend spärlich zu sein.14 Abgesehen vom bereits 12 Zu Hans Leo Przibram vgl. Luitfried Salwini-Plawen, Przibram, Hans Leo, Neue Deutsche Biographie, 20, Berlin 2001, 751 – 752. Für biografische Angaben zu Karl Przibram und mehreren weiteren jüdischen Naturwissenschaftlern siehe R. Werner Soukup (hrsg. im Auftrag der Universität Wien), Die wissenschaftliche Welt von gestern. Die Preisträger des Ignaz-L.-Lieben-Preises 1865 – 1937 und des Richard-Lieben-Preises 1912 – 1928 (Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung, 4), Wien – Köln – Weimar 2004, hier : 263 – 266. Hans Przibram ist möglicherweise bei seiner Eheschließung 1908 zum Protestantismus konvertiert. Vgl. die Aussage seiner Tochter : Dr. Doris Baumann, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (Hrsg.): Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten. Wien 1992, 306 – 312, hier : 306. 13 Zu Marietta Blau siehe Robert Rosner und Brigitte Strohmaier (Hrsg.), Marietta Blau – Sterne der Zertrümmerung. Biographie einer Wegbereiterin der modernen Teilchenphysik (Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung, 3), Wien – Köln – Weimar 2003. 14 Dies gilt auch für die ansonsten verdienstvollen Bemühungen neueren Datums um eine Synthese der Forschung zur Kultur der „Wiener Moderne“ und der jüdischen Geschichte in Österreich. Vgl. z. B. Frank Stern und Barbara Eichinger (Hrsg.), Wien und die jüdische Erfahrung 1900 – 1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien – Köln – Weimar 2009, in dem von Wissenschaftlerinnen jüdischer Herkunft nur in einem kurzen Kapitel die Rede ist. Gleiches gilt vom Standpunkt der Wissenschaftsgeschichte: So steht beispielsweise in einer neueren, herausragenden Monografie zur Bedeutung der Naturwissenschaften im Komplex „Wien 1900“ die nicht-jüdische Wissenschaftlerdynastie der Exners im Mittelpunkt: Deborah Coen, Vienna in the Age of Uncertainty, Chicago 2008. Über jüdische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in Deutschland siehe dagegen u. v. a. Walter Grab (Hrsg.), Juden in der deutschen Wissenschaft (Beiheft zum Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 10), Göttingen 1986; Shulamit Volkov, Soziale Ursachen

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erwähnten Fall Sigmund Freuds sowie von den Vertreibungen des Jahres 1938 – zu denen es jeweils tatsächlich eine ausgedehnte Forschungsliteratur gibt15 –, werden jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gelegentlich in Einzelbiografien sowie im Rahmen allgemeiner sozialhistorischer Analysen zur Geschichte der Juden in der Habsburgermonarchie bzw. in Wien mit behandelt,16 sie scheinen aber bislang noch nicht detailliert als Gruppe für sich besprochen worden zu sein. Aus diesem Grund wie auch aufgrund des bereits genannten Stands der Grundlagenforschung im Bereich der Wissenschafts- und Universitätsgeschichte Wiens im 19. und 20. Jahrhundert kann hier noch keine grundlegende Analyse mit Anspruch auf Vollständigkeit vorgelegt werden.17 des Erfolgs der Juden in der Wissenschaft. Juden im Kaiserreich (1987), Nachdruck mit Korrekturen, in: dies., Antisemitismus als kultureller Code, München 2000, 146 – 165; dies., Juden als wissenschaftliche Mandarine (1997), Nachdruck in: dies., Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays, München 2001, 138 – 164; Ute Deichmann, Flüchten, Mitmachen, Vergessen. Chemiker und Biochemiker im Nationalsozialismus, Weinheim 2001, Kap. 1; die Beiträge im „Schwerpunkt Wissenschaftsgeschichte“ (Hrsg. Ulrich Charpa und Ute Deichmann), in: Jahrbuch des Simon Dubow Instituts, 3 (2004), 149 – 312 (darin u. a.: Mitchell G. Ash, Innovation, Ethnicity, Identity : German-Speaking Jewish Psychologists and Social Scientists in the Interwar Period, 241 – 268); Ulrich Charpa, Ute Deichmann (Hrsg.), Jews and Sciences in German Contexts: Case Studies from the 19th and 20th Centuries, Tübingen 2007. Grundlegend in verschiedener Hinsicht sind zwei neuere Dissertationen: Andreas D. Ebert, Jüdische Hochschullehrer an preußischen Universitäten (1870 – 1924). Eine quantitative Untersuchung mit biographischen Skizzen, Frankfurt am Main 2008; Aleksandra Pawliczek, Akademischer Alltag zwischen Ausgrenzung und Erfolg. Jüdische Dozenten an der Berliner Universität 1871 – 1933 (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, 38), Stuttgart 2010. Für einen interessanten Ansatz zu einer vergleichenden Betrachtung vgl. Trude Maurer, Diskriminierte Bürger und emanzipierte „Fremdstämmige“. Juden an deutschen und russischen Universitäten (Vorlesungen des Centrums für jüdische Studien, 5). Graz 2013. 15 Zum „jüdischen Freud“ vgl. Anm. 10. Zur Vertreibung 1938 nach wie vor grundlegend Friedrich Stadler (Hrsg.), Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, 2 Bde., Nachdruck: Münster 2004 (Erstmals erschienen Wien – München 1987 – 1988). Weitere Arbeiten im Themenfeld werden weiter unten zitiert. 16 Siehe hierzu nach wie vor Steven Beller, Vienna and the Jews 1867 – 1938: A cultural history. Cambridge 1989 (dt.: Wien und die Juden 1867 – 1938, Wien – Köln – Weimar 1993). Weiteres hierzu siehe unten. 17 Die im Folgenden genannten Beispiele kommen von der Philosophischen und Medizinischen Fakultät. Zur Juristischen Fakultät vgl. u. a.: Anna L. Staudacher, Zwischen Emanzipation und Assimilation. Jüdische Juristen im Wien des Fin-de-SiÀcle, in: Robert Walter, Werner Ogris und Thomas Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, 32), Wien 2009, 41 – 53; Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt (wie Anm. 10), Kap. 4; Franz Stefan Meissel, Thomas Olechowski, Ilse Reiter-Zatloukal und Stefan Schima (Hrsg.), Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht. Zur Geschichte der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zwischen 1938 und 1945 (= Juridicum Spotlight, 2), Wien 2012; Thomas Olechowski, Von Georg Jellinek zu Hans Kelsen. Ein Beitrag zur Geschichte der Staatsrechtslehre an der Universität Wien, in: Oliver Rathkolb und Elisabeth Röhrlich (Hrsg.), Wien um 1900: Migration und Innovation in Wissenschaft und Kultur, Wien 2013, im Druck.

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III.

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In der späten Habsburgermonarchie

Nun wende ich mich der Monarchie zu. Den Kontext stellen zwei Entwicklungen dar : einerseits die Herausbildung einer deutsch-österreichischen Nation nach 1848, zunächst als supranationalen Staatsnation, dann – nach der Schaffung der Doppelmonarchie 1867 – als eigenständiges Gebilde in Cisleithanien, und die Frage nach der Bedeutung der Wissenschaften in diesem Rahmen;18 andererseits die Möglichkeiten und Grenzen des Ein- und Aufstiegs von Juden in den Wissenschaften nach der Gewährung der bürgerlichen Rechte an sie im Jahre 1867 sowie nach der Aufhebung des Konkordats mit dem Heiligen Stuhl 1870. Zum ersten Aspekt sei hier nur so viel festgehalten: Für Wissenschaftler der Monarchie außerhalb Deutsch-Österreichs, also im übrigen Cisleithanien und in Ungarn, stand eine Loyalitätsfrage im Mittelpunkt, ob sie nun Juden waren oder nicht: Bin ich ein Sohn meines Vaterlandes als Kulturnation, bin ich Teil der wie auch immer definierten internationalen Wissenschaft oder beides zugleich? Damit verwandt war eine Verfahrensfrage: Sollte man dieselben Inhalte in der eigenen Sprache und auf Deutsch veröffentlichen, oder sollte man die für wichtiger gehaltenen Beiträge nur in der damals tonangebenden Sprache, also Deutsch, publizieren? Für Juden im deutschsprachigen Teil der Monarchie, beispielsweise in der Hauptstadt Wien, die Wissenschaftler sein oder werden wollten, stellte sich das Sprachenproblem hingegen nicht. Vielmehr schien es für sie oberstes Gebot zu sein, sich in die deutsche Wissenschaftskultur einzugliedern, wie das auch viele Juden in den sogenannten „freien“ Berufen wie Schriftsteller und Journalisten taten. Jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler taten dies allerdings auf sehr unterschiedliche Weise. Hier stand eher die Frage im Vordergrund, ob diese Akkulturationsstrategie mit Erfolg gekrönt werden würde.

1.

Die ersten Berufungen vor, während und nach dem „liberalen Ära“

Bereits 1848 wurde Jakob Goldenthal als Privatdozent für Hebräisch und „rabbinische Sprachen“ in Wien habilitiert, 1849 erhielt er den Titel eines außerordentlichen Professors.19 Zu jener Zeit und insbesondere nach Abschluss des Konkordats 1855 kam es jedoch nicht zur Ernennung eines ordentlichen Professors jüdischer Konfession. Goldenthal wurde von der Philosophischen Fa18 Vgl. hierzu und zu den folgenden Ausführungen die Beiträge in: Mitchell G. Ash und Jan Surman (Eds.), The Nationalization of the Sciences in the Habsburg Empire (1848 – 1918), Basingstoke 2012. 19 Jan Surman, Habsburg Universities: Biography of a Space. Phil. Diss. Universität Wien, Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät, Wien 2012, 360, Anm. 710.

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kultät in den Jahren 1860 und 1868 hierfür vorgeschlagen, vom Ministerium aber beide Male abgelehnt, angeblich wegen zu niedriger Studentenzahlen.20 Nach der Verkündung des Grundrechtskatalogs von 1867, welcher die Gleichstellung der Konfessionen hinsichtlich der Bürgerrechte festschrieb, vor allem aber nach der Kündigung des Konkordats 1870 sollte sich dies ändern. Als Beispiel sei hier Adolf Lieben (1836 – 1914) genannt, seit 1875 ordentlicher Professor für Chemie und Direktor des 2. Chemischen Instituts an der Universität Wien.21 Spross einer bedeutenden Handels- und Bankiersfamilie, konnte sich Lieben bereits 1861 an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien habilitieren. Im selben Jahr wurde Hermann Zeissl als erster Jude zum außerordentlichen Professor an der Medizinischen Fakultät ernannt.22 Doch wusste Lieben selbst, wie er in späteren autobiografischen Reflexionen festhielt, dass „unter der Herrschaft des Concordates die Erreichung einer Professur in Österreich für mich als Juden ziemlich aussichtslos war“.23 So ging er 1862 nach Paris und wurde von dort aus – zu seiner Überraschung – 1865 nach Palermo und anschließend 1867 nach Turin berufen. Die feindliche Stimmung, die ihm dort zunächst wegen des eben zu Ende gegangenen österreichisch-italienischen Krieges entgegenschlug, konnte er durch die Klarheit und hohe Kompetenz seines Vortrags überwinden. Erst 1871 – also nach Aufhebung des Konkordats – wurde er zunächst nach Prag und dann 1875 nach Wien berufen. Auf seine Veranlassung hin hatte sein Vater, der Bankier Ignaz Lieben, bereits 1863 einen Preis an der Akademie der Wissenschaften in Wien gestiftet, der in der Folge zunächst zweijährlich, dann jährlich an junge Wissenschaftler oder Wissenschaftlerinnen vergeben wurde, von denen es mehrere, wie Fritz Pregl, Viktor Hess, Otto Loewi, Karl von Frisch oder Lise Meitner, zu großem wissenschaftlichen Ruhm bringen sollten. Auch das gehörte zum goldenen Zeitalter des jüdischen Mäzenatentums im Wien jener Zeit.24 Die Ernennung Liebens und anderer jüdischer Wissenschaftler zu Professoren ab 1875 bedeutete aber keinesfalls das Ende der bis dahin geltenden antisemitischen Berufungspraxis; davon wird sogleich mehr zu sagen sein.

20 Ebd., 361. 21 Zur Ernennung zum ordentl. Professor, zur Laufbahn und zur Forschung Liebens vgl. Robert Rosner, Chemie in Österreich 1750 – 1914. Lehre, Forschung, Institute (Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, 5) Wien – Köln – Weimar 2004. 22 Surman, Habsburg Univiersities (wie Anm, 19), 361. 23 Adolf Lieben, Erinnerungen an meine Jugend- und Wanderjahre, Sonderdruck aus: Adolf Lieben. Festschrift zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum und zum siebzigsten Geburtstag, Leipzig 1906, hier : 7 – 8. 24 Zur Geschichte und den Preisträgern des Lieben-Preises siehe Soukup, Die wissenschaftliche Welt von gestern (wie Anm. 12).

102 2.

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Umstrittene Wissenschaftsstile – die Billroth-Debatte und die Zeit danach

Im Jahr nach der Ernennung Adolf Liebens kam es zu einem Ereignis, das schon damals und seither als Zeichen der Wende vom Liberalismus zum deutschnationalen Antisemitismus begriffen wird. Gemeint ist der durch die Publikation der Schrift „Über das Leben und Lernen der medizinischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation nebst allgemeinen Bemerkungen über Universitäten: eine kulturhistorische Studie“ des Chirurgieprofessors Theodor Billroth 1876 ausgelöste Skandal.25 In dieser Veröffentlichung stellte Billroth die wissenschaftlichen Fähigkeiten und damit das akademische Potenzial der jüdischen Medizinstudenten aus den östlichen Provinzen der Monarchie, vor allem aus Galizien und der Bukowina, aufgrund ihres angeblich andersartigen Bildungshintergrunds grundsätzlich infrage. Billroth wurde bekanntlich von den deutsch-nationalen Studenten als Held gefeiert; wichtig für uns ist es aber, in Erinnerung zu rufen, dass es auch starke Gegenstimmen gegeben hat. Als Beispiel dafür zitiere ich die Stellungnahme des Regierungsrats und Assessors Ferdinand Horn: „Sie erklären, Herr Hofrat, dass Sie nicht wünschen, mit den modernen Judenschimpfern zusammengeworfen zu werden. Aber gestatten Sie mir, Ihnen hierauf zu bemerken, dass gerade Sie Ihren Gesinnungen gegen Ihre jüdischen Mitbürger in viel grausamerer Weise Ausdruck geben, als dies sonst zu geschehen pflegt. Sie entziehen denselben sozusagen das Heimatrecht auf deutschem Boden und im deutschen Volke … So lassen Sie mich Ihnen denn erklären, dass ich Ihnen nie und nimmer das Recht einräumen werde, mich in meinem Vaterlande zum Fremdling zu machen“.26

Interessanterweise fühlte sich Billroth von den deutschnationalen Studierenden missverstanden. In seiner Antwort auf eine lobende Adresse ihres „Lesevereins“ (dem damals übrigens auch Sigmund Freud und Victor Adler angehörten) betonte er, dass er Studenten aus ärmlichen Verhältnissen nur „vor Trübsal bewahren“ wollte und seine Schrift zwar schon vom (kultur)nationalen, aber nicht von einem politischen oder konfessionellen Standpunkt aus verfasst habe.27 In den 1890er-Jahren zählte er sogar zu den Proponenten des von Bertha von Su25 Theodor Billroth, Über das Leben und Lernen der medizinischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation nebst allgemeinen Bemerkungen über Universitäten: eine kulturhistorische Studie, Wien 1876 (erstmals erschienen Berlin 1875). 26 Offener Brief an Herrn Hofrath Dr. Theodor Billroth von Dr. Ferdinand Horn, Hof- und Gerichtsassessor in Wien 1876, zit. nach Felicitas Seebacher, Das Fremde im „deutschen“ Tempel der Wissenschaften. Brüche in der Wissenschaftskultur der Medizinischen Fakultät der Universität Wien, Wien 2010, 117 – 118. 27 Theodor Billroth, Antwort auf die Adresse des Lesevereines (1875), 9, 11, zit. nach Seebacher, Das Fremde (wie Anm, 26), 116 – 117.

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ttner ins Leben gerufenen „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“; 1893 wurde er zu dessen Ehrenmitglied gewählt!28 Dass dieser Streit um die zunehmend völkisch bestimmte Nationalisierung von Wissenschaftsstilen kein Unikum war und sich die Lage gegen Ende des Jahrhunderts noch weiter verschärfte, zeigt die Auseinandersetzung um die didaktischen Methoden des jüdischen Professors für Experimentelle Pathologie Salomon Stricker in den 1890er-Jahren. Auch Stricker musste im Jahr 1892 Tumulte deutschnationaler Studenten in seiner Vorlesung erleben. Allerdings intervenierte der damalige Dekan der Medizinischen Fakultät, Julius WagnerJauregg: Die Tür zum Hörsaal wurde verschlossen und die Studierenden mussten mit Handschlag versichern, die Vorlesung nicht zu unterbrechen. Das taten sie auch; somit konnte die Autorität der Ordinarien an der Universität im Sinne ihrer Lehrfreiheit – noch – gesichert werden.29

3.

Um 1900 – Mobilität und ihre Grenzen

Im Rahmen seiner groß angelegten Dissertation mit dem Titel „Habsburg Universities: Biography of a Space“, die letztes Jahr in Wien approbiert wurde, geht Jan Surman u. v. a. der Frage nach der Mobilität der Hochschullehrenden Cisleithaniens von 1848 bis 1918 nach und bezieht dabei die Rolle der Konfession mit ein.30 Leider war es ihm mangels Statistiken in den Ministerialakten oder zuverlässiger Angaben in den Personalbögen nicht möglich, eine Gesamtübersicht über die Anteile von Juden (oder Protestanten) unter den Lehrenden bzw. der Professorenschaft zu erstellen, wie dies Andreas Ebert für die preußischen Universitäten zu jener Zeit, jedenfalls für die einzelnen Fakultäten, tun konnte.31 Wie andere vor ihm – und wie Ebert für Preußen – verweist auch er auf die „gläserne Decke“, die jüdischen Wissenschaftlern in der Monarchie nach der 28 Vgl. Felicitas Seebacher, „Der operierte Chirurg.“ Theodor Billroths Deutschnationalismus und akademischer Antisemitismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 54 (2006), 317 – 338, hier : 335. Als weitere Ironie der Zeit sei hier kurz angemerkt, dass während die Arbeitsweise Billroths als „deutsch“ und daher „international“ proklamiert wurde, die Tradition seines Kollegen und Inhabers des zweiten Chirurgielehrstuhls, Johann von Dumreicher, als „österreichisch“ galt. Für detaillierte Studien der diskursiven Nationalisierung der Chirurgie und Anatomie in Wien siehe Tatjana Buklijas, Surgery and national identity in late-nineteenth century Vienna, Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences, 38 (2007), 756 – 774; dies., The Politics of Anatomy in Fin-de-Siecle Vienna, in: Ash und Surman (Eds.), Nationalization (wie Anm. 18), 209 – 244. 29 Seebacher, Das Fremde (wie Anm. 26), 337. Wie Seebacher ausführt, vermischten sich in diesem Fall ein Generationskonflikt Strickers mit dem seit Jahrzehnten amtierenden Professor für Anatomie und Physiologie Ernst Brücke und die Nationalitätenfrage. 30 Zum Folgenden vgl. Surman, Habsburg Universities (wie Anm. 19), insbes. Abs. 4.2.3. 31 Vgl. Ebert, Jüdische Hochschullehrer (wie Anm. 14).

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Habilitation bzw. der Ernennung zum außerordentlichen Professor vor der letzten Karrierestufe, also der ordentlichen Professur, anscheinend eingezogen wurde.32 Surman spricht des Weiteren von einer „unsichtbaren Gettomauer“, die jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nur dort Chancen gewährte, wo sie bereits am zahlreichsten vertreten waren, nämlich in Wien und Prag, was ihre Aufstiegschancen noch stärker schmälerte.33 Er belegt zudem aus dem eigenen Aktenstudium, dass man im Ministerium zu jener Zeit sehr wohl Überlegungen darüber anstellte, ob jemand „jüdischer Konfession“ in einem gegebenen Fach an einer gegebenen Hochschule gut platziert war. So wurde der Historiker Alfred Przibram 1899 explizit wegen seiner Konfession verhindert; erst 1913 erhielt er ad personam eine Professur in Wien.34 Ein Beispiel, noch einmal aus der Chemie, soll konkreter zeigen, was hier gemeint ist: So berichtet Robert Rosner, dass Josef Herzig, ein aus Galizien stammender Chemiker, 1893 zwar für die Verleihung des Titels eines außerordentlichen Professors vorgeschlagen wurde, trotz ausgezeichneter Qualifikation aber vorerst nicht zum Zug kam. Der Vorschlag wurde u. a. vom Mineralogen Gustav Tschermak abgelehnt, der angab, die Leistungen Herzigs für nicht hinreichend zu beurteilen; Tschermak bezog allerdings konsequent gegen die Ernennung jüdischer Professoren Stellung.35 1897 wurde Herzig dennoch zum außerordentlichen Professor ernannt und kurz darauf mit der provisorischen Leitung des 1. Chemischen Instituts bis zur Ernennung Rudolf Wegscheiders 1902 betraut. Für diese Professur kam aber nach der Darstellung Rosners weder Herzig selbst noch Guido Goldschmiedt, der von der Fakultät ex aequo mit zwei anderen Kandidaten an erster Stelle gereiht wurde, infrage, weil das Ministerium neben Adolf Lieben nicht auch noch die zweite Professur für Chemie mit einem Juden besetzen wollte.36 Rosner berichtet übrigens auch, dass der deutsche Physikochemiker Fritz Haber sich um eine Stelle in Österreich bemüht habe, doch, wie er an einen Kollegen schrieb: „Man will an hervorragenden Stellen keinen Juden oder getauften Juden.“37 In der zuvor zitierten Dissertation berichtet Jan Surman unter Bezugnahme auf die nach wie vor grundlegende sozial- und kulturhistorische Arbeit Steven Bellers allerdings auch, dass die Zahl der ordentlichen Professoren jüdischer 32 Bereits vor längerer Zeit hat Michael Hubenstorf auf die langen Wartezeiten bis zur Ernennung zum außerordentlichen Professor – zumindest in der Medizin – hingewiesen. Michael Hubenstorf, Vertriebene Medizin – Finale des Niedergangs der Wiener Medizinischen Schule?, in: Stadler (Hrsg.), Vertriebene Vernunft (wie Anm. 15), Bd. II, 766 – 793. 33 Surman, Habsburg Universities (wie Anm. 19), 368. 34 Ebd., 367. 35 Rosner, Chemie in Österreich (wie Anm. 21), 232 – 233. 36 Ebd., 232. 37 Zit. nach Rosner, ebd., 233.

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Herkunft an der Wiener Universität Ende des 19. Jahrhunderts mit ca. 10 Prozent dem Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung der Stadt durchaus entsprach; ihr Anteil unter den habilitierten Lehrenden im Jahre 1910 insgesamt war jedoch weit höher – 51,2 Prozent an der Medizinischen, 37,5 Prozent an der Juristischen und 21,6 Prozent an der Philosophischen Fakultät. Der Anteil der Studierenden jüdischer Herkunft schwankte – jedenfalls in der Medizin – zwischen 25 und 33 Prozent.38 Den seit Jahrzehnten bekannten Ergebnissen für das deutsche Kaiserreich zu jener Zeit folgend, können und sollen diese Angaben meiner Meinung nach auch als Indizien der zunehmenden Verbürgerlichung der Juden in Wien, wie in Preußen zur selben Zeit, begriffen werden. Was es mit dieser Verbürgerlichung im inhaltlichen Sinn konkret auf sich gehabt haben mag, war Ende der 1990er-Jahre Gegenstand einer Debatte zwischen dem großen Kunstpsychologen Ernst Gombrich und dem genannten Historiker Steven Beller. Beller hatte in seiner Sozial- und Kulturgeschichte der Juden Wiens von 1867 bis 1938 von einem „jüdischen Beitrag“ zur Kultur der „Wiener Moderne“ gesprochen und die These vertreten, dass die starke Beteiligung von Juden an diesem Phänomen eine Antwort auf Dilemmata der Assimilierung gewesen sei. Es sei ihnen möglich gewesen, sich derart kreativ einzubringen, weil sie aufgrund ihrer talmudischen Bildung bzw. durch die Hinwendung der Aufgeklärten unter ihnen zur Haskalah kulturelle Ressourcen in der Hand hatten, über die andere ethnische Gruppen im damaligen Wien nicht verfügten.39 Mit kaum verhohlener Wut lehnte Gombrich die Behauptung, die Kultur der Wiener Moderne sei „jüdisch“ gewesen, als „megaloman“ und „eine Umkehrung der Behauptungen der Antisemiten“ ab. Vielmehr sei Goethe für seine Generation prägend gewesen; „diese Mitglieder des Bürgertums haben es für selbstverständlich genommen, dass Kultur – oder Bildung – keine jüdische Tradition, sondern die Tradition des deutschen Humanismus war.“40

38 Beller, Vienna and the Jews (wie Anm. 16), 36; vgl. Surman, Habsburg Universities (wie Anm. 19), 363. Wie Surman allerdings feststellt und auch Beller offenlegt, hat Letzterer sich mangels direkter Personalangaben einer indirekten Zählmethode bedient, deren Zielgenauigkeit fraglich erscheint. Seine Zahlenangaben sind daher mit Vorsicht zu betrachten, sie sind aber die einzigen, über die wir derzeit verfügen. Vgl. dazu auch in diesem Band S. 277 – 315. 39 Beller, Vienna and the Jews (wie Anm, 16), Part I, insbes. Kap. 4, 43 – 70 (dt. Ausgabe: 42 – 81). 40 Ernst H. Gombrich, The visual Arts in Vienna c. 1900. Reflections on the Jewish Catastrophe. Austrian Cultural Institute. Occasions. The Austrian Cultural Institute, London, 17. November 1996, vol. 1; dt.: Jüdische Identität und jüdisches Schicksal. Eine Diskussionsbemerkung. Mit einer Einleitung von Emil Brix und einer Diskussionsdokumentation von Frederick Baker, Wien 2001. Die Zitate sind dem englischsprachigen Original entnommen (und übersetzt), das als PDF-Datei im Internet verfügbar, aber leider nicht paginiert ist. Gombrich reagiert hier nicht direkt auf Bellers „Vienna and the Jews“, das er zu jenem Zeitpunkt vermutlich noch nicht kannte, sondern auf eine pointierte Fassung der Thesen

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Ironischerweise exemplifizierte Gombrich gerade durch solche Hinweise in einer gewissen Hinsicht das Argument Bellers. Denn dieses besagt, dass die bedeutenden Beiträge so vieler Menschen jüdischer Herkunft zur Wiener Moderne als Ergebnisse einer überaus erfolgreichen Assimilierung (heute würde es heißen: Akkulturierung) zu begreifen sind. Viele der oben genannten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren Kinder der Wirtschaftselite oder des gehobenen Mittelstands, besuchten die „besten“ Schulen, wurden „überkonfessionell“ erzogen, wie es sich im liberalen Bürgertum gehörte – und waren gerade deshalb in der Lage, sich kreativ, zum Teil brillant einzubringen. Sie hatten sich die Kultur des deutschen Bildungsbürgertums (bis hin zum Kulturprotestantismus) so sehr angeeignet und waren durch den entsprechenden Denkstil derart geprägt, dass sie vom Judentum nur als Religion etwas wissen wollten und die Zugehörigkeit zu dieser zugunsten der Mitgliedschaft in einer allgemein und „objektiv“ gedachten, tatsächlich aber durch eben diesen Denkstil geprägten Wissenschaft und Kultur von sich wiesen. Im Falle Gombrichs handelte es sich um die Wiener Schule der Kunstgeschichte, von deren prominentesten Mitgliedern tatsächlich, wie Gombrich betont, keines jüdischer Herkunft war. Auch die Schwestern Richter, die Brüder Przibram und viele andere hier nicht Genannte gehörten dieser Elite an. Die wohlbekannte Tragik dieser Phase unserer Geschichte hat zwei Dimensionen. Sie besteht erstens darin, dass die jüdischen Zuwanderer aus den Ostprovinzen der Monarchie, die versuchten, sich an die säkularistisch-humanistischen Haltung dieser Elite zu orientieren, nicht nur von den völkischen Deutschnationalen, sondern auch von der jüdischen Elite selbst nicht ohne Weiteres angenommen wurden. Und sie besteht zweitens und vor allem darin, dass die Nichtjuden bzw. Antisemiten unter ihnen mit dieser frei gewählten Selbstzuschreibung der Elite ohnehin niemals einverstanden waren, sondern auf einer zunächst kulturnationalistischen, dann zunehmend offen rassistischen Fremdzuschreibung bestanden. Das harte Fazit formuliert Gombrich selbst mit den folgenden Worten, die ich bewusst nicht übersetzen möchte: „It took Hitler to make them [die Angehörigen der jüdischen Elite] realize their mistake.“41

IV.

Nach 1918 – Krise und Kontinuitäten

Nach den Durchbrüchen und relativen Erfolgen wie auch Misserfolgen jüdischer Hochschullehrer an der Universität Wien zur Zeit der späten Monarchie stellt Bellers in einem kurzen Artikel: Steven Beller, Was bedeutet es, „Wien 1900“ als eine jüdische Stadt zu bezeichnen?, in: Zeitgeschichte, 23 (1996), 274 – 280. 41 Gombrich, The visual arts in Vienna (wie Anm. 40).

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sich nun die Frage nach den noch verbliebenen Grenzen einer scheinbar liberalen Meritokratie sowie nach den weiteren sich abzeichnenden Wandlungen, nachdem der Monarch als Garant der Rechte der Juden nicht mehr vorhanden war. Als Beispiel für die Grenzen des Aufstiegs, die am Ende der Monarchie noch gegeben waren, sei der Pathologe Karl Landsteiner genannt. Dieser wurde 1911 – nur acht Jahre nach seiner Habilitation – zum außerordentlichen Professor ernannt, blieb aber hauptberuflich Prosektor am Wiener Wilhelminenspital. Nachdem er 1919 die Leitung der Prosektur eines kleinen Krankenhauses in Den Haag übernommen hatte, ging er 1922 in die USA, wo er zum Professor am Rockefeller Institute in New York aufstieg.42 Seine Entscheidung auszuwandern mag als Beleg für die von Michael Hubenstorf bereits in den 1980er-Jahren aufgestellte These gelten, dass die Geschichte der WissenschaftsEmigration aus Österreich nicht erst 1934 oder 1938, sondern bereits viel früher begann.43 Wer in Wien blieb, sah sich nicht zuletzt wegen der wiederholten Agitation deutschnationaler Studenten mit einer zunehmend aggressiven Stimmung konfrontiert.44 Über die Auswirkungen dieser Spannungen auf die Habilitationsund Berufungspraxis an der Wiener Universität hat Klaus Taschwer in mehreren Zeitungsbeiträgen und einem Aufsatz neuerdings berichtet. In diesen Texten weist er auf die Machenschaften des deutschnationalen Paläontologen Othenio Abel hin, den er als Anführer einer konspirativ tätigen Gruppe von Professoren an der Philosophischen Fakultät schildert, die sich nach einem Seminarraum in Abels Institut „Bärenhöhle“ nannte und die Habilitation vieler jüdischer Forscher – u. v. a. auch der Philosoph Edgar Bilsel, der Physiker Karl Horovitz und der Lebenswissenschaftler Paul Weiss – zu verhindern wusste. Als weitere Angehörige dieser Gruppe nennt Taschwer unter anderen den Historiker Heinrich Ritter von Srbik und den Altphilologen und Pädagogen Richard Meister.45 42 Es mag mir erlaubt sein, anzumerken, dass einer der Kollegen Landsteiners in New York, der Pathologe Samuel James Meltzer, mein Großonkel war. 43 Hubenstorf, Vertriebene Medizin (wie Anm. 32), 776 (hier am Beispiel der Dermatologie). 44 Vgl. im Überblick Herbert Posch, Studierende und die Universität Wien in der Dauerkrise 1918 bis 1938, in: Herbert Posch, Doris Ingrisch, Gert Dressel (Hrsg.), „Anschluss“ und Ausschluss 1938. Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität (Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur zeitgeschichten Kultur- und Wissenschaftsforschung), Münster 2008, Kap. 2, 61 – 97, sowie die dort zitierte Literatur. Dass diese Ausschreitungen keineswegs auf die Universität Wien begrenzt waren, hat Paulus Ebner in seiner Dissertation über die Hochschule für Bodenkultur gezeigt: Paulus Ebner, Die Hochschule für Bodenkultur als Ort der Politik 1914 – 1945, Wien – Köln – Weimar 2002. 45 Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus, in: Der Standard, 13. Juni 2012; OnlineAusgabe (12. Juni) http://derstandard.at/1338559407873/Universitaet-Wien-Hochburg-desAntisemitismus (abgerufen 28. 02. 2013); ders., Kämpfer gegen die „Verjudung“ der Universität, in: Der Standard, 10. Oktober 2012, Printausgabe, 15; ders., Geheimsache Bärenhöhle. Wie eine antisemitische Professorenclique der Universität Wien nach 1918 wissen-

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Mit alldem ist Taschwer ein genuiner Vorstoß in universitätsgeschichtliches Neuland gelungen. Gleichwohl sind noch mehrere Fragen offen, z. B. die Frage, ob und wie sich derartige konspirative Professorenzirkel an den anderen Fakultäten der Universität Wien entfalten konnten. Selbst für die Philosophische Fakultät bleibt noch unklar, wie viele der an dieser Fakultät zwischen 1918 und 1934 insgesamt 173 Habilitierten jüdischer Konfession oder Herkunft waren. Offenbar waren Habilitationen wie auch Berufungen für jüdische Wissenschaftler zumindest in einigen Bereichen der Philosophischen Fakultät trotzdem möglich, z. B. in der Mathematik und vor allem der Chemie, wie die hohe Zahl der Vertriebenen des Jahres 1938 aus diesen Fächern zeigt (siehe unten). Im Falle der Chemie mag dies wenigstens teilweise auf die Wirkung von Ernst Späth zurückzuführen sein, der seit 1924 ordentlicher Professor für Chemie und Vorstand des 2. Chemischen Instituts, anscheinend kein Antisemit und zur Aufrechterhaltung meritokratischer Standards gewillt war. Darüber hinaus zeigt das ebenfalls von Taschwer gebrachte Beispiel der öffentlichen Kontroversen um die Habilitation des Physikers Otto Halpern, die sich von 1925 bis 1932 hinzog, dass derartige Praktiken nicht ohne öffentlichen Widerspruch vor sich gingen.46 Die Bekanntheit solcher Begebenheiten mag bei der Herausbildung extensiver teil- und außerakademischer Strukturen und Zirkel verschiedenster Art, die sich bereits vor 1914 zu formieren begannen und im sozialwissenschaftlichen Jargon als „Nischen“ innovativen Denkens und Handelns zu nennen wären, in der Tat eine Rolle gespielt haben. Bereits bekannte und gut erforschte Beispiele sind die Kreise um Wilhelm Jerusalem in der Soziologie und Ludwig von Mises in den Wirtschaftswissenschaften, die um Freud organisierte Psychoanalyse, die um Alfred Adler zentrierte Individualpsychologie sowie der sich um den Philosophieprofessor Moritz Schlick und den Mathematikprofessor Hans Hahn formierende, aber weitgehend außeruniversitär tätige Wiener Kreis in Philosophie und Wissenschaftstheorie.47 Man könnte denken –und einige von uns

schaftliche Exzellenz vertrieb, in: Alma mater antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918 und 1939, Wien, im Druck. Ich danke Klaus Taschwer für die Einsichtnahme in sowie den ausführlichen, offenen und sachlichen Austausch über den zuletzt genannten Text. 46 Klaus Taschwer, Der verlorene Schlüssel des Otto Halpern, in: Der Standard, Online-Ausgabe, 31. Oktober 2012, http://derstandard.at/1350259804295/Der-verlorene-Schluesseldes-Otto-Halpern (abgerufen 28. 02. 2013). 47 Zur Rolle solcher Zirkel in den Sozial- und Geisteswissenschaften siehe Christian Fleck, Aus Österreich emigrierte Sozialwissenschaftler. Überblick und Stand der Forschung, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 17 (1994), 1 – 16; ders., Emigration of Social Scientists’ Schools from Austria, in: Mitchell G. Ash und Alfons Söllner (Eds.), Forced Migration and Scientific Change: German-Speaking Scholars and Scientists after 1933. Cambridge and New York 1995, 198 – 223; Johannes Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933 – 1945, Frankfurt am Main 2001, Kap. 6 – 7.

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haben es auch geschrieben: Weil ihnen die Universität als Hochburg der Klerikalen und Deutschnationalen verschlossen blieb, seien Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jüdischer Herkunft von dort ausgewichen. Das mag in vielen Fällen stimmen, aber ist es wirklich die ganze Geschichte? Neben dem Weiterwirken der in der Monarchie ernannten Lehrenden – wie des bereits erwähnten Musikwissenschaftlers Guido Adler48 – und ihrer Schüler ist beispielsweise an das 1922 gegründete und von Karl und Charlotte Bühler geleitete Psychologische Institut zu denken. Denn sehr viele der Schüler und Mitarbeiterinnen der Bühlers waren jüdischer Herkunft, wie Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda, oder jüdischer Konfession, wie Else Frenkel (später als Else Frenkel-Brunswik Mitautorin des klassischen Werkes „The Authoritarian Personality“).49 Dass es also selbst an der Philosophischen Fakultät Orte gab, an denen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jüdischer Herkunft qualifizieren und forschen konnten, steht damit fest. Die vielleicht brisanteste offene Frage bei der Betrachtung dieser turbulenten Zeit ist die weiter oben bereits kurz angedeutete: Wenn es zu jener Zeit eine derart kontinuierliche antijüdische Diskriminierung an den Fakultäten, insbesondere der Philosophischen, gegeben haben soll – und daran ist nicht zu zweifeln –, warum war der Verlust durch Vertreibungen im Jahre 1938 an der Wiener Universität dann so groß? Damit kommen wir nun endlich zu den allseits bekannten großen Umbrüchen und Einschnitten dieser Geschichte.

V.

1934/1938 – Ein kleiner und der große Einschnitt

Nach dem Machtübernahme durch Engelbert Dollfuß 1933 und vor allem dem Bürgerkrieg und dem endgültigen Wechsels zur Diktatur 1934 kam es sehr wohl zu politischen Entlassungen im engeren Sinne und diese mögen – beispielsweise die Entlassung und kurzzeitige Festnahme Julius Tandlers50 – mit antisemitischen Ressentiments gekoppelt gewesen sein. Systematische Amtsenthebungen Zum „Wiener Kreis“ siehe Friedrich Stadler, Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, Frankfurt am Main 2001. 48 Der Lehrstuhl von Guido Adler wurde nach seiner Emeritierung gegen seinen ausdrücklichen Protest 1927 mit dem Bärenhöhlen-Teilnehmer und Antisemiten Robert Lach nachbesetzt. Vgl. Gerhard Oberkofler, Über das musikwissenschaftliche Studium von Georg Knepler an der Wiener Universität. www.klahrgesellschaft.at/Mitteilungen/Oberkofler_3_06.html (Abrufdatum 01. 05. 2013). Mit Dank an Klaus Taschwer. 49 Zu Else Frenkel(-Brunswik) und dem Kreis um die beiden Bühlers vgl. neben Benetka, Psychologie in Wien (wie Anm. 6), Dietmar Paier, Einleitung, in: Else Frenkel-Brunswik, Studien zur autoritären Persönlichkeit. Ausgewählte Schriften, hrsg. und eingeleitet von Dietmar Paier, Graz – Wien 1996, 7 – 72. 50 Vgl. hierzu Löscher, Julius Tandler (wie Anm. 3), 103.

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allein aufgrund der vermeintlichen oder tatsächlichen Zugehörigkeit zum Judentum scheint es unter den Lehrenden der Universität Wien jedoch nicht gegeben zu haben. Es waren eher politische Entlassungen im engeren Sinne, wie die von Tandler, und Auswanderungen der Jüngeren mit sozialistischem Hintergrund, wie Paul Lazarsfeld.51 Die gezielte Vertreibung der sozialistischen Widerstandskämpferin Marie Jahoda nach ihrer Festnahme in einer Razzia an der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle des Wiener Psychologischen Instituts im November 1936 war eine seltene Ausnahme.52 Eine Einschätzung, die jedenfalls in der älteren Generation der jüdischen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, wie im jüdischen Bürgertum überhaupt, verbreitet gewesen sein dürfte, formulierte Sigmund Freud unmittelbar nach der endgültigen Besiegung der Wiener Sozialdemokratie durch das Dollfuß-Regime in einem Brief an Ernst Freud schon am 20. Februar 1934: „Die Zukunft ist ungewiss: entweder ein österreichischer Faschismus oder das Hakenkreuz. Im letzteren Falle müssen wir weg: vom heimischen Faschismus wollen wir uns einiges gefallen lassen, da er uns kaum so schlecht behandeln wird wie sein deutscher Vetter. Schön wird er auch nicht sein.“53 Wie wir wissen, hat Freud mit dieser von Ironie und Resignation geprägten Einschätzung der österreichischen Diktatur nicht ganz geirrt. Deshalb konnten sich viele (nicht nur jüdische) Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, und nicht nur die Psychoanalytiker unter ihnen, noch jahrelang in Österreich einrichten. Charlotte Bühler gab Vergleichbares in ihrer Autobiografie selbstkritisch zu Protokoll, wenn sie über ihre Aufenthalte 1935 in den USA, England und Frankreich schreibt: „Leider lauschte ich nicht auf die Warnungen deutscher ausgewanderter Kollegen.“ Zwei Jahre später, als sie und ihr Mann Rufe an die Fordham University in New York erhielten, wollte sie annehmen: „(…) diesmal war jedoch Karl abgeneigt, weil er inzwischen in Wien festen Boden gefasst hatte und hoffte, dass sich Österreich gegen Hitler halten würde.“ Als die beiden dann 1938 zur Emigration gezwungen wurden, standen diese Stellen aus noch ungeklärten Gründen nicht mehr zur Verfügung.54 51 Paul Lazarsfeld, Eine Episode in der Geschichte der empirischen Sozialforschung, in: Soziologie Autobiographisch. Drei kritische Berichte zur Entwicklung einer Wissenschaft, Stuttgart 1975, 147 – 225. 52 Nach internationalen Interventionen wurde Jahoda 1937 zwar wegen Hochverrats vor Gericht gestellt und verurteilt, danach aber unter der Auflage enthaftet, das Land sofort zu verlassen; vgl. Jahoda, „Ich habe die Welt nicht verändert“ (wie Anm. 9); Benetka, Psychologie in Wien (wie Anm. 6), 259 – 260. 53 Sigmund Freud, Brief an Ernst Freud, 20. 2. 1934, in: ders., Briefe 1873 – 1939, Frankfurt am Main 1968, 434. 54 Charlotte Bühler, Selbstdarstellung (wie Anm. 6), 28; vgl. hierzu Mitchell G. Ash, Österreichische Psychologen in der Emigration: Fragestellungen und Überblick, in: Stadler (Hrsg.), Vertriebene Vernunft (wie Anm. 15), Bd. II, 252 – 267, hier : 255 – 256.

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Ab März 1938 erfolgte dann das, was Friedrich Stadler zu Recht als die Zerschlagung einer Wissens- und Wissenschaftskultur beschrieben hat.55 An der Universität Wien wie in anderen staatlichen Bereichen potenzierten sich die Verluste im Vergleich zu den reichsdeutschen Universitäten seit 1933 aufgrund der Zusammenwirkung zweier Gesetze, die nun auch in der „Ostmark“ Gültigkeit erlangten. Das Berufsbeamtengesetz, welches in der „Ostmark“ durch die „Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums“ des Reichsministers des Innern vom 31. Mai 1938 Gültigkeit erlangte, schloss bekanntlich „Nichtarier“ und politisch Unerwünschte – im Falle Wiens waren das vor allem Anhänger der vorherigen österreichischen Diktatur – aus dem Staatsdienst aus. Das „Gesetz zum Schutz des Deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ von 1935 sprach „Nichtariern“ auch noch die Reichsbürgerschaft ab; auf dieser Grundlage ging man in Wien nun auch gegen sogenannte „jüdisch Versippte“ vor. Die eifrige Zuarbeit von eilends herbeigeeilten Führungskräften vor Ort wie dem „kommissarisch“ ernannten Rektor Fritz Knoll und den ebenfalls „kommissarisch“ eingesetzten Dekanen Viktor Christian für die Philosophische und Eduard Pernkopf für die Medizinische Fakultät tat ein Übriges. Durch ihre Mitwirkung entließ der damals noch amtierende österreichische Unterrichtsminister und Professor für Ur- und Frühgeschichte Oswald Menghin bereits am 22. April 1938, also noch vor Einführung des Berufsbeamtengesetztes, 252 Universitätslehrende. Noch früher schon hatte Knoll, nachdem er am 22. März mehrere Professoren auf den „Führer“ vereidigt hatte, vermeldet: „Der Rohbau der inneren Organisation der Universität ist fertig und es läuft alles in geordneten Bahnen.“56

55 Friedrich Stadler, Die andere Kulturgeschichte. Am Beispiel von Emigration und Exil der österreichischen Intellektuellen (1930 – 1940), in: Rolf Steininger und Michael Gehler (Hrsg.), Österreich im 20. Jahrhundert. Wien 1997, Bd. 1, 499 – 558. 56 Aktenvermerk des Direktors der Universitätskanzlei Dr. Alfred Wagner vom 23. März 1938, zit. nach Kurt Mühlberger, Vertriebene Intelligenz 1938. Der Verlust geistiger und menschlicher Potenz an der Universität Wien von 1938 bis 1945, 2. verm. Aufl. Wien 1993, 8, Anm. 5. Zu diesen und den folgenden Ereignissen vgl. ausführlicher Albert Müller, Dynamische Anpassung und „Selbstbehauptung“. Die Universität Wien in der NS-Zeit, in: Geschichte und Gesellschaft, 23 (1997), 592 – 617; Brigitte Lichtenberger-Fenz, „Es läuft alles in geordneten Bahnen.“ Österreichs Hochschulen und Universitäten und das NS-Regime, in: Emmerich T‚los, Ernst Hanisch, Wolfgang Neugebauer, Reinhard Sieder (Hrsg.), NSHerrschaft in Österreich. Ein Handbuch. Wien 2000, 549 – 569. Zu den Studierenden siehe Posch, Ingrisch, Dressel (Hrsg.), „Anschluss“ und Ausschluss (wie Anm. 44). Zur herausragenden Rolle des Botanik-Professors, „illegalen“ NSDAP-Mitglieds und „kommissarisch“ eingesetzten Rektors Fritz Knoll als Vorantreiber der Entlassungen vgl. neuerdings Klaus Taschwer, Die zwei Karrieren des Fritz Knoll: Wie ein Botaniker nach 1938 die Interessen der NSDAP wahrnahm – und das nach 1945 erfolgreich vergessen machte, in: Johannes Feichtinger, Herbert Matis, Stefan Sienell, Heidemarie Uhl (Hrsg.), Die Akademie der Wissenschaften in Wien 1938 bis 1945. Wien 2013, 47 – 54.

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Betroffen waren aber nicht nur Lehrende sowie später auch zahlreiche Studierende der Wiener Universität, sondern fast alle damaligen Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und Hunderte, vielleicht gar Tausende weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler außerhalb der Hochschulen, darunter viele Angehörige der oben bereits genannten Zirkel, beispielsweise des philosophischen Wiener Kreises.57 Die große Mehrheit von ihnen flüchtete aus Wien; viele ihrer Geschichten sind in einer umfangreichen Literatur erzählt worden.58 Wenn wir allein bei der Universität Wien bleiben, so wurden nach Angaben des 1993 vom damaligen Leiter des Universitätsarchivs Kurt Mühlberger herausgegebenen Bandes „Vertriebene Intelligenz“ zwischen 1938 und 1945 insgesamt 82 Professoren (37 Prozent) und 233 Dozenten (49 Prozent), das sind 45 Prozent der habilitierten Lehrenden entlassen.59 Damit stand die Universität Wien erwartungsgemäß an der Spitze der österreichischen Universitäten; sie war aber auch sowohl hinsichtlich der Gesamtzahl der Entlassenen als auch hinsichtlich des Anteils der Entlassenen am Lehrkörper weitaus stärker betroffen als alle anderen Hochschulen des nationalsozialistischen Deutschland, inklusive Berlin.60 Hiermit bestätigt sich eine allgemeine Beobachtung, die für die reichsdeutschen Universitäten bereits festgehalten wurde: Von den Entlassungen am stärksten betroffen – in Österreich wie auch auf dem bisherigen Territorium des Deutschen Reichs – waren mit der Ausnahme Heidelbergs die Universitätsstandorte mit der größten jüdischen Bevölkerung; neben Berlin und Wien waren dies Frankfurt am Main, Breslau und Hamburg. Steigen wir jedoch von der Ebene der Gesamtuniversität ein wenig herab, so waren die Folgen der Entlassungen an der Universität Wien bei genauerem Hinsehen differenzierter, als weithin bekannt sein dürfte. Zur Veranschauli57 Zur Vertreibung der Psychoanalytiker siehe Johannes Reichmayr, „Anschluss“ und Ausschluss. Die Vertreibung der Psychoanalytiker aus Wien, in: Stadler, Vertriebene Vernunft (wie Anm. 15), Bd. I, 123 – 181; Elke Mühlleitner und Johannes Reichmayr, The Exodus of Psychoanalysts from Vienna, in: Peter Weibel und Friedrich Stadler (Eds.): Vertreibung der Vernunft. The Cultural Exodus from Austria. 2., korr. und verm. Aufl., Wien – New York 1995, 98 – 121; Elke Mühlleitner, Das Ende der psychoanalytischen Bewegung in Wien und die Auflösung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, in: Wiener Psychoanalytische Vereinigung (Hrsg.), Trauma der Psychoanalyse. Die Vertreibung der Psychoanalyse aus Wien 1938 und die Folgen, Wien 2005, 11 – 27. 58 Vgl. die Selbstzeugnisse in Stadler, Vertriebene Vernunft (wie Anm. 15), Bd. II, sowie für Biografien der Wissenschaftlerinnen Brigitte Keintzel und Ilse Erika Korotin (Hrsg.), Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken, Wien – Köln – Weimar 2002. 59 Mühlberger, Vertriebene Intelligenz (wie Anm. 55), 9. 60 Für umfassende Zahlen für 18 der damals 23 Universitäten im Deutschen Reich siehe Michael Grüttner und Sven Kinas, Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933 – 1945, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 55 (2007), 123 – 186.

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chung dieses Punktes nenne ich hier nur einige wenige Zahlen – auch auf die Gefahr hin, als eine Art Buchhalter dazustehen: Nach Fakultäten gegliedert, waren die Juristische (mit 55 Prozent des Lehrkörpers) und die Medizinische (mit 53 Prozent) am stärksten betroffen, an der Philosophischen Fakultät waren es 36,3 Prozent.61 Noch interessanter ist die starke Varianz innerhalb der Fakultäten, das heißt unter den Einzelfächern. In den Naturwissenschaften reicht die Bandbreite der Zahlen der Entlassenen von der Chemie (zehn von 20, d. h. 50 Prozent) über die Physik (neun Entlassene, d. h. 32 Prozent), die Mathematik (fünf Entlassene, d. h. 36 Prozent), die biologischen Fächer (Zoologie, Botanik, Pflanzenphysiologie) (sieben Entlassene) bis hin zur Mineralogie und Petrologie (2 Entlassene), zur Geologie und Meteorologie (jeweils ein Entlassener) sowie zur Paläontologie, dem Fach des bereits erwähnten Antisemiten Othenio Abel, wo es keinen Entlassenen gab. In den Geisteswissenschaften reicht die Skala von der Philosophie (zehn Entlassene, 13 mit Psychologie und Pädagogik) und der Geschichte (neun Entlassene) bis hin zur Völkerkunde, Kunstgeschichte, Romanistik und Germanistik (mit jeweils drei Entlassenen) und zur Archäologie und Anglistik (jeweils ein Entlassener).62 Für die Medizin hat Michael Hubenstorf bereits 1994 durchaus vergleichbare differenzierende Ergebnisse berichtet: Bei den rund 180 Entlassenen dieser Fakultät reicht die Varianzbreite unter den Einzelfächern von der Geschichte der Medizin (zwei von zwei Lehrenden) und der Neurologie und Neuropathologie (neun von zehn Lehrenden) bis hin zur Anatomie, dem Fach des oben genannten Eduard Pernkopf, mit nur einem Entlassenen von zehn Lehrenden.63 61 Mühlberger, Vertriebene Intelligenz (wie Anm. 55), 9, ergänzt durch Wolfgang L. Reiter, Das Jahr 1938 und seine Folgen für die Naturwissenschaften an Österreichs Universitäten, in: Stadler (Hrsg.), Vertriebene Vernunft (wie Anm. 15), Bd. II, 664 – 680, hier: 668. Lichtenberger-Fenz, „Es läuft alles in geordneten Bahnen“ (wie Anm. 55), 552, beruft sich auf die amtlichen Personalverzeichnisse und gibt leicht abweichende Zahlen an: Demnach wurden insgesamt 54 Prozent der ordentlichen Professoren, an der Philosophischen Fakultät 36 Prozent, an der Medizinischen Fakultät 50 Prozent und an der Juristischen Fakultät 57 Prozent der Hochschullehrer entlassen. 62 Zu den Zahlen für Chemie, Physik und Mathematik vgl. Reiter, Das Jahr 1938 und seine Folgen (wie Anm. 50) sowie ders., Die Vertreibung der jüdischen Intelligenz. Verdoppelung eines Verlustes – 1938/1945. Internationale mathematische Nachrichten, 187 (2001), 1 – 20. Die weiteren Angaben beruhen auf einer eigenen Zählung der Namen in: Mühlberger, Vertriebene Intelligenz, ohne Prozentangaben oder Berücksichtigung des Ranges der jeweils Entlassenen oder der jeweiligen Entlassungsgründe. In dieser Liste werden zwar die Namen der aus rassistischen Gründen entlassenen Lehrenden mit einem entsprechenden Vermerk „(rass.)“ versehen, doch bleibt unklar, ob die Aufzählung dieser Namen tatsächlich eine vollständige Liste der Entlassenen jüdischer Herkunft ergibt. Weiteres hierzu siehe unten. 63 Michael Hubenstorf, Ende einer Tradition und Fortsetzung als Provinz. Die Medizinischen Fakultäten der Universitäten Berlin und Wien 1925 – 1950, in: Christoph Meinel und Peter Voswinckel (Hrsg.), Medizin, Naturwissenschaft und Technik im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Stuttgart 1994, 33 – 53, hier : 37.

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Und was sagen diese trockenen Zahlen aus? Zwei Punkte seien hier diesbezüglich thesenartig vorgebracht: Erstens: Nicht alle Entlassenen waren Juden, und zwar aus zwei Gründen. Zunächst einmal war ein großer Teil von ihnen nur Juden im Sinne der rassistischen Kriterien der Nazis, also der zugeschriebenen Herkunft, aber nicht der Konfession oder der eigenen kulturellen Identität nach. Bei den derart Betroffenen muss der Schock dieser fremdbestimmten Aberkennung der eigenen Identität und der eigenen beruflichen Rechte tief gesessen haben. Es kommt aber noch hinzu, dass viele der Entlassenen auch nach der Nazi-Definition keine Juden, sondern Anhänger der Vorgängerdiktatur, also politische Entlassene im engeren Sinne waren. Die namentliche Aufzählung aller Entlassenen in der Dokumentation „Vertriebene Intelligenz“ nimmt nur teilweise eine Unterscheidung in aus rassistischen und aus politischen Gründen Entlassene vor. Daher kann derzeit das quantitative Verhältnis der aus „politischen“ Gründen im engeren Sinne Entlassenen zur Gruppe der aus rassistischen Gründen Entlassenen nur schwer herausgearbeitet werden.64 Die Zuschreibungen zum einen oder anderen Paragrafen des Berufbeamtengesetzes waren aber ohnehin nicht immer ganz eindeutig. Und es blieben auch nicht alle „politischen“ Entlassungen tatsächlich aufrecht: Richard Meister beispielsweise wurde von seiner Professur für Philosophie und Pädagogik aus politischen Gründen entfernt, fand sich aber nur wenige Monate später als Ordinarius für sein altes Fach Klassische Philologie im Lehrkörper wieder. Nun soll die weiter oben gestellte Frage noch einmal aufgegriffen werden: Wenn an der Philosophischen und vielleicht auch an anderen Fakultäten derart systematisch antisemitische Habilitations- und Berufungspraktiken verfolgt worden sein sollten, wie Klaus Taschwer es beschrieben hat, wieso gab es dann 1938 so viele Entlassungen? Taschwer schreibt dazu in einem seiner Zeitungsartikel über die Philosophische Fakultät: „Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass von den 98 nach 1938 Entlassenen dieser Fakultät nur gut ein Drittel jüdischer Herkunft war. Und fast zwei Drittel von diesen knapp 35 Forschern war bereits 1924 an der Uni Wien beschäftigt. 1924 gab es hingegen noch mindestens 45 jüdische Angehörige (des Lehrkörpers der Fakultät), also rund ein Drittel 64 Zu diesem Punkt siehe Mitchell G. Ash, Innovation, Ethnizität, Identität. Deutschsprachige jüdische Psychologen und Sozialwissenschaftler in der Zwischenkriegszeit, in: Marc Schallenberg und Peter U. Walther (Hrsg.) „ … immer im Forschen bleiben.“ Rüdger vom Bruch zum 60. Geburtstag. Stuttgart 2005, 237 – 264, hier : 243. Mühlberger geht auf „die Problematik dieser Mischung“ durchaus ein und hält immerhin fest, dass die Entlassenen – etwa die Gruppe um den radikal antidemokratischen Philosophen und Staatswissenschaftler Othmar Spann und die hier behandelten Wissenschaftler jüdischer Herkunft oder Konfession – „insgesamt nicht als Opfer im gleichen Sinn zu verstehen sind“; vgl. ders., Vertriebene Intelligenz (wie Anm. 55), 8.

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mehr als 1938.“65 Im Klartext heißt das: Circa zwei Drittel der nach 1938 entlassenen Mitglieder dieser Fakultät waren auch nach Nazi-Kriterien keine Juden, sondern Anhänger der früheren Diktatur. Worauf diese Zählungen konkret beruhen, konnte Taschwer in der Kürze eines Zeitungsartikels offenbar nicht angeben. Es bleibt zu hoffen, dass er dies in seiner bevorstehenden wissenschaftlichen Publikation nachholen wird. Ähnliche Zählungen für die anderen Fakultäten gibt es bisher noch nicht. Zweitens: Eigentlich sagen diese Angaben über Personen jüdischer Herkunft ohnehin weitaus weniger über den Nationalsozialismus als über die relative – sehr unterschiedliche – Offenheit einzelner Fakultäten und Disziplinen für Wissenschaftler aufgrund ihres Könnens in der Zeit vor 1938 aus.66 Die Gründe für diese überaus großen Unterschiede sind noch lange nicht erforscht. Auf jeden Fall geht es nicht an, die spektakulären Fälle einer fast kompletten Vertreibung wie jener der Psychoanalyse oder des „Wiener Kreises“ pars pro toto zu nehmen. Dies könnte dazu führen, dass damit die unangenehmen Frage ausgewichen würde, welche Art von Wissenschaft denn nach der Vertreibung, also im Nationalsozialismus und nach 1945, an der Wiener Universität noch möglich war.67 Bittere Ironien sind hier zuhauf zu konstatieren. Zwei Beispiele seien an dieser Stelle genannt: Elise Richter war 73 Jahre alt, als ihr im April 1938 die venia legendi entzogen wurde. Ihr Antrag an den „kommissarischen“ Dekan Viktor Christian auf Umwandlung der bis dahin gewährten ständigen Unterstützung in eine dauerhafte Rente wurde abschlägig beschieden. Nach ihrer Entlassung von der Universität setzte Richter ihre phonetischen und phonologischen Arbeiten am Phongrammarchiv der Akademie der Wissenschaften fort, bis der Assistent Walter Ruth – ein NSDAP-Mitglied, der nach der Entlassung Walter Hajeks als neuer Institutsleiter eingesetzt worden war – ihr dies verbot.68 Die Emigration 65 Taschwer, Kämpfer gegen die „Verjudung“ der Universität (wie Anm. 45). 66 Für eine ähnliche Aussage in Bezug auf die Entlassungen in der NS-Zeit an den reichsdeutschen Hochschulen siehe Klaus Fischer, Jüdische Wissenschaftler in Weimar. Marginalität, Ethnizität und Innovation, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Jüdisches Leben in der Weimarer Republik (Schriftenreihe wissenschaftliche Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, 57), Tübingen 1988, 89 – 116, sowie Mitchell G. Ash, Emigration und Wissenschaftswandel als Folgen der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, in: Doris Kaufmann (Hrsg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2000, 610 – 631. 67 Als themenrelevantes Beispiel sei hier die NS-Judenforschung genannt; vgl. Dirk Rupnow, Judenforschung im Dritten Reich. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Baden-Baden 2009, insbesondere 316 – 348. 68 Marlene Wahlmüller, Konsequenzen für das wissenschaftliche Personal am Beispiel von Leo Hajek, in: Feichtinger, Matis, Sienell, Uhl (Hrsg.), Die Akademie der Wissenschaften (wie Anm. 55), 71 – 79.

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lehnte sie ab: „Ich war zu fest eingewurzelt.“69 Später wurden sie und ihre Schwester bekanntlich nach Theresienstadt deportiert, wo sie gestorben sind. Eine weitere ironische Begebenheit betrifft den eben genannten Dekan Christian selbst.70 Es geht dabei um die Wohnung, in welcher die Wiener Psychoanalytische Vereinigung seit 1935 untergebracht war (die übrigens pikanterweise bis dahin von der KPÖ benutzt worden war). Nach der erzwungenen Auflösung der Vereinigung, der Beschlagnahmung des Vereinsvermögens und der Vertreibung der Familie Freud waren diese Räumlichkeiten einem Bericht des „kommissarischen“ Verwalters, des Chemiker (und stellvertretenden Obmanns der NSDAP im 9. Wiener Gemeindebezirk) Anton Sauerwald, zufolge vorerst für die Unterbringung eines „Rasseninstituts“ vorgesehen. Sie wurden aber auf Vorschlag Viktor Christians dem von ihm geleiteten Orientalischen Institut übergeben. Natürlich endet diese Geschichte der Grausamkeiten keinesfalls im Jahre des „Anschlusses“. Das vielleicht bekanntestes Beispiel dafür, wie es jenen jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an der Universität Wien erging, denen die Flucht nicht gelang, dürfte der Fall des Albanologen Norbert Jokl sein. Der außerordentliche Professor für Indogermanische Sprachwissenschaft war unter den 1938 Entlassenen, blieb jedoch vorerst in Wien. Sein Ansuchen, 1941 nach Italien auszureisen, wurde abgelehnt; er wurde im Mai 1942 nach Maly Trostinec deportiert und starb vermutlich bereits während des Transports. Dekan Christian meldete massives Interesse am Erwerb der wertvollen Bibliothek Jokls für seine Fakultät an, die allerdings der Nationalbibliothek übereignet wurde.71

69 Richter, Summe des Lebens (wie Anm. 4), 221. 70 Zum Folgenden vgl. Christiane Rothländer, Die Liquidation der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 1938 und der Raub des Vermögens der Familie Sigmund Freuds, in: Mitchell G. Ash (Hrsg.), Materialien zur Geschichte der Psychoanalyse in Wien, 1938 – 1945, Frankfurt am Main 2012, 49 – 153, hier : 88 – 92. 71 Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Deportation Jokls und der „Arisierung“ seiner Bibliothek wird kontrovers beurteilt. Vgl. hierzu Irene Maria Leitner, „Bis an die Grenzen des Möglichen.“ Der Dekan Viktor Christian und seine Handlungsspielräume an der Philosophischen Fakultät 1938 – 1943, in: Mitchell G. Ash, Wolfram Nieß, Ramon Pils (Hrsg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, 49 – 78, hier : 56, und die dort zitierte Literatur. Für eine Aufzählung der in KZ verschleppten bzw. in der Shoah umgekommenen Naturwissenschaftler vgl. Reiter, Das Jahr 1938 und seine Folgen (wie Anm. 60), 668.

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VI.

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Nach 1945 – Verhinderte Rückkehr, ambivalente Rückkehrer

Das gängige Erzählmuster zu diesem Zeitabschnitt gibt ein vor wenigen Jahren erschienener, populärwissenschaftlich gefasster Band mit dem Titel „Sie haben uns nicht zurückgeholt“ wieder.72 Bezogen auf die Universität Wien läuft das Muster so: Ein nach der Entlassung der „reichsdeutschen“ Kollegen übrig gebliebenes Professorenkollegium, das mehrheitlich aus dem katholisch-konservativen Lager kam oder tatsächlich politisch indifferent war, bemühte sich vorrangig um die Rückholung der ihnen gleich gesinnten österreichischen Kollegen. Später, nach den verschiedenen Schritten zur Aufhebung der anfänglich strengen Entnazifizierungsmaßnahmen, den Amnestien usw. kamen dann im Verlauf der 1950er-Jahre ehemalige NSDAP-Mitglieder hinzu. Nach einer gezielten Rückholung der einst vertriebenen jüdischen Kollegen bestand weder der Wunsch noch der Bedarf. Das somit in Kauf genommene und auch tatsächlich eingetretene Ergebnis hat Christian Fleck bereits 1996 in aller Schärfe als „autochthone Provinzialisierung“ umschrieben.73 All das passt genau in das eingangs genannte Erzählmuster der österreichischen Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte als Gang in die Provinzialität. Dass dieses Deutungsmuster aber nicht nur für die vertriebenen jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gilt, zeigt eine eingehende Studie von Gerhard Benetka über die verhinderte Rückkehr Karl Bühlers.74 Das gängige Erzählmuster ist keineswegs falsch, die Hindernisse für eine Rückkehr der Vertriebenen waren aber weitaus vielfältiger, als weithin wahrgenommen wird. Zunächst einmal handelt es sich bei der Wiedereinsetzung der vor 1938 tätigen nichtjüdischen Professoren nicht um automatische, sondern um intentional konstruierte Kontinuitäten. Die Entscheidungen dahinter bedürfen in jedem Einzelfall der Rekonstruktion. Und: Wie der berüchtigte Fall des Germanisten Josef Nadler zeigt, blieben einige Kollegen, die sich in der NS-Zeit exponiert hatten, endgültig entlassen.75 Für unser Thema ist es vielleicht wichtiger, auf die Ergebnisse zweier rezenter Dissertationen hinzuweisen: eine 2009 an der sozialwissenschaftlichen Fakultät 72 Isabella Ackerl und Ingeborg Schödl, „Sie haben uns nicht zurückgeholt.“ Verlorene Intelligenz. Österreichische Wissenschaftler 1918 – 1945, Wien 2005. 73 Christian Fleck, Autochthone Provinzialisierung. Universität und Wissenschaftspolitik nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich, in: ÖZG (Österreichische Zeitschrift für Geisteswissenschaften), 7 (1996), 67 – 92. 74 Gerhard Benetka, Entnazifizierung und verhinderte Rückkehr. Zur personellen Situation der akademischen Psychologie in Österreich nach 1945, in: ÖZG, 9 (1998), 188 – 217. 75 Zum „Fall Nadler“ vgl. neuerdings Irene Ranzmaier, Germanistik – kontinuitätsstiftende Ansätze der Wissenschaft und die Bedeutung kollegialer Unterstützung, in: Ash, Nieß, Pils (Hrsg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus (wie Anm. 70), 427 – 454, hier : 449 – 450.

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approbierte Arbeit von Thomas König über die Entstehungsgeschichte der Fulbright-Kommission in Österreich, die trotz ihres Titels in vielerlei Hinsicht als grundlegende Studie der Hochschulpolitik in Österreich während der unmittelbaren Nachkriegsjahre gelten kann;76 und die derzeit in Arbeit befindliche Dissertation von Ingrid Arias über die Medizinische Fakultät der Universität Wien nach 1945.77 Beide Arbeiten verweisen auf Rückkehrhindernisse, die nicht allein auf die Haltung der Fakultätskollegien zurückzuführen sind, wie z. B. Reiserestriktionen der Besatzungsmächte, u. a. auch der Amerikaner, und die Weigerung des Finanzministeriums, die Übersiedelungskosten der in den USA wohnhaften Emigranten zu übernehmen (obwohl diese im Falle einiger Prominenter dennoch übernommen wurden). Der zuletzt genannte Faktor deutet auf eine überstarke Konzentration der Fakultäten und des zuständigen Ministeriums auf Prominente hin, was selbst bei vorhandenem Interesse häufig für das Finanzministerium damals unerfüllbar scheinende Forderungen nach sich ziehen musste. Dass solche Aspekte mit einem unterschwelligen oder expliziten Antisemitismus oder aber mit Angst vor der Konkurrenz der Rückkehrer verzahnt waren, ist anzunehmen, wurde aber bislang nur selten tatsächlich nachgewiesen. Aber noch ein weiterer Punkt sollte stärker hervorgehoben werden: Es waren vielfach auch Entscheidungen der Vertriebenen selbst, mit dem Land der Täter nichts mehr zu tun haben zu wollen. Doch einige sehr wenige Rückkehrer gab es. Eine offene Forschungsfrage ist, wie es trotz der vielen eben genannten Hindernisse überhaupt dazu kommen konnte. An dieser Stelle sei nur ein Beispiel aus der Medizinischen Fakultät genannt, und zwar Hans Hoff, der 1950 zum Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Medizinischen Fakultät ernannt wurde. Dass Hoff politisch links stand, war im Kollegium der Fakultät durchaus bekannt. Wichtig bei der Entscheidung für Hoff scheint nach der Forschung von Ingrid Arias die erhoffte

76 Für relevante Ergebnisse dieser Arbeit siehe Thomas König, Irrfahrer und Dulder, Titanen und Halbgötter. Eine empirische Analyse eines Samples von HochschullehrerInnen von 1949 bis 1964, in: Zeitgeschichte, 38 (2011), 108 – 129; ders., Die Entstehung eines Gesetzes. Österreichische Hochschulpolitik in den 1950er-Jahren, in: ÖZG, 23 (2012), 57 – 81. Zum Themenfeld einschließlich der Haltung der Alliierten vgl. den breiten Überblick von Oliver Rathkolb, Die Universität Wien und die „Hohe Politik“ 1945 bis 1955, in: Margarete Grandner, Gernot Heiss, Oliver Rathkolb (Hrsg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955. Innsbruck 2005, 38 – 53. 77 Für erste Ergebnisse aus dieser Arbeit siehe Ingrid Arias, Die Medizinische Fakultät von 1945 bis 1955: Provinzialisierung oder Anschluss an die westliche Wissenschaft?; in: Grandner, Heiss, Rathkolb (Hrsg.), Zukunft mit Altlasten (wie Anm. 75), 68 – 88; dies., Die Wiener Medizinische Fakultät 1945 – Zwischen Entnazifizierung und katholischer Elitenrestauration, in: Sabine Schleiermacher, Udo Schagen (Hrsg.), Wissenschaft macht Politik. Hochschule in den politischen Systembrüchen 1933 und 1945, Stuttgart 2009, 247 – 262.

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Anknüpfung an die „Schule“ Julius Wagner-Jaureggs gewesen zu sein, dessen Assistent er in den 1920er-Jahren gewesen war.78 Eine weitere offene Frage muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben: Wie kamen die wenigen Rückkehrer mit einer derartigen Kollegenschaft aus, und zwar vor allem dann, als ehemalige NSDAP-Mitglieder zurückzukehren begannen? Die Frage nach dem Wissenschaftsalltag in der Nachkriegszeit scheint mir eine sehr lohnende, wenngleich schwer zu erforschende zu sein. Für analoge Beispiele in der frühen Bundesrepublik Deutschland, beispielsweise den Philosophen und Soziologen Helmuth Plessner in Göttingen oder den Historiker Hans Rothfels in Tübingen, gibt es bereits vergleichbare Fallstudien.79

VII.

Zum Schluss – Offene Fragen

Am Anfang dieser Ausführungen stand die Absicht, drei Standarderzählungen, die in diesem Bereich bis heute maßgeblich sind, kritisch zu reflektieren. Das waren erstens die vertraute Erzählung der jüdischen Geschichte als Leidensweg mit Terminus ad quem in der Shoah, zweitens die Erzählung der österreichischen Geschichte als Weg in den Abgrund und drittens eine Erzählung der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte Österreichs als Weg von einstigem Glanz in die Provinzialität. Was kann dazu nach den bisherigen Ausführungen gesagt werden? Das Wesentlichste zuerst: Die bis heute gängige Erzählung der jüdischen Geschichte als Leidensweg nostalgisiert die Leistungserfolge von Menschen jüdischer Herkunft in der Monarchie und relativiert sie zugleich zugunsten einer negativen Teleologie, die in den Vertreibungen des Jahres 1938 und schließlich in der Shoah mündet. Nach dem eben Gesagten dürfte klar geworden sein, dass diese Perspektive zwar aus guten Gründen unvermeidbar ist, aber nicht allein vorherrschend bleiben darf. Wertende Narrative mögen ihren Nutzen in der heutigen politischen Bildung haben, aber selbst dabei und vor allem im Rahmen einer angemessenen historischen Betrachtung muss deutlich gemacht werden, 78 Für weitere Beispiele siehe Friedrich Engel-Janosi, „… aber ein stolzer Bettler.“ Erinnerungen aus einer verlorenen Generation, Wien 1974, insbesondere 241 – 266; Hans H. Aurenhammer, Das Wiener Kunsthistorische Institut nach 1945, in: Grandner, Heiss, Rathkolb (Hrsg.), Zukunft mit Altlasten (wie Anm. 73), 174 – 188; Andre Gingrich, Remigranten und Ehemalige: Zäsuren und Kontinuitäten in der universitären Völkerkunde Wiens nach 1945, in: ebd., 260 – 272. 79 Zu Plessner vgl. Carola Dietze, Kein Gestus des Neubeginns. Helmuth Plessner als remigrierter Soziologe in der Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, in: Bernd Weisbrod (Hrsg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur akademischen Kultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002, 75 – 96. Zu Rothfels vgl. u. v. a. Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005, Kap. IV.

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dass viele Juden auf tragische Weise an einer lieb gewonnenen Kultur festhielten und niemand – auch kein Antisemit jener Zeit – die wahren Dimensionen des Kommenden vorhersah. Die nämliche Warnung vor einer negativen Teleologie gilt wohl auch für die Erzählung der österreichischen Geschichte als Weg in den Abgrund. So ungewollt die Erste Republik von so vielen gewesen sein mag, so umstritten alles Grundsätzliche an ihr war, so wenig war die zweite der beiden Diktaturen in den 1920er-Jahren vorherzusehen. Auch für die universitäts- und wissenschaftshistorische Erzählung ist eine negative Teleologie nicht gerechtfertigt, und zwar aus vier Gründen. Erstens begann die Verlagerung des Zentrums wissenschaftlicher Forschung aus Europa und insbesondere aus dem deutschsprachigen Raum in Richtung Nordamerika bereits vor der NS-Zeit. Die Vertreibungen des Jahres 1938 beschleunigten diesen grundlegenden Wissenschaftswandel, sie verursachten ihn aber nicht. Zweitens: Wie oben gezeigt wurde, blieben sowohl die kulturnationalen Weisheiten des Professor Billroth in der Monarchie als auch die wirksamen Machenschaften der antisemitischen Professorenclique namens „Bärenhöhle“ in den 1920er-Jahren nicht ohne Widerspruch. Des Weiteren war es drittens für jüdische Wissenschaftler offenbar auch in dieser Zeit an der Philosophischen wie vielleicht in größerer Zahl an der Juristischen und der Medizinischen Fakultät möglich, sich wissenschaftlich zu qualifizieren oder in einigen Fällen sogar auf Professuren berufen zu werden; warum das so war, gehört zu den noch offenen Forschungsfragen (siehe unten). Schließlich sind viertens die von mir so genannten „konstruierten Kontinuitäten“ – das sind die Fortsetzungen der Arbeit ohne die vertriebenen Kollegen nach 1945 – Ergebnisse von bewusst getroffenen Entscheidungen, die sehr wohl anders hätten ausfallen können. Der Weg in die Provinzialität begann also nicht erst 1938, sondern viel früher, und er endete dann auch nicht, sondern wurde nach 1945 bewusst und mit Nachdruck fortgesetzt. Gerade in dieser Hinsicht scheint eine gewisse Skepsis gegenüber der damals wie offenbar auch heute noch vorherrschenden Perspektive der Schulenbildung begründet zu sein. In den Wissenschaften ist Kontinuität im Sinne eines Festhaltens an einer methodischen oder gedanklichen Tradition kein Wert an sich. Im Falle der sogenannten „Wiener Schule“ der Kernphysik beispielsweise scheint ein stures Festhalten an bzw. eine forcierte Wiederaufnahme von Bewährtem, wie es auch in der Politik der Lehrstuhlbesetzungen der Nazizeit und danach zum Ausdruck kam, auf längere Sicht betrachtet geradewegs in die internationale Marginalisierung geführt zu haben. Diesen Weg schlug man aber schon vor der Vertreibung der jüdischen Physiker ein.80 80 Vgl. hierzu Wolfgang L. Reiter, Die Vertreibung der jüdischen Intelligenz (wie Anm. 61); ders. und Reinhard Schurawitzki, Über Brüche hinweg Kontinuität. Physik und Chemie an

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Nun komme ich endlich zur ebenfalls am Anfang dieses Textes versprochenen Aufzählung der noch offenen Fragen, wie sie im Verlauf meiner Ausführungen immer wieder genannt wurden – und noch einiger mehr. Trotz der doch beachtlichen Forschungen in diesem Themenfeld in letzter Zeit gibt es wahrlich noch viel zu tun! Erstens: Wir brauchen verlässliche Zahlen und überhaupt detaillierte Studien der Berufungsvorgänge für die Zeit nach 1918, die über prägnante Einzelfälle hinausgehen. Zweitens: Wir brauchen eingehendere Arbeiten über „Wissenschaftsalltag und Antisemitismus“ an der Universität Wien, wie sie inzwischen für die Berliner Universität vorliegen.81 Wie kamen die jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Monarchie, vor allem aber in der zunehmend judenfeindlichen Atmosphäre der Ersten Republik und erst recht in den ärmlichen und provinziellen Verhältnissen der Nachkriegszeit mit einer derartigen Umgebung, Kollegenschaft und mit unzureichenden Forschungsbedingungen zurecht? Drittens: Wir brauchen Studien über die Rückkehrer nach 1945 und die ganz eigenen Ambivalenzen ihrer Situation. Viertens: Wir brauchen auch Studien zu Kontinuität und Wandel nach der Öffnung der Universitäten Mitte der 1970er-Jahre, und zwar gerade im Hinblick auf die Frage nach der Rolle oder der Abwesenheit jüdischer Beteiligter. Gibt es denn überhaupt jüdische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bzw. Professoren und Professorinnen jüdischer Herkunft an der heutigen Universität Wien? Meine Antwort lautet: Ja, es gibt sie, aber man kann diejenigen im Rang eines Universitätsprofessors/einer Universitätsprofessorin tatsächlich an einer Hand abzählen. Als ich im Jahre 1997 meinen Dienst in Wien antrat, waren es meines Wissens an der damaligen großen Geisteswissenschaftlichen Fakultät und in den Sozialwissenschaften zusammengenommen drei; jetzt sind es meines Wissens im selben Bereich, der nun mehrere Fakultäten umfasst, inklusive meiner Wenigkeit ganze vier – die Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak ist gegangen, der Kunsthistoriker Raphael Rosenberg und der Zeithistoriker Frank Stern sind gekommen. Kann es sein, dass auf Fremdzuschreibungen jüdischer Identität basierende Erzählmuster wie die von mir weiter oben kritisierten hierzulande gerade deshalb bis heute weitgehend unreflektiert geblieben sind,

der Universität Wien nach 1945 – eine erste Annäherung, in: Grandner, Heiss, Rathkolb (Hrsg.), Zukunft mit Altlasten (wie Anm. 75), 236 – 259. Die im Manuskript fertig gestellte, aber noch nicht erschienene Arbeit von Silke Fengler, Kerne, Kooperation und Konkurrenz. Österreichische Kernforschung im internationalen Kontext (1900 – 1950), befasst sich ebenfalls mit dieser Frage und kommt zum selben Ergebnis. 81 Pawliczek, Akademischer Alltag zwischen Ausgrenzung und Erfolg (wie Anm. 14).

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weil es zu wenige jüdische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gab, die ihnen etwas entgegenzusetzen gewusst hätten? Fünftens, und last not least, komme ich zur vielleicht heikelsten der noch offenen Fragen, die ich eingangs bereits implizit gestellt habe. So sehr berechtigt es ist, all derer zu gedenken, die im Nationalsozialismus und auch in den Jahrzehnten zuvor aus rassistischen Gründen angegriffen und verfolgt, vertrieben und ermordet wurden: Müssen diese rassistisch Verfolgten weiterhin und noch immer alle „Juden“ heißen, auch wenn sie sich selbst nicht als Juden begriffen haben, nur weil sie als solche verfolgt worden sind? In aller bewusst polemischen, hoffentlich der Klarheit dienenden Schärfe formuliert: Wollen wir die Tradition der Fremdzuschreibung – das heißt: die Fixierung jüdischer Identität von außen, die gängige Praxis der deutschnationalen Kräfte, die Praxis Karl Luegers und die Praxis Joseph Goebbels, denen beiden der Spruch zugeschrieben wird: „Wer Jude ist, bestimme ich“ – jetzt mit moralisch umgekehrtem Vorzeichen weiterhin zur alleinigen Richtschnur unserer Reflexionen machen und damit die Sprache Hitlers weiterhin fortschreiben, indem noch immer von „Juden“ und „Österreichern“ die Rede ist? Oder wollen wir endlich die Spannung zwischen der Vielfalt der damaligen jüdischen Identitäten und der im Wortsinn fatalen Eindeutigkeit der Fremdzuschreibung deutlich benennen und laut sagen, dass auch die hier gemeinten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Österreicher waren, die zum Teil tatsächlich stolze Juden gewesen sind, sich zum weitaus größeren Teil aber gar nicht als Juden begriffen haben und im Falle der Konvertiten auch gar keine Juden mehr waren, aber als solche definiert – abgestempelt und verfolgt – wurden? Gerade zu dieser zuletzt gestellten Frage sehe ich – auch aufgrund eigener Erfahrungen in zahlreichen Lehrveranstaltungen im Themenfeld sowie in anderen öffentlichen Situationen – dringenden Diskussionsbedarf.

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Arthur Goldmann – ein jüdischer Archivar im Dienst der Universität Wien (1905 – 1929)

Das Archiv der Universität Wien, dessen früheste Erwähnungen aus dem späten Mittelalter datieren, wird seit 1875 von historisch-wissenschaftlich ausgebildeten Archivaren betreut.1 Dies ist vor allem das Ergebnis der Bemühungen des Historikers und Wiener Universitätsprofessors Theodor von Sickel, welchem die Modernisierung des österreichischen Archivwesens ein großes Anliegen war.2 Als Dekan der Philosophischen Fakultät und Prorektor der Universität Wien sorgte er dafür, dass einer seiner Schüler, der Piaristenpater und Archivar im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Karl Schrauf, vom Akademischen Senat mit der nebenamtlichen Betreuung des Universitätsarchivs beauftragt wurde.3 Diese Maßnahme begründete eine bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts währende Tradition der zum Teil sehr intensiven Einflussnahme von Wiener Universitätsprofessoren der historischen Fächer, insbesondere jener, welche wie Sickel dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung angehörten, auf organisatorische, archivtechnische, wissenschaftliche und personelle Angelegenheiten des Universitätsarchivs. Bis 1953 waren alle Universitätsarchivare hauptamtlich im Haus-, Hof-, und Staatsarchiv bzw. im Österreichischen Staatsarchiv beschäftigt, was die Mitwirkung der Staatsarchivdirektoren bei der Auswahl von infrage kommenden Kandidaten erforderlich machte. 1 Zur Geschichte des Wiener Universitätsarchivs vgl. Kurt Mühlberger, Das Archiv der Universität Wien, in: Kurt Mühlberger (Hrsg.), Archivpraxis und Historische (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien, 6), Wien 1992, 181 – 193, und demnächst: Thomas Maisel, Alt-Registratur, Service- oder Forschungseinrichtung? Der Ausbau des Archivs der Universität Wien zum „Zentralarchiv“ der Alma Mater Rudolphina, in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte, 30 (2013). 2 Michael Hochedlinger, Österreichische Archivgeschichte. Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Papierzeitalters, Wien 2013, 128 – 129. 3 Nominell war Anton Hye von Gluneck bis zu seinem Tod 1894 ehrenamtlicher Universitätsarchivar, erst danach wurde Schrauf mit der Leitung des Archivs betraut; vgl. Kurt Mühlberger, Marija Wakounig, Vom Konsistorialarchiv zum Zentralarchiv der Universität Wien. Die Neuorganisation und Erweiterung des Archivs der Universität Wien im 19. Jahrhundert unter der Einflußnahme Theodor von Sickels, in: Scrinium, 35 (1986), 190 – 213.

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Als Karl Schrauf im Jahre 1904 verstarb, blieb das Universitätsarchiv nicht gänzlich verwaist. Seit 1888 war ihm der Historiker Arthur4 Goldmann (1863 – 1942), zunächst als von Schrauf privat entlohnte Hilfskraft, ab 1896 als vom Akademischen Senat bestellter Archivassistent zur Seite gestanden.5 Goldmann war 1863 in Lemberg als Sohn eines Versicherungsbevollmächtigten zur Welt gekommen.6 Seine Mutter, eine geborene Landau, entstammte mit größter Wahrscheinlichkeit der gleichnamigen Levitenfamilie, welche in dem Rabbiner Moses Landau († 1561) ihren Stammvater sah und zu deren Angehörigen eine Reihe gelehrter Talmudisten und Schriftsteller zählte.7 Ein Onkel Goldmanns (möglicherweise der Bruder seiner Mutter) war jedenfalls der in Brody (Galizien) geborene Literaturhistoriker und Schriftsteller Markus Landau (1837 – 1918)8, dessen Vorbild vermutlich großen Einfluss auf die Studien- und Berufswahl Goldmanns hatte. So wie Landau hat sich auch Goldmann später in einigen seiner Publikationen mit italienischer (Literatur-)Geschichte befasst.9 Ein weiteres gelehrtes Mitglied der Familie war der jiddische Philologe Alfred Landau (1850 – 1935)10, ebenfalls in Brody geboren, zu dessen Festschrift Goldmann einen Beitrag beisteuerte.11 Beide, Markus und Alfred Landau, arbeiteten so wie Goldmann auch für die Historische Kommission der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.12 4 Die Schreibweise des Vornamens ist schwankend, gelegentlich auch „Artur“ (so auch auf seinem Grabstein, Wiener Zentralfriedhof, Gr. 51 R. 6 Nr. 30). Er selbst hat jedoch meist „Arthur“ geschrieben. 5 Bericht von Karl Schrauf an den Akademischen Senat der Universität Wien, Universitätsarchiv Wien (UAW), Akad. Senat GZ 2791 – 1895/96; Genehmigung des Senatsbeschlusses durch das Ministerium für Cultus und Unterricht, UAW, Akad. Senat GZ 148 – 1895/96. 6 Zu Arthur Goldmann existieren mehrere Artikel in biografischen Nachschlagewerken, so etwa in Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien, Bd. 2, Wien 1993, 566; Wolfgang Leesch, Die deutschen Archivare 1500 – 1945, Bd. 2, München – London – New York – Paris 1992, 192; Österreichisches biographisches Lexikon 1815 – 1950 (ÖBL), Bd. 2, Graz – Köln 1959, 563; Salomon Wininger, Große jüdische National-Biographie, Bd. 2, Cerna˘ut¸i 1927, 494. Am ausführlichsten ist der Artikel von Franz Huter, Biographien der Archivbeamten seit 1749, in: Ludwig Bittner, Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. 1, Wien 1936, 42 – 45. 7 Franz Menges, Landau, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 13, 1982, 477 – 478, Online-Fassung: http://www.deutsche-biographie.de/pnd141183195.html (abgerufen 22. 2. 2012). 8 ÖBL, Bd. 4, 1969, 426; Wininger, National-Biographie, Bd. 3, 1928, 494. 9 Arthur Goldmann, Drei italienische Handschriftenkataloge saec. XIII – XIV, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen IV/4, 1887, 137 – 155; ders., Tre carmini riguardanti la storia degli studi di grammatica in Bologna nel seculo XIII, in: Atti e memorie della R. Deputazione di Storia Patria per le Provincie di Romagna, 3. Ser. 7, 1889. 10 ÖBL, Bd. 4, 1969, 424; Wininger, National-Biographie, Bd. 3, 1928, 494. 11 Arthur Goldmann, Die „Wachnacht“ bei Wiener Juden zu Beginn des 15. Jahrhunderts, in: Landau-Buch. Alfred Landau zu seinem 75-ten Geburtstag, Wilno 1926. 12 Zur Geschichte der Kommission siehe Merethe Aagaard Jensen, Tradition der Forschung. Die Historische Kommission der Israelitischen Kultusgemeinde Wien 1901 – 1938, in: Felicitas

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Goldmann besuchte das Gymnasium in Wien, wohin die eben genannten Familienangehörigen schon in den 1860er-Jahren im Zuge der großen jüdischen Zuwanderungswelle, eine Folge der liberaleren Gesetzgebung dieser Zeit, übersiedelt waren. Er begann 1881 mit dem Studium der Geschichtswissenschaft an der Universität Wien, besuchte außerdem Lehrveranstaltungen philologischer Fächer (Mittelhochdeutsch, Altfranzösisch und Italienisch) und dissertierte 1885 mit einer Arbeit über Marsilius von Padua bei Ottokar Lorenz.13 Goldmann zeigte hervorragende Studienleistungen, sowohl seine Dissertation als auch alle Teilprüfungen seines Rigorosums wurden mit „ausgezeichnet“ benotet. Er erfreute sich insbesondere der Wertschätzung seines Dissertationsbetreuers Lorenz, welcher seinen „jungen gelehrten Freund“ bald nach der Promotion als Mitarbeiter für sein quellenkundliches Werk einsetzte.14 Von der Universität und vom Unterrichtsministerium wurden Goldmann 1886 und 1888 Reisestipendien nach Italien gewährt.15 Trotz der Anerkennung, welche ihm für seine Leistungen zuteil wurde, war die Erlangung einer beruflichen Stellung schwierig. Zwar wurde Goldmann ab 1888 von Karl Schrauf im Universitätsarchiv als Hilfskraft eingesetzt und arbeitete wie dieser ab 1893 im Dienste des Grafen Wilczek an der Ordnung des Familienarchivs,16 eine Festanstellung ergab sich jedoch erst 1896, als er in der Stellung eines Konzeptsaspiranten in das Haus-, Hof- und Staatsarchiv aufgenommen wurde.17 Dafür bedurfte es jedoch einer an den Außenminister Graf Goluchowski gerichteten Begründung durch den Archivdirektor Alfred von Arneth – das Haus-, Hof- und Staatsarchiv ressortierte zum Ministerium des k. u. k. Hauses und des Äußeren –, weshalb er einen Mann, welcher „dem israelitischen Glaubensbekenntnisse angehört“, in den staatlichen Beamtenstand aufzunehmen gedenke. Goldmanns „vielfache gelehrte Arbeiten“, die ihm „den

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Heimann-Jelinek, Lothar Hölbling, Ingo Zechner (Hrsg.), Ordnung muss sein. Das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Wien 2007, 35 – 38. UAW: Nationale der Philosophischen Fakultät 1881/82 – 1884, Rigorosenprotokoll der Phil. Fak., Rigorosenakt PH RA 383. Ottokar Lorenz, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter seit der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, Bd. 1 u. 2, 3. in Verb. mit Arthur Goldmann umgearb. Aufl., Berlin 1886/87, Zitat ebd., Bd. 1, VII. Huter, Biographien (wie Anm. 6), 42. Goldmann verfasste auch einen biografischen Artikel über ein Mitglied der Familie Wilczek (Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 42, Leipzig 1897, 482 – 486). Nach dem Tode Schraufs 1904 avancierte er zum Familienarchivar, eine Tätigkeit, die er neben allen anderen Beschäftigungen bis ins Jahr 1938 wahrgenommen hat. Huter, Biographien (wie Anm. 6), 42, und Personalakt Arthur Goldmann, Österr. Staatsarchiv, AdR, Archivsignatur AT-OeStA/AdR AAng BKA-AA NAR Fach 4 Serie N u. A Goldmann, Artur, Dr. Goldmann hatte sich 1895 auch erfolglos um eine Anstellung an der kaiserlichen Hofbibliothek beworben: Bewerbung Goldmann, ÖNB-Archiv, Bestandesgruppe Hofbibliothek, Bestand Personalunterlagen, Prot.-Zl. 689/1895.

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Ruf eines wissenschaftlichen hochgebildeten Mannes“ einbrachten, und sein „eiserner Fleiß“ erschienen Arneth nicht ausreichend, um den Minister zu überzeugen: Es gab einfach keine genügend qualifizierten Bewerber, weshalb die Frage der Konfession, auch wegen der Natur der zu leistenden Arbeit, „kein unübersteigliches Hindernis“ für Goldmanns Anstellung darstellen sollte.18 Arneths liberale Gesinnung und seine Orientierung an der Aufklärung josephinischer Prägung kamen Goldmann hier sicherlich zugute.19 Fast zeitgleich mit der Anstellung im Haus-, Hof- und Staatsarchiv erfolgte die Umwandlung von Goldmanns informeller Beschäftigung im Universitätsarchiv in ein Anstellungsverhältnis als Archivassistent mit jährlicher Remuneration, wenn auch nicht ohne Hindernisse. Das Unterrichtsministerium verlangte für eine Definitivstellung nämlich den Nachweis, dass Goldmann die für eine Anstellung im staatlichen Archivdienst erforderliche Qualifikation nachweisen konnte.20 Selbst nachdem Goldmann die Anstellung im Haus-, Hof-, und Staatsarchiv erhalten hatte, dauerte es noch vier Jahre, bis ihm vom Ministerium die Definitivstellung als Assistent im Universitätsarchiv zuerkannt wurde.21 Bereits in diesem frühen Stadium seiner Karriere werden Konfliktlinien sichtbar, welche auch den weiteren beruflichen Weg Goldmanns kennzeichnen: sein Judentum und die Frage seiner Eignung für den Archivdienst. Ersteres wurde nur im Falle der Anstellung im Haus-, Hof- und Staatsarchiv explizit thematisiert; seine Qualifikation bzw. seine persönliche Eignung hingegen standen während seiner Tätigkeit im Universitätsarchiv wiederholt im Zentrum von Auseinandersetzungen. Obwohl die überlieferten Aktenbestände keine eindeutig antisemitisch konnotierten Äußerungen seiner Gegner enthalten, fällt es angesichts des bereits lange vor dem Ersten Weltkrieg etablierten „deutschvölkischen“ Antisemitismus auf akademischem Boden und des von Deutschnationalen propagierten Kampfes um den „deutschen Charakter“ der Universität Wien22 schwer, davon auszugehen, dass die Tatsache von Goldmanns Judentum ohne Belang gewesen sein konnte. 18 Schreiben von Arneth an Minister Goluchowski vom 18. 2. 1896, Personalakt Arthur Goldmann, Österr. Staatsarchiv. 19 Arneth war 1848 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, später als liberaler Abgeordneter im Niederösterreichischen Landtag und Mitglied des Herrenhauses, wo er für die Aufhebung des Konkordats stimmte. Zu Arneth vgl. u. a. Hochedlinger, Archivgeschichte (wie Anm. 2), 112 – 115; Huter, Biographien (wie Anm. 6), 6 – 11. 20 Schreiben des Unterrichtsministeriums vom 29. 1. 1896, UAW, Akad. Senat GZ 1753 – 1895/ 96. 21 Schreiben des Unterrichtsministeriums vom 5. 2. 1900, UAW, Akad. Senat GZ 2042 – 1899/ 1900. 22 Vgl. dazu u. a. Helge Zoitl, „Student kommt von Studieren!“ Zur Geschichte der sozialdemokratischen Studentenbewegung in Wien (Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Materialien zur Arbeiterbewegung, 62), Wien – Zürich 1992, 27 – 41; Walter Höflechner, Die Baumeister des künftigen Glücks. Fragment einer Geschichte des

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Zu einem regelrechten Eklat geriet die letztlich erfolgreiche Bestellung Goldmanns zum Universitätsarchivar in der Nachfolge von Karl Schrauf 1905. Rektor Franz Martin Schindler, Theologe, wichtiger Akteur der christlich-sozialen Bewegung und Mitbegründer der Reichspost, betraute Goldmann zwar mit der provisorischen Leitung des Universitätsarchivs,23 schlug dem Akademischen Senat jedoch vor, zur Frage der Bestellung eines neuen Universitätsarchivars eine eigene Kommission zu berufen, was auch geschah.24 Die Kommission bestand aus einem vom Institut für Österreichische Geschichtsforschung (IÖG) und zwei vom Senat nominierten Professoren, nämlich den Historikern Oswald Redlich (vom IÖG ernannt) und Emil von Ottenthal, welcher den Vorsitz übernahm und zu dieser Zeit die Leitung des IÖG innehatte, sowie dem Rechtshistoriker Ernst von Schwind. Sowohl Redlich als auch Ottenthal waren Schüler Theodor von Sickels.25 Das sich schon bald als „Archivkommission“ bezeichnende Kollegium sah seinen Arbeitsauftrag weiter gefasst: Nicht nur die Besetzung der Archivarsstelle, sondern die „ganze Verwaltung des Archivs im Auftrag des Senates“, Vorschläge zur Besetzung der Beamtenposten, Anweisungen zur Durchführung archivalischer Arbeiten sowie deren Kontrolle, mit Berichtspflicht an den Senat, wären seine Aufgabe.26 Die Archivkommission sollte eine ständige Einrichtung sein. Die Mitglieder trafen sich in den Räumen des Universitätsarchivs, verschafften sich dort unmittelbare Einsichten zum Status quo und entwickelten daraus ihre Vorschläge. Obwohl Ottenthal den Vorsitz führte, nahm Oswald Redlich, welcher im k. k. Archivrat große Aktivität entfaltete,27 auch in der Archivkommission der Universität Wien eine führende Rolle ein. Die Kommission erarbeitete Vorschläge zur Neuorganisation des Universitätsarchivs;

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Hochschulwesens in Österreich vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis in das Jahr 1938 (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz, 23), Graz 1988, 24 – 38; Brigitte Lichtenberger-Fenz, Österreichs Universitäten und Hochschulen – Opfer oder Wegbereiter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft? (Am Beispiel der Universität Wien), in: Gernot Heiß, Siegfried Mattl, Sebastian Meissl, Edith Saurer, Karl Stuhlpfarrer (Hrsg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 – 1945, Wien 1989, 5 – 9. UAW, Akad. Senat GZ 170 – 1904/05. UAW, Akad. Senat GZ 317 – 1904/05 und Senatssitzungsprotokoll vom 21. 10. 1904, Kod. R 28.42, I, 18 – 19. Susanne Lichtmanegger, Emil von Ottenthal (1855 – 1931). Diplomatiker in der Tradition Theodor von Sickels und Julius von Fickers, in: Karel Hruza (Hrsg.), Österreichische Historiker 1900 – 1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts [1], Wien – Köln – Weimar 2008, 73 – 96; Winfried Stelzer, „Redlich, Oswald“, in: Neue Deutsche Biographie, 21, 2003, 249 – 250. Schreiben von Ottenthal an Rektor Schindler, 20. 10. 1904, UAW, Akad. Senat GZ 317 – 1904/ 05. Hochedlinger, Archivgeschichte (wie Anm. 2), 131; Thomas Just, Oswald Redlich als Archivbevollmächtigter der Republik (Deutsch-)Österreich, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 117 (2009), 419.

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deren Umsetzung sollte jedoch nicht Goldmann anvertraut werden, sondern einem neu zu bestellenden Universitätsarchivar. Die Kommission schlug dafür den im Niederösterreichischen Landesarchiv beschäftigten Max Vancsa vor.28 Goldmann sollte weiterhin nur als Assistent fungieren und vor allem die bereits von Karl Schrauf begonnene Arbeit an der Edition der Wiener Universitätsmatrikel fortführen.29 Die Kommission stellte die wissenschaftlichen Fähigkeiten Goldmanns in keiner Weise infrage und übte erst Kritik an seinen archivarischen Kenntnissen, als die Personalentscheidung des Senats entgegen ihren Vorstellungen bereits gefallen war. Das entscheidende Argument, dass ihrer Ansicht nach Goldmann ungeeignet erscheinen ließ, war seine Schwerhörigkeit. Diese sei so gravierend, dass ein „Parteienverkehr“ im Universitätsarchiv unmöglich wäre. Bevor der Senat die Personalentscheidung behandelte,30 kam es Anfang Oktober 1905 zum jährlichen Wechsel im Rektorat. Auf Schindler folgte der Nationalökonom Eugen von Philippovich. Ihm war der Kommissionsbericht offenbar nicht willkommen, und er veranlasste einen Senatsbeschluss zur Einsetzung einer „Parallelkommission“ (meist als Komitee bzw. Archivkomitee bezeichnet), welche sich aus den Prodekanen der vier Fakultäten zusammensetzte. Sie sollte in erster Linie die Eignung Goldmanns zum Nachfolger Schraufs prüfen und dem Senat ein Gutachten vorlegen. Zu ihrem Sprecher im Senat wurde der Mediziner Viktor Ebner von Rofenstein gewählt, den Vorsitz führte jedoch der Rektor selbst. Das Archivkomitee stellte fest, dass die Schwerhörigkeit Goldmanns kein Hindernis für eine mündliche Kommunikation darstellte, vielmehr eine solche „leicht möglich“ sei, und begründete dies sowohl mit persönlichen Erfahrungen einiger Komiteemitglieder als auch mit eingeholten Erkundigungen. Rektor Philippovich holte auch eine Stellungnahme von Goldmanns Vorgesetztem im Haus-, Hof- und Staatsarchiv, nämlich dessen Direktor Gustav Winter, ein, welcher Goldmanns „Leistungsfähigkeit in jeder Beziehung das glänzendste Zeugnis“ ausstellte.31 Im Bericht des Komitees wurde betont, dass Goldmann einen ausgezeichneten Ruf als Archivar und Gelehrter besitze, dass die Bestel28 Bericht der Archivkommission vom 23. 2. 1905, UAW, Akad. Senat GZ 1884 – 1904/05 sowie Sonderreihe Archivkommission, Akad. Senat S 104. 29 Zur Geschichte der Matrikeledition vgl. zuletzt Kurt Mühlberger, Die Matrikel der Universität Wien, in: Grete Klingenstein, Fritz Fellner, Hans Peter Hye (Hrsg.), Umgang mit Quellen heute. Zur Problematik neuzeitlicher Quelleneditionen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Fontes Rerum Austriacarum, 2. Abt.: Diplomata et Acta, 92), Wien 2003, 80 – 88. 30 Zunächst hatte er sie auf jenen Zeitpunkt vertagt, an dem die Genehmigung der Nachbesetzung durch das Ministerium für Cultus und Unterricht eingetroffen sein würde; Senatssitzungsprotokoll vom 17. 3. 1905, UAW, Kod. R 28.42, VIII , 8 – 14. 31 Schreiben Winters an Rektor Philippovich vom 17. 11. 1905, UAW, Akad, Senat GZ 275 – 1905/ 06.

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lung des jüngeren Max Vancsa eine Kränkung Goldmanns bedeuten würde und Vancsa – im Gegensatz zu Goldmann – sich bislang noch gar nicht mit Universitätsgeschichte befasste hätte. Die Angelegenheit wurde am 21. November 1905 im Senat ausführlich diskutiert, der Beschluss fiel dann einstimmig: Arthur Goldmann wurde zum Universitätsarchivar bestellt.32 Die Archivkommission war brüskiert. Unmittelbar nachdem ihm der Senatsbeschluss mitgeteilt worden war, verfasste Ottenthal ein Schreiben an Philippovich, in dem er diesem den gemeinsamen Rücktritt aller Kommissionsmitglieder zur Kenntnis brachte. Die schriftlichen Unterlagen der Kommission legte er dem Schreiben bei. Der Versuch Philippovichs, Ottenthal in einem persönlichen Gespräch zur Weiterführung der Kommission zu bewegen, blieb ohne Erfolg.33 Dass sich die Auseinandersetzung hauptsächlich um Goldmanns Schwerhörigkeit drehte, welche den einen so gravierend erschien, dass sie die Eignung zum Archivdienst unmöglich machen würde, den anderen hingegen so geringfügig, dass einer mündlichen Verständigung kein Hindernis entgegenstünde, erscheint einigermaßen skurril. Es war vielleicht ein taktischer Fehler, dass die Archivkommission ihre gesamte Argumentation darauf abgestellt hatte. Sie muss auch andere Vorbehalte gegen Goldmann gehabt haben, hat diese jedoch dem Senat verschwiegen. Auf rein sachlicher Ebene vielleicht deshalb, weil deren Würdigung ein tieferes Verständnis der fachlichen, meist zugleich auch persönlichen, Kontroversen innerhalb der österreichischen Archivars- und Historikerzunft vorausgesetzt hätte. Erst nach dem Senatsbeschluss zugunsten Goldmanns hat die Kommission, unmittelbar vor ihrem Rücktritt, dessen Vorschläge zur Übernahme neuer Aktenbestände als „unreif“ bezeichnet.34 Goldmann war ein Schüler von Ottokar Lorenz, welcher, obgleich selbst zeitweise dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung angehörend, dessen von Sickel begründete Schwerpunktsetzung auf die historischen Hilfswissenschaften zum Teil beißend kritisiert hatte.35 Bis heute haftet ihm der Ruf eines enfant terrible der österreichischen Geschichtswissenschaft an.36 Zu allem Überfluss leistete er sich antihabsburgische Äußerungen, was 1865 seinen erzwungenen Abgang aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv zur Folge hatte.37 Es 32 UAW, Akad, Senat GZ 275 – 1905/06, und Senatssitzungsprotokoll vom 21. 11. 1905, Kod.. R 28.42, V, 6 – 7. 33 UAW, Akad. Senat GZ 744 – 1905/06 und Senatssitzungsprotokolle, Kod. R 28.42, VII, 4 – 5. 34 Protokoll der Archivkommission vom 23. 11. 1905, UAW, Sonderreihe „Archivkommission“, Senat S 104. 35 Alphons Lhotsky, Geschichte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 1854 – 1954, Graz – Köln 1954, 114 – 115. 36 Hochedlinger, Archivgeschichte (wie Anm. 2), 114. 37 Ebd.,115.

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ist auffällig, dass Goldmann zwar bei Sickel, Mühlbacher, Zeißberg und anderen Vorlesungen besucht hatte, welche auch für die Teilnehmer des Ausbildungskurses am IÖG vorgeschrieben waren, jedoch selbst kein ordentliches oder außerordentliches Mitglied des Instituts geworden ist; er besaß somit auch nicht die Kurs-Abschlussprüfung, welche nach Ansicht des Instituts als Qualifikation für den höheren Archivdienst vorausgesetzt werden sollte. Vielleicht hat die Kommission auf dieses Argument verzichtet, weil Goldmann bereits im Haus-, Hof- und Staatsarchiv angestellt war und man zur Erklärung dieser Tatsache auf fachinterne Differenzen hätte eingehen müssen. Staatsarchiv-Direktor Arneth, unter dem Goldmann in den Archivdienst aufgenommen worden war, war in keiner guten Beziehung zum IÖG gestanden und hatte sich mehrfach für Bewerber entschieden, welche keinen Kurs absolviert hatten. Es ist freilich unbestritten, dass unter Arneths Leitung das Haus-, Hof- und Staatsarchiv wesentliche Modernisierungsschritte des internationalen Archivwesens versäumt hat, so etwa den Abgang vom Pertinenz- und die Einführung des Provenienzprinzips, welches dort erst 1909 als archivischer Ordnungsgrundsatz vorgeschrieben wurde.38 Theodor von Sickel hingegen hatte dies bereits 1874 in seiner Instruktion für das Universitätsarchiv eingefordert.39 Auch Lorenz hatte während seiner Tätigkeit im Haus-, Hof- und Staatsarchiv wenig archivarische Kompetenz bewiesen und sich auf seine historischen Arbeiten konzentriert.40 Wenn selbst innerhalb der Archivars- und Historikerzunft über die fachliche Ausrichtung und die formale Qualifikation von Archivaren keine Einigkeit herrschte, dann war gegenüber Außenstehenden die Verbindlichkeit diesbezüglicher Forderungen nicht leicht argumentierbar. Die Kommission hat jedoch implizit ihren Standpunkt erkennbar werden lassen, indem sie den Institutskurs-Absolventen Max Vancsa zum neuen Universitätsarchivar vorschlug. Natürlich stellt sich auch die Frage nach antisemitischen Motiven für die Ablehnung Goldmanns. In den erhalten gebliebenen schriftlichen Dokumenten der Archivkommission ist weder offener, noch unterschwelliger Antisemitismus erkennbar, was jedoch angesichts der meist sehr zurückhaltend und diplomatisch formulierenden Professorenschaft nicht zwangsläufig als Negativbefund gelten kann. Dass Oswald Redlichs Ablehnung von Goldmann davon beeinflusst gewesen sein könnte, erscheint unwahrscheinlich. Er stand im Ruf eines liberalen akademischen Lehrers „mit freiheitlicher Toleranz“41. Ernst von Schwind, 38 Zur Geschichte des Provenienzprinzips vgl. Johannes Papritz, Archivwissenschaft, Bd. 3, Teil III, 1: Archivische Ordnungslehre, Erster Teil, 2. durchges. Auflage, Marburg 1983, 8 – 16. 39 Mühlberger, Wakounig, Konsistorialarchiv (wie Anm. 3), 209. 40 Hochedlinger, Archivgeschichte (wie Anm. 2), 115. 41 Thomas Winkelbauer, Oswald Redlich und die Geschichte der Habsburgermonarchie, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 117 (2009), 401 – 403.

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dereinst Mitglied der Archivkommission, hat jedoch nach dem Ersten Weltkrieg und angesichts der sich verschärfenden politischen und wirtschaftlichen Lage in Österreich als Rektor in einem Schreiben an das Staatsamt für Unterricht eindeutig antisemitische Äußerungen formuliert. Dabei ging es um die Frage der Wahl von ordentlichen Mitgliedern einer Studentenvertretung an der Universität Wien, von der in einer Zeit der Gefährdung des „deutschen Charakters“ der Universität „jüdische Galizianer, die kulturell und bildungsmäßig eine wesentlich tiefer stehende Gruppe“ darstellten als die „bodenständigen“ Studierenden, ausgeschlossen sein sollten.42 Er griff damit die Forderungen von deutsch-völkischen und antisemitischen Studierenden auf. Der zu behauptende „deutsche Charakter“ der Wiener Universität – mit klar antisemitischer und antislawischer Stoßrichtung – bestimmte jedoch schon zur Zeit von Goldmanns Bestellung zum Universitätsarchivar die zum Teil gewalttätigen Auseinandersetzungen an der Universität. Zum Ziel der Angriffe wurde auch Rektor Philippovich, weil er die Berufung des als Tscheche verunglimpften Kunsthistorikers Max Dvorˇ‚k an die Universität Wien befürwortet hatte. Eine Demonstration deutschnationaler Studierender aus diesem Anlass, welche die Parole „wir wollen eine deutsche Universität“ skandierten, fand just an jenem Tag statt, an dem die Archivkommission wegen Goldmanns Bestellung ihren Rücktritt erklärte.43 Dass Goldmann nicht zum Anlass ähnlicher Vorfälle wurde, hat sicherlich nur damit zu tun, dass das Universitätsarchiv unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Studentenschaft lag. Gleiches galt nicht für die Universitätsbibliothek. Deren Direktor in den Jahren 1919 bis 1923, Salomon Frankfurter, der wie Goldmann auch für die Historische Kommission der Israelitischen Kultusgemeinde tätig war,44 wurde von Antisemiten scharf angegriffen. Am deutschen Hochschultag, der unter dem Ehrenvorsitz des Rektors Carl Diener 1923 im großen Festsaal der Universität Wien abgehalten wurde, warfen Vertreter der Deutschen Studentenschaft Frankfurter vor, beim Bücherankauf Werke jüdischer Autoren zu bevorzugen. Sie forderten, dass solche Bücher von der Universitätsbibliothek mit einem 42 Brigitte Lichtenberger-Fenz, „… deutscher Abstammung und Muttersprache.“ Österreichische Hochschulpolitik in der Ersten Republik (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften, 19), Wien – Salzburg 1990, 14. Dazu und zu Schwind allgemein siehe auch Thomas Olechowski, Rechtsphilosophie gegen Rechtsgeschichte? Ein Juristenstreit aus der Zwischenkriegszeit an der Wiener Rechtsfakultät, in: Gerald Kohl, Christian Neschwara, Thomas Simon (Hrsg.), Festschrift für Wilhelm Brauneder zum 65. Geburtstag. Rechtsgeschichte mit internationaler Beziehung, Wien 2008, 425 – 429. 43 Vgl. u. a. (Linzer) Tagespost vom 28. 11. 1905, 6; Neue Freie Presse vom 28. 11. 1905 (Morgenblatt), 9. 44 Jensen, Tradition (wie Anm. 12), 36.

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Davidstern gekennzeichnet werden sollten.45 Frankfurter fühlte sich in seiner Amtsehre verletzt und bat den Rektor um eine Stellungnahme, da über diese Forderungen auch in der Tagespresse so berichtet worden war, als hätte der Rektor selbst sich diese zu eigen gemacht.46 Dieners Antwort war distanziert und lässt erkennen, dass er Frankfurter in keiner Weise in Schutz zu nehmen gedachte:47 Die Forderungen seien zwar tatsächlich von Studenten geäußert worden, aber er hätte sie nicht ernst genommen. Er habe nur der Behauptung, dass Frankfurters Weiterverwendung als Bibliotheksdirektor mit Zustimmung des Akademischen Senats erfolgt sei, widersprochen, womit er formal auch recht hatte.48 Diesbezügliche Personalentscheidungen waren allein Aufgabe des Unterrichtsministeriums. Zentrales Anliegen des deutschen Hochschultages war die Einführung eines Numerus clausus für jüdische Studierende, eine Forderung, die Carl Diener, wie auch andere Wiener Professoren, unterstützte und die in abgeschwächter Form – nur auf ausländische Studierende Bezug nehmend – vom Akademischen Senat der Universität Wien übernommen wurde.49 Diener hat seinen Standpunkt auch in Zeitungen kundgetan50 und in seinem Rektoratsbericht, den er am Ende seiner Amtszeit vorlegte, den „übermäßig starken Zuzug von jüdischen Hörern aus dem osteuropäischen Ausland“ beklagt.51 Der Senatsbeschluss zur Bestellung von Arthur Goldmann zum Universitätsarchivar bedurfte der Genehmigung durch das Unterrichtsministerium, welches eine Begründung forderte, weshalb dem Vorschlag der Archivkommission nicht Folge geleistet wurde. Erst nach ausführlichem Bericht des Rektors Eugen von Philippovich, der das Gutachten seines Archivkomitees enthielt, stimmte das Ministerium am 6. Februar 1906 zu.52 Dass die Kontroverse um Goldmann damit nicht erledigt war, bildete wohl den Anlass für die persönliche Archivvisitation durch Philipovichs Nachfolger im Rektorsamt, den Romanisten Wilhelm Meyer-Lübke. Am 4. Mai 1907 besuchte er die Räume des Universitätsarchivs, wo er sich „mit großem Vergnügen von dem guten und wohlge-

45 UAW, Akad. Senat GZ 513 – 1922/23. 46 Reichspost vom 22. 1. 1923, 4; Deutsch-österreichische Tageszeitung vom 23. 1. 1923, 4. 47 Genau so wurde es auch von Frankfurter empfunden; vgl. Walter Pongratz, Geschichte der Universitätsbibliothek Wien, Wien – Köln – Graz 1977, 131. 48 Konzept des Antwortschreibens von Diener an Frankfurter, 6. 2. 1923, UAW, Akad. Senat GZ 513 – 1922/23, zur Kenntnis genommen in der Sitzung des akad. Senats vom 23. 2. 1923, ebd. 49 Lichtenberger-Fenz, Hochschulpolitik (wie Anm. 42), 49 – 51. 50 Ebd. 51 Carl Diener, Bericht über das Studienjahr 1922/23, in: Die feierliche Inauguration des Rektors der Wiener Universität für das Studienjahr 1923/24, Wien 1923, 5. 52 UAW, Akad. Senat GZ 275 – 1905/06.

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ordneten Zustande“ desselben überzeugte.53 Er hatte sogar die Absicht, darüber in seinem Rektoratsbericht zu referieren, unterließ dies jedoch aus unbekannten Gründen. Soweit es die Beurteilung aufgrund der Aktenlage zulässt, konnte sich Goldmann danach einige Jahre lang in Ruhe seiner archivarischen und historischen Arbeit widmen. Dazu zählte auch die Arbeit zum Register der Edition der Universitätsmatrikel, welche er gemäß Senatsbeschluss vom 18. Dezember 1909 unter der fachlichen Leitung und Aufsicht durch das Institut für Österreichische Geschichtsforschung durchzuführen hatte.54 Für diese Aufgabe war er schließlich sogar von der kurzlebigen Archivkommission für befähigt erachtet worden. Im Auftrag der Historischen Kommission der Israelitischen Kultusgemeinde edierte er 1908 eine zentrale Quelle zur Geschichte der Juden im mittelalterlichen Wien.55 Im selben Jahr wurde er mit dem Ritterkreuz des FranzJoseph-Ordens geehrt.56 Schon vor seiner Anstellung im Haus-, Hof- und Staatsarchiv hatte er kultur-, literar- und bibliotheksgeschichtliche Abhandlungen veröffentlicht, Themen, mit denen er sich neben der Geschichte der Universität und des Judentums zeit seines Lebens beschäftigte.57 Seine Geschichte der Wiener Universität in den Jahren 1519 – 1740 stellt aufgrund der gründlichen Quellenarbeit ein bis heute unentbehrliches Referenzwerk dar.58 Goldmanns Ordnungs- und Erschließungsarbeiten im Universitätsarchiv haben bis heute deutliche Spuren hinterlassen; dies betrifft vor allem die zum Zeitpunkt der Kontroverse um seine Bestellung von ihm übernommenen Aktenbestände des Universitätskonsistoriums.59 Goldmann war ohne Weiteres bereit, diesbezügliche Vorschläge der Archivkommission aufzugreifen.60 Auch im Haus-, Hof- und Staatsarchiv wurde Goldmann für umfangreiche Ordnungsarbeiten eingesetzt, wobei vor allem seine Mitarbeit in der Kommis53 Konzept des Schreibens von Meyer-Lübke an Goldmann vom 6. 5. 1907, UAW, Akad. Senat GZ 1792 – 1906/07. 54 Leo Santifaller, Vorwort, in: Die Matrikel der Universität Wien, I. Band 1377 – 1450 (Publikationen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 6. Reihe: Quellen zur Geschichte der Universität Wien, 1. Abt.), Graz – Köln 1956, VIII. 55 Artur Goldmann (Hrsg.), Das Judenbuch der Scheffstraße zu Wien (1389 – 1420) (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich, 1), Wien – Leipzig 1908. Mit einem Anhang: Die „Wiener Geserah“ und die Urteils-Verkündungen von 1921, in: ebd., 112 – 134. 56 Personalblatt Arthur Goldmann, UAW, Akad. Senat S 304.364. 57 Ein bis 1936 vollständiges Werksverzeichnis findet sich bei Huter, Biographien (wie Anm. 6), 44 – 45. 58 Artur Goldmann, Die Wiener Universität 1519 – 1740, in: Geschichte der Stadt Wien VI, hrsg. vom Alterthumsvereine zu Wien, Wien 1916, als selbstständiger Separatabdruck Wien 1917. 59 Diese unterstanden zwar seit 1874 der Betreuung durch das Universitätsarchiv, befanden sich jedoch bis 1905 in den Räumen des Rektorats und waren dort weitgehend unzugänglich. 60 UAW, Akad. Senat GZ 1590 – 1905/06.

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sion zur Durchsicht der nach Wien verbrachten serbischen Archive 1915 – 1917 arbeitsintensiv und kraftraubend gewesen sein muss.61 In dieser Zeit wurde ihm das Kriegskreuz für Zivilverdienste II. Klasse verliehen.62 Der Zusammenbruch der Monarchie und der Streit um das archivalische Erbe mit den Nachfolgestaaten verursachten für das österreichische Archivwesen große Belastungen, welche sich auch in zwischenmenschlichen Spannungen niederschlugen.63 Im Haus-, Hof- und Staatsarchiv wurde die Stelle des Direktors neu besetzt und Oswald Redlich übernahm ab November 1918 als deutschösterreichischer Archivbevollmächtigter auch die Aufsicht über das Haus-, Hofund Staatsarchiv.64 In dieser Zeit begann der Aufstieg von Goldmanns Kollegen Ludwig Bittner, der zu einem führenden Repräsentanten des österreichischen Archivwesens werden sollte.65 Er zählte zu jenen Staatsarchivaren, meist Schüler Redlichs, auf welche sich der Archivbevollmächtigte insbesondere stützen konnte,66 und übernahm 1919 die stellvertretende Leitung des Haus-, Hof- und Staatsarchivs.67 Bittner vertrat mit Überzeugung deutschnationale und antisemitische Ansichten, schwärmte von den Reden Georg von Schönerers und wurde später zum überzeugten Nationalsozialisten.68 Spätestens nach der Übernahme der Direktion des Haus-, Hof- und Staatsarchivs 1926 hatte er Gelegenheit, die Personalpolitik gemäß seiner ideologischen Überzeugungen zu gestalten.69 Dass Goldmann 1920 als Staatsarchivar auf eigenen Wunsch in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde, mag sehr wohl mit dieser Entwicklung zusammenhängen. Als Begründung führte er seinen schlechten gesundheitlichen Zustand an; ein aus diesem Anlass eingeholtes amtsärztliches Gutachten bescheinigte ihm u. a. vollständige Taubheit.70 War seine Schwerhörigkeit also doch so weit fortgeschritten, dass sie der Erfüllung archivarischer Dienstpflichten 61 Huter, Biographien (wie Anm. 6), 43. 62 Personalakt Arthur Goldmann, Österr. Staatsarchiv, AdR, Archivsignatur AT-OeStA/AdR AAng BKA-AA NAR Fach 4 Serie N u. A 63 Hochedlinger, Archivgeschichte (wie Anm. 2), 169 – 175. 64 Ebd., 170, und Just, Redlich (wie Anm. 27), 420 – 425. 65 Thomas Just, Ludwig Bittner (1877 – 1945). Ein politischer Archivar, in: Karel Hruza (Hrsg.), Österreichische Historiker 1900 – 1945 (wie Anm. 25), 283 – 305. 66 Just, Redlich (wie Anm. 27), 421 – 422. 67 Just, Bittner (wie Anm. 65), 288. 68 Ebd., 295; Gernot Heiß, Von Österreichs deutscher Vergangenheit und Aufgabe. Die Wiener Schule der Geschichtswissenschaft und der Nationalsozialismus, in: Heiß, Mattl, Meissl, Saurer, Stuhlpfarrer (Hrsg.), Willfährige Wissenschaft (wie Anm. 22), 40 – 42. 69 Thomas Just, Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv in der NS-Zeit, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, 54 (2010), 107. Darin war er so erfolgreich, dass nach dem „Anschluss“ 1938 keine jüdischen Archivare enthoben werden mussten – vgl. Hochedlinger, Archivgeschichte (wie Anm. 2), 216 – 217. 70 Personalakt Arthur Goldmann, Österr. Staatsarchiv, AdR, Archivsignatur AT-OeStA/AdR AAng BKA-AA NAR Fach 4 Serie N u. A.

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entgegenstand? Jedenfalls hat er seine Stellung als Universitätsarchivar trotz Übertritts in den Ruhestand nicht aufgegeben. Die nächste Attacke gegen Goldmann bediente sich eines anderen, ungleich schwerer wiegenden Vorwurfs: Er wurde verdächtigt, Archivalien entwendet und an den bedeutenden Münchner Antiquar und Kunsthändler Jacques (Jakob) Rosenthal verkauft zu haben. Am 26. Juli 1921 traf bei der Universität ein Schreiben des erst vor Kurzem geschaffenen österreichischen Archivamts71 ein, welches darüber informierte, dass Goldmann in Begleitung von Rosenthal das Hauptgebäude der Universität über einen Nebeneingang betreten hätte, und dass beide nach kürzerer Zeit das Gebäude wieder mit Paketen in der Hand verlassen hätten. Das Archivamt empfahl der Universität die Einleitung einer Untersuchung sowie nötigenfalls die Ergreifung schärfster Maßnahmen und wies darauf hin, dass das „private Sammeln von Archivalien und noch mehr der Handel mit solchen für einen öffentlichen Archivar“ nach allgemeiner Auffassung ganz unstatthaft sei.72 Bemerkenswert ist, dass schon vor Abfassung und Eintreffen dieses Schreibens der Akademische Senat unter dem Vorsitz des Rektors, des Historikers Alfons Dopsch, am 16. Juli 1921 den Beschluss zur Suspendierung Goldmanns und zur Einleitung eines Disziplinarverfahrens gefasst hat. Da das Protokoll dieser Sitzung nicht erhalten ist, konnte nicht festgestellt werden, wer die Sache im Senat vorgetragen und den entsprechenden Antrag gestellt hat. Vermutlich war es der Rektor selbst, der durch seine Kontakte zu Historikern und Archivaren von der Angelegenheit ohne Weiteres im Voraus informiert gewesen sein kann. Weshalb wusste das Archivamt so genau über die angezeigten Vorkommnisse Bescheid? Es war von der geplanten Reise Rosenthals nach Österreich informiert worden und hatte umgehend eine polizeiliche Observierung veranlasst. Bei seiner Ausreise wurde eine Perlustrierung durchgeführt und später gegen ihn ein Strafverfahren wegen Verletzung von Ausfuhrbestimmungen eingeleitet.73 Jacques Rosenthal entstammte einer in München ansässigen jüdischen Antiquarsfamilie, welche in ganz Europa und in den USA Geschäftsbeziehungen 71 Zum diesem ersten, kurzlebigen Archivamt siehe Hochedlinger, Archivgeschichte (wie Anm. 2), 177 – 178; Walter Goldinger, Geschichte des österreichischen Archivwesen (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Erg.-Bd. V), Wien 1957, 48; Ludwig Bittner, Die geschichtliche Entwicklung des archivalischen Besitzstandes und der Einrichtungen des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, in: ders. (Hrsg.), Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. 1, Wien 1936, 45* u. 120*. Laut Bittner sind die Akten des Archivamts 1927 beim Brand des Justizpalastes zerstört worden. Zu seinen Aufgaben zählte u. a. der Archivalienschutz. 72 Schreiben des Archivamts vom 23. 7. 1921 an das Rektorat der Universität Wien, Disziplinarakt Arthur Goldmann, UAW, Sonderreihe Disziplinarakten, Senat S 185.236. Alle weiteren Informationsquellen zu dieser Angelegenheit befinden sich ebenfalls dort. 73 Schreiben des Archivamts an das Rektorat vom 22. 11. 1921, ebd.

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unterhielt.74 Rosenthal war nicht nur Geschäftsmann, sondern auch anerkannter Experte für mittelalterliche Handschriften und Inkunabeln; seine Kataloge waren Nachschlagewerke ersten Ranges.75 Sein Unternehmen zählte zu den bedeutendsten Antiquarsfirmen weltweit. Er hatte seine Reise nach Österreich brieflich mehreren Sammlern und Antiquaren, aber auch öffentlichen Archiven und Bibliotheken angekündigt und dadurch die Aufmerksamkeit des Archivamts erregt. Er und seine Brüder waren schon vor dem Ersten Weltkrieg Handelspartner bayerischer und österreichischer Klöster gewesen, welche ihre finanzielle Notlage durch Bücherverkäufe mildern wollten. Möglicherweise hat Arthur Goldmann schon früher mit Rosenthal Geschäftsbeziehungen unterhalten; als wissenschaftlicher Kenner der Bibliothekengeschichte muss ihm der Name auf jeden Fall bekannt gewesen sein. Er bestritt auch gar nicht sein Treffen mit Rosenthal und rechtfertigte die Tatsache, dass die Übergabe der Dokumente in der Universität stattgefunden hatte, mit der räumlichen Nähe zu Rosenthals Hotel. Alle von ihm verkauften Autografen, Fragmente und Bücher stammten aus seinem Privatbesitz. Goldmann wählte den bedeutenden Strafrechtler und Wiener Universitätsprofessor Alexander Löffler, welcher einer jüdischen Familie entstammte,76 zu seinem Verteidiger im Disziplinarsenat der Universität Wien. In diesem führte niemand Geringerer als Hans Kelsen77 den Vorsitz. Der Disziplinarsenat bestätigte zunächst die durch Rektor Dopsch verhängte vorläufige Suspendierung und leitete eine Untersuchung ein. Die Verhandlung vom 11. November 1921 dauerte nur zweieinhalb Stunden und endete mit dem Beschluss, das Verfahren gegen Goldmann sofort einzustellen. Der Senat gelangte zur Auffassung, dass Goldmann kein wie immer geartetes Verschulden treffe.78 In der Verhandlung wurde die Aussage des Wiener Rechtsprofessors Hans von Voltelini79 referiert, welcher sich als Jugendfreund und zeitweiliger Ar74 Sigrid Krämer, Rosenthal, Jakob, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 22, 2005, 77 – 78. Zur Familie und ihrer Bedeutung siehe Die Rosenthals. Der Aufstieg einer jüdischen Antiquarsfamilie zu Weltruhm, Wien – Köln – Weimar 2002, dort insbesondere Anton Löffelmeier, Das Antiquariat Jacques Rosenthal, in: ebd., 91 – 135. 75 Ebd., 102 – 104. 76 Wolfgang Schild, Löffler, Alexander, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 15, 1987, 30 – 32. Löffler war 1896 aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten und zum Protestantismus konvertiert; vgl. Anna L. Staudacher, Jüdisch-protestantische Konvertiten in Wien 1782 – 1914, Teil 2, Frankfurt am Main 2004, 441. 77 Robert Walter, Werner Ogris, Thomas Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit. Ergebnisse einer internationalen Tagung, veranstaltet von der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs und dem Hans Kelsen-Institut (19.–21. April 2009), Wien 2009. 78 Protokoll der Disziplinarkommission von 11. 11. 1921, UAW, Disziplinarakt Arthur Goldmann, Sonderreihe Disziplinarakten, Senat S 185.236. 79 Fritz Fellner, Doris A. Corradini, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhun-

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beitskollege von Goldmann im Haus-, Hof- und Staatsarchiv für dessen Ehrenhaftigkeit verbürgte. Dies wurde von einem Senatsmitglied, dem Botaniker Richard von Wettstein, der Goldmann ebenfalls seit seiner Jugend kannte, bestätigt. Die Urteilsbegründung stellte fest, dass Arthur Goldmann das Amt des Universitätsarchivars gegen eine ganz geringfügige Remuneration in gewissenhaftester Weise versah. Sein Treueverhältnis zur Universität erging auch aus der Tatsache, dass er in einem dem Senat vorliegendem Testament die Wiener Universität reichlich bedacht hatte. Seine Privatsammlung, aus der er das Wiener Postmuseum und die Berliner königliche Bibliothek mit großzügigen Geschenken bedacht hatte, bewahrte er, getrennt von den Beständen des Universitätsarchivs, in seiner Wohnung auf. Über fast alle Stücke, welche er an Rosenthal verkauft hatte, konnte er den Nachweis des redlichen Erwerbs erbringen. Somit ergaben sich für den Disziplinarsenat keinerlei Anhaltspunkte für einen gerechtfertigten Verdacht gegen ihn.80 Der Beschluss zur Verfahrenseinstellung erfolgte einstimmig; jedoch monierte der ebenfalls dem Disziplinarsenat angehörende Rechtsprofessor Wenzel Gleispach, dessen Name untrennbar mit der unter seinem Rektorat 1930 beschlossenen, nach dem Volksbürgergrundsatz ausgerichteten und antisemitisch geprägten Studentenordnung verbunden ist,81 dass der Beschluss einer besonders ausführlichen Begründung bedürfte und dieser nicht nur dem Akademischen Senat, sondern auch dem Archivamt zur Kenntnis gebracht werden müsste. Schon bald nach Abschluss der Verhandlung wurde Arthur Goldmann, der die Zeit der erzwungenen Freistellung für die Arbeit im Wilczekschen Familienarchiv genutzt hatte, von der Aufhebung seiner Suspendierung verständigt. Am 19. Dezember 1921 beschloss der Akademische Senat einstimmig, Goldmann zur Wiederaufnahme seiner verdienstvollen Tätigkeit als Universitätsarchivar zu ersuchen.82 Dem Archivamt wurde tags darauf das vom Rektor Gustav Riehl gezeichnete Schreiben mit dem Ergebnis der Disziplinaruntersuchung zugeschickt.83 Darin wurde nicht nur der Grund für die Verfahrenseinstellung mitgeteilt, sondern der vom Archivamt geäußerte Verdacht gegen Goldmann als vollkommen haltlos bezeichnet. Die Auffassung, dass privates Sammeln und der Handel von Archivalien durch öffentliche Archivare unstatthaft sei, könne vom

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dert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs, 99), Wien – Köln – Weimar 2006, 432. Ebd. Vgl. dazu insbesondere Lichtenberger-Fenz, Hochschulpolitik (wie Anm. 42). Konzept des Schreibens von Rektor Gustav Riehl an Löffler vom 20. 12. 1921, Disziplinarakt Arthur Goldmann, UAW, Sonderreihe Disziplinarakten, Senat S 185.236. Konzept des Schreibens von Rektor Gustav Riehl an das Archivamt vom 20. 12. 1921, ebd.

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Rektorat nicht geteilt werden; außerdem erfülle eine gelegentliche Veräußerung nicht den Begriff „Handel“. Das Archivamt beantwortete diese Zuschrift, welche es aufgrund der vorwurfsvollen Untertöne als Affront betrachtete, sehr ausführlich, wobei es ausdrücklich auf die Ungereimtheiten des universitätsinternen Ablaufes, dass nämlich die Suspendierung schon vor der Verständigung durch das Archivamt erfolgt war, einging.84 Darüber hinaus hatte sich offenbar ein nicht genanntes Mitglied des Akademischen Senats persönlich beim Leiter des Archivamts, dem Historiker, Archivar und Politiker Michael Mayr (bis Juni 1921 auch Bundeskanzler), über dessen Vorgehen beschwert. Zuletzt brachte das Archivamt Zitate aus den Leitsätzen der Gewerkschaft wissenschaftlicher Beamter und aus einer ministeriellen Verfügung vor, wonach das Sammeln und Handeln auf dem eigenen Gebiete für wissenschaftliche und kunsthistorische Beamte unstatthaft bzw. unzulässig wäre. Der Akademische Senat beschloss, von einer Beantwortung dieses Schreibens abzusehen.85 Die volle Rehabilitierung erfüllte Goldmann mit großer Genugtuung; er betrachtete die Vorwürfe gegen ihn als eine „schmachvolle, vom sogenannten Archivamte mit beispielloser Leichtigkeit gegen mich geschleuderte Verläumdung [sic]“.86 Da seine Gesundheit unter alledem gelitten hätte, werde er erst nach Ablauf einiger Wochen seine Arbeit als Universitätsarchivar wieder aufnehmen können. Wenigstens hatte die ganze Angelegenheit für ihn zur Folge, dass seine monatliche Remuneration, welche aufgrund der Hyperinflation völlig entwertet war, unmittelbar nach seiner Rückkehr auf Betreiben des Rektors Riehl erhöht wurde.87 Tatsächlich scheint Goldmanns körperliche Verfassung zu dieser Zeit nicht mehr die beste gewesen zu sein. Trotzdem hat er sich nicht nur der Arbeit im Universitätsarchiv, welche ja nur als Teilzeitbeschäftigung aufgefasst wurde, gewidmet, sondern auch anderen Archivangelegenheiten. So wurde er von der Israelitischen Kultusgemeinde 1921 mit der Leitung eines Fachkomitees betraut, welches Vorschläge zur Neuorganisation des Gemeindearchivs erarbeiten sollte.88 Die Historische Kommission der IKG stimmte seinen Reformplänen zu und 84 85 86 87 88

Schreiben des Archivamts an das Rektorat vom 30. 12. 1921, ebd. Senatsbeschluss vom 25. 1. 1922, ebd. Schreiben von Goldmann an den akademischen Senat vom 30. 12. 1921, ebd. Bewilligung durch das Ministerium für Inneres und Unterricht vom 5. 5. 1922, ebd. Gerhard Milchram, Christa Prokisch, Entropie oder Vom vergeblichen Versuch, Ordnung zu schaffen. Ein Überblick über die Geschichte des Archivs der IKG Wien, in: Felicitas Heimann-Jelinek, Lothar Hölbling, Ingo Zechner (Hrsg.), Ordnung muss sein. Das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Wien 2007, 26. Vgl. auch Avshalom Hodik, Das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (Typoskript), Jerusalem – Wien 1979, 4 – 5 (eingesehen im Archiv der IKG Wien). Gemeinsam mit Alfred F. Prˇibram hatte er schon 1913 Vorschläge zur Ordnung des Gemeindearchivs gemacht (vgl. Hodik, Archiv, 3).

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erwog 1923 sogar, Goldmann selbst mit der Durchführung des Programms und der Leitung des Archivs zu beauftragen.89 Dass es dann doch nicht dazu kam, lag an der mangelnden Koordination zwischen Historischer Kommission und Gemeindevorstand, an unterschiedlichen Meinungen über die zu treffenden Maßnahmen und der fehlenden finanziellen Basis für die Umsetzung der Vorschläge.90 1927 wurde Goldmann von der Historischen Kommission gebeten, die Herausgabe der Regesten zur Geschichte der Juden in Wien zu übernehmen, was er wegen gesundheitlicher Probleme ablehnen musste.91 Schon zwei Jahre davor wurde mit Beteiligung Oswald Redlichs versucht, im Universitätsarchiv die Anstellung einer wissenschaftlichen Hilfskraft für Goldmann durchzusetzen.92 Dieser war damit vollkommen einverstanden und erklärte, dass er sich schon seit Längerem mit dem Gedanken trage, sich vom Dienst zurückzuziehen.93 Es ist nicht klar, weshalb die Sache unerledigt blieb. 1927 ergriff Redlich erneut die Initiative und schlug einen Absolventen des Institutskurses als Hilfskraft vor.94 Wiederum hatte Goldmann gegen diesen Vorschlag keine grundsätzlichen Einwände und war sich dessen bewusst, dass er aus Altersgründen das Amt des Universitätsarchivars nicht mehr lange würde ausüben können.95 Rektor Hans Molisch begründete diese Maßnahme u. a. mit dem Argument, dass wegen der inzwischen fast vollständigen Taubheit mit Goldmann nur eine schriftliche Kommunikation möglich wäre.96 Auch diesmal blieb die Angelegenheit jedoch ohne Entscheidung, weil das Unterrichtsministerium nur einen bereits im Bundesdienst stehenden Archivar als Hilfskraft akzeptieren wollte und der von Redlich vorgeschlagene Kandidat Wilhelm Kraus diese Bedingung nicht erfüllte. Als dieser 1929 schließlich doch eine provisorische Anstellung im Haus,– Hofund Staatsarchiv erhalten sollte,97 hatte sich die Situation im Universitätsarchiv jedoch schlagartig geändert. Es war wohl die Absicht Goldmanns gewesen, wenigstens so lange im Uni89 Sitzungsprotokoll der Histor. Kommission der IKG vom 18. 11. 1923, Archiv der IKG, Mikrofilm 239, Original in den Central Archives for the History for the History of the Jewish People Jerusalem (CAHJP), Bestand VIII/L/3, Signatur A/W 1724,3. 90 Hodik, Archiv (wie Anm. 88), 5. Der Aktenbestand zur Reorganisation des IKG-Archivs ist in Wien nicht auf Mikrofilm verfügbar (CAHJP, Bestand VIII/L/2, Signatur A/W 1707). 91 Sitzungsprotokoll der Histor. Kommission der IKG vom 6. 11. 1927, Archiv der IKG, Mikrofilm 239, Original CAHJP, Bestand VIII/L/3, Signatur A/W 1724,3. 92 Zuweisung einer wissenschaftlichen Hilfskraft für Archivar Dr. Goldmann, UAW, Akad. Senat GZ 787 – 1924/25. 93 Schreiben Goldmanns an Rektor Sperl vom 27. 4. 1925, ebd. 94 Zuweisung einer Hilfskraft an das Universitätsarchiv, UAW, Akad. Senat GZ 1068 – 1926/27. 95 Schreiben von Goldmann an Rektor Molisch vom 5. 12. 1927, ebd. 96 Konzept des Schreibens von Rektor Molisch an das Unterrichtsministerium vom 9. 3. 1928, ebd. 97 Zu Kraus vgl. Huter, Biographien (wie Anm. 6), 75.

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versitätsarchiv zu verbleiben, bis mit der angestrebten Hilfskraft ein potenzieller Nachfolger gefunden war. Dazu kam es jedoch nicht. Am 27. Juni 1929 suchte Goldmann in einem Zustand großer Erregung Rektor Theodor Innitzer in seinem Büro auf und erklärte, dass ein Archivbenützer von ihm verlangt hätte, einen Teil seiner Bestände an das Haus-, Hof- und Staatsarchiv zur Foliierung vorübergehend abzutreten.98 Diesen Wunsch habe er abgelehnt, weil er für seine Archivbestände die Verantwortung trage und ein allfälliger Verlust von Archivalien ihm persönlich angelastet werden würde. Daraufhin sei auch der Historiker Heinrich von Srbik bei ihm erschienen, der die Forderung mit Nachdruck wiederholt und mit der Einschaltung des Rektorats gedroht habe. Goldmann erklärte Innitzer, dass er selbst dann seine Zustimmung verweigern würde, wenn der Rektor der Forderung nachgeben sollte. In diesem Falle müsste er seinen Rücktritt als Universitätsarchivar erklären. Innitzer, der zur Frage der Übertragung von Archivalien an das Haus-, Hof- und Staatsarchiv bei dieser Gelegenheit noch keine Entscheidung traf,99 entschied sich, dies als Rücktrittserklärung aufzufassen. Goldmanns Tätigkeit im Universitätsarchiv war dadurch mit sofortiger Wirkung beendet. Schon am nächsten Tag musste Goldmann, in einem Zustand großer Aufregung, in Anwesenheit von Innitzer, Oswald Redlich und zweier Rektoratsbeamter das Archiv samt seinen Schlüsseln dem Rektorat übergeben.100 Innitzers Entschluss war, wie er im Aktenvermerk festhält, wesentlich davon beeinflusst, dass die Historiker an der Universität schon seit Längerem eine „Kollektiveingabe“ gegen Goldmann im Akademischen Senat geplant hatten.101 Dieser war durch die Geschehnisse so verbittert, dass er die anlässlich seines Ausscheidens angebotene einmalige Remuneration ablehnte und den ganzen Vorgang nicht völlig unzutreffend als Entlassung bezeichnete.102 Angesichts des fortgeschritten Alters und der gesundheitlichen Probleme Goldmanns kann kaum Zweifel daran bestehen, dass Klagen über die eingeschränkte Benützbarkeit des Universitätsarchivs ihre Berechtigung hatten.103 Die Universität hatte es jedoch versäumt, rechtzeitig und mit nötigem Nachdruck die Anstellung einer Hilfskraft zur Unterstützung Goldmanns zu betreiben und auf diese Weise auch einen möglichen Nachfolger aufzubauen. Es gibt keine weiteren Unterlagen zur von Innitzer erwähnten geplanten „Historiker-Kollektiv98 Amtsvermerk Innitzers vom 27. 6. 1929, UAW, Akad. Senat GZ 1052 – 1928/29. 99 Erst einen Monat später wurden, nach ausführlicher Rücksprache mit dem Staatsarchivar Lothar Groß, die fraglichen Aktenfaszikel vorübergehend an das Haus-, Hof- und Staatsarchiv abgetreten. Mit der Angelegenheit wurde seitens der Universität der Kanzleidirektor beauftragt; vgl. Übertragung von fünf Aktenfaszikeln des Univ.-Archivs in das Staatsarchiv, UAW, Akad. Senat GZ 1138 – 1928/29. 100 Übergabe-Protokoll vom 28. 6. 1929, UAW, Akad. Senat GZ 1052 – 1928/29. 101 Amtsvermerk Innitzers vom 27. 6. 1929, ebd. 102 Schreiben von Goldmann an Rektor Innitzer vom 8. 9. 1929, ebd. 103 Durchschrift des Protokolls der Senatssitzung vom 16. 7. 1929, ebd.

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eingabe“, aber es ist wohl davon auszugehen, dass jene Professoren, die schon in den Jahren zuvor gegen Goldmann agiert hatten, dabei eine führende Rolle spielten. Goldmanns gesundheitliche Defizite boten ausreichend Angriffsfläche; das von Deutschnationalismus und Antisemitismus geprägte Umfeld muss seine Stellung an der Universität jedoch schwer beeinträchtigt haben. In der universitären Geschichtswissenschaft dominierte die „gesamtdeutsche Geschichtsauffassung“, deren Vertreter sich 1938 als geistige Wegbereiter des „Anschlusses“ rühmten.104 Hervorzuheben ist hier insbesondere Heinrich von Srbik.105 Viele aus diesem Kreis betätigten sich schon in den 1920er-Jahren in deutschnationalen Verbänden oder Netzwerken, deren Ziel es war, konservative und rassen-antisemitische Standpunkte in der universitären Personalpolitik durchzusetzen.106 Darunter finden sich auch Akteure, welche in den schriftlichen Unterlagen zu den Versuchen, Goldmann zu demontieren, fassbar werden, etwa Dopsch und Srbik. Auch Bittner, welcher als Dozent (mit dem Titel eines ordentlichen Professors) auch im universitären Betrieb verankert war, muss hier wohl berücksichtigt werden, da er bei der Nachfolgeregelung nach Goldmanns unfreiwilligem Rücktritt unverzichtbar war. Sicherlich dem Zufall geschuldet, jedoch für das universitäre Klima bezeichnend, ist die Tatsache, dass nicht nur während Goldmanns Bestellung 1905 rassistische Ausschreitungen stattfanden, sondern auch unmittelbar vor seinem Abgang im Juni 1929 nationalsozialistische und deutschnationale Studierende gewalttätige Übergriffe gegen jüdische Kommilitonen in der Universität begingen.107 Demgegenüber ist es auffällig, letztlich aber nicht überraschend, dass jene Akteure, die für Goldmann an der Universität Partei ergriffen, meist auch in anderen Zusammenhängen in Gegnerschaft zu konservativen und deutschnational-antisemitischen Gruppierungen standen. So etwa Rektor Philippovich, der 1905 selbst wegen der Berufung von Max Dvorˇ‚k zum Angriffsziel wurde, und sein Amtsnachfolger Meyer-Lübke, der die Habilitierung der ersten Frau an der Universität Wien, der später im KZ Theresienstadt ermordeten Romanistin

104 Vgl. Heiß, Wiener Schule (wie Anm. 68), 45. 105 Vgl. zuletzt Martina Pesditschek, Heinrich (Ritter von) Srbik (1878 – 1951). „Meine Liebe gehört bis zu meinem Tod meiner Familie, dem deutschen Volk, meiner österreichischen Heimat und meinen Schülern“, in: Karel Hruza (Hrsg.), Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900 – 1945, Bd. 2, Wien–Köln–Weimar 2012, 263 – 328. 106 Ebd., 40 – 44, und Oliver Rathkolb, Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien zwischen Antisemitismus, Deutschnationalismus und 1938, davor und danach, in: Heiß, Mattl, Meissl, Saurer, Stuhlpfarrer (Hrsg.), Willfährige Wissenschaft (wie Anm. 22), 197 – 200. 107 Vgl. dazu die Meldungen in den Tageszeitungen von 9. 6. 1929 bis zum 23. 6. 1929, etwa Neue Freie Presse vom 9. 6. 1929, 19. 6. 1929, 20. 6. 1929 und 21. 6. 1929, Arbeiter-Zeitung vom 9. 6. 1929, 15. 6. 1929 und 21. 6. 1929.

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Elise Richter, unterstützte.108 Goldmann selbst stand durch seine Verwandtschaft mütterlicherseits in Bezug zum liberalen jüdischen Bürgertum: Mitglieder der Familie Landau zählten zum Freundeskreis der ebenfalls aus Lemberg stammenden Brüder Ludwig und Richard von Mises,109 dem auch ein Freund Goldmanns zuzuzählen ist, welcher von ihm in seinem Testament bedacht wurde.110 Die Nachfolge Goldmanns im Universitätsarchiv trat der Staatsarchivar Fritz Reinöhl an. Seine Bestellung war hauptsächlich die Folge des Zusammenwirkens des neuen Rektors Wenzel Gleispach mit Heinrich von Srbik und Ludwig Bittner.111 Reinöhl besaß die geforderten Qualifikationen und passte bestens zum ideologischen Profil der genannten Akteure.112 Er war später NSDAP-Ortsgruppenleiter in Baden-Stadt und wurde nach Kriegsende sowohl als Staats- als auch als Universitätsarchivar entlassen. Reinöhl verfügte über keinerlei Expertise zur Universitätsgeschichte und musste sich mangels geordneter Amtsübergabe erst mühsam in die Materie einarbeiten. Dabei sparte er nicht mit Kritik an der archivarischen Arbeit seines Amtsvorgängers Goldmann.113 Anders als dieser hat er während seiner ganzen Amtszeit keine universitätshistorischen Arbeiten verfasst. Zu Beginn der 1930er-Jahre rückte das Universitätsarchiv verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit des Akademischen Senats. Treibende Kraft war der Altphilologe und Pädagoge Richard Meister, der als Dekan der Philosophischen Fakultät im Frühjahr 1931 im Akademischen Senat die Neuerrichtung der Archivkommission beantragte und durchsetzte. Er selbst übernahm den Vorsitz, den er über alle Regimewechsel hinweg bis zu seiner Emeritierung 1956 innehatte. Meister entwickelte sich zur zentralen Figur der österreichischen Hochschulpolitik und Wissenschaftsorganisation114 und hatte großes Interesse an 108 Elisabeth Andraschko, Elise Richter – eine Skizze ihres Lebens, in: Waltraud Heindl/Marina Tichy (Hg.), „Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück …“ Frauen an der Universität Wien (ab 1897) (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien, 5), Wien 1990, 225 – 226. 109 Namentlich der Anatom Max Landau (ÖBL 4, 1969, 427), siehe Jörg Guido Hülsmann, Mises. The last knight of liberalism, Auburn, Alabama, 2007, Registereintrag „Landau“. 110 Es handelt sich um Hugo Nirenstein, der 1942 zunächst nach Theresienstadt, dann nach Treblinka deportiert wurde (http://www.holocaust.cz/de/victims/PERSON.ITI.949924, abgerufen am 25. 2. 2013). Testament Arthur Goldmanns vom 1. 12. 1940, Wiener Stadt und Landesarchiv, Bezirksgericht Innere Stadt, A4/15: 15 A 140/1942. 111 Schreiben von Gleispach an Srbik vom 23. 9. 1929, UAW, Akad. Senat GZ 1052 – 1928/29, und Bestellung von Staatsarchivar Dr. Friedrich Reinöhl zum Leiter des Univ.-Archivs, UAW, Akad. Senat 176 – 1929/30. 112 Just, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (wie Anm. 69), 107 – 108; Huter, Biographien (wie Anm. 6), 111 – 113; Fellner/Corradini (wie Anm. 79), Geschichtswissenschaft, 341. 113 Tätigkeitsbericht von Reinöhl, 2. 4. 1930, UAW, Akad. Senat GZ 176 – 1929/30. 114 Alois Eder, Meister, Richard, in: Neue Deutsche Biographie, 16 (1990), 728 – 729; Gertrude Enderle-Burcel, Mandatare im Ständestaat 1934 – 1938. Biographisches Handbuch der Mitglieder des Staatsrates, Bundeskulturrates, Bundeswirtschaftsrates und Länderrates

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Universitäts- und Bildungsgeschichte. Die strategische Leitung der Archivangelegenheiten richtete er schon früh auf das noch einige Jahrzehnte entfernt liegende 600-Jahr-Jubiläum der Wiener Universität aus. Neben ihm gehörten der Kommission noch die Historiker Alfons Dopsch, Hans Hirsch und Heinrich von Srbik, Vertreter der übrigen Fakultäten sowie der Universitätsarchivar Reinöhl als kooptiertes Mitglied an. Neben der Sicherung von Altbeständen, welche noch nicht an das Archiv abgeliefert worden waren, wollte die Kommission den schon lange überfälligen Abschluss der Matrikeledition bewerkstelligen.115 Dazu benötigte man jedoch die umfangreichen Vorarbeiten, die Arthur Goldmann für die Erstellung des Registers geleistet hatte. Um diese von ihm zu erhalten, trat Hans von Voltelini, Vertreter der Rechtsfakultät in der Archivkommission und Schulfreund Goldmanns, an diesen heran und bat ihn um die Herausgabe seiner Unterlagen. Die Kommission hat dafür eine finanzielle Entschädigung angeboten; die Möglichkeit, Goldmann weiterhin als Mitarbeiter des Editionsprojektes zu beschäftigen, wurde wohl aus nachvollziehbaren Gründen nicht erwogen. Goldmann betrachtete dieses Material jedoch als sein privates Eigentum. Er weigerte sich beharrlich, seine Arbeit den „Herren, die mich am 27. Juni 1929 so schmählich davonjagten“116, auszuhändigen. Auch seinem Freund Voltelini gegenüber bekräftigte er : „Ich verkaufe absolut nichts.“117 Damit brachte er das Editionsunternehmen ins Stocken. Erst 1934, als der Akademische Senat Goldmann mit rechtlichen Konsequenzen drohte, gab er seine Vorarbeiten zur Matrikeledition gegen eine kleine finanzielle Entschädigung heraus.118 Anlässlich seines 70. Geburtstages wurde Goldmann in der Neuen Freien Presse mit einer kurzen Laudatio gewürdigt.119 Bis 1938 betreute er das Familienarchiv Wilczek. Nach dem „Anschluss“ war er, wie alle, die gemäß der NSRassengesetzgebung als Juden galten, zur Deklaration seiner Vermögensverhältnisse gezwungen. Dabei setzte er für seine Bibliothek den Wert von 5000 RM ein, was er kurz danach bereute: Es seien keine Luxusbücher, sondern nur Studienbehelfe.120 Aus einem Dokument anlässlich der bevorstehenden Delogierung Goldmanns aus seiner Wohnung in der Liechtensteinstraße, welche er

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sowie des Bundestages, Wien 1991, 160 – 162. Zuletzt über seine Mitwirkung bei der Abfassung des HOG 1955: Thomas König, Die Entstehung eines Gesetzes: Österreichische Hochschulpolitik in den 1950er Jahren, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 23 (2012) 2, 57 – 81, bes. 61 – 62. Akten der Archivkommission, UAW, Akad. Senat S 104. Brief von Goldmann, 9. 7. 1931, ebd., Nr. 13. Brief von Goldmann, 17. 7. 1931, ebd., Nr. 15. Ebd., Nr. 40 – 43, 48. Neue Freie Presse vom 7. 2. 1933, 5. Vermögensanmeldung Arthur Goldmann, Österreichisches Staatsarchiv, AdR, VVSt [Vermögensverkehrsstelle], VA [Vermögensanmeldung] 1138.

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bis 1939 jahrzehntelang bewohnt hatte, geht hervor, dass er im Besitz von ca. 30.000 Büchern war.121 Über das Schicksal dieser Bibliothek konnte bislang nichts Konkretes in Erfahrung gebracht werden. Es ist belegt, dass sie sehr wohl die Aufmerksamkeit der Ariseure erregt hat: Der Direktor der Wiener Universitätsbibliothek Alois Jesinger nannte 1939 neben Salomon Frankfurter und der Witwe von Michael Holzmann auch Arthur Goldmann, als er über Buchbestände mit jüdischer und hebräischer Literatur Auskunft geben sollte.122 Frankfurters Bibliothek landete letztlich in der Nationalbibliothek, nicht jedoch die von Goldmann. Auch die Provenienzforschung an der Wiener Universitätsbibliothek hat bisher keine Werke aus dem Besitz von Arthur Goldmann ausfindig machen können.123 Möglicherweise blieb er tatsächlich bis zuletzt im Besitz seiner Bücher und musste zur Sicherung seiner Existenz Notverkäufe tätigen. Goldmann starb am 21. Jänner 1942 im jüdischen Ausweichspital in der Malzgasse im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Er hinterließ mehrere Kisten mit seiner Habe, über deren genaue Zahl und Inhalt nichts bekannt ist, da das Nachlassinventar nicht erhalten ist.124 Goldmann hatte einen „arischen“ Buchhändlergehilfen, den er im Testament als seinen Freund bezeichnete, zum Universalerben eingesetzt, der dann auch mit der Besorgung und Verwaltung des Nachlasses betraut wurde.125 Die Verdächtigung des Archivaliendiebstahls verfolgte Goldmann bis in sein Grab. Als sein Tod dem Reichsarchiv Wien bekannt wurde, hat man dort seinen Nachfolger im Universitätsarchiv, Fritz Reinöhl, damit beauftragt festzustellen, ob in Goldmanns Nachlass Archivalien aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv 121 Brief des Rechtsanwaltes Dr. Adolf Strisower an Gauleiter Bürkel vom 12. 1. 1939, in: Lorenz Mikoletzky (Hrsg.), Archives of the Holocaust, vol. 21: Allgemeines Verwaltungsarchiv, Archiv der Republik, Vienna, New York – London 1995, 108 – 110. 122 Murray G. Hall, Christina Köstner, … Allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern … Eine österreichische Institution in der NS-Zeit, Wien – Köln – Weimar 2006, 268. UAW, Archiv der UB Wien, Zl. 562 (367)/1939. 123 Vgl. zuletzt: Christina Köstner-Pemsel, Markus Stumpf, „Machen Sie es ordentlich, damit man nachher, wenn wir die Bücher ihren Besitzern zurückgeben, nicht sagt, es hätten Schweine in der Hand gehabt.“ Die Orientalistik – Ergebnisse der NS-Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek Wien, in: Mitteilungen der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen & Bibliothekare, 65 (2012), 1, 39 – 78. Siehe auch weitere Ergebnisse unter http://bibliothek.univie.ac.at/provenienzforschung-publikationen.html (abgerufen am 15. 2. 2013). 124 Verlassenschaftsakt Goldmann, Wiener Stadt und Landesarchiv, Bezirksgericht Innere Stadt, A4/15: 15 A 140/1942. 125 Dieser Mann ist, falls keine zufällige Namensgleichheit vorliegt, 1964 verstorben. Das einzige von mir bislang ausfindig gemachte Werk, welches mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Goldmanns Besitz stammt, wurde 1979 aus der Bibliothek Friedrich Speiser in die Wienbibliothek im Rathaus übernommen, vgl. Kunst-Datenbank des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, http://www.kunstrestitution.at/ detailsucheausgabe/items/8249.html (abgerufen am 5. 2. 2012).

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oder dem Universitätsarchiv vorhanden wären.126 Die Nachforschungen blieben bis Kriegsende ergebnislos und wurden nicht wieder aufgenommen.

126 Österreichisches Staatsarchiv, AdR, Reichsarchiv Wien, Direktion, GZ 392 – 1942.

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Terror gegen Tandler. Kontext und Chronik der antisemitischen Attacken am I. Anatomischen Institut der Universität Wien, 1910 bis 1933 „Verglichen mit dem Problem der Tat und der Lebensordnung der Juden ist der Antisemitismus wirklich dritten Ranges; als Erkenntnisproblem aber, als Anstoß zum Denken, zur Richtung und Öffnung des Geistes, als Zwang zur Besinnung unüberschätzbar.“ Arnold Zweig, „Caliban oder Politik und Leidenschaft. Versuch über die menschlichen Gruppenleidenschaften dargetan am Antisemitismus“, Potsdam 1927, 45

I.

Einleitung

Betritt man das Hauptgebäude der Universität Wien, dann fällt in der Aula linker Hand eine 2006 eingerichtete Installation auf: Die Universität stellt in einer Wandnische stolz ihre Nobelpreisträger aus, also all jene Forscher, die an der Uni Wien mehr oder weniger lang arbeiteten und dann den wichtigsten Wissenschaftspreis der Welt erhielten. Schließlich trägt die Zahl der Laureaten in manchen internationalen Uni-Rankings zur Platzierung bei. Insgesamt neun Wissenschaftler werden da mit einem Porträt gezeigt, in der ersten Reihe zwei Medizin-Nobelpreisträger : Robert B‚r‚ny und Karl Landsteiner. Der Ohrenheilkundler B‚r‚ny erhielt 1914 den Nobelpreis für seine Arbeiten über die Physiologie und Pathologie des Gleichgewichtsorgans. Karl Landsteiner, dessen Porträt den letzten 1000-Schilling-Schein zierte, wurde 1930 für die Entdeckung der Blutgruppen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Hinter den beiden lugen dann noch andere Laureaten wie Konrad Lorenz oder Erwin Schrödinger hervor. Für Begleittexte gibt es da nicht allzu viel Platz. Deshalb wird in einer Inschrift auf der Installation auf andere Quellen verwiesen: „Weitere Information zu Leben und Werk der Nobelpreisträger – u. a. auch zur Diskussion um ihre Involvierung in den Nationalsozialismus bzw. ihre Vertreibung durch den Nationalsozialismus – finden Sie im Internet unter www.univie.ac.at/archiv.“ Dort wird man bei den NS- bzw. Eugenik-Sympathisanten Lorenz und WagnerJauregg insofern fündig, als es weitere externe Links und Literaturverweise gibt. Dass Erwin Schrödinger, Victor Franz Hess und Otto Loewi – alle drei allerdings nur kurze Zeit an der Uni Wien lehrend – Österreich 1938 verlassen mussten,

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findet man auch nicht in den Begleittexten, sondern allenfalls durch Links auf der Homepage der Nobel-Stiftung.1 Robert B‚r‚ny (1876 – 1936) erhielt die Nachricht vom Nobelpreis in russischer Kriegsgefangenschaft; den Preis holte er sich auf dem Rückweg nach Wien ab. Nach seiner Rückkehr 1916 bewarb sich der ausgezeichnete Nur-Dozent 1916 um eine unbezahlte a. o. Professur und biss auf Granit. Neider und Antisemiten an der Universität Wien bemühten alle möglichen konstruierten Argumente gegen B‚r‚ny – unter ihnen auch der Anatom Julius Tandler, der selbst jüdischer Herkunft und zentrales Ziel antisemitischer Attacken war, aber dennoch mitunter antisemitisch agierte. Angeblich hatte der Neo-Nobelpreisträger B‚r‚ny seine Kollegen nicht ausreichend zitiert. Die interessierte Öffentlichkeit sah es anders: In einer Zeitungskarikatur wurde B‚r‚ny mit den Worten „Alle Ohrenleiden habe ich ergründet – nur die Taubheit der Wiener Fakultät nicht“ abgebildet. Der Ohrenspezialist war da schon wieder auf dem Weg nach Schweden, um eine Professur in Uppsala anzutreten. Skandinavische Kollegen sprachen B‚r‚ny in internationalen Fachzeitschriften von den Vorwürfen frei. In Wien gestattete man ihm nicht einmal, sich zu rechtfertigen.2 Karl Landsteiner (1868 – 1943) wiederum wurde an der Universität Wien trotz seiner bahnbrechenden Entdeckungen von seinen Kollegen nie sonderlich geschätzt. Der 1890 zum Katholizismus konvertierte Landsteiner habilitierte sich bereits 1903, nach dem Ersten Weltkrieg stellte er den Antrag auf eine bezahlte a. o. Professur. Die erhielt er auch 1920, allerdings mit der Auflage, nebenbei unbezahlt als Prosektor im Wilhelminenspital zu arbeiten – für Landsteiner ein Ding der Unmöglichkeit, weshalb er beschloss, Wien zu verlassen. Bei der NichtAnerkennung seiner Leistungen in Wien und der Blockierung seiner Karriere spielten antisemitische Motivationen eine wesentliche Rolle. Landsteiner ging schweren Herzens zunächst in die Niederlande, ehe er 1922 eine Anstellung am Rockefeller Institute (heute: Rockefeller University) in New York erhielt. Der Nobelpreis wurde ihm 1930 zugesprochen, da war er längst US-amerikanischer Staatsbürger.3

1 Herbert Posch, Installation „Nobelpreis und die Universität Wien“, http://www.univie.ac.at/ universitaet/forum-zeitgeschichte/gedenkkultur/nobelpreistraeger/ (abgerufen am 1. 3. 2013). 2 Vgl. Gunter Jonas, Robert B‚r‚ny (1876 – 1936). Leben und Werk, Unter besonderer Berücksichtigung seiner Auseinandersetzung mit der Wiener Universität, Frankfurt am Main 1997, sowie den Personalakt B‚r‚nys, Archiv der Universität Wien, Senat S 304.32 B‚r‚ny, Robert (22.04.1876 – 08.04.1936). 3 Zu Landsteiner, seiner letztlich gescheiterten Professor an der Universität Wien und seiner frühen Emigration vgl. u. a. Daniela Angetter, Die österreichischen Medizinnobelpreisträger, Wien 2003, 51 – 52; Paul Speiser, Karl Landsteiner. Entdecker der Blutgruppen, Wien 1990, 65 – 66.

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Diese beiden prominenten Emigranten verweisen darauf, dass die mehr oder weniger latente Diskriminierung jüdischer und/oder linker Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen an der Universität Wien – und die damit korrespondierende offene Gewalt gegen jüdische und linke Studierende – nicht erst 1938 oder 1934 begann, sondern bereits lange davor. Und wenn es Brennpunkte dieser antisemitischen Exzesse in der Ersten Republik gab, dann war das zum einen die Aula im 1884 eröffneten Hauptgebäude der Universität Wien und zum anderen das I. Anatomische Institut. In der von Julius Tandler geleiteten Hälfte des zweigeteilten Gebäudes in der Währinger Straße Nr. 13, in dem einander gegenüber liegend das I. und II. Anatomische Institut untergebracht waren, fanden zwischen 1922 und 1933 regelmäßig Verwüstungen und Schlägereien statt, die wie durch ein Wunder keine Toten, aber doch immer wieder Schwerverletzte forderten. Im folgenden Text werden erstmals detailliert diese antisemitischen Ausschreitungen nachgezeichnet, die nicht nur Manifestationen der politischen Radikalisierung – konkret: der antisemitischen und frühen nationalsozialistischen Unterwanderung an der Universität Wien – waren, sondern diese wesentlich schürten und beförderten. Das lag auch daran, dass die jeweiligen Universitätsleitungen wenig bis nichts gegen die kontinuierliche Eskalation der Gewalt unternahmen, die erst mit dem Austrofaschismus ihr vorläufiges Ende fand, als Julius Tandler aus politischen und zum Teil wohl auch antisemitischen Gründen zwangspensioniert und verhaftet wurde und wenig später emigrierte. Antisemitismus an der Universität Wien – und insbesondere an der medizinischen Fakultät – hat eine lange und unrühmliche Tradition, die weit vor die Karriere Tandlers zurückreicht. Die ersten „modernen“ antijüdischen Ausschreitungen an der Universität fanden 1875 im Hörsaal des deutschen Chirurgen Theodor Billroth statt.4 In den folgenden Jahrzehnten bis 1938 wurden die medizinischen Institute immer wieder zu Schauplätzen von physischen und psychischen Gewaltanwendungen gegen Studierende und Lehrende, die jüdischer Herkunft waren. In dieser turbulenten Zeit, die durch drei Regimewechsel und den Ersten Weltkrieg geprägt war, kam es immer wieder zu auffälligen Häufungen und Zuspitzungen solch gewaltsamer Attacken: Neben einer kurzen Periode am Ende des 19. Jahrhunderts waren dies vor allem die Jahre nach 1920. Zudem gab es auch örtlichen Brennpunkte antijüdischer Ausschreitungen. Warum aber war es ausgerechnet das I. Anatomische Institut, an dem es zu den heftigsten und häufigsten Auseinandersetzungen zwischen konservativantisemitischen und jüdisch-liberalen Studierenden kam? Was steckte dahinter, dass besonders die jüdischen Medizinstudenten und -studentinnen vor allem in 4 Vgl. zu den Auseinandersetzungen um Billroth die Beitäge von Kandel, Rathkolb und Ash in diesem Band.

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Wien, aber auch an anderen österreichischen und deutschen Universitäten antisemitischen Diskriminierungen und Gewaltanwendungen ausgesetzt waren? Und was waren die Gründe dafür, dass die Studierenden an der Universität Wien und anderen Hochschulen der Stadt nach dem Ersten Weltkrieg zu jener Bevölkerungsgruppe wurden, die am stärksten antisemitisch agierte, dabei ihre Kollegen und Kolleginnen in Deutschland in den Schatten stellten und nicht nur am Institut Tandlers und der Hauptuniversität, sondern auch an anderen Orten der Stadt Angst und Schrecken verbreiteten?5

II.

Soziografische Kontexte des universitären Antisemitismus nach 1918

Um die deutliche Zunahme des offenen Antisemitismus nach 1918 in Wien zu erklären, helfen nicht nur Blicke auf die ökonomischen Krisen während und nach dem Ersten Weltkrieg, die für weite Teile der Bevölkerung Not und Hunger bedeuteten. Dazu kamen erhebliche demografische Veränderungen: So hatte die zeitweilige Besetzung Galiziens durch die russische Armee zu Beginn des Ersten Weltkriegs eine Flüchtlingswelle galizischer Juden zur Folge, die in Richtung Westen emigrierten. Mit Fortdauer des Krieges wuchsen die Ressentiments gegen die „Ostjuden“, die man für viele kriegsbedingte Missstände verantwortlich machte.6 War rund um 1900 Neid auf den sozialen Aufstieg der jüdischen Mittelschicht ein wichtiges Motiv für den grassierenden Antisemitismus7, der durch Bürgermeister Karl Lueger in dieser Zeit erfolgreich geschürt wurde, so kamen in Wien nach 1914 noch soziologische Faktoren dazu, die zum Anstieg antisemitischer Manifestationen führten. Die Zuwanderungswelle von wenig privilegierten, vorwiegend orthodoxen und damit „sichtbaren“ Juden war wohl einer der entscheidenden Faktoren, der sich gut mit dem Modell der von Norbert Elias formulierten Etablierten-Außenseiter-Beziehung interpretieren lässt, bei der Zuzügler, die ökonomisch schwächer und äußerlich erkennbar sind, örtlich „ghettoisiert“ und zum Opfer von Diskriminierungen werden.8 Um nur ein Beispiel für die Ghettoisierung und die Notlage auch der jüdi5 Z. B. an Orten der Freizeit und Vergnügung, wie in Heurigen, auf Sportplätzen und in Schanigärten. Bruce Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993, 140. 6 Ebd., 100 – 112, 126 – 129 und 140. 7 Vgl. für die deutschen Verhältnisse Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass – 1800 bis 1933, Frankfurt am Main 2012 und den Beitrag Alys im vorliegenden Band. 8 Norbert Elias, John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, Frankfurt am Main 1990.

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schen Zuwanderer zu geben, auf die man schlechterdings eher nicht neidisch sein konnte: Die jüdischen Immigranten und Immigrantinnen nach 1914 ließen sich vor allem in der Leopoldstadt nieder, Wiens zweitem Gemeindebezirk, wo in den Kriegsjahren und danach zum Teil dramatische Wohnverhältnisse herrschten. So kamen 1919 auf ein Zimmer in einer durchschnittlichen Kleinwohnung in diesem Bezirk und im angrenzenden Bezirk Brigittenau sechs Juden.9 Wer würde da Neidgefühle hegen? Offensichtlich ist aber, dass die Immigranten die Not einer ohnehin von den Kriegsfolgen gebeutelten Stadt verstärkten – und sie waren als „Ostjuden“ klar erkennbar und entsprechend stigmatisiert. Lebten 1910 rund 175.000 Juden in Wien, waren es 1923 knapp über 200.000 – der Anteil der Juden an der Wiener Bevölkerung stieg von 8,6 % auf 10,8 %.10 Noch dramatischer als die demografischen Veränderungen in Wien nach 1914 waren die Veränderungen bei den Hörern und Hörerinnen an der Universität Wien, die nach Kriegsbeginn zum Teil in ein Lazarett verwandelt wurde. Die Gesamtzahl der Studierenden an der Uni Wien sank von 9141 (ordentlichen und außerordentlichen) Studierenden im Sommersemester 1914 auf 3508 im Sommersemester 1917, ehe diese Zahlen in den Semestern danach wieder anstiegen. Trotz ihrer Armut waren viele der jungen Zuzüglerinnen und Zuzügler aus dem Osten gebildet und wollten an der Universität Wien studieren. Aus diesem Grund ging der Anteil der Studierenden aus der Bukowina und aus Galizien – und damit auch der jüdischen Studierenden aus dem Osten – während des Ersten Weltkriegs steil nach oben. Vergleicht man etwa die Entwicklung der Zahl der Studierenden aus den beiden östlichen Kronländern mit der Zahl der Studierenden aus Niederösterreich und Wien, dann ergibt sich für die Universität Wien folgender Verlauf:

Abbildung 1: Ordentliche Studierende nach Herkunftsland11 9 Leo Goldhammer, Die Juden Wiens. Eine statistische Studie, Wien und Leipzig 1927, 60. 10 Ebd., 7. 11 Zahlen aus den offiziellen Statistiken der Vorlesungsverzeichnisse der Universität Wien.

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Waren die Studenten und Studentinnen aus Niederösterreich inklusive Wien im Sommersemester 1914 noch klar in der Mehrheit, so kehrte sich dieses Verhältnis in den nächsten Jahren um, ehe erst wieder 1917/18 die Hörer und Hörerinnen aus dem Osten hinter jenen aus Niederösterreich in der Minderheit waren. Zwei Faktoren dürften diese Entwicklung während des Krieges verstärkt haben: Zum einen waren Frauen unter den Studierenden aus dem Osten vergleichsweise stark repräsentiert – im Laufe der Kriegsjahre stieg der Anteil der Studentinnen jedenfalls von sieben auf 36 %12. Zum anderen dürfte die Zahl der wehrpflichtigen Studenten aus der Bukowina und Galizien geringer gewesen sein.13 Dieser Zuwanderungsbewegung entspricht die Veränderung des Anteils jüdischer Studierender, für die es allerdings bloß für die Jahre vor und nach dem Ersten Weltkrieg Zahlen gibt. Betrug der Anteil 1909/10 mit 2281 jüdischen Studierenden immerhin bereits gut ein Viertel aller Studierenden, so stieg die Zahl 1914/15 auf 2668 an (31,54 %) und erreichte 1920/21 mit 4554 (oder 42,15 %) einen Höhepunkt. Danach sank diese Zahl wieder ab, wie folgende Grafik zeigt:14

Abbildung 2: Anzahl der jüdischen und nicht-jüdischen Hörer und Hörerinnen an der Uni Wien

Bei einem weiteren Blick auf die Verteilung nach den vier Fakultäten wird offensichtlich, dass sich die jüdischen Studierenden in Wien sehr viel häufiger der Medizin zuwandten als ihre nicht-jüdischen Kollegen und Kolleginnen, was einerseits wohl durch die sozialen Aufstiegschancen des Ärzteberuf bedingt war.15 Andererseits genoss die Wiener medizinische Fakultät auch noch zu Be-

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Archiv der Universität Wien. Für das Studienjahr 1919/20 liegen keine Zahlen vor, für das Studienjahr 1920/21 wurden die Zahlen der Studierenden aus Polen und der Ukraine genommen. Auf den starken Anstieg von Studentinnen während des Ersten Weltkriegs weist auch Pauley hin; Pauley, Antisemitismus (wie Anm. 5), 144. Goldhammer, Juden Wiens (wie Anm. 9), 60. Daten (auch für die Grafik) aus Goldhammer, Juden Wiens (wie Anm. 9), 39. Gerade das Medizinstudium galt für viele jüdische Familien als „Königsweg der Integration ins Bildungsbürgertum“, und besonders in Spezialfächern und außeruniversitären Ein-

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ginn des 20. Jahrhunderts Weltruf.16 In einigen Jahren – jedenfalls 1914/15 und 1920/21 sowie vermutlich die gesamte Zeit des Ersten Weltkriegs über – lag der Anteil jüdischer Medizinstudenten und -studentinnen an der Universität Wien bei über 50 %.17

Abbildung 3: Anzahl der jüdischen und nicht-jüdischen Hörer und Hörerinnen an der Medizinischen Fakultät der Uni Wien

Das gibt die ersten Hinweise darauf, warum der universitäre Boden und im Besonderen die Medizinische Fakultät nach 1918 ein Aufmarschplatz der akademischen Antisemiten war : Während der Gesamtbevölkerungsanteil der Juden in Wien rund zehn % betrug, war er an der Universität Wien insgesamt und insbesondere an der Medizinischen Fakultät vergleichsweise hoch, die Ressourcen andererseits besonders knapp.18 Tatsächlich kritisierte bereits im Februar 1919 ein anonym bleibender Mediziner in der rechts-katholischen Tageszeitung Reichspost Pläne zum Ankauf neuer Geräte und der Bereitstellung neuer Räume: Das führe nämlich bloß dazu, dass „noch ein paar hundert russische und polnische Juden mehr bei uns angenehm studieren, sich in Wien habilitieren und den Akademikern des eigenen Volkes das Brot wegnehmen können“.19 Gut ein Jahr später, im September 1920, stellte der damalige Stu-

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richtungen sah man Karrierechancen; vgl. Veronika Lipphardt, Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung 1900 – 1935, Göttingen 2008, 46. Am Lehrpersonal gemessen hatte die Universität Wien um 1900 die zweitgrößte medizinische Fakultät des deutschen Sprachraums und war ein Magnet für Studierende und Lehrende aus der ganzen Welt. Michael Hubenstorf, Medizinische Fakultät 1938 – 1945, in: Gernot Heiss (Hrsg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 – 1945, Wien 1989; Tatjana Buklijas, Dissection, discipline and urban transformation: anatomy at the University of Vienna, 1845 – 1914, Diss., Univ. Cambridge 2005; Max Neuburger, British medicine and the Vienna school, Contacts and parallels, London 1943. Daten (auch für die Grafik) aus Goldhammer, Juden Wiens (wie Anm. 9), 40. Pauley beschreibt einen eklatanten Platz- und Ressourcenmangel an der Universität Wien, vor allem an der Anatomie, wo 1308 StudentInnen in Räumen ausgebildet wurden, die für 360 – 400 ausgelegt waren; Pauley, Antisemitismus (wie Anm. 5), 144. Der Platzmangel an den Hochschulen, Reichspost, 21. 2. 1919.

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dentenvertreter und CV-Funktionär Engelbert Dollfuß in derselben Zeitung klar, wie man der allzu starken Präsenz der Juden an der Universität Wien Herr werden könnte: „Hier hilft kein Herumdoktern, weg mit allen fremden Juden aus dem Osten, Beschränkung aller derer, die diesen den Weg vorbereitet haben, den so genannten bodenständigen Juden, auf die ihnen nach dem Friedensvertrag zustehenden Rechte, auf die ihnen nach ihren Köpfen gebührende Zahl!“20 Der erste Rektor, der solche Forderungen nach einem Numerus clausus für jüdische Studierende und Lehrende an der Universität Wien aktiv aufgriff, war dann – wieder zwei Jahre später – Karl Diener, der in seiner Amtszeit auch den umstrittenen Siegfriedskopf im Ehrenhof der Universität aufstellen ließ. Der Geologe Diener beklagte – ebenfalls wieder in der Reichspost – die Zunahme von jüdischen Studierenden aus dem Osten mit folgenden Worten: „In der geradezu erschreckenden Invasion solcher rassens- und wesensfremder Elemente, deren Kultur, Bildung und Moral tief unter jener der bodenständigen deutschen Studentenschaft stehen, liegt der wahre Krebsschaden unserer akademischen Verhältnisse. Der Abbau der Ostjuden muss heute im Programm jedes Rektors einer deutschen Hochschule einen hervorragenden Platz einnehmen. Der fortschreitenden Levantisierung Wiens muss wenigstens an den Hochschulen Einhalt geboten werden.“21 Diener ging in seiner Stellungnahme zudem davon aus, dass die „Zahl der ausländischen jüdischen Studenten aus Polen, Rumänien und Russland auf lokale Weise eingeschränkt werden“ könne, räumte aber ein, dass sich eine solche Zugangsbeschränkung für jüdische Studierende aus Österreich nicht durchsetzen lassen werde. Im Hinblick auf die Professoren meinte Diener, dass die Zahl der jüdischen Lehrkräfte kaum über zehn Prozent liege. Anders stehe es „mit unserem jungen Nachwuchs an Privatdozenten, unter denen wenigstens an der medizinischen Fakultät das jüdische Element unverhältnismäßig stark überwiegt“. Da „Abhilfe zu schaffen“ sei schwierig, „so lange infolge der geltenden Habilitationsvorschriften ausschließlich die wissenschaftliche Qualifikation für die Habilitation eines Privatdozenten maßgeblich sein darf“.22 Mit einer Art verstecktem Numerus clausus gelang es den Antisemiten an der Universität Wien tatsächlich, die Zahl der jüdischen Studierenden aus dem Osten in den frühen 1920er-Jahren sowohl absolut als auch relativ stark zu drücken, wie sich auch bei nochmaligem Blick auf die Diagramme bestätigt: Ihr absoluter Anteil sank in den fünf Jahren zwischen 1920/21 und 1925/26 an der Universität Wien von insgesamt 4554 auf 2259, also um mehr als 50 %; ihr relativer Anteil ging von 42,15 % auf 24,95 % zurück. Ähnlich war es an der 20 „Fremdländer“-Frage in der Wiener Universität, Reichspost, 24. 9. 1920. 21 Das Memorandum der deutschen Studentenschaft, Reichspost, 10. 12. 1922. 22 Ebd.

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Medizinischen Fakultät, wo der Rückgang noch stärker ausfiel: von 1979 jüdischen Medizinstudenten und -studentinnen (oder 52,83 %) im Jahr 1920/21 auf 816 (oder 33,84 %) fünf Jahre später. Die Gründe dafür waren die Erhöhung der Inskriptionsgebühren für Ausländer (also Studierende aus Polen, Rumänien und Russland), die Bestimmungen über die Verteilung der Plätze in den Instituten und Laboratorien sowie der Ausschluss der Ausländer von in- und ausländischen Hilfsaktionen für die Studierende. Etliche der jüdischen Studenten und Studentinnen dürften in dieser Zeit an italienische und tschechische Universitäten abgewandert sein.23 Im Übrigen ist es wohl kein Zufall, dass just in diesen Jahren auch viele US-amerikanische Eliteuniversitäten eine Art Numerus clausus für jüdische Studenten – zumal in der Medizin – einführten. So ging der Anteil jüdischer Hörer an der Medizinischen Fakultät der Cornell University zwischen 1918 und 1922 von 40 auf 3,57 % zurück.24 Ein weiterer wichtiger Faktor für diesen Rückgang der jüdischen Medizinstudenten und -studentinnen in Wien war aber natürlich die Zunahme antisemitischer Gewalt an der Universität Wien in diesen Jahren. Ein Brennpunkt dieser Gewaltexzesse war das I. Anatomische Institut Julius Tandlers, was auf der einen Seite an der Person Tandlers lag, der für die Antisemiten aus mehreren Gründen ein buchstäblich rotes Tuch war : Er war neben seiner jüdischen Herkunft noch Freimaurer und ab 1920 einflussreicher sozialdemokratischer Politiker – und damit die perfekte Verkörperung des sogenannten „Ungeradentums“. Das wiederum war der extra erfundene Begriff, mit dem die Mitglieder der Deutschen Gemeinschaft, eines 1919 gegründeten und 1930 wieder aufgelösten Vereins braun-schwarzer und antisemitischer „Anschluss“-Aktivisten, ihr politisches Feindbild benannten.25 Auf der anderen Seite hat die Fokussierung antisemitischer Gewalt an der I. Anatomie nach 1918 eine lange Vorgeschichte: Die Wiener Medizinische Fakultät hatte bereits um 1900 nicht nur einen hohen Anteil jüdischer Studierender, sondern auch einen sehr hohen Prozentsatz jüdischer Fakultätsmitglieder, der zu den höchsten an allen europäischen Universitäten zählte: Steven Beller ermittelte für das Jahr 1910 eine Zahl zwischen 131 und 152, das waren zwischen 51,2 und 59,4 % der insgesamt 254 medizinisch Lehrenden.26

23 Goldhammer, Juden Wiens (wie Anm. 9), 39. 24 Vgl. Wikipedia, Numerus clausus, http://en.wikipedia.org/wiki/Numerus_clausus (abgerufen am 1. 3. 2013). 25 Rosar, Wolfgang, Deutsche Gemeinschaft. Seyss-Inquart und der Anschluss, Wien – Frankfurt am Main – Zürich 1971. Lipphardt nennt innere Auseinandersetzungen im Judentum als weiteren Faktor, der das Anwachsen des Antisemitismus nach 1900 begünstigt; Lipphardt, Biologie der Juden (wie Anm. 15), 51. 26 Steven Beller, Wien und die Juden. 1867 – 1938, Wien – Köln – Weimar 1993, 45.

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So nimmt es nicht wunder, dass es an der Wiener Medizinischen Fakultät schon im ausgehenden 19. Jahrhundert zur Ausbildung dichotomer Strukturen kam, die sich entlang ideologischer und „rassischer“ Differenzen entfalteten, insbesondere entlang der Achse jüdisch/nicht-jüdisch mit deutlichen Überschneidungen von politischen Haltungen und konfessioneller Herkunft. Verstärkt wurde diese Spaltung dadurch, dass etliche der Wiener Anatomen um 1900 auch Pioniere der anthropologischen Rassentheorie waren und dem Antisemitismus eine gewisse rassisch-biologistische Legitimation lieferten.27 Diese Zweiteilung manifestierte sich in streng geschiedenen Milieus und unterschiedlichen Forschungstraditionen innerhalb der einzelnen Lehrkanzeln – auch und zumal an der Anatomie, die seit 1880 zwei Lehrstühle hatte. Eines der Ordinariate wurde traditionell mit einem Anatomen aus dem konservativ-nationalen Milieu besetzt: Vorstand war in der Anfangsphase Karl Toldt, der auch im Bereich der Anthropologie und Volkskunde tätig war. Er hatte bereits seit den Badeni-Krawallen eine Leitfunktion für völkische Studenten und hatte ein Klima der Beschwichtigung und der Verteidigung deren antisemitischer Agitation etabliert.28 Diesem stand der jüdisch-liberale Emil Zuckerkandl gegenüber, der eine stärkere Anbindung an die Klinik hatte. Sein wichtigster Schüler war Julius Tandler, seit 1895 Assistent Zuckerkandls, der ihm 1910 als Ordinarius am I. Anatomischen Institut nachfolgte. Während es aber gegen Zuckerkandl, der eine wichtige Integrations- und Schlüsselfigur der Wiener Gesellschaft des Fin-deSiÀcle an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Medizin und Kunst darstellte29, kaum Anfeindungen gab, so war Tandlers Ordinariat von Beginn an von antisemitischen Interventionen überschattet. Diese sollen im Folgenden auf Basis verschiedener Quellen – insbesondere Tandlers eigenen Aufzeichnungen über die „Chronologie des gewaltsamen Terrors“30 gegen seine Lehrkanzel – nachgezeichnet werden.

27 Zu inhaltlichen Aushandlungsprozessen in den Biowissenschaften zwischen jüdischen, nicht-jüdischen und antisemitischen Forschungstraditionen, speziell hinsichtlich Fragen der „Rasse“ und der Vererbung, siehe Lipphardt, Biologie der Juden (wie Anm. 15). Gerade in den Bereichen der Rassenhygiene und Eugenik, die nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend gesellschaftliche Akzeptanz und Verbreitung erfuhren, wurde „der kulturelle Code des Antisemitismus“ bereits seit den 1880er-Jahren in Publikationen vorbereitet, ein altes Konzept der otherness medizinisch-wissenschaftlich fundiert. Siehe dazu neben Lipphardt, Biologie der Juden (wie Anm. 15), 48 – 52, auch Klaus Hödl, Jüdische Ärzte im Spannungsfeld zwischen nationaler Identität und wissenschaftlicher Akkulturation, in: Medizin und Judentum (1990) 4, 88 – 96, hier 89. 28 Hubenstorf, Medizinische Fakultät (wie Anm. 16), 258. 29 Vgl. den Beitrag von Eric Kandel in diesem Band, S. 29. 30 Das Konvolut an Zeugnissen Tandlers befindet sich in dessen Teilnachlass im Privatarchiv Karl Sabliks (Spillern, Niederösterreich), dem die Autoren für die freundliche Ermöglichung der Einsichtnahme danken. In Folge wird das Archiv als TNA angegeben.

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III.

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Chronologie der Gewalt gegen das I. Anatomische Institut

Der 1869 im böhmischen Iglau geborene Julius Tandler zog mit seinen Eltern noch als kleines Kind nach Wien, wo die Familie lange in sehr bescheidenen Verhältnissen lebte. Beide Elternteile kamen aus jüdischen Familien und legten auf die religiöse Erziehung ihrer Kinder großen Wert. Tandler sah sich später selbst zwar durch das traditionelle Judentum kulturell geprägt – nichtsdestotrotz konvertierte er als Dreißigjähriger wenige Tage nach seiner Habilitation zum Katholizismus und heiratete ein Jahr später eine Protestantin. Wahrscheinlich zeigt dieser Religionswechsel weniger eine religiöse Überzeugung als vielmehr seine Bereitschaft zur Assimilation – und seine Karriereambitionen. Bereits 1895 war Tandler Assistent Zuckerkandls geworden, die Nachfolge seines Lehrers trat er unmittelbar nach dessen Tod 1910 an. In der antisemitischen Presse wurde in damals völlig unüblicher Form heftige Kritik an der möglichen Berufung Tandlers geäußert, wohingegen Zuckerkandls jüdische Herkunft nie ein Thema gewesen war. Doch anscheinend hatte sich der politische Wind gedreht. Das antisemitische Deutsche Volksblatt jedenfalls kritisierte die mögliche Ernennung Tandlers zum Ordinarius als drohende „Verjudung der Wiener Universität“.31 Obwohl die Wahl mit 27:1 Stimmen klar ausgefallen war, wurden sowohl seine fachliche Eignung („als ob Tandler so groß, tüchtig und angesehen wäre […] schließlich ist er […] mehr Jude als Anatom“) als auch etwaige universitätspolitische Auswirkungen („das, was Tandler im Institut in Bezug auf Verjudung leistete, würde er sofort so weit seine Macht reicht, als Dekan versuchen“) hinterfragt. Und gerade Theoretiker würden schnell Dekan werden! Rückblickend wurde nun festgestellt: Bereits unter Zuckerkandl sei der Lehrstuhl ein „sicherer Judenhort“ geworden, was der Autor als Gefahr für die Fakultät ansah.32 Die Antisemiten hofften auf das Unterrichtsministerium: Deutsch-arische Abgeordnete müssten alles aufbieten, um die Gefahr von der deutschen Universität Wien abzuwehren. Doch am 1. September 1910 bestätigte Kaiser Franz Joseph I. die Wahl der Mediziner. Der Kaiser sah keine nachteiligen politischen oder moralischen Gegenargumente vorliegen und berief Julius Tandler zum Ordinarius des I. Anatomischen Instituts.33 Die Zuspitzung der antisemitischen Anfeindungen an der Anatomie rührten nicht zuletzt daher, dass eine inhaltlich-ideologische Spaltung der Fakultät mit einer räumlich-baulichen Festschreibung derselben zusammenfiel.34 Den 31 32 33 34

Die Verjudung der Wiener Universität, Deutsches Volksblatt, 13. 7. 1910, 22. Karl Sablik, Julius Tandler, Mediziner und Sozialreformer, Frankfurt am Main 2010, 31 – 32. Ebd. Das neue Institutsgebäude war in den 1870er-Jahren auf den Gründen der alten Gewehrfabrik errichtet worden, um den I. Anatomischen Lehrstuhl mit dem neu eingesetzten II. Lehrstuhl unter einem Dach zu vereinen. Ein wichtiges Details: Der zweite Lehrstuhl re-

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Lehrstuhl der II. Anatomie hatte seit 1908 der Deutschnationale Ferdinand Hochstetter inne, bei dem sich, ganz in der Tradition seines Vorgängers Toldt, Deutschnational-Völkische und Katholisch-Konservative sammelten, während Tandler ein relativ geschütztes Milieu für jüdische, sozialdemokratische und liberale Studierende geschaffen hatte.35 Die Architektur des zweigeteilten Gebäudes in der Währinger Straße 13 begünstigte Konfrontationen: In das eine Institut ging es links, in das andere rechts hinauf – die Stiegen sollten zu einem der heißesten Kampfplätze auf studentischem Boden werden. Eine der Befürchtungen von Tandlers Gegnern sollte sich bald bewahrheiten: Tandler war tatsächlich von 1914 bis 1917 Dekan der Medizinischen Fakultät. Doch damit nicht genug: Der Anatomieprofessor machte auch noch außerhalb der Universität Karriere. 1919 erfolgte seine Bestellung zum Unterstaatssekretär und Leiter des Volksgesundheitsamtes, was vom Verein deutscher Ärzte prompt heftig und antisemitisch kritisiert wurde: Es sei ein „Nichtfachmann und Jude“ ausgewählt worden, vor dem ein „angestammter bodenständiger Deutscher bevorzugt werden sollte“.36 Im Jahr 1920 wechselte Tandler vom Volksgesundheitsamt zur Stadt Wien, wo er im „Roten Wien“ als Stadtrat für das Wohlfahrtsund Gesundheitswesen in den nächsten Jahren vor allem am Ausbau der Fürsorge arbeitete. Damit wurde Tandler zum Feindbild schlechthin für die antisemitischen, katholischen und deutschnationalen Studierenden und Professoren an der Universität Wien. Abgesehen von seiner jüdischen Herkunft exponierte er sich nun auch noch als Sozialdemokrat politisch; dazu kam, dass Tandler in diesem Jahr auch noch (unter einem Decknamen) Freimaurer wurde.37 Tandler war allerdings eine starke Persönlichkeit, die sich nur schwer irritieren ließ und sich dem Kampf gegen die Intoleranz und langsam anschwelsultierte nicht nur aus dem Freiwerden personeller Ressourcen nach der Schließung der Josephinischen Akademie sowie aus dem verstärkten Andrang von Studierenden, sondern aus einer ideologischen (und wissenschaftlichen) Spaltung der Fakultät. Siehe dazu vor allem: Buklijas, Dissection (wie Anm. 16). 35 Dass Julius Tandlers Lehrstuhl eine Anlaufstelle für jüdische Studierende, Migranten und Frauen war, belegen unter anderem Erinnerungen damaliger Studenten und Studentinnen: Benno Weiser-Varon [Benno Weiser-Varon, Wie ich, obwohl Jude, nicht Arzt wurde, http:// www.contextxxi.at/context/content/view/168/93/index.html (abgerufen am 23. 2. 2013)]; Frederik Barber [Frederick Barber, 1905 – 1993, Interview, British Library, Oral History of the General Practice, London, UK]; Else Pappenheim, Edith Hopper, Alice Huppert, Stella Spitz und Milica Draganic [Michaela Raggam, Jüdische Studentinnen an der medizinischen Fakultät in Wien, in: Birgit Bolognese-Leuchtenmüller (Hrsg.), Töchter des Hippokrates. 100 Jahre akademische Ärztinnen in Österreich, Wien 2000, 129 – 157.] 36 Sablik, Tandler (wie Anm. 32),161. 37 Tandler war seit 1920 unter dem Decknamen Retland Freimaurer und schied im Oktober 1927 wieder aus, vgl. Günter K. Kodek, Unsere Bausteine sind die Menschen, Die Mitglieder der Wiener Freimaurer Logen (1868 – 1938), Wien 2009, 353.

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lende Gewalt an der Universität Wien stellte. Und er dokumentierte die Ausschreitungen, wie ein Stapel gehefteter Papierstücke in seinem Nachlass belegt. Das Konvolut nannte er „Chronologie des Terrors“, und obenauf liegt eine handschriftliche Notiz, in der die Unruhen chronologisch vermerkt sind, beginnend mit dem 26. April 1920. Diese Ausschreitungen waren der eigentliche Beginn der bis 1933 andauernden antisemitischen Gewalt- und Terrorwelle an Wiener Hochschulen nach dem Ersten Weltkrieg. Auslöser war eine deutschnationale Protestversammlung gegen einen vermeintlich oder tatsächlich korrupten Hochschulfunktionär jüdischer Herkunft in der Aula der Universität. Anschließend zogen marodierende Trupps von Couleurstudenten durch die Stadt – auch ans Institut Tandlers. Der hat den Vorfall selbst rekonstruiert und für seinen Bericht an den Dekan Zeugenaussagen von insgesamt neun Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen eingeholt, darunter die seiner Assistentin Marianne Stein, die sich daran erinnerte, dass am besagten Tag gegen Mittag das Rektorat anrief und davor warnte, dass eine erregte Gruppe von Studenten auf dem Weg ans Institut sei. Kaum hatte Stein aufgelegt, hörten „wir schon wüstes Geschrei […]. Dr. Hafferl und ich liefen auf den Gang, um mit den Eindringenden zu reden. Während Dr. Hafferl mit ihnen verhandelte, hörte ich, auf der Treppe stehend, aus dem Parterre lautes, wütendes, drohendes Geschrei heraufdringen, konnte aber keine Worte verstehen. Dann kam Dr. Hafferl an der Spitze einer Schar von Studenten die Treppe herauf und sagte mir rasch, ich solle mich sofort ins Assistentenzimmer begeben.“ Unmittelbar danach ging eine Glastüre zu Bruch. Am nächsten Morgen besetzten deutschnationale Studenten die Universitätsrampe, attackierten jüdische Studierende auf dem Weg in ihre Lehrveranstaltungen und stürmten unter „Juden hinaus!“-Rufen die Hörsäle. Schließlich versuchten zionistische gemeinsam mit sozialdemokratischen und kommunistischen Studenten die Rampe zu erobern. Nach der Straßenschlacht ließ der Rektor „bis auf Weiteres“ die Universität schließen.38 Am 19. November 1923 wurde dann der erste Höhepunkt der antisemitischen Studentenkrawalle nach dem Ersten Weltkrieg erreicht: Neun Schwerverletzte waren die Folge. Den Krawallen vorausgegangen waren Ende Oktober deutschvölkische Proteste gegen den eben berufenen Professor Alfred Kappelmacher, der jüdischer Herkunft war.39 Es gab aber noch ganz andere Gründe für die Eskalation: Zum einen hatte der Akademische Senat der Universität Wien dem antisemitischen Ruf nach einem Numerus clausus eine Absage erteilt.40 38 Vgl. Pauley, Antisemitismus (wie Anm. 5), 140 – 141, sowie die korrespondierenden Berichte u. a. in der Neuen Freie Presse vom 27. 4. 1920, in der Reichspost vom 26. 4. 1920 oder der Arbeiter-Zeitung vom 28. und 29. 4. 1920. 39 Krawallszenen an der Wiener Universität, Neue Freie Presse, 25. 10. 1923, 4. 40 Beat Jewish Students in Vienna and Jassy, The New York Times, 20. 11. 1923.

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Zum anderen hatte der gescheiterte Putsch der Nationalsozialisten in München am 8./9. November 1923 die Spannungen erneut verschärft. Die Universitätsleitung untersagte daraufhin den Studierenden das Tragen von Farben und Insignien, was heftige Proteste zur Folge hatte. Etwa 200 mit Totschlägern und Schlagringen bewaffnete Hakenkreuzler – dieser Begriff tauchte in den Berichten über die Studentenunruhen Ende 1923 zum ersten Mal auf – bahnten sich ihren Weg in unterschiedliche Gebäude und Lehrveranstaltungen, wo sie den Ausschluss jüdischer Studierender forderten.41 Nach bereits bekanntem Muster übten völkische Studenten, die von anderen Hochschulen tat- und schlagkräftige Unterstützung erhielten, brutalen Terror gegen jüdische und politisch anders gesinnte Studenten aus. Ins Visier nahmen die Hakenkreuzler insbesondere das Anatomische Institut in der Währinger Straße. Wie Tandler abermals dem Dekan berichtet, waren um drei Uhr nachmittags Studenten durch die Glastüre im ersten Stock eingedrungen und von seinen Assistenten Hafferl und Zellner zurückgedrängt worden. Sie würden „nach Juden suchen“, sagte ein Student zu Tandler – ohne ihn zu kennen. Seine Antwort, er wäre Jude und der Vorstand des Instituts, habe Erstaunen ausgelöst. Tandlers, der um sein wissenschaftliches Material und das Inventar fürchtete, forderte anscheinend recht überzeugend den Abzug der Studenten. Tatsächlich konnten die Marodeure – nachdem sie die Institutsräume einschließlich der Leichenkammer durchsucht hatten – von den Assistenten hinausgedrängt werden. Dass nicht nur jüdische Studierende unter der Stimmung an der Universität, der Fakultät und am zweigeteilten Institut litten, sondern auch Tandler selbst, bezeugt dessen Ansuchen, im Studienjahr 1924/25 vom Vorlesungs- und Prüfungsbetrieb enthoben zu werden.42 In der Neuen Freien Presse wurde der Entschluss aufgrund der großen Beliebtheit Tandlers bei den Studierenden bedauert, die Gründe in Unstimmigkeiten zwischen Tandler und dem Akademischen Senat sowie dem Professorenkollegium gesehen. Die Untätigkeit der Obrigkeiten, den Unruhen 1921 und 1923 durch Erhebungen nachzugehen, hätte nicht nur dem Ansehen der Universität schwer geschadet, sondern Tandler auch zu diesem Schritt bewogen, so die Zeitung weiter. Ein Jahr später, 1925, nahm Tandler seine Vorlesungen wieder auf. Dass das Klima am I. Anatomischen Institut gespannt blieb, belegen Berichte über kleinere und alltäglichere Vorfälle: Vor Pfingsten 1925 gab es in der Vorlesung Anton Hafferls, Tandlers Assistenten, antisemitische Äußerungen, die diesmal immerhin ohne Prügeleien vorübergingen. Die Hafferl unbekannten 41 Ebd. 42 Keine Vorlesungen Professor Dr. Tandlers im kommenden Studienjahr, Neue Freie Presse, 27. 9. 1924.

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Studenten, die sich am 28. Mai in seine Lehrveranstaltung gesetzt hatten, verhielten sich zunächst ruhig, riefen plötzlich im Chor : „Juden heraus“, so Hafferl. Auf Hafferls Nachfrage, was sie als offensichtlich Institutsfremde hier täten, „gab einer von ihnen zur Antwort, das sei ganz gleichgiltig (sic!), wenn die Juden draussen seien, könne ich weiterlesen“. Hafferl rang den Randalierern das Versprechen ab, diesmal ohne Prügelei abzuziehen, was immerhin eingehalten wurde. „Nachdem das Studierlocal geräumt und fast alle Hörer das Vestibül verlassen hatten, gab der Führer der Gruppe das Zeichen zum Aufbruch.“ Hafferl erinnert sich daran, dass der Vorschlag eines Störenfrieds, auch noch Ferdinand Hochstetters Vorlesung zu „besuchen“, bei der Gruppe kein Gehör gefunden hätte.43 Dass Tandler die offene Zweiteilung des Instituts in divergierende politische Lager nicht nur akzeptierte, sondern darin auch die Möglichkeit einer Stabilisierung der Lage sah, drückt sich in einer Anfrage an den Dekan im Juli 1926 aus, bei der es um die Zuteilung der Studierenden auf die beiden Institute ging. Das Dekanat wies jede Einflussnahme auf die Wahl der Studierenden zurück; es wollte nur in Streitfällen entscheiden. Die freie Wahl der Studierenden setzte die etablierte Zweiteilung fort: Linke und jüdischen Studenten gingen zu Tandler, deutsch-völkische oder konservative zur zweiten Kanzel Ferdinand Hochstetters. Das Jahr 1927 brachte dann den vorläufigen Höhepunkt der studentischen Gewaltexzesse gegen Tandler. Diesmal hatten die folgenschweren Ereignisse von Schattendorf und die darauf folgenden Unruhen die Stimmung angeheizt. Bereits in den frühen Morgenstunden des 5. Februar 1927 kursierte das Gerücht, dass Tandlers Vorlesung abermals zum Zentrum der Angriffe werden sollte. Völkische Studierende und Studierende der Hochschule für Bodenkultur hatten sich gemeinsam mit Arbeitslosen in den Hörsälen des I. und II. Anatomischen Instituts versammelt. Bald brachen zuerst Wortwechsel, dann bewaffnete Raufereien los, bei denen die sozialistischen Studierenden und ihre Anhänger aus dem Gebäude gedrängt, zwei sogar blutig geschlagen wurden. Der Tross zog schließlich weiter zur Rampe der Universität. Als Folge dieser neuerlichen Randale kritisierte Tandler die Verwaltung der Universität scharf. Er beklagte sich über den Umgang mit den Tumulten in der Vergangenheit: „Die Nutzlosigkeit bisheriger Anzeigen enthebt mich der Mühe, die letzten Skandale offiziell den akademischen Behörden zur Anzeigen zu bringen, umso mehr, als ich Eurer Spectabilität meine Wahrnehmungen in der Unterredung am 5. d. M. mitgeteilt habe. Ich habe bei dieser Gelegenheit auch zwei der Haupthetzer angeführt und zweifle nicht daran, dass allen nichts geschehen wird.“ 43 Anton Hafferl, Bericht über die Vorfälle am anatomischen Institut anlässlich der Unruhen vor Pfingsten, o. D., TNA.

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Und noch deutlicher heißt es in dem Brief: „Ich habe den Auftrag Anatomie zu lehren. In meinem Lehrauftrag steht nichts davon, dass ich mich prügeln lassen muss, und nichts davon, dass ich das Institut mit Brachialgewalt verteidigen muss. Die Assistenten und Demonstratoren sowie das übrige Personal haben die Aufgabe den Institutschef im Unterricht zu unterstützen, nicht aber sich prügeln zu lassen, und das Institut zu verteidigen. Zur Wahrung der Ruhe und des staatlichen Besitzes innerhalb der Universität sind die akademischen Behörden und die übrigen staatlichen Organe verpflichtet.“44

Der damals zuständige Rektor, der deutschnationale Botaniker Hans Molisch, erbat infolge der Ereignisse des 5. Februar 1927 Einvernahmen der zwei als Ruhestörer am Anatomischen Institut angezeigten Studenten. Einer der beiden war der nationalsozialistische Anthropologie-Student Wolfgang Abel, der Sohn des berüchtigten antisemitischen Paläobiologie-Professors Othenio Abel. Ein Briefwechsel zwischen dem Dekan der Medizinischen Fakultät, Rudolf Maresch, und Rektor Molisch bereitete die Antwort vom 22. Februar 1927 vor. Molisch wies Tandlers Anschuldigungen gegen den Senat („eine nicht unparteiischen Ausübung der ihm gesetzlich zugestehenden Disziplinargewalt“) entschieden zurück. Alle Studenten, die dem Rektorat im Zuge der Unruhen im Anatomischen Institut im Mai 1925 als Ruhestörer angezeigt wurden, seien mit einer Disziplinaruntersuchung, einige mit Disziplinarmaßnahmen belegt worden. Auch im Jahr 1927 seien gegen die von Tandler angezeigten Ruhestörer Ernst Marti und Wolfgang Abel disziplinäre Maßnahmen eingeleitet worden. Abschließend erwähnt Molisch, der Senat habe beschlossen, „angesichts des ungehörigen Tones“ von Tandlers Schreiben zur Tagesordnung überzugehen.45 Auf der Tagesordnung standen mittlerweile aber auch die studentischen Krawalle. Bereits im Juni des Jahres kam es zu neuerlichen Unruhen an der Universität mit elf Schwerverletzten, darunter Mitglieder „prominenter Familien“, wie sogar die New York Times berichtete.46 Zwei Assistenten Tandlers protokollierten tags darauf den Zutritt Unbefugter über eine unkontrollierte Hintertür des Anatomischen Instituts und anschließende Wortgefechte.47 In den Medien machten die Sozialdemokraten Rektor Molisch für den Einlass von Hunderten von „faschistischen“ Studenten durch eine Hintertür verantwortlich.48

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Julius Tandler, Schreiben an den Rektor, 7. 2. 1927, TNA. Akademischer Senat/Rektor Molisch, Schreiben an Tandler, 22. 3. 1927, TNA. Student Riot in Vienna, The New York Times, 12. 6. 1927. Aussage von Adolf Spinka, Laborant der I. Anatomischen Lehrkanzel, 13. 6. 1927, TNA; Aussage von Karl Klüpfel, Laborant der I. Anatomischen Lehrkanzel, 13. 6. 1927, TNA. 48 Student Riot in Vienna, The New York Times, 12. 6. 1927.

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Schimpftiraden, körperliche Angriffe und eine wilde „Numerus clausus Hetze“,49 waren seit den Gewaltexzessen im November 1927 sukzessive Alltagsrealität geworden. „Vienna students are once more taking to politics instead of the study of books (…) In fact, the whole political situation of the country has been upset by the students“, kommentierte die New York Times.50 Das schlug sich auch in einem weiteren Rückgang des Anteils ausländischer und jüdischer Studierender an der Universität nieder. Im Studienjahr 1928/1929 kam es dann zu einer kurzfristigen Entspannung. Verantwortlich dafür war in erster Linie der damalige Rektor, der Theologieprofessor und spätere Kardinal Theodor Innitzer, der – anders als die meisten Rektoren der Ersten Republik – durch eine entsprechende Politik jüdische und auch sozialdemokratische Studierende vor Übergriffen zu schützen suchte. Unmittelbar nach Innitzers Amtszeit kam es allerdings erneut zu schweren Angriffen gegen jüdische Studierende, die zur zeitweiligen Schließung der Universität, der Technischen Hochschule und der Hochschule für Welthandel führten.51 Abermals wurde das I. Anatomische Institut ein Zentrum der Gewalttaten, deren Verlauf typisch war und auf einen wichtigen Faktor für die Radikalisierung der antisemitischen Gewaltexzesse verweist: Die Souveränität der Universität – eine die bis ins Mittelalter zurückreichende traditionelle Freiheit – verbot es der Polizei oder der Feuerwehr, universitären Boden zu betreten, was die antisemitischen Übergriffe der 1920er- und 1930er-Jahre selbstverständlich begünstigte.52 Zu besonders brutalen Gewalttaten, die Tandler noch verhindern wollte, kam es am 7. November 1929. Diesmal waren die Angreifer Heimwehr-Studenten. (Die Heimwehr hatte sich seit dem Justizpalastbrand 1927 als zweite antisemitische Front neben den Nationalsozialisten formiert.53) Bereits um 8 Uhr morgens hatte Tandler telefonisch die Wiedereinführung einer Ausweispflicht für Studierende angeordnet, die sein Institut betreten wollten. Die Umsetzung erfolgte zu spät. Bald gingen wilde Schlägereien los, bei denen der Hörsaal zum Teil demoliert wurde – mit insgesamt sieben Schwerverletzten als Folge. Passanten wurden durch Hilferufe aus dem ersten Stock auf die Kampfhandlungen im Inneren des Anatomiegebäudes aufmerksam. Die zur Hilfe gerufene Feuerwehr und Polizei konnte oder wollte in Wahrung der universitären 49 Die New York Times verweist diesbezüglich kritisch auf Veröffentlichungen der Jewish Telegraphic Agency, die von einem auf mittlerweile 17 % gefallenen Anteil von „alien students“ an der Universität Wien (bei 15 % reichsdeutschen Studenten und Studentinnen) hinweist; Austrian Minister will curb Students, The New York Times, 15. 12. 1929. 50 Vienna students revive old feud, The New York Times, 19. 6. 1927. 51 Attack Vienna Jews, The New York Times, 2,6.1929; Mob dor¦, Abwehr-Blätter. Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus, 1. 12. 1929, 187. 52 Vgl. Beller, Wien und die Juden (wie Anm. 26), 132. 53 Pauley, Antisemitismus (wie Anm. 5), 170.

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Souveränität nur von der Währinger Straße aus zusehen. Ein Mitarbeiter Tandlers war freilich verwundert, dass auch die Wachen die Raufereien und Prügeleien geschehen ließen.54 Wachbeamten wurden von NS-Studenten unter dem Zuruf: „Hier ist akademischer Boden“ die Kappen vom Kopf geschlagen, was auch aufgrund der Souveränität der Universität ohne Konsequenzen blieb.55 Hatte Innitzer als Rektor so gut es eben ging für Ruhe und Ordnung an seiner Universität gesorgt, so verfolgte sein Nachfolger Wenzel Gleispach – selbst Heimwehr-Mitglied und bekennender Hakenkreuzler-Sympathisant – eine diametral entgegengesetzte Politik. Die Dreistigkeit der Aggressoren im November 1929 ging zu einem Gutteil auf die Unterstützung des Rektors zurück. Der hatte unter anderem das Vorwort zu einem „Universitätsführer“ der „Völkischen Arbeitsgemeinschaft“ geschrieben, in dem sämtliche Wiener Universitätsprofessoren und -professorinnen sowie Dozenten und Dozentinnen mit dem Hinweis auf ihre „Rasse“ und „Abstammung“ aufgelistet wurden.56 Den Randalierern versicherte er, „für ihre Bemühungen um das Deutschtum immer auf die Unterstützung des akademischen Senats rechnen“ zu können.57 An der Anatomie konnte spätestens seit 1929 von einer Entspannung der Lage keine Rede mehr sein, Tandler selbst war quasi in permanenter Alarmbereitschaft. Der Wahlsieg der Nationalsozialisten in Deutschland im September 1930 verlieh dann in Wien den studentischen Hakenkreuzlern weitere Motivation. Als Tandler am 11. November 1930 von einer geplanten Störung seiner Vorlesung erfuhr, wandte er sich umgehend an den Dekan Roland Graßberger. Mit Nachdruck ersuchte er um eine „prinzipielle Behebung“ der seit 1919 „nahezu alljährlichen“ Demonstrationen.58 Bereits einige Monate zuvor hatte er die „Gebäudeinspection“ um „feste, versperrbare Eichentüren […] an Stelle der Windfänge an den Eingängen in den drei Stockwerken des ersten anatomischen Institutes“ gebeten, denn es habe sich gezeigt, „dass es nur einem glücklichen Zufalle zuzuschreiben ist, wenn sich Raufereien nicht bis in die Seziersäle fortsetzen. Wäre dies der Fall, so sind die Folgen nicht abzusehen; man denke nur an die vielen im Seziersaale befindlichen Messer und anderen scharf geschliffenen Instrumente und an die immense Infectionsgefahr, welche auch bei kleinen Verletzungen besteht.“59 Tandlers Vorsichtsmaßnahmen verwundern wenig, denn erst am Vortag hatten 50 Heimwehr-Studenten erneut Vorlesungen an der Hochschule für Bodenkultur und der Hochschule für Welthandel gewaltsam gestört. 54 55 56 57 58 59

Handschriftliche Notiz über Krawalle bei Tandler, 9. 11. 1929, TNA. Hakenkreuzler-Krawalle an der Universität, Die Wiener Mittags-Zeitung, 3. 2. 1931. Mob dor¦, Abwehr-Blätter (wie Anm. 51), 187. Ebd. Sablik, Julius Tandler (wie Anm. 32), 298 – 301. Schreiben Tandlers an die Gebäudeinspection der Universität Wien, 9. 11. 1929, TNA.

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Positiv des Glasdianegativs von den Unruhen an Tandlers I. Anatomischer Lehrkanzel im Februar 1931 (Quelle: TNA)

Glasdiaplatten im Nachlass Tandlers zeugen von den nächsten wüsten Exzessen, die wenig später, nämlich am 2. Februar 1931, stattfanden. Umgestürzte Möbel, zerbrochene Türen und zu Barrikaden umfunktioniertes Interieur sind darauf zu sehen. Auch diesmal waren Flugblätter Mitauslöser für mehrere Tage andauernden Ausschreitungen an mehreren Hochschulen und der Universität.60 Zeugenaussagen der Laboranten verwiesen auf den Vertrauensmann des Deutschen Medizinervereins als Rädelsführer.61 Die Unruhen sprangen wieder vom

60 Hakenkreuzler-Krawalle an der Universität, Die Wiener Mittags-Zeitung, 3. 2. 1931; Fascist fight Police at Vienna University, Jewish Student and Socialists Are Beaten and Their Belongings Are Set on Fire, The New York Times, 4. 2. 1931; Student Riots Renewed, Eight Wounded as Nationalists Attack Socialists in Vienna, The New York Times, 5. 2. 1931. 61 Aussagen von Adolf Spinka und Karl Klüpfel, Laboranten der I. Anatomischen Lehrkanzel, 3. 2. 1931, TNA.

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Hauptgebäude (das in den Medien bereits „Kriegsschauplatz“ genannt wurde62) zur Anatomie über ; Tandlers Vorlesung war an diesem Tag die einzige, die abgesagt werden musste. Rektor war in diesem Studienjahr der dem Nationalsozialismus nahestehende Historiker Hans Uebersberger, der Verständnis für die Aktionen der deutschen Studentenschaft zeigte – und diese dadurch schürte. Als der Verfassungsgerichtshof dann der sogenannten Gleispachschen Studentenordnung, die de facto einen Numerus clausus für jüdische Hörer und Hörerinnen vorsah, am 23. Juni 1931 eine klare Absage erteilte, kam es abermals zu heftigen Ausschreitungen. Die beinahe symptomatische Solidarisierung der Rektoren mit Gewalt und Gesetzesübertretung unter Studierenden wurde nicht nur von den Medien bemerkt63, sondern auch von der Polizei, die ihre Schlüsse daraus zog und fortan die Einsatzkosten an die Universität weiterzuverrechnen beabsichtigte.64 Im Oktober 1932 erregten die Gewaltexzesse in Wien sogar internationale und diplomatische Aufmerksamkeit: Nach neuerlichen schweren Angriffen auf das Anatomische Institut Tandlers, bei dem Schlagringe, Peitschen, Messer und Ruten zum Einsatz kamen, wurde von verletzten US-Studenten das Konsulat eingeschaltet. Das wiederum hatte zur Folge, dass nicht nur der Rektor, sondern auch das Unterrichtsministerium und Kanzler Dollfuß mit der Sache befasst wurden. Die außenpolitische Brisanz führte bei Rektor Othenio Abel – mit Uebersberger und Gleispach einer der exponiertesten Antisemiten und Nazis der Universität Wien65 – zu einer rhetorischen Kurskorrektur. Er sah sich genötigt, sich beim Botschafter dafür zu entschuldigen, dass die Gastfreundschaft gegenüber den ausländischen Studierenden aufs Schlimmste verletzt worden sei, und wollte dafür sorgen, dass die Radaumacher mit aller Härte ihre gerechte Strafe erhielten.66 In der nationalsozialistischen Deutsch-österreichischen Tageszeitung (DÖTZ) freilich, dem Sprachrohr der universitären Nazis, wurden die Sorge um die amerikanischen Studenten als völlig unbegründet abgewehrt: Es handle sich bei den US-Studierenden an der Medizinischen Fakultät ja gar nicht um Amerikaner, sondern in mindestens 87 der 120 Fälle – wie am Nachnamen

62 Hakenkreuz studiert, Wiener Allgemeine Zeitung, 4. 2. 1931. 63 Students beat Jews at Vienna University, The New York Times, 3. 2. 1931; Hakenkreuz studiert, Wiener Allgemeine Zeitung, 4. 2. 1931; Fascist fight Police at Vienna University, The New York Times, 4. 2. 1931; Der Rektor mit den Radau Studenten solidarisch, Der Wiener Tag, 14. 11. 1931. 64 Vienna Students Stir Anti-Jewish Outburst, The New York Times, 24. 6. 1931. 65 Vgl. Klaus Taschwer, Othenio Abel. Kämpfer gegen die „Verjudung“ der Universität, Der Standard, 9. 12. 2012. 66 2 Americans Hurt in Vienna Rioting, The New York Times, 27. 10. 1932; American Students Protected in Vienna, The New York Times, 28. 10. 1932.

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leicht erkennbar sei – um Juden.67 Dass die nationalsozialistische Redaktion der DÖTZ Zugang zu einem Studierendenregister der Fakultät erhielt, lässt sich wohl nur durch gute Kontakte zum Rektorat erklären. Befeuert durch die „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten in Deutschland Ende Jänner 1933, nahmen auch die Hakenkreuzler-Ausschreitungen in Wien abermals eine neue Dimension an. Das Anatomische Institut Tandlers wurde erneut zu einem Zentrum der Angriffe, die in zwei Wellen kamen. Eine Hörerversammlung sozialistischer Studenten am 13. März sowie deren Tragen von Parteiabzeichen (trotz Verbots durch den Senat) erregte zunächst die „deutsch-arische“ Studentenschaft.68 Endgültig zum Kippen brachte die Stimmung schließlich ein ungenehmigtes Plakat im Anschlagkasten der sozialistischen Studierenden, das jüdische Kommilitonen dazu aufrief, sich gegen den „Judenmörder“ Hitler zu wehren. In dem von Tandler eingeleiteten Disziplinarverfahren wegen der Anbringung der Plakate sagten zwei Studentinnen aus, Nationalsozialisten hätten unter Zuhilfenahme eines illegalen Nachschlüssels zum sozialistischen Anschlagkasten das corpus delicti installiert.69 Am 16. März wurde schließlich einem Studenten, der in der Anatomie-Aula einen Anschlag las, mit einem harten Gegenstand von hinten auf den Kopf geschlagen. Die Eskalation der Gewalt am folgenden Tag nahm auch für die Währinger Straße 13 neue Formen an: Es kam zu direkten Kämpfen zwischen Studierenden der beiden Anatomischen Institute. Nach dem Sturm von 40 nationalsozialistische Studenten auf das Gebäude wurden die Schlägereien unter Zuhilfenahme von Stahlruten, Gummiknüppeln, Sesselbeinen und Lederriemen auf derart wüste Weise ausgetragen, dass neben etlichen Studierenden auch die Assistenten Hafferl und Bergmann sowie ein Laborant verletzt wurden. Das Übergreifen der Kämpfe auf das Hauptgebäude veranlasste Rektor Abel zur Sperre beider Anatomischer Institute.70 Knapp acht Wochen später, am 9. Mai, folgte die zweite Welle heftigster Gewalttätigkeiten. Nach Vorlesungsschluss wurden Hörer der I. Anatomischen Lehrkanzel in den Gang gedrängt, der zu den Seziersälen und zum Studierlokal führte. Bei den folgenden Kampfhandlungen kam es nicht nur zu großen Sachschäden, sondern auch zu ernsthaften Verletzungen. Wie von Tandler befürchtet, trugen diesmal sowohl die bauliche Struktur (steile Bankreihen des Hörsaales) als auch die griffbereiten anatomischen Geräte und Instrumente zu einer Eskalation der Lage bei. Die Feuerwehr musste schließlich mit Leitern den 67 Der Amerikanismus an der Wiener Universität, Deutsch-Österreichische Tageszeitung, 29. 19. 1932. 68 Sablik, Julius Tandler (wie Anm. 32), 298 – 301. 69 Aussagen von Nelly Fränkel und Julia Dresner, o. D., TNA. 70 Sablik, Julius Tandler (wie Anm. 32), 298 – 301; Prügeleien im anatomischen Institut, Neue Freie Presse, 17. 3. 1933.

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in Panik geratenen Studierenden zur Flucht durch die Fenster auf die Währinger Straße verhelfen. Einige sprangen in letzter Not und zum Teil bereits verwundet aus dem ersten Stock und verletzten sich dabei zusätzlich. Tandler stellte selbst eine Liste der Verletzten zusammen; drei Studenten wurden von der Rettung abtransportiert, andere hausärztlich versorgt.71

Bedrängten Studenten wird am 9. Mai 1933 am Anatomischen Institut der Universität Wien in der Währinger Straße mittels Leitern aus den Fenstern geholfen (Quelle: Bildarchiv der ONB)

Die Arbeiter-Zeitung wies darauf hin, dass die Angriffe nicht nur von außerordentlicher Brutalität, sondern offensichtlich professionell organisiert waren.72 Neben Studierenden der II. Lehrkanzel und anderer Wiener Hochschulen sollen Nationalsozialisten aus Deutschland in Braunhemden Anweisungen gegeben und sich mit dem Hitlergruß verständigt haben. Die Polizei habe nicht weiter eingegriffen.73 Die mediale Resonanz war diesmal auch im Inland besonders groß. In der Presse war vom „Blutbad in der Währinger Straße“ und dem ,,Schlachtfeld“ Anatomisches Institut die Rede. Als die Neue

71 Sablik, Julius Tandler (wie Anm. 32), 298 – 301; Naziüberfall im Anatomischen Institut, Arbeiter-Zeitung, 10. 5. 1933. 72 Naziüberfall im Anatomischen Institut, Arbeiter-Zeitung, 10. 5. 1933. 73 Ebd.

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Freie Presse am Tag darauf „traurige Bilanz der gestrigen Hochschulkrawalle“ zog, vermeldete sie zwölf Verhaftungen und 20 ernstere Verletzungen.74 Abermals wurden diplomatische Folgen öffentlich diskutiert. Verwundete Studierende aus den USA hatten bei ihrem Konsulat Protokolle über die jüngsten Krawalle und ihre körperlichen Verletzungen abgegeben.75 Einige davon nahmen die Ausschreitungen zum Anlass, ihr Studium in Wien abzubrechen. Wie die New York Times berichtete, wollten sie jedoch anonym bleiben, da sie, sobald sich die Spannungen gelegt hätten, auf eine Rückkehr hofften.76 Diese Hoffnung sollte sich nicht mehr wirklich erfüllen. Julius Tandler hatte, von den Krawallen 1933 entnervt, einen Lehrauftrag in China angenommen.77 Bereits 1923/24 hatte er mit einem Rücktritt von seiner Professur geliebäugelt. Nun, da die Zustände sich dermaßen zugespitzt hatten, dass man sogar erwog, eine Polizeiwachstube im Anatomischen Institut einzurichten,78 war das Maß für ihn voll. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte (und gewiss kein Zufall), dass nach Tandlers Abreise durch die Machtübernahme der Austrofaschisten und die wachsende Opposition gegenüber den immer stärker werdenden Nationalsozialisten effizienter gegen den antisemitischen Terror der nationalsozialistischen Studierenden vorgegangen wurde.79 Das brachte immerhin für jüdische Studierende eine gewisse Entspannung der Lage. Zugleich aber kam es in der Ärzteschaft der Stadt Wien zu einer Kündigungswelle von sozialdemokratischen Ärzten: 56 der 58 entlassenen Mediziner waren jüdischer Herkunft.80 Auch Tandler wurde, auf staatlicher Ebene, Opfer der antilinken Kündigungswelle.81 Als er im März 1934 aus Verantwortungsgefühl gegenüber seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen nach Wien zurückkehrte, wurde er kurzzeitig verhaftet und in der Folge zwangsemeritiert. Wieder freigelassen emigrierte er schließlich nach Moskau, wo er im August 1936 in Moskau im Alter von 62 Jahren an einem Herzanfall starb.

74 75 76 77 78 79 80 81

Traurige Bilanz der gestrigen Hochschulkrawalle, Neue Freie Presse, 10. 5. 1933. Ebd. 3 Americans Quit Studies in Vienna, The New York Times, 21. 4. 1933. Hödl, Julius Tandler und das „Rote Wien“. Medizin und Judentum (1990) 4, 112 – 120, hier : 114. Sablik, Julius Tandler (wie Anm. 32), 298 – 301. Hubenstorf, Medizinische Fakultät (wie Anm. 16), 235. Vgl. Pauley, Antisemitismus (wie Anm. 5), 329. Was sich etwa in den Erinnerungen des einstigen Medizinstudenten der I. Anatomischen Lehrkanzel Benno Weiser-Varon bestätigt. Weiser-Varon, Wie ich, obwohl Jude, nicht Arzt wurde (wie Anm. 35), 1 – 2.

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IV.

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Epilog

Das Studienjahr 1934/35 wurde entgegen den Usancen mit einem Festgottesdienst eröffnet. Tandlers Nachfolger wurde 1936 der erst 34-jährige Gustav Sauser, ein Monarchist82 aus Innsbruck, der 1927 Assistent der Innsbrucker Anatomie geworden und mit der Tochter des bekannten Anatomen Siegelbauer verheiratet war.83 Was vermutlich noch mehr Bedeutung hatte: Der fachlich als nicht allzu gut ausgewiesene Sauser war ehemaliger Studienkollege und enger Couleursbruder von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg. Nicht nur Institutsmitarbeiter berichteten Tandler vom Verfall des Instituts84, auch die Arbeiter-Zeitung ließ aus dem Exil kein gutes Haar an Tandlers Nachfolger. Er sei „gut vaterländisch und katholisch, aber von Anatomie versteht er weniger, als jeder verstehen müsste, um bei Tandler das Rigorosum zu bestehen […] So bringt der Klerikofaschismus die Wiener medizinische Schule herunter.“85 Nach dem „Anschluss“ 1938 musste Sauser gehen, beide anatomischen Lehrstühle wurden unter dem Nationalsozialisten und Hochstetter-Schüler Eduard Pernkopf vereinigt. Der 1888 geborene Pernkopf hatte verhältnismäßig schnell Karriere gemacht: 1920 wurde er Hochstetters Assistent, ein Jahr später Dozent, 1927 a. o. Professor und 1933 Ordinarius und zugleich Leiter des II. Anatomischen Instituts. 1938 wurde er dann vom kommissarisch eingesetzten Rektor Fritz Knoll persönlich ernannter Dekan der Medizinischen Fakultät und entließ als solcher neben seinem Vorgänger noch 152 andere der 197 Angestellten der Fakultät – das sind mehr Entlassene als an jeder anderen deutschsprachigen Fakultät. Auch deshalb, weil antisemitische Blätter und Gruppen die Namen der jüdischen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen an der Universität Wien seit 1924 regelmäßig veröffentlichten, konnte ihre Entlassung vergleichsweise sehr schnell abgewickelt werden. 1943 folgte Pernkopf dann auf Fritz Knoll als Rektor der Universität Wien, die er bis 1945 leitete. Das seit 1932 unterstützende Mitglied der NSDAP wurde international vor allem durch das Großprojekt seines Anatomischen Atlas bekannt. Dafür ließ Pernkopf insgesamt 1377 Leichen von Exekutionsopfern an sein Institut anliefern; etliche davon wurden aller Wahrscheinlichkeit nach für das Atlasprojekt verwendet.86 82 Hubenstorf, Medizinische Fakultät (wie Anm. 16), 242. 83 Wie die Universitäten zu Grund gerichtet werden, Arbeiter-Zeitung, 1. 11. 1936. 84 Schreiben von Pick (I. Anatomische Lehrkanzel) an Tandler, 5. 7. 1934, Josephinum, Handschriftensammlung, HS 4048. 85 Tandlers Nachfolger, Arbeiter-Zeitung, 23. 6. 1936. Laut Michael Hubenstorf (E-Mail an K. T. vom 9. 12. 2012) war Sauser wahrscheinlich fachlich doch etwas qualifizierter, als die Arbeiter-Zeitung polemisierte. Er hatte sich 1934 mit einer Arbeit über die „Anthropologie der Ötztaler“ habilitiert. 86 Gustav Spann, Untersuchungen zur Anatomischen Wissenschaft in Wien 1938 – 1945, Senatsprojekt der Universität Wien, Wien 1998.

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Pernkopfs universitäre Laufbahn war nach 1945 zu Ende. Durch das Amnestiegesetz vom April 1948 lebte „immerhin“ seine ordentliche Mitgliedschaft an der Akademie der Wissenschaften auf, wo Fritz Knoll, sein Vorgänger als Rektor, in seiner zweiten Karriere zum Wissenschaftshistoriker der Akademie wurde. 1951 und 1957 gab Knoll für die nunmehr Österreichische Akademie der Wissenschaften zwei großformatige Bände über bedeutende österreichische Forscher heraus. Im zweiten Sammelband unter dem Titel „Österreichische Naturforscher, Ärzte und Techniker“ gab es auch einen Text über die Wiener Anatomenschule mit kurzen biografischen Abrissen über Josef Hyrtl, Carl von Langer, Emil Zuckerkandl, Carl Toldt, Julius Tandler und Ferdinand Hochstetter. Der Verfasser dieses Beitrags, bei dem die Würdigungen von Emil Zuckerkandl und Julius Tandler eher kurz ausfielen, war kein Geringerer als Eduard Pernkopf, der 1955 etwas überraschend während der Arbeit am 4. Band seines Opus magnum, des Anatomie-Atlas, starb. Mit Pernkopfs Tod konnte nun freilich auch der Anatom selbst in den von Knoll herausgegebenen Band aufgenommen werden – Bedingung war neben der wissenschaftlichen Bedeutung nämlich auch, dass der zu Porträtierende bereits gestorben war. Die Würdigung Pernkopfs übernahm der Anatom Alexander Pichler. Der war nach dem „Anschluss“ Fakultätsführer des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes gewesen und gemeinsam mit Pernkopf Mitautor einiger Bände des Atlas. Pichlers Text über Pernkopf fiel länger aus als die beiden Kurzartikel über Zuckerkandl und Tandler zusammen. Immerhin gibt es in dem Band auch noch zwei längere Würdigungen von Robert B‚r‚ny und Karl Landsteiner, in denen sogar darauf eingegangen wird, dass die beiden trotz ihrer bahnbrechenden Leistungen keine sonderliche Wertschätzung erfahren haben und nicht ganz freiwillig die Universität Wien verließen. Dass Antisemitismus dabei eine Rolle spielte, davon ist indes nicht die Rede.87

87 Auch in einem weiteren wichtigen Medium der offiziellen Erinnerungskultur, den Straßennamen Wiens, fehlt der Name Landsteiner. Die Wertschätzung einer Straßenbenennung wird hingegen zahlreichen bekannt antisemitischen Medizinern zuteil, wie z. B. durch die Rosasgasse, die Billrothstraße, die Seefeldergasse, die Lorenz-Böhler-Gasse, die Hocheneggasse, die Chvostekgasse oder den Karl-Toldt-Weg – und die Liste ließe sich noch fortführen! Mit einer systematischen historischen Aufarbeitung der Wiener Straßennamen seit 1860 befasst sich derzeit ein Projektteam des Vereins zur Wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeitgeschichte.

Birgit Peter

Antiziganismus, Antislawismus und Antisemitismus als Karrierestrategie. Über einen theaterwissenschaftlichen „Gründungsvater“

Im Meldearchiv des Wiener Stadt- und Landesarchivs findet sich eine kurios anmutende Kartei: der sogenannte Prominentenordner mit Meldezetteln prominenter Wiener und Wienerinnen. Neben Theodor Herzl und Sigmund Freud sind hier u. a. auch einer der höchstbezahlten NS-Schauspieler, Paul Hörbiger, und der Begründer des Wiener theaterwissenschaftlichen Instituts, Heinz Kindermann, vertreten.1 Ich führe dies hier als historische Spur an, wer in dieser Stadt als bedeutend galt, wer nebeneinander zu stehen kommt bzw. steht und was diese Bedeutsamkeit hervorrief. Herzl, Freud, Hörbiger und Kindermann nenne ich als Rahmung für unsere Tagung, die sich mit Antisemitismus und Universitätsgeschichte beschäftigt, einem komplexen Feld österreichischer Identitätsgeschichte, dem ich durch meine Ausführungen zu Heinz Kindermann einen weiteren Aspekt hinzufügen möchte: nämlich den, wie eine auf Diffamierung, Ausschluss und Vernichtung zielende Konzeption von Literatur- und Theatergeschichte, die antiziganistische, antislawische und antisemitische Positionen behauptete, bis weit in die 1980er-Jahre als europäisches Erfolgsmodell von Kulturgeschichtsschreibung fungieren konnte. Es geht hier um die Verquickung einer individuellen Karrierestrategie mit ideologischen und realpolitischen Strukturen. Wenn ich nun den Meldezettel als Spur lese, so finde ich als Berufsbezeichnung des Vaters von Heinz Kindermann Papierhändler. In den von Kindermann verfassten Lebensläufen für seine akademische Karriere findet sich hingegen eine kleine Änderung: Aus dem Papierhändler wird ein Buchhändler. Möglicherweise ein unbedeutendes Detail, doch auch Hinweis auf eine Umdeutung von Herkunft und Milieu, ein Topos, der sich durch das wissenschaftliche Werk Kindermanns zieht. Wenn er für sich selbst die Herkunft aus einem kleinbürgerlichen Milieu in ein intellektuelles Milieu wendet, so tritt dies ein, als er als Student des Germanisten Walther Brecht an der Universität Wien zwischen 1913 1 Herzlichen Dank an Manuel Swatek, der mich auf den Prominentenordner im Meldearchiv des Wiener Stadt- und Landesarchiv aufmerksam machte.

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Birgit Peter

und 1918 beginnt, eine tonangebende Rolle unter den Kolleginnen und Kollegen zu spielen und als Bibliotheksassistent der Universitätsbibliothek eine von den anderen Studierenden herausgehobene Position einzunehmen. Joseph Roth und sein Freund, der Schriftsteller Jûzef Wittlin (1896 – 1976), waren Studienkollegen, ihnen brachte Kindermann, der sich ja den Habitus des feinsinnigen Büchermenschen zugelegt hatte, allerdings Verachtung entgegen: „Heinz Kindermann konnte Roth nicht leiden, ebenso auch uns nicht als Nicht-Germanen. Kaum, dass er sich herabließ, unsere Fragen zu beantworten“,2 so erinnerte sich Wittlin. Roth fand im Mitstudenten Kindermann das Vorbild für eine Erzählung mit dem bezeichnenden Titel „Der Vorzugsschüler“: „(…) Aber man war Idealist, wenn man Philosophie studierte. Und zwar : Literatur. Ein ,Bettlerberuf‘ – sagten die Leute. Aber man konnte zu Geld und Ansehn kommen, wenn man es geschickt anstellte. Und etwas geschickt anstellen – das konnte Anton. (…) Auch bei den Lehrern fand Anton Achtung. Daß er klug war, erkannten sie auf den ersten Blick. (…) er war ein Schnüffler und Bücherwurm. (…) was den Professoren aber am meisten behagte, war eine wahrhaft köstliche Naturgabe. Er konnte nämlich stundenlang mit dem Kopf nicken, ohne zu ermüden. Er gab immer Recht. Dem Professor gegenüber kannte er keinen Widerspruch.“3

Die von Wittlin erinnerte Verachtung/Ignoranz gegenüber jüdischen Kollegen und die von Roth beschriebene Anbiederung an Autorität/Affimierung des Mächtigen/Autoritären zieht sich als Klammer durch Kindermanns Publikationen zwischen 1916 und 1945. In den über 100 erschienen Fachartikel und in den 50 selbstständigen Publikationen4 in diesem Zeitraum finden sich Ausschluss des Nicht-Germanischen und darauf beruhende Definition des Deutschen sowie Argumentation für die Allmacht des Deutschen. Bereits in seinen frühesten Texten zwischen 1916 und 1918 formulierte der deutsch-völkische Student seinen rassistischen Wissenschaftsbegriff, der auf der Evokation einer deutschen Gemeinschaft basierte; Kindermann nannte dies das „Irrational-Gemeinschaftliche“. In seiner Dissertation „Hermann Kurz in seiner Frühzeit“ (1918) schrieb er den deutschen Schriftsteller Kurz (1813 – 1873) in einen deutsch-völkischen Kanon ein.5 „In rücksichtsloser Eindringlichkeit leuchtet Kurz hinab in die dunklen Wirrnisse einzelner Volksklassen und weiss, (…) auch das Ehrlich-behagliche schwäbische Bürgerleben darzustellen. (…) er beleuchtet ebenso wie die köstliche Idylle im Pfarr2 Wilhelm von Sternburg, Joseph Roth. Eine Biographie, Köln 2009, 153. 3 Joseph Roth, Der Vorzugsschüler [1916]. In: Joseph Roth, Die Erzählungen. M. e. Nachw. v. Hermann Kesten. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1973. S. 7 – 24. S. 12 f. 4 Eine von Inge Praxl zusammengestellte vollständige Bibliografie findet sich in Birgit Peter, Martina Payr (Hrsg.): „Wissenschaft nach der Mode?“ Die Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien 1943, Wien 2008, 260 – 269. 5 Heinz Kindermann: Hermann Kurz in seiner Frühzeit, Diss. Univ. Wien, Wien 1918.

Antiziganismus, Antislawismus und Antisemitismus als Karrierestrategie

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haus (…) die verschiedensten Schattierungen schwäbischen Volkstums, die wurzelechte Eigenart diese deutschen Stammes, die sie sich am deutlichsten im Alltäglichen ausprägt.“

Zur Unterstreichung des Kurzschen Vermögens führt Kindermann aus, dass um diese „Volksklassen“ (die Darstellung des Adels und des Bürgertums) vollständig zu machen, auch „die damals stets die Bevölkerung bedrohende Gesellschaftsschicht [zu skizzieren sei, B. P.], die meist auf düsteren Schleichwegen ihr Dasein fristete. Die Zigeuner.“6 Die Leistung des Dichters liege nach Kindermann darin, dass Kurz als Erster die „Relativität der Menschlichkeit“7 aussprach und darstellte. Und er spricht in der Folge von der Vorbereitung eines geistigen „Dunstkreis[es]“ für „einen Neuen, Grossen, für einen Erfüller“8 ebenso wie von der Erziehung zu politischer Reife durch philosophische Volksbildung. Bei Kurz findet Kindermann bereits das von ihm verherrlichte Nebeneinander von „heimatlicher Kleinkultur“ und idealistischer Weltauffassung vor: „Echtheit und Lebenswahrheit.“9 Kurz gilt ihm in seinen Ausführungen als Schöpfer einer vorbildlichen Typologie, die sich in krasser Schwarz-Weiß-Zeichnung gefällt. So lobt Kindermann Passagen, in denen Kurz eine Beschreibung von „originellen schwäbischen Charakterköpfen“ aus Adel oder Bürgertum liefert, denen der „stotternde, typische Zigeuner“ und die „sinnendurchglühte Zigeunerin“10 entgegenstehen, deren Charakter als diebisch und rachsüchtig ausgewiesen wird. Der Erzähler als Held lässt sich selbst nicht ins Antlitz sehen.11 Kindermann beschreibt dieses Verfahren von Kurz als eine Verknüpfung von Persönlichkeitsschilderung mit Physiognomik, ein „unübertreffliches Seelengemälde“12. „Das Bild der dargestellten Zeit aber wäre (…) nicht vollständig, erblickten wir nicht auch die prosaischen Schädlinge des Volkstums, lernten wir nicht auch den allgemeinen Zeitschaden kennen: die Zigeuner.“13

Kindermann bekennt freimütig ein, dass es sich hier nicht um eine Realitätsschilderung handle, doch behauptet er, die Kurzschen Skizzen seien „wesenswahr“. Das Œuvre des schwäbischen Heimatdichters Kurz generiere „lebensechte, psychologische realistische Heimatkunst“, so lautet denn der Schlusssatz in Kindermanns Dissertation.14 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Ebd., 513 f. Ebd., 516. Ebd., 518. Ebd., 522. Ebd., 523. Ebd., 524. Ebd., 525. Ebd., 531. Ebd., 541.

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Birgit Peter

Kindermann stützt sich bei seiner ersten akademischen Abschlussarbeit auf die Publikationen von Houston Stewart Chamberlain. Insbesondere dessen Goethe-Buch von 1912 findet Anwendung, vor allem die Auslegung Chamberlains von Unterscheiden und Verbinden im letzten Kapitel „Der Weise“, eine Argumentation, in der Goethes Beschäftigung mit der Natur als eine „langsam herausgereifte Aufstellung des Begriffes der ,Arten‘“ interpretiert wird. „(…) eine Tat, durch welche erst eine Wissenschaft der Lebensgestalten möglich wurde – (dies) liefert ein augenfälliges Beispiel für den Wert des Unterscheidens; denn wer nicht den Mut hat, die Legionen Individuen in Artbegriffen auseinanderzuhalten, gelangt in uferloses Chaos. Hand in Hand hiermit geht das Verbinden; wer nicht kühn über kleine Abweichungen hinwegsieht, um mannigfaltig gestaltete Individuen dennoch zu der Idee einer bestimmten ,Art‘ zu verbinden, wird niemals der Architektonik der Natur auf die Spur kommen.“15

Von Chamberlain nimmt Kindermann zum Zweiten den Auftrag an, Literaturgeschichte als Instrumentarium für das Unterscheiden des echten vom unechten Deutschen zu betreiben, eine als kriegerisch-notwendige Tat beschriebene Vorgangsweise16 mit dem Ziel, die „Übermacht des Deutschen“ zu verwirklichen. Die in Chamberlain permanent wechselnde Perspektive von geschilderter vermeintlicher Lebenswirklichkeit und Idee greift Kindermann in seiner Dissertation ebenfalls auf. Diese Kategorien einer auf Rassentheorie basierenden Literaturgeschichtsschreibung mit dem Ziel, echtes Deutsches von unechtem zu unterscheiden, als Fremdes zu kennzeichnen, als deutscher Gemeinschaft Schädliches auszuscheiden, um eben diese Gemeinschaft zu erzeugen, wird in den Schriften, Herausgeberschaften, Leitartikeln usw. Kindermanns bis 1945 durchdekliniert. Und zwar für jene Bereiche, die sich seiner akademischen Karriere als besonders nützlich erweisen. Die folgenden Ausführungen stellen einige Stationen dieser Vita vor, um diese Verquickung zwischen Ideologieproduktion und persönlichem Vorankommen anschaulich zu machen.

15 Houston Stewart Chamberlain, Goethe, München 1912, 630, 16 Houston Stewart Chamberlain, Deutschland, in: Kriegsaufsätze, München 1914, 68 – 94, hier : 82.

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Die Postulierung antislawischer Ressentiments und die Kanonisisierung sudetendeutscher und weichseldeutscher „Eigenart“ Nach der Habilitation 1924 – in der Habilitationsschrift schrieb Kindermann bereits von „national-socialen Perspektiven“17 – erhielt Kindermann 1927 einen Ruf an die Technische Hochschule in Danzig als Professor für deutsche Sprache und Literatur. Er profiliert sich als Kenner des Deutschen über die Begriffe „Seele“ und „Irrationalismus“, die er zu einer endindividualisierten Kategorie des Deutschen als Organismus gedacht erhob. Zum Zweiten begann er Geschichte und Gegenwart in der Literaturproduktion aufeinander zu beziehen. Im Zentrum firmierte weiterhin Goethe, der zum Vater einer biologisch-anthropologischen Literaturgeschichte gewendet wurde. Ihm zur Seite stellte Kindermann nun Klopstock, den er als Endecker deutschen Nationalgefühls feierte.18 Noch bevor die NSDAP als stärkste Fraktion im Volksrat der „Freien Stadt Danzig“ in Erscheinung trat, war Kindermann – nach seiner Selbstdarstellung vor 1945 – am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten.19 Am 11. Mai 1945 wird er dann angeben, dass er nach seiner Einbürgerung als Danziger „automatisch“, wie alle anderen Professoren der Technischen Hochschule auch, in die NSDAP „überführt“ worden sei.20 Bei Überprüfung der in Danzig zwischen 1933 und 1937 produzierten Schriften wird deutlich, dass Kindermann seine Position nutzte, um Danzig als geopolitisch bedeutsamen Ort aufzuladen. Als Strategie setzte er, wie bereits in der Dissertation angewandt, auf die Kanonisierung lokaler deutschnationaler Literatur. Diese stellte er in den Rahmen antipolnischer Polemik, um deutsche Dichtung als kulturelles Kampfmittel herauszustreichen. Mittels von ihm herausgegebener Anthologien, beispielsweise „Von Deutscher Art und Kunst“21, „Deutsche Wende. Das Lied der Jungen“22 oder „Die deutsche Gegenwarts17 Heinz Kindermann: Entwicklung der Sturm- und Drangbewegung. Sonderabdruck aus „GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN.“ Festschrift anlässlich des 60semestrigen Stiftungsfestes des Wiener Akademischen Stiftungsvereins, Wien 1925, 10 f. 18 Die Darstellung der Vita basiert auf der Bearbeitung der am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft aufgefundenen Sammlung von Archivalien zu Heinz Kindermann und Margret Dietrich. Siehe „Wissenschaft nach der Mode.“ Heinz Kindermanns Karriere 1914 – 1945. Positionen und Stationen, in: Birgit Peter, Martina Payr (Hrsg.): „Wissenschaft nach der Mode?“ (wie Anm. 4), 15 – 51. 19 Archiv der Republik, Personalakt Kindermann, fol. 483/Rückseite. 20 Archiv der Republik, Personalakt Kindermann, siehe fol. 487 [Herv. i. O.]. 21 Heinz Kindermann (Hrsg.): Von Deutscher Art und Kunst, Leipzig 1935 (= Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen: Irrationalismus, 6). 22 Heinz Kindermann (Hrsg.): Deutsche Wende. Das Lied der Jungen, Leipzig 1936 (2. Auflage 1942).

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dichtung im Aufbau der Nation“23 bereitete er Textsammlungen für den sich zu bildenden NS-Bürger auf. Für die akademische Welt markierte er über publizistische Großprojekte seinen Deutungsanspruch, als Literaturhistoriker tonangebend neue deutsche Kulturbegrifflichkeit zu kreieren. Die 1934 erstmals erschienene Reihe „Handbuch der deutschen Kulturgeschichte“ zeigt, wie Kindermann diesen Machtanspruch umsetzte. Er versammelte Wissenschaftler aus verschiedenen Fachbereichen wie u. a. den Germanisten Franz Koch, den Anglisten Friedrich Wild, den Slawisten Gerhard Gesemann oder den Theaterwissenschaftler Willi Flemming, um einerseits „Geschichte des deutschen Lebens“ schreiben zu lassen, die andererseits einer „Geschichte des Völkerlebens“ entgegengestellt wurde. Diese Bände stellen ein wesentliches Dokument für ein von Wissenschaftlern kreiertes rassistisches, nationales Distinktionssystem dar. So zeichnen sich die Bände über „slawische Völker“ durch eine Geschichtsschreibung aus, die nur dann von „Kultur“ spricht, wenn Artefakte auf deutschen Ursprung zurückzuführen sind. Kindermanns Strategie erwies sich für ihn als äußerst erfolgreich; 1933 wurde er von der Presse schon euphorisch als „Vorkämpfer des Deutschtums im Ostraum“24 betitelt. Hans Hinkel, Staatskommissar im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volkbildung, ab 1934 zuständiger Funktionär im Propagandaministerium für die Überwachung kultureller Tätigkeiten „Nichtarischer“, würdigte Kindermanns Buch „Des deutschen Dichters Sendung in der Gegenwart“ mit einem Vorwort. 1939, zum Auftakt des Überfalls auf Polen, verfasste Kindermann für die von Alfred Rosenberg herausgegebene Bücherkunde den Aufsatz „,Wir stehn im Kampf.‘ Das Lied der Deutschen im Weichselland und in Galizien“25. Mittlerweile hatte Kindermann die repräsentativere ordentliche Professur für Literaturwissenschaft an der Universität Münster inne. Mit dem zuständigen Gauleiter Alfred Meyer beriet er kulturpolitische Angelegenheiten.26 Seine Anthologien „Heimkehr ins Reich. Großdeutsche Dichtung aus Ostmark und Sudetenland“ (1939) und „Du stehst in großer Schar. Dichtung aus Warthe- und Weichselland“ (1939) schufen zum einen einen Kanon an Literat23 Heinz Kindermann (Hrsg.): Die deutsche Gegenwartsdichtung im Aufbau der Nation, Berlin 1935 (= Die Schriften der Jungen Generation, 3). 24 Vorstellung von Heinz Kindermann, dessen Artikel „Neue Aufgaben der Literaturwissenschaft“ sodann abgedruckt wurde. Zeitungsausschnitt 1933 ohne nähere Angaben, Archiv und Sammlungen des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien, Sammlung Kindermann, Box 26. 25 Heinz Kindermann: „Wir stehn im Kampf.“ in: Bücherkunde, Jg. 6., Heft 10, (Oktober 1939), 500 – 503. 26 Archiv der Republik, PA Kindermann, Heinz Kindermann Personalnachrichten, Wien 24. 2. 1943, fol 483.

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urproduktion, geordnet nach „Stämmen und Landschaften“27, zum anderen arbeitete er an der Kreierung vorbildlicher NS-Lebenswelt. In den Einleitungen zu diesen Anthologien beschrieb Kindermann den Rahmen, wie diese Dichtungen als „Kampfform“ gegen Nicht-Deutsche zu verstehen und anzuwenden seien und wie „soziale Ordnungsgefüge“ hergestellt würden.28 Als bedeutungssetzender Literaturwissenschaftler hatte er sich bereist etabliert, was fehlte, war, die aus Literaturproduktion und -interpretation entwickelten Ideologeme auf neue Weise zu veranschaulichen. Theater und in der Folge auch Film sowie Bildproduktion schienen angebrachte Mittel, um vorbildliche NS-Lebenswelt zu erzeugen. Als geeigneter Standort dieses Vorhabens griff Kindermann auf seine Geburtsstadt Wien zurück. Die historische Bedeutung von Theater für nationale Identitätsprozesse, die insbesondere in Wien seit der Burgtheatergründung 1776 verhandelt wurde, war ihm vertraut und diese setzte er nun ins Zentrum seiner Machtbestrebungen. So erschien 1939 „Burgtheater. Erbe und Sendung eines deutschen Nationaltheaters“, ein Buch, das die von ihm erfundene „rassisch-volkhafte“ Theatergeschichtsschreibung prolongierte. Zudem wertete Kindermann den geopolitischen Raum Wien als neues NS-Zentrum für die Gebiete Südosteuropas auf. Seine bewährten Strategien der Exklusion wandte Kindermann nun auf Wiener Theatergeschichte an. Der Beitrag jüdischer Theaterschaffender und Theaterhistoriker wurde diffamiert, als „orientalische Verzerrung“ gekennzeichnet, während Theaterbegeisterung zum Wiener Beitrag zum Deutschtum erhoben wurde. An dem im Wien des späten 19. Jahrhunderts in Fragen des Geschmacks und der Eleganz tonangebenden Schauspieler Adolf von Sonnenthal handelte Kindermann die „orientalische Verzerrung“ ab. Den für die Gründungsgeschichte des Burgtheaters so wichtigen Gelehrten Josef von Sonnenfels kanzelte er als Zerstörer Wiener Eigenart ab. „Man erfährt, dass der getaufte Jude Sonnenfels seinen Kampf gegen den Hanswurst nur führte, um die Wurzel des arischen Wiener Volkstücks auszurotten.“29 Die Neudeutung des Wiener Volksstücks und des Kanons österreichischer Nationaldramatik nimmt nun eine zentrale Stellung ein. Ein 500 Seiten starker Band zu Ferdinand Raimund30 und eine Grillparzer-Volksausgabe 1941, basie27 Hier griff Kindermann auf die viel rezipierten Kategorisierungen seines Konkurrenten Josef Nadler zurück. 28 Seine Erkenntnisse stellte er dann in Aufsätzen in den NS-ideologischen Diskurs, siehe Heinz Kindermann, Kampf um die deutsche Lebensform. Reden und Aufsätze über die Dichtung im Aufbau der Nation, Wien 1941. 29 Heinz Kindermann, Das Burgtheater. Erbe und Sendung eines Nationaltheaters, Wien – Leipzig 1939, 22, 23. 30 Heinz Kindermann, Ferdinand Raimund. Lebenswerk und Wirkungsraum eines deutschen Volksdramatikers, Wien 1940 (2., bearb. Aufl., Wien 1943).

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rend auf rassisch-volkhafter Geschichtsschreibung, folgen, als Baldur von Schirach Reichsstatthalter von Wien wird. Sein Grillparzer-Buch überreicht Kindermann persönlich, ein Dankesbrief von Schirach enthält neben überschwänglichem Lob auch die Passage: „Sie haben mir mit der Übersendung Ihrer Grillparzer-Ausgabe eine besondere Freude gemacht und ich danke Ihnen herzlich. Ich hoffe, Sie nun trotz aller Schwierigkeiten bald ganz hier in Wien zu wissen.“31 Nachweislich seit 194032 bestand seitens Kindermann das Interesse, in Wien ein Theaterwissenschaftliches Institut zu gründen.33 Er wollte das erste Ordinariat für dieses Fach einrichten und seinen Führungsanspruch in der jungen Disziplin markieren. Trotz Verhinderungsversuchen seitens der Universität Wien von Konkurrenten wie Josef Nadler, gelingt es ihm, dieses Vorhaben 1943 zu verwirklichen. „Theaterwissenschaft als Lebenswissenschaft“ lautete der programmatische Aufruf Kindermanns an seine ersten Studierenden, „Kampf um deutsche Lebensform“ und „europäische Sendung des deutschen Theaters“ sind die Formeln für die Legitimation des deutschen Vernichtungskriegs gegen alles Nicht-Deutsche. Film und Fotografie sollen ebenfalls in den Lehrplan integriert werden, große Sammlungen wie das erst vor Kurzem aufgefundene „Bildarchiv“ zeigen, wie weitgreifend diese Fachgründung wirken sollte. Kindermann und seine erste Dissertantin in Wien, Margret Dietrich, arbeiteten auch an einem neuen Menschenbild. Untersuchungen am Schauspieler sollten Mimik und Gebärde im Sinne „rassisch-volkhafter“ Kategorien historisieren.34 Zwar wurde Kindermann im Mai 1945 als Direktor des Zentralinstituts entlassen, doch gelang ihm seine Rehabilitierung; 1954 erfolgte die Wiedereinset31 AdR, Bürckel Gauakten, Reichsleiter Baldur von Schirach Zentralbüro Generalreferent Walter Thomas an Heinz Kindermann, 23. Dezember 1941. Im April 1941 sprach Schirach bereits in der Öffentlichkeit von der bevorstehenden Institutsgründung, 1942 wiederholte Walter Thomas diese Ankündigung. 32 Siehe Wolfram Nieß, Die Gründung des Instituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien im Nationalsozialismus, Phil. Dipl. Univ. Wien, Wien 2007, und Wolfram Nieß, Von den Chancen und Grenzen akademischer Selbstbestimmung im Nationalsozialismus: Zur Errichtung des Instituts für Theaterwissenschaft 1941 – 1943, in: Mitchell G. Ash, Wolfram Nieß, Ramon Pils (Hrsg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, 225 – 260. 33 Zur den Anfängen der Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum siehe Stefan Corssen, Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft, Tübingen 1998 (= Theatron, 24). 34 Das Habilitationsvorhaben über „Menschenbild“ wurde im Jänner 1945 von Margret Dietrich bekannt gegeben. Siehe Fragebogen für Dozenten-Nachwuchs des Nachwuchsamts des Reichforschungsrats, Ansuchen um Habilitation, 15. 1. 1945, Universitätsarchiv Wien, Personalakt Margret Dietrich 1480, fol. 1 – 4. Die Habilitation erschien dann 1952. Als grundlegende Literatur finden sich Kindermanns Schriften ebenso wie ns-anthropologische. Siehe Margret Dietrich, Europäische Dramaturgie. Der Wandel ihres Menschenbildes von der Antike bis zur Goethezeit, Wien 1952.

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zung. Den Protesten und Gutachten – wie ein ausführliches, auf seine Schriften zwischen 1933 und 1945 rekurrierendes von Oskar Benda – setzte Kindermann dezidiert „völkerverbindende“ – so seine Wortschöpfung – Geschichtskreationen entgegen. Aus einem Brief an Franz Glück vom April 1946, der nicht bereit war, Kindermann bei seinen Rehabilitierungsversuchen zu unterstützen: „Sie sprechen von Schlagworten, denen ich und andere zum Opfer gefallen seien. (…) Jede Zeit prägt ihre eigenen Kennwörter (…). An solchen Vorgängen sind auch die ganz Großen, von Plato über Goethe und Schiller bis zu Nietzsche beteiligt. Andere Zeiten kämpfen dann gegen diese Schlagworte an und müssen doch für die gleichbleibenden Tatsachen oft von der neuen Grundhaltung aus neue Termini prägen. Für den Fall Raimund etwa liegen die historisch von mir (…) bewiesenen Tatsachen vor, dass er in Skandinavien (…), in England und im ganzen niederdeutschen Raum (besonders in Hamburg) auffallend rasch und erfolgreich begriffen und gespielt wird, während die Theater der roman. Völker, trotz des Zusammenhanges des Wiener Volkstheaters mit der Commedia dell’arte u. a. ihm meist verständnislos gegenüberstehen. 1939 nannte man solche Zusammenhänge nach dem Vorgang Herders ,nordisch‘.“35

Dieses Dokument zeigt klar erkenntlich, dass Kindermann nicht von seinen auf Chamberlain rückgreifenden Grundlagen abweicht, sondern für eine Re-Etablierung derselben plädiert. Dass sich dieser Gestus und Habitus als Erfolgsgeschichte erweist, zeichnet sich ebenfalls in der unmittelbaren Nackriegszeit ab. Kindermann gewinnt prominente Fürsprecher wie Karl Renner, Studierende setzen sich für ihn ein: 44 unterschreiben für die Rehabiltierung, vier unterzeichnen eine Gegendarstellung. Obwohl Kindermann, wie ausgeführt, dezidiert als Nationalsozialist agierte, entschied sich die Mehrheitsgesellschaft für den Erhalt der auf den Ausschluss von als „nicht-arisch“ Stigmatisierten zielenden Kulturgeschichtsschreibung.

35 Heinz Kindermann an Franz Glück, Wien 15. 4. 1946, Nachlass Franz Glück bei Wolfgang Glück, Wien.

Ilse Reiter-Zatloukal

Antisemitismus und Juristenstand. Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät und Rechtspraxis vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum „Anschluss“ 1938

An der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät manifestierte sich die seit den 1880er-Jahren erstarkende Judenfeindschaft mannigfaltig und aggressiv sowohl im Lehrkörper als auch in der Studentenschaft. Der in diesem Klima politisch sozialisierte juristische Nachwuchs war seinerseits in der Rechtspraxis mit dem Judenhass weiter Teile der Bevölkerung und der konservativen Parteien konfrontiert, weshalb im Folgenden sowohl dem Antisemitismus an der Wiener Fakultät als auch in der Rechtspraxis nachgegangen wird, nahm dieser doch nicht nur in der Anwaltschaft radikale Züge an, sondern trat desgleichen in der Richterschaft zutage.

I.

Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät

1.

Habsburgermonarchie

Unter den Studierenden und Lehrenden der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät befanden sich seit Ende des 19. Jahrhunderts überproportional viele Juden, also nach der durchgängigen Terminologie des behandelten Zeitraums sowohl Angehörige mosaischen Glaubens als auch Personen jüdischer Herkunft. „Israeliten“ als „utriusque iuris doctores“ konnte es freilich erst seit 1872 geben, war es doch vorher unmöglich, die Prüfung aus Kirchenrecht zu absolvieren, ohne getauft zu sein,1 weshalb jüdische Studenten also in der Regel vor Ablegung der Rigorosen bzw. spätestens vor dem das Kirchenrecht als Prüfungsfach beinhaltenden sogenannten Romanum konvertierten – wel1 Vgl. Thomas Olechowski, Zweihundert Jahre österreichisches Rechtsstudium. Rückblicke und Ausblicke, in: Clemens Jabloner, Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Gerhard Muzak (Hrsg.) Vom praktischen Wert der Methode. Festschrift für Heinz Mayer zum 65. Geburtstag, Wien 2011, 455 – 479, hier : 467.

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cher Usus offenbar sogar noch nach 1872 weiter gepflogen wurde.2 Dies bedeutete freilich auch, dass der Antisemitismus nun nicht mehr an religiöse Argumente anknüpfte, sondern bloß an die Herkunft. Ein wesentlicher Grund für die akademische Überrepräsentanz der Juden Ende des 19. Jahrhunderts war der hohe Stellenwert, den die Bildung generell im Judentum hatte. So gab es bei einem durchschnittlich 10 %igen jüdischen Bevölkerungsanteil in Wien an den Wiener Gymnasien Ende des Jahrhunderts etwa ein Drittel jüdische Schüler.3 An der Universität Wien lag der Anteil jüdischer Studenten in den Jahren 1881 bis 1886 bei insgesamt 33 %, an der Juridischen Fakultät zu dieser Zeit bei über 22 %, 1914 bei fast 26 %.4 Wie aus vielen Biografien erhellt, war das Studium für viele Juden auch der Weg, aus einem „bedrängten kleinbürgerlichen Milieu in die höhere soziale Sphäre der Ärzte oder Hof- und Gerichtsadvokaten aufsteigen“ zu können5 und so dem „Makel des Händlertums“ zu entkommen.6 In diesem Sinne bemerkte etwa Theodor Herzl, dass sich die Juden dort, wo sie „aufsteigende Klassenbewegungen mitmachen können, […] eilig vom Handel entfernen“ und „(w)eitaus die meisten jüdischen Kaufleute […] ihre Söhne studieren“ ließen, woher auch „die sogenannte Verjudung aller gebildeten Berufe“ käme;7 vorrangig eben der Medizin und der Rechtwissenschaften. Trotz ihrer hohen Anzahl waren die jüdischen Studenten allerdings verschiedenen ostentativen Diskriminierungen ausgesetzt; so waren sie etwa vom „Deutsch-Akademischen Juristenverein“ und von den Leseklubs an der Universität ausgeschlossen. Daher gründeten jüdische Rechtsstudenten z. B. eine „Jüdisch-Akademische Lese-Halle“ und den „Jüdisch-Akademische Juristenverein“, um „das Selbstbewusstsein der jüdischen Juristen zu stärken“.8 2 Hans Kelsen trat am 25. Mai 1905 aus der Kultusgemeinde aus, wurde am 10. Juni getauft und begann am 9. Oktober mit den Rigorosen; vgl. Anna L. Staudacher, Zwischen Emanzipation und Assimilation, in: Robert Walter, Werner Ogris, Thomas Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, Wien 2009, 41 – 53, hier : 47. 3 Steven Beller, Soziale Schicht, Kultur und die Wiener Juden um die Jahrhundertwende, in: Gerhard Botz, Ivar Oxaal, Michael Pollak, Nina Scholz (Hrsg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, 2. neu bearb. und erw. Aufl., Wien 2002, 67 – 83, hier : 75; ders., Wien und die Juden 1867 – 1938 (= Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek, 23), Wien – Köln – Weimar 1993, 59. 4 Beller, Wien und die Juden (wie Anm. 3), 43. 5 Wie etwa Hans Kelsen; siehe Rudolf Alad‚r M¦tall, Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien 1969, 3. 6 Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siÀcle, Frankfurt am Main 1982, 140. 7 Theodor Herzl, Der Judenstaat, 9. Aufl., Wien 1933, 79. 8 Marsha L. Rozenblit, Die Juden Wiens 1867 – 1914. Assimilation und Identität (= Forschungen zur Geschichte des Donauraumes, 11), Köln – Graz 1989, 164; Tamara Ehs, Das extramurale Exil. Vereinsleben als Reaktion auf universitären Antisemitismus, in: Evelyn Adunka, Gerald Lamprecht, Georg Traska (Hrsg.) Jüdisches Vereinswesen in Österreich im 19. und

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Eine besondere Benachteiligung stellte es freilich dar, dass jüdische Juristen nur höchst eingeschränkte Karrieremöglichkeiten hatten. Trotz der verfassungsrechtlich garantierten Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung war nämlich eine staatliche juristische Karriere ohne Übertritt zum christlichen Glauben „praktisch unmöglich“.9 Daher findet sich ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz von männlichen Konvertiten nicht nur bei den Freiberuflern (1870 – 1910: 28,6 %), sondern auch bei den Staatsbeamten (10,8 %).10 Im Lehrkörper der Universitäten waren, vor allem in den Bereichen Medizin und Rechtswissenschaften, Professoren mosaischen Glaubens und solche jüdischer Herkunft bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertreten. Der erste Jude an der Wiener Juridischen Fakultät überhaupt war der Strafrechtler Wolfgang Wessely, der 1861 zum Ordinarius ernannt wurde.11 Zum Christentum konvertiert waren hingegen Josef Unger (1855 Ordinarius für Zivilrecht) und Julius Glaser (1860 Ordinarius für Strafrecht).12 Glaser war überdies der erste Minister Cisleithaniens jüdischer Herkunft (Justizminister 1871 – 1879) und danach Generalprokurator am Obersten Gerichtshof. Auch Unger war zu dieser Zeit Minister und später Präsident des Reichsgerichts (1881¢1913). Weitere jüdische Rechtslehrer an der Universität Wien, vorrangig allerdings nur in der Stellung von Privatdozenten, waren in der Zeit der Monarchie etwa die Zivilbzw. Handelsrechtler Josef Schey, Armin und Albert Ehrenzweig, Carl Grünhut, Emanuel Adler, Felix Kornfeld, Arthur Lenhoff und Karl Wolff, der Rechtshistoriker Siegmund Adler, die Romanisten Stephan Brassloff und Stanislaus Pineles, der Zivilprozessrechtler Rudolf Pollak, der Völkerrechtler Leo Strisower, die Staatsrechtler Josef Redlich, Egon Zweig und Hans Kelsen.13 Insgesamt waren 1910 37,5 % der Vortragenden an der Wiener Juridischen Fakultät jüdischer Herkunft.14 Der sich seit den 1880er-Jahren verschärfende Antisemitismus schlug sich bei der Berufung auf Professorenstellen an der Fakultät verschiedentlich nieder, wie dies etwa Georg Jellinek, der Sohn des international bekannten Wiener Rabbi-

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12 13 14

20. Jahrhundert (= Schriftenreihe des Centrums für Jüdische Studien, 18), Innsbruck 2011, 15 – 29, hier: 21 – 22. Vgl. Beller, Wien und die Juden (wie Anm. 3), 46; Robert S. Wistrich, Die Juden Wiens im Zeitalter Franz Josephs, Wien – Köln – Weimar 1999, 125. Rozenblit, Juden (wie Anm. 8), 142. Guido Kisch, Die Prager Universität und die Juden 1343 – 1848, Mährisch-Ostrau 1935, 61 – 67, hier: 59; Franz Kobler, The Contribution of Austrian Jews to Jurisprudence, in: Josef Fraenkel (Hrsg.), The Jews of Austria. Essays on their Life, History and Destruction, London 1967, 25 – 40, hier : 27. Kobler, Contribution (wie Anm. 11), 29. Friedrich Kübl, Geschichte der jüdischen Advokaten und Rechtsgelehrten in Österreich, in: Hugo Gold, Geschichte der Juden in Österreich. Ein Gedenkbuch, Tel Aviv 1971, 117 – 125, hier : 124 – 125. Beller, Wien und die Juden (wie Anm. 3), 45.

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ners Adolf Jellinek, zu spüren bekam, nachdem er seine 1879 erlangte Venia für Rechtsphilosophie 1882 auf Völkerrecht ausgeweitet hatte.15 Unger und andere Professoren der Fakultät betrieben nämlich in weiterer Folge die Berufung Jellineks auf eine ordentliche Professur des Völkerrechts als Nachfolger Leopold Neumanns.16 In Reaktion darauf wurde etwa von der Zeitung Das Vaterland kritisiert, dass – obwohl „ausgezeichnete literarisch und didaktisch erprobte Lehrkräfte für diese so wichtige Disziplin zu finden wären“ – „sich die auch an den Stätten der Wissenschaft präponderierenden Parteigänger der israelitischen Allianz“ bemühten, „den Sohn des hiesigen Oberrabbiners und Predigers der Reformer […] an Neumanns Stelle zu bringen, unbekümmert um die Verletzung älterer und besserer Rechtsansprüche bewährter Dozenten“. Sie fand es „seltsam, wenn das Völkerrecht der christlich europäischen Staatengemeinschaft an der Wiener Universität keinen anderen Interpreten fände als einen israelitischen“ und merkte an: „In Russland wäre es unmöglich.“17 Die Fakultät allerdings beantragte wenig später für den weiterhin von Unger geförderten Jellinek eine außerordentliche Professur für Völkerrecht. Nachdem sich das Außenministerium dagegen ausgesprochen hatte, ernannte ihn das Unterrichtsministerium zum außerordentlichen Professor nicht für Völker-, sondern für Staatsrecht, wenngleich es ihn dazu verpflichtete, auch in Vertretung der vakanten Lehrkanzel Völkerrecht zu lesen,18 womit er de facto „alle Pflichten eines Ordinarius“ hatte, „da weder für Staats-, noch für Völkerrecht ein ordentlicher Professor bestellt war“.19 Zwei Faktoren waren es, wie Jellink festhielt, die zu einer Ablehnung geführt hatten: zum einen die bevorstehende Ernennung des Anatomen Emil Zuckerkandl, für die sich Kronprinz Rudolf einsetzte. „Zwei Juden auf einmal, das ist zuviel“20, kommentierte Jellinek. Als zweiten Grund 15 Vgl. Thomas Olechowski, Von Georg Jellinek zu Hans Kelsen. Ein Beitrag zur Geschichte der Staatsrechtslehre an der Universität Wien, in: Oliver Rathkolb, Elisabeth Röhrlich (Hrsg.), Wien um 1900: Migration und Innovation in Wissenschaft und Kultur, Wien – Köln – Weimar 2013 (im Erscheinen); siehe zu Menzel: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 – 1950 (ÖBL), Bd. 6, Wien 1975, 225 – 226; Klaus Kempter, Die Jellineks 1820 – 1955. Eine familienbiographische Studie zum deutschjüdischen Bildungsbürgertum (= Schriften des Bundesarchivs, 52), Düsseldorf 1998, 237. 16 Neda Bei, „Adam in der Staatslehre.“ Marginalien zu den Subjekttheoremen Georg Jellineks, in: Vernunft als Institution? Geschichte und Zukunft der Universität, hrsg. von der Projektgruppe Kritische Universitätsgeschichte, Wien 1986, 209 – 246, hier: 226. 17 Zit. nach ebd., 226. 18 Ebd., 227. 19 Curriculum Vitae Jellineks, Archiv der Humboldt-Universität, zit. nach Gerhard Oberkofler, Eduard Rabofsky, Heinrich Lammasch (1853 – 1920). Notizen zur akademischen Laufbahn des großen österreichischen Völker- und Strafrechtsgelehrten, Innsbruck 1993, 24. 20 Camilla Jellinek, Ein Lebensbild, in: Georg Jellinek, Ausgwählte Schriften und Reden, Neudruckausgabe, vermehrt um ein Lebensbild, Bd. 1, Neudruck der Ausgabe Berlin 1911, Aalen 1970, 51*.

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bezeichnete Jellinek die „Angst vor den Klerikalen“21, hatte doch der katholischkonservative und antisemitische Politiker Fürst Alois von Liechtenstein, der zur selben Zeit die Rekatholisierung der Volksschulen betrieb, von der Regierung die Zusage erhalten, dass wichtige „Lehrstellen nur mit Genehmigung der Bischöfe besetzt werden“ sollten.22 Überdies hatte der zweite Allgemeine Österreichische Katholikentag 1889 in einer Resolution festgehalten, dass „mit Rücksicht auf die völkerrechtliche Stellung des Papstes“ das Völkerrecht an den österreichischen Universitäten nur von Katholiken vertreten werden dürfe.23 Wie der Unterrichtsminister dem Kaiser explizit erklärte, sei „nach den […] bereits öfters insbesondere in conservativen Kreisen zum Ausdruck gebrachten Äußerungen mit Bestimmtheit anzunehmen, dass die Übertragung der ordentlichen Lehrkanzel des Völkerrechts an einen Israeliten vielfach Anstoß erregen würde“.24 Für Jellinek war damit das Maß dessen, was er sich „gefallen lasse, voll[,] und weiteres sklavisches Dulden“ erachtete er als seinem „Stolz nicht entsprechend“.25 Aus „Kränkung über das Geschehen und aus Bangen für die Zukunft“ bot er daher dem Minister die „Demission“ an.26 Unterstützung fand er für diesen Schritt bei seinen Freunden: So vertrat der Römischrechtler Adolf Exner die Meinung, „das Exempel soll statuiert werden“, und Unger war mit Jellineks Schritt nicht nur „vollständig einverstanden“, sondern auch „überaus gespannt, was weiter geschehen“ würde.27 Der Minister nahm Jellineks Enthebungsgesuch freilich an, „ohne auch nur einen Versuch zu machen, diesen hervorragenden Gelehrten Österreich zu erhalten“. Offenbar schicke sich, so die Frankfurter Zeitung, das Ministerium an, „die Wiener Universität zu einer katholischen umzugestalten“.28 Im Sommer 1889 wurde schließlich der Tiroler Heinrich Lammasch zum Professor für Völkerrecht (und Strafrecht) ernannt, der von der liberalen Presse als „Exponent der (antisemitischen) Klerikalen“ erachtet wurde.29 Jellinek nahm letztlich einen Ruf an die Universität Basel an, weil er durch die Berufung von Lammasch nach seiner Ansicht „ipso iure aus einem wichtigen Theil [s]einer bisherigen Stellung hinausgedrängt“ worden sei.30 Das Ministerium habe auch nicht versucht, „die tiefe materielle Schädigung“, die er dadurch erfahren habe, 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Ebd. Kempter, Jellineks (wie Anm. 15), 246. Nationalzeitung, 2. September 1889, zit. nach Jellinek, Lebensbild (wie Anm. 20), 61*. Majestätsvortrag 22. August 1889, abgedruckt bei Oberkofler, Rabofsky, Lammasch (wie Anm. 19), 57 – 58, hier : 57. Brief an Lujo Brentano, 1. Juni 1889, zit. nach Kempter, Jellineks (wie Anm. 15), 250. Ebd. Brief Exners, 13. August 2990, zit. nach Jellinek, Lebensbild (wie Anm. 20), 57*–58*. Frankfurter Zeitung, 5. September 1889, zit. nach Jellinek, Lebensbild (wie Anm. 20), 63*. Oberkofler, Rabofsky, Lammasch (wie Anm. 19), 18. Curriculum Vitae Jellineks, zit. nach ebd., 24.

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„irgendwie auszugleichen“. Weil dadurch seine „akademische Stellung in Wien unhaltbar geworden“ sei, habe er die „aussichtslose Laufbahn“ in seinem „Vaterlande […] verlassen“ müssen.31 „So wollte es der Katholikentag“, schrieb Jellinek an einen Freund, „so hat es der Minister ausgeführt.“32 Auch die Allgemeine Juristen-Zeitung kritisierte,33 dass das Ministerium „nicht einmal den Versuch gemacht“ habe, „das Unrecht, welches […] offenkundig einem verdienstvollen Gelehrten zugefügt wurde, irgendwie gutzumachen; galt es ja einer mächtigen politischen Partei, den Clericalen nämlich, einen Gefälligkeit zu erweisen“. Wie der Unterrichtsminister bereits vorausgesehen hatte, führten „Journale liberaler Richtung die Behandlung Jellinek’s auf judenfeindliche Tendenzen“ zurück.34 Auch in der Begründung der Berufung von Jellinek als Ordinarius nach Basel war explizit davon die Rede, dass dieser trotz „Anwartschaft auf das Ordinariat bei eintretender Vakanz“ deshalb „im letzten Augenblick […] übergangen“ worden sei, weil „auf das römischkatholische Bekenntnis ein entscheidendes Gewicht gelegt wurde und Herr Jellinek, der Sohn eines Rabbiners, mit einer Protestantin verheiratet ist und seine Kinder protestantisch erziehen lässt“.35 Jellineks Fakultätskollege Carl Samuel Grünhut schrieb diesem aus dem Urlaub in den Niederlanden, dass die Angelegenheit von den dort aufhältigen Österreichern als „Sensation“ gewertet und Jellinek „allgemein als Opfer des Antisemitismus angesehen“ werde.36 Für den selbst zum Protestantismus konvertierten deutschen Staatsrechtler Paul Laband hatte nun eindeutig das „clericale Gesindel“ den Triumph davongetragen.37 Hingegen betonte die Berliner Kreuzzeitung38 in ihrem Artikel „Die Herrschaft Judas in der Wissenschaft“, dass bei „der bedeutenden politischen Wichtigkeit des von Jellinek vertretenenen Lehrfaches“ die „in Wien so einflußreiche Judenclique“ die „größten Anstrengungen“ unternommen habe, „dasselbe einem der Ihrigen definitiv auszuliefern“. „Die Wiener alma mater“ sei aber „ohnehin in geradezu unerhörter Weise von Semiten okkupiert, da nahezu 31 Bitte um Entlassung an das Ministerium für Kultus und Unterricht, 14. August 1889, abgedruckt in: ebd., 56 – 57. 32 Brief an Victor Ehrenberg, zit. nach Kempter, Jellineks (wie Anm. 15), 252. 33 Standes-Fragen und -Angelegenheiten. Von der juridischen Fakultät in Wien, in: Allgemeine Juristen-Zeitung. Centralblatt für Verwaltung und Rechtspflege, 12 (1889), 304 – 305, hier : 304. 34 Majestätsvortrag 22. August 1889, abgedruckt bei Oberkofler, Rabofsky, Lammasch (wie Anm. 19), 57 – 58, hier : 58. 35 So der Vorsteher des Erziehungsdepartements Basel, Staatsarchiv Basel, zit. nach ebd., 24; auch Kempter, Jellineks (wie Anm. 15), 255. 36 Grünhut an Jellinek, 6. September 1889, zit. nach Kempter, Jellineks (wie Anm. 15), 253. 37 Laband an Jellinek, 20. August 1889, zit. nach ebd. 38 Kreuzzeitung vom 22. Jänner 1890, zit. nach Jellinek, Lebensbild (wie Anm. 20), 67*–68*.

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ein Drittel der Professoren und Dozenten bereits dem auserwählten Volke angehört“. Der Minister, der „sonst den Juden nicht abhold“ sei, hätte in diesem Fall trotz der „Hauptattacke, bei der so ziemlich alles, über das Israel an Gewaltigen des Geldes und der ,Intelligenz‘ verfügt, ins Treffen geschickt wurde“, „unzugänglich“ bleiben müssen, weil „die Verjudung der ersten österreichischen Universität über das Maß des Erlaubten hinaus gediehen“ sei und „man in höheren Regionen […] über diese Entwicklung nicht sehr erbaut schien“. Als 1894 im Zusammenhang mit der neuen rechtswissenschaftlichen Studienordnung neue staatsrechtliche Lehrkanzeln geschaffen wurden, verhinderte Lammasch sogar die Rückberufung Jellineks nach Wien,39 war es doch seiner Ansicht nach nicht Aufgabe der Fakultät – deren „Blüte“ nach Jellineks Ansicht „seit Jhering’s und Unger’s Abgange ohnedieß dahin“ war –, „denjenigen, der in Unmuth und Übermuth von ihr geschieden, demütig wiederzurückzurufen“.40 Dies umso mehr, als Jellineks Abgang aus Wien auch in einer „durch rechtfertigende Gründe nicht motivierten, für die hohe Unterrichtsverwaltung wie für die Wiener Universität verletzenden Art und Weise“ stattgefunden habe.41 „Antisemitische Reflexe und eine katholische Personalpolitik“ waren Oberkofler/Rabofsky zufolge zwar „zweifellos mitmaßgebend“ bei der Ablehnung Jellineks, bei Lammasch hätten aber auch „fachimmanente Überlegungen“ durchaus eine Rolle gespielt.42 Ernannt wurden 1894 nun Edmund Bernatzik, Wenzel Lustkandl und (der 1883 konvertierte43) Adolf Menzel. Ein Jahr danach, im Jahr 1895, als Karl Luegers Wahlsieg in Wien bereits auf der Hand lag, war dann schließlich die antisemitische Stimmung bereits so weit angeheizt, dass der zur Wahl des Rektors anstehende, dem mosaischen Glauben zugehörige Handels- und Wechselrechtler Carl Samuel Grünhut44 nicht gewählt wurde. Freilich hätte Grünhut die Wahl ohnedies nicht angenommen, weil er es „für tactvoll“ hielt, „bei der heutigen Lueger-Strömung nicht als Haupt der Universität zu fungieren“, müsse doch ein „Jude […] heutzutage sich damit begnügen[,] in Reih und Glied als Ordinarius zu wirken“. Allerdings fand Grünhut es „für die Universität beschämend“, „durch die Nichtwahl dem Antisemitismus ihre Huldigung“ darzubringen.45 Anstelle Grünhuts wurde der Zivilprozessualist Anton Menger zum Rektor gewählt. Bernatzik forderte angesichts der unüberbrückbaren Spannungen zwischen deutsch-antisemitischen Ausführlich Oberkofler, Rabofsky, Lammasch (wie Anm. 19), 24 – 26. Separatvotum Lammasch, 22. Februar 1894, ebd., 64. Ebd. Ebd., 26. Anna L. Staudacher, „… meldet den Austritt aus dem mosaischen Glauben.“ 18000 Austritte aus dem Judentum in Wien, 1868 – 1914: Namen – Quellen – Daten, Wien 2009, 407. 44 ÖBL (wie Anm. 15), Bd. 2, 90 – 91. 45 Grünhut an Jellinek, 30. Juni 1895, zit. nach Kempter, Jellineks (wie Anm. 15), 293. 39 40 41 42 43

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und jüdischen Studenten Letztere dann sogar auf, sich politisch zurückzuhalten und jeden Anlass für Auseinandersetzungen zu vermeiden.46 1904 war überdies ein „Feldzug“ der antisemitischen Blätter und Alois Liechtensteins gegen die Berufung des jüdischen Römischrechtlers Otto Lenel erfolgreich.47 Eine weitere Verstärkung erhielten die Deutschnationalen in der Fakultät dann 1915: Als Nachfolger von Lammasch wurde Wenzeslaus Graf Gleispach berufen, der sich zuvor in Prag klar an die Seite der deutschnationalen Studenten gestellt hatte.48

2.

Erste Republik und Austrofaschismus

Mit Ausrufung der Republik entwickelte sich, so der Staatsrechtler Erich Vögelin, der Antisemitismus endgültig „zu einem allgegenwärtigen Phänomen an der Wiener Universität“.49 Zur Lösung der sogenannten Judenfrage wurde immer wieder von deutschnational-konservativer Richtung ein Numerus clausus gefordert, d. h. es sollte eine „proportionale Repräsentation“ der Juden, u. a. im „verjudeten“ Rechtswesen, hergestellt werden.50 So erhoben auch die „deutsch-arischen“ Studierenden an den Universitäten Deutschösterreichs weiterhin die Forderung nach einem derartigen Numerus clausus für Juden, um den „deutsche[n] Charakter der deutsch-österreichischen Hochschulen“ zu wahren.51 Die im „Nationalstaat“ nun verstärkt als Fremdkörper wahrgenommenen Juden, insbesondere die sogenannten Ostjuden, sollten verdrängt werden,52 nicht zuletzt deswegen, weil sie eine unerwünschte Konkurrenz für die „deutsch-arischen“ Juristen darstellten, noch dazu, wo die rechts- und staatswissenschaftlichen Studien 1919 auch für Frauen geöffnet wurden.53 Ignaz Sei46 Ebd. 47 Grünhut an Jellinek, 25. Juli 1904, zit. nach ebd., 294. 48 Und als Dekan der Juristenfakultät mit diesen bei einer Festveranstaltung 1912 u. a. auch die „Wacht am Rhein“ gesungen hatte, Oberkofler, Rabofsky, Lammasch (wie Anm. 19), 45. 49 Eric Voegelin, Autobiographische Reflexionen, München 1994, 24. 50 Bruce F. Pauley, Politischer Antisemitismus im Wien der Zwischenkriegszeit, in: Gerhard Botz, Ivar Oxaal, Michael Pollak, Nina Scholz (Hrsg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, 2. neu bearb. und erweiterte Aufl., Wien 2002, 241 – 260, hier : 253. 51 Vgl. Brigitte Lichtenberger-Fenz, Österreichs Universitäten 1930 bis 1945, in: Friedrich Stadler (Hrsg.), Kontinuität und Bruch. 1938 – 1945 – 1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Wien – München 1988, 69 – 82, hier : 69. 52 Zit. nach Brigitte Fenz, Volksbürgerschaft und Staatsbürgerschaft. Das Studentenrecht in Österreich 1918 – 1932, Diss. Wien 1977, 14; auch Brigitte Lichtenberger-Fenz, „… deutscher Abstammung und Muttersprache“. Österreichische Hochschulpolitik in der Ersten Republik, Wien – Salzburg 1990. 53 Tamara Ehs, (Studium der) Rechte für Frauen? Eine Frage der Kultur! in: BRGÖ 2 (2012),

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pel, der spätere Bundesparteiobmann der Christlichsozialen und Bundeskanzler, bezeichnete die Numerus-clausus-Forderung daher auch als reinen „Notwehrantisemitismus“, der mittels „Nationierung“ des Hochschulwesens der Überflutung durch die sogenannten Ostjuden gegensteuern sollte.54 Rektor Ernst von Schwind, Ordinarius für Rechtsgeschichte seit 1899, stellte sich 1919 überdies gegen ein Wahlrecht der Ostjuden für den neu zu gründenden „Studentenausschuss“, ebenso der Akademische Senat. Nach Schwind stellten die „meist jüdischen Galizianer, die seit Kriegsausbruch Österreich und besonders Wien überflutet“ hätten, auf „akademischem Boden […] im allgemeinen eine kulturell und ihrer Bildung nach wesentlich tiefer stehende Gruppe“ dar, die „mit den anderen durchaus nicht auf der gleichen Stufe steht und auf den akademischen Unterricht vielfach geradezu nachteilig wirkt“.55 An der Universität Wien schlug sich die Numerus-clausus-Diskussion 1930 sogar in der Erlassung einer Studentenordnung unter Rektor Gleispach, einem nationalsozialistisch eingestellten Strafrechtsprofessor, nieder,56 die den deutschnationalen und nationalsozialistischen Wünschen entsprechend eine nach „Abstammung und Muttersprache“ getrennte Vertretung der Studierenden vorsah. Auf diese Weise sollte der radikal antisemitischen und deutschnationalen „Deutschen Studentenschaft“57 das Alleinvertretungsrecht zugesichert werden. Allerdings wurde die Studentenordnung vom Verfassungsgerichtshof aus formalen Gründen aufgehoben. Der Anteil der jüdischen Studierenden an der Universität Wien lag im Jahr 1933 schließlich – bei einem Anteil von nicht ganz 11 % Juden an der Gesamtbevölkerung – bei insgesamt nicht ganz 19 %. An der Juridischen Fakultät lag er bei knapp über 16 und sank bald darauf auf nicht ganz 10 %.58 Auch in der Professorenschaft machte sich der verstärkte Antisemitismus

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250 – 262; dies., Die Staatswissenschaften. Historische Fakten zum Thema „Billigdoktorate“ und „Frauen- und Ausländerstudien“, in: Zeitgeschichte, 37 (2010), 238 – 256; Elisabeth Berger, „Fräulein Juristin.“ Das Frauenstudium an den juristischen Fakultäten Österreichs, in: Juristische Blätter, 10 (2000), 634 – 640. Ignaz Seipel, Die Kulturpolitik der Christlichsozialen, in: Reichspost, 23. September 1920, 2. Schreiben an das Staatsamt für Inneres und Unterricht, 8. Oktober 1919, zit. nach Thomas Olechowski, Rechtsphilosophie gegen Rechtsgeschichte? Ein Juristenstreit aus der Zwischenkriegszeit an der Wiener Rechtsfakultät, in: Gerald Kohl, Christian Neschwara, Thomas Simon (Hrsg.), Festschrift für Wilhelm Brauneder zum 65. Geburtstag. Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive, Wien 2008, 425 – 442, hier : 428. Siehe dazu insbesondere Brigitte Fenz, Zur Ideologie der „Volksbürgerschaft“. Die Studentenordnung der Universität Wien vom 8. April 1930 vor dem Verfassungsgerichtshof, in: Zeitgeschichte, 5 (1977/78), 125 – 145. Ulrike Davy, Die Errichtung des Siegfried-Kopfes und die Deutsche Studentenschaft, in: Ulrike Davy, Thomas Vasˇek (Hrsg.), Der „Siegfried-Kopf“. Eine Auseinandersetzung um ein Denkmal an der Universität Wien, Wien 1991, 9 – 30. Sylvia Maderegger, Die Juden im österreichischen Ständestaat 1934 – 1938, Wien – Salzburg 1973, 153.

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nun in der Ersten Republik verstärkt merkbar. Seien zu Beginn seines Studiums, so Vögelin, noch „eine beträchtliche Anzahl der Ordinarien Juden“ gewesen, welche „die liberale politische Tradition der Monarchie“ vertreten hätten, habe es nach 1918 keine weiteren Ernennungen von Juden zu Ordinarien mehr gegeben, wodurch auch den jüngeren jüdischen Wissenschaftlern die Chance genommen wurde, „jemals über den akademischen Grad des Privatdozenten hinauszukommen“.59 Überdies gab es bereits 1925 eine „Gelbe Liste“ der (1919 von Vertretern katholischer und deutschnationaler Studentenverbindungen initiierten) „Deutschen Gemeinschaft“.60 Ziel dieses antisemitischen Geheimbundes, dem auch Engelbert Dollfuß und der Rechtsanwalt Arthur Seyß-Inquart angehörten,61 war generell die „Förderung des Volksbewußtseins […], insbesondere des Wurzelbewußtseins gegenüber dem Ugtum (Ungeradentum)“,62 wobei unter diesem Marxismus, Liberalismus, Freimaurerei und Judentum verstanden wurde. Die „Gelbe Liste“, in welche die Juden eingetragen werden sollten, hatte den „Wert: Kenntnis der Gelben, die als Vorläufer des Ugtum bekämpft“63 und aus öffentlichen Positionen verdrängt werden sollten. Im Besonderen zielten die Maßnahmen im Hochschulbereich darauf ab, „ungerade“ Professoren zu boykottieren und deren Beförderung zu verhindern. Die „Fachgruppe Hochschullehrer“ der „Deutschen Gemeinschaft“, in der Othmar Spann,64 seit 1919 ordentlicher Professor für Nationalökonomie und Gesellschaftslehre an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, den Ton angab, bemühte sich folglich, „rassistische und konservative Kriterien bei Lehrstuhlbesetzungen“ auch „außerhalb des offiziellen Berufungsrahmens durchzusetzen“.65 So ver59 Eric Voegelin, Autobiographische Reflexionen, München 1994, 24. Überdies verschob sich generell die Relation von Dozenten zu Ordinarien, sodass sich die Chancen der Dozenten auf Ordinariate überhaupt verschlechterten; Christian Fleck, Rückkehr unerwünscht. Der Weg der österreichischen Sozialforschung ins Exil, in: Friedrich Stadler (Hrsg.), Vertriebene Vernunft I. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Wien 1987, 182 – 213, hier : 186 – 187. So blieb z. B. der Rechtsphilosoph Felix Kaufmann Privatdozent und verdiente sein Geld als Kaufmann. 60 Wolfgang Rosar, Deutsche Gemeinschaft. Seyss-Inquart und der Anschluß, Wien – Frankfurt – Zürich 1971. 61 Alfred Pfabigan, Max Adler und die Wiener Universität, in: Vernunft als Institution? Geschichte und Zukunft der Universität, hrsg. von der Projektgruppe Kritische Universitätsgeschichte, Wien 1986, 95 – 98, hier: 95. 62 Statuten der Deutschen Gemeinschaft, zit. nach Rosar, Gemeinschaft (wie Anm. 60), 30. 63 Ebd., 31. 64 ÖBL (wie Anm. 15), Bd. 12, Wien 2005, 447 – 448. 65 Oliver Rathkolb, Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien zwischen Antisemitismus, Deutschnationalismus und Nationalismus 1938, davor und danach, in: Gernot Heiß, Siegfried Mattl, Sebastian Meissl, Edith Saurer, Karl Stuhlpfarrer (Hrsg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 bis 1945 (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik, 43), Wien 1989, 197 – 232, hier: 197.

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suchte sie etwa 1925 bei der Nachfolge von Friedrich Wieser, dem von der „Fachgruppe“ als „sehr liberal“ eingestuften Mitbegründer der Österreichischen Nationalökonomie, den Bewerber Hans Mayer zu verhindern, weil dieser nicht „nur sexuell nicht normal“ scheine, sondern sich auch mit den „Ungeraden“ verbündet66 und Spann nicht dabei unterstützt habe, die Habilitation des Juden Fritz Schreier, eines Schülers des renommierten Nationalökonomen Eugen Böhm von Bawerk, zu verhindern. Da man dieser liberalen Schule der Nationalökonomie eine „konservative“ Richtung entgegensetzen wollte, war 1924 außerdem bereits die Lehrkanzel Böhm-Bawerks (als dessen Nachfolger Carl Grünberg, Austromarxist jüdischer Herkunft, zum ersten Direktor des neu gegründeten Institutes für Sozialforschung an der Universität Frankfurt ernannt worden war67) mit dem „mittelmäßigen wie antisemitisch deutschtümelnden“ Ferdinand Degenfeld-Schonburg besetzt worden.68 Weiters unternahm die „Deutsche Gemeinschaft“ den Versuch, Max Adler, den renommierten Theoretiker des Austromarxismus, dessen Habilitation 1920 und Ernennung zum titular-außerordentlichen Professor für Soziologie und Sozialphilosophie an der Fakultät für den „akademischen Antisemitismus zweifelsohne eine Provokation“ darstellte,69 aus der Universität zu vertreiben oder zumindest seine Berufung auf eine ordentliche Professur zu verhindern. Nachdem das Professorenkollegium seine Ernennung abgelehnt hatte, wurde 1926 in der Fachgruppe betreffend den „Fall Adler“ beschlossen, „sein Bild in Umlauf zu bringen“; über Franz Klein, selbst „gut deutschnational gesinnt“,70 sollte Karl Gottfried Hugelmann, der katholisch-deutschnationale, christlichsoziale Bundesrat seit 1921 und außerordentliche Professor für Deutsche Rechtsund Verfassungsgeschichte, Staatsrecht und Kirchenrecht an der Universität Wien seit 1924,71 „veranlasst“ werden, „den Fall Adler in der Presse zu beleuchten“. Überdies wurde die „Deutsche Studentenschaft“ eingeschaltet,72 weshalb Adler folglich nicht nur das Ordinariat verwehrt blieb, sondern seine Hörer und Hörerinnen einen wahren „Spießrutenlauf“ über sich ergehen lassen 66 Ebd., 198. 67 Grünberg war auch Begründer des von 1911 bis 1930 erschienenen „Archivs für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“; vgl. zu ihm Christoph Stamm, Carl Grünberg (1861 – 1940), in: Günter Benser, Michael Schneider (Hrsg.): Bewahren Verbreiten Aufklären, Bonn – Bad Godesberg 2009, 92 – 98. 68 Ebd. 69 Pfabigan, Adler (wie Anm. 61), 95. 70 Rainer Sprung, Der Lebensweg Franz Klein, in: Herbert Hofmeister (Hrsg.), Forschungsband Franz Klein (1854¢1926). Leben und Wirken. Beiträge des Symposiums „Franz Klein zum 60. Geburtstag“, Wien 1988, 29. 71 Vgl. zu ihm Thomas Olechowski, Rechtsgermanistik zwischen Ideologie und Wirklichkeit, in: Franz Stefan Meissel, Thomas Olechowski, Ilse Reiter, Stefan Schima (Hrsg.), Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht (= Juridicum Spotlight, 2), Wien 2012, 79 – 105, hier : 89. 72 Sitzung vom 4. Februar 1926, zit. nach Pfabigan, Adler (wie Anm. 61), 96.

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mussten, wenn sie seine Lehrveranstaltungen besuchen wollten. 1934 wurde gegen Adler dann aufgrund seiner sozialdemokratischen Gesinnung ein Disziplinarverfahren eingeleitet, er wurde im Anhaltelager interniert und von jeder Tätigkeit an der Universität suspendiert.73 In besonderem Maße war der Römischrechtler Stephan Brassloff74 den Machenschaften der deutschnationalen Professoren und Studenten ausgesetzt. Gegen den Extraordinarius wurde 1925 eine regelrechte Kampagne von Seiten der deutschnationalen Studentenschaft geführt, die nicht nur antisemitische, sondern darüber hinaus auch antimarxistische Züge aufwies, war Brassloff doch nicht nur jüdischer Herkunft, sondern stand auch den Sozialdemokraten nahe. Als er 1925 mit dem deutschnationalen Nationalrat und Extraordinarius Ernst Schönbauer in Konkurrenz um ein Ordinariat stand, geriet er ins Fadenkreuz der „deutschen Studentenschaft“. Sie erhob u. a. Beschwerde beim Akademischen Senat über Brassloff,75 der in seinen Vorlesungen „zweideutige Äußerungen und zotige Witze gemacht“ habe, die „weder zum Vorlesungsgegenstand gehörten, noch mit der Auffassung über deutschen Sitte vereinbar“ seien. Für die einschlägige antisemitische Presse76 habe Brassloff dabei nicht nur die „Seelen deutscher Hörerinnen“ durch die „Giftpfeile der ,jüdisch-asiatischen‘ Auffassung über geänderte Moralbegriffe verseuch(t)“, sondern es sei auch ein „Schulbeispiel jüdischer Verkommenheit und Gemeinheit“, dass er dies „fast jahrelang unbehelligt“ habe tun können. Dies sei ein Beweis der „bereits vollständigen gelungenen Judaisierung auch der deutschen Gesellschaft und der Unterwerfung unter das jüdische Wüstenmoralgesetz“. „Krawalle“ der Studentenschaft waren geplant. Spann empfahl den Studenten jedoch, wegen der „unerhörtesten Witze“ Brassloffs zunächst nur zu „notieren“, habe sich doch Hans Kelsen zu dessen „Verteidigung gemeldet“, der „sehr geschickt und daher gefährlich“ sei.77 Der Druck der „völkischen Studentenschaft“ wurde in weiterer Folge allerdings so groß, dass Brassloff selbst um Einleitung einer Disziplinaruntersuchung gegen seine Person ersuchte, um die Vorwürfe zu entkräften. Das Verfahren endete 1926 mit einer Verurteilung in Form einer Rüge, weil Brassloff

73 Pfabigan, Adler (wie Anm. 61), Anm. 61. 74 Vgl. zu ihm ausführlich Franz Stefan Meissel, Römisches Recht und Erinnerungskultur – zum Gedenken an Stephan Brassloff (1875 – 1943), in: Vienna Law Inauguration Lectures. Antrittsvorlesungen an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien 1), Wien 2008, 1 – 47, ders., in: Strategien der Anpassung – Römisches Recht im Zeichen des Hakenkreuzes, in: Franz Stefan Meissel,Thomas Olechowski, Ilse Reiter, Stefan Schima (Hrsg.), Vertriebenes Recht (wie Anm. 70) , 35 – 78, hier: 40 – 42. 75 Rektoratsakten 1925/26, zit. nach Meissel, Römischen Recht (wie Anm. 74), 12. 76 Zit. nach ebd. 77 Zit. nach Rathkolb, Fakultät (wie Anm. 65), 197.

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durch diverse Äußerungen „erotischen Beigeschmackes“78 die Würde der Universität verletzt habe. Die Karriere Brassloffs war damit beendet, Ernst Schönbauer wurde zwei Jahre später zum Ordinarius ernannt. Im Fall Hans Kelsens, dem einer jüdischen Familie aus Brody entstammenden legistischen „Vater“ bzw. „Architekten“ der österreichischen Bundesverfassung,79 traf der Antisemitismus mit konträren wissenschaftspolitischen Positionen zusammen. Führte Kelsen schon die mangelnde Unterstützung seiner Habilitation durch Bernatzik, der ihm zu verstehen gab, dass er keine Chance auf eine universitäre Laufbahn habe und sich besser etwa der Advokatur zuwenden sollte, auf die „nicht sehr judenfreundliche Haltung der Fakultaet“ zurück, wo „die Zahl der nichtarischen Professoren und Dozenten […] als verhältnismäßig groß angesehen wurde“,80 so erwuchs ihm im Rechtshistoriker Ernst Schwind, der aus seiner deutschnationalen bzw. antisemitischen Haltung kein Hehl machte, ein besonders scharfer Gegner.81 Dieser laut seinem Rechtshistorikerkollegen Hans Voltelini „gut deutsch gesinnt(e)“82 Lehrstuhlinhaber, der z. B. bereits 1907 die Ernennung Armin Ehrenzweigs zum Professor des Zivilrechts verhindert hatte,83 versuchte 1918, auch Kelsens Ernennung zum außerordentlichen Professor an der Wiener Fakultät zu torpedieren.84 Er erachtete Kelsens Position als „destruktiv und zersetzend, im Rahmen der akademischen Lehre für die Studierenden vielfach blendend, aber im Erfolge verwirrend und höchst bedenklich“, da sie „die Neigung nach unfruchtbarer Dialektik“ fördere und „die Achtung vor dem positiven Recht untergrabe“.85 Nichtsdestotrotz wurde Kelsen 1918 zum außerordentlichen Professor ernannt, und 1919 verlangte die Fakultät sogar einstimmig seine Ernennung zum ordentlichen Professor als Nachfolger Bernatziks. Schwind bekämpfte Kelsens Lehre freilich weiter bis zu seinem Tod, 78 Die Kammer erachtete z. B. die Bemerkung als „ausgesprochen obszön“, dass es auch in der Ehe „Pflichtübungen“ gebe, als „grob obszön“ den Satz: „Jungfrauen pflegen manchmal ihre Jungfernschaft mit Hypotheken zu belasten“; vgl. ausführlich Meissel, Römisches Recht (wie Anm. 74), 13 – 16. 79 Vgl. Thomas Olechowski, Der Beitrag Hans Kelsens zur österreichischen Bundesverfassung, in: Robert Walter, Werner Ogris, Thomas Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen (wie Anm. 2), 211 – 230. 80 Hans Kelsen, Autobiographie (1947), in: Matthias Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen im Selbstzeugnis, Tübingen 2006, 31 – 94, 41. 81 Ausführlich Olechowski, Rechtsphilosophie (wie Anm. 55), 431 – 442. 82 Hans von Voltelini, Ernst Freiherr von Schwind, in: ZRG/GA 1933, XI – XIX (XIII); vgl. auch Olechowski, Rechtsphilosophie (wie Anm. 55), 428. 83 Gerhard Oberkofler, Armin Ehrenzweig, in: Wilhelm Brauneder, Juristen in Österreich 1200 – 1980, Wien 1987, 261 – 263, hier: 262. 84 Robert Walter, Hans Kelsens Emigration aus Österreich im Jahre 1930, in: Friedrich Stadler (Hrsg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930 – 1940, Wien – München 1988, 463 – 472, hier : 465. 85 Separatvotum, 11. März 1918, zit. nach Olechowski, Rechtsphilosophie (wie Anm. 55), 432.

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auch weil sie „gerade an unserer Universität dank der Zusammensetzung der Lehrenden und Lernenden besondere Verbreitung und Anklang findet“, was, wie Kelsen anmerkte, für denjenigen, der „den genius loci kennt“, bedeutete, „dass die ,Zusammensetzung […] mit irgendeiner wissenschaftlichen Richtung in der Lehrerschaft oder gar in der Hörerschaft nicht das geringste zu tun hat“.86 Neben Schwind entwickelte sich aber auch Alexander Hold-Ferneck, seit 1922 ordentlicher Professor für Rechtsphilosophie und Völkerrecht, zum KelsenGegner,87 der es sich später zuschrieb, es sei ihm gelungen, Kelsens „Einfluss zu brechen“.88 So waren es schließlich neben seiner Entfernung aus dem 1929 umpolitisierten Verfassungsgerichtshof auch die „unerquicklichen Zustände in der Wiener Juristischen Fakultät“ sowie die heftigen und „zum Teil böswillige(n) Angriffe gegen seine Lehre und gegen seine Person“, die Kelsen „auf das tiefste erbittert und ihm sein weiteres Wirken in Österreich verleidet“ hatten.89 Angesichts dieses Klimas ist es nicht verwunderlich, dass Kelsen 1930 den Ruf nach Köln annahm.90 Neu berufen auf ein Ordinariat für Deutsche Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Öffentliches Recht wurde 1932 hingegen der den Nationalsozialisten nahestehende Karl Gottfried Hugelmann. So berichtete der NS-Anwalt Hans Bleyer-Härtl,91 dass Hugelmann nach dem Verbot der NSDAP im Juni 1933 im „Deutschen Klub“, dem angehörte, wer „unter den Nationalen der Republik einen Namen hatte“,92 eine „jeder Reden hielt, die einem unvergeßlich sind, weil sie ein Weltengericht bedeuten“. Als „Hugelmann mit einem heiligen Schwur, daß der Kampf [um die deutsche Einheit] unentwegt fortgeführt werden würde bis zum Siege, geendet hatte, da sangen Hunderte von Männern, mit straffem Arm dem Führer huldigend, das Deutschland-Lied“. Hugelmann nahm 1934 eine Professur in Münster an und entzog sich auf diese Weise der Maßregelung durch das Dollfuß-Regime. Zu höchsten akademischen Ehren stieg in der Ersten Republik der zunächst radikal deutschnationale und bald nationalsozialistische Wenzel Gleispach auf: 86 Hans Kelsen, Rechtsgeschichte gegen Rechtsphilosophie? Eine Erwiderung, Wien 1928, zit. nach Olechowski, Rechtsphilosophie (wie Anm. 55), 440. 87 Vgl. Jürgen Busch, Kamila Staudigl-Ciechowicz, „Ein Kampf ums Recht?“ Bruchlinien in Recht, Kultur und Tradition in der Kontroverse zwischen Kelsen und Hold-Ferneck an der Wiener Juristenfakultät, in: Szabolcs Horny‚k, Botond Juh‚sz, Krisztina Korsûsn¦ Delacasse, Zuszsanna Peres (Hrsg.), Turning Points and Breaklines (= Jahrbuch Junge Rechtsgeschichte, 4), München 2009, 110 – 138. 88 So die Selbstdarstellung Holds in: Nikolaus Grass (Hrsg.), Österreichische Rechts- und Staatswissenschaften in Selbstdarstellungen (= Schlern Schriften, 97), Innsbruck 1952, 102. 89 M¦tall, Kelsen (wie Anm. 5), 56. 90 Walter, Kelsens Emigration (wie Anm. 84), 465. 91 Hans Bleyer-Härtl, Ringen um Reich und Recht. Zwei Jahrzehnte politischer Anwalt in Österreich, Berlin 1939, 132. 92 Rosar, Gemeinschaft (wie Anm. 60), 38.

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Er wurde nicht nur 1925 zum korrespondierenden und 1928 zum wirklichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt,93 sondern 1930 auch zum Rektor der Universität Wien. Um ihn scharten sich laut dem Gauleiter der Wiener NSDAP Alfred Eduard Frauenfeld „die nationalsozialistischen Kreise an den Hochschulen“,94 und er trat auch beim Begräbnis der beim „Simmeringer Blutsonntag“95 erschossenen Nationalsozialisten an der „Spitze der 46 chargierten nationalen Hochschulkorporationen“ auf.96 Im Oktober 1933 erfolgte Gleispachs Zwangspensionierung aufgrund seiner Kritik an der Regierung Dollfuß, was das Professorenkollegium laut Dekan Degenfeld-Schonburg „mit tiefem Bedauern“ zur Kenntnis nahm.97 Die Kritik an dieser Maßnahme beantwortete Minister Kurt Schuschnigg angesichts der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Wissenschaftsfreiheit dahin gehend, dass es „zwischen wahrer Wissenschaftlichkeit und Staatstreue keinen Gewissenskonflikt geben“ könne, weshalb Gleispachs „Angriffe [auf die Regierung] nicht nur unerwünscht und unzulässig, sondern auch untragbar“ gewesen seien.98 Ende 1933 verließ Gleispach Österreich, um eine Honorarprofessur an der Universität Berlin anzunehmen. Eine Universitätskarriere für jüdische Wissenschaftler war kaum mehr möglich, und nicht wenige Forscher und Forscherinnen, v. a. aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften, zogen sich angesichts dieser Zustände in ein „extramurales Exil“ zurück, indem sie in Reaktion auf den universitären Antisemitismus und ihren „systematischen Ausschluss von der Universität“99 ihre wissenschaftliche Tätigkeit aus den Universitäten hinaus verlegten.100 Es kam so zu einer höchst innovativen „Wissenskultur außerhalb der akademischen Anstalten“,101 nämlich im Rahmen von Vereinen, privaten Seminaren und verschiedenen Zirkeln bzw. infolge der Marginalisierung der jüdischen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu einer Wissenschaftskultur der „Außen-

93 Oberkofler, Rabofsky, Lammasch (wie Anm. 19), 46. 94 Frauenfeld an Gregor Strasser, 25. Mai 1939, zit. nach Erich Kraus, Wenzel Gleispach und die Österreichische Hochschulpolitik der Zwischenkriegszeit, phil. Diss., Wien 1976, 39. 95 Rudolf Neck, Simmering 1932, in: Karl R. Stadler (Hrsg.), Sozialistenprozesse. Politische Justiz in Österreich 1870 – 1936, Wien 1986, 253 – 267. 96 Kraus, Gleispach (wie Anm. 94), 45 – 46. 97 Ebd., 51. 98 Zit. nach ebd., 53. 99 Johannes Feichtinger, Kulturelle Marginalität und wissenschaftliche Kreativität. Jüdische Intellektuelle im Österreich der Zwischenkriegszeit, in: Peter Stachel, Johannes Feichtinger (Hrsg.), Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck – Wien – München – Bozen 2001, 311 – 333, hier : 311. 100 Ehs, Exil (wie Anm. 8), 20 – 26. 101 Feichtinger, Marginalität (wie Anm. 99), 311.

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seiter“.102 So erhielt auch Ludwig Mises, einer der renommiertesten Vertreter der Nationalökonomie, kein Ordinariat an der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät und musste seine Forschungsaktivitäten in privat finanzierte Vereine verlagern, insbesondere in die „Nationalökonomische Gesellschaft“ bzw. das „Institut für Konjunkturforschung“.103 Die von den Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlern infolge dieser Vereinstätigkeiten geknüpften internationalen Netzwerke sollten sich jedoch für deren späteres Exil durchaus als Vorteil erweisen,104 im Unterschied zu den „Universitätsjuristen“, die nicht nur aufgrund der Nationalstaatlichkeit des Rechts beruflich weniger mobil waren, sondern in der Regel auch nicht über vergleichbare Verbindungen verfügten.105

II.

Rechtspraxis

1.

Rechtsanwaltschaft

Da der Staatsdienst für Juristen mosaischen Glaubens auch noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts praktisch verschlossen war, stand all jenen, die nicht zum Christentum konvertieren wollten, faktisch oft nur die Möglichkeit offen, die Laufbahn eines Anwalts zu wählen, weshalb 1881 61 % der Anwälte jüdischer Herkunft waren.106 1893 gab es unter den 681 Rechtsanwälten bereits 395 Juden, also fast 58 %, unter den 360 Konzipienten sogar 86 %.107 Obwohl also Juden in Wien zu dieser Zeit nur knapp 9 % der Bevölkerung, 30 % der Maturanten und etwa 29 % der Jus-Studenten ausmachten, stellte sie fast zwei Drittel der Rechtsanwälte.108 Hervorzuheben ist, dass die Rechtsanwaltskammer in Wien 1922 erstmals nicht einen „Arier“ zum Präsidenten wählte, sondern den zum Katholizismus konvertierten Juden Gustav Harpner.109 1932 wurde der Zionist Siegfried Kantor Präsident der Wiener Rechtsanwaltskammer, was von den Antisemiten als Provokation empfunden wurde und vielen nichtjüdischen 102 Ebd. 103 Vgl. ausführlich Johannes Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933 – 1945, Frankfurt am Main – New York 2001, 185 – 194. 104 Siehe insbesondere für den Fall Kelsen, Tamara Ehs, Vertreibung in drei Schritten. Hans Kelsens Netzwerk und die Anfänge österreichischer Politikwissenschaft, ÖZG 21(3)/2010, 147 – 174, hier : 155; ansonsten Feichtinger, Wissenschaft (wie Anm. 103), 181 – 254. 105 Feichtinger, Wissenschaft (wie Anm. 103), 255; Tamara Ehs, Vertreibung in drei Schritten (wie Anm. 104), 155. 106 Beller, Wien und die Juden (wie Anm. 3), 45. 107 Hugo Gold, Geschichte der Juden in Wien (wie Anm. 13), 37. 108 Beller, Wien und die Juden (wie Anm. 3), 43, 47, 54. 109 Ilse Reiter-Zatloukal, Gustav Harpner. Vom Anarchistenverteidiger zum Anwalt der Republik (1864 – 1924), Wien – Köln – Weimar 2008, 530.

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Mitgliedern der Kammer angesichts des erstarkten Nationalsozialismus untragbar erschien.110 Auch in der Zeit der austrofaschistischen Diktatur änderte sich die Zusammensetzung der Rechtsanwaltschaft nicht, waren doch nach einer Statistik der zionistischen Zeitschrift Der Jude 1936 62 % der Rechtsanwälte Wiens und mehr als 28 % der Universitätsprofessoren Juden, unterrepräsentiert blieben sie freilich weiterhin im öffentlichen Dienst.111 In Reaktion auf diese Überrepräsentanz wurde 1933 der „Verband der Deutsch-Arischen Rechtsanwälte“ als „Sammelpunkt der bodenständigen österreichischen Rechtsanwälte“ gegründet, der vorwiegend den Zweck verfolgte, „der Überfremdung des Anwaltsstandes in Österreich entgegenzuwirken“.112 Dieser klagte 1934 darüber, dass es in Wien nur mehr 320 arische, jedoch bereits 1834 jüdische Anwälte gebe,113 und forderte einen Numerus clausus für jüdische Rechtsanwälte. Besonders kritisiert wurde, dass die Rechtsanwaltschaft „in einem gänzlich unerträglichen Maße mit Ostjuden durchsetzt“ sei, da die Juden gewisse Berufe monopolisierten und dabei „doch immer wieder der Versuchung unterliegen“ würden, „ihre jüdischen Sonderinteressen allem anderen überzuordnen“.114 Ungeachtet aller Antisemitismen wurde jedoch die rechtliche Stellung der Rechtsanwälte bis zum „Anschluss“ nicht verändert, wenngleich sich ihre wirtschaftliche Lage deutlich verschlechterte. Allerdings kam es 1935 zu einem massiven Eingriff der Regierung in die bisherige auf Selbstverwaltung beruhende Organisation der Rechtsanwaltschaft. Die gewählten Kammerfunktionäre, etwa die Hälfte davon in Wien Juden, wurden nun de facto abgesetzt und unter den von der Regierung ernannten „neuen Standesfunktionären“ befanden sich kaum noch jüdische Anwälte, so in der Kammer in Wien nur mehr zwei von früher zwölf Juden.

110 Siehe zu ihm Friedrich Kübl, Hundert Jahre Wiener Rechtsanwaltskammer, in: 100 Jahre österreichische Rechtsanwaltskammern 1850 – 1950, Wien 1950, 32 – 44. 111 Vgl. Barbara Sauer, Ilse Reiter-Zatloukal, Advokaten 1938. Das Schicksal der in den Jahren 1938 bis 1945 verfolgten österreichischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, hrsg. vom Verein zur Erforschung der anwaltlichen Berufsgeschichte der zwischen 1938 und 1945 diskreditierten Mitglieder der österreichischen Rechtsanwaltskammern, Wien 2010, 13. 112 Ebd., 14 – 15. 113 Bruce Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993, 167. 114 Wiener Neueste Nachrichten, 29. März 1934, zit. nach Maderegger, Juden (wie Anm. 58), 200.

200 2.

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Richterschaft

In der Richterschaft war eine Karriere ohne Glaubenswechsel kaum möglich. So war etwa Emil Steinbach, der von 1904 bis 1907 das Amt des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs bekleidete, zwar jüdischer Herkunft, aber römisch-katholischer Konfession.115 Friedrich Tänzerles, seit 1882 Tezner, stieg typischerweise erst dann zum Hofrat des Verwaltungsgerichtshofes auf, nachdem er 1907 aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten war.116 Zuvor hatte er trotz seines Wunsches, die richterliche Laufbahn einzuschlagen, seit 1880 u. a. als Konzipient bei einem Rechtsanwalt gearbeitet, denn seine „Fähigkeiten für die richterliche Praxis“ waren zwar „als sehr gute anerkannt worden“, er hatte sich nach eigener Erinnerung jedoch von dieser Laufbahn abwenden müssen, weil ihm „von wolmeindenden und erfahrenen Vorgesetzten wörtlich gesagt wurde, unter einem Richter mit einem prononcirt jüdischen Namen würden sich die Partheien auf dem Lande weigern, Eide und Zeugenschaft ab(zu)legen“.117 Als er dann „bei politischen Behörden anfragte“, sei ihm gesagt worden, sein Name sei „disziplinfeindlich“.118 In den Pikanten Blättern wurde 1882 sogar die Bemerkung eines „geistvollen Richters“, der es „mit zwei dem Stamme Israels zugehörigen Concipienten namens Morgenstern und Tänzerles zu thun gehabt“ habe, kolportiert: „Morgenstern zu heißen ist ein Unglück, Tänzerles jedoch ¢ eine Katastrophe!“119 1886 wurde Tezner in die Liste der Rechtsanwälte eingetragen, 1892 an der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät für österreichisches Verwaltungsrecht habilitiert, 1907 zum Hofrat des Verwaltungsgerichtshofes berufen. 1920, ein Jahr, bevor Tezner zum Senatspräsidenten am Verwaltungsgerichtshof ernannt wurde, schrieb Arthur Schnitzler über seinen einstigen Hauslehrer :120 Tezner, einst „ein armer, häßlicher, kleiner Judenjunge, […] gilt heute als erste Autorität im Staats- und Völkerrecht und amtiert im Verwaltungsgericht als Hofrat Tezner, was ihm unter seinem einstigen Namen, Tänzerles, bei gleichen Verdiensten kaum geglückt wäre.“ Von Markus Preminger hingegen, Untersuchungsrichter, Staatsanwalt (und Vater des berühmten Filmregisseurs Otto Preminger), verlangte man 1915 zwecks Ernennung zum Generalmilitäranwaltstellvertreter zunächst den Übertritt zum 115 Sauer, Reiter-Zatloukal, Advokaten (wie Anm. 111), 3. 116 Friedrich Wilhelm Kremzow, Friedrich Tezner. Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Verwaltungsrechtswissenschaft. Das Leben, in: Acta Universitatum. Zeitschrift für Hochschulforschung, Kultur- und Geistesgeschichte, 1, 2 – 3 (1971), 23 – 41; Staudacher, Austritt (wie Anm. 43), 605. 117 Kremzow, Tezner (wie Anm. 116), 28. 118 Ebd. 119 Zit. nach ebd., 29, Fn. 55. 120 Arthur Schnitzler, Jugend in Wien. Eine Autobiographie, hrsg. von Therese Nickl, Heinrich Schnitzler, Wien – München – Zürich 1968, 43.

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Katholizismus, was dieser allerdings – wenngleich in diesem Fall letztlich folgenlos – verweigerte.121 Generell stammten die Richter, insbesondere in der Ersten Republik, überwiegend aus dem bürgerlichen Mittelstand bzw. aus sozialen Schichten, die einerseits traditionell überwiegend dem Lager der Großdeutschen Volkspartei oder dem konservativen Katholizismus zuzurechnen waren.122 Diese Richter waren daher tendenziell antisemitisch sowie „von vornherein in einem bewußtseinsmäßigen Distanzverhältnis zur Arbeiterschaft und zur Sozialdemokratie“.123 Daher bestand Gerhard Botz zufolge durchaus die Neigung, „zugunsten von politischen Straftätern zu entscheiden, wenn sie ihnen weltanschaulich nahestanden“, wenngleich die „überwiegende Mehrzahl der Richter bis gegen Ende der Ersten Republik keineswegs Nationalsozialisten oder Heimwehrmänner“ waren.124 Während also „illegaler Handlungen überführte Nationalsozialisten bei vielen Richtern auf Nachsicht rechnen“ konnten, wurde nach Everhard Holtmann „bei sozialistischen oder kommunistischen Angeklagten der Strafrahmen in der Regel ausgeschöpft“.125 Es ist daher auch wenig verwunderlich, wenn das Dollfuß-Schuschnigg-Regime die Richter als politisch unzuverlässig einstufte und nicht nur auf die Besetzung der Standgerichte aus Anlass des Schutzbundaufstandes im Februar 1934 Einfluss nahm, sondern für die justizielle Ahndung des Juli-Putsches überhaupt einen eigenen Militärgerichtshof einrichtete.126 Nicht nur eine antimarxistische Ausrichtung, sondern ebenso eine antisemitische Tendenz kann freilich auch in der Alltagsjustiz festgestellt werden,

121 Sauer, Reiter-Zatloukal, Advokaten (wie Anm. 111), 3. 122 Gerhard Botz, Zum Verhältnis von Politik und Rechtswesen in der Ersten Republik, in: Erika Weinzierl, Oliver Rathkolb, Rudolf G. Ardelt, Siegfried Mattl (Hrsg.), Justiz und Zeitgeschichte. Symposionsbeiträge 1976 – 1993, Bd. 2, Wien 1995, Bd. 1, Wien 1995, 99 – 113, hier : 110 – 111; Siegfried Mattl, Beiträge zu einer Sozialgeschichte der österreichischen Richterschaft (1900 – 1924), in: ebd., Bd. 2, 169 – 187, hier : 180; ders., Zu Sozialgeschichte und Habitus österreichischer RichterInnen seit 1924, in: Barbara Helige, Thomas Olechowski (Hrsg.), 100 Jahre Richtervereinigung. Beiträge zur juristischen Zeitgeschichte, Wien 2007, 67 – 87, hier: 79. 123 Botz, Verhältnis (wie Anm. 122), 110. 124 Ebd., 111. Vgl. auch Wolfgang Stadler, „…Juristisch bin ich nicht zu fassen.“ Die Verfahren des Volksgerichts Wien gegen Richter und Staatsanwälte 1945 – 1955 (= Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes zu Widerstand, NS-Verfolgung und Nachkriegsaspekten, 5), Wien – Berlin 2007, 242 – 377. 125 Everhard Holtmann, Zwischen Unterdrückung und Befriedung. Sozialistische Arbeiterbewegung und autoritäres Regime in Österreich 1933 – 1938 (= Studien und Quellen zur österreichischen Zeitgeschichte, 1), Wien 1978, 262. 126 Vgl. Ilse Reiter, Richterliche Unabhängigkeit im autoritären Ständestaat, in: Helige, Olechowski (Hrsg.), 100 Jahre Richtervereinigung (wie Anm. 122), 89 – 111.

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wenngleich diese bislang nur ansatzweise erforscht ist.127 Schon 1932 hatte Karl Seitz in einer Rede im Nationalrat der Justiz vorgeworfen, zur „Dirne“ der Politik geworden zu sein,128 worauf die „Vereinigung österreichischer Richter und der Verband der österreichischen Staatsanwälte“ mit einer Entschließung reagierten,129 in der sie Seitz’ „Ausfall gegen die österreichische Justiz“ als „rhetorische Entgleisung mit Entrüstung und Entschiedenheit zurück(wiesen)“. Seitz wiederum betonte, dass er das „scharfe Wort ,Dirne‘ mit Tatsachen“ belegen könne, vor allem „mit der Tatsache der ungleichen Behandlung von Gesetzesverletzungen“.130 Die von Christiane Rothländer jüngst vorgenommene Analyse von Straftaten in politischem Zusammenhang zwischen April 1932 und Juni 1933 bestätigt freilich durchaus die von der Sozialdemokratie vorgebrachten Beschwerden über die parteiische Einstellung der Wiener Richter- und Staatsanwaltschaft, insbesondere ab Herbst 1932. Während nämlich die linke Opposition mit harten Strafen rechnen musste, konnten Anhänger der NSDAP auf bessere Behandlung hoffen. Nicht nur kam es oft überhaupt nicht zur Befassung der Gerichte, weil die Polizei die Täter nicht ausforschte oder die Staatsanwaltschaft gar nicht befasste, sondern die Staatsanwaltschaft stellte vielfach die Verfahren einfach ein. Fanden Gerichtsverfahren tatsächlich statt, so äußerte sich parteiisches Verhalten der Richter z. B. hinsichtlich der Zeugenladungen, da linke Entlastungszeugen und -zeuginnen im Gegensatz zu nationalsozialistischen zumeist nicht vor Gericht zugelassen wurden. Dass freilich die ungleiche Behandlung von linker und rechter Opposition an sich schon antisemitische Züge trug, selbst wenn sie nicht direkt gegen Juden gerichtet war, ergibt sich schon daraus, dass die Sozialdemokratie an sich als „verjudet“ galt. Die Christlichsozialen bezeichneten die Sozialdemokraten bzw. die Sozialdemokratie regelmäßig überhaupt als „(Ost)Judenschutztruppe“, „Revolutionsjuden“, „Judensozialisten“, „Kohnjunktur-Sozialisten“, „Partei der 10 Juden“ bzw. deren Führer als „jüdische(r) Führerklüngel“, „Häuflein jüdischer Akademiker“ etc.131 Die Sozialdemokratische Partei erzielte in der Ersten Republik auch tatsächlich den höchsten jüdischen Stimmenanteil, nämlich etwa 75 %, und die Christlichsozialen machten für ihr Fiasko bei den Gemeinderatswahlen 1919 sogar primär die vorgebliche Masse der rot wählenden „Ostjuden“ verantwortlich. Trotz ihres hohen jüdischen Anteils an Wählern und Parteiführern (etwa 80 %) erlaubte sich aber auch die Sozialdemokratie einige 127 Siehe zum Folgenden Christiane Rothländer, Die Anfänge der Wiener SS, Wien – Köln – Weimar 2012, 229 – 250. 128 Wiener Zeitung, 22. Oktober 1932, 3 – 6, hier : 5. 129 Neue Freie Presse, 25. Oktober 1932, 4. 130 Neue Freie Presse, 26. Oktober 1932, 5. 131 Sauer, Reiter-Zatloukal, Advokaten (wie Anm. 111), 8.

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Antisemitismen; dies allerdings oft, um den Vorwürfen einer „verjudeten Sozialdemokratie“ bzw. eines „jüdischen Marxismus“ den Wind aus den Segeln zu nehmen,132 oder im Sinne eines Antikapitalismus, indem man versuchte, die vorhandenen antisemitischen Strömungen wenigstens auf das „jüdische Großkapital“ und die „jüdische Hochfinanz“ zu lenken.133 Rothländer gibt aber auch Beispiele für eine antisemitisch motivierte Justiz ohne antimarxistische Kontextualisierung.134 So wurden im Zuge von Krawallen an der Universität Wien mehrfach jüdische Studenten, die sich gegen NSSchläger zur Wehr gesetzt hatten, verhaftet und wegen Notwehrüberschreitung oder Sachbeschädigung zumindest erstinstanzlich verurteilt, wohingegen es in solchen Fällen gegen die Täter nicht einmal zur Einleitung eines Verfahrens kam. So wurde etwa im Juni 1932 ein jüdischer Student an der Hochschule für Welthandel wegen leichter Körperverletzung zu 40 Schilling Geldstrafe oder 24 Stunden Arrest verurteilt. Er hatte, nachdem er von 15 Nationalsozialisten zunächst mit Schlägen auf den Kopf und Fußtritten misshandelt worden war, einen auf seiner Brust sitzenden Angreifer mit einem in dieser Situation gezogenen Messer leicht verletzt, was auch von einem zufällig anwesenden Universitätsprofessor beobachtet wurde. Besonders krass erscheint der Fall zweier jüdischer Kaufleute, die im Zuge einer Stürmung der Judengasse durch NS-Studenten im Mai 1932 versucht hatten, sich gegen deren Übergriffe zu wehren. Der eine hatte in Panik einen Feueralarm durch Einschlagen des Feuermelders ausgelöst; er wurde wegen Sachbeschädigung zu zehn Tagen Arrest verurteilt. Ein anderer Kaufmann hatte sich gegen einen Angreifer mit einer Rollbalkenstange gewehrt und einen Studenten leicht verletzt; er wurde zu 40 Schilling oder acht Tagen Arrest verurteilt. Das Verfahren gegen die angreifenden Nationalsozialisten wurde eingestellt. Diese Urteilspraxis setzte sich auch nach dem Verbot der NSDAP fort.

III.

Ausblick

Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät war, wie Oliver Rathkolb bereits 1989 festgestellt hat, schon lange vor 1938 von der „Vorherrschaft einer Gruppe deutschnationaler Professoren“ und einem „radikalen Antisemitismus rassischer Prägung“ gekennzeichnet.135 Bald nach dem „Anschluss“ wurde dann einerseits der lange Zeit geforderte 132 Ebd., 9. 133 Leopold Spira, Feindbild „Jud’“ – 100 Jahre politischer Antisemitismus in Österreich, Wien – München 1981, 61. 134 Rothländer, Wiener SS (wie Anm. 127), 244 – 250. 135 Rathkolb, Fakultät (wie Anm. 65), 197.

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Numerus clausus für jüdische Studierende mit 2 % und wenig später mit 1 % festgelegt, bevor diese mit dem Studienjahr 1938/39 überhaupt nicht mehr zum Studium zugelassen wurden.136 Andererseits entfernten die Nationalsozialisten umgehend alle jüdischen und politisch missliebigen Universitätslehrer, an der Wiener Juristischen Fakultät zwölf von 19 Professoren.137 Aus „rassischen Gründen“ wurden Stefan Brassloff und der Handelsrechtler Josef Hupka zwangspensioniert, die beide später in Theresienstadt ermordet wurden, weiters der Zivil- und Handelsrechtler Oskar Pisko, der 1939 in Wien verstarb, und der Rechtshistoriker Emil Goldmann, der seine Lehrtätigkeit bis zu seinem Tod 1942 in Cambridge fortsetzen konnte;138 aus politischen Gründen u. a. Othmar Spann, Ferdinand Degenfeld-Schonburg, Alfred Verdroß, Gustav Walter, Ludwig Adamovich, Adolf Merkl, Heinrich Mitteis. 31 Privatdozenten139 verloren ihre Lehrbefugnis. Der „Anschluss“ an das Deutsche Reich brachte aber auch eine massive Säuberung der anderen juristischen Berufe von Juden. Österreichweit wurden insgesamt 1914 Anwälte aus NS-spezifischen Gründen aus den Rechtsanwaltslisten gelöscht, darunter 1825 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft, davon 1359 Anwälte und Anwältinnen mosaischen Glaubens.140 Von den Juristen, denen die Emigration gelang, seien es Rechtswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen oder Anwälte und Anwältinnen, fanden die wenigstens in der Emigration einen ihrer Ausbildung entsprechenden Broterwerb.141 Zahlreiche jüdische Rechtsanwälte kehrten wohl auch deshalb aus dem Exil zurück. Die wenigen rückkehrwilligen Hochschullehrer wurden allerdings oft bitter enttäuscht, denn das Unterrichtsministerium konstatierte zwar 1946, 136 Lichtenberger-Fenz, Universitäten (wie Anm. 51), 11; dies., Österreichs Hochschulen und Universitäten und das NS-Regime, in: Emmerich Talos, Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), NSHerrschaft in Österreich 1938 – 1945, Wien 1988, 271 – 274; Elisabeth Klamper, „Sie sollen sie nicht haben, des Ostens deutsche Mark, solange noch deutsche Knaben sie schirmen waffenstark“ (Studentenlied). Die Studenten und der „Anschluß“, in: Wien 1938 – Katalog der 110. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1988, 179 – 195 hier : 179 – 180, 187. 137 Kurt Mühlberger, Dokumentation Vertriebene Intelligenz 1938. Der Verlust geistiger und menschlicher Potenz an der Universität Wien 1938 bis 1945, 2. Aufl. Wien 1993, 12 – 17; Ilse Reiter-Zatloukal, Juristenausbildung in Österreich unter dem NS-Regime. Kontinuitäten und Brüche 1938/1945 am Beispiel der Wiener Juristenfakultät, in: Meissel, Olechowski, Reiter, Schima (Hrsg.), Vertriebenes Recht (wie Anm. 71), 9 – 34, hier : 14 – 16. 138 Feichtinger, Wissenschaft (wie Anm. 103), 271 – 272. 139 Mühlberger, Dokumentation (wie Anm. 137) 12 – 17; Reiter-Zatloukal, Juristenausbildung (wie Anm. 137), 14. 140 Barbara Sauer, Advokaten 1938 – Einblicke in die Forschungspraxis, in: Meissel, Olechowski, Reiter, Schima (Hrsg.), Vertriebenes Recht (wie Anm. 71), 375 – 393, hier: 389. 141 Oliver Rathkolb, Zur Archäologie über österreichische Juristen im Exil, in: Stadler (Hrsg.), Vertriebene Vernunft II. (wie Anm. 84), 434 – 438; Kurt Steiner, „Once a Lawyer, always a Lawyer“. Der Lebensweg eines emigrierten Juristen, in: ebd., 439 – 444; Sauer, Advokaten (wie Anm. 140), 387 – 389.

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dass sich eine „große Zahl von Privatdozenten der Rechts- und Staatswissenschaftlichen […] Fakultät Wien […] in den USA oder in Großbritannien“ befände und deren „Rückkehr an ihre früheren Wirkungsstätten […] selbstverständlich begrüßt würde“, stellte aber unmissverständlich klar, dass der „Antrag darauf […] von ihnen selbst ausgehen“ müsse und Professuren ihnen „selbstverständlich nur im Fall des Freiwerdens einer Lehrkanzel in Aussicht gestellt werden könnten“.142 Nur sehr wenige emigrierte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kehrten daher überhaupt an ihre alten Universitäten zurück.143 Gemeinsam mit den 1938 an der Wiener Fakultät verbliebenen, in der NS-Zeit neu berufenen und 1945 wieder reaktivierten Professoren und Dozenten, darunter auch Alexander Hold-Ferneck und Ferdinand Degenfeld-Schonburg, der erste Nachkriegsdekan, bildeten sie die Nachkriegsfakultät an der Wiener Universität.

142 Zit. nach Fleck, Rückkehr unerwünscht (wie Anm. 59), 202. 143 Siehe die Zahlen bei Oliver Rathkolb, Überlegungen zum Exodus der „Jurisprudenz“. Rechts- und Staatswissenschaftliche Emigration aus dem Österreich der Zwischenkriegszeit, in: Stadler (Hrsg.), Vertriebene Vernunft I (wie Anm. 59), 276 – 303, 279.

Friedrich Stadler

Antisemitismus an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien – Am Beispiel von Moritz Schlick und seines Wiener Kreises „Ein Kind, von kosmischen Ängsten geplagt, eine junge Person, verstört von widersprüchlichen Theorien und Ideologien, die ihr fortwährend angeboten werden, sieht sich mit einem Schlag aus der Wirrnis befreit. Frühmorgens, im großen Hörsaal der Philosophischen Fakultät, gehen von der Figur eines wahrhaft weisen, wahrhaft guten Menschen Erhellung, Beruhigung, Zuversicht, Lebenslenkung aus. Moritz Schlick liebt und wiederholt häufig das Wort von Kant, David Hume habe ihn aus dem ,dogmatischen Schlummer’ erweckt. Nicht anders empfindet die Studentin, was sich mit ihr begibt.“ (Hilde Spiel)1 „Wer … diese Epoche erlebt und Zeuge des Ereignisses am Tatort, also in Wien, war, der erinnert sich noch deutlich, wie die Ermordung Schlicks der Linken als ein die Katastrophe ankündigendes Signal erschien.“ (Jean Am¦ry)2

Vorbemerkungen Das Phänomen des Antisemitismus war wie in der österreichischen Gesellschaft allgemein, auch an den Universitäten durchgehend mehr oder weniger stark präsent. An der Wiener Universität zeigen sich lange vor dem „Anschluß“ besonders in der Zwischenkriegszeit antisemitische Manifestationen und Aktionen auf mehreren Ebenen: Studierende und Hochschullehrer im Rahmen von farben- und waffentragenden Verbindungen, bei (verhinderten) Habilitationen, Berufungen, schließlich bei Disziplinierungen, Doktoratsaberkennungen und Entlassungen mit und nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im März 1938. Innerhalb und außerhalb der Universität Wien finden in den 1930er Jahren laufend Demonstrationen mit gewalttätigen Auseinandersetzungen statt, 1 Hilde Spiel, Die hellen und die finsteren Zeiten. Erinnerungen. München 1989, 74. 2 Jean Am¦ry, Widersprüche. Frankfurt-Berlin-Wien 1980, S. 197. Dazu als weiteres literarisches Dokument: Arthur Schnitzler, Der Geist im Wort und der Geist in der Tat. Vorläufige Bemerkungen zu zwei Diagrammen. Berlin 1927. (Vom Autor handschriftlich Moritz Schlick gewidmet)

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die von einem antisemitischen Diskurs und antidemokratischen Zeitgeist getragen sind. Die Diskriminierung jüdischer Studierender und Lehrender kulminierte in Entlassungen, gefolgt von Vertreibung und Vernichtung, deren Folgen aufgrund von Elitenkontinuität und kaum erfolgter Remigration bis weit in die Zweite Republik reichen sollten. Die verspätete Erforschung dieser unrühmlichen Geschichte begann verstärkt im Zusammenhang mit der Kritik an der Opferthese Österreichs und setzte sich im Kontext einer (selbst)kritischen zeitgeschichtlichen Forschung in den letzten Dekaden fort, die eine gemeinsame Betrachtung von Opfern und Tätern (mit Problematisierung des Opferbegriffes) im Kontext von fächerübergreifender Universitätsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Exilforschung vornahm. Ein Ausdruck eines aktiven Umgangs mit der eigenen Geschichte war die Einrichtung des Projektes „Forum Zeitgeschichte der Universität Wien“ am Institut für Zeitgeschichte.3 Im Folgenden werden der Antisemitismus und dessen Erforschung am Beispiel des Wiener Kreises und seines Begründers Moritz Schlick exemplarisch behandelt, der auf den Stufen der Philosophenstiege im Hauptgebäude der Universität Wien im Juni 1936 von einem seiner Studenten mit nachfolgendem Beifall der antisemitischen Presse und öffentlichem Schweigen der universitären Leitung (Rektorat, Senat und Fakultät) ermordet wurde.4 Diese Fallstudie ist 3 Forum Zeitgeschichte der Universität Wien am Institut für Zeitgeschichte: www.forumzeitgeschichte.univie.ac.at. Ich danke dem Forum-Team Katharina Kniefacz und Herbert Posch sowie Sabine Koch für wertvolle Hinweise und Ergänzungen. Dazu in diesem Zusammenhang: Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938: http://gedenkbuch.univie.ac.at . Ein Anstoß für die Einrichtung des Forums als Projekt im Jahre 2006 war u. a. das von Eric Kandel initiierte Symposium „Österreich und der Nationalsozialismus – Die Folgen für die wissenschaftliche und humanistische Bildung“ im Jahre 2003. Die Beiträge erschienen im Band Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus. Die Folgen für die naturwissenschaftliche und humanistische Lehre. Hg. von Friedrich Stadler in Zusammenarbeit mit Eric Kandel, Walter Kohn, Fritz Stern und Anton Zeilinger. Wien-New York 2004. 4 Vorgeschichte, Verlauf und Folgen der Ermordung sind im wesentlichen entgegen noch immer kursierenden Mythen und Vorurteilen wissenschaftlich aufgearbeitet. Vgl. dazu: Traude Cless-Bernert, „Der Mord an Moritz Schlick. Augenzeugenbericht und Versuch eines Portraits aus der Sicht einer damaligen Studentin“, in: Zeitgeschichte, April 1982, Heft 7, 229 – 234. Dies., „Der Philosoph und sein Mörder. Bericht einer Augenzeugin“, in: morgen 22/1982, 83 – 85. Eugene T. Gadol, „Philosophy, Ideology, Common Sense and Murder. The Vienna of the Vienna Circle Past and Present“, in: ders. (Hg.), Rationality and Science. A Memorial Volume for Moritz Schlick, Wien-New York 1982, 1 – 35. Dietmar Grieser, „Eine verhängnisvolle Affäre. Johann Nelböck und Sylvia Borowicka“, in: ders., Eine Liebe in Wien, St. PöltenWien 1989, 170 – 177. Renate Lotz, „Mord verjährt nicht: Psychogramm eines politischen Mordes“, in: Friedrich Stadler und Hans Jürgen Wendel (Hg.), Stationen. Dem Philosophen und Physiker Moritz Schlick zum 125. Geburtstag, Wien 2009 (= Moritz Schlick Studien I) 2009, 81 – 106. Dies., „Zur Biografie Leo Gabriels“, in: Zeitgeschichte 6/31, 2004, 370 – 391. Peter Mahr (Hg.), Erinnerung an Moritz Schlick. Textbeiträge und Ausstellungskatalog. Wien

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zugleich ein Paradigma einer bislang noch nicht voll aufgearbeiteten Universitätsgeschichte lange vor dem „Anschluß“ als Manifestation des antidemokratischen und rassistischen geistigen Klimas, das die Brüche auf Seiten der Opfer und die Kontinuitäten auf Seiten der Täter gleichermaßen zu thematisieren hat.

Moritz Schlick und die Universität Wien – Antisemitismus mit und ohne Judentum Im Jahre 1993 wurde eine Gedenktafel auf den Stufen der Philosophenstiege im Hauptgebäude angebracht, welche auf eine Initiative von Gernot Heiß (Institut für Geschichte) unter Rektor Alfred Ebenbauer zurückgeht.5 Ein erster Versuch von Michael Benedikt (Institut für Philosophie) im Jahre 1986 war gescheitert. Der Text der marmornen Erinnerungstafel lautet: „Moritz Schlick, Protagonist des Wiener Kreises, wurde am 22. Juni 1936 an dieser Stelle ermordet. Ein durch Rassismus und Intoleranz vergiftetes geistiges Klima hat zur Tat beigetragen.“

Was steckt hinter diesem lapidaren und kurzen Text an diesem Erinnerungsort? Was sind die Vorgeschichte und der Hintergrund für dieses dramatische wie folgenreiche Ereignis im Hauptgebäude der Alma Mater Rudolphina? Wer war der Ermordete und wer der Täter, was war sein Motiv und Umfeld?: Friedrich Albert Moritz Schlick wurde als Sohn evangelischer Eltern am 14. April 1882 in eine wohlhabende Berliner Fabrikantenfamilie hineingeboren. 1996. Peter Malina, „Tatort: Philosophenstiege. Zur Ermordung von Moritz Schlick am 22. Juni 1936“, in: Michael Benedikt und Rudolf Burger (Hg.), Bewußtsein, Sprache und die Kunst. Metamorphosen der Wahrheit, Wien 1988, 231 – 253. Viktor Matejka, „Die Philosophie der Untat“, in: ders., Das Buch Nr. 3, hg. von Peter Huemer, mit einem Vorwort von Johannes Mario Simmel, Wien 1993, 44 – 58. Michael Siegert, „Mit der Browning philosophiert“, „Die Gelbe Liste“, „Das Ganze und das Nichts“, in: Forum, Juli/August 1981, 18 – 26. Ders.,“Der Mord an Professor Moritz Schlick“, in: Leopold Spira (Hg.), Attentate, die Österreich erschütterten. Mit einem Vorwort von Friedrich Heer, Wien 1981, 123 – 131. Hilde Spiel, „Zentrum im Wiener Kreis. Gedenkblatt für Moritz Schlick“, in: dies., Die Dämonie der Gemütlichkeit. Glossen zur Zeit und andere Prosa, München 1991, 273 – 276. Friedrich Stadler, Studien zum Wiener Kreis. Frankfurt/M. 1997/2001. (Dokumentation 920 – 962). Englisch: The Vienna Circle 2001 (p. 866 – 909). Ders., „Die andere Kulturgeschichte. Am Beispiel von Emigration und Exil der österreichischen Intellektuellen 1930 – 1940“, in: Rolf Steininger und Michael Gehler (Hg.), Österreich im 20. Jahrhundert. Ein Studienbuch in zwei Bänden. Band 1, Wien-Köln-Weimar 1997, 499 – 558. Der vorliegende Beitrag basiert im Wesentlichen auf den entsprechenden Abschnitten meiner zuletzt genannten Veröffentlichungen, welche aus Anlass der Tagung „Der lange Schatten des Antisemitismus“ am 11. Oktober 2012 zusammengefasst und aktualisiert wurden. 5 Vgl. „Wissenschaft, Philosophie und Intoleranz. Ein Gespräch mit Prof. Gernot Heiss über die Moritz-Schlick-Inschrift an der Universität Wien“, in: Gedenkdienst. Nr. 3/11, 3 – 4.

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Er besuchte die Pflichtschule und das Gymnasium in Berlin, interessierte sich bereits am Luisenstädter Gymnasium für Philosophie, Kunst und Poesie, studierte aber nach dem Abitur an den Universitäten Heidelberg, Lausanne und Berlin Naturwissenschaften und Mathematik. Im Jahre 1904 dissertierte er bei Max Planck, dessen Lieblingsschüler er wurde, mit der Arbeit „Über die Reflexion des Lichtes in einer inhomogenen Schicht“ in mathematischer Physik zum Doktor. Die folgenden drei Jahre verbrachte Schlick mit naturwissenschaftlichen Studien in Göttingen, Heidelberg und Berlin. Nach dem Erscheinen seines ersten Buches Lebensweisheit widmete sich Schlick zwei Jahre lang dem Studium der Psychologie in Zürich, wo er 1907 die Amerikanerin Blanche Hardy heiratete. Nach kurzem Aufenthalt in Berlin habilitierte sich Schlick im Jahre 1911 an der Universität Rostock zum Privatdozenten für Philosophie mit der Schrift Das Wesen der Wahrheit nach der modernen Logik. Während seiner zehnjährigen Tätigkeit in Rostock arbeitete Schlick an der Reform traditioneller Philosophie vor dem Hintergrund der naturwissenschaftlichen Revolution. Dadurch kam es zur Bekanntschaft und Freundschaft mit Albert Einstein, dessen Relativitätstheorie er mit ausdrücklicher Würdigung seines Schöpfers als einer der ersten philosophisch darstellte. Während des Ersten Weltkriegs absolvierte er zwei Jahre lang den Heeresdienst auf einem Militärflugplatz. Im Jahre 1917 erhielt Schlick in Rostock den Titel eines Professors, 1921 wurde er außerordentlicher Professor mit einem Lehrauftrag für Ethik und Naturphilosophie. In der republikanischen Zeit trat Schlick als Mitglied der „Vereinigung fortschrittlich gesinnter Akademiker“ für eine Hochschulreform ein. Im Jahre 1918 erschien erstmals sein Hauptwerk Allgemeine Erkenntnislehre und im Sommer 1921 erhielt Schlick einen Ruf an die Universität Kiel als ordentlicher Professor. Ein Jahr darauf erfolgte schließlich auf Initiative des Mathematikers Hans Hahn Schlicks Berufung an die Universität Wien in der Tradition von Ernst Mach und Ludwig Boltzmann auf den Lehrstuhl für Naturphilosophie („Philosophie der induktiven Wissenschaften“). In Wien organisierte Schlick ab 1924 auf Anraten seiner Studenten Herbert Feigl und Friedrich Waismannn einen regelmäßigen Diskussionszirkel – zuerst privatim, dann im Hinterhaus des Mathematischen Institutes in der Wiener Boltzmanngasse 5 –, der als „Wiener Kreis“ in die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte eingegangen ist. Zu diesem interdisziplinären Kreis zählten etablierte und jüngere VertreterInnen der Philosophie, Psychologie, Mathematik, Physik, Biologie und Sozialwissenschaften. Zum Kern des „Schlick-Zirkels“ gehörten z. B. Gustav Bergmann, Rudolf Carnap, Herbert Feigl, Philipp Frank, Kurt Gödel, Hans Hahn, Olga Hahn-Neurath, Bela Juhos, Felix Kaufmann, Viktor Kraft, Karl Menger, Richard von Mises, Otto Neurath, Rose Rand, Josef Schächter, Olga Taussky-Todd, Friedrich Waismann und Edgar Zilsel (wobei die kursiv Geschriebenen wegen ihrer jüdischen Herkunft und/oder aus politischen Gründen emigrieren mussten).

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Zur Peripherie mit seinen prominenten ausländischen Gästen sind hier zu nennen: Alfred J. Ayer, Egon Brunswik, Karl Bühler, Josef Frank, Else FrenkelBrunswik, Heinrich Gomperz, Carl Gustav Hempel, Eino Kaila, Hans Kelsen, Charles Morris, Arne Naess, Willard Van Orman Quine, Frank P. Ramsey, Hans Reichenbach, Kurt Reidemeister, Alfred Tarski und als „Prominenz“ am Rande: Ludwig Wittgenstein und Karl Popper.6 Neben seiner umfangreichen Forschungs- und Lehrtätigkeit engagierte sich Schlick zusätzlich in der Volksbildung: als Mitglied der „Ethischen Gesellschaft“ und vor allem (von 1928 bis 1934) als Vorsitzender des „Vereins Ernst Mach“, dessen Auflösung nach dem 12. Februar 1934 er trotz mehrerer Interventionen nicht verhindern konnte.7 Ab 1926 pflegte er einen intensiven Kontakt mit Ludwig Wittgenstein, der ihn maßgeblich beeinflusste und vor allem über Waismann im wechselseitigen Kontakt mit dem Wiener Kreis stand. Im Jahre 1929 lehnte Schlick eine attraktive Berufung nach Bonn (auf Bitte seiner Schüler) ab, worauf er als Gastprofessor in Stanford, und später 1931/32 nach Berkeley ging. Er unterhielt intensive internationale Kontakte mit der scientific community in Berlin, Prag, Göttingen, Warschau, England und in den USA. Zusammen mit dem Physiker und Nachfolger Einsteins in Prag, Philipp Frank, gab er die Buchreihe „Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung“ (1929 bis 1937) heraus. Am 22. Juni 1936 wurde Moritz Schlick – auf dem internationalen Höhepunkt seines einflussreichen Gelehrtenlebens – auf den Stufen der Wiener Universität von einem ehemaligen Studenten aus privaten und weltanschaulich-politischen Motiven ermordet. Der Mörder wurde von den Nationalsozialisten vorzeitig entlassen und lebte nach 1945 als freier Bürger in Österreich. Der Wiener Kreis war aber damit endgültig zerstört, denn es existierten bis 1938 nur mehr einige epigonale Zirkel. Von 1948 – 1954 organisierte Viktor Kraft, der neben Bela Juhos als einziges 6 Vgl. Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Universität Graz: Materialien Karl Popper, Friedrich Waismann, Else Frenkel-Brunswik. Forschungsstelle und Dokumentationszentrum für Österreichische Philosophie, Graz. Materialien zu Franz Brentano (BrentanoArchiv), Karl Bühler, Rudolf Carnap, Alois Höfler, Felix Kaufmann, Ernst Mach, Otto Neurath, Ludwig Wittgenstein. Institut Wiener Kreis, Wien: Materialien Gerald Holton (Institute for the Unity of Science). Nachlässe Otto Neurath, Moritz Schlick (Mikrofilm). Kurt-Gödel-Gesellschaft, Wien: Materialien Kurt Gödel. Sozialwissenschaftliches Archiv, Universität Konstanz: Nachlass Felix Kaufmann. Universitätsarchiv Wien: Personalakten von Wiener-KreisMitgliedern (Rudolf Carnap, Kurt Gödel, Hans Hahn, B¦la Juhos, Felix Kaufmann, Viktor Kraft, Karl Menger, Moritz Schlick, Friedrich Waismann, Edgar Zilsel). University of Pittsburgh. Archives of Scientific Philosophy and General Manuscripts. Hillman Library. Special Collections Department. Pittsburgh. Nachlässe Rudolf Carnap, Hans Reichenbach, Herbert Feigl, Carl G. Hempel, Frank P. Ramsey, Rose Rand. Vienna Circle Foundation/Wiener Kreis Archiv Amsterdam/Haarlem: Nachlässe Otto Neurath und Moritz Schlick. Rijksarchief Noord-Holland, Haarlem. Wiener Stadt- und Landesarchiv : Verein Ernst Mach, Personalakten von Mitgliedern des Vereins. 7 Vereinsbüro der Bundespolizeidirektion Wien: Verein Ernst Mach.

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Mitglied des Kreises in Wien überleben konnte, einen kleineren Kreis als eine Art Wiederbelebung. Erst 1991 wurde in Wien das außeruniversitäre „Institut Wiener Kreis“ gegründet, das ab 2011 auch als Institut an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien eingerichtet wurde.8 Die Kommentare zum Mord 1936 und Mordprozess 1937 ergeben ein von Sensation, Obsession und Projektion gespeistes Sittenbild der austrofaschistischen Öffentlichkeit mit einer zynischen Polemik einer Täter-Opfer Umkehr im antisemitischen Diskurs.9 Der dominierende Diskurs charakterisierte Schlick als eine Art Sokrates des 20. Jahrhunderts, nämlich als „Verführer der Jugend“ und Proponenten des „verjudeten“ Wiener Kreises. Ein besonders perfides Beispiel im Zeichen des Antisemitismus stellte der anonym veröffentlichte Artikel „Der Fall des Wiener Professors Schlick – eine Mahnung zur Gewissenserforschung“ von „Dr. Austriacus“10 dar, hinter dem sich der Hochschullehrer Johann Sauter verbarg. Dort liest man u. a.: „Nach dieser kurzen Darstellung der Schlickschen Lehre, die er seit 1922 als Inhaber der einzigen Wiener Universitäts-Lehrkanzel für systematische Philosophie vortrug, kann man wohl nachempfinden, was in den Seelen unserer akademischen Jugend, die in den Mittelschulen in der christlichen Weltanschauung erzogen worden ist, vorging, wenn sie hier vom hohen Katheder herab die pure Negation alles dessen vernahm, was ihr bisher heilig war. Die höhere Seelenkunde hat nachgewiesen, daß die moderne Zerrüttung der Nerven zum großen Teil auf die Zerrüttung in der Weltanschauung zurückgeht. Vollends von den Akademikern muß jeder, wenn er nicht die Anlage und das Geld zu einem Epikuräer hat, unter dem Einfluß solch destruktiver Lehren zerrüttet werden, wenn es ihm mit seiner Weltanschauung auch nur halbwegs ernst ist. Der Fall Schlick ist eine Art Gegenstück zum Fall Berliner von der ,Phönix’-Versiche8 Zur Geschichte nach 1945: Friedrich Stadler, „Philosophie – Zwischen ,Anschluss’ und Ausschluss, Restauration und Innovation“, in: Margarete Grandner, Gernot Heiß und Oliver Rathkolb (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955. Innsbruck-WienMünchen-Bozen 2005, 121 – 136; Ders. (Hg.), Vertreibung, Transformation und Rückkehr der Wissenschaftstheorie. Am Beispiel von Rudolf Carnap und Wolfgang Stegmüller. Wien-Berlin 2010; Ders. (Hg. mit Kurt R. Fischer), Paul Feyerabend. Ein Philosoph aus Wien. Wien-New York 2006. Am Institut Wiener Kreis die internationale Schlick-Forschung im Rahmen der Moritz Schlick Gesamtausgabe zusammen mit der Moritz Schlick Forschungsstelle (Universität Rostock): www.univie.ac.at/ivc/Schlick-Projekt und www.moritz-schlick.de 9 Regelmäßige Berichte erschienen in folgenden Tageszeitungen: Neue Freie Presse, Neues Wiener Journal, Arbeiterzeitung, Reichspost, Illustrierte Kronenzeitung, Wiener Zeitung, Kleines Volksblatt, Kleine Volkszeitung, Neues Wiener Abendblatt, Neues Wiener Tagblatt, Prager Tagblatt, Die Stunde, Volkszeitung, Wiener Neueste Nachrichten, Wiener Tag, Wiener Bilder, Der Christliche Ständestaat, Schönere Zukunft, Die Zeit (Prag), Sturm über Österreich, 7-Tage Blatt, Volkszeitung, Linzer Volksblatt, aber auch eine sachliche Notiz in der New York Times! 10 Schönere Zukunft. Wien XI/41, 12.7./9. 8. 1936, 1 f.

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rung. Wie dort verhängnisvoller Einfluß des Judentums auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet ans Tageslicht gekommen ist, so kommt hier der unheilvolle geistige Einfluß des Judentums an den Tag. Es ist bekannt, daß Schlick, der einen Juden (Waismann) und zwei Jüdinnen als Assistenten hatte, der Abgott der jüdischen Kreise Wiens war. Jetzt werden die jüdischen Kreise Wiens nicht müde, ihn als den bedeutendsten Denker zu feiern. Wir verstehen das sehr wohl. Denn der Jude ist der geborene Ametaphysiker, er liebt in der Philosophie den Logizismus, den Mathematizismus, den Formalismus und Positivismus, also lauter Eigenschaften, die Schlick in höchstem Maße in sich vereinigte. Wir möchten aber doch daran erinnern, daß wir Christen in einem christlich-deutschen Staate leben, und daß wir zu bestimmen haben, welche Philosophie gut und passend ist. Die Juden sollen in ihrem Kulturinstitut ihren jüdischen Philosophen haben! Aber auf die philosophischen Lehrstühle der Wiener Universität im christlich-deutschen Österreich gehören christliche Philosophen! Man hat in letzter Zeit wiederholt erklärt, daß die friedliche Regelung der Judenfrage in Österreich im Interesse der Juden selbst gelegen sei, da sonst eine gewaltsame Lösung derselben unvermeidlich sei. Hoffentlich beschleunigt der schreckliche Mordfall an der Wiener Universität eine wirklich befriedigende Lösung der Judenfrage!“

Es sei hier ergänzt, dass es eine mutige Gegenstimme eines Kollegen zu diesem Pamphlet durch den christlichen Philosophen Dietrich von Hildebrand gab, der vor seiner Emigration in die USA in seiner Zeitschrift Der Christliche Ständestaat einen marginalisierten antinazistischen Katholizismus vertrat. Johann Sauter (1891 – 1945), der Autor dieser typisch antisemitischen Diktion, war Privatdozent und außerordentlicher Professor der Philosophie an der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien mit Lehraufträgen am Institut für Philosophie. Am 4. Juni 1935 war er an der Gründung einer „Deutschen philosophischen Gesellschaft in Wien“ beteiligt11 und leitete die antisemitische „Deutsche Kunstgemeinschaft“. Als Mitglied des Kreises um Othmar Spann kam der „katholisch-nationale“ Sauter nach dem „Anschluß“ in Konflikt mit den Nationalsozialisten. Auch der Hinweis auf sein vehementes Eintreten für Johann Nelböck, den Mörder Moritz Schlicks, konnte seine Suspendierung als Hochschullehrer nicht verhindern; er wurde von den Nationalsozialisten als „politisch unzuverlässig“ entlassen.12 Jedenfalls rühmte er sich, „den großen Prozeß gegen den Führer der Juden und Freimaurer, nämlich Prof. Schlick geführt“ zu haben. Außerdem hat er sich in einem Schreiben an den Justizminister für eine Begnadigung des Mörders, wenn auch vergeblich, eingesetzt: 11 Reichspost, 4. 6. 1935. 12 Zur Biografie von Johann Sauter vgl. Tamara Ehs, „Die Vertreibung der ersten Staatswissenschafter. Helene Lieser und Johann Sauter“, in: Franz-Stefan Meissel, Thomas Olechowski, Ilse Reiter-Zatloukal und Stefan Schima (Hg.), Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht. Zur Geschichte der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zwischen 1938 und 1945, Wien 2012, 233 – 259.

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„Hochverehrter Herr Minister! Wien, 27.VII.38 Erlaube mir im Sinne unserer gestrigen Unterredung die Gnadenbitte des Dr. Hans Nelböck höflichst zu überreichen. Hans Nelböck, der aus kleinen ländlichen Verhältnissen aus Oberdonau stammt, ist mir als Student seit 1929, also etwa sechs Jahre vor der Tat, bekannt, da er öfter meine Vorlesungen an der Universität besuchte. Prof. Schlick, auf den er im Juni 1936 einen Anschlag verübte, war der Exponent des Judentums an der philosophischen Fakultät. Trotzdem trat er als einer der Ersten in die vaterl. Front ein, um gesichert zu sein. Nelböck, der sehr stark von nationalen Motiven und ausgesprochenem Antisemitismus erfüllt war, hat sich immer in größere Erregung gegenüber Schlick hineingearbeitet, zumal er in Schlick einen Widersacher seiner wirtschaftlichen Bestrebungen erblickte. Da ihm nun eine Besserung seiner sehr prekären Wirtschaftslage durch die Gegenarbeit Schlicks unmöglich war und andererseits auch seine weltanschaulichen und politischen Bemühungen um die Beseitigung Schlicks keinen Erfolg hatten, verlor Nelböck jeden Halt. Von diesen weltanschaulichen und politischen Motiven konnte aber in der Verhandlung nicht gesprochen werden, da dies dem Angeklagten in der Systemzeit ja noch mehr geschadet hätte. Und so wurden meines Erachtens mehr die Präliminarien und Begleitumstände zur zentralen Sache erhoben. Damit konnte aber dem Angeklagten nicht die verdiente Gerechtigkeit widerfahren. Deshalb erlaube ich mir die höfliche Bitte, Herr Minister möchten die Gnadenbitte wohlwollend aufnehmen, da es sich wirklich um ein Notdelikt handelt – aus weltanschaulicher und politischer Not. Heil Hitler!“

Der Täter, Johann Nelböck (1903 – 1954), hatte seit 1925 bei Moritz Schlick studiert und mit einer Dissertation „Die Bedeutung der Logik in Empirismus und Positivismus“ (1930) sein Studium abgeschlossen. Er hatte seinen Lehrer bereits seit dem Abschluss seines Studiums mehrmals bedroht, worauf er in die Psychiatrie am Steinhof eingewiesen wurde. Seine Vertrauensperson und sein Freund war laut Anklage- und Urteilsschrift der spätere Philosophieordinarius Leo Gabriel. Nelböck wurde zu zehn Jahren Kerkerstrafe wegen des Mordes verurteilt. Am 11. Oktober 1938 erfolgte die bedingte Entlassung mit nachfolgender Arbeit in der geologischen Abteilung der kriegswirtschaftlichen Erdölverwaltung. Nach Ende der Bewährungsfrist am 11. Oktober 1943 wurde er technischer Angestellter im Hauptvermessungsamt und nach dem Krieg erhielt er eine Stelle in der Sowjetischen Mineralölverwaltung, bevor er 1947 laut Leumundszeugnis als unbescholten erklärt wurde. Das hielt ihn aber nicht davon ab, Viktor Kraft zu verklagen, der ihn in seinem Buch Der Wiener Kreis13 als „verfolgungswahnhaften Psychopathen“ bezeichnet hatte. Kraft stimmte übrigens einem Vergleich zu, weil er sich wie damals schon Schlick, von Nelböck bedroht fühlte. Am 3. Februar 1954 starb Nelböck in Wien. Hier drängt sich übrigens ein Vergleich mit dem spektakulären Fall Hugo Bettauer auf, dessen Mörder nach seiner Tat 13 Viktor Kraft, Der Wiener Kreis. Der Ursprung des Neopositivismus, Wien 1950.

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ebenfalls nach kurzer Haft entlassen wurde und als freier Bürger ohne Reue weiterlebte.14 Jedenfalls war spätestens mit der Ermordung Schlicks auch eine blühende und renommierte Wissenschaftstradition zerstört worden, die lange Zeit auch nach 1945 aufgrund der dominanten akademischen Karrieren zweier Philosophen in der Tradition des politischen Katholizismus (Leo Gabriel ab 1951) und der theologisch ausgerichteten Transzendentalphilosophie (Erich Heintel ab 1952) nicht vertreten war.15 Zum besseren Verständnis des singulären und signifikanten Falles Schlick muss allerdings der größere Kontext der Wiener Universität im zeitgeschichtlichen Zusammenhang beschrieben werden. Im Folgenden wird daher das Verhältnis des Wiener Kreises und der Universität Wien am Beispiel von ausgewählten Personen und Ereignissen charakterisiert.

Zur geistig-politischen Situation an der Wiener Universität Allgemein war das hochschulpolitische Leben zu Beginn der Ersten Republik von einer Dominanz der Rechten mit einem – im Vergleich zur Monarchie – verstärkt antiliberalen und antisemitischen Trend gekennzeichnet.16 Die Gegner 14 Zum Fall Bettauer vgl. Murray Hall, Der Fall Bettauer, Wien 1978. 15 Vgl. Stadler 2005. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass 1952 ein Dreiervorschlag für die Besetzung der außerordentlichen Professur (1. Friedrich Waismann und Karl Friedrich v. Weizsäcker, 2. Bela Juhos, 3. Erich Heintel) zu Ernennung von Erich Heintel führte. 16 Zur geistigen und politischen Lage an den Wiener Hochschulen: Heinz Fischer, „Universität zwischen Tradition und Fortschritt“, in: Österreich – Geistige Provinz?, Wien-HannoverBern 1965, 204 – 231; Engelbert Broda, „Warum ist es in Österreich um die Naturwissenschaft so schlecht bestellt?“, in: Heinz Fischer (Hg.), Versäumnisse und Chancen. Beiträge zur Hochschulfrage in Österreich, Wien 1967, 87 – 108; Ders., „Das Jahr 1938 und die Naturwissenschaft in Österreich“, in: Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 2/ 1978, 230 – 236; Ernst Topitsch, „Österreichs Philosophie – zwischen totalitär und konservativ“, in: Fischer (Hg.) 1967, 29 – 52; Erika Weinzierl, Universität und Politik in Österreich, Salzburg-München 1969; Günther Ramharter, Geschichtswissenschaft und Patriotismus, Wien 1973; Michael Siegert, „Numerus Juden raus. Professoren nehmen sich Freiheit der Wissenschaft“, in: Neues Forum, Jänner./Februar 1974, 35 – 37; Herbert Dachs, Österreichische Geschichtswissenschaft und Anschluß, Salzburg 1974; Hans Zehetner, „Gibt es eine wissenschaftliche Philosophie in Österreich?“, in: Zukunft, Jänner 1972, 49 ff.; Marina Fischer-Kowalski, „Zur Entwicklung von Universität und Gesellschaft in Österreich“, in: Heinz Fischer (Hg.), Das politische System Österreichs, Wien 1974, 571 – 624; Marina FischerKowalski, „Der Stellenwert von Bildungsreformen für die Reproduktion sozialer Ungleichheit“, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 1 – 2, 4 – 18; Sebastian Meissl, „Germanistik in Österreich“, in: Franz Kadrnoska (Hg.), Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938, Wien-München-Zürich 1981, 475 – 496; Ders., „Wiener Universität und Hochschulen“, in: Wien 1938, Wien 1988 (= Katalog), 196 – 209; Josef

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dieser Phalanx (innerhalb derer interne Positionskämpfe nicht ausgeschlossen waren) waren u. a. auch die Vertreter und Anhänger des „verjudeten“ Neopositivismus, der liberalen Grenznutzenlehre, der Psychoanalyse und des Austromarxismus. Der Hintergrund für dieses konservative oder reaktionäre Klima war eine starke Akademikerarbeitslosigkeit und eine prekäre soziale Lage der Intellektuellen als Folge der latenten Weltwirtschaftskrise und der darauf reagierenden kompromisslosen Einsparungspolitik der Bürgerblockregierungen; eine Situation, die zu einem unerbittlichen Konkurrenzkampf und protektionistischen Verhalten universitärer pressure groups und männerbündischer Netzwerke führte. Als hervorstechende Elemente des ideologisch-aktionistischen Kulturkampfes auf den Universitäten erkennen wir einen in allen großen Parteien vorhandenen Deutschnationalismus, im bürgerlichen Lager einen starken Revisionismus als Reaktion auf die Friedensverträge und nicht zuletzt einen im Wesentlichen auf Naturrechtsposition basierenden „politischen Katholizismus“.17 Die Errichtung des austrofaschistischen Ständestaates brachte eine weitere Verschärfung für alle demokratisch gesinnten Kräfte und bedeutete insofern eine Änderung, als sich im Bereich der Hochschulen eine ÖsterreichIdeologie (vergeblich) gegen die „katholisch-nationale“ und „betont-nationale“ Koalition der Lehrenden und Studierenden durchzusetzen versuchte. Es war ein tragikomischer Ausdruck des aussichtslosen Lavierens des Dollfuß- und Schuschnigg-Regimes im Kräftespiel zwischen Mussolini und Hitler einerseits und der illegalen nationalsozialistischen Opposition andererseits, da man die ebenfalls verbotenen Organisationen der Arbeiterbewegung für am wenigsten

Hochgerner, Studium und Wissenschaftsentwicklung im Habsburgerreich. Studentengeschichte seit Gründung der Universität Wien bis zum Ersten Weltkrieg, Wien 1983; Günter Fellner, Ludo Moritz Hartmann und die österreichische Geschichtswissenschaft. Grundzüge eines paradigmatischen Konfliktes, Wien-Salzburg 1985 (= Veröffentlichungen des LudwigBoltzmann-Institutes für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften 15); Friedrich Stadler (Hg.), Kontinuität und Bruch 1938 – 1945 – 1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Wien-München 1988. 2. Auflage Wien-Berlin 2004 (1988/2004a); Brigitte Lichtenberger-Fenz, „Österreichs Universitäten 1930 bis 1945“, in: Stadler (Hg.) 1988/2004a, 69 – 82; Gernot Heiß, Siegfried Mattl, Sebastian Meissl, Edith Saurer und Karl Stuhlpfarrer (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 – 1945, Wien 1989; Helge Zoitl, „Student kommt von Studieren!“ Zur Geschichte der sozialdemokratischen Studentenbewegung in Wien, Wien-Zürich 1992; Kurt R. Fischer und Franz Wimmer (Hg.), Der geistige Anschluß. Philosophie und Politik an der Universität Wien 1930 – 1950, Wien 1993. 17 Ernst Hanisch, Die Ideologie des politischen Katholizismus in Österreich 1918 – 1938, WienSalzburg 1977; Ders., Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994; Klaus Jörg Siegfried, Klerikalfaschismus. Zur Entstehung und sozialen Funktion des Dollfuß-Regimes in Österreich. Ein Beitrag zur Faschismusdiskussion, Frankfurt am Main-Bern-Cicester 1979.

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koalitionsfähig hielt und der Antisemitismus weiterhin geduldet oder gepflegt wurde.18 Zur Untersuchung der Interaktionsprozesse zwischen gesellschaftlichem und akademischem Bereich bietet sich gleichsam als Fallstudie eine Analyse der Habilitations- und Berufungspraxis an. Hier wird nämlich der Zusammenhang zwischen politischen Standpunkten und den Kriterien dafür, was Wissenschaft und Philosophie eigentlich seien oder sein sollten, am deutlichsten sichtbar. Umgekehrt steht damit die gesellschaftliche Funktion eines bestimmten Wissenschafts- und Philosophiebegriffs zur Debatte.

Zur Stellung der wissenschaftsorientierten Philosophie Die in philosophiegeschichtlichen Darstellungen gelegentlich behauptete Dominanz einer empiristischen und sprachanalytisch orientierten „typisch österreichischen Philosophie“ an der Wiener Universität der Zwischenkriegszeit erscheint nach genauerer Analyse fraglich.19 Zu dieser Zeit wirkten an der Universität Vertreter verschiedenste Strömungen, wie zum Beispiel des deutschen Idealismus (insbesondere des Neukantianismus und Herbartianismus), der naturrechtlichen Scholastik, der christlichen Weltanschauungsphilosophie, des neoromantischen Universalismus. Fast alle diese Richtungen betrachteten die Philosophie als synthetisierende „Königin der Wissenschaft“. Es mögen zwar empiristische und sprachorientierte Elemente existiert haben; der gemeinsame Nenner war jedoch eine scharfe Abgrenzung der Philosophie von den empirischen Einzeldisziplinen einerseits und von der neuen Logik und Mathematik andererseits; einige Vertreter unternahmen auch Amalgamierungsversuche zwischen Wissenschaft und politisierender Weltanschauung. Ein wissenschaftssoziologisches Merkmal all dieser Richtungen war ihre akademische Institutionalisierung als „Schulphilosophie“.20 18 Sylvia Maderegger, Die Juden im österreichischen Ständestaat 1934 – 1938, Wien-Salzburg 1973; Kadrnoska (Hg.) 1981; Emmerich T‚los und Wolfgang Neugebauer (Hg.), „Austrofaschismus“. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934 – 1938, Wien 1984. 19 Grundlegende Darstellungen: Rudolf Haller, Studien zur österreichischen Philosophie. Variationen über ein Thema, Amsterdam 1979; Ders., „Gibt es eine österreichische Philosophie?“, in: Wissenschaft und Weltbild 3/1979, 173 – 181; Ders., Fragen zu Wittgenstein und Aufsätze zur österreichischen Philosophie, Amsterdam 1986 (= Studien zur Österreichischen Philosophie, 10); Heiner Rutte, „Positivistische Philosophie in Österreich“, in: Johann Christian Marek u. a. (Hg.), Österreichische Philosophen und ihr Einfluß auf die analytische Philosophie der Gegenwart, Bd. 1, Innsbruck-München-Salzburg-Graz-Gießen 1977 (=Conceptus, 28 – 30), 43 – 56. 20 Die Begründung dieses Terminus speziell bei Edgar Zilsel, „Soziologische Bemerkungen zur Philosophie der Gegenwart“, in: Der Kampf 23/1930, 410 – 424, und Philipp Frank, Das

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Wenn wir von einer innerphilosophischen Rezeptionsgeschichte der WienerKreis-Tradition zu einer konkret-historischen Analyse des gesamten philosophischen Lebens an der Wiener Universität übergehen, so lassen sich im Groben schon in der Zeit der Habsburgermonarchie zwei Richtungen unterscheiden, die während der Ersten Republik verstärkt hervortraten, wobei die Entwicklung letztlich zuungunsten der „wissenschaftlichen Philosophie“ ausschlug. Diese (sicherlich vereinfachende) Unterscheidung zweier Lager findet ihre Entsprechung auf politisch-weltanschaulicher Ebene: Während einerseits im Bereich wissenschaftlicher Philosophie eher demokratische (aufklärerische, liberale, sozialistische) Tendenzen dominierten, fallen verschiedene Gesinnungsformen vom neoromantischen Konservatismus bis hin zu totalitären Ideologemen in das Spektrum auf der anderen Seite. Es liegt nahe, die Frontstellungen der philosophischen Auseinandersetzungen auf die Topographie des damaligen Kulturkampfes abzubilden. Zum Beispiel scheint die Frage einer Untersuchung wert, welche objektive Funktion der antimetaphysische „Szientismus“ für die theoretische und ideologische Fundierung der Arbeiterbewegung (ihrem damaligen Selbstverständnis nach) hatte, da eine verwandtschaftliche Beziehung seit dem „Empiriokritizismus“ unbestreitbar ist. Dies wäre eine Ergänzung zu den bereits existierenden Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen politischem Katholizismus, Naturrecht und autoritären Ständestaatskonzeptionen, speziell zwischen Universalismus und Faschismus. Dabei müsste vor allem gezeigt werden, wie der Wiener Kreis mit seiner antimetaphysischen, aufklärerischen Philosophie in der dichotomen Kulturlandschaft als geistiges Ferment und Instrument neben vielen anderen Aufbruchsbewegungen in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zur sozialreformerischen Kulturbewegung stand. Umgekehrt war sein Selbstverständnis durch seine objektive Funktion als Entlarver totalitärer Ideen auch mit einem gewissen aufklärerischen Charisma verbunden. Doch ging diese gesellschaftliche Funktion nicht unmittelbar aus einer gemeinsamen philosophischen Plattform des Wiener Kreises hervor, sondern eher aus dem individuellen Selbstverständnis und Engagement einzelner Mitglieder sowie aus der Rollenzuteilung durch die zeitgenössischen Protagonisten. Inhaltliche Unvereinbarkeiten wurden somit durch gemeinsame Feindbilder kompensiert, und die Gemeinsamkeit des sozialen Standorts minimierte die kognitiven Widersprüche der Aussagensysteme. Andererseits diente eine spontane, kaum reflektierte partielle Aneignung rational-empiristischer Wissenschaft durch die österreichische Linke als ideologische Waffe gegen den faschistoiden Irrationalismus. Diese spezifische Liaison verdient, in ihrer Genese

Kausalgesetz und seine Grenzen, Wien 1932, Neuauflage, hg. von Anne J. Kox, Frankfurt am Main 1988.

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und Auflösung – in der Zweiten Republik wird eine gegenseitige Entfremdung erkennbar – genauer untersucht zu werden.21 Wenn wir das Fach Philosophie an der Wiener Universität betrachten22, so war von den insgesamt 22 Lehrern und Lehrerinnen der Philosophie (inklusive Psychologie) in der Zeit von 1918 bis 1938 der Logische Empirismus durch drei Personen vertreten: Moritz Schlick als Ordinarius von 1922 bis 1936, Rudolf Carnap als Privatdozent und Titularprofessor von 1926 bis 1931, Viktor Kraft als Privatdozent und Titularprofessor von 1914 bis 1938, während am Rande Friedrich Waismann von 1931 bis 1936 als wissenschaftliche Hilfskraft und Bibliothekar bei Schlick wirkte. Dies schlug sich auch in der Häufigkeit und Art der einzelnen Themenbereiche der Lehrveranstaltungen nieder : Am häufigsten wurde, sieht man von den philosophischen Übungen ab, in traditioneller Weise Geschichte der Philosophie gelehrt; eine Sparte, die zusammen mit Ethik auch die größten Hörerzahlen aufweisen konnte. Wenn man als Kriterium für „wissenschaftliche Philosophie“ nichts weiter verlangt als empirische Ausrichtung und wenn man die Vortragenden für Psychologie (Karl und Charlotte Bühler, Sigmund Kornfeld, Egon Brunswik), die mit dem Fach Philosophie verbunden waren, mit einbezieht, so ergibt sich eine Polarisierung der Lehrenden in zwei ungefähr gleich große Gruppen. Lässt man die Psychologie außer Betracht, so machen die Vertreter des Logischen Empirismus mit den ihnen verwandten Denkern (Heinrich Gomperz, Karl von Roretz, Emil Reich) nicht ganz ein Viertel aus (das Verhältnis der Stundenanzahl von Lehrveranstaltungen pro Semester ist günstiger). Zwar waren drei der vier Lehrkanzeln mit Schlick, Bühler und Gomperz besetzt, doch verzerrt diese Optik den tatsächlichen Einfluss und Wirkungsbereich der philosophischen Strömungen auf der gesamten Universität. Philosophisch relevant waren nämlich nicht nur die Lehrer des Fachs Philosophie, sondern auch eine Reihe anderer, im weitesten Sinne „philosophierender“ Dozenten anderer Disziplinen und Fakultäten, wie zum Beispiel Othmar Spann als Ordinarius für Nationalökonomie von 1918 bis 1938, oder eben der Privatdozent für Staatslehre, Rechtsphilosophie und Soziologie, Johann Sauter, der – als illegaler Nationalsozialist im Ständestaat – philosophische Einführungsvorlesungen für HörerInnen der Rechts- und Staatswissenschaften abhielt. Genauso wie Macht und Einfluss in historisch gewachsenen Institutionen 21 Zur Charakteristik dieser geistigen Verwandtschaft vgl. Ernst Glaser, Im Umfeld des Austromarxismus. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des österreichischen Sozialismus, WienMünchen-Zürich 1981; Friedrich Stadler, „Spätaufklärung und Sozialdemokratie in Wien 1918 – 1938. Soziologisches und Ideologisches zur Spätaufklärung in Österreich“, in: Kadrnoska (Hg.) 1981, 441 – 473. 22 Grundlegend für das Folgende: Alfred R. Wieser, Die Geschichte des Faches Philosophie an der Universität Wien 1848 – 1938, phil. Diss. Wien 1950, 158, 231, 235 ff.

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auch jenseits formaler Hierarchien wirksam sind, manifestiert sich die Philosophie nicht nur in dem für sie vorgesehenen institutionellen Rahmen, sondern auch – indirekt, unbewusst und verselbständigt – in den verschiedensten übrigen intellektuellen Bereichen und Disziplinen auf der Grundlage bestimmter gesellschaftlicher Prozesse, Verhaltensformen und Normensysteme. Eine genuin philosophische Institution war die „Philosophische Gesellschaft an der Universität Wien“, zugleich Ortsgruppe der deutschen Kant-Gesellschaft. Eine Durchsicht des Vortragsprogramms lässt den Schluss zu, dass in dem umfassenden Angebot aus den verschiedensten Disziplinen die Vertreter einer wissenschaftlichen Philosophie, trotz reger Publikationstätigkeit von Feigl, Hahn, Kraft, Juhos und Schlick, mit ungefähr einem Siebtel eine schwache Minorität darstellten.23 Eine ähnliche Streuung über verschiedene Disziplinen hinweg weisen die „Wiener Internationalen Hochschulkurse“ auf, unter deren Vortragenden sich als einziges Wiener-Kreis-Mitglied Moritz Schlick befand.24 Für die Akademie der Wissenschaften konnten sich als Mitglieder des Wiener Kreises der Mathematiker Hans Hahn (als korrespondierendes Mitglied) und der Philosoph Viktor Kraft (als späteres wirkliches Mitglied) qualifizieren. Die totale Absenz der naturwissenschaftlich orientierten Philosophie in der Akademie seit Mach und Boltzmann kann aber als Indikator für die einseitige philosophische Orientierung betrachtet werden. Dies zeigte sich nicht zuletzt im zweimal gescheiterten Versuch 1926 und 1927, den damals bereits international renommierten Moritz Schlick zum korrespondierenden Mitglied der Akademie zu machen. Beim zweiten Versuch teilte Schlick übrigens sein Schicksal mit keinem Geringeren als Karl Bühler.25

23 Robert Reininger (Hg.), 50 Jahre Philosophische Gesellschaft an der Universität Wien 1888 – 1938, Wien 1938, 21 – 43. 24 Wiener Internationale Hochschulkurse 1922 bis 1971, Wien o. J., 8, 14. 25 Dokumentation zur Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Bd. III: Die Mitglieder und Institutionen der Akademie, bearbeitet von L. Krestan, hg. von der Akademie der Wissenschaften, Wien 1972. Zu den gescheiterten Versuchen zur Wahl von korrespondierenden Mitgliedern der phil.-hist. Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien: der erste Antrag wurde 1926 von Hans von Arnim, Robert Reininger und Ludwig Radermacher eingebracht, der zweite 1927 von Ludwig Radermacher, Adolf Wilhelm und Hans von Arnim. (Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), Wahlvorschläge, Protokolle A0814 und A0824). Ich danke Stefan Sienell und Johannes Feichtinger von der ÖAW für die Mithilfe bei der archivalischen Erschließung dieser Dokumente. Zur jüngsten Aufarbeitung der Akademie in der NS-Zeit: Johannes Feichtinger, Herbert Matis, Stefan Siennell und Heidemarie Uhl (Hg.), Die Akademie der Wissenschaften in Wien 1938 bis 1945. Katalog zur Ausstellung. Wien 2013.

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Zur politischen Lage der Wiener Universität in der Ersten Republik Typisch für alle Universitäten war die hierarchische Organisationsform sowie die relativ stabile personelle Kontinuität der akademischen Gremien, was auch die personalpolitischen Entscheidungen mitbestimmte. Die Führung des damaligen Unterrichtsministeriums garantierte eine konservativ bis rechtsgerichtete Linie, denn die Ministerposten waren von 1920 bis 1938 durchgehend mit klerikal-konservativen, deutschnationalen oder pro-nazistischen Politikern besetzt.26 Die heftig diskutierte Hochschulautonomie entpuppte sich als zweischneidiges Schwert: Unter der Parole der akademischen Selbstbestimmung wurden nicht so sehr die neuhumanistisch-idealistischen Bildungsideale verteidigt als vielmehr die Privilegien und Standesinteressen einer weltanschaulich gebundenen Professorenschaft und militanten Studentenschaft mit dem verbindenden Ferment des Antisemitismus. Eine einseitige Handhabung der Habilitations- und Berufungsnorm sowie der ansteigend starke Antisemitismus trafen vor allem sozialdemokratische und liberale Bewerber.27 Hauptverantwortlich dafür war neben der übermächtigen „Deutschen Studentenschaft“ – einer Dachorganisation aller klerikalkonservativen und deutschvölkischen Studenten bis 1933 – die „Deutsche Gemeinschaft“28, ein aus katholischen, deutschnationalen Offizieren und Akademikern zusammengesetztes ideologisch-aktionistisches Bündnis zur Förderung des „Deutschtums“, besonders im Kampf gegen das sogenannte „anarchische Ungeradentum“, wie man meist jüdische Vertreter des Liberalismus und Marxismus bezeichnete. Die als Verein von 1919 bis 1930 organisierte Gruppierung – zu ihren Mitgliedern zählten beispielsweise Engelbert Dollfuß, Emmerich Czermak, Othmar Spann, Oswald Menghin, Alphons Dopsch, Rudolf Much – löste sich durch den Austritt der „Nationalen“ als Reaktion auf den Aufstieg des Cartell-Verbandes (CV) auf, doch blieb der Spann-Kreis weiterhin bis 1938 einflussreich.29 Die Anhänger dieses Ordinarius für Nationalökonomie, dessen neuromantisch-universalistische Staats- und Wirtschaftslehre der faschistischen Heimwehr sowie dem Ständestaat als ideologischer Überbau diente und von Spann selbst – allerdings ver26 In chronologischer Reihenfolge: Von 1920 bis 1933 Walter Breisky, Emil Schneider, Anton Rintelen, Richard Schmitz, Emmerich Czermak, Hans Schober, Heinrich von Srbik. Von 1933 bis 1938 Anton Rintelen, Kurt Schuschnigg, Hans Pernter. 27 Dazu entsprechende Zeitungsberichte: Der Tag, 16. 7. 1924; Arbeiterzeitung (AZ), 22. 10. 1924, 18. 6. 1924, 8. 12. 1925. 28 Wolfgang Rosar, Deutsche Gemeinschaft. Seyss-Inquart und der Anschluß, Wien 1971. 29 Alfred Diamant, Die österreichischen Katholiken und die Erste Republik. Demokratie, Kapitalismus und soziale Ordnung 1918 – 1934, Wien 1965; Klaus Jörg Siegfried, Universalismus und Faschismus. Das Gesellschaftsbild Othmar Spanns. Zur politischen Konzeption seiner Gesellschaftslehre und Ständekonzeption, Wien 1974, 69 f.; Rudolf Ebneth, Die österreichische Wochenschrift „Der christliche Ständestaat“, Mainz 1976, 76 f.

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geblich – als Fundament für den nationalsozialistischen Aufbau betrachtet wurde, waren auch politisch in der „Fachgruppe Hochschullehrer“ der Deutschen Gemeinschaft tätig.30 Die beispielsweise dort erstellte sogenannte „gelbe“ Proskriptionsliste der “Ungeraden Hochschulprofessoren“ vom Dezember 1925 erwähnt neben Carl Grünberg, Hans Kelsen und Sigmund Freud auch Moritz Schlick und, ebenfalls in diskriminierendem Zusammenhang, Otto Neurath.31 In weiteren Zusammenkünften der Deutschen Gemeinschaft wurde 1926 durch Spann, Much, Gleispach, Hugelmann, Czermak und Konsorten die Ernennung Max Adlers zum Ordinarius verhindert.32 Wie reagierten – angesichts dieser massiven Dominanz des rechtsbürgerlichen Lagers – die Angegriffenen (wenn wir von der durchaus verständlichen Möglichkeit des Rückzugs oder der passiven Resistenz absehen)? Wie schon erwähnt, waren linke Gruppierungen ebenso wie die freigeistig-liberalen Kräfte in der Minderheit, und ihre Politik blieb fast ohne Wirkung. Das betrifft sowohl die Studenten wie auch ihre professoralen Gesinnungsgenossen und die übrigen Hochschullehrer. Dieser Zustand war aber auch eine Folge einer falsch konzipierten, mehr auf Verbalradikalität aufgebauten Praxis – durchaus im Einklang mit dem allgemein-politischen Klima in der Ersten Republik.

Hans Hahn und die Vereinigung sozialistischer Hochschullehrer Es gab auch Ausnahmen: Hans Hahn entwickelte mehrere Jahre hindurch in seiner Funktion als Obmann der „Vereinigung sozialistischer Hochschullehrer“ und als Mitglied des Wiener Stadtschulrates eine bemerkenswerte, vorwiegend publizistische Tätigkeit, auch wenn er nicht die erhoffte Wirkung erzielen konnte. Vor allem plädierte er für die Gleichberechtigung aller Studierenden und Hochschullehrer sowie für demokratische Prinzipien in der Auseinandersetzung mit den Hochschulbehörden, die offenkundig die randalierende Deutsche 30 Siegert 1974. 31 Zu Grünberg, Kelsen und Freud in diesem Kontext: Österreichisches Staatsarchiv, Wien (ÖStA), Allgemeines Verwaltungsarchiv Wien (AVA), Unterrichtsministerium 1848 – 1940 (UMin.), Fasz. 755, Sign. 4C/1. Phil. Prof. 1922/23; Ulrike Migdal, Die Frühgeschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Frankfurt am Main-New York 1981; Rudolf A. M¦tall, Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien 1969; Robert Walter, „Hans Kelsens Emigration aus Österreich im Jahre 1930“, in: Friedrich Stadler (Hg.), (Hg.), Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Bd. 2, Wien-München 1988, 2. Auflage Wien-Berlin 2004, 463 – 473; Kurt R. Eissler, Sigmund Freud und die Wiener Universität: Über die Pseudo-Wissenschaftlichkeit der jüngsten Wiener Freud-Biographik, Bern-Stuttgart 1966. 32 Michael Siegert, „Warum Max Adler nicht Ordinarius wurde“, in: Neues Forum, November/ Dezember 1971, 30 f.

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Studentenschaft favorisierten und deren Ausschreitungen duldeten. Er protestierte zum Beispiel zusammen mit seinen Kollegen Ludo M. Hartmann, Julius Tandler und Carl Grünberg schon 1922 beim Rektor gegen einseitige Saalverbote sowie gegen Ausschreitungen gegen jüdische und sozialistische Studenten und Professoren.33 Seitens der rechten Kräfte wurde diese unbeugsame Haltung der demokratischen Hochschullehrerschaft mit Diffamierungskampagnen beantwortet. So z. B. im Jahre 1924, als einmal mehr von der antisemitischen DeutschÖsterreichischen Tageszeitung34 eine Liste von 200 jüdischen Hochschullehrern in Umlauf gebracht wurde, auf der neben Hans Hahn auch Felix Kaufmann erschien. Hahn forderte weiterhin uneingeschränkte Lehr- und Lernfreiheit, unentgeltlichen Unterricht, kostenlose staatliche Ausbildung und ein ausschließlich an wissenschaftlicher Leistung orientiertes Habilitationsverfahren mit obligatorischer Begründung jeder Ablehnung nach der Glöckel’schen Habilitationsnorm, da gegen eine Reihe sozialdemokratischer Hochschullehrer eine tendenziöse Personalpolitik praktiziert worden sei35. Der deutsch-völkische Rassismus wurde dadurch jedoch nicht im Geringsten eingedämmt, denn Hahns Name taucht unter 45 anderen Kollegen wiederum im Gefolge einer Denunziationskampagne auf.36 Der zu dieser Zeit gegründete „Verein für Sozialistische Hochschulpolitik“ blieb dagegen relativ wirkungslos.37 Eine Ausnahme bildete ein Artikel des Nationalökonomen Rudolf Goldscheid mit dem Titel „Die Pflanzstätten der Wissenschaft als Brutstätten der Reaktion“ (1926), der zum Abbruch der seit 1922 bestehenden „Wiener Internationalen Hochschulkurse“ durch die empörten Professoren führte. Eine Stimme gegen die Sistierung kam bemerkenswerter Weise von Schlick, der aus philosophisch-ethischen Gründen den Standpunkt vertrat, „man dürfe eine an sich gute Sache … nicht durch ein persönliches Moment gefährden“.38 Kritische Einwände von Hans Hahn, Hans Kelsen, Julius Tandler und Max Adler gegen antisemitische Ausschreitungen im Jahre 1927,39 die mit einer abermaligen Sperrung der Universität endeten, wurden von der Deutschen Studentenschaft – die mit Erlaubnis des Rektors eine Schießstätte auf dem Gelände der Hochschule errichten durfte – als „Wühlereien der judäo-marxistischen Hochschullehrer“40 bezeichnet. Als sich derselbe Rektor im Anschluss an die Juli-Ereignisse 1927 – mit einer Bilanz von 90 Toten, 33 AZ, 10. 6. 1922. 34 Deutsch-Österreichische Tageszeitung (DÖTZ), 23. 4. 1924. 35 Hans Hahn, „Lehr- und Lernfreiheit an den Hochschulen“, in: Die Wage, 10. 5. 1924, 312 – 318; Ders., „Lehr- und Lernfreiheit an den Hochschulen“, in: Kampf 17/1924, 169 – 175. 36 Flugblatt der Deutschen Studentenschaft, Wien 1925. 37 AZ, 28. 6. 1925. 38 Wiener Internationale Hochschulkurse 1922 bis 1971, o. J., 11 ff. 39 AZ, 15. 6. 1927. 40 ÖStA, AVA, Großdeutsche Volkspartei, 6700/307. DÖTZ, 16. 6. 1927.

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darunter 84 Zivilisten – berufen fühlte, in einem offiziellen Rundschreiben „zugunsten der Opfer des 15. Juli aus dem Stande des Polizeikorps“ zur Spende aufzurufen, antwortete Hahn postwendend im Namen seiner Vereinigung mit einer demonstrativen Spende an das Hilfskomitee der Sozialdemokratischen Partei und Gewerkschaft für die Opfer des 15. Juli, um damit seine Missbilligung des Vorgehens der Polizei zum Ausdruck zu bringen.41 Zwei Jahre später waren einmal mehr Flugblätter unter der Studentenschaft im Umlauf, in denen vor dem Besuch der Vorlesungen von Bühler, Kelsen, Tandler und Freud gewarnt wurde.42 Im selben Jahr griff die Deutsche Studentenschaft ihr Lieblingsthema „Rasse und Wissenschaft“ wieder auf und wetterte aus Solidarität mit den deutschen Professoren gegen die „fortschreitende Verjudung der Hochschulen durch den Geist des fluchbeladenen Liberalismus“.43 Unter den 200 angeführten Professoren befanden sich Felix Kaufmann, Karl Menger und (wie gesagt: der nichtjüdische) Moritz Schlick.

Die Universität im Übergang zum „Ständestaat“ Die 1930 unter dem pro-nazistischen Rektor Wenzel Gleispach erlassene Studentenordnung nach „Nationen“ zum Zwecke der Diskriminierung jüdischer Studierender und der Protegierung der Deutschen Studentenschaft stellte einen vorläufigen negativen Höhepunkt der rassistischen Hochschulpolitik dar.44 Diese wurde im Juni 1931 vom Verfassungsgerichtshof aus formalen Gründen aufgehoben. Die aus Protest der rechtsradikalen Studentenschaft provozierten Ausschreitungen zogen die Sperrung aller Wiener Hochschulen nach sich.45 Ein Jahr darauf unternahm Unterrichtsminister Emmerich Czermak noch einmal den Versuch, diese Studentenordnung nach „Volksbürgerprinzip“ durchs Parlament zu bringen, was jedoch wegen außen- und innenpolitischer Hürden scheiterte. Die blutigen nationalsozialistischen Schlägereien eskalierten bis zur Auflösung der Deutschen Studentenschaft und führten zum Erlass neuer Disziplinarordnungen im Zuge der Installierung des austrofaschistischen Systems in den Jahren 1933 und 1934.46 41 42 43 44

AZ, 1. 10. 1927. AZ, 10. 10. 1929. DÖTZ, 13. 10. 1929. Brigitte Fenz, „Zur Ideologie der ›Volksbürgerschaft‹. Die Studentenordnung der Universität Wien vom 8. April 1930 vor dem Verfassungsgerichtshof“, in: Zeitgeschichte 4/1978, 125 – 145. 45 DÖTZ, 24. 6. 1931. 46 Weinzierl 1969, 18 ff., und Brigitte Lichtenberger-Fenz, „ … Deutscher Abstammung und Muttersprache“. Österreichische Hochschulpolitik in der Ersten Republik, Wien-Salzburg 1990.

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Im „Ständestaat“ wurden sofort gesetzliche Grundlagen zur Beseitigung demokratischer Rechte zum Zwecke der Ausschaltung „staatsfeindlicher Elemente“ geschaffen.47 Dazu gehörten beispielsweise eine sofortige Änderung der Habilitationsvorschrift, die nun Personalentscheidungen ohne Angaben von Gründen vorsah, sowie eine Ermächtigung des Unterrichtsministeriums, im Wege von Organisations- oder Einsparungsmaßnahmen nonkonforme Professoren und Assistenten ohne besonderes Verfahren in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen. Im Juni 1935 beschloss der Bundeskulturrat ein Hochschulerziehungsgesetz für die Gleichschaltung im Sinne des „neuen Österreich“ mit obligaten Vorlesungen zur weltanschaulich-staatsbürgerlichen Erziehung, vormilitärischen Übungen und Hochschullagern. Die Krise der Wissenschaft an den „Hochschulen im neuen Staate“ wurde mit dem Einfluss des Liberalismus in Zusammenhang gebracht, besonders weil dieser den Gegensatz von Wissenschaft und Weltanschauung betone.48 Um über eine Legitimation für die eigene antidemokratische Politik zu verfügen, musste man also eine ohnehin marginalisierte Strömung zum Feindbild stilisieren. Der Gegner an der Universität war die „positivistische“, weil „voraussetzungslose“ Weltanschauung, die positive Methode der Naturwissenschaft als Konterpart einer „einheitlichen Idee“ und eines Glaubens an einen führerorientierten Geist. Die Konformität der Hochschule sollte durch eine allumfassende Weltanschauung, einen einheitlichidealistischen Wissenschaftsbegriff nach mittelalterlichem Vorbild sowie durch die gemeinsame metaphysische „Grundwissenschaft“ Philosophie garantiert werden.

Zur Berufung von Moritz Schlick im Jahre 1922 Die Vorgänge um die Berufung von Moritz Schlick auf den ehemaligen Lehrstuhl Ernst Machs und Ludwig Boltzmanns für Philosophie der induktiven Wissenschaften lassen bereits einige charakteristische Elemente der geistigen Atmosphäre erkennen. In jenem Jahr führten die vom Rektorat insgeheim gebilligten Studentenkrawalle zur Schließung der Hochschulen, und in der Presse wurde ernsthaft die Frage diskutiert, ob die wissenschaftliche Leistung oder die Abstammung für Habilitationen ausschlaggebend sein solle.49 Es war Hans Hahn, seit 1921 Ordinarius für Mathematik, der gegen den Widerstand der Vertreter der traditionellen Philosophie in der großteils konservativen Professorenschaft eine Unterschriftenaktion zugunsten der Berufung von Moritz Schlick initiierte. 47 Die Presse, 8. 8. 1934; Wiener Neueste Nachrichten, 28. 5. 1934. 48 Anton Julius Walter, Die Hochschulen im neuen Staate, Wien 1936, 10 ff., 18, 26. 49 Der Morgen, 11. 12. 1922.

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Für die insgesamt drei verwaisten Ordinariate der Philosophie kristallisierten sich nach längeren Verhandlungen aus einer Reihe in- und ausländischer Bewerber für die Lehrkanzel „Naturphilosophie“ die Liste Schlick, Alfred Brunswig, Hans Pichler, für die Lehrkanzel „Psychologie“ Karl Bühler und für die Lehrkanzel „Geschichte der Philosophie“ Robert Reininger heraus.50 Daraufhin wurden der Volksbildner Emil Reich – der seit 1890 als Privatdozent und außerordentlicher Professor praktische Philosophie und Ästhetik lehrte – und der Botaniker Richard von Wettstein, die beide für Schlick plädiert hatten, vom Professorenkollegium befragt, ob Schlick jüdischer Abstammung sei.51 Nachdem die Einführung dieses für das Berufungsverfahren bezeichnenden Qualifikationskriteriums offensichtlich nicht die erhoffte Wirkung erzielte, weil Schlick eben nichtjüdischer Abstammung war, erstellten der Altgermanist Rudolf Much und der Historiker Alphons Dopsch gegen die zur Debatte stehenden Berufungsvorschläge ein Memorandum mit der Begründung, dass die Ernennung von Vertretern zweier philosophischer Sonderdisziplinen (gemeint waren Naturphilosophie und Psychologie) den Bedürfnissen der Universität entgegenstehe, da „die Jugend im Sinne einer idealistischen Weltauffassung zu führen“ sei.52 Außerdem – so die beiden weiter – benötige man „Vertreter von Gesamtgebieten … in viel weiterem Umfang als Machs Gedankenkreis“. Sie forderten vehement einen österreichischen Anwärter und schlugen den ohnehin nominierten, „alles überragenden“ Reininger vor. Dieser Antrag wurde auch von Alois Höfler unterstützt, der Schlick eher als Ordinarius für Physik geeignet hielt. Absicht dieser Initiative war es offenbar, die durch die früheren drei Lehrkanzeln garantierte Vielfalt mittels Zusammenlegung und alleinige Besetzung mit Reininger zu reduzieren. Nachdem trotz aller Widerstände Reininger, Bühler und Schlick – er wurde im Kommissionsbericht immerhin als „origineller und selbständiger Denker“ eingestuft – berufen worden waren, gab man im gleichen Zuge der Hoffnung Ausdruck, mit Schlick nicht jene Erfahrungen machen zu müssen, die man mit Mach gemacht habe, der stets Physiker bleiben wollte – ähnlich wie Boltzmann, der einmal die akademische Schulphilosophie als eine Art von schlechtem Sport bezeichnet hätte.53 Diese wenigen Episoden bestätigen den prinzipiellen Vorbehalt gegen eine antispekulative, die Methoden moderner Naturwissenschaft, Logik und Mathematik berücksichtigende Philosophie sowie den institutionell manifesten Antisemitismus in seiner Funktion als soziale Kontrollinstanz und ideologische Waffe gegen Andersdenkende. 50 Wieser 1950, 48 ff. 51 Zehetner 1972, 50. 52 ÖStA AVA, UMin., Unterrichtsamt 1922, 4C, Nr. 391, Abt. 2; Universitätsarchiv Wien (UA), Personalakt (PA) Moritz Schlick Z. 531. 53 Wieser 1950, 51; Engelbert Broda, Ludwig Boltzmann. Mensch, Physiker, Philosoph (Geleitwort von H. Thirring), Wien 1955, 87 – 93.

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Der gescheiterte Habilitationsversuch von Edgar Zilsel 1923/24 In diesem Zusammenhang ist eine Analyse des gescheiterten Habilitationsversuchs von Edgar Zilsel aufschlussreich, weil sie neben dem latenten Antisemitismus auch die Frage nach dem genuinen Gegenstandsbereich der Philosophie aktualisiert.54 Zilsel, der um die Erteilung der venia legendi für das Gesamtgebiet der Philosophie ansuchte, legte neben physikalischen, naturphilosophischen und philosophiedidaktischen Arbeiten sein Buch über die Geniereligion sowie als Habilitationsschrift die zweiteiligen Beiträge zur Geschichte des Geniebegriffs vor.55 Die Habilitationskommission (Reininger, Bühler, Schlick, Meister, Gomperz, Schlosser, Wegscheider, Ehrenhaft) teilte Zilsel über Schlick und Gomperz mit, er solle, besonders wegen des Fehlens einer naturphilosophisch-erkenntnistheoretischen Arbeit, sein Ansuchen zurückziehen, da er wahrscheinlich keine Mehrheit in der Fakultät erhalten werde.56 Dieses Ansinnen lehnte der kompromisslose Zilsel mit der Begründung ab, dass er seine Interessenrichtung nicht durch fremde Erwägungen beeinflussen lassen wolle und das Ergebnis seiner achtjährigen Arbeit seiner Meinung nach wissenschaftlicher Kritik durchaus standzuhalten vermöge.57 Nachdem Reininger die Habilitationsschrift als philosophisch ungenügend bezeichnet hatte und der Pädagogik-Ordinarius Richard Meister fundamentale Fehler entdeckt zu haben glaubte (unter anderem, dass „alles auf das Wirtschaftliche zugeschnitten“ sei),58 Schlick und Gomperz aber für Zilsel stimmten, wurde das Einholen eines Gutachtens besonders im Hinblick auf die Qualifikation als Lehrer der Philosophie beschlossen. Zuvor hatten die bereits genannten zwei Mitglieder der achtköpfigen Kommission der Habilitationsschrift jede Bedeutung als philosophische Fachschrift abgesprochen, wenn auch dieselbe Kommission gegen die persönliche Eignung des Bewerbers nichts einzuwenden hatte.59 Obwohl die angeforderten Gutachten von Adolf Dyroff und Heinrich Scholz noch nicht eingetroffen waren, wurde das Gesuch einer weiteren Beratung zugeführt, was auch durch die Philosophische Fakultät bestätigt wurde.60 In einem Brief an den Dekan vom 3. Juni 1924 gab Zilsel jedoch den Rückzug seines Gesuches bekannt (also trotz der 54 UA, PA Edgar Zilsel. 55 Ebd., Zilsel an die Professoren der Philosophischen Fakultät (Phil. Fak.), 10. 6. 1923. Seine übrigen Arbeiten waren: „Bemerkungen zur Abfassungszeit und zur Methode der Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ (1913); Das Anwendungsproblem (1916); Die Geniereligion (1918); „Versuch einer Grundlegung der statistischen Mechanik“; „Der einführende Philosophieunterricht an den neuen Oberschulen“ (1921). 56 UA, PA Zilsel, Schlick an Dekan, 22. 2. 1924. 57 Ebd., Zilsel an Schlick, 23. 2. 1924. 58 Ebd., Protokoll, 6. 3. 1924. 59 Ebd., Dekanat, Phil. Fak., 10. 3. 1924 und Kommissionsbericht, 19. 3. 1924. 60 Ebd., Protokoll, 19. 3. 1924.

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Tatsache, dass die Mehrzahl der Kommissionsmitglieder den „wissenschaftlichen Wert“ seiner Arbeit anerkannt hatte), da er sich außerstande sah, weitere „philosophische Schriften im engeren Sinne“ vorzulegen. Damit wurde die den Beurteilungskriterien zugrundeliegende Divergenz zwischen Philosophie und Wissenschaft schriftlich dokumentiert. Das später eingelangte positive Gutachten von Ernst Cassirer, der „den günstigsten Eindruck“ hatte, war gegenstandslos geworden.61 Abschließend schrieb Zilsel zur Begründung seiner Motivationen und seiner wissenschaftlichen Intentionen noch einmal an den Dekan, er habe sich der Philosophie „nicht etwa von literaturgeschichtlicher Seite zufällig genähert, sondern … natur- und geschichtsphilosophische Darstellungen an physikalischen und geisteswissenschaftlichen Tatbeständen zu entwickeln versucht, in der Meinung, der Philosophie dadurch besser zu dienen, als durch ihre enge Abgrenzung gegen den fruchtbaren Boden der Einzelwissenschaften“.62 Zilsel hielt es ferner für unwahrscheinlich, dass er „die Arbeitsmethoden von Grund auf ändern werde“.63 Über die philosophische Relevanz von Zilsels Habilitationsschrift mag man geteilter Meinung sein, denn sie ist nicht eindeutig in das Schema des klassischen philosophischen Kanons einzuordnen. Diese Vorgänge zeigen aber eindeutig eine Ablehnung eines naturwissenschaftlich und soziologisch ausgerichteten Philosophiebegriffs, wobei der gängige Philosophiebegriff als Beurteilungsnorm vorgegeben wird. Auch die Nichtberücksichtigung der Tatsache, dass Zilsel zur Zeit seines Gesuches64 bereits Vorlesungen über Ethik, Naturphilosophie, Erkenntnistheorie und Geschichte der Philosophie (unter anderem über Kant) an Volkshochschulen und am Pädagogischen Institut der Stadt Wien hielt, erhärtet den Verdacht der Existenz von Motiven, die in weltanschaulichpolitischen Differenzen und in einem unterschiedlichen Wissenschaftsverständnis lagen.

Die Ernennungen von Hans Eibl und Viktor Kraft im Jahre 1924 Auch das Unterrichtsministerium griff, unterstützt von der Mehrheit der Professorenschaft, massiv in die personellen Entscheidungen ein. Zur selben Zeit kursierten wiederum Listen über die „Rassezugehörigkeit“ von Hochschullehrern. Nach dem Tod des außerordentlichen Professors für Pädagogik mit Einschluss der Geschichte der Philosophie, Wilhelm Jerusalem, kamen als Nach61 62 63 64

Ebd., Ernst Cassirer an Dekan, 1. 7. 1924. Ebd., Zilsel an Dekan, 3. 6. 1924. Ebd. UA, PA Zilsel, Zilsel an Dekan, 3. 11. 1924.

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folger die beiden Privatdozenten Hans Eibl und Viktor Kraft ins Gespräch.65 Eibl, dessen philosophisches Interesse im Bereich der Patristik und Scholastik lag, avancierte in der nachfolgenden Zeit zu einem „Brückenbauer“ zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus in den Reihen der sogenannten „Katholisch-Nationalen“ (zusammen mit Josef Eberle, Edmund von Glaise-Horstenau, Oswald Menghin, Karl Gottfried Hugelmann, Othmar Spann). So beklagte er zum Beispiel die „geschichtliche Schuld der Juden am Bolschewismus“, setzte sich für die Revision der Versailler Friedensverträge ein und bekundete seine Sympathie für den Nationalsozialismus durch ein Engagement für ein „gemeinsames christlich-humanistisches“ Programm sowie für ein Konkordat zwischen Hitler und dem Vatikan.66 Er hatte in Wien klassische Philologie und Philosophie studiert und war vor dem Ersten Weltkrieg als Gymnasiallehrer tätig gewesen. Zu Beginn des Krieges habilitierte er sich mit seiner Arbeit Metaphysik und Geschichte, hielt aber erst seit 1921 Vorlesungen über antike und mittelalterliche Philosophie sowie Weltanschauungsfragen. Außerdem gab er bis 1938 propädeutischen Philosophieunterricht für Realschulabsolventen.67 Das Professorenkollegium sprach sich im Einverständnis mit dem Unterrichtsministerium für die Berufung Eibls zum außerordentlichen Professor (bei gleichzeitiger Verleihung des Titels eines außerordentlichen Professors an Kraft) aus, weil Eibl eine Philosophie vertrete, „die auf der Universität gesucht wird“. Daraufhin erstellten einige Professoren, unter ihnen Schlick und Reich, aus Protest gegen das Eingreifen des Unterrichtsministeriums in die Hochschulautonomie ein Minoritätsvotum mit folgender Begründung: Eibl sei kein Spezialist für Geschichte der Philosophie, sondern zeige vorwiegend Interesse für religiös-metaphysische Probleme; außerdem würden von den fünf Professoren ohnehin schon zwei vorwiegend Geschichte der Philosophie lesen. Ganz abgesehen davon würden auch die Theologen Patristik lehren, „mancher in freierer Haltung als Eibl“. Dieses Votum wurde von der Fakultät abgelehnt, der Vorwurf des ministeriellen Eingriffs in die Hochschulautonomie zurückgewiesen. Eine Kommission (Arnim, Bühler, Ehrenhaft, Hauler, Meister, Reich, Reininger, Schlick) beschloss nochmals mehrheitlich folgende Anträge für die Fakultät: Eine abermalige Beratung der Causa Eibl vs. Kraft, eine vorangehende Ernennung von Heinrich Gomperz, sowie die Vertagung der ganzen Angelegenheit. Die Fakultät lehnte den Vertagungsantrag ab, eine Abstimmung brachte eine relative Mehrheit für Eibl und einen Vorschlag zur Ernennung von Heinrich Gomperz zum Ordinarius für Geschichte der Philosophie. Mit dieser Berufung Eibls (man 65 ÖStA AVA, UMin. 1924, Reg. 4, Fasz. 629, Philos. Lehrkanzeln. 66 Erika Weinzierl-Fischer, „Österreichs Katholiken und der Nationalsozialismus“, in: Wort und Wahrheit, 425/1963, 435 ff.; 502, 505 ff. 67 Walter 1936; Die Presse, 8. 8. 1934; Wiener Neueste Nachrichten, 8. 5. 1934.

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wollte ihn in Wien unbedingt halten, da er zum außerordentlichen Professor für Geschichte der Philosophie in Prag vorgeschlagen worden war) gab es trotz finanzieller und wirtschaftlicher Schwierigkeiten an der Philosophischen Fakultät vier Lehrer (Reininger, Gomperz, Roretz und eben Eibl), die Geschichte der Philosophie lehrten. Der Fall Eibl/Kraft (letzterer erhielt 1924 nur den Titel eines außerordentlichen Professors) dokumentiert somit in nuce die Präferenz des Unterrichtsministeriums und der Mehrheit der Professorenschaft an der Philosophischen Fakultät für eine scholastische Weltanschauungsphilosophie als Alternative zur wissenschaftlichen Philosophie des Wiener Kreises.

Die Lehrkanzelbesetzung nach Heinrich Gomperz im Jahre 1934 Die endgültige Installierung des Austrofaschismus nach dem Februar 1934 schlug sich auch auf die Hochschulen nieder, und zwar durch eine gesetzlich abgesicherte Umorganisierung im Sinne der Österreich-Ideologie gegen alle „liberalistischen und individualistischen Tendenzen“ – zusammen mit einer gezielten Sparpolitik. Gegenüber der mächtigen „nationalen Opposition“ (darunter die Hochschullehrer Hugelmann, Eibl, Spann, Nadler und Srbik) und den illegalen Nationalsozialisten war allerdings eine defensive Bildungspolitik vorgezeichnet.68 Einer der ersten Betroffenen war Heinrich Gomperz,69 wobei in unserem Kontext vor allem der nachfolgende, für den „Ständestaat“ exemplarische Berufungsvorgang interessiert.70 Als Ersatz für den wegen Illoyalität zum DollfußÖsterreich vorzeitig in den Ruhestand versetzten Gomperz – sein Ordinariat wurde nach außen hin in ein Extraordinariat umgewandelt, um Einsparungen vorzutäuschen – war von staatlicher Seite der 1933 aus Deutschland emigrierte antinazistische christliche Philosoph Dietrich von Hildebrand vorgesehen. Hildebrand hatte vor dem Krieg in Deutschland Philosophie studiert, hatte sich 1918 in München habilitiert und dort bis 1933 als Privatdozent gewirkt. Vor seinem Ruf nach Wien war er Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät in Salzburg.71 Er vertrat eine personalistische Philosophie und Ethik. Politisch wandte er sich gegen jede Art eines Kollektivismus von Links und Rechts: Na68 Adam Wandruszka, „Österreichs politische Struktur. Die Entwicklungen der Parteien und politischen Bewegungen“, in: Heinrich Benedikt (Hg.), Geschichte der Republik Österreich, Teil 2, Wien 1954, 414. 69 Heinrich Gomperz, Philosophical Studies, hg. von Daniel S. Robinson, Boston 1953; Topitsch 1967; Martin Seiler und Friedrich Stadler (Hg.), Heinrich Gomperz, Karl Popper und die österreichische Philosophie. Amsterdam 1994. 70 Ebneth 1976, 39 f.; ÖStA AVA, UMin., 13 f. 4U, 20. 2. 1934. 71 Wieser 1950, 225 f.

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tionalsozialismus und Bolschewismus waren gleichermaßen seine Gegner. Daneben bejahte er in „Ausnahmezuständen“ ein autoritäres System und plädierte für den Typus eines „österreichischen Menschen“. Genauso wie seine Zeitschrift Der christliche Ständestaat kämpfte er gegen die antisemitischen Propheten des „katholischen Nationalismus“ im christlichen Lager, zum Beispiel gegen Spann, Eibl, Bischof Alois Hudal sowie gegen Josef Eberles Wochenzeitschrift Schönere Zukunft72– ja auch gegen die Reichspost, weshalb er heftige Kritik erntete und immer weiter isoliert wurde.73 Nach dem „Anschluß“ gelang ihm nach abenteuerlicher Flucht die Emigration in die USA. Die „katholisch-national“ dominierte Berufungskommission mit ihrem Wortführer Heinrich von Srbik hielt diesen Vorschlag als „wissenschaftlich“ nicht vertretbar und empfahl die Reihung Alois Dempf, Viktor Kraft und Karl von Roretz. Dempf hatte sich in Bonn als Privatdozent habilitiert und wurde dort 1933 Titularprofessor bis zu seinem späteren Ruf als Ordinarius nach Wien im Jahre 1937. Sein philosophisches Interesse galt der mittelalterlichen christlichen Philosophie, der Ethik und Kulturphilosophie.74 Politisch-weltanschaulich war er ein konservativer Denker, jedoch als überzeugter Katholik in klarer Abgrenzung zum Nationalsozialismus, weshalb er auch 1938 beurlaubt wurde.75 Karl von Roretz hatte Jus, Medizin und Philosophie studiert und war von 1922 an Privatdozent für Geschichte der Philosophie, daneben aber auch als Kustos in der Nationalbibliothek tätig. Er vertrat einen antimetaphysischen Positivismus in Anlehnung an Mach und beschäftigte sich neben der Erkenntniskritik mit kulturpsychologischen und kulturphilosophischen Problemen.76 Als Kompromiss billigte die Berufungskommission die Aufnahme Hildebrands in den Lehrkörper. Diesem Vorschlag wurde bezeichnenderweise hinzugefügt, dass Hans Eibl ohnehin ein „allgemein anerkannter Vertreter christlicher Weltanschauung“ sei, was seine Rangerhöhung zum Ordinarius rechtfertigen würde. Trotz all dieser Widerstände wurde Hildebrand Ende 1934 von Kurt Schuschnigg zum außerordentlichen Professor berufen, musste aber bei seinem Vorlesungsbeginn gegen die Störversuche deutschnationaler Studenten Polizeischutz anfordern. Dempf wurde als Ausländer abgelehnt, auch Kraft und Roretz fielen durch. Beide wurden zwar als tüchtige Gelehrte, jedoch für das Spezialgebiet „Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Weltanschauungslehre“ im Vergleich zu Hildebrand, der in „wissenschaftlicher Hinsicht einen sehr guten Ruf habe“, als weniger geeignet bezeichnet. Nun ist zwar die 72 Peter Eppel, Zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Die Haltung der Zeitschrift „Schönere Zukunft“ zum Nationalsozialismus in Deutschland 1934 – 1938, Wien-Köln-Graz 1980. 73 Ebneth 1976, 76 f., 100 – 106. 74 Wieser 1950, 228 ff. 75 ÖStA AVA, UMin., fasc. 761, 4LL, 17. 8. 1938. 76 Franz Austeda (Hg.), Karl Roretz, Ziele und Wege philosophischen Denkens, Wien 1976.

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Begründung der Ablehnung von Kraft und Roretz inhaltlich plausibel und entspricht einer realistischen Einschätzung der Bewerber, wenn man den Begriff der Weltanschauungslehre tatsächlich als Kriterium heranzieht. Gleichzeitig wird damit aber auch die Marginalisierung exakten Philosophierens jenseits der Theologie deutlich und einmal mehr ein politisch-weltanschaulich bedingter Wissenschaftsbegriff manifest.

Die Lehrkanzelbesetzung nach Moritz Schlick im Jahre 1937 und der Abschied Karl Mengers Nach der Ermordung Moritz Schlicks, die für die Presse mit wenigen Ausnahmen Anlass für eine massive antisemitische und antipositivistische Diffamierungskampagne war,77 kam die Berufungskommission für die Neubesetzung der Lehrkanzel im Jahre 1937 (Bühler, Knoll, Koppers, Meister, Mewaldt, Praschniker, Reininger, Srbik, Thirring, Versluys und Winkler) sehr rasch zu der Ansicht, dass keine für die Nachfolge in Frage kommende Persönlichkeit vorhanden sei (!).78 Ferner wurde programmatisch bekräftigt, „daß die Geschichte der Philosophie die eigentliche Substanz und wesentlichste Aufgabe des Philosophieunterrichts zu bilden hat“, was die Liquidation des seit Mach bestehenden Lehrstuhls für Naturphilosophie bedeutete. Diese nicht mehr überraschende Erklärung über Art und Aufgabe der Philosophie als Universitätsfach war wieder auf Hans Eibl zugeschnitten, obwohl auch Heinrich Gomperz noch zur Disposition stand. Der Dreiervorschlag lautete schließlich Eibl, Dempf und Friedrich Kainz. Kainz war seit 1925 Privatdozent und las vornehmlich über Sprachphilosophie und -psychologie.79 Zugunsten Eibls, den der deutsche Botschafter von Papen zu seinen Anhängern zählte, intervenierte der für seine Vision eines nationalsozialistischen Staates im katholischen Geiste streitende Bischof Alois Hudal in Rom, um auf Schuschnigg Druck auszuüben.80 Diese Bemühungen blieben jedoch ohne Erfolg, denn schließlich wurde Alois Dempf als Nachfolger für Schlick berufen, weil er als überzeugter Katholik der Österreich-Ideologie eher entsprach als der politisch agierende, mit dem Nationalsozialismus koalierende Eibl. Dies wird im Wesentlichen ein Jahr später, nach dem „Anschluß“, von Eibl selbst in einem von Unterrichtsminister Menghin befürworteten Brief an den Reichsstatthalter Seyß-Inquart bestätigt.81 Darin ersuchte Eibl – im Sinne 77 78 79 80 81

Vgl. Der Christliche Ständestaat, 8. 6. 1936 und 19. 7. 1936. ÖStA AVA, UMin., B, 1937, 4CL. Wieser 1950, 218 f. Weinzierl-Fischer 1963, 498. ÖStA AVA, UMin., fasc. 761, 1937/38, 4C1, 25. 4. 1937, Zl. 12309-i/1.

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einer „Wiedergutmachung“ – um Verleihung der vom Professorenkollegium zweimal vorgeschlagenen Professur. Seine Begründung spricht für sich, ebenso wie für den Geist der „Katholisch-Nationalen“: Nachdem sich Eibl beklagt, dass er vom Schuschnigg-Regime wegen seiner nationalen Haltung übergangen worden sei und dass daher gerade vom Standpunkt des Großdeutschen Reiches seine Ernennung zum Ordinarius ein Akt der Gerechtigkeit sei, zumal er allen Anforderungen zur Mitarbeit von nationalsozialistischer Seite aus Überzeugung Folge geleistet habe, rühmt er sich, er habe, „als nach dem unglücklichen Juli 1934 die Stimmung in unseren Kreisen gedrückt war, … durch Vorträge vor der NS-Studentenschaft, insbesondere durch einen Vortrag vor dem erweiterten Stabe der SS-Standarte 89 über das Dritte Reich und die Staatskunst des Führers … den Mut und den Glauben an die Zukunft neu belebt“.82 Nach der Annexion Österreichs durch Hitler-Deutschland, die von einem Großteil der Hochschullehrer, die jahrelang ideologische Vorarbeit für den Faschismus geleistet hatten, freudig oder mit Genugtuung begrüßt worden war, wurden die letzten Spuren des Logischen Empirismus getilgt. So bitter der Zwang zur Emigration, zur Pensionierung oder zum Rückzug für die Wiener-Kreis-Mitglieder war, er kam nicht sehr überraschend. Dramatisch aber war die Ernüchterung bei denjenigen Austrofaschisten, die sich jahrelang auch aus naiv-illusorischen Motiven für eine Fraternisierung zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus eingesetzt hatten und ihre Vorstellungen und Hoffnungen sehr bald durch die herbeigesehnten „Befreier“ enttäuscht sahen. Angesichts der weltberühmten Wiener Mathematik ist es bemerkenswert, dass es außer Hans Hahn weder Karl Menger noch dem genialen Kurt Gödel wie zuvor Kurt Reidemeister gelungen war, in Wien eine ordentliche Professur zu bekommen. Außerdem wurde auch bei den mathematischen Lehrkanzeln eine konsequente Einsparungspolitik betrieben: Die dritte Lehrkanzel wurde nach dem Tode Hans Hahns 1935 aufgelassen und ein Antrag auf Wiederbesetzung im Jahre 1937 abgelehnt. Stattdessen errichtete man wie im Fall Hildebrand ein Extraordinariat.83 Charakteristisch ist auch die Tatsache, dass die Bekanntschaft Mengers und Gödels mit Hahn Anlass zu antisemitischen Aspirationen bei der Überprüfung der „patriotischen Integrität“ der beiden Mathematiker gab.84 Schließlich scheiterte Menger – trotz massiver Unterstützung durch Schlick – im Jahre 1936 bei dem Versuch, die Lehrkanzel in der Nachfolge Wirtingers zu erlangen, worauf er Österreich enttäuscht verließ und vor dem „Anschluß“ in die USA ging.85 Den Lehrstuhl bekam der damalige illegale Nationalsozialist Karl 82 83 84 85

Ebd., 3. 5. 1938. UA, Dek. Phil. Fak., Zl. 410, 1936/37. UA, PA Karl Menger und Kurt Gödel. Karl Menger, Reminiscences of the Vienna Circle and the Mathematical Colloquium, hg. von L. Golland, B. McGuinness und A. Sklar, Dordrecht-Boston-London 1994.

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Mayrhofer, der – nach einer kurzen Absenz im Zuge der Entnazifizierung – auch in der Zweiten Republik wiederum wissenschaftlich wirken durfte.86 Mengers Schicksal war symptomatisch für die gesamte Wiener Mathematik, die spätestens mit der nationalsozialistischen Machtergreifung zerstört wurde.87

Entlassung Friedrich Waismanns Wenige Monate vor seiner Ermordung stemmte sich Schlick gegen den antisemitischen Zeitgeist, als er vehement gegen die Entlassung seines Mitarbeiters und Bibliothekars Friedrich Waismann protestierte.88 Als prononcierter Gegner des Nationalsozialismus hatte er noch 1933 mit einer gewissen politischen Naivität den „Ständestaat“ als Bollwerk gegen Hitler-Deutschland betrachtet. Daher unterstützte er auch Dietrich von Hildebrand, mit dem er trotz inhaltlicher Differenzen eine sehr gute persönliche Beziehung pflegte, gegen die deutschnationale Professorenschaft.89 Wie fatal und illusorisch der Appell des liberalen Schlick war, zeigte sich schon im Zusammenhang mit seinem Protest gegen den antisemitischen und antipositivistischen Kurs des Unterrichtsministeriums. In einem dieser Schreiben an das Ministerium deutete Schlick zum letzten Mal seine Situation an der Universität an:90 So verwies er zum Beispiel darauf, dass ihm schon 1929, als er einen lukrativen Ruf nach Bonn „aus Anhänglichkeit an Österreich“ abgelehnt hatte, zwar keine Erhöhung der Bezüge, jedoch eine Bibliothekarstelle für Waismann versprochen worden war. Waismann hatte nämlich schon lange am Institut unentgeltlich gearbeitet. Tatsächlich war Schlick schon damals über die teilnahmslose Haltung des Unterrichtsministeriums und der österreichischen Regierung enttäuscht gewesen, welche – anders als im Falle Eibl – von sich aus keine Anstalten machte, ihn in Wien zu behalten. Erst nach langem Überlegen hatte er beschlossen, auf Drängen seiner Freunde und Anhänger in Österreich zu bleiben.91 Schlicks Hinweis auf seine eigene Konzessionsbereitschaft konnte die Entlassung seines engsten Mitarbeiters aber nicht verhindern. Für die offizielle Wissenschaftspolitik war Waismann ebenso wenig förderungswürdig wie viele andere „Nicht86 Rudolf Einhorn, Vertreter der Mathematik und Geometrie an den Wiener Hochschulen 1900 – 1940, 2 Bände, Wien 1985, 31 – 35; UA, PA Karl Mayrhofer. 87 Karl Sigmund, „Kühler Abschied von Europa“ – Wien 1938 und der Exodus der Mathematik. Ausstellungskatalog. Wien 2001. 88 ÖStA AVA, UMin., Erlaß 13, 29. 1. 1936, Zl. 2818/I-1. 89 Ebneth 1976, 107. 90 Schlick an UMin., 29. 2. 1936. (AVA , BfU, 4G Philos.: Philosophisches Institut 1936, 7894-I, 1). 91 Henk L. Mulder, „Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis“, in: Journal of the History of Philosophy 6/1968, 368 – 390, hier 388.

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Arier“. Zu diesen gehörten beispielsweise Amalie Rosenblüth und Else Frenkel, beide Assistentinnen bei Robert Reininger bzw. Karl Bühler. Die Bestellung der beiden Wissenschaftlerinnen war bereits 1931 öffentlich kritisiert worden. Ein letzter Vorschlag Schlicks, Waismann wenigstens als wissenschaftliche Hilfskraft anzustellen, wurde vom Ministerium kommentarlos übergangen. Daraufhin beklagte sich Schlick resignativ, dass „der philosophische Unterricht … gegenwärtig schon sehr schwer“92 sei. Schlicks begabter Student Herbert Feigl hatte die Lage schon 1931 realistisch eingeschätzt. Er erkannte bereits damals, dass er als Jude und Vertreter des Wiener Kreises praktisch keine Chancen auf eine akademische Laufbahn in Österreich besaß, obwohl Schlick fest davon überzeugt war, ihm eine Privatdozentur verschaffen zu können. Feigl suchte deshalb bei mehreren Universitäten in den USA an und emigrierte als erstes Mitglied des Wiener Kreises im September 193193, wo er in Iowa and später in Minneapolis seine erfolgreiche internationale akademische Karriere begründen konnte. Die Ermordung Schlicks im Juni 1936 bedeutete das faktische Ende des damals schon weltberühmten Wiener Kreises in Österreich, obwohl bis 1938 noch ein kleinerer Schülerkreis unter der Führung Waismanns und Zilsels zusammenkam, bevor der Nationalsozialismus einen endgültigen gewaltsamen Schlussstrich unter diese modernistische Bewegung zog.94 Die Folgen der Zerstörung und Vertreibung dieser Wissenschaftskultur durch die antisemitische Wissenschaftspolitik an Universität Wien waren noch lange in der Zweiten Republik wirksam.

92 Schlick an UMin., 29. 2. 1936. (wie Fn. 91) 93 Herbert Feigl, „The Wiener Kreis in America“, in: Donald Fleming und Bernard Bailyn (Hg.), The Intellectual Migration 1930 – 1960, Cambridge 1969, 630 – 673, hier 650. 94 Zur kompilatorischen Selbstdarstellung der sogenannten „Konservativen Revolution“ vgl. Armin Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland bis 1932, Darmstadt 1972. Zur Vertreibung der WissenschaftsphilosophInnen: Stadler (Hg.) 2010. Zur Emigration allgemein: Friedrich Stadler und Peter Weibel (Hg.), 1995, The Cultural Exodus from Austria. Vertreibung der Vernunft, Wien-New York (= Katalog).

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Schönere Zukunft. Wien XI/41, 12.7./9. 8. 1936, Titelseite.

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Schlick Denkmal, Foto: Herbert Posch.

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Warum die Antisemitismus-Forschung noch auf lange Zeit wichtig bleiben wird

Wenn wir uns vor Augen halten, dass die internationale Diskussion um Österreichs Mitverantwortung am Dritten Reich zumindest seit der Wahl Kurt Waldheims 1986 zum Staatspräsidenten, d. h. seit einer Generation, andauert, dann hat dies sicher einerseits mit einer verschleppten, nachholenden politischen und kulturellen Aufarbeitung der Vergangenheit zu tun. Andererseits zeigt ein weiter reichender Blick in die Zeit vor und nach Waldheim aber auch, dass sich die heutige Antisemitismus-Forschung auf eine solide Vorgeschichte und vor allem auf einen soziokulturellen Trend stützen kann, der andauern wird, solange auch der Nationalstaat die primäre Quelle für Identität und Geschichtsschreibung bleibt. Zuerst einmal ein Blick von außen: Als Christoph Waltz in der NBC Saturday Night Live Show im März 2013, also nachdem ihm zum zweiten Mal ein Oskar verliehen wurde, gefragt wird, ob er Deutscher sei, ist seine Antwort klar : Zu seinem Bekenntnis, Österreicher zu sein, werden (bayerisch) gekleidete Trachtenträger sowie ein mit „Heil“ salutierender Jungnazi gezeigt.1

1 http://www.nydailynews.com/entertainment/tv-movies/christoph-waltz-star-django-un chained-hosted-snl-saturday-article-1.1266405 (abgerufen am 1. 3. 2013)

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Dass dieses Bild bereits zum harten Stereotyp Österreichs geworden ist, zeigen auch Kommentare und Berichte in der New York Times 2008, wonach die Affären Fritzl und Kampusch mit der postnazistischen Kondition Österreichs in Zusammenhang zu bringen seien. Auch die internationale politische Berichterstattung über den Aufstieg der FPÖ in den 1990er-Jahren und Jörg Haider im Jahr 2000 wurde immer wieder mit Querverweisen auf die Nazi-Vergangenheit versehen. Die Wertung dieses Urteils aus den USA ist hier dennoch nur von eingeschränkter Bedeutung. Wir wissen, dass es auch in den USA eine Geschichte des Antisemitismus gibt und dass jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen erst durch die Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre – ebenso wie Afroamerikaner und -amerikanerinnen sowie andere „Minderheiten“ – formal und später dann tatsächlich den „WASPs“ gleichgestellt wurden. U. a. gab es bis Ende der 1940erJahre an vielen Eliteuniversitäten noch einen Numerus clausus für Juden und Schwarze. Spätestens seit den 1990er-Jahren würden aber wohl auch kritische Beobachter der USA nicht mehr meinen, dass jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen systematisch diskriminiert werden bzw. Antisemitismus ein ernsthaftes Problem in den USA ist. Der israelische Autor und Regisseur Yoav Shamir behauptet in seinem 2007 preisgekrönten Dokumentarfilm „Defamation“ sogar, dass die „Anti-Defamation League“ einzelne Vorfälle in den USA zu antisemitischen Übergriffen aufbausche, um sich selbst angesichts einer abhanden gekommenen Problemlage zu legitimieren.2 Für Österreich entscheidend ist hingegen, dass es auch heute noch im öffentlichen Diskurs antisemitische Äußerungen gibt, deren Verurteilung manchmal sogar bis hinauf zum Bundespräsidenten reicht. Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems, hat einige davon in einem historischen Überblick zusammengestellt.3 Wie das Wiener Symposion zur Antiseminitsmus-Forschung selbst mit dem ungebrochenen Interesse einer neuen Generation an Forschern und Forscherinnen belegt, gibt es auch noch genug Stoff für die historische Aufarbeitung: Nicht zuletzt haben Veröffentlichungen zur Nazi-Vergangenheit der Wiener Philharmoniker und der Akademie der Wissenschaften Anfang 2013 wieder für internationale Schlagzeilen gesorgt.4 Von größerer Bedeutung ist hingegen, inwieweit die österreichische Antisemitismus-Forschung selbst ein zentraler Teil einer soziokulturellen Entwicklung wurde, die versucht, proto-moderne Vorstellungen einer monoethnischen Identität zu überwinden. Hier kann uns u. a. ein Rückblick auf Zygmunt Bau2 http://en.wikipedia.org/wiki/Defamation_(film) (abgerufen am 1. 3. 2013) 3 http://www.jm-hohenems.at/mat/504_zitate_politiker.pdf (abgerufen am 1. 3. 2013) 4 http://www.nytimes.com/2013/03/01/arts/music/vienna-philharmonic-to-release-nazi-con nections.html?_r=0 (abgerufen am 1. 3. 2013)

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mans richtungsweisende Forschungen zum Projekt der Moderne informieren. Demnach wäre der Nationalsozialismus der ultimative Versuch der Moderne, inhärente Ambivalenzen (Opposition, Juden, „Zigeuner“) als Störfaktoren des modernen Projekts eines ethnisch reinen deutschen Nationalstaats zu beseitigen (vgl. „Modernity and Ambivalence“, 19915). Erst die Überwindung dieses modernen Projekts („Postmoderne“) erlaube wieder Ungewissheiten, Vieldeutigkeiten und damit auch vielschichtige Identitäten, wie sie sich etwa in der soziokulturellen, multiethnischen Entwicklung der USA, aber auch überall sonst mit der beginnenden Globalisierung abzeichnen – ein Begriff, der seit 1989 verwendet wird. Gerade die Nachfolgekriege und die Konflikte um die zerfallenden Vielvölkerstaaten wie Jugoslawien und die Sowjetunion haben uns aber rückblickend gezeigt, dass die Kraft des Klarheit erzwingenden Nationalstaates nach wie vor ungebrochen ist. Auch die Renationalisierungsstrategien politischer Bewegungen aller ideologischen Ausrichtungen innerhalb der Europäischen Union verweisen darauf, dass es immer noch die Nationalstaaten sind, die Gesetze schaffen und durchsetzen, die Vermögen umverteilen und in denen Geschichte geschrieben wird. Das 1985 von Peter B. Evans, Dietrich Rueschemeyer und Theda Skocpol erstmals herausgegebene Buch „Bringing the State Back in“ ist mittlerweile in vielen Auflagen ein Standardwerk der politikwissenschaftlichen Forschung, das den Nationalstaat nach wie vor als zentrales wissenschaftliches Objekt definiert.6 Wenn wir den heutigen sozialwissenschaftlichen Forschungen glauben, dass der Beitritt zur Europäischen Union 1995 die österreichische Identität nicht geschwächt, sondern eher gestärkt hat, dann wird auch erklärlich, warum die jährlich stattfindenden Demonstrationen und Diskussionen um den Burschenschafter-Ball in der Hofburg eine so zentrale Bedeutung für die Standortbestimmung der österreichischen Diskussion haben. Es ist zwar bedauerlich, aber hier wird weiterhin um die Definitionsmacht über das gescheiterte Projekt des heimischen, österreichischen Nationalsozialismus gestritten (denn der deutsche Nationalsozialismus kommt hier fast gar nicht mehr vor). Die Befürworter, aber vor allem auch die Gegner dieses Balls finden sich in bester österreichischer zeitgeschichtlicher Tradition, die es auch wert ist, sich ihrer zu erinnern. Denn wir sollten auch heute nicht das Kind mit dem Bad ausschütten und die Anstrengungen des österreichischen Antifaschismus in allen nicht-nationalsozialistischen Lagern unterbewerten. Ebenso wie der Antisemitismus in der österreichischen Geschichte stark verankert war und ist, ist es auch sein gegnerischer Bruder : der politische Kampf um eine demokratisch 5 http://de.wikibooks.org/wiki/Soziologische_Klassiker/_Bauman,_Zygmunt (abgerufen am 1. 3. 2013) 6 http://catdir.loc.gov/catdir/samples/cam034/85004703.pdf (abgerufen am 1. 3. 2013)

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verfasste Rechtsstaatlichkeit, der die Bürgerrechte seit dem Staatsgrundgesetz 1867 mit seiner Glaubens- und Gewissensfreiheit und der formalen Gleichheit vor dem Gesetz verankert und weiterentwickelt hat. Der teilweise philosemitische katholische Antifaschismus der Christlichsozialen sowie der Widerstand der Sozialisten, Kommunisten und Partisanen waren nicht nur ideologisch motiviert, sondern auch Ausdruck einer demokratischen Grundhaltung, wonach die vermeintliche oder tatsächliche Zugehörigkeit zu einer „bestimmten“ Rasse oder Glaubensgemeinschaft nicht zur Diskriminierung vor dem Gesetz führen dürfe. Schon vor der Affäre Waldheim war daher die Frage Antisemitismus/Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit ein Dauer- und Hauptthema in Österreich. Die Beteiligung der Kommunisten an der Regierung nach 1945, die lange Wirkungsgeschichte des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands sowie die nachhaltig politisierende Diskussion in der Affäre um den nationalsozialistischen Historiker Taras Borodajkewycz (1961 bis 1965) sind frühe Meilensteine einer politischen Aufarbeitung7. Dazu kommt, dass sich ein Großteil der österreichischen Kulturproduktion ab den 1960er-Jahren in der einen oder anderen Form mit der Kritik an Österreichs Selbstlüge auseinandersetzte. Ingeborg Bachmanns Freundschaft mit Paul Celan (ab 1948) ist nicht nur Ausdruck einer spannenden emotionalen und literarischen Beziehung, sondern widerspiegelt auch das Interesse und die Sehnsucht einer begabten jungen Dichterin, die ihre familiäre und kulturelle Verflechtung mit dem Nationalsozialismus überwinden will. Auch die radikale, aggressive wie autoaggressive Haltung von Künstlern wie Günter Brus, Otto Muehl, Rudolf Schwarzkogler und Hermann Nitsch müssen als künstlerische Reaktion auf den Phantomschmerz eines abgeschnittenen, zentralen Teil der österreichischen Geschichte verstanden werden. Die kompromisslose Agitation des Wiener Aktionimus, der heute weltweit als zentraler Beitrag Österreichs zur Nachkriegskunst gefeiert wird, muss als wichtiger Beitrag zur Konstruktion einer offenen, demokratischen Gesellschaft verstanden werden. Weitere Helden dieser säkularen Entwicklung sind Peter Handke, Elfriede Jelinek und Peter Turrini, die mit ihrer Rebellion gegen das reaktionäre Nachkriegsösterreich den Weg vorzeigten. Dem Multitalent Andr¦ Heller und dem Filmemacher Axel Corti gelang es bereits frühzeitig, einzelne Mosaiksteinchen der vielschichtigen, auch jüdischen Identitäten wieder zusammenzufügen. Ohne den Beitrag von Juden, assimilierten wie nicht assimilierten, hätte Österreich nicht im Sinne der Ambivalenz Zygmunt Baumans neukonstruiert werden können. 7 http://de.wikipedia.org/wiki/Taras_Borodajkewycz (abgerufen am 1. 3. 2013)

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Diese Namen stehen aber nur symbolisch für (mittlerweile) mehrere Generationen von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen sowie Kulturschaffenden, die sich der Öffnung der Archive, der Aufdeckung der Geschichte und dem Weitergeben dieser Erzählungen verschrieben haben. Sie alle kämpften und kämpfen immer noch darum, Österreich als Teil einer westlichen Moderne zu definieren, die sich nun am multireligiösen und -ethnischen Vorbild der USA statt an der eigenen, delegitimierten transnationalen Vergangenheit orientiert. Das Lichtermeer 1993 und der Begriff des „Anderen Österreich“ stehen bis heute als Metaphern dafür, dass Provinzialismus, Fremdenfeindlichkeit und auch Antisemitismus inhärente Begleiter des österreichischen Nationalstaates sind, der seine eigene Geschichte stets neu verhandeln, erstreiten und damit neu schreiben muss.

Linda Erker

Hochschulen im Austrofaschismus und in der NS-Zeit. Ein kooperatives Lehrprojekt der Österreichischen HochschülerInnenschaft

Die Bundesvertretung der Österreichischen HochschülerInnenschaft (ÖH) vernetzte in dem Projekt „Hochschulen im Austrofaschismus und in der NSZeit“ erstmals bundesweit Studierende, um die Geschichte(n) der österreichischen Universitäten in dieser Zeit vergleichend zu bearbeiten. Die Idee zu diesem innovativen Konzept entstand in den Koalitionsverhandlungen rund um die ÖH-Exekutive für die Jahre 2011 bis 2013 sowie aus der Zusammenarbeit von Martin Schott und Janine Wulz aus dem ÖH-Vorsitzteam mit Oliver Rathkolb, dem damaligen Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien. Ausgehend von einer gemeinsamen Online-Umfrage zu „Autoritarismus, Demokratiebewusstsein und nationalem Selbstverständnis unter österreichischen Studierenden“, entwickelte sich die Idee, Studierenden in vernetzten Lehrveranstaltungen die Möglichkeit zu bieten, die Geschichte(n) „ihrer“ Hochschulen kritisch zu beleuchten. Gemeinsames Ziel aller Kooperationspartner und -partnerinnen war es, erstmals prozessorientiert und parallel österreichweit Lehrveranstaltungen zu einem gemeinsamen Überthema anzubieten, um Studierenden die Möglichkeit zu geben, in einem Sammelband zur vergleichenden Geschichte der Universitäten zu publizieren. An acht österreichischen Hochschulen1 wurden im Zuge dessen Seminare angeboten, in denen Studierende, angeleitet von Lehrenden, sich in das Thema einarbeiten und praxis- und umsetzungsorientiert auch das Verfassen entsprechender wissenschaftlicher Artikel erlernen konnten. Im Wintersemester 2012/13 starteten die Lehrendenteams und die ÖH dieses Forschungs-, Lehr- und Publikationsprojekt: Die Veranstaltungen in Innsbruck, Graz, Salzburg und Wien setzten inhaltlich weit vor dem März 1938 und der sogenannten „(Selbst-)Gleichschaltung“ der österreichischen Universitäten an und spannten den inhaltlichen Bogen auch über 1945 hinaus. So sollten die 1 Mozarteum Salzburg, Technische Universität Wien, Universität für Bodenkultur Wien, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Universität Graz, Universität Innsbruck, Universität Salzburg und Universität Wien.

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Teilnehmer und Teilnehmerinnen den forschenden Blick auch auf die Universitätslandschaft und ihre Akteurinnen und Akteure in der Zweiten Republik werfen und Fragen nach Kontinuitäten und Brüchen zu Austrofaschismus und Nationalsozialismus verfolgen. Die offenen Forschungslücken wurden bereits in der Tagung „Der lange Schatten des Antisemitismus“ im Oktober 2012 herausgearbeitet: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit war für die Hochschulen in Österreich lange Zeit ein Tabuthema. Mittlerweile ist jedoch an vielen Instituten eine solche Aufarbeitung (stark) vorangetrieben worden. Protagonistinnen und Protagonisten, die diese Forschungen seit Mitte der 1980er-Jahre maßgeblich forciert haben, sind u. a. auch Autorinnen und Autoren in diesem Band und reflektieren hier Entwicklung, Dynamik und „Trends“ der österreichischen Universitätsgeschichtsschreibung. An den Hochschulen gelang es vor allem durch persönliches Engagement von Forscherinnen und Forschern, Ringvorlesungen, Arbeitskreise und Projekte zu initiieren sowie vertriebene Lehrende und Studierende in den universitären Forschungs-, Gedenk- und Erinnerungsraum zu integrieren. Zwar wurde diese wichtige Reflexionsarbeit immer auch durch Studierendenbeteiligung mitgetragen, doch war es diesmal das explizite Ziel, als besondere Qualität des Projekts „Hochschulen im Austrofaschismus und in der NS-Zeit“ gerade die vernetzte und universitätsübergreifende Arbeit mit und für Studierende verschiedener Disziplinen in den Mittelpunkt zu stellen und sie als Forschende zu unterstützen. Inhaltliches Ziel war es, Fragen der Bedeutung von Umbrüchen, Kontinuitäten und Traditionen, konkret in den Jahren 1933/34, 1938 bzw. 1945, sowie deren Auswirkungen auf die Universitätslandschaft nachzugehen. Die mitwirkenden Lehrenden nahmen auf den Weg in die Seminarräume viele Fragen mit: Wie gestalteten sich die Handlungsspielräume von Studierenden als Akteurinnen und Akteure, aber auch als Opfer von Exklusion und welche Rolle spielte physische wie psychische Gewalt in ihrem Universitätsalltag? Welche Funktion wurde den Hochschulen in den unterschiedlichen Systemen zugewiesen bzw. von ihnen beansprucht und welchen Einfluss hatte Politik auf Organisation, Zielsetzung, Handlungssprielräume und inhaltliche Orientierung von Forschung und Lehre? Neben dem Blick auf das größere Ganze, also auf die Hochschulen und ihre Funktionen in der Gesellschaft sowie ihre Rollen innerhalb diktatorischer Systeme, galt es auch einzelne Aspekte der Universitäts- und Alltagsgeschichte zu erforschen. Ein thematischer Fokus lag hier auf der Kontinuität von Antisemitismus an den Hochschulen wie in der österreichischen Gesellschaft insgesamt. Denn gerade die österreichischen Universitäten waren früh „Spielwiese und

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Exerzierfeld deutschnationalen und antisemitischen Gedankengutes“2, die Rolle der Studierenden war hier maßgebend. Im Fokus standen weiters die Geschlechter- und Machtverhältnisse an den Universitäten, einzelne Widerstandsbiografien wie auch die unterschiedlichen Wissenschaftsverständnisse in den Jahren 1933/34 – 1938 – 1945 in Lehre und Forschung. In den Lehrveranstaltungen ging es nicht zuletzt auch um die Frage nach dem Umgang mit Austrofaschismus und Nationalsozialismus nach Kriegsende und die späte akademische Selbstreflexion und die institutionellen Erinnerungsformen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus unterschiedlichen Studienrichtungen und Wissenschaftskulturen konnten in den (Forschungs-)Seminaren in einem ersten Schritt tiefere Einblicke in das Handwerkszeug von Historikerinnen und Historikern gewinnen. So wurden ihnen die Grundzüge des wissenschaftlichen Arbeitens v. a. mit historischen und archivalischen Quellen vermittelt, um daraus in einem zweiten Schritt eigenständig Forschungsfragen zu entwickeln, die in weiterer Folge in einem Semester bearbeitet werden konnten. Teilnehmende an den Seminaren waren mehrheitlich nicht Studierende der Zeitgeschichte, sondern sie kamen aus unterschiedlichen Wissenschaftszweigen und studierten u. a. Agrarbiologie, Germanistik, Journalismus, Klassische Philologie, Medizinische Informatik, Philosophie, Psychologie, Technische Physik bzw. Umwelt- und Bioressourcenmanagement. Für die Lehrveranstaltungsleiterinnen und -leiter galt es diese interdisziplinäre Vielfalt zu bündeln und in gemeinsamen Sitzungen „hinter den Kulissen“ zu koordinieren. Die Interessen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren breit gefächert. Standen manche vor Beginn ihres Studiums vor der Wahl, vielleicht sogar Geschichte zu studieren, um sich dann doch für eine andere Fachrichtung zu entscheiden, aber nie ganz von der Geschichte „wegzukommen“, wurden andere erst im Zuge ihres Studiums für die Geschichte „ihrer“ Universität sensibilisiert und wurde ihre Neugierde erst geweckt. Einmal in den zukünftigen Beruf der Historikerinnen und Historiker „hineinzuschnuppern“ und sich an einem Thema „abzuarbeiten“, Projekterfahrung zu sammeln und den „offenen Forschungsraum“ Universität zu erkunden, waren nur einige Gründe, sich großteils weit über ein durchschnittliches Ausmaß an Arbeitsaufwand für ein Seminar und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit hinaus zu engagieren. Die Lust, einmal die Semesterleistung nicht einfach als Seminararbeit „für die Schublade“ zu produzieren, war sicherlich auch eine Motivation, denn von Anfang an wurde die Option auf eine – meist erste – wissenschaftliche Publikation als Ergebnis 2 Brigitte Lichtenberger-Fenz, Österreichs Universitäten und Hochschulen – Opfer oder Wegbereiter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft? Am Beispiel der Universität Wien, in: Gernot Heiß, Siegfried Mattl, Sebastian Meissl, Edith Saurer, Karl Stuhlpfarrer (Hrsg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 – 1945 (Wien 1989) 3 – 15, hier: 5.

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angeboten. Aber auch der Wunsch, mal (wieder) Gelegenheit für kritische Forschung vor Ort, für hochschulpolitische und wissenschaftsgeschichtliche Arbeit zu bekommen, war ein wichtiges Motiv mitzuarbeiten. Die Autorinnen und Autoren der fertigen Publikation stehen mehrheitlich kurz vor dem Ende des Studiums und wollten – so ist zu vermuten – auch graben, wo sie stehen und studieren, und die Chance nützen, ihre Arbeit und ihr Engagement sichtbar zu machen. Lehrende wie Studierende verbanden in diesem Projekt sicherlich auch der Wunsch und der Mut, in solch projekt- und prozessorientierten Arbeitsformen das oftmals curricular erstarrte „System Universität“ aufzubrechen. Das bundesweite Team der Lehrenden bestand aus: Dieter-Anton Binder, Paulus Ebner, Helga Embacher, Linda Erker, Tarik Gaafar, Maria Mesner, Juliane Mikoletzky, Alexander Pinwinkler, Herbert Posch, Dirk Rupnow, Cornelia Szabû-Knotik, Peter Wiltsche und Heidrun Zettelbauer. Alle Lehrenden sind aus den verschiedensten Gründen und in ganz unterschiedlicher Intensität mit der österreichischen Universitätsgeschichte verbunden. Gemein war allen, trotz knapper Zeit- und Ressourcenplanung den Sprung ins kalte Wasser zu wagen, und die Bereitschaft, die Studierenden bestmöglich zu begleiten und den Ergebnissen des Prozesses gespannt entgegenzusehen. Neben der Bearbeitung der bereits weiter oben genannten Forschungsfragen in Form von Seminararbeiten, die schließlich in die Publikation mündeten, waren vor allem auch der Austausch, die Diskussion und die Vernetzung aller Projektbeteiligten ein großes Anliegen der ÖH. Aus diesem Grund wurde neben einer interaktiven Wiki-Plattform zum (digitalen) Austausch ein Vernetzungstreffen in den Räumlichkeiten der Universität für Bodenkultur in Wien organisiert. Hier kamen Studierende und Lehrende aller beteiligten Hochschulen zusammen um entlang vier inhaltlicher Schwerpunkte an der gemeinsamen Publikation zu arbeiten. Der Sammelband mit Beiträgen von über 30 Autorinnen und Autoren wurde in thematische Cluster gegliedert: „Studierende“, „Wissenschaft und Gesellschaft“, „Forschung“ sowie „Brüche und Kontinuitäten“ bilden gleichzeitig auch die Kapitelstruktur. Im Mai konnte dank vieler engagierter Studierender und Lehrender der Sammelband präsentiert werden. Ob der sehr knapp bemessenen Projekt- und somit Arbeitsphase für die Studierenden von Oktober 2012 bis Ende Jänner 2013, kann als ein offenes Desiderat des Projekts festgehalten werden, dass der vergleichende und synthetisierende Ansatz nicht so konsequent verfolgt werden konnte, wie er ursprünglich als eines der (hohen) Ziele im Raum stand. Nichtsdestotrotz gibt uns der Sammelband3 3 Österreichische HochschülerInnenschaft (Hrsg.): Österreichische Hochschulen im 20. Jahrhundert – Austrofaschismus, Nationalsozialismus und die Folgen, Wien 2013.

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erstmalig eine (unvollständige) österreichweite Zusammenschau der Geschichte der österreichischen Universitäten und Hochschulen im Austrofaschismus, Nationalsozialismus und in den Jahren nach 1945.

Anhang

Neue Dokumente zu Karl Luegers antisemitischer Agitation gegen die Universit•t Wien, 1907

Kommentar zu Anhang 1 (Broschüre „Der Stich ins Wespennest“, um 1907) und 2 (Josef Redlichs Gegenschrift gegen Karl Luegers antisemitische Polemik gegen die „Judenherrschaft“ an der Universität Wien)

Die Broschüre „Der Stich ins Wespennest“ ist ein konkretes Beispiel, wie antisemitische Reden Karl Luegers kommuniziert und radikalisiert wurden, um derartige Debatten möglichst weit in die Gesellschaft hinein zu verbreiten. Die Broschüre wurde vom „Katholischen Universitätsverein“ in Salzburg herausgegeben. Eigentlich wollte der Wiener Christlichsoziale Bürgermeister Lueger in seiner Begrüßungsrede den Katholikentag benützen, um die deutschnationalen Korporationsstudenten zu kritisieren. So forderte er „die Eroberung der Universitäten“ durch die Katholische Kirche und kritisierte die Prügeleien der deutschnationalen Studenten (ohne sie direkt zu benennen). Und in einem Nebensatz behauptete er „[…], daß unter 8 neu ernannten Professoren 7, sage 7 Juden sind“. Während Lueger keine weiteren Details oder antisemitische Untergriffe bringt, sorgt diese Broschüre für klare Untergriffe und alle möglichen statistischen Belege, um dann auf Seite 4 die Allianz mit Luegers „Kampf gegen die jüdische Fremdherrschaft“ zu verlangen. Wie bereits in diesem Band in meinem Beitrag auf Seite 86 f. aufgeführt, beruhigte Lueger am 5. Dezember 1907 im Abgeordnetenhaus des Reichsrats die Deutschnationalen und betonte, dass sich seine Rede gegen „die jetzt auf den Universitäten beinahe übermächtig herrschende Judenherrschaft“ richtete – ganz offensichtlich, weil damit mehr mediale Aufmerksamkeit erzielt werden konnte. Merkwürdig ambivalent reagierte der Rektor der Universität Wien, der Histologe Viktor Ebner von Rosenstein, der zwar einerseits die „schweren und ungerechtfertigten Beschuldigungen gegen unsere Universität […] als Boden für Umsturzideen, für Vaterlands- und Religionslosigkeit“ pauschal zurückwies, andererseits aber die Vorwürfe nicht wirklich beim Namen nannte.1 Gleichzeitig bat er die Studenten „Selbstbeherrschung“ zu bewahren.

1 Neue Freie Presse, 23. Nov. 1907, 3.

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Wesentlich präziser und offener versuchte Josef Redlich, seit 1906 Universitätsprofessor für Verwaltungs- und Verfassungsrecht in Wien und seit 1907 auch Reichsratsabgeordneter für die Deutschfreiheitliche Partei in einem umfangreichen Dossier, dessen Verwendung unklar ist, Luegers Vorwürfe zu beantworten und zu relativieren. Dieses Dossier verdanke ich Dr. Hans Petschar, der von Fritz Fellner, dem Herausgeber von Redlichs Tagebüchern2, den schriftlichen Nachlass für die Österreichische Nationalbibliothek übernommen hatte. Heute klingen Redlichs Zuschreibungen von Professoren als Juden und „Arier“ und seine Statistik der Ordentlichen Professoren und Extraordinarien wie ein Vorgriff auf rassistische Zuschreibungen in der NS-Zeit, sind aber im Zeitkontext zu lesen und zu analysieren. Redlichs Vater, ein erfolgreicher Unternehmer in Mähren, wurde noch nach dem jüdischen Ritus begraben, er selbst konvertierte zum evangelischen Glauben. In seinen Tagebüchern finden sich später durchaus antisemitische Äußerungen, die aber weder als Ausbrüche des Rassenantisemitismus oder als radikaler deutschnationaler Antisemitismus interpretiert werden können, sondern eher Teil seiner großbürgerlichen Assimilation war – vor allem gegen Ostjuden und großbürgerliche Liberale gerichteten judenfeindlichen Kulturkritik (ähnlich wie noch schärfer bei Karl Kraus). Aus den Darstellungen Redlichs für die juridische, medizinische und philosophische Fakultät, die im Folgenden in Faksimile abgedruckt werden, wird die „gläserne Decke“ bei Spitzenprofessuren für Wissenschaftler jüdischer Herkunft ebenso deutlich wie seine These der Assimilierung, die derartige rassistische Zuordnungen obsolet werden lassen – so seine letztlich falsche Prognose. Gerade aber dieser subjektive Blick Josef Redlichs auf die jüdische Herkunft von Professoren und die Wechselwirkung mit wissenschaftlichen Spitzenleistungen, aber auch grundsätzliche Reflexionen über die Freiheit der Wissenschaft an der Universität Wien, macht den Quellenwert dieses bisher unveröffentlichten Dokuments aus. Überdies wurden erstmals auch zahlreiche interne Informationen verwendet, die der weiteren Forschung nützen können. Übrigens ist es in weiterer Folge Karl Lueger geschickt gelungen, Josef Redlich eng an seine Person zu binden. Ob diese fundierte Kritik an Luegers Rede der Grund für diese „Werbung“ war, kann nicht belegt werden. Tatsache ist, dass Redlich ein enger Gefolgsmann Luegers wurde und gelegentlich als dessen „Hofjude“3 diffamiert wurde. Nach dem Ableben Luegers wiederum revan2 Fritz Fellner und Doris A. Corradini (Hg.), Schicksalsjahre Österreich – die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs 1869 – 1936, 3 Bände (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 105), Wien 2011. 3 Hans Peter Hye „…ICH MUSS DIESEN TROTTELN EINMAL DIE WAHRHEIT SAGEN“. Politik, Kultur und Gesellschaft in den Augen des (alt-)österreichischen Abgeordneten und Historikers Josef Redlich (Reprint in: www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/HHye1.pdf, aufgerufen am 5. Mai 2013), 3.

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chierte sich Redlich mit eher dumpfen antisemitischen Tiraden: „Mit ihm steigt der volkstümlichste Mann der österreichischen Politik des 19. Jahrhunderts ins Grab. […] Ich habe schon als junger Mensch größte Sympathie für Lueger und seine machtvolle Persönlichkeit gehabt, die die eingealterte Wiener Tatenlosigkeit, den österreichischen Kleinmut, das läppische „pseudo-liberale“ Getue und Gefasel der Wiener „Juiverie“ aufs schärfste und erfolgreichste bekämpft hat. Lueger hat ermöglicht, daß einmal ein neues und gesundes österreichisches Staatsgefühl entstehe: in diesem Sinn fühle ich mich seit vielen Jahren als sein dankbarer Schüler. Wie kleinlich, wie dumm und wie im Innersten kulturfeindlich jene vor Lueger in Wien herrschend gewesene Koalition unruhiger jüdischer Journalisten, schmutziger Spekulanten und bildungsheuchlerischer liberaler Politiker gewesen ist, wird einmal der Historiker feststellen […].4 1907 hatte Redlich aber doch noch Distanz zu Lueger und sollte auch in seiner Einschätzung der historischen Einschätzung Lueger nicht zur Gänze Recht behalten. Umso interessanter ist aber diese sehr ambivalente zeitgeistige Einschätzung eines assimilierten Spitzenwissenschaftlers jüdischer Herkunft, der auch 1924 – 1934 an der Law School der Harvard University unterrichtete.

4 Fellner, Corradini, Schicksalsjahre Österreichs, Band 1, 300.

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5 Ich danke der Wien-Bibliothek, wo sich das Original im Tagblattarchiv (Mappe Universitäten) befindet, und Dr. Alfred Pfoser für die Bereitstellung einer digitalen Kopie dieser Broschüre.

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6 Josef Redlich: „Über die Situation für jüdische Gelehrte an den österreichischen Universitäten“ (Archivtitel. Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen). In: Nachlass Josef Redlich. II. Briefe, Dokumente, Manuskripte, Mappe: Konzepte für diverse Reden, Artikel, Vorträge II. Österreichische Nationalbibliothek. Sammlung für Handschriften und Alte Drucke.

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Götz Aly, PD Dr., Historiker und Journalist (Berlin) mit den Themenschwerpunkten Euthanasie, Holocaust und Wirtschaftspolitik der nationalsozialistischen Diktatur ; im Wintersemester 2012/2013 Sir Ustinov-Gastprofessor an der Universität Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Neben anderen Auszeichnungen wurden Götz Aly der Heinrich-Mann-Preis und der Ludwig-Börne-Preis verliehen. Mitchell G. Ash, Dr., Univ.-Prof. für Geschichte der Neuzeit am Institut für Geschichte der Universität Wien, Leiter der Arbeitsgruppe Wissenschaftsgeschichte und Sprecher des Doktoratskollegs „The Sciences in Historical, Philosophical and Cultural Contexts“ an der Universität Wien. Er studierte Geschichte und Wissenschaftsgeschichte an der Harvard University und an der Freien Universität Berlin, lehrte an der Harvard University und der University of Iowa/USA. Prof. Ash ist Ordentliches Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und war Präsident der „Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte“ von 2002 bis 2007. Er ist Autor oder Herausgeber von vierzehn Büchern und zahlreicher Aufsätze mit folgenden Schwerpunkten: Wissenschafts- und Universitätsgeschichte seit 1850; Wissenschaft, Politik und Gesellschaft in der Neueren und Neuesten Geschichte; Geschichte der Humanwissenschaften und Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen. Heinz W. Engl, Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. ist seit 2011 Rektor der Universität Wien. Seit 2003 ist er wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und war bis 2011 Direktor des Johann Radon Institutes for Computational and Applied Mathematics (RICAM). 1977 hat Heinz W. Engl sein Doktorat als Dr. techn. sub auspiciis praesidentis verliehen bekommen und ist seit 1988 ordentlicher Professor für Industriemathematik in Linz. Im Jahr 2010 wurde ihm eine Ehrenprofessur an der Fudan University in Shanghai verliehen, 2012 ein Ehrendoktorat an der Universität des Saarlandes. Für seine Forschungen in den Bereichen der Angewandten Mahematik erhielt Heinz Engl

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zahlreiche Preise, etwa den Pioneer Prize des International Committee for Industrial and Applied Mathematics. Linda Erker, Mag.a, Historikerin, Studium der Geschichte in Wien und Berlin, derzeit Assistentin in Ausbildung am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, stv. Obfrau des Vereins GEDENKDIENST, Dissertationsprojekt im Bereich der Zeitgeschichte: ›Gesäuberte‹ Hochschulen. Die Universitäten Wien und Madrid im Faschismus, Forschungsschwerpunkte: Vergleichende Faschismusforschung, Wissenschaftsgeschichte, historisch-politische Bildung, Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert. Eric R. Kandel, M.D., is University Professor at Columbia, Fred Kavli Professor and Director, Kavli Institute for Brain Science and a Senior Investigator at the Howard Hughes Medical Institute. A graduate of Harvard College and N.Y.U. School of Medicine, Kandel trained in Neurobiology at the NIH and in Psychiatry at Harvard Medical School. He joined the faculty of the College of Physicians and Surgeons at Columbia University in 1974 as the founding director of the Center for Neurobiology and Behavior. At Columbia Kandel organized the neuroscience curriculum. He is an editor of Principles of Neural Science, the standard textbook in the field. Prior to writing The Age of Insight, Eric Kandel wrote a book on the brain for the general public entitled In Search of Memory : The Emergence of a New Science of Mind. Eric Kandel’s research has been concerned with the molecular mechanisms of memory storage in Aplysia and mice. More recently, he has studied animal models in mice of memory disorders and mental illness. Kandel has received twenty honorary degrees, is a member of the U.S. National Academy of Sciences as well as the National Science Academies of Austria, France, Germany and Greece. He has been recognized with the Albert Lasker Award, the Heineken Award of the Netherlands, the Gairdner Award of Canada, the Harvey Prize and the Wolf Prize of Israel, the National Medal of Science USA and the Nobel Prize for Physiology or Medicine in 2000. Thomas Maisel, Mag., MAS, studierte Geschichte an der Universität Wien und absolvierte den Ausbildungslehrgang am Institut für Österreichische Geschichtsforschung. Seit 1988 im Archiv der Universität Wien beschäftigt (2010 mit der Leitung betraut). Diverse universitätsgeschichtliche und archivbezogene Publikationen, Mitherausgeber der Reihe „Schriften des Archivs der Universität Wien“. Birgit Nemec, Mag.a, hat nach einer Ausbildung in Kulturmanagement Geschichte und Kulturwissenschaften in Wien und Rom studiert. Seit 2009 ist sie als Forschungsstipendiatin und Lehrende am Department und Sammlungen für

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Geschichte der Medizin der Medizinischen Universität Wien tätig, seit 2010 Kollegiatin im DKplus-Programm „Naturwissenschaften im historischen, philosophischen und kulturellen Kontext“ an der Universität Wien mit einem Dissertationsprojekt zu Visuellen Kulturen der Anatomie im Wien der Zwischenkriegszeit. Visiting Scholarship am Department for History and Philosophy of Science der Universität Cambridge (2012), Wissenschaftsstipendium der Stadt Wien (2010), Förderstipendium des Wiener Stadt- und Landesarchivs (2010). Forschungsschwerpunkte: Memory Politik im Stadtraum sowie Visuelle und Materielle Kultur der Medizin im 20. Jahrhundert. Birgit Peter, Mag.a Dr.in, Studium Theaterwissenschaft und Philosophie an der Universität Wien, Dissertation zu Zirkus, Variet¦ und Revue. Leitung des Archivs/Sammlungen des Instituts für Theater,– Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Lehraufträge an den Universitäten Wien, Leipzig und Bern. Habilitationsprojekt zur Historiographie von Zirkus und Theater. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte, Zirkus, Theaterhistoriographie und Archiv. Oliver Rathkolb, Dr. iur., Dr. phil., Univ.-Prof. am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien; Sprecher des Initiativkollegs „Europäische Historische Diktatur- und Transformationsforschung“ der Universität Wien und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats für das „Haus der Europäischen Geschichte“ beim Europäischen Parlament. Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Theodor-Körner-Fonds zur Förderung von Wissenschaft und Kunst. Herausgeber der Fachzeitschrift „Zeitgeschichte“ und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats. Veröffentlichungen u. a.: sieben Monographien, Herausgeber von sieben Sammelbänden, Mitherausgeber von 28 Sammelwerken, über 150 wissenschaftliche Beiträge in in- und ausländischen Fachorganen sowie Sammelbänden zu österreichischer, europäischer und internationaler Zeit- und Gegenwartsgeschichte. Ilse Reiter-Zatloukal, Dr.in iur., Univ.-Prof.in am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien und Institutsvorständin, Studium der Rechtswissenschaften in Wien 1978 – 1982, Habilitation für österreichische und deutsche Rechtsgeschichte und ao. Univ.-Prof.in an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien 1997. Arbeitsschwerpunkte: österreichische Rechts- und Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, österreichische Strafrechtsgeschichte, Anwaltsgeschichte, Geschichte des Migrationsrechts, des Staatsbürgerschaftsrechts, Fakultätsgeschichte und Geschlechtergeschichte.

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Andreas Stadler, Mag., Politologe und Kurator, studierte in Wien, Florenz und Warschau Politikwissenschaft, Internationale Beziehungen und slawische Sprachen. Danach stellvertretender Botschafter in Zagreb und von 1999 bis 2004 Leiter des Kulturinstituts in Warschau, 2004 bis 2007 Berater für Wissenschaft und Kunst von Bundespräsident Heinz Fischer. Seit Herbst 2007 Leiter des Österreichischen Kulturforums in New York. Friedrich Stadler, Doppel-Professur für History and Philosophy of Science an der Universität Wien (Institut für Zeitgeschichte und Institut für Philosophie). Vorstand und Leiter des Instituts Wiener Kreis an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft. Leiter des „Forums ,Zeitgeschichte der Universität Wien‘“ am Institut für Zeitgeschichte und Vorsitzender der „Universitären Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Universitätsgeschichte, insbesondere im Rahmen des 650-Jahr-Jubiläums 2015“. Zahlreiche Publikationen zur Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie, Exil- und Emigrationsforschung. Klaus Taschwer, Dr., studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Wissenschaftsforschung in Wien und ist Wissenschaftsredakteur bei der Tageszeitung Der Standard. Er gab von 1997 bis 2009 das Wissenschaftsmagazins heureka! heraus, war Mitbegründer und Ko-Leiter des Universitätslehrgangs SciMedia für Wissenschaftskommunikation und forscht zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte in Wien nach 1900.