Der künstliche Mensch: Körper und Intelligenz in Zeiten ihrer technischen Reproduzierbarkeit 9783412330040, 3412163015, 9783412163013

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Der künstliche Mensch: Körper und Intelligenz in Zeiten ihrer technischen Reproduzierbarkeit
 9783412330040, 3412163015, 9783412163013

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Karl R. Kegler, Max Kerner (Hg.)

Der künstliche Mensch

Karl R. Kegler, Max Kerner (Hg.)

Der künstliche Mensch Körper und Intelligenz im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit

§ 2002

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Eine Veröffentlichung des ^ Technik α: und 2 Gesellschaft Der Band steht in Tradition der »Aachener Studien zu Technik und Gesellschaft«. Die Buchreihe wird in Einzelveröffentlichungen fortgesetzt.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Salvador Dali, Der anthropomorphe Kabinettschrank, 1936, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf (© VG Bild-Kunst, Bonn, 2002) © 2002 by Böhlau Verlag G m b H & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 91 39 00, Fax (0221) 91 39 011 [email protected] Alle Rechte vorbehalten Druck und Bindung: MVR Druck GmbH, Brühl Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Germany ISBN 3-412-16301-5

Inhalt Dank Einleitung Körper: Biotechnologie und Genetik - BENITA HERMANNS, CHRISTIAN MITTERMAYER, BERND KLOSTERHALFEN: Möglichkeiten und Grenzen des Gewebe- und Organersatzes - WOLFGANG VAN DEN DAELE: Die Natürlichkeit des Menschen als Kriterium und Schranke technischer Eingriffe Sinne: Vom Agieren in technischen Lebenswelten - WALTHER CH. ZIMMERLI: Jenseits von Zähmung oder Züchtung. Die Ablösung der künstlichen Intelligenz durch den Netzwerk-Menschen - FLORIAN RÖTZER: Von digitalen Träumereien, materiellen Wirklichkeiten und der Hoffnung auf den Zufall Geist: Nachdenken über Freiheit und Reproduzierbarkeit - KLAUS KORNWACHS: Bewusstsein, Programm, Körper - DIETER BIRNBACHER: Der künstliche Mensch ein Angriff auf die menschliche Würde? Kultur: Der künstliche Mensch im Spiegel seiner Rezeption - BERND FLESSNER: Emanzipation der Prothese und multitechnokulturelle Gesellschaft - RUDOLF DRUX: Das Menschlein aus der Retorte. Bemerkungen über eine literarische Gestalt, ihre technikgeschichtlichen Konturen und publizistische Karriere Autorenverzeichnis

Dank Die in diesem Buch enthaltenen Beiträge, die um das Thema des künstlichen Menschen kreisen, gehen auf ein interdisziplinäres Kolloquium zurück, das das Forum .Technik und Gesellschaft' im Mai 2000 an der RWTH in Aachen durchgeführt hat. Das Forum .Technik und Gesellschaft' und die Herausgeber danken den Referenten dieser Tagung, dem Rektor der RWTH Aachen sowie allen Institutionen, die das Zustandekommen des damaligen Kolloquiums ermöglicht haben. Ein besonderer Dank gilt der Grünenthal GmbH, der Dresdener Bank und der Industrie- und Handelskammer Aachen für die gewährte Unterstützung. Herrn Thomas Müller, Herrn Gerald Labitzke und Herrn René Rohrkamp sei für ihre Mithilfe bei der Durchführung der Tagung bzw. bei der Redaktion des Buches gedankt. Ein besonderer Dank geht auch an Herrn Professor Wandschneider für die Beratung bei der Vorbereitung der Tagung. Die Beiträge der Aachener Tagung wurden für dieses Buch sämtlich überarbeitet, aktualisiert und ergänzt; neu hinzugekommen sind die Beiträge von Rudolf Drux und Bernd Flessner, die eine kulturgeschichtliche literarische Perspektive auf das Thema eröffnen. Allen Beiträgern sei für ihre Geduld und Mithilfe beim Entstehen dieses Buches gedankt. Ein besonderer Dank gilt schließlich dem Böhlau-Verlag und Frau Rheker-Wunsch für das verständnisvolle Abwarten des Manuskriptes, welches heute weit mehr als die Ergebnisse des Aachener Kolloquiums wiedergibt. Karl R. Kegler Max Kerner

(Aachen, im Oktober 2002)

Einleitung

Tandem intelexisse mihi sum visus, curfelicissimum proindeque dignum omni admiratione animal sit homo, et quae sit demum illa conditio quam in universi serie sortitus sit, non brutis modo, sed astris, sed ultramundanis mentibus invidiosam. Res supra fidem et mira. Quidni? Nam etpropterea magnum miraculum et admirandum profecto animal iure homo et dicitur et existimatur. (Pico della Mirandola, De hominis dignitate, 1496; übersetzt auf S. 34) Die Natur wird neu geschaffen, dieses Mal vom Menschen. Wir betrachten uns nicht länger als Gäste im Hause eines anderen, die verpflichtet sind, ihr Verhalten einem Kodex existierender kosmischer Regeln unterzuordnen. Die Schöpfung ist jetzt unser. Wir stellen die Regeln auf. Wir legen die Parameter der Realität fest. (Jeremy Rifkin, Das biotechnische Zeitalter; 1998)

Karl R. Kegler Der künstliche Mensch ^

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Visionen des Machbaren

Das „Machbare ist eine Möglichkeit, aber kein Befehl. Unter der Trias von Fragen, die nach Kant die wesentlichen Gründe menschlichen Strebens umfassen: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?" (Kant, Kritik der reinen Vernunft Β 833) ist das Machbare in jeder einzelnen Frage angesprochen. Die Dreiheit dieser Fragen macht bewusst, dass das Machbare, wie es heute im Zusammenhang mit den Fortschritten der Medizintechnik, Genetik, Informations- und Medientechnologie diskutiert wird, mit der grundsätzlichen Reichweite von Erkenntnis immer auch die Frage nach den ethischen Horizonten des Handelns umfasst. Der Mensch ist von diesen Fragen in doppelter Weise berührt: als Handelnder wie als Objekt möglicher Eingriffe und Veränderungen. Machen, Macht und technisches Wissen - Wissen und „MachenKönnen" - sind in der Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaften eng miteinander verknüpft. Francis Bacon, einer der Väter der modernen Naturwissenschaft, leitete sein Novum Organum Scientiarum mit der programmatischen Feststellung ein: „nec amplius seit aut possit" (Bacon, Organon 1.1). Wissen und Können hängen wechselseitig voneinander ab. Schon in Bacons Wissenschaftsutopie Nova Atlantis gehören „images of man" (Bacon, New Atlantis, S. 245) zum Forschungsprogramm. In der europäischen Geistesgeschichte hat diese Perspektive ihre Zuspitzung in Vicos Grundsatz des „verum et factum convertuntur" erfahren, der freilich bei ihm in einem anderen, geschichtsphilosophischen Kontext steht. In unserer heutigen Perspektive erscheint das „verum et factum convertuntur" Vicos aber gleichsam Zusammenfassung der internen Antriebe und methodischen Grundlagen, die zum Erfolg der modernen Naturwissenschaften gefuhrt haben: als wahr scheint erst das, was in der praktischen Anwendung erfolgreich erprobt wird. Die Wirklichkeit 9

würde so für den Menschen erst dort adäquat fassbar, wo ihre Reproduktion gelingt. Deshalb muss beinahe zwangsläufig jeder Erkenntnisfortschritt auch praktisch umgesetzt werden. Dies betrifft zuletzt auch den Menschen als Gegenstand der Wissenschaft... und damit als Gegenstand der Reproduktion. Karl Löwith, von dem die programmatische Umdeutung von Vicos These zu einer Grundformel der neuzeitlichen Wissenschaft stammt, hat 1968 die Ausweitung der im instrumenteilen Charakter der Technik angelegten Prozesse der Wissenschaftsentwicklung auf den Menschen selbst in folgender Weise charakterisiert: Es ist von hieraus nur noch ein, obgleich entscheidender Schritt in derselben Richtung, wenn die neuesten Wissenschaften, Kybernetik und experimentelle Genetik, nicht nur die Welt außer uns durch wissenschaftlich-technische Arbeit anders machen, als sie bisher gewesen ist, sondern schließlich den Macher selbst verändern wollen, damit er es mit seinen Gemächten aufnehmen kann und ihnen gemäß wird. (Löwith, S. 187)

Eine vergessene Debatte? Löwiths Interpretation der inneren Antriebe der Wissenschaftsgeschichte ist dabei auch im Umkreis einer Debatte über die genetischen Veränderungen zukünftiger Menschheitsgenerationen zu verorten, die 1962 durch das Ciba-Symposium „Man and His Future" ausgelöst wurde. Im Rahmen dieses hochrangig besetzten Expertentreffens, an dem neben den Repräsentanten wichtiger wissenschaftlicher Institutionen auch sechs Nobelpreisträger teilnahmen, 1 / Francis H. Crick (Nobelpreis fur Medizin 1962), Joshua Lederberg (Nobelpreis fiir Medizin 1960), F. A. Lipmann (Nobelpreis fur Medizin 1953), P. D. Medewar (Nobelpreis fur Medizin 1960), Hermann J. Muller (Nobelpreis für Medizin und Physiologie 1946), Albert Szent-Györgyi (Nobelpreis fur Medizin 1937)

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beschäftigten sich mehrere Referate mit der „genetischen Optimierung" des Menschen. So schlug der Medizinnobelpreisträger des Jahres 1958, Joshua Lederberg, vor, „die Größe des menschlichen Gehirns durch vorgeburtliche oder frühe nachgeburtliche Eingriffe zu regulieren", denn „Es versteht sich wohl von selbst, dass »Gehirngröße« und »Intelligenz« nur als euphemistische Ausdrücke für das betrachtet werden sollen, was jeder von uns als Ideal einer Persönlichkeit ansieht". (Jungk, Mündt, S. 295). Lederbergs Vorstellung einer Vergrößerung der menschlichen Intelligenz durch die molekularbiologischen Methoden einer „kommenden Eugenik" resultierte aus der Überlegung, dass im Zeitalter der atomaren Bedrohung „die meisten von uns die Weltbevölkerung nicht für intelligent genug halten, als dass sie eine allgemeine Vernichtung verhindern könnte." (Ebd. S. 315). Weitere Möglichkeiten einer genetisch-physiologischen Umformung des Menschen sah Lederberg in der Entwicklung von künstlichen Organen und industriellen Verfahren für die Produktion bestimmter Gewebe für die Transplantation. Lederberg stand während der Konferenz mit diesem Programm einer genetischen Optimierung des Menschen durchaus nicht allein. So vertrat der Nobelpreisträger Hermann Muller die Auffassung, die Errungenschaften der modernen Zivilisation hätten die natürliche Selektion der Menschen im Kampf ums Dasein so weit außer Kraft gesetzt, dass die Gefahr der erblichen Verbreitung „genetischer Fehler" bestände. Aus diesem Grunde regte Muller die allgemeine Einführung der künstlichen Befruchtung mit „Samenmaterial" an, „dessen verschiedene Spender hervorragende Eigenschaften des Herzens, des Geistes und des Körpers bewiesen haben". So allein könne man „durch allgemeine Zustimmung zum überragenden Wert von Gesundheit, Intelligenz und Menschlichkeit einen gesunden genetischen Fortschritt einleiten" (ebd. S. 289 ff). Diese Methodik, den genetischen Fortschritt der Menschheit durch ausgesuchte Samenspender zu sichern, erschien Muller als so einleuchtend und akzeptabel, dass er sie einer anderen Variante vorzog. Denn einige seiner Kollegen, von denen er berichtet, „enttäuscht von den Be11

grenzungen und dem Flickwerk aller natürlichen Organismen, erklären einfach, es müssten völlig künstliche Wesen geschaffen werden, die den Menschen ersetzen sollen" (ebd. S. 284). Eine „Verbesserung der genetischen Konstitution" stelle dagegen, so erklärt Muller, „eine hervorragende moralische Tat, einen sozialen Dienst, der seinen L o h n in sich selbst trägt", dar (ebd. S. 289). Der Genetiker J. Haidane bedachte schließlich in einem hochspekulativen Referat (ebd. S. 367-391) noch sehr viel einschneidendere Verfahren als richtungsweisende „biologische Möglichkeiten fìir die menschliche Rasse in den nächsten zehntausend Jahren": die systematische „klonische Vermehrung" von besonders ausgezeichneten Individuen, die Herbeiführung von Mutationen durch chemische Mittel oder durch Strahlung, die „Züchtung einer Elite", die Anpassung des menschlichen Körpers fìir das Leben auf anderen Planeten oder im Weltraum bspw. fur „Astronauten mit Greiffußen, die zum Gehen ungeeignet sind". Diese Gedankenspiele von Biologen und Wissenschaftlern in führenden Positionen, die auch aufgrund der Biographien der Teilnehmer in die Tradition der eugenischen Bewegungen vom Beginn des 2 Oten Jahrhunderts zu setzen sind (hierzu cf. Kühl 1997), stehen im Kontext der Weltraum- und Atomeuphorie der sechziger Jahre und vor dem Hintergrund der noch weitgehend ungebrochenen Vorstellung technischer Allmachbarkeit in der Zeit vor der ersten Energiekrise und der wirtschaftlichen Rezession zu Beginn der 70er Jahre. Gleichwohl fanden die auf der Londoner Konferenz vertretenen Gedankenspiele auch deutlichen Widerspruch. 1964 veröffentlichte Robert Kaufmann noch vor Publikation der deutschsprachigen Tagungsdokumentation eine Reihe von kritischen Gegenthesen. Die Ansichten Mullers und seiner Kollegen fanden ebenso die ablehnende Einschätzung einer interdisziplinär zusammengesetzten Expertengruppe von Philosphen, Juristen, Medizinern und Theologen, deren Aufsätze Friedrich Wagner 1969 unter dem Titel Menschenzüchtung veröffentlichte. Wagner hatte sich bereits im Jahr 1964 zu dieser Thematik in einem Artikel in der Zeitschrift Universitas geäußert (Wagner, 1964 „Manipulation")

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und der Vorstellung von einem künstlichen oder durch molekulargenetische Eingriffe optimierten Menschen ein Kapitel in Die Wissenschaft und die gefährdete Welt gewidmet: Die Idee, einen Menschen, dem seine biologischen Grenzen die Anpassung an seine technischen Überwelten verwehren, durch Menschenmaschinen, das heißt durch Roboter zu ersetzen, die diesen Oberwelten gemäß sind, steigertsich hier zur Idee eines Menschenersatzes durch künstliche Menschenerschaffung. Denn selbst die verwirklichte Automationsutopie ließe den Menschen grundsätzlich in seinen biologischen Formen und Grenzen bestehen - auch wenn sie seiner nicht mehr als Lenker und Uberwacher bedürfte und ihn ersetzen oder verdrängen würde. Erst die Verwirklichung der Utopie einer künstlichen Menschenzüchtung würde auch diesen Menschen von seinen biologischen Schranken befreien und der Entwicklung der Wissenschaftswelt anpassen, die er sich selber geschaffen hat. (Wagner, Wissenschaft, S. 225 f.) Nach Wagners Auffassung hat die Idee eines künstlichen, durch Robotik und Informationstechnik geschaffenen oder durch genetische Eingriffe optimierten Menschen ihre Wurzel in der Kluft zwischen der Fehlbarkeit des Menschen und den modernen Werkzeugen der Technik und Wissenschaft, welche die Lebenswelt vollkommen beherrschen. In der industrialisierten Welt verwandelt sich die Lebenswelt des Menschen mehr und mehr in eine Technosphäre, in der der Mensch in seiner biologischen „Antiquiertheit" (G. Anders) ein Optimierungspotential, wenn nicht sogar einen Risikofaktor darstellt. Da der Erkenntnis- und Herrschaftsanspruch der Wissenschaften gegenüber der Natur ohne immanente Begrenzung ist, erstreckt er sich auch auf den Menschen als Teil der Natur, dessen weiterer zweckrationaler „Fortschritt" geplant werden muss. Richard Kaufmann stellte in seinen schon angesprochenen Gegenthesen die Frage, inwiefern die partikularen Fachkenntnisse wissenschaftlicher Experten überhaupt geeignet seien, als Richtschnur für 13

die Formulierung normativer Entwicklungsperspektiven fìir die gesamte Menschheit herangezogen zu werden, denn Expertenwissen sei selbst relativ. Es führe „zu einer Uberschätzung der Bedeutung, die das eigene Wissen fur das Ganze besitzt" (Kaufmann, 1964, S. 9), während andere Faktoren, die nicht zum engeren Wissensgebiet eines Experten gehörten, ausgeklammert würden. Die Ursachen des Bevölkerungswachstums seien, so Kaufmann, aber beispielsweise nicht allein von medizinischen und biologischen, sondern von soziologischen Faktoren abhängig (ebd., S. 36 f). Warum sollen wenige Experten, die sich fìir ganz andere Fragestellungen qualifiziert haben, fìir die biologische oder kulturell-zivilisatorische Evolution des Menschen zuständig werden (c£ etiam Kuhlmann, 1997, S. 338)? Aus unserer heutigen Sicht wird als ein weiterer relativierender Aspekt die zeitspezifische Begrenztheit der damaligen Perspektive deutlich. Die Grundannahme einer allmählichen genetischen Verschlechterung der Menschheit als Folge des nachlassenden Selektionsdrucks in den modernen Sozialstaaten hat sich ebenso als unzutreffend erwiesen wie die Erwartung eines Atomkrieges als Rechtfertigung fìir eugenische Zwangsmaßnahmen. Dies illustriert die zeitliche Bedingtheit von Grunderwartungen, die im Kontext einer bestimmten Zeitstimmung oder wissenschaftlichen Schulbildung unreflektiert selbst unter Experten für selbstverständlich gehalten werden. Wegen dieser Befangenheit ist der Versuch, normative Aussagen über die Zukunft des Menschen zu machen, immer fragwürdig. Dies war nicht zuletzt auch einigen (vereinzelten) Teilnehmern der Londoner Konferenz deutlich. Die Fragwürdigkeit, ein neues Menschenbild auf Basis unserer begrenzten Idealbilder und Vorstellungen zu konzipieren, wurde dort mit der Bemerkung des Kybernetikers Donald MacKay dokumentiert, der auf die Frage nach den wünschenswerten Eigenschaften einer zukünftigen Menschheit antwortete, es sei nun einmal „absolut unmöglich nach einer Orientierungsmarke zu segeln, die wir an den Bug unseres eigenen Schiffes genagelt haben" (Jungk, Mündt, S. 313). 14

Wiederkehr der Argumente Der Rückgriff auf diese vierzig Jahre zurückliegende Diskussion sei in der Einleitung eines Bandes, der sich aus der Gegenwartsperspektive mit dem „künstlichen Menschen" befassen will, daher gestattet, weil er eine erhellende Perspektive auf die heutigen Kontroversen und Zukunftsentwürfe eröffnet. Damals wie heute ist die Vorstellung eines gesetzmäßig sich vollziehenden wissenschaftlichtechnischen Fortschritts und die Vorstellung autonom ablaufender evolutionärer Prozesse (die sich heute in der Vorstellung einer „genetisch-kulturellen Ko-Evolution" manifestieren, c£ Lumsden, 1981) weit verbreitet. Dass die „Kolonien auf Planeten" und „Intelligenten Maschinen", die etwa Arthur C. Clarke fur das Jahr 2000 vorhersagte (Clarke, 1963, S. 301), nicht eingetroffen sind, ist aber nicht etwa ein grundsätzliches Argument gegen Zukunftsprognosen, sondern beweist die zeitliche Bedingtheit von Vorhersagen, die zwangsläufig bestimmte Phänomene überschätzen und andere nicht angemessen würdigen können. Die außerwissenschaftlichen Einflüsse und Rahmenbedingungen, die nicht zuletzt auch fur wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn selbst von grundlegender Bedeutung sind, werden hingegen oft vorschnell ausgeblendet, da sie sich einer einfachen Erfassung entziehen. Fraglos ist jedoch die Tatsache, dass in den letzten Jahrzehnten der Spielraum an Möglichkeiten durch die Errungenschaften gerade der Genetik und Biotechnologie, der Computer- und Informationstechnik enorm gewachsen ist. Die Entwicklung und Anwendung neuer Technologien wird aber nicht allein aus einer „Logik der Forschung" heraus bestimmt, sondern von den Interessen der Institutionen und Individuen, den Werte- und Rechtssystemen einer Gesellschaft. Eine Reduktion der Fragen, wie die Interventionsmöglichkeiten der neuen Technologien bewertet und verantwortungsvoll eingesetzt werden können, auf allein innerwissenschaftliche Entwicklungsperspektiven wird man daher aus der Perspektive Auguste Comtes als „Positivismus", aus der Perspektive des Philo15

sophen Habermas als „Technik und Wissenschaft als Ideologie" werten müssen. Der Technikphilosoph Günter Ropohl vertrat bei einer Konferenz der Deutschen Gesellschaft fur Systemforschung 2002 in Cottbus die Meinung, dass die Relativierung eben dieses Paradigmas eines „technologischen Szientismus und Determinismus" eine normative Wende und eine der wesentlichen Leistungen der interdisziplinären Technikforschung der letzten dreißig Jahre darstellt. Nach wie vor sind aber viele populärwissenschaftliche Darstellungen von einem unreflektierten Fortschrittsglauben getragen und auch in der jüngsten Debatte über die Forschung mit embryonalen Stammzellen sind Argumente mit einem deterministischen Unterton zu vernehmen gewesen. Dies gilt in besonders prominenter Weise fur das Argument, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft in ihren Empfehlungen zur Forschung an menschlichen Stammzellen (3.5. 2001) formulierte: mit der Einfuhrung der künstlichen Befruchtung sei der „Rubikon in dieser Frage" bereits überschritten worden. Die Anspielung auf ein historisches Beispiel, auf Caesars Überschreitung des Grenzflusses Rubikon, die im Jahr 49 v. Chr. den Beginn des römischen Bürgerkriegs markiert, sollte nahelegen, mit der längst vollzogenen Einfuhrung der künstlichen Befruchtung sei in der gleichen Weise der Weg zur Forschung an embryonalen Stammzellen vorherbestimmt wie durch Caesars Überschreitung des Rubikon sein späterer Sieg gegen Pompeius und die römische Republik. Doch weder in der Geschichte noch in der Wissenschaftsgeschichte gibt es Prädestinationen. Zu Recht wies Johannes Rau in seiner Berliner Rede vom 18. Mai 2001 daraufhin: „Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon". Doch auch auf der Gegenseite gibt es eingefahrene Argumentationsmechanismen. Die oft gestellte Frage, ob der Mensch alles darf, was er kann, ist vielleicht schnell mit „Nein" zu beantworten. Die Antwort bleibt aber so unspezifisch, dass sie keinen Orientierungscharakter besitzt, wenn sich sowohl die Vertreter neuer Technologien wie die Skeptiker aufWerte berufen und wenn sich in der Debatte über die Anwendungsperspektiven der Biotechnologie An-

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tinomien zwischen Fortschrittshoffnung und Risikobedenken, zwischen der Hoffnung auf Heilung bisher nicht therapierbarer Erkrankungen und der Bedenken wegen der Verletzung des Schutzgebotes ungeborenen Lebens ergeben. Ein differenzierteres Eingehen auf die Konfliktlinien und die betroffenen Werte ist geboten und - wie die Beiträge dieses Bandes zeigen - auch möglich. Die Erinnerung an die eingangs dargestellte Debatte ruft schließlich ins Gedächtnis, dass eine Diskussion über wissenschaftliche Eingriffe in die Reproduktion des Menschen auf zellularer und molekulargenetischer Ebene keineswegs so neu ist, wie es uns aufgrund der jüngsten Fortschritte der Biologie und Medizintechnik unserer Zeit erscheinen will. Dass die Auseinandersetzung um die auf dem Ciba-Symposium geäußerten Thesen wie die Stellungnahmen Wagners und Kaufmanns heute weitgehend vergessen sind und in den Diskussionen über Biotechnologie und künstliche Intelligenz selten eingebracht worden sind, mag an der Tendenz liegen, die wissenschaftlichen Errungenschaften der eigenen Epoche stärker zu gewichten als die der Vergangenheit. Typisch für diese Gegenwartsfixierung ist das beständige Ausrufen von neuen Zeitenwenden. Mit der Etablierung des Internet wurde ebenso ein (digitales) „Zeitalter der Information" und der Ubergang in die Wissens- oder Netzwerkgesellschaft verkündet wie im Frühjahr 2000 mit der weitgehenden Sequentierung der menschlichen DNA der Aufgang eines biotechnischen oder Genzeitalters registriert wurde. Die Proklamationen aus früheren Jahrzehnten mit dem Präfix des Atom- oder Raumzeitalters wirken heute schon antiquiert, während der in den sechziger Jahren geprägte Begriff der „biologischen Revolution" oder die Vorstellung eines Überganges des Menschen in die „Noosphäre" sich nur in ihrer Metaphorik von heutigen Redeweisen von einem „biotechnischen Zeitalter" oder vom Ubergang der Menschheit in die „Wissensgesellschaft" unterscheiden. Die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, auf die sich diese Metaphern beziehen, sind ohne Zweifel hochrelevant. Die Aufmerksamkeit für die jeweils jüngsten wissenschaftlich-techni-

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sehen Fortschritte verstellt aber leicht den Blick auf die Entwicklungslinien, an denen entlang sich diese Innovationen vollziehen und zu wiederkehrenden Debatten fuhren. Wie der Beitrag von Walter Zimmerli in diesem Band aufzeigt, sind wir längst im Zeitalter von „Mensch-Maschine-Zentauren" angekommen, wenn auch die genetische Veränderung des Menschen oder seine künstlichen Nachbildung bisher Allmachtsvorstellungen oder Schreckensbilder geblieben sind.

Die Verfügbarkeit über den Körper als Autonomie Dass der Mensch als „Mängelwesen" seine körperlichen Schwächen durch die „Prothesen" seiner Werkzeuge und Schöpfungen ausgleicht, ist ein Topos seit der Antike. Während Tiere an ihre Lebensumgebung durch Felle, Zähne und Klauen angepasst sind, ist der Mensch nackt und benötigt Kleidung und Werkzeuge, um zu überleben. Der Mensch bedarf nach der Geburt langer Fürsorge (Diels/Kranz, Anaximander 12Α10;) und ist auch als Erwachsener an Kraft oder Schnelligkeit vielen Tieren unterlegen. Andererseits ist er das einzige Lebewesen, das von sich selbst weiß, das Vernunft, planende Rationalität, Gedächtniskraft und Hände besitzt, die vieles hervorbringen können (Diels/Kranz, Anaxagoras 59B21). Diese Charakterisierung des Menschen als Hersteller und Anwender von Werkzeugen gehört zu seinen anthropologischen Grundbestimmungen. Die Fähigkeit, die Natur „künstlich" zu verändern, bedeutet auch einen erheblichen Zuwachs an Macht. Als das machtvollste Werkzeug zur kontrollierten Veränderung der ihn umgebenden Wirklichkeit hat sich fur den Menschen die Technik erwiesen. Dieses Werkzeug, welches eine planmäßige Veränderung der Umwelt auf Basis eines Systems von Ursache-Wirkungs-Beziehungen ermöglicht, wirkt aber auch auf den Menschen zurück, denn dieser muss sich in der inneren Logik der Technik durch eine Disziplinierungsleistung anpassen. Freud hat die Werkzeugnatur der Technik und die sich daraus ergebenden Spannungen, die den Menschen in 18

seinen begrenzten Fähigkeiten zu einem „Prothesengott" machen 1930 in Das Unbehagen in der Kultur beschrieben. Es klingt nicht nur wie ein Märchen, es ist direkt die Erfüllung aller - nein der meisten - Märchenwünsche, was der Mensch durch seine Wissenschaft und Technik auf dieser Erde hergestellt hat, in der er zuerst als ein schwaches Tierwesen auftrat und in diejedes Individuum seiner Art wiederum als hilfloser Säugling [...] eintreten muss. [...] Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn man alle Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen. Er hat übrigens ein Recht, sich damit zu trösten, dass diese Entwicklung nicht gerade mit dem Jahr 1930 A.D. abgeschlossen sein wird. Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern. Im Interesse unserer Untersuchung wollen wir aber auch nicht vergessen, dass der heutige Mensch sich in dieser Gottähnlichkeit nicht glücklichfühlt. (Freud, 1930, S. 49 f) Trotz der Unzufriedenheit, die der Mensch nach Freud in der technisierten Welt empfindet, kann der Zuwachs an technischen Optionen als ein Emanzipationsprozess gegenüber der Natur verstanden werden, deren Gestaltung der Mensch mittels der Technik übernehmen und vor deren gefahrvollen Einwirkungen sich der Mensch durch die Technik besser schützen kann. Dieser Zugewinn an Autonomie erstreckt sich auch immer über den menschlichen Körper, dessen Interpretation durch Tracht, Mode, Tätowierungen, Schmuck in allen Kulturen zu allen Zeiten anzutreffen ist. Die Gesundheits- und Fitnesswelle unserer Tage, die Renaissance von tattoos und piercings, die Betonung von sportlicher Leistungsfähigkeit, Schlankheit und attraktivem Aussehen, dem ggf. auch durch plastische Chirurgie nachgeholfen wird, sind Ausdruck dieser Gestaltungsmöglichkeiten (cf. Beck-Gernsheim 1998). Sie sind dem In19

dividuum nicht gänzlich ins Belieben gestellt, sondern einerseits gesellschaftlich eingebettete Größen, die den beruflichen oder privaten Erfolg mitbestimmen. Auf der anderen Seite sind in der pluralistischen Gesellschaft eine Vielzahl von Interpretationen und Gestaltungsmöglichkeiten denkbar und zugelassen, deren Spektrum weit über das hinaus gehen, was andere Zeitalter an Abweichungen am fur bestimmte Stände und Klassen festgelegten Erscheinungsbild zugelassen haben. Diese Interpretationen des Körperlichen sind quasi kulturelle Schatten, die als ständige Begleiter der gesellschaftlichen Entwicklungen präsent sind. Die Betonung von körperlicher Fitness und das Eindringen von Motiven aus dem militärischen oder dem Extremsportbereich in die Mode und Populärkultur unserer Zeit kann man im Sinne Richard Sennetts so vielleicht auch als Hinweis auf einen veränderten, flexibilisierten Leistungsdruck interpretieren, der selbst für Großstadtbewohner Adaptionen des survival-looks als Freizeitbekleidung obligatorisch macht. Bedenklich wird die gewonnene Gestaltungsfreiheit spätestens dann, wenn nicht der eigene Körper verändert, sondern der Zugriff auf die kommende Generation durch die Beeinflussung des Reproduktionsprozesses angestrebt wird. Die Schwierigkeiten, die sich daraus in pluralistischen Gesellschaften mit verschiedenen kulturellen Orientierungsmustern ergeben, haben Wolfgang van den Daele und Bernd Flessner in diesem Band ausgearbeitet. Das darin enthaltene Problempotential wurde im Mitte 2002 in ausgeprägter Weise deutlich, als die Meldung durch die Presse ging, durch entsprechende Auswahl eines Samenspenders habe ein gehörloses lesbisches Paar in den USA ein - wie sie - taubes Wunschkind gezeugt. Die Ausweitung der eigenen Autonomie zur Beeinflussung der nachfolgenden Generation schränkt deren Entscheidungsfreiheit in unzulässiger Weise ein.

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Technische

Übergipfelung

des

Menschen

Ein anderer Aspekt betrifft den Einfluss, den wissenschaftlich-technische Modelle fiir die Interpretation und - im Sinne Freuds - „Prothetisierung" des Körpers haben. Diese Wechselwirkungen hat Florian Rötzer im vorliegenden Band entfaltet. Der Computertechnik und der Genetik sind dabei zwei Prinzipien gemeinsam. Dies ist erstens die Betrachtung komplexer Abläufe als Prozesse der Informationsverarbeitung und -speicherung. Vereinfacht erscheint der Mensch aus dieser Perspektive durch einen Satz von Informationen bestimmt, die in den Molekülen der DNA als Speichermedium abgelegt sind. Auch der Schritt vom genetischen zum Computerprogramm ist in dieser Sichtweise nicht mehr fundamental. Schon seit längerer Zeit beschäftigen sich Genetiker und Informatiker mit der Konzeption von DNA-Computern zur parallelen Datenverarbeitung, deren Konzeption auf Experimente des Informatikers Leonard Adleman Mitte der neunziger Jahre zurückgeht. Es ist zu erwarten, dass in der Zukunft sehr viel engere Beziehungen und gewinnbringende wissenschaftliche Verknüpfungen zwischen Biologie und Informationstechnologie bestehen werden. Die zweite Gemeinsamkeit besteht in der bereits diskutierten Aussicht der zukünftigen Fortentwicklung dieser (genetischen) Information, die aus der Perspektive der Biologie als Evolution, aus der Perspektive der Informationstechnologie als technisch-wissenschaftlicher Fortschritt, als Optimierung des Programms bezeichnet werden kann. Beide Disziplinen werden über diese Fortschrittsvorstellungen einen wesentlichen Einfluss auf die zukünftigen Lebensumstände wie auch auf das Selbstverständnis des Menschen haben. Der Robotikforscher Hans Moravec formulierte die Perspektive der zukünftigen Evolution des Menschen 1990 in seinem Buch Mind Children als einen Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. 1993 fasste er seine Thesen in einem kurzen Essay Geist ohne Körper auf einer Tagung des Wissenschaftszentrums Nord21

rhein-Westfalen zusammen. Nach Moravec ist die Vergänglichkeit des menschlichen Bewusstseins, ein uraltes Thema aller Religion und Philosophie, überwindbar, wenn wir unseren Geist, unsere Erinnerungen und unser Selbst, die ja nichts anderes als im Gehirn gespeicherte Informationen seien, elektronischen Speichermedien anvertrauen. Der „struggle for life", den Darwins Evolutionstheorie allen Lebewesen zur Aufgabe macht, ist für die Menschen der Zukunft ein Kampf um Speicherplatz. Der Medienphilosoph Vilém Flusser führte 1989 in Hinblick auf das menschliche Gedächtnis aus: Elektronische Gedächtnisse sind bequemer als zerebrale informierbar, sie haben eine größere Lagerkapazität, sie können die in ihnen gelagerten Informationen besser bewahren, die einzelnen Informationen sind von dort bequemer abrufbar, und man kann unschwer die Informationen von einem Gedächtnis auf ein anderes übertragen. All diese (und andere) Vorteile werden dazu fuhren, dass künftig die erworbenen Informationen (Daten) nicht mehr in Gehirnen, sondern dort gelagert werden. (Flusser, 1989, S. 49 f) Es wundert nicht zu sehr, wenn Flusser an anderer Stelle ausführt: „Es gibt keinen Widerspruch Mensch-Maschine, sondern die Maschine ist ein Teil des Menschen" (Flusser, 1993, S. 70) und: „es wird deutlich, dass das Individuum nicht existiert, dass man das Individuum genauso teilen kann, wie das Atom" (ebd. S. 76). Die Vorstellungen Flussers sind jedoch sehr viel mehr Spekulation als Realität: kein elektronisches Speichermedium vermag heute Informationen über eine Zeit von vielleicht 70 Jahren, der Lebensdauer eines menschlichen Gedächtnisses, zu bewahren; in der Praxis erweisen sich Datenbanken oft als nicht kompatibel und keineswegs als intelligenter als Menschen, die die Kategorien festgelegt haben, unter denen in ihnen Informationen gespeichert werden. Im geistesgeschichtlichen Kontext stehen Flussers und Moravecs Konzeptionen in der Tradition eines erkenntnistheoretischen Ma22

terialismus, als dessen früher Vertreter der Arzt und Philosoph Julien Offray de la Mettrie mit seiner programmatischen Schrift Hhomme machine von 1748 angesehen werden kann. La Mettrie folgert: „Wenn nun alle Eigenschaften der Seele von der eigentümlichen Organisation des Gehirns und des ganzen Körpers so sehr abhängen, dass sie sichtlich eben nur diese Organisation selbst sind, so liegt uns hier eine sehr aufgeklärte Maschine vor. [...] Die Seele ist also ein nichtssagender Ausdruck, von dem man gar keine Vorstellung hat und den ein scharfer Kopf nur gebrauchen darf um damit den Teil, der in uns denkt, zu benennen." (La Mettrie, 40 f). In einem Interview, das Dominik Landwehr 1998 mit dem australischen Künstler Stelarc führte, der in seinen Multimedia-Performances versucht, die Interaktion zwischen menschlichem Körper und den modernen Informationstechnologien zu inszenieren, findet sich genau eine solche Verbindung zwischen dem Materialismus in der Tradition de la Mettries und dem beschriebenen Streben nach Autonomie über den eignen Körper durch technische Kolonisation. Mit Hilfe der Nanotechnologie wird es in Zukunft miniaturisierte Maschinen geben, die sich frei im Körperinneren bewegen können. Wir können den Körper so mit kleinen Robotern kolonialisieren. [...] Ideen wie Seele, Geist etc. sind kulturelle Konstrukte. Man kann die Ideen eines Geistes in der Welt durch Interaktionen erklären. Wir haben einfach die Tendenz, unsere Ideen nach außen zu projizieren. Geist ist ein kulturelles Konstrukt, nicht etwas, das per se schon existiert. [...] Ich glaube nicht, daß wir eine Seele haben! [...] Was uns einzigartig macht, ist die Technologie. Wir haben zwei Hände, um damit Artefakte, Instrumente und Maschinen zu bauen. Technologie ist nichts Fremdes oder Anderes. Man kann Technologie und Körper nicht trennen. Technologie ist ein Teil des Menschen. (Landwehr 1998) Die Implikationen aus Flussers und Moravecs Zukunftserwartungen gehen aber noch weiter. Moravec erwartet langfristig das Ent23

stehen künstlicher nicht-menschlicher Intelligenzen, die in ihren Fähigkeiten den organischen Menschen weit hinter sich lassen werden, im weltweiten Informationsnetz quasi allgegenwärtig sein können und praktisch unsterblich sind. Die düsteren Implikationen einer solchen Zukunftserwartung, die nach seiner Auffassung unausweichlich ist, hat der britische KI-Forscher Kevin Warwick in seiner Studie In the Mind of the Machine: The Breakthrough in Artificial Intelligence ausgemalt. The human race, as we know it, is very likely to be in its endgame; our period of dominance on Earth is about to be terminated. We can try and reason and bargain with the machines which take over, but why should they listen when they arefar more intelligent than we are? All we should expect is that we humans are treated by the machines in the same way that we now treat other animals, as slave workers, energy producers or curiosities in zoos. We must obey their wishes and live only to serve all our lives, what there is of them, under the control of machines. (Warwick, S. 302) Vor dem Hintergrund solcher Träume oder Alpträume von der Ubergipfelung des Menschen durch die Maschine formulierte der Philosoph Gernot Böhme 1999 die These: Die Menschenwürde ist heute durch die Technisierung des menschlichen Körpers bedroht. Das fuhrt dazu, dass man Menschsein nicht mehr in Abgrenzung gegen Tierheit oder Gottheit definieren muss, sondern gegen die Maschine. In Abwandlung jenes Satzes von Albert Camus [...] müsste man heute die Maxime des souveränen Menschen soformulieren: »Leben und sterben lernen und, um Mensch zu sein, sich weigern, Maschine zu sein.« (Böhme, 1999, S. 57).

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Künstliche

Intelligenzen

In der alltäglichen Lebens- und Arbeitswelt sind die Verbindungslinien zu den Anwendungen der Künstlichen-Intelligenz (KI) Forschung allerdings bisher weniger apokalyptisch. Forschung im Bereich der Künstlichen Intelligenz versucht, Leistungen intelligenten Verhaltens nachzubilden und die Funktionsweisen intelligenten Verhaltens durch Modellbildung besser zu verstehen. Der heutige Schwerpunkt in der KI-Forschung liegt in der Entwicklung von Systemen, welche auf Basis von Regeln auf einer symbolischen Ebene Wissen repräsentieren und automatische Schlussfolgerungen durch den Computer ermöglichen können. Gegenwärtig werden auf diesen Grundlagen automatische Systeme entwickelt, die komplexe Abläufe wie automatische Fahrzeugsteuerung oder Spracherkennung durch die Auswertung von Kontextinformationen selbständig durchführen. Ein weiterer Schritt sind sogenannte „eingebettete Internetdienste" welche als „Softwareagentensysteme" in bestehende technische Alltagssysteme eingebettet werden und über einen drahtlosen Zugang im Internet miteinander verbunden sind. Geräte des täglichen Gebrauchs werden so eine Art „Datenschatten" bekommen und sich selbstständig mit ihren Nutzern und untereinander austauschen. Demgegenüber sind „Netbots" Assistenten-Programme, die das persönliche Informationsprofil und die Interessen des Nutzers kennen und maßgeschneiderte Suchaufgaben im Internet ausführen. Aus der Perspektive der Anbieter ermöglichen solche KIVerfahren auch, zielgruppenspezifische Agenten auftreten zu lassen, die als virtuelle Personen auf dem Bildschirm visualisiert werden. In einem US-amerikanischen System kann der Nutzer beispielsweise der virtuellen Autoverkäuferin Jennifer James begegnen, die dreidimensional auf ihn zutritt und sich vorstellt. Er kann eine argumentative oder Informationssituation nach seinen spezifischen Wünschen präfigurieren. Schon heute ziehen besondere Programme im Internet Schlussfolgerungen daraus, was sich ein Surfer ansieht, wie lange er auf einer Seite verweilt, welche Informationen er abruft

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usw. Daraus werden Benutzermodelle aufgebaut, die den Anbietern von Informationen helfen, maßgeschneidert auf bestimmte Bedürfnis- und Interessentengruppen zu reagieren. Demgegenüber integriert der Bereich der Robotik gleich mehrere Technologien der KI-Forschung: Wissensverarbeitung, Mustererkennung, Verstehen natürlicher Sprache, Entscheidungsfindung usw. Mit den virtuellen Agenten, Verkäufern und Gesprächspartnern, die die anwendungsbezogene KI-Forschung programmiert, entwickelt dieses Feld auch einen Umgang mit virtuellen Raumentwürfen, Szenarios, Rollenspielen oder Drehbüchern. Damit bewahrheitet sich in gewisser Weise auch eine Spekulation, die Denis de Rougemont im Jahr 1948 in einem Essay über die Zukunft ausarbeitete: ein Hauptinteresse des Menschen der Zukunft könne statt im Erreichen immer größerer Geschwindigkeiten und höherer Produktivität auch darin bestehen, mit Fantasiegestalten, „Feen", zu kommunizieren. Diese für Rougemont noch „unbeschreibbaren Wirklichkeiten" könnten, nachdem sich die soziale Frage durch die Kraft der Wissenschaft „im organisierten Wohlstand" aufgelöst habe, ins Zentrum des Interesses geraten, weil sich dann die „Uberwindung der Langeweile" als die eigentliche Herausforderung moderner Gesellschaften stellt (de Rougemont, 1987, S. 133 ff). Die virtuellen Gestalten und Welten der heutigen Computer- und Rollenspiele, die mittlerweile auch wirtschaftlich einen bedeutenden Markt darstellen, kann man vielleicht in dieser Weise interpretieren.

Fiktionen und Motive Dies führt zu den Verbindungslinien zwischen literarischen und technikorientierten Zukunftsbildern, die dieser Band aufgreift, indem im letzten Abschnitt in den Beiträgen von Bernd Flessner und Rudolf Drux der „künstliche Mensch" im Spiegel seiner literarischen Rezeption thematisiert wird. Die dargestellten Folgerungen und Zukunftsperspektiven, bzw. -wünsche ergeben sich weder zu-

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fällig noch zwangsläufig. Sie sind einerseits Ergebnis einer gedanklichen Fortführung von Wissenschaftskonzeptionen, die universale Geltung beanspruchen und sich auch auf den Menschen als Gegenstand der Natur, der Forschung und eines naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts beziehen. In der spekulativen Verlängerung dieser Trends sind die nächsten Stufen in der Evolution des Menschen in seiner technischen oder genetischen Optimierung abzusehen. Auf der anderen Seite sind derartige Vorstellungen immer von Motiven und Erwartungen getragen, die hinter diesen Szenarien als Grundüberzeugungen stehen. Ein Grundmotiv, das sich durch viele dieser Szenarios zieht, ist mit Francis Bacon gesprochen die Idee des „enlarging of the bounds of human empire to the effecting of all things possible" (Bacon, New Atlantis S. 239): eine eigentümliche Maß- und Ruhelosigkeit technologischer Zukunftsbilder, welche sie mit den Spekulationen der Sciencefiction gemeinsam haben, wie Jean Ladrière in der Einleitung zu Bertrand Dubreuils wichtiger Studie Imaginaire technique et éthique sociale herausgestrichen hat: C'est cette visée que la science-fiction exprime defaçon imaginaire, mais non sansfondement: elle est elle-même inspirée par cette tension de l'action innovatrice qui se pose sans cesse de nouveaux défis et se représente son avenir comme un champ de possibilités sansfrontières fixées. (Dubreuil, 1997, S. 10) Ob die Verarbeitung von Ängsten, die sich auf die neuen Technologien beziehen, in der Literatur zu einer besseren Erkundung der Wirklichkeit fuhrt, kann dagegen mit einem gewissen Recht bezweifelt werden, wie dies Joachim Radkau getan hat. „Statt den Blick für neuartige Risiken zu öffnen, wirft sie den Menschen auf überkommene Phobien zurück, so etwa im Fall der Gentechnik auf den Horror vor künstlichen Menschen oder Hominiden à la Frankenstein oder »Jurassic Park«: Gruselbildern, die von den wirklichen Risiken der Gentechnik eher ablenken" (Radkau 1997, S. 97). Die Leistung und Relevanz von Shelleys Frankenstein liegt aus heutiger 27

Sicht jedoch eher nicht in der Vorwegnahme zukünftiger Risiken oder in der Verarbeitung von Themen aus der wissenschaftlichen Diskussion um 1817 in einer Horrorgeschichte. Sie besteht in einer fundamentalen Verschiebung des Blickwinkels in die Perspektive des in Frankensteins Experiment geschaffenen Geschöpfes. Diese neue Perspektive eröffnet erst ein Verstehen der dialektischen Beziehung zwischen dem Geschöpf und seinem (wissenschaftlichen) Schöpfer. Sie verdeutlicht den psychologischen Prozess, in welchem Frankensteins Geschöpf seinen Schöpfer zu hassen lernt, weil es unvollkommen und unfrei geschaffen wurde. Während technische Zukunftsentwürfe in gewisser Weise immer abstrakt bleiben, vermag ihre Verarbeitung durch die Literatur in der Weise eines Szenarios bestimmte Vorstellungen gleichsam „in Bewegung" zu erkunden, verdeckte Motive und Traditionslinien offenzulegen. In diesem Vorgehen ist beispielsweise auch der Wert von Harry Mulischs Die Prozedur oder Michel Houellebecqs Elementarteilchen, die sich in unterschiedlicher Weise mit der Erzeugung künstlichen Lebens befassen, als Beitrag zur Diskussion um die Reproduzierbarkeit des Menschen zu bemessen. Auf der anderen Seite ist der Gebrauch dieser literarischen Motive außerhalb des philologischen Kontextes - dies zeigt gerade das Beispiel Frankenstein - sehr schnell missverständlich und verkürzend, wenn man die in den Erzählungen enthaltenen Zusammenhänge und Bedeutungsnuancen außer Acht lässt.

Schlussfolgerungen Der Untertitel dieses Buches greift den Titel eines bekannten Essays von Walter Benjamin auf: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Benjamins berühmt gewordene These aus dem Jahr 1936 stellte zur Diskussion, ob sich mit der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks zugleich ein tiefgreifender innerer Wandel in unserem Verständnis von der Kunst als sol-

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cher und dem einzelnen Kunstwerk als individuellem Original vollzogen habe. - Ist nun der Mensch selbst in Gefahr, zu einer beliebig reproduzierbaren Größe, zum Kunstwerk seiner selbst zu werden? Weder die biotechnologische noch mechanisch-informationstechnische Erschaffung eines „künstlichen Menschen" stehen unmittelbar bevor. Wohl ist aber, wie der Beitrag von Benita Hermanns, Christian Mittermayer und Bernd Klosterhalfen aber auch Walter Zimmerli darstellen, ein „Mensch-Maschine-Tandem" als „Teil-Kunstprodukt" gegenwärtig schon greifbar. Eng damit verbunden ist die Bedeutung, die der philosophischen Ethik als Orientierungshilfe bei der Bewertung des technisch Möglichen und der antizipierten Entwicklungen zukommt. Diese Fragen haben Dieter Birnbacher und Klaus Kornwachs im vorliegenden Band behandelt. Technische Systeme, die heute mit großem arbeitsteiligem Entwicklungs- und Produktionsaufwand bereitgestellt werden, wirken auf den einzelnen Menschen wie anonyme Kräfte, an deren Auftreten er wenig ändern kann. Wie im ursprünglichen Verhältnis zur Natur empfindet sich der Mensch nun auch im Verhältnis einer als autonom wahrgenommenen Technosphäre als „Mängelwesen". Angesichts der Überlegenheit der maschinellen, technoiden Leistungsfähigkeit und Entwicklungskraft ist die Reaktion des endlichen „organischen" Menschen eine ambivalente. Sie besteht einerseits in dem Gefühl der Unterlegenheit vor den eigenen technischen Schöpfungen, ein Gefühl, das sich in Unbehagen und Sorge gegenüber dem technischen Fortschritt äußert. Die zweite Komponente besteht aber auch in dem Wunsch, es mit diesen Herausforderungen aufnehmen zu können. Sie fuhrt vielleicht in Zukunft zur Ausstattung des menschlichen Körpers und Gehirns mit mechanisch-elektronischen Implantaten und Prothesen, wie sie die Szenarien der Sciencefiction schon lange voraussehen, oder zu einer genetischen Optimierungen der menschlichen Erbanlagen. Die Zukunft des Menschen wird, auf die eine oder andere Weise, zwangsläufig in einer Koevolution mit seinen technischen Schöpfungen bestehen. Auch wenn Zukunftsvisionen, in der Art wie sie Hans

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Moravec oder Villém Flusser entworfen haben, beim augenblicklichen Stand der Forschung eher utopisch wirken, sind die mit ihnen verknüpften Motive und Ängste, die die Diskussion um den künstlichen Menschen seit mehr als einem halben Jahrhundert begleiten, durchaus real und folgewirksam. Sie sind zu Beginn und im Prozess jeder technischen und wissenschaftlichen Entwicklung präsent, finden jedoch selten in den Diskussionen über technische Zukunftsperspektiven Berücksichtigung. Die modernen Leistungen der Medizin, der Bio- und Informationstechnologie haben heute die Möglichkeiten zur Reproduktion, Simulation und Manipulation menschlicher Körper- und Verstandesleistungen enorm vergrößert. Wenn Individualität und Intelligenz, die den Kern des menschlichen Selbstverständnisses markieren, in Zukunft künstlich beeinflussbar oder reproduzierbar werden sollten, stellt dies grundsätzlich einen sehr viel größeren Eingriff in das Menschenbild dar als die Unterstützung oder der Ersatz bestimmter Körperfunktionen durch medizinische oder informationstechnische Prothetik. Die Aussage aus der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren" (Art. 1) wäre dann insofern in Frage gestellt, als durch die Manipulation am Erbgut ein Mensch nicht frei, sondern zu dem Zweck, Träger einer bestimmten Eigenschaft zu sein, geboren würde. Die Natürlichkeit des Menschen ist so trotz aller Fehlbarkeit im Sinne des oben zitierten Wortes von Gernot Böhme als ein Garant von Freiheit vor dem umfassenden Zugriff technischer Rationalisierungstendenzen zu begreifen. Den implementaristischen, technoiden Ansätzen, die den alten Menschheitsproblemen der Endlichkeit, Sterblichkeit, körperlichen und geistigen Grenzen eine technische und vielleicht genetische Lösung vorschlagen, steht schließlich auch die Bildungskonzeption der europäischen Aufklärung entgegen. Bildung beruht auf dem Prinzip der Freiheit, während jeder technischen Lösung das Prinzip der Gesetzlichkeit, welche als Naturgesetzlichkeit gedacht wird, zugrundelegt. Bildung ist deshalb auch eine ungleich mühevollere An-

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strengung, weil sie nie von dem Erfolg ihrer Bemühungen ausgehen kann. Die von Peter Sloterdijk in seinem 1999 gehaltenen Vortrag „Regeln fiir den Menschenpark" vorgeschlagene Beendigung des humanistischen Bildungsprojektes durch genetische Einflussnahme, die wegen ihrer Nähe zu eugenischen Theoremen großes Aufsehen erzeugte, zerstört mit der vermeintlichen Absicherung dieses Humanismusideals mittels genetischer Eingriffe die unhintergehbare Basis jedes Humanismus, da mit dem Verfahren „genetischer Zähmung" die Grundlage der menschlichen Freiheit zertrümmert wird. Gerade durch die beschleunigte Weiterentwicklung unseres technischen Könnens haben Mündigkeit, Wissen und sittliches Empfinden auf Basis der menschlichen Freiheit eine immer größere Bedeutung und Aktualität, da mit der Zunahme der Möglichkeiten und Tragweite unserer Entscheidungen eine um so größere Verantwortung verbunden ist.

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Der vorangestellte Text von Pico della Mirandola lautet in deutscher Übersetzung: Endlich glaubte ich verstanden zu haben, warum der Mensch das am meisten gesegnete und daher einjeder Bewunderung würdiges Lebewesen ist und wasfur eine Stellung es schließlich ist, die ihm in der Reihe des Universums zuteil geworden ist und um die ihn nicht nur die vernunftlosen Geschöpfe, sondern die Sterne, die überweltlichen Geister gar beneiden müssen. Die Sache ist unglaublich und wunderbar. Warum auch nicht? Denn deshalb wird der Mensch zu Recht ein großes Wunder und ein in der Tat beneidenswertes Lebewesen genannt und auch dafìir gehalten. (Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, 1496)

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Körper: Biotechnologie und Genetik

Benita Hermanns, Christian Mittermayer, Bernd Klosterhalfen Möglichkeiten und Grenzen des

Der alte Traum der MenGewebe- und Organersatzes schen, sich selbst entweder ganz oder wenigstens teilweise neu zu schaffen, erscheint durch wissenschaftliche Fortschritte realisierbarer denn je. Man kann sich dabei zwei grundverschiedene Wege vorstellen.

Grenzen des

Expertenwissens

Hierbei erfolgt eine Manipulation embryonaler Zellen zu einem Zeitpunkt, wo künftige Eigenschaften des Individuums durch Änderungen des Gesamtgenoms noch manipuliert werden können und sich dann auf das gesamte zukünftige Lebenswesen auswirkt. Dies setzt voraus, dass die Kenntnis der spezifischen Genexpressionen, ihre Regulation sowie die Wirkung der codierten Proteine gänzlich bekannt ist. Zwar ist der genetische Code der menschlichen Erbsubstanz (DNA) fast vollständig entschlüsselt. Die Frage der Bedeutung und Ubersetzung der Erbinformation und des Modus operandi der DNA harrt jedoch noch viele Jahre und Jahrzehnte der Aufklärung. Insoweit ist es unwahrscheinlich, dass es den „künstlichen Menschen" in vorhersehbarer Zeit - wenn überhaupt jemals - geben wird. Nebst den technischen Schwierigkeiten erheben sich selbstverständlich ethische Fragen.

Die postnatale Manipulation Durch postnatale Manipulation können Teile eines Individuums, d.h. Organe oder Gewebe ersetzt werden. Dies kann durch direkte

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Organ- oder Gewebeübertragung geschehen; eigene Organe oder Gewebe oder die Organe und Gewebe eines anderen Individuums werden übertragen (Transplantation), oder es werden Materialien eingesetzt, die nicht aus der belebten Welt stammen (Implantation). Beide Prinzipien des Organ-/Gewebsersatzes treten dabei in Konkurrenz: In jedem Fall resultiert eine Abwehrreaktion des Organismus, die im Falle der Transplantation spezifisch oder wie im Falle der Implantation unspezifisch sein kann. Es ist das Bestreben der Forschung und Entwicklung, die Abwehrreaktionen des Organismus so niedrig wie möglich und die Funktionalität des Transplantats/Implantats so perfekt und so lange wie möglich zu erhalten. Die vorliegende Betrachtung stellt die Implantation ais Methode des Organ- und Gewebsersatzes näher dar. Die Betrachtungsweise kann dabei von verschiedenen Blickwinkeln aus erfolgen: - in Bezug auf die Organ- und der Gewebeherkunft, - im Zeitbezug: permanenter oder temporärer Ersatz eines Organs, - in Bezug auf Kosten und Rentabilität und schließlich die - Notwendigkeit des Implantats hinsichtlich des Uberlebens. Zum letzteren Punkt seien einige Gedanken hinzugefugt: Handelt es sich um ein lebenswichtiges Organ oder um wünschenswerte Organfunktionen, die ersetzt werden sollen oder handelt es sich um Beiträge zur Ästhetik des Menschen? Als zweifellos lebenswichtig sind der Ersatz einer versagenden Herzklappe, einer defekten Körperhauptschlagader oder die Deckung eines Herzwanddefektes anzusehen. Bedeutsam und lebensrettend kann auch die Deckung von Bauchwanddefekten sein. Wichtig sind auch die Deckung von Defekten der Hirnhüllen und die Wiederwegsammachung von Hohlorganen mittels Röhren oder Hülsen (stents). Knochenaufbau kann lebensrettend an vital wichtigen Stellen, beispielsweise an der Schädelbasis, am Zahnapparat oder an wichtigen Knochenabschnitten sein. Der Ersatz der Nierenfunktion wird dagegen ex vivo, also durch Ausleiten des Blutes, dessen Fil-

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tration und Wiedereinleitung in den Blutkreislauf an Maschinen bewerkstelligt. Wünschenswerter und wichtiger Organersatz findet sich in großem Umfang bei Knochen- und Gelenkersatz, hier hat die Gliedmaßenprothetik ihren Hauptanteil. Den jedoch größten Anteil an der Implantatmedizin bestreitet die Zahnmedizin. Hier und auf dem Gebiet des Knochenersatzes sind riesige Fortschritte in den letzten Jahren und Jahrzehnten erzielt worden. Einen bedeutsamen, aber nicht lebensnotwendigen Organersatz stellt das Auge dar, beispielsweise durch die künstliche Hornhaut, durch künstliche Glaskörper und durch künstliche Augenlinsen. Großartiges ist in der künstlichen Sensorik geleistet worden: künstliche Hörmaschinen im Innenohr und die unmittelbar bevorstehende Schaffung einer künstlichen Sehhaut. Die ästhetische Medizin bedient sich einer weit gefassten Indikation und leistet mit Haut und Bindehautersatz Hervorragendes, und dieses zur vollen Zufriedenheit der Bedürftigen.

Tissue

Engineering

Gewebs- und Organengineering liegt in der Mitte zwischen der ersten genannten und zweiten genannten Möglichkeit. Dabei handelt es sich um eine Technik, die beide Aspekte miteinander verbindet. Es werden dreidimensionale Gerüste oder Textilien aus neuartigen künstlichen Polymeren oder Keramiken organartig vorbereitet. Notwendig dafür sind Institute und Industrieunternehmen, die völlig neue Werkstoffe ersinnen, konstruieren, synthetisieren und in die geeignete organartige Mikroform bringen können. An der RWTH Aachen wurden international anerkannte Techniken der Oberflächenbehandlung von Polymeren entwickelt, um dem menschlichen Körper eine körpereigene Materialoberfläche vorzutäuschen und somit die körpereigene Abwehr zu umgehen. Darüber hinaus 39

sind in den letzten Jahren hochtechnische chemische Polymere und Composites entstanden, sei es als Werkstoffe, die sich von selbst auflösen, seien es solche mit „Formgedächtnis", die sich nach Veränderungen wieder in die ursprüngliche Form zurückversetzen. Auch technische Institute und Forschungseinrichtungen haben fur den Organersatz vollständig neue textile Stoffe, elektrisch leitende Fasern und auch optisch durchsichtige Gegenstände (Augenlinsen) konstruiert, die völlig neuartig sind. Darüber hinaus gibt es bewegliche Implantate und Implantate, die Wirkstoffe schnell oder langsam abgeben (Release) und damit eine gewünschte Wirkung entfalten. Die sich selbst auflösenden gewebsverträglichen Spezialkunststoffe können mit Faktoren beschichtet oder vermischt werden, von denen man weiß, dass sie die Differenzierung zu Organen und Geweben bewirken. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse wird ein „Scaffold" konstruiert, das als „Gehäuse" oder „Heim" für darin eingepflanzte Zellen dient. Eine zentrale Rolle in diesen Überlegungen spielen die sogenannten Stammzellen. Der Einsatz von Stammzellen stellt einen hoffnungsvollen, neuartigen Ansatz zur Reparation physiologisch nicht regenerablen Gewebes dar. Hierbei wird zwischen den embryonalen Stammzellen (ESC) und den adulten Stammzellen unterschieden. Eine besondere Untergruppe der adulten Stammzellen stellen die sog. adulten mesenchymalen Stammzellen (aMSC) dar. Während adulte Stammzellen aus unterschiedlichen Geweben des erwachsenen Organismus isoliert werden können, dient als Quelle der embryonalen Stammzellen ausschließlich embryonales Gewebe. Auch wenn das große Potential in der Verwendung von embryonalen Stammzellen gesehen wird, so stößt die Forschung und der Einsatz dieser Zellen auf breiten ethisch begründeten gesellschaftlichen Widerstand (s.u.; „Verbrauch von Embryonen").

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Die embryonale Stammzelle und therapeutisches Klonen 1998 im November erschienen in der amerikanischen Zeitschrift Science (Thomson) und wenige Tage später in den Proceedings ofthe National Academy of the United States (Shamblott) zwei Arbeiten, die menschliche, embryonale Stammzellen beschrieben und ihre Existenz und ihre Herstellbarkeit bewiesen haben. Diese beiden amerikanischen Arbeitsgruppen haben damit der Stammzellforschung, die es schon seit zwanzig Jahren gibt, einen neuen wissenschaftlichen Raum eröffnet. Bis dato waren Stammzellen nur bei der Maus und bei nur wenigen Säugetierspezies bekannt. Nun kam der Durchbruch. Zum ersten Mal wurden embryonale Stammzellen, wie es sie bei der Maus gibt, auch fuir den Menschen nachgewiesen. Die wissenschaftliche und therapeutische Nutzung dieser embryonalen Stammzellen wird auch in Deutschland höchst kontrovers diskutiert, ein Reizwort ist das sogenannte Klonen, worunter ein Kopieren genetischer Information (s.u.) verstanden wird. Das deutsche Embryonenschutzgesetz verbietet das Klonen. In globalem Maßstab stellt sich die Frage des Klonens von Menschen jedoch nicht so eindeutig dar. Am 28. 3. 2001 erregte das einer Sekte nahestehende US-Unternehmen „Clonaid" bei der Anhörung vor einer Untersuchungskommission des US-Repräsentantenhauses durch die Auskunft Aufsehen, es habe im Auftrag eines Paares, das ein Kind im Alter von zehn Monaten an den Folgen einer Herzoperation verloren hatte, damit begonnen, einen menschlichen Embryo zu klonen. Am 12.07.2001, also etwa dreieinhalb Monate später trat die US-Firma „Advanced Cell Technology" mit der Nachricht an die Öffentlichkeit, sie wolle menschliche Embryonen klonen, um ihre Stammzellen zur Heilung schwer kranker Menschen einsetzen zu können. Diese Forschung wird international unterschiedlich bewertet. Als das britische Parlament am 19. Dezember 2000 das „therapeutische Klonen" freigab, sprachen englische Lebensrechtler von „medizinischem Kannibalismus". Deutsche Kommentatoren beklagten einen „ethischen Dammbruch" 41

und unterstellten eine „Perversion menschlichen Denkens". Die britische Gesetzesänderung verschärfte die hitzige Debatte zwischen Gegnern und Befürwortern der Biotechnik. Die Aktivitäten der US-Firmen „Advanced Cell Technology" und „Clonaid" werden voraussichtlich für neuen Zündstoff sorgen. Hinter dem Begriff „Klonen" steckt in diesem Fall ein Verfahren, welches 1997 das Schaf „Dolly" weltberühmt machte: Einer Eizelle wird der Zellkern entnommen, der das Erbgut enthält. An seine Stelle setzen die Forscher den Kern aus einer Körperzelle eines erwachsenen Tieres bzw. Menschen. Aus der so manipulierten Eizelle entwickelt sich, wenn alles gut geht, ein Embryo, der in einer „Ammenmutter" zu einer genetisch identischen Kopie der Erbgutspenders - eben einem Klon (griechisch für Zweig) - heranwachsen kann. Dieses Verfahren dürfen britische Forscher nun beim Menschen erproben - mit einem entscheidenden Unterschied: Der in einer Kulturschale heranwachsende, erst wenige Zellteilungen alte Embryo soll das Ausgangsmaterial für die Züchtung von Zellen, Geweben und Organen liefern - die so genannten Stammzellen. Aus ihnen könnte Ersatz-Gewebe jeder Art erwachsen, das zudem vom Immunsystem des Patienten nicht abgestoßen würde, da es ja dasselbe Erbgut besitzt. „Therapeutisch" heißt dieses Klonen deshalb, weil es allein dem Zweck einer Behandlung dient. Das Einpflanzen eines solchen Embryos in die Gebärmutter einer Frau - also eine Entwicklung hin zum menschlichen Klon - bleibt verboten.

Der Beginn des Lebens - in Gesetzen unterschiedlich

definiert

In Großbritannien dürfen Forscher und Arzte schon seit zwei Jahrzehnten im Labor mit bis zu wenige Tage alten menschlichen Embryonen arbeiten - bis zu jenem Zeitpunkt, an dem sich der Keimling natürlicherweise in die Gebärmutter eingenistet hätte. Dies gilt in Großbritannien als Beginn menschlichen Lebens. Das deutsche

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Embryonenschutzgesetz von 1991 hingegen sieht den Beginn im Verschmelzen der Kerne von Ei- und Samenzelle - und verbietet daher die Forschung an Embryonen. Diese unterschiedliche Definition, wann das menschliche Leben beginnt und folglich geschützt werden muss, schürt den Konflikt um das therapeutische Klonen: Vom Moment der Befruchtung an, sagen die Gegner. Dann müsste man auch die Verhütung mit der Spirale verbieten, kontern die Befürworter - auch sie verhindert das Einnisten des Embryos. Außerdem schütze der Gesetzgeber das Leben im Laborglas viel strenger als jenes im Mutterleib, da er die Abtreibung toleriert. Ein zweiter Streitpunkt: Öffnet die britische Entscheidung die Hintertür zum Klonen von Menschen? Weckt sie nicht neue Begehrlichkeiten? Die Debatte rankt sich weiter um die Frage, ob Stammzellen, die aus überzähligen Embryonen nach künstlicher Befruchtung gewonnen wurden, zu Forschungszwecken aus dem Ausland nach Deutschland importiert werden dürfen. Die Bonner Wissenschaftler Oliver Brüstle und Otmar Wiestier stellten im August 2001 den Antrag, embryonale Stammzellen für Forschungszwecke aus Israel zu importieren. Mit ihrem Projekt lösten sie bundesweit eine heftige Debatte aus. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) stellte ihre Entscheidung über den Förderantrag der beiden Arzte zwei Mal zurück und entschied sich schließlich einen Tag nach dem Votum des Bundestages, Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen unter bestimmten Auflagen zu erlauben, Ende Januar 2002 zur Förderung des Projektes. Die endgültige Bewilligung der Fördermittel von 200.000 Euro wurde dabei an die Erfüllung der geplanten gesetzlichen Regelungen geknüpft.

Nicht verboten aber höchst umstritten Die Einfuhr von embryonalen Stammzellen ist nach der Entscheidung des Bundestages vom 30. Januar 2002 in Deutschland nicht

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grundsätzlich verboten, gilt aber nach wie vor als ethisch höchst umstritten. Nach einer Infratest-Umfrage von Anfang 2002 lehnten 68 Prozent der deutschen Bevölkerung eine verbrauchende Embryonenforschung ab. Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Recht und Ethik der modernen Medizin" hatte sich ebenso mehrheitlich gegen das Forschungsvorhaben ausgesprochen. Am 29. November 2001 hatte dagegen der Nationale Ethikrat dem Import von Stammzellen unter strengen Auflagen zugestimmt. So sollten beispielsweise nur Stammzellen von überzähligen Embryonen aus der Fortpflanzungsmedizin eingeführt werden dürfen. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) wiederum hatte noch Ende Januar 2002 ein Verbot gefordert. ZdK-Präsident Hans Joachim Meyer erklärte, seine Organisation lehne die Forschung auch an sogenannten überzähligen Embryonen ab. Diese Embryonen entstehen bei einer künstlichen Befruchtung, werden aber nicht mehr für eine Schwangerschaft benötigt. Meyer forderte den Bundestag auf die gesetzliche Grundlage für ein Import-Verbot zu schaffen. Zugleich setzte er sich ausdrücklich dafür ein, die Forschung auf dem Gebiet der adulten (erwachsenen) Stammzellen zu fördern. Dies gelte auch für die Grundlagenforschung mit Stammzellen, die aus Tierembryonen gewonnen werden. Auch der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche (EKD), Manfred Kock, sprach sich gegen eine Forschung an überzähligen Embryonen aus. Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) vertrat nichtsdestoweniger schon Ende November 2001 die Ansicht, auch in Deutschland sei Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen denkbar. Voraussetzung dafür sei aber die Erfüllung strikter Sicherheitsauflagen. So müsse die Forschung wirklich hochrangige Ziele verfolgen. Auch müsse es sich um überzählige Stammzellen handeln, deren Herkunft eindeutig registriert sei, das Einverständnis der Spenderin sei dazu erforderlich. Diese Regelungen müssten dann sowohl in der staatlich geförderten Forschung wie auch in den Labors der Wirtschaftsunternehmen gelten. Die Bedingungen sollen nach den Vorstellungen Bulmahns europaweit gelten. Auch

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der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) sprach sich für den Import aus: Er warnte am 25.11. 2001 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vor einem „Absturz der Wissenschaft in Deutschland", wenn die Tür zur Gentechnik nicht möglichst schnell einen Spalt geöffnet werde. Dies ist mit der Entscheidung des Bundestages vom 30. Januar 2002 schließlich auch geschehen. Die Einfuhr embryonaler Stammzellen aus dem Ausland und ihre Verwendung zu Forschungszwecken sind nach dieser Entscheidung zulässig, wenn die Stammzellen aus sogenannten überzähligen Embryonen vor dem 01. Januar 2002 gewonnen wurden und die Forschung „hochrangige" Ziele verfolgt, worüber eine eigens berufene Kommission entscheidet. In Deutschland dagegen ist die Züchtung von neuen Stammzellenlinien nicht gestattet.

Möglicher Ausweg: adulte Stammzellen Einen möglichen Ausweg aus dem ethischen Dilemma könnten so genannte adulte („erwachsene") Stammzellen bieten, die sich in vielen Geweben des Körpers finden: Sie scheinen wesentlich wandlungsfähiger zu sein als bis vor kurzem vermutet. Verschiedene Arbeitsgruppen wiesen zuletzt nach, dass auch aus dem Knochenmark erwachsener Menschen Zellen isoliert werden können, die in verschiedene mesenchymale (aMSC) Zelltypen (Fett-, Knochen-, Knorpelgewebe) differenzierbar sind. In letzter Zeit mehren sich Beobachtungen, dass mesenchymale Zellen wesentlich vielseitiger differenziert werden können, als ursprünglich angenommen. Auch Keimblattgrenzen scheinen hier keine Limitierung zu sein. So ist bekannt, dass mesenchymale Zellen auch zu Astrozyten, Oligodendrozyten, Neuronen sowie Herz-, Skelett- und glatten Muskelzellen differenzieren können. Adulte mesenchymale Stammzellen stellen somit eine Stammzellpopulation dar, die fur die meisten Anforderungen bezüglich ihrer Differenzierbarkeit eine ausreichende Multipotenz besitzen und deren Einsatz im Gegen-

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satz zu den embryonalen Stammzellen keinen ethischen Grenzen unterliegt. Des weiteren spricht auch die Möglichkeit der autologen Stammzellgewinnung, die bei den embryonalen Stammzellen nur mit einem Klonierungsschritt artifiziell möglich ist, für den therapeutischen Einsatz von mesenchymalen Zellen. Wurden die mesenchymalen Zellen ursprünglich lediglich aus dem Knochenmark isoliert, so mehren sich in der letzten Zeit Beobachtungen, dass auch aus anderen Geweben multipotente Stammzellen isoliert werden können. So ist insbesondere beschrieben, dass auch Fettgewebe und Haut Stammzellen enthalten, die gewonnen, in vitro vermehrt und in verschiedene Zelltypen gezielt differenziert werden können. Im Hinblick auf eine zukünftige klinische Anwendung kommt dem Sachverhalt, dass adulte Stammzellen aus unterschiedlichen Geweben isoliert werden können, besondere Bedeutung zu: Für einen sinnvollen Einsatz der mesenchymalen Zellen bei der Reparation physiologisch nicht regenerablen Gewebes ist es aus Gründen der Empfängerkompatibilität notwendig, die Stammzellen aus dem Patienten selbst zu gewinnen. Bei der Entscheidung, welche Gewebeart hierbei als Stammzellquelle am besten geeignet ist, müssen folgende Aspekte in der aufgeführten Prioritätenreihenfolge berücksichtigt werden: 1. Differenzierbarkeit der gewonnen Stammzellen 2. Ergiebigkeit der Stammzellisolation (Expandierbarkeit, Verfügbarkeit des Gewebes) 3. Traumatisierung während der Gewebegewinnung 4. Kosten Vergleichende Untersuchungen bezüglich der aus den verschiedenen Gewebearten gewonnen Stammzellen im Hinblick auf die oben genannten Aspekte sind bislang noch nicht beschrieben. In einer am Institut für Pathologie der RWTH Aachen etablierten Arbeitsgruppe wurde inzwischen die Isolation, Vermehrung und Differenzierung (in Knochen-, Knorpel- und Fettzellen) adulter mesenchymaler Stammzellen sowohl aus dem Knochenmark, als

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auch aus Fettgewebe bewerkstelligt. Die so gewonnenen Stammzellen stehen bereits anderen Forschungsgruppen der medizinischen Fakultät in Kooperationen zur Verfügung.

Abb. 1 Fettzellen

Gezeigt ist das Bild 14 Tage nach Beginn des Differenzierungsprozesses. A und C: unbehandlete Kontrolle (keine Inkubation in Differenzierungsmediuni); B: Osteoblastäre Differnezierung: Alizarin-rot-Färbung - > Ca 2, -Ablagerungen schwarz, D: Adipozytäre Differenzierung: Oil-red-Färbung - > Fettvakuolen schwarz

Die örtliche Transplantation autologer mesenchymaler Zellen zur Behandlung kritischer Gewebsdefekte (speziell bei großen Knochen-, Knorpel- und Sehnengewebsdefekten) hat sich in verschieden Tiermodellen als äußerst wirksam erwiesen. Transplantiert wurden hierbei undifferenzierte mesenchymale Zellen innerhalb einer dem örtlichen Milieu angepassten Matrix, z.B. innerhalb eines Gelatine-Gels oder einer Collagen- bzw. Hydroxyapatit-Matrix.

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Einsatz von mesenchymalen Zellen bei Hernien Paradebeispiel für einen Weichteildefekt ist die sogenannte Hernie, im Volksmund auch Bruch genannt. Es wird geschätzt, dass allein in Deutschland jährlich 250.000 Operationen vorgenommen werden, weltweit weit mehr als 1.500.000. Die Hernie avanciert somit zur Volkskrankheit mit enormer sozio-ökonomischer Bedeutung. Gegenwärtig existiert in der plastischen Chirurgie großer Bauchwanddefekte (z.B. infolge großer Hernien, resezierender Eingriffe und nekrotisierender Infektionen) keine befriedigende und verbindliche therapeutische Strategie. Die klassischen Techniken der Geweberekonstruktion (gestielte/ungestielte Lappenplastik, myokutane Lappen etc.) und die jetzt in großem Umfang eingesetzten, nicht-resorbierbaren Kunststoffnetze (ePTFE, Polyester oder Polypropylen) erlauben zwar eine Deckung der Defekte, werden jedoch durch große Gewebsdefekte an anderer Stelle bzw. durch unzureichende Funktion, Infektionsrisiko, Wanderung des Implantates, Rezidivhernien und chronische Fremdkörperreaktion kompliziert. Angesichts dieser Notwendigkeit eines klinisch einsetzbaren, biologisch und funktionell adaptierten Implantates wird durch das Aachener Interdisziplinäre Zentrum für Klinische Forschung (IZKF Biomat) bereits ein Projekt gefördert, das die Entwicklung eines in vitro hergestellten Bauchwand-Implantates zum Ziel hat, das mit autologen und bauchwandtypischen Zellen besiedelt wird (Mesothelzellen, peritoneale Fibroblasten u.a). Auch hier sollen in Zukunft mesenchymale Stammzellen zum Einsatz kommen. Ob mesenchymale Stammzellen freilich das gleiche Potenzial bieten wie jene von Embryonen, ist noch umstritten. Falls nicht, bliebe ein kaum zu lösender Konflikt zwischen dem Lebensrecht der Embryonen und der Hoffnung Kranker auf Heilung: Die rasante Entwicklung der Biotechnik fordert Ethiker und Gesetzgeber mehr denn je heraus. Insbesondere Therapieansätze, die bereits jetzt praktikabel erscheinen, verlangen nach einem gesellschaftlichen und politischen Konsens.

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Stammzelltherapie

im Mutterbauch

Die pränatale Diagnostik hat seit ihren Anfängen vor drei Jahrzehnten zum Ziel, angeborene Erbkrankheiten und Fehlbildungen noch vor der Geburt zu erkennen, um sie zu behandeln. Dieses Ziel bildete die ethische Grundlage für die umfangreichen Diagnosen während der Schwangerschaft. Bislang sind indes die allermeisten Fehlbildungen und Erbschäden weder vor noch nach der Geburt therapierbar, so dass Eltern sich nach der Diagnose einer schweren Erbkrankheit oft fur einen Abbruch der Schwangerschaft entscheiden. Nachdem Diagnosemethoden den Behandlungsmöglichkeiten weit voraus geeilt waren, erzielen Mediziner in den letzten Jahren endlich auch Fortschritte bei der Therapie von Erbkrankheiten. Als großer Hoffnungsträger gilt dabei die Therapie mit Stammzellen am ungeborenen Kind. Damit können unter anderem Krankheiten des blutbildenden Systems und des Immunsystems zu einem sehr frühen Zeitpunkt behandelt werden. Früh in der Entwicklung ist die Therapie einfacher und dauerhafter, weil sich die Körperabwehr des Kindes noch nicht formiert hat. Zudem hat das Erbleiden dann noch nicht zu bleibenden Schäden gefuhrt. Da sich die Nabelschnur-Stammzellen mutmaßlich auch fur die Gentherapie besonders eignen, könnten sie dereinst sogar vorgeburtliche Genbehandlungen ermöglichen. Zuerst, so die Vision der Forschenden, könnte mit einem feinen Endoskop Blut aus der Nabelschnur eines erbgeschädigten Embryos entnommen werden. Nach der Korrektur des defekten Gens würden die korrigierten Stammzellen wieder in die Nabelschnur eingebracht. Die gentherapierten Zellen könnten sich darauf im Knochenmark des Ungeborenen einnisten und vermehren.

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Multiple

Sklerose

Multiple Sklerose ist eine Lähmungs-Erkrankung des Zentralnervensystems, die sich in der Entzündung und im Verlust der Myelinschicht der Nerven äußert. Myelin ist eine Art eiweiß- und fetthaltiger Isolationshülle, die viele unserer Nerven spiralförmig umwickelt. In der Behandlung der Multiplen Sklerose sind in den letzten Jahren große Fortschritte der Immuntherapie zu verzeichnen. Diese Therapien bezwecken eine Dämpfung oder Modulation der krankhaften immunologischen Reaktionen, haben jedoch keinen direkten Einfluss auf Reparaturvorgänge. Es ist daher nur zu verständlich, dass zunehmend Bestrebungen unternommen werden, die eingetretenen Schäden am Zentralnervensystem zu „reparieren". Für die Multiple Sklerose zielt man in erster Linie auf einen Wiederaufbau der Myelin- oder Markscheidenschicht („Re-Myelinisierung"), aber auch auf die Regeneration der zerstörten Nervenfasern. Veröffentlichungen deutscher und amerikanischer Wissenschaftler in den Jahren 1999 und 2000 (z.B. Brüstle), in denen die Autoren über erfolgreiche Versuche zur Myelin-Neubildung bei Mäusen unter Verwendung von embryonalen Stammzellen berichteten (DMSG-Stellungnahme vom August 2000), sind in diesem Zusammenhang sehr beachtet und durch die Medien bekannt gemacht worden. Die Forschungen zu Reparatur- und Regenerationsprozessen von Nervengewebe unter Zuhilfenahme von tierischen embryonalen Stammzellen zeigen, dass diese Stammzellen unmyelinisierte Nervenfortsätze von Ratten mit Myelinscheiden umhüllen können, wenn sie mit einem speziellen Gemisch an Wachstumsund Differenzierungsfaktoren behandelt werden. Diese Erkenntnisse könnten, so diese Forscher, langfristig auch far Patienten mit bestimmten Formen der MS bedeutsam werden. Da sich embryonale Stammzellen im Gegensatz zu anderen Zelltypen nahezu unbegrenzt in der Zellkulturschale vermehren lassen, stünde damit eine unerschöpfliche Spenderquelle zur Verfugung.

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Morbus

Parkinson

Morbus Parkinson ist eine der am besten charakterisierten Krankheiten der Basalganglien, einer Gruppe von Bereichen im Gehirn, die für die Koordination der Bewegung zuständig sind. Die Krankheit bewirkt die typischen Symptome des Zitterns, der ruckartigen Bewegungsabläufe und der adynamischen Bewegung (Tremor, Rigor, Akinese). Die Ursache ist der Untergang spezifischer Nervenzellen (dopaminerger Neurone) in der pars compacta der substantia nigra, eines dunkler gefärbten Abschnitts des Mittelhirns. Durch den Verlust dieser Nervenzellen werden bestimmte Nervensignale von der substantia nigra zu den Basalganglien gestört (die Übermittlung des Neurotransmitters Dopamin von der substantia nigra in das Striatum). Eine mögliche und langfristige Therapieform zur Behandlung der Parkinson-Krankheit könnte zukünftig die Transplantation dopaminerger, also Dopamin-verschickender Neurone in das Striatum sein. An der Herstellung solcher dopaminergen Neurone aus embryonalen Stammzellen wird derzeit an verschiedener Stelle geforscht.

Thalami r Striatum Dopamin

Nucleus subtahlamii Substantia nigra, Pars reticulata

Substantia nigra, Pars compacta

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Diabetes mellitus Die Häufigkeit der Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) nimmt in den westlichen Industrienationen kontinuierlich zu. Für das Jahr 2004 wird alleine für Deutschland eine Zahl von 4,5 bis 5 Millionen Diabetikern vorhergesagt. Diabetes bedingt viele ernste Folgeerkrankungen und ist mit einer erhöhten Sterblichkeit verknüpft. So nimmt die Gefäßverkalkung und damit das Risiko eines Herzinfarktes oder Schlaganfalls zu. Zusätzlich kann eine Einschränkung der Nierenfunktion bis zum Nierenversagen hinzutreten und damit eine Dialyse notwendig machen. Eine Schädigung der Augen kann bis zur Erblindung fuhren, und schließlich stellen auch Nervenschäden eine ernste Komplikation dar. Eine der Ursachen der Zuckerkrankheit ist die Zerstörung oder Fehlfunktion der Insulin produzierenden Zellen (Betazellen) in der Bauchspeicheldrüse. Um diese Zellen zu ersetzen, kann man entweder die gesamte Bauchspeicheldrüse oder auch nur die so genannten Langerhans'schen Inseln transplantieren. Bei diesen Inseln handelt es sich um Ansammlungen von spezialisierten Zellen, die den hormonproduzierenden Teil der Bauchspeicheldrüse darstellen. Ihnen gehören auch die Betazellen an. Die klinischen Ergebnisse der Inseltransplantation wurden in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Allerdings seien hierfür sehr viele isolierte Pankreasinseln notwendig, so der Würzburger Mediziner Dr. Jochen Seufert. Diese Behandlungsmöglichkeit könne daher bislang nicht auf breiter Front eingesetzt werden, weil zu wenig Spenderorgane zur Verfügung stehen. Möglicherweise lässt sich dieser Mangel beheben, wenn es gelingt, die Insulin produzierenden Zellen im Reagenzglas zu vermehren. So wurden bereits in der Bauchspeicheldrüse Stammzellen identifiziert, die die hormonbildenden Zellen ersetzen könnten. Sie besitzen auch das Potenzial, sich zu Insulin produzierenden Zellen weiterzuentwickeln.

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Blut Erstmals ist es Forschern gelungen, menschliche Blutzellen aus embryonalen Stammzellen zu gewinnen. Die Wissenschaftler der Universität Wisconsin-Madison hoffen dadurch, in Zukunft Knochenmarkspenden bereitstellen zu können. Auch die Engpässe bei Blutspenden könnten so eines Tages behoben werden, glauben die Forscher. Die amerikanischen Arzte um Dan Kaufman brachten die Stammzellen dazu, sich in Vorläuferzellen der Blutbildung zu verwandeln (Kaufman). Das gelang durch den Kontakt mit Knochenmark und Wachstumsfaktoren aus Mäusezellen, berichten die Wissenschaftler in der Zeitschrift Proceedings ofthe National Academy of Sciences. Die so entstandenen Zellen waren identisch mit menschlichen Vorläuferzellen der so genannten Hämatopoese, der Reifung von Blutzellen. Aus diesen Zellen konnten die Forscher alle wichtigen Blutzellen erzeugen, die im menschlichen Körper verschiedene Aufgaben erfüllen. Ihrer Ansicht nach wird es jedoch noch lange dauern, bis diese Technik im Alltag nutzbar ist. Die hier begonnene Liste könnte beliebig fortgesetzt werden. Für nahezu jedes Organ und dessen Erkrankungen sind Therapieansätze mit Stammzellen denkbar.

Der „künstliche Mensch"? Der „künstliche Mensch" ist aus der dargestellten Sichtweise bisher ein Teil-Kunstprodukt. Mit dem unaufhaltsamen Fortschritt der Wissenschaft wird das Teil-Kunstprodukt immer greifbarer werden. Der „künstliche Mensch" als Gesamtheit aber wird nicht so schnell Wirklichkeit werden. Gemeint wäre damit ja u.a. die Schaffung eines künstlichen Bewusstseins im Gehirn mittels Gehirnprothese. Zwar ist mittlerweile bekannt, dass auch im Gehirn eine Regeneration durch dort vorhandene Stammzellen möglich ist und somit die 53

Implantation von fremden Stammzellen oder embryonalen Zellen denkbar erscheint. Nachdem es bisher strittig ist, was Bewusstsein überhaupt darstellt und wo es seinen Sitz hat, geschweige denn wie man es künstlich ersetzen kann, ist die Frage nach einem „künstlichen Menschen" als Gesamtprodukt der Stammzelltherapie in weite, utopische Ferne gerückt.

Literatur: Brüstle O. et al.: „Embryonic stem cell-derived glial precursors: A source of myelinating transplants". In: Science 285 (1999), S. 754 fE Kaufman D. S. et al.: „Hematopoietic colony-forming cells derived from human embryonic stem cells". In: Proceedings of the National Academy of the United States vol. 98 (2001), n. 19, S. 10716-10721. Shamblott M . J . et al.: „Derivation of pluripotent stem cells from cultured human primordial germ cells". In: Proceedings of the National Academy of the United States vol. 95 (1998), n. 28, S. 1372613731. Seufert, Jochen: Nutritive und hormonelle Einflüsse auf die Genregulation in Insulin-produdierenden Beta-Zellen des endokrinen Pankreas und deren Bedeutung für die Pathogenese des Diabetes mellitus Typ 2. Würzburg 2001. Thomson J. A. et al.: „Embryonic stem cell lines derived from human blastocysts". In: Science 282 (1998), S. 1145-1147.

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Wolfgang van den Daele „ ^

1.

Grenzüberscnreitungen

Die Natürlichkeit des Menschen als Kriterium und Schranke technischer Eingriffe

Die moderne Biologie ist im Begriff, sich der lebendigen Natur ebenso zu bemächtigen, wie Physik und Chemie sich der Materie bemächtigt haben. Die Gentechnik macht den Austausch von Genen über Artschranken hinweg möglich. Die Fortpflanzungsmedizin entkoppelt die Zeugung von Kindern von Abstammung und Sexualität. Strukturen und Prozesse des Lebens, die uns als Resultate einer langen natürlichen Evolution vorgegeben waren, werden zum Betätigungsfeld der technischen Fantasie des Menschen. Vieles an dieser Perspektive ist selbst noch Fantasie. Aber die Entwicklung verläuft rasanter als erwartet. Und alles, was heute an Bakterien und Pflanzen erprobt ist, wird morgen an Tieren - und an Menschen - machbar sein. Jedenfalls sollte man nicht darauf setzen, dass wir dieser Machbarkeit entkommen könnten, weil sich die Fantasien schließlich doch als technisch unmöglich erweisen werden. Spätestens, wenn auch die Natur des Menschen ins Visier der Biotechniken gerät, dann wird die Situation dramatisch. Zwar hat die philosophische Anthropologie immer schon damit kokettiert, dass der Mensch sich selber mache, oder dass Künstlichkeit die eigentliche Natur des Menschen sei.1 Aber diesen Thesen blieb die letzte Radikalität erspart, weil aller kulturellen Entwicklung die Grundtatbestände des menschlichen Lebens qua Organismus als fragloser Bezugsrahmen vorauslagen. Nun ist die Wissenschaft dabei, diese

1 / So Plessner: „Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit" (Plessner, 1928, S. 309 ff). Etiam: Childe, 1958.

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Fraglosigkeit aus der Welt zu schaffen. Die moderne Biologie macht die menschliche Natur kontingent. Was wir von Natur aus sind, wird entscheidungsabhängig - es könnte auch anders sein. Anthropologische Konstanten werden zu technischen Optionen. Die menschliche Natur wird (in Grenzen) ein Projekt des menschlichen Willens. Diese Kontingenz ist unausweichlich. Selbst, wenn wir alles so lassen, wie es ist, wird das eine Entscheidung sein - die im Bewusstsein getroffen wird, dass wir auch anders könnten. Diese Perspektive provoziert moralischen Widerspruch. Neue Tabus werden gefordert, um die Natur des Menschen gegen den hemmungslosen Zugriff der Biotechniken zu schützen. Aus der Unantastbarkeit der menschlichen Würde, die in Artikel 1 des Grundgesetzes als oberster Leitwert unserer Verfassung festgeschrieben ist, wird die Unantastbarkeit der menschlichen Natur gefolgert. Was durch die Wissenschaft technisch disponibel geworden ist, soll durch moralische Kontrolle normativ wieder unverfugbar gemacht werden. Wenn man die Forderung nach solcher Kontrolle nicht moralisch, sondern soziologisch betrachtet, wird man nicht fragen, ob sie berechtigt oder gar von Verfassung wegen zwingend ist, sondern ob sie aussichtsreich ist. Aus dieser Perspektive ist Skepsis am Platz. Es ist wenig wahrscheinlich, dass in modernen Gesellschaften moralischer Respekt vor der Natur des Menschen der Technisierung des Menschen wirksam Einhalt gebieten kann. Nicht weil die einer solchen Kontrolle entgegenstehenden politischen und wirtschaftlichen Interessen übermächtig sind, sondern weil die geltende Moral solche Kontrollen nicht hergibt.

2. Das Faktum des moralischen

Pluralismus

Appelle an Moral sind zwingend, sofern man Regeln einklagt, die in der Gesellschaft unstrittig sind. Handlungsfreiheit gibt es auch in liberalen Gesellschaften nur im Rahmen des moralisch Erlaubten (Art. 2 Grundgesetz: „Sittengesetz"). Das Bürgerliche Gesetzbuch

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verlangt die Beachtung der „guten Sitten" (§ 138), die von der Rechtsprechung traditionell durch Rekurs auf das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" definiert werden. Diese klaren Grenzziehungen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in modernen Gesellschaften moralischer Konsens knapp geworden ist. Er umfasst ein begrenztes Repertoire von Normen und Werten, die im Kern den Schutz der Rechte, Würde und Selbstbestimmung des Menschen betreffen und weitgehend im Grundrechtskatalog der Verfassung und in den Strafgesetzen festgeschrieben sind. Über moralische Fragen, die über diesen Kern hinausgehen, ist die Gesellschaft pluralistisch zerfallen. Das betrifft schon die Frage, ob Abtreibung zulässig ist, aber auch: ob man sich scheiden lassen darf, solange die Kinder klein sind; ob man seine alten Eltern selbst pflegen soll; ob man den Wehrdienst verweigern muss; vielleicht auch: ob man einer Organtransplantation oder einer Bluttransfusion zustimmen darf. In all diesen Fragen gibt es keinen moralischen Konsens und daher auch keine Gewähr, dass Antworten, die nach dem eigenen Gewissen geboten sind, auch von allen anderen (billig und gerecht Denkenden!) als verbindlich betrachtet werden. Es gibt in modernen Gesellschaften eine Fülle moralischer Fragen, bei denen gewissermaßen Gläubige und Ungläubige aufeinandertreffen. Je „heroischer" die moralischen Ansprüche sind, desto eher wird ihre Geltung partikular werden. Sie werden dann noch von besonderen Gemeinschaften als verpflichtend erlebt, können aber große Teile der Bevölkerung nicht mehr innerlich binden. Umgekehrt wird, was fraglos noch gesellschaftsweit gilt, eine Ethik des größten (kleinsten) gemeinsamen Nenners - im Wesentlichen die Minimalmoral des „Nicht Schaden!" Mit moralischen Kontrollen dürfte sich der Zugriff der Biotechnik auf den Menschen nur abwenden lassen, wenn die Norm der Unantastbarkeit der menschlichen Natur im Kanon der gesellschaftsweit geltenden Wertüberzeugungen verankert wird und nicht einem Pluralismus anheimfällt, nach dem die einen dieses, die anderen jenes finden können.

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Die bisherige Erfahrung rechtfertigt in dieser Hinsicht keine großen Erwartungen. Normen des Respekts vor der Natur (Natürlichkeit) gehören zwar auch in modernen Gesellschaften zum Repertoire der Kultur. Elementare Gebote des Natur- und Tierschutzes sind unbestritten; Biodiversität ist ein anerkanntes Schutzgut. Aber diese Normen sind nicht abwägungsfest. Sie werden gelegentlich (oder regelmäßig) zugunsten anderer Ziele zurückgestellt. Wer hier Kompromisse ausschließt, weil er beispielsweise schon die Durchbrechung von Artschranken zwischen Bakterien und Pflanzen als Verletzung des moralisch gebotenen „Respekts vor der Natur" verwirft, oder weil er fiir keinen Forschungszweck die Tötung von Versuchstieren zulassen würde, vertritt eine Sonder- oder Gruppenmoral und kann sich nicht auf Deckung durch den moralischen Common Sense berufen. Die Frage ist, ob dies anders ist, wenn es um Eingriffe in die Natur des Menschen geht. Tatsächlich hat der Gesetzgeber ja verbrauchende Forschung mit menschlichen Embryonen, Leihmutterschaft, Klonen von Menschen und Eingriffe in menschliche Keimzellen ausnahmslos verboten und unter hohe Strafen gestellt. Man könnte diese Verbote, die im Bundestag nahezu einstimmig beschlossen worden sind, als Indikator fur einen überwältigenden Konsens in der Gesellschaft werten, dass der technischen Manipulation und Rekonstruktion des Menschen hier definitiv ein Riegel vorgeschoben werden muss. Haben wir hier nicht den Beleg dafür, dass es noch funktionierende „Tabus" gibt, die die menschliche Natur durch Unantastbarkeit schützen? Das Problem ist, dass diese Tabus ihre entscheidende Bewährungsprobe erst noch vor sich haben.

3. Die Durchschlagskraft

medizinischer

Zwecke

Technische Fantasien, den Menschen zu verändern, stoßen im allgemeinen nur solange auf laute und einhellige Ablehnung, wie sie noch bloße Fantasien sind. Steht die Technik aber wirklich zur Ver-

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fugung, wird der Protest undeutlich, und Differenzierung macht sich breit. Die offene Flanke aller Tabus der Natürlichkeit ist der medizinische Eingriff Hierzu ist der Blick auf die Geschichte der Medizin erhellend. Von den Anfängen der Impfung und den ersten Operationen am Herzen und am Gehirn, über die Organtransplantation und künstliche Organe, bis hin zur Gentherapie gab es immer wieder Diskussionen darüber, ob nicht nunmehr eine Grenze erreicht sei, an der auch medizinische Zwecke die weitere Technisierung des Menschen nicht mehr rechtfertigen könnten. Keine dieser Diskussionen hat die Technik gestoppt. Die moralischen Vorbehalte gegen die Technik gaben regelmäßig nach, wenn es darum ging, menschliches Leben zu erhalten oder das Leid einer Krankheit zu mildern. Es ist daher nicht überraschend, dass die Gentechnik ausgerechnet dort die größte gesellschaftliche Akzeptanz genießt, wo an sich die moralischen Barrieren am höchsten sind, nämlich bei der Anwendung auf den Menschen.2 Die gentechnische Entwicklung von Medikamenten (etwa Humaninsulin für Zuckerkranke, Blutgerinnungsfaktoren für Bluter, Interferone für die Behandlung von Multiple-Sklerose-Patienten) ist so gut wie unumstritten. Auch die sonst bei aller Gentechnik unvermeidliche Dauerdebatte über die Möglichkeit unbekannter Risiken und die prinzipielle Unvorhersehbarkeit von Langzeitwirkungen, ist hier verstummt. Absehbar ist, dass die (somatische) Gentherapie, sollte sie jemals risikolos funktionieren, ebenfalls umstandslos in das akzeptierte Repertoire der Medizin integriert werden wird. Es gehört wenig Mut dazu vorauszusagen, dass nicht einmal das Verbot von Keimbahneingriffen (die sich auf das Genom von Nachkommen erstrecken) einem ernsthaften medizinischen „Angriff"

2 / Die Zustimmungsraten zur Anwendung von Gentechnik sind 74 % bei der klinischen Diagnose, 70 % bei der Gentherapie, 64 °/o bei Impfstoffen allerdings nur 15 % bei der Erzeugung medizinisch genutzter Labortiere (vgl. Hampel/Pfennig, S. 33).

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standhalten wird. Gegenwärtig stehen gezielte Eingriffe in die menschliche Keimbahn schon deshalb nicht zur Debatte, weil sie weder technisch (risikolos) möglich sind, noch eine tragfähige medizinische Indikation für sie erkennbar ist. (Keimbahneingriffe müssten in den frühesten Entwicklungsstufen des Lebens ansetzen, dann aber ist im Allgemeinen die Selektion betroffener Embryonen eine mögliche und gebotene Alternative.) Denkbar ist jedoch, dass eine Gentherapie, die auf die Behandlung eines kranken Individuums abzielt, sich auf die Keimzellen des Betroffenen auswirkt, weil die genetische Korrektur sich aus technischen Gründen nicht auf bestimmte Zielorgane der Patienten beschränken lässt. Es ist schwer vorstellbar, dass man in einem solchen Fall die Gentherapie verbieten und Patienten lieber sterben lassen würde, als in Kauf zu nehmen, dass auch Gene korrigiert werden, die sie an ihre Kinder weitergeben können - was ja nur bedeutet, dass diese die Krankheit, an denen der betroffene Elternteil leidet, nicht erben können.3 Auch bei Eingriffen in die menschliche Keimbahn ist daher mit medizinischen Kompromissen zu rechnen. Dies ist eine soziologische Prognose, keine moralische Rechtfertigung. Für viele mag es überzeugende moralische Gründe geben, daran festzuhalten, dass Keimbahneingriffe bedingungslos und unter allen Umständen zu verwerfen seien.4 Der Punkt ist nicht, dass diese Gründe irgendwie 3 / Entsprechend vorsichtig ist auch die Formulierung der Bioethikkonvention des Europarates (Ubereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin), die in Art. 13 den medizinisch indizierten Eingriff ins menschliche Genom erlaubt, „wenn er nicht darauf abzielt, irgendeine Veränderung des Genoms von Nachkommen herbeizuführen". Mit anderen Worten: die unbeabsichtigte, aber bewusst in Kauf genommene Veränderung ist erlaubt. Schon 1982 hatte die Parlamentarische Versammlung des Europarates zwar ein „Recht auf ein genetisches Erbe, in das nicht künstlich eingegriffen worden ist" gefordert, aber gleichwohl therapeutische Keimbahneingriffe nicht grundsätzlich ausschließen wollen (Entschließung Nr. 934 Betr. Genmanipulation, Bundestagsdrucksache 9/1373:11). 4 / „Hier wird nicht ein existierender Mensch geheilt, sondern die Identität eines Menschen manipuliert" (Low, 1983, S. 45).

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widerlegt werden. Der Punkt ist, dass man damit rechnen muss, für diese Gründe nur bedingt Verständnis zu finden, weil viele eben anders denken. Auch an diesem Punkt werden die Wertungen in der Gesellschaft pluralistisch auseinander fallen. Daher darf man die Tatsache, dass Keimbahneingriffe gegenwärtig flächendeckend verboten sind, nicht vorschnell als Beweis dafür nehmen, dass hier tatsächlich eine Grenze erreicht ist, an der auch in modernen, säkularisierten Gesellschaften die menschliche Natur „heilig" und gegen weitere Technisierung immunisiert ist. Eher sind die Verbote als Moratorien zu lesen, die gegebenenfalls - nämlich bei klaren medizinischen Zwecken - aufgehoben werden können. Ahnliches dürfte für das Verbot der medizinischen Verwendung embryonaler menschlicher Stammzellen gelten. Sollte sich erweisen, dass solche Zellen geeignet (und notwendig sind), um transplantierbare Gewebe für die Therapie schwerer Krankheiten (etwa neurodegenerative Krankheiten oder Herz-Kreislaufkrankheiten) zu gewinnen, wird die Ablehnungsfront wanken. 5

4. Kein Heilen um jeden

Preis?

Im Gewand medizinischer Zwecke schreitet in unserer Gesellschaft die Technisierung des Menschen voran. Kann man dieser Dynamik „Kein Heilen um jeden Preis!" entgegenhalten? 6 Es kommt darauf an, was man unter „Preis" versteht. Dass medizinische Techniken 5 / Das zeichnet sich bereits ab. Die Diskussion darüber, ob man nicht Abstriche vom Embryonenschutz machen sollte, hat auch in Deutschland begonnen; vgl. etwa die Stellungnahme "Humane embryonale Stammzellen" (Deutsche Forschungsgemeinschaft, März 1999). Moralische Kompromisse werden der Gesellschaft hier wohl nur erspart bleiben, wenn man statt der embryonalen auch adulte Stammzellen verwenden kann. Siehe Science 288 (Juni 2, 2000). 6 / So auch die damalige Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer bei der Neukonstituierung des Ethikbeirates des Gesundheitsministeriums.

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nicht mit unvertretbaren Gesundheitsrisiken für die Patienten oder unbeteiligte Dritte verbunden sein dürfen, ist unstrittig und geltendes Recht.7 Problematisch wird es, wenn soziale, politische, ökonomische oder kulturelle „Kosten" der Heilung angeführt werden, um ein Verbot medizinischer Technik zu rechtfertigen. Man sollte nicht die Augen davor verschließen, dass solche Kosten zu erwarten sind: Es werden Missbrauchsmöglichkeiten eröffnet, Kostendruck und Verteilungsprobleme im Gesundheitssystem werden wachsen, das Menschenbild wird affiziert werden, möglicherweise wird sich der demographische Bevölkerungsaufbau verschieben. Aber man sollte auch nicht annehmen, dass es in der Gesellschaft hingenommen würde, wenn zur Vermeidung solcher Kosten medizinisch indizierte Techniken verboten werden - mit der Folge, dass Patienten krank bleiben, obwohl sie geheilt werden könnten, oder sterben, obwohl sie gerettet werden könnten. In aller Regel braucht man sich diese Folge nur in aller Klarheit vor Augen zu führen, um zu sehen, dass Verbotsstrategien chancenlos sind. Gesundheit steht für die überwältigende Mehrheit aller Menschen eindeutig an der Spitze der subjektiven Wertehierarchie. Sie hat geradezu transzendentale Bedeutung: ohne Gesundheit ist alles nichts. Diese Wertung spiegelt sich auch in der Verfassung, die dem Individuum ein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit garantiert und den Staat verpflichtet, die Gesundheit zu schützen.8 Gegen diesen Wertungsdruck kann man schwer argumentieren. Das zeigt sich selbst bei der Kontrolle gravierenden Missbrauchs, wo das Argument „Kein Heilen um jeden Preis!" vielleicht noch am ehesten plausibel ist. Sollte man therapeutische Keimbahneingriffe

7 / Das dürfte auch gegenwärtig eine Xenotransplantation (Übertragung tierischer Organe) ausschließen. 8 / Art. 2, Absatz 1 Grundgesetz. Gesundheit ist „ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut, für dessen Schutz der Staat von Verfassung wegen (auch im Hinblick auf Art. 20, Abs. 1 G G [ = Sozialstaatsgebot]) zu sorgen hat" (Bundesverfassungsgericht, Entscheidungen 57 : 99).

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ausschließen, um einen „Dammbruch" vorzubeugen und nicht-medizinisch begründete Eingriffe (sprich: Menschenzüchtung) sicher auszuschließen? Verfassungsrechtlich dürfte eine solche Regelung gegen das Übermaßverbot verstoßen. Zwar darf der Gesetzgeber das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit zum Schutz wichtiger öffentlicher Güter einschränken. Er muss sich dabei jedoch um die „Herstellung praktischer Konkordanz" zwischen dem Grundrecht und den anderen grundrechtsbeschränkenden Belangen bemühen und einen möglichst schonenden Ausgleich suchen, der die Gewährleistung des Grundrechts nicht gegenstandslos machen darf 9 Das kann nur bedeuten, dass Risiken oder Missbrauchsgefahren bei medizinischen Techniken so kontrolliert werden müssen, dass den Patienten, die darauf angewiesen sind, nicht die Nutzung dieser Techniken unmöglich gemacht wird. Präventive Rundumschläge sind unzulässig. Man kann vermuten, dass diese Lösung breite Zustimmung findet und die meisten Menschen dafür plädieren würden, den Missbrauch als solchen zu bekämpfen (z.B. durch harte Strafen), ohne zugleich den legitimen medizinischen Gebrauch auszuschließen. Noch eindeutiger dürfte die gesellschaftliche Wertung ausfallen, wenn man Kosten der Medizin fur das Menschenbild reklamiert. Ob man sich extreme medizinische Eingriffe ausdenken kann, die man nicht hinnehmen würde, weil sie den Menschen in einem unerträglichen Ausmaß technisch manipulieren, kann dahingestellt bleiben. Dass therapeutische Keimbahneingriffe dieser Art sind, wird man den meisten Menschen, vor allem aber den betroffenen Patienten und ihren Angehörigen kaum plausibel machen können. Wenn man gleichwohl der Meinung ist, dass die Manipulation der menschlichen Natur auch in diesem Fall ein zu hoher „Preis" sei, kann man persönlich auf solche Therapie verzichten. Für die Forderung, diesen

9 / Bundesverfassungsgericht, Entscheidungen 47 : 369.

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Verzicht durch ein Technikverbot gesellschaftsweit zu erzwingen, wird man nicht mit breiter Zustimmung rechnen können.10 Gegen die legitimierende Kraft der medizinischen Zwecke, kann man mit Einwänden vom Typus „Kein Heilen um jeden Preis!" offenbar wenig ausrichten. In diesem Zusammenhang wird deshalb oft von „Totschlagargument" gesprochen - mit dem Unterton, dass es unfair und dem Dialog abträglich ist, ein solches Argument überhaupt zu bringen. Der Vorwurf ist unberechtigt. Der überragende Wert von Gesundheit ist eine Tatsache, die man zur Kenntnis nehmen muss, und die für alle Akteure in der Gesellschaft eine unhintergehbare Randbedingung ist. Diese Randbedingung begrenzt auch den Spielraum des Gesetzgebers. Zwar ist dieser grundsätzlich nicht gehindert, in moralischen Grauzonen, in denen die gesellschaftlichen Wertungen zerfasern, durch Recht Ordnung zu schaffen und beispielsweise Normen des Respekts vor der menschlichen Natur oder eine stärkere Berücksichtigung der sozialen Kosten medizinischer Technik durch parlamentarische Mehrheit in Kraft zu setzen. Aber es dürfte (abgesehen von den verfassungsrechtlichen Schranken) schwer fallen, die entsprechenden Mehrheiten zu bekommen. Jedenfalls sind sie solange nicht zu erwarten, wie man mit Argumenten operiert, die eine öffentliche Debatte im Bundestag nicht überstehen würden.11

1 0 / Da läuft auch die Berufung auf die Menschenwürde ins Leere. Verfassungsrang nach Art. 1 Grundgesetz und Bindungswirkung für den Gesetzgeber kann nur Menschenwürdekonzepten zukommen, fur die es in der Gesellschaft Konsens gibt, nicht dagegen Menschenbildern oder Weltanschauungen, die lediglich von Einzelnen oder Gruppen getragen werden. 1 1 / Das gilt besonders für das Argument (das ein Vertreter des Gen-Ethischen Netzwerks in einer Podiumsdiskussion gebracht hat), dass die Durchsetzung der Gentherapie zu einer dramatischen Steigerung der Lebenserwartung und neuen Verteilungskonflikten zwischen den Generationen fuhren könnte. Wer im Ernst vorschlägt, die mögliche Heilung von Massenkrankheiten zu unterbinden, damit der Gesellschaft die Anpassung an den demographischen Wandel erspart bleibt, manövriert sich nach den in dieser Gesellschaft geltenden Wertungen ins moralische Abseits.

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Hinzu kommt, dass unter Bedingungen der Globalisierung bei Verboten medizinischer Techniken jederzeit mit Patiententourismus (für Transplantationen, Keimbahntherapie, Präimplantatinsdiagnostik usw.) zu rechnen ist, was nationale Sonderwege delegitimiert.

5. „Krankheit" als normatives

Hintergrundkonzept

Das Krankheitskonzept liefert eine in unserer Gesellschaft schwer zu überspringende Legitimation für technische Eingriffe in den Menschen. Aber es bietet nicht einen in jeder Hinsicht sicheren Grund. Ist Kleinwüchsigkeit eine Krankheit - und ab welcher Größe? Und Fettleibigkeit? Ungewollte Kinderlosigkeit? Verhaltensauffälligkeiten? Sind Risikofaktoren, die nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu Krankheiten fuhren, wie Krankheiten zu behandeln? Das Krankheitskonzept ist an den Rändern unscharf und dort möglicherweise anfällig für kulturelle Moden und politische Ideologien. Solche Unschärfen zeigen, dass es Grauzonen gibt, in denen man über die Abgrenzung streiten kann. Sie entkräften nicht die unbestreitbare Legitimität, die Heileingriffe dort haben, wo das Krankheitskonzept klare Konturen hat und das Leiden der Betroffenen auf der Hand liegt. Allerdings muss man sehen, dass in das Krankheitskonzept Normalitätsansprüche und Normalitätserwartungen eingehen, die sozialem und kulturellem Wandel unterliegen. Was in der Gesellschaft als Krankheit gilt, kann sich verschieben. Dann verschiebt sich auch die Grenze medizinischer, das heißt aber: moralisch erlaubter Eingriffe in den Menschen. Sollte sich beispielsweise durchsetzen, dass bestimmte Verhaltensauffälligkeiten, die heute als mehr oder weniger angepasste Varianten des Sozialverhaltens angesehen werden, als „Krankheiten" einzuordnen sind, werden auch medizinische (pharmakologische oder chirurgische) Behandlungen als legitim gelten - natürlich unter den üblichen Bedingungen einer Indikation und der Einwilligung der Patienten. Man kann versuchen, den Wan-

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del von Krankheitskonzepten zu beeinflussen - durch Erziehung, Kritik, Propaganda, vielleicht auch durch Regelung von Kassenfinanzierung. Aber man kann diesen Wandel nicht durch moralische Normen fìir technische Eingriffe in die menschliche Natur steuern. Denn die Abhängigkeiten verlaufen umgekehrt: Das Krankheitskonzept ist basal, und was immer im sozialen Wandel als Definition von Krankheit herauskommt, umschreibt, welche Eingriffe moralisch erlaubt sind.

6. Von der Medizin zur

Humantechnologie?

Im Rahmen der Werteordnung liberaler Gesellschaften sind medizinische Zwecke von unbestreitbarer Legitimität. Daher kann man damit rechnen, dass moralische Ansprüche, die den Respekt vor der menschlichen Natur gegen das Interesse an Gesundheit ausspielen und Heileingriffe ächten, letztlich chancenlos und sektiererisch bleiben. Was aber gilt außerhalb von Heileingriffen? Lässt sich die Unantastbarkeit der menschlichen Natur wenigstens gegenüber nicht-medizinisch indizierten Manipulationen behaupten, die anderen Zwecken als der Diagnose, Prävention oder Therapie von Krankheiten dienen? Ob das der Fall ist, hängt vom Wert der Selbstbestimmung ab. § 226a des geltenden deutschen Strafgesetzbuches macht deutlich, dass es im Umgang mit dem Körper des Menschen technische Beliebigkeit nicht geben soll. Danach sind nämlich Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit auch bei Einwilligung der Betroffenen dann als Körperverletzung strafbar, wenn die Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt. Diese Vorschrift ist so gut wie nie angewandt worden, aber sie macht deutlich, dass Selbstbestimmung nur eine notwendige, nicht schon eine hinreichende Rechtfertigung fur Eingriffe in den menschlichen Körper ist. Eben deshalb ist die Vorschrift von liberalen Strafrechtsreformern als ein unzeitgemäßer Paternalismus abgelehnt worden. Diese Kritik hat sich nicht durch-

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gesetzt. Ihre Prämisse, nämlich dass bei der Verfügung des Menschen über seinen Körper der Selbstbestimmung absoluter Vorrang zukommt, ist angesichts der Perspektiven der neuen Biotechniken offenbar nicht mehr aktuell. Jedenfalls wird gegenwärtig die Abschaffung des § 226a nicht betrieben. Die Norm, dass die Selbstmanipulation des Menschen nicht beliebig sein darf sondern durch einen akzeptablen Zweck inhaltlich gerechtfertigt werden muss, scheint unangefochten. Allerdings hat man bei der Definition akzeptabler Zwecke die Grenzen der medizinischen Indikation bereits überschritten. In der Praxis der plastischen Chirurgie versuchen die beteiligten Arzte mit allerlei semantischen Tricks, ihr Tun medizinisch zu verbrämen. Aber, dass es überwiegend um Schönheit geht, nicht um Gesundheit, ist unverkennbar. Hier ist der Schritt von der Medizin zur Humantechnologie vollzogen, in der Eingriffe in den Körper nicht mehr inhaltlich, sondern nur noch formal (durch Zustimmung) gerechtfertigt werden. Gleichwohl wird diese Praxis in der Gesellschaft widerspruchslos hingenommen. Allenfalls mokiert man sich. Aber, einen Verstoß gegen die guten Sitten oder die Menschenwürde anzuprangern, würde doch als übertrieben gelten. Die Gesellschaft ist sicher weit davon entfernt, bei der Manipulation des menschlichen Körpers alles und jedes zu erlauben, sofern der Betroffene nur zustimmt.12 Alle laufenden Tendenzen der kulturellen Entwicklung weisen jedoch in die Richtung einer Verstärkung der Individualisierung und einer Betonung von Werten der Selbstverwirklichung. Kehren sich diese Tendenzen nicht dramatisch um (was nicht absehbar ist!), werden technische Eingriffe in den Menschen, die durch nichts als Selbstbestimmung gerechtfertigt sind, zunehmend an Legitimität gewinnen. Zugleich wird der Rückweg zu einer

12 / Immerhin ging kürzlich durch die Presse, dass ein englischer Chirurg einem Mann auf dessen Wunsch hin ein Bein amputiert hat. Der Mann hatte das Gefühl, das Bein sei kein Teil von ihm. Nach deutschem Recht wäre dies vermutlich ein Fall fiir § 226a Strafgesetzbuch.

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restriktiven Moral des Respekts vor einer unantastbaren menschlichen Natur zunehmend versperrt sein.

7. Die Vorteile doppelter

Moral

Ein Beispiel fur die Art und Weise, wie in einer pluralistischen Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen medizinisch-technischem Fortschritt und voneinander abweichenden moralischen Grundüberzeugungen Lösungen ausgehandelt werden, hat die Debatte über die Zulässigkeit der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen vorgeführt. Uber ein Jahr lang wurde bis zur vorerst abschließenden Entscheidung des Parlaments im April 2002 eine bemerkenswerte, öffentliche Debatte darüber gefuhrt, ob mit menschlichen embryonalen Stammzellen geforscht werden darf, um Kenntnisse zu gewinnen, die kranken Menschen helfen könnten. Der springende Punkt ist, dass zur Herstellung dieser Stammzellen menschliche Embryonen verwendet (sprich: getötet) werden müssen. In zahllosen Veranstaltungen, Kommentaren und Stellungnahmen haben Politiker, Mediziner, Juristen, Theologen, Wissenschaftsorganisationen, Kirchenvertreter, Kommissionen und Journalisten die Argumente dafür und dagegen hin- und hergewälzt. Die Debatte hat nicht unerheblich zu einer Versachlichung beigetragen, durch die es zunehmend schwerer wurde, den Befürwortern der Stammzellforschung einfach finstere Motive zu unterstellen. Weder der Standort Deutschland, noch ökonomische Interessen oder wissenschaftlicher Ehrgeiz haben Vorrang vor dem Schutz des menschlichen Embryos. Dies hat die Debatte erbracht. Der ausschlaggebende Gesichtspunkt war die mögliche Hilfe für kranke Menschen. Damit standen in diesem Konflikt auf beiden Seiten der Gleichung hohe moralische Güter und moralische Pflichten. Die Debatte hat den Konflikt auf seinen moralischen Kern zurückgeführt und Symmetrie hergestellt. Gegner wie Befürworter der Stammzellforschung vertreten ernsthafte moralische Anliegen. Da

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diese nicht spannungsfrei zur Deckung zu bringen sind, ist eine Abwägung unvermeidbar gewesen. In dieser Abwägung war nicht nur zu rechtfertigen, menschliche Embryonen fur die Forschung zu instrumentalisieren, sondern auch, dass man Forschung verbieten (oder auch nur unterlassen) wollte, die kranken Menschen helfen könnte. Die Debatte hat schließlich auch der suggestiven Berufung auf das Grundgesetz Grenzen gezogen. Oft ist versucht worden, die Verwendung von Embryonen fur die Forschung als Verstoß gegen die Menschenwürde zu ächten. Aber, wie Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin vor dem Nationalen Ethikrat deutlich gemacht hat: Die Verfassungsrechtslehre ist in ihrem Urteil, nicht anders als der Rest der Bevölkerung, tief gespalten. Den Befürwortern der Stammzellforschung ist es nicht gelungen, die Gegner zu überzeugen. Eine Annäherung der Standpunkte hat es in der Debatte nicht gegeben, auch nicht im Nationalen Ethikrat. Daran ändert offenbar auch die Tatsache nichts, dass man lediglich über Embryonen diskutiert, die bei fehlgeschlagener künstlicher Befruchtung „übriggeblieben" sind und deshalb ohnehin untergehen werden. Dass menschliche Embryonen überhaupt zugunsten fremder Zwecke aufgeopfert werden, und sei es auch zur Heilung von Krankheiten, bleibt offenbar für viele Menschen moralisch undenkbar. Keine Seite kann sich auf einen moralischen Konsens berufen. Der Pluralismus von Moralen (in der Mehrzahl), die nebeneinander existieren, hat so von den streitenden Parteien verlangt, dass sie - gewissermaßen in einer Moral zweiter Ordnung - die eigenen Uberzeugungen ohne den Gestus von Überlegenheit und Selbstgerechtigkeit vertreten. Dazu gehört auch ein vorsichtiger Gebrauch des MenschenwürdeArguments, denn allzu schnell heißt sonst die Botschaft: Wer anders denkt, tritt die Würde des Menschen mit Füßen. Der weltanschaulichen Neutralität moderner Staaten entspricht es wenig, wenn der Gesetzgeber bei konkurrierenden moralischen Uberzeugungen die Rolle des Schiedsrichters übernimmt. Allerdings ist es schwer, auf Distanz zu moralischem Streit zu gehen, in

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den man selbst verstrickt ist. Auch die Mitglieder des Nationalen Ethikrats sind über die Rolle streitbefangener Parteigänger nicht hinaus gekommen und haben sich schließlich nicht anders zu helfen gewusst, als (mit Mehrheit) die eine Uberzeugung gegen die andere auszuspielen. Wo die Moral pluralistisch zerfallen ist, leben die Menschen mit ihren Gefühlen und Uberzeugungen in getrennten Welten. Man braucht Formeln, die die Koexistenz dieser Welten sichern. Entsprechend wurde eine Kompromisslösung gewählt, die die Handlungsspielräume in der Gesellschaft nicht grundsätzlich einschränkt: Das Stammzellgesetz legt fest, dass die Einfuhr und die Verwendung embryonaler Stammzellen in Deutschland zwar eigentlich prinzipiell verboten sind, jedoch abweichend davon die Einfuhr und die Verwendung embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken trotzdem zulässig bleiben, wenn die Stammzellen aus sogenannten überzähligen Embryonen vor dem Ol. Januar 2002 gewonnen wurden. Die Stammzellen müssen also aus Embryonen gewonnen worden sein, die zum Zweck der Herbeiführung einer Schwangerschaft durch in-vitro-Fertilisation erzeugt, jedoch dafür nicht verwendet wurden. Forschungsprojekte an embryonalen Stammzellen dürfen außerdem nur durchgeführt werden, wenn sie hochrangigen Forschungszielen dienen und sich für das Erreichen dieser Ziele keine Alternative bietet. In diesem Fall kann ein Forschungsprojekt mit embryonalen Stammzellen vom zuständigen Robert Koch-Institut genehmigt werden, nachdem dieses Institut die Stellungnahme einer Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellforschung eingeholt hat. Prinzipiell bleibt also die Abwägung zwischen dem Embryonenschutz, der Hilfe für kranke Menschen und den therapeutischen Zielen der Forschung zulässig. Ironischerweise kommt vielleicht gerade die „halbe" Lösung mit einem prinzipiellen Verbot auf der einen Seite und einer Reihe von Ausnahmemöglichkeiten auf der anderen Seite dem Ideal eines schonenden Ausgleichs zwischen den Positionen irgendwie nahe: Man belässt es beim Verbot, Embryonen im Inland für die Herstellung von Stammzell-Linien zu verwenden, erlaubt aber unter Auflagen die Forschung an Zell-

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Linien, die im Ausland in einer bestimmten Weise hergestellt worden sind. Niemand wird behaupten können, dass eine solche Lösung konsistent ist. Im Gegenteil, sie ist eher der Versuch, beiden Seiten dadurch etwas zu geben, dass man auf Konsistenz verzichtet. Trotzdem scheint es vorschnell, hier von einem „faulen Kompromiss" oder von „zweifelhafter Doppelmoral" zu sprechen. Bei moralischer Polarisierung in der Gesellschaft sind reine Lösungen vielleicht intellektuell befriedigend, aber politisch unklug. Letztlich kommt es darauf an, Glaubenskriege zu vermeiden. Dafür sind zweitbeste Lösungen, die unklare Fronten schaffen und es schwer machen, zwischen Gewinnern und Verlierern zu unterscheiden, oft besser geeignet.

8. Ausblick Moderne Gesellschaften werden sich unter dem Druck der wissenschaftlich-technischen Optionen der modernen Biologie von der Vorstellung verabschieden müssen, die menschliche Natur sei so etwas wie ein fester Grund, auf dem wir unverrückbar stehen, und der nicht selbst in den Sog technischer Rekonstruktion gezogen werden kann. Diese Natur unterliegt ebenso wie die natürliche Umwelt einer Evolution, an der der Mensch erheblichen Anteil hat. Diese Vorstellung ist unbequem; sie entlarvt geglaubte Sicherheiten als Illusion. Mit dieser Desillusionierung werden die Zumutungen der Evolutionstheorie endgültig im Weltbild des Alltags angekommen sein. Wie groß diese Zumutungen tatsächlich sein werden, bleibt allerdings die Frage. Denn unter der Geltung der liberalen Werteordnung sind es die individuellen Interessen und Entscheidungen von Patienten/Eltern, die die Schritte zur technischen Rekonstruktion des Menschen vorzeichnen. Dass solche Schritte in staatlichen Programmen zwangsweise verfugt werden könnten (etwa nach dem Motto: Von der allgemeinen Schulpflicht zur allgemeinen

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Pflicht, seine Gene zu verbessern) ist entgegen verbreiteter Rhetorik gerade unter der Geltung der liberalen Werteordnung nicht zu erwarten. Individuelle Entscheidungen aber werden keine massenhafte Abkehr von der Natürlichkeit des Menschen herbeiführen. Wie sich am Beispiel der künstlichen Befruchtung ablesen lässt: Die meisten Menschen lassen tatsächlich die meiste Zeit alles so, wie es immer war.

Literatur Childe, Gordon: Man makes himself. (6. Aufl.) New York: New American, 61958. Hampel, Jürgen/Pfennig, Uwe: „Einstellungen und Bewertung der Gentechnik". In: Hampel, Jürgen/Renn, Ortwin (Hg.): Gentechnik in der Öffentlichkeit. Frankfurt: Campus, 1999, S. 33 ff Low, Reinhard: „Gen und Ethik. Philosophische Überlegungen zum Umgang mit menschlichem Erbgut". In:. Koslowski, Peteret al. (Hg.): Die Verführung durch das Machbare. München: Hirtel, 1983, S. 45 ff Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin: de Gruyter, 1928.

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Sinne: Vom Agieren in technischen Lebenswelten

Walther Ch. Zimmerli Jenseits von Zähmung oder Züchtung - Die Ablösung der

Manchmal beschleicht uns künstlichen Intelligenz durch den die bange Frage: Was sind wir als Menschen eigentNetzwerk-Menschen lich, wenn wir uns als Menschen die Aufgabe stellen, uns als Menschen zu verändern? Man kann diese komplex formulierte Frage auch einfacher und griffiger ausdrücken, wie es der verstorbene Philosoph Hans Jonas gemacht hat, als er fragte: Gott schuf bekanntlich den Menschen nach seinem Bilde. Nach wessen Bilde sollen wir Menschen nun aber den Menschen schaffen? (Jonas 1985, S. 170) Und dann nochmals komprimierter: Wenn uns unsere biowissenschaftlichen Erfolge die Möglichkeit an die Hand geben würden, Menschen nach Maß zu schaffen, dann fragt sich immer noch: nach welchem Maß? Seit dem Sophisten Protagoras wissen wir, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist (Piaton Theaitetos 152a). Und damit wären wir wieder beim Anfang, denn wenn der Mensch das Maß aller Dinge ist und wir Menschen uns selber genetisch verändern können, ist immer noch offen, in welche Richtung die Veränderung gehen soll. Wenn wir also enhancement therapy als eine Therapie, die auf Verbesserung und nicht nur auf Wiederherstellung der Gesundheit des Patienten abzielt, bedenken, dann fragt sich, was daran „besser" bedeutet. Für das Gewicht, dass diese Frage hat, und für die Einsicht, wie wenig selbstverständlich sie ist, genügt ein Blick auf einige der Antworten, die auf sie gegeben worden sind. Dazu muss man nicht unbedingt das schwere Geschütz des irregeleiteten Grauens auffahren, das im Dritten Reich mit dem Begriff der „Eugenik" verbunden wurde. Es reicht, sich klar zu machen, dass auch die wissenschaftlich-technische Zivilisation unmittelbar nach der molekularbiologischen Revolution im Zusammenhang ihrer zukunftsorientierten

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Euphorien ihre abstrusen Vorstellungen von genetischer Verbesserung hervorgebracht hat. Große Köpfe wie Joshua Lederberg etwa haben in allem Ernst vorgeschlagen, man solle, weil ja die Zukunft des Menschen draußen im Weltall und der Schwerelosigkeit liege, versuchen, die Menschen weltraumfähig zu machen. Ganz offenkundig sind wir nämlich nicht sehr gut fur ein Leben unter Bedingungen der Schwerelosigkeit geeignet, da wir mit unseren Händen nur über zwei Greifwerkzeuge verfugen, während die Greiffähigkeit unserer Füße verkümmert ist. Der Vorschlag ging also dahin, enhancement therapy, Verbesserungstherapie oder besser: -Züchtung zu betreiben, damit die Menschen der Zukunft nicht nur greiffähige Hände, sondern auch greiffähige Füße hätten! Wenn man sich dies vor Augen fuhrt und dabei zugleich in Rechnung stellt, dass wir über die kombinatorischen Effekte unserer Eingriffe und über deren Kontext nur wenig wissen, dann erinnert man sich unwillkürlich an die berühmte Geschichte von George Bernhard Shaw, die - obwohl nicht politisch korrekt - ein grelles Schlaglicht auf die Fähigkeit der Menschen wirft, ihre biologische Zukunft zu planen. George Bernhard Shaw soll einmal bei einem Dinner als Tischnachbar einer überdurchschnittlich schönen Dame von dieser gefragt worden sein: „Wäre es nicht herrlich, wenn wir zusammen ein Kind hätten? Denken Sie nur: Ihre Intelligenz und meine Schönheit!" Daraufhin soll George Bernhard Shaw nur trocken erwidert haben: „Mylady, das lassen wir lieber, denn es könnte unter Umständen genau umgekehrt herauskommen"; und wer weiß, wie George Bernhard Shaw aussah, kann sich vorstellen, wie intelligent die Dame gewesen sein muss. Diese kleine Geschichte zeigt uns, dass wir uns in einem Unsicherheitsraum bewegen, wenn wir über genetische „Verbesserungen" nachdenken, und dass unsere Vorstellungen über Züchtung und auch über mit molekularbiologischen Methoden gentechnisch verfahrende Züchtung eher in den Bereich des Mythos gehören. Und trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen) gilt es, über den Menschen als Produkt seiner eigenen technischen Handlungen,

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also über den Menschen als Artefakt oder über den künstlichen Menschen, nachzudenken. Dazu lassen sich mindestens zwei Strategien verfolgen: Die eine ist schon seit der Antike bekannt und besteht in dem Versuch, eine Maschine zu bauen, die so ist, dass sie alles das kann, was auch Menschen können. Diese Strategie ist sozusagen klassisch, und ich nenne sie die Roboterstrategie. Die andere Strategie hat den faktischen Verlauf unserer Entwicklung bisher bestimmt und versucht, immer weitere Teile des Menschen und der Funktionen des natürlichen Menschen durch technische Artefakte zu ersetzen, zu verbessern oder zu erweitern. Diese Strategie ist bislang hauptsächlich in der Frage nach Menschenverbesserung durch Menschenzüchtung verfolgt worden und kann deswegen auch als Züchtungsstrategie bezeichnet werden. Die folgenden Überlegungen wollen dagegen in fünf Schritten den Spannungsbogen zwischen beiden Strategien auszuleuchten versuchen. Der erste Schritt dieser Überlegungen setzt mit der sogenannten „Sloterdijk-Debatte" an (I), um danach das zu diskutieren, was ich zu diesem Zwecke „Züchtungszähmung" nennen will (II). In einem dritten Schritt will ich den Übergang von der Künstlichen Intelligenz zum Netzwerkdenken erörtern (III), um in einem vierten Schritt zu fragen, welche Konsequenzen das fur das Denken und Handeln von Menschen in Netzwerken hat (IV), und dann fünftens zur Frage zu kommen: Wie verhält sich denn das konkrete Netz, das wir gegenwärtig benutzen und das als technisches Netz unsere kognitiven Leistungen erweitern soll, zu Fragen der Wissensgesellschaft, in die wir angeblich hineinsteuern (V).

1. Die Sloterdijk-Debatte

-

revisited

Die Geschichte ist schnell erzählt: Das Sommerloch 1999 war tief und leer, und so waren alle froh, als plötzlich die Debatte über einen Vortrag ausbrach, den der Philosoph Peter Sloterdijk auf Schloss

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Elmnau zum Thema: „Regeln für den Menschenpark - Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus" gehalten hatte. Zwar war das nicht die Premiere, denn dieser Text war schon früher in Basel vorgetragen worden und hatte dort die übliche Reaktion erhalten - distanziertes Interesse und freundlichen Applaus für artistische Formulierungen. Auf Schloss Elmnau war man feinfühliger und merkte, dass hinter den gefälligen Pointen eine geballte Ladung verborgen war. Und schon füllten sich von der ZEIT bis in die Boulevardmedien die Gazetten mit Kampfgetöse. Was aber hat Sloterdijk, in gebührendem Abstand beurteilt und gewürdigt, eigentlich gesagt? Was war denn anstößig in diesem Text des Anstoßes? - Neben vielem anderen, was historisch-philologisch eher verklausuliert daherschreitet, findet sich folgender Satz, und um diesen Satz ging es eigentlich in der Debatte: „Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird - ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können - dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt." (Sloterdijk 1999). Auch wenn man nicht wüsste, aus welchem Anlass dieser Vortrag gehalten worden ist, würde man schon dem spezifischen Sprachduktus entnehmen können, dass es eine Veranstaltung war, die etwas mit Heidegger zu tun hatte, und so war es denn auch: Es ging um die Frage des Humanismus nach der Humanismuskritik Martin Heideggers; und Sloterdijk vertrat die Auffassung, dass die Kritik am Humanismus heute in viel radikalerer Form vorgetragen werden müsse. Die zugrundeliegende Frage lässt sich - pointiert - so wiederholen: Lohnt es sich eigentlich noch, nachdem wir über annähernd drei Jahrtausende versucht haben, die Humanisierung der Menschen durch Bildung voranzutreiben, und nachdem diese Bildungsdomestikation als Zähmung gescheitert ist, nachdem sich

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folglich herausgestellt hat, dass man die Menschen durch humanistische Bildung nicht bessern kann, lohnt es sich nach dem Versagen des Humanismus-Projektes noch, an der Hoffnung auf Zähmung des Menschen durch Bildung festzuhalten? Sollten wir uns nicht eher radikal umwenden und sagen: Schluss mit der humanistischen Tradition der Zähmung, der Domestikation und Zivilisierung - wir bauen den Menschen gleich richtig um, nun da wir es genetisch können. Wir greifen in die Menschenkonstruktion ein, und damit ersetzen wir die Erziehung. Noch einmal anders gewendet: Das Erziehungsprojekt wird abgeschlossen und an seine Stelle wird kompensatorisch das Züchtungsprojekt gestellt. Auch hier wiederum bedarf es keiner Erwähnung, dass erneut ein Hintergrunddenker Pate gestanden hat; und natürlich ist es derselbe Denker, unter dessen Einfluss auch Heidegger stand, nämlich Friedrich Nietzsche. Dieser, der Denker der „ewigen Wiederkehr des Gleichen" und des „Willens zur Macht", hat ein drittes Haupttheorem formuliert, auf das sich Sloterdijk bezieht, das er allerdings nicht konsequent genug weiterdenkt. Nietzsches Idee ist ebenso einfach wie überzeugend und steht unter dem Einfluss des sich damals breitmachenden Darwinismus. Sie geht aus von der Frage: Wieso soll eigentlich, wenn alle anderen Spezies aussterben oder mutieren, ausgerechnet homo sapiens sich nicht weiter entwickeln? Oder als Nietzsches Theorem formuliert: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, - ein Seil über einem Abgrunde." (Nietzsche, S. 10). Ubermensch, das ist nicht Superman, sondern mit „Übermensch" ist die nächste Stufe der Evolution von homo sapiens gemeint. Die Frage ist also: Wohin soll homo sapiens sich entwickeln? Oder reflexiv gewendet - wohin sollen wir uns entwickeln? Nietzsches Antwort darauf lautet: Wir müssen diese Frage in der gleichen Weise wie die Frage nach der Weiterentwicklung aller anderen Arten angehen, deren Weiterentwicklung wir selbst in der Hand haben: also nicht durch Abwarten, sondern durch Eingreifen. In Nietzsches eigener Formulierung: „Ich lehre euch den Übermen-

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sehen. Der Mensch ist Etwas, was überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden? [...] Der Ubermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!" (Ebd., S. 8.; Vgl. auch Zimmerli. Zukunft des Menschen, S. 145-167). Nun kannte Friedrich Nietzsche die heute verfügbaren gentechnischen Methoden nicht und sein Begriff der „Züchtung", den er in diesem Zusammenhang verwendet, war gewiss stärker kulturalistisch gemeint, weil ihm auch in den kühnsten Träumen nicht eingefallen wäre, die primitive Genetik seiner eigenen Zeit als Züchtungsgrundlage zu benutzen, wie es später die Faschisten getan haben. Seine Idee war also, dass wir als Menschen etwas Kulturelles unternehmen müssen, um die „Verhaustierung" des Menschen ein Begriff, den Sloterdijk, von Nietzsche inspiriert, übernimmt und variiert - zu verhindern: um zu vermeiden, dass wir durch Erziehung und Zähmung immer braver, immer langweiliger und immer unbedeutender werden. Insofern stehen wir dann in der Tat mit unserer konventionellen Form der Erziehung am Ende. Uns stehen so Nietzsche in vielleicht allzu weitsichtiger Prophetie - zwei Jahrhunderte voll Blut und Eisen bevor, und diese Jahrhunderte werden Haustiermenschen nicht überleben können. Gewiss, das waren die siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, und man findet schlimmere Phantasien am Anfang des 20. Jahrhunderts, und keineswegs nur in Deutschland, sondern überall dort, wo die Idee der Eugenik diskutiert wurde. Und bei aller Berechtigung, die der empörte Aufschrei in den Feuilletons nach der Sloterdijk-Debatte gehabt haben mag, da sich in jede Idee der Menschenzüchtung in unseren Breitengraden gleichsam von selbst faschistisches Gedankengut einmischt, muss trotzdem zweierlei aus der Sloterdijk-Debatte gerettet werden (Zimmerli Evolution, S. 35): Zum einen hat nämlich Sloterdijk fraglos, auch wenn er für die Galerie spielt und auf Effekthascherei und Publikumszustimmung aus ist, mit Klarsicht einen Punkt getroffen, der von zentraler Be-

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deutung ist: Die ganze Debatte über die Kriterien, nach denen wir Methoden der Molekularbiologie im Rahmen der Humanmedizin auf Menschen anwenden, findet hinter verschlossenen Türen statt. Gewiss, es gab und gibt jede Menge Ethik-Kommissionen, die an allen möglichen Stellen zwischen Wissenschaft und Politik, zwischen Ärzteschaft und Forschung tagen und Beschlüsse fassen, Konventionen und Abkommen schließen. Die Öffentlichkeit jedoch wird, so ehrenwert diese Reflexionen auch sein mögen, darüber kaum informiert. Dieser Punkt, den einzuklagen eindeutig ein Verdienst Sloterdijks ist, war beinahe in der Debatte über die Frage nach den Maßstäben, nach denen wir unsere eigene Spezies und deren Weiterentwicklung verändernd in die Hand nehmen (und schon längst in die Hand genommen haben) untergegangen. Die Frage danach, wohin unsere Spezies steuert, wenn sie sich selbst verändert, also die Frage, wohin Menschen als Menschen steuern, wenn sie sich selbst verändern, muss wieder aufgegriffen und öffentlich diskutiert werden. Zum anderen aber ist ob des erhitzten Eugenik-Diskurses völlig unter den Tisch gefallen, dass Sloterdijk eine Prämisse vorausschickt, die ihrerseits sozialphilosophisch von entscheidender Bedeutung ist, nämlich die Prämisse, dass die Phase der Zähmung als Erziehung oder Bildung vorbei sei. Und hier scheint sich mir nun eine zentrale Frage neu zu stellen, die von größter Wichtigkeit ist: Ist die Phase der Bildung wirklich vorbei? - Und die Antwort muss natürlich lauten: Nein! Die Phase der Bildung und Erziehung ist keineswegs vorbei, wir haben noch nicht einmal begriffen, wo wir uns gegenwärtig befinden, geschweige denn, dass wir eine Idee davon hätten, wohin wir uns in Zukunft entwickeln sollten. Und hier muss man Sloterdijk aus einem anderen Grund dankbar sein: weil er nämlich zur Untermauerung seiner eigenen These kaum etwas Gewichtiges beisteuern kann. Vielmehr gilt, dass die Vorstellung geradezu abenteuerlich falsch ist, wir hätten bisher die Evolution noch nicht in eigene Regie genommen und Menschenzüchtung, wenn man darunter eine Veränderung der biologischen Ausstattung des 81

Menschen einschließlich seiner genetischen Ausstattung versteht, beginne erst jetzt.

2. Die „Züchtungszähmung"

in der technologischen

Evolution

Menschliches Handeln ist kulturelle Veränderung der Natur oder Kulturalisierung der Natur (Hartmann/Janich 1996). Vom ersten Werkzeuggebrauch an greifen Menschen in die natürlichen Bedingungen ihrer Umwelt ein und verändern sie damit. Jeder, der kein Vulgärdarwinist ist, weiß, dass Evolution in Tat und Wahrheit immer Koevolution ist, d.h. Entwicklung lebender Spezies im Zusammenhang der Entwicklung der Systeme, die die Umwelt dieser Spezies darstellen, et vice versa. Jede Veränderung unserer Umwelt ist damit ein Eingriff in die evolutionären Bedingungen. Seit Menschen technisch handeln, verändern sie also nicht nur ihre Umwelt, sondern damit nicht zuletzt auch die Bedingungen ihrer eigenen Evolution. Diese bislang eher theoretisch entwickelte These lässt sich mit einem Beispiel schlaglichtartig beleuchten, das heute in aller Munde ist. Es handelt sich dabei um die pränatale, vielleicht sogar präkonzeptionelle Beratung, die heute die genetische Beratung definiert. Dafür gibt es professionelle Institutionen und Lehrstühle an Universitäten. Genetische Beratung wendet heute in denjenigen Fällen jedenfalls, wo dies möglich ist, Methoden an, die auf der Molekularbiologie beruhen und in den Bereich dessen gehören, was man allgemein unter „Gentechnik" subsumiert. Ein konkretes Beispiel dafür ist die Mukoviszidose oder zystische Fibrose, eine heterozygot übertragene Erbkrankheit, bei der die zu testenden Träger selbst asymptomatisch sind; es bedarf also einer Testung beider Partner, um vorhersagen zu können, ob eine Mendelsche 1 : 4-Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, dass ein Kind mit dieser Krankheit geboren wird (Zimmerli 1993, S. 83-99). Die damit aufgeworfenen Fragen sind, wie man leicht sieht, Fragen der probabilistischen Medizin und werden im Bereich der philoso-

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phischen Ethik zu Fragen der probabilistischen normativen Prognostik, die ungeheuer komplex sind: Gibt es einen Wahrscheinlichkeitsprozentsatz, von dem ab man moralisch verpflichtet ist, etwas zu tun oder zu unterlassen? Ist also die Wahrscheinlichkeit von 1 : 1600, die, wenn kein Test vorliegt, die hierzulande übliche statistische Wahrscheinlichkeit ist, dass man ein Kind mit zystischer Fibrose zeugt, ein hinreichender Grund dafür, eine Zeugung zu unterlassen, oder ist erst eine Wahrscheinlichkeit von 1 : 4 ein hinreichender Grund dafür? Wir sehen, dass wir in unserem ethischen Diskurs für Fragestellungen dieser Art überhaupt nicht gewappnet sind. Um es noch mehr zuzuspitzen: In der normalen Verteilung ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir ein Kind mit dieser Krankheit zeugen, 1 : 1600. Lässt sich ein Elternteil testen und das Ergebnis ist positiv, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit auf 1 : 80. Wenn auch das zweite Elternteil sich testen lässt und das Testergebnis ist positiv, beträgt die Wahrscheinlichkeit 1 : 4. Das bedeutet nun aber, dass die Wahrscheinlichkeit sich durch zwei Testschritte oder besser: durch die Entscheidung beider Partner, sich testen zu lassen, von 1 : 1600 auf 1 : 4 erhöht. Ist es dann noch verantwortbar, ein vorliegendes Testverfahren, das über diese zwei Schritte die Prognosewahrscheinlichkeit drastisch steigen lässt, nicht anzuwenden? Mit anderen Worten: Sind Testverfahren dieser Art im Rahmen der probabilistischen prädiktiven Medizin in dem Moment, in dem sie zur Verfugung stehen, nicht auch sofort moralisch verbindlich? Eine ganz neue Art interessanter ethischer Fragen tut sich hier auf, an denen sich der ethische Sachverstand zu schärfen hat, an denen man aber zugleich sieht, dass de facto, ohne dass wir das ethische Instrumentarium dafür hätten und ohne dass wir genau wüssten, welche Konsequenzen das im einzelnen hat, schon über eine genetische Beratung drastisch in die Evolution eingegrifFen wird. Zwar nicht vermittelt über Abtreibung und auch nicht über die genetische Veränderung des Erbmaterials der potentiellen Eltern oder des betreffenden Kindes, sondern, um es paradox zu sagen, über den Eingriff in die Frage, ob ein mögliches Kind ein wirkliches Kind

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wird. Philosophisch gesprochen resultiert daraus die Frage, ob mögliche Eltern über die Frage entscheiden dürfen, ob mögliche Kinder zu wirklichen Kindern und sie dadurch von möglichen Eltern zu wirklichen Eltern werden dürfen. Wir sehen, wir greifen selbstverständlich in die Evolution ein, und zwar auch in die genetische Evolution, obwohl wir weder über das ethische Instrumentarium verfugen, um die Frage nach der Zulässigkeit zu entscheiden, noch über die Konsequenzen hinreichend genau Bescheid wissen. Und um zu demonstrieren, dass dies zunächst einmal kaum etwas mit Gentechnik zu tun hat, greife ich auf ein ganz anderes Beispiel zurück: Unsere derzeitige Population, wie wir sie auf unser Erde, vor allen Dingen in der Nordhemisphäre antreffen, ist bereits Ergebnis massiver Eingriffe in die genetische Ausstattung von homo sapiens. Denken Sie nur an die Myopie oder Kurzsichtigkeit: die hohe Inzidenz der erblichen Kurzsichtigkeit in unserer Gesellschaft ist die Folge der Tatsache, dass im 12. und 13. Jahrhundert Menschen angefangen haben, Linsen zu schleifen und sie zu Brillen zu verarbeiten. Das bedeutet, dass die einfache technische Erfindung der Brille dazu fuhrt, dass fünfhundert Jahre später eine statistisch hohe genetische Disposition zur Kurzsichtigkeit in den zivilisierten Ländern anzutreffen ist. Die Erklärung hierfür ist natürlich ganz einfach: Die Uberlebenschancen und die Fortpflanzungschancen und damit die evolutionären Chancen von Kurzsichtigen steigen drastisch, sobald Artefakte vorliegen, die die nachteiligen Auswirkungen der Kurzsichtigkeit kompensieren können. Man muss sich nur die hohen selektiven Auswirkungen des Straßenverkehrs vor Augen halten, um die Plausibilität eines primitivdarwinistischen Argumentes einzusehen, das hier greift und das in der evolutionären Erkenntnistheorie verbreitet ist: Gäbe es keine Brillen, so gäbe es heute keine Kurzsichtigkeit mehr - so oder ähnlich würde ein solches Argument lauten - weil jene potentiellen Vorfahren, die kurzsichtig waren, im Straßenverkehr des 20. Jahrhunderts nicht überlebt hätten und deswegen nicht zu unseren aktuellen Vorfahren gehörten. Aufgrund der Erfindung der Brille ist es genau anders

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herum gelaufen. Wir haben mit einem einfachen technischen Eingriff eine gewaltige Veränderung der genetischen Disposition, in unserem Falle zur Kurzsichtigkeit, eugenisch initiiert. Brillen herzustellen oder Linsen zu schleifen zum Zwecke der Herstellung von Brillen, ist - so betrachtet - Eugenik. Wenn man sich dies an einem unverdächtigen Beispiel Explizierte nochmals in begrifflicher Abstraktion vor Augen führt, dann wird deutlich: Jedes technische Handeln greift - wenn auch in unterschiedlicher Tiefe - in die Randbedingungen unserer Evolution ein. Wir sind längst dabei, die biologische Evolution von homo sapiens massiv zu beeinflussen durch das, was „Eugenik durch die Hintertür" (Duster 1990) genannt worden ist, also durch harmlose Eugenik, die sozusagen auf Umwegen geschehen ist und nicht intendiert war. Man wird an dieser Stelle wohl kaum umhin können, sich die Frage zu stellen, ob dass, was wir bislang „harmlos", d.h. unbeabsichtigt getan haben, nun, nachdem wir wissen, dass wir es tun, noch zu verantworten ist. Das Beispiel der Kurzsichtigkeit ist dabei noch relativ unbedenklich, aber wir wissen auch, dass unsere technischen Errungenschaften eine Reihe von kulturell bedingten oder mindestens kulturell mitbedingten Krankheiten befördern und dass diese Technik ihrerseits im gleichen dazu beiträgt, dass sich diese Krankheiten verbreiten und dass Methoden entwickelt werden, diese Krankheiten zu bekämpfen. So zeigt sich das paradoxe Bild, dass dieselbe Technik dazu dient, Schäden anzurichten, deren Beseitigung anschließend zur Hauptaufgabe der Technik wird, so dass wir uns in einen ewigen Kreislauf von ungewollt angerichteten Schäden und Technologien zur Beseitigung eben dieser Schäden verstricken, die ihrerseits wieder ungewollte eugenische Konsequenzen haben. Dann aber beginnt die Frage unabweisbar zu werden, von der ich ausgegangen war, aber mit einer anderen Betonung: Was bedeutet das Präfix „eu" im Wort „Eugenik"? In der griechischen Sprache, aus der dieses Wort stammt, heißt „eu" soviel wie „gut", „Eugenik" ist also die gute Veränderung; und damit stehen wir wieder bei unserem Ausgangsproblem: Was ist „gut"? Was ist „besser"? Was ist „enhance-

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ment-therapy"? Was ist das Gute an der Eugenik? Ist es gut, dass wir eine höhere Inzidenz von Kurzsichtigkeit in entwickelten Industrienationen haben? Jeder würde auf letztere Frage wohl antworten: Vielleicht ist nicht dies gut, aber dass wir die Möglichkeit haben, Menschen, die kurzsichtig sind oder andere Sehschwächen haben, mit Hilfsmitteln auszurüsten, die ihnen erlauben, in unserer Welt überleben zu können, das ist gut. Und schon sieht man, dass die Eugenik durch die Hintertür kommt und dass hier im Wortsinne Eugenik betrieben wird. Was aber ist die Konsequenz hieraus? Wenn man sich vorstellt, wir lebten in einer Gesellschaft, in der die Hälfte aller Mitglieder der Alterskohorte über 50 Jahre angehört, und wenn man sich fragt, wie viele Teile von den Personen in dieser Gesellschaft natürlich und wie viele künstlich, d.h. technisch hergestellt sind, dann stellt man plötzlich den Schritt vom Menschen zum „Ubermenschen" fest, in dem wir uns vom natürlichen Menschen zum technischen Ersatzteilmenschen bewegen. Schon heute gibt es kaum mehr Menschen in der Alterskohorte über 50 Jahre, die ganz ohne Artefakte auskommen. Zwar haben nicht alle einen Herzschrittmacher, aber fast alle haben Plomben, Zahnersatz oder andere kosmetische Veränderungen im eigenen Mund. Und wenn man das weiter extrapoliert und etwa mit der Populationsdynamik und dem technischen Fortschritt multipliziert, dann kann man - leicht übertreibend - sagen: in 50 Jahren werden wir eine Population haben, in der 50 % der Menschen zu 50 % künstlich sind. Das bedeutet aber, dass wir uns fragen müssen, ob wir eigentlich homo sapiens noch als isolierte Entität, gleichsam als Restnatürlichkeit betrachten dürfen. Dürfen wir eigentlich noch weiterhin isoliert von den Menschen und ihrer Technik und ihrer Umwelt sprechen? Hier mag erneut ein einfaches Gedankenexperiment helfen: Wenn man sich überlegt, wie weit man an einem Tag käme, wenn es weder das Rad noch den Motor, den Elektro-, Otto- oder DieselMotor, noch die Mikroelektronik geben würde. Ganz elementare lebensweltliche Verrichtungen wie etwa die des rechtzeitigen Auf-

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stehens würden ohne Wecker gar nicht möglich sein, sei dieser nun mechanisch oder funkgesteuert. Dies gilt in verstärktem Maße fur komplexe technische Systeme wie eine Straßenbahn oder ganze Ampelsteuerungen des Straßenverkehrssystems. Angesichts solcher Beispiele sehen wir: Wir sind gar nicht homo sapiens, sondern wir sind Zentauren, Wesen, die in einer symbiotischen Verbindung mit uns umgebenden Technologien leben, und von diesen Technologien ist nur ein verschwindend kleiner Bruchteil Technologie von der Art, die wir hauptsächlich diskutieren, wenn wir von „Anthropotechnik" phantasieren. Nein, wir verändern homo sapiens nicht genetisch, wir verändern ihn mechanisch, wir verändern ihn elektrisch, wir verändern ihn elektronisch, wir sind selbst Teil eines solchen symbiotischen MenschMaschine-Systems, wir sind Mensch-Maschine-Zentauren, oder wir leben in „Mensch-Maschine-Tandems" (Müller-Merbach 1987, S. 6-8). Das bedeutet aber, dass wir uns nicht auf die Experimente genetischer Intelligenzsteigerung bei einer Labormaus verlassen müssen. An solchen Experimenten kann man deutlich ablesen, dass die Intelligenz, die dort getestet wird, in der Regel die Intelligenz des Testers und nicht diejenige der Getesteten ist. Oder anders formuliert: Mit Intelligenztests messen wir jeweils eine standardisierte Form von positiven Eigenschaften. Wie sollte es auch anders sein, wenn wir noch nicht einmal wissen, was denn nun die multifaktoriell bedingte Expression, die wir „Intelligenz" nennen, ihrerseits bedingt. Kurz: Wir sind nicht anthropotechnische Züchter von Intelligenz. Was wir tun, ist vielmehr genau das, was wir beobachten können: Wir bauen uns nämlich Systeme, die die menschlichen Intelligenzleistungen effektiv und in gewissen funktionalen Grenzen flächendeckend kompensieren können. Es sind nicht nur die physischen Fähigkeiten, die wir mit technischen Geräten verbessern oder spezialisieren können, sondern es sind eben auch kognitive Fähigkeiten.

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3. Von künstlicher Intelligenz zum

Netzwerkdenken

Ein Großteil der Debatte (vgl. Zimmerli/Wolf 1994) über Künstliche Intelligenz, die einst die Gemüter bewegte, beruht auf einem Ubersetzungsfehler, wie im übrigen viele Debatten über technische Artefakte - man erinnere sich nur über die Debatte über Personal Computer. „Artificial intelligence" wurde übersetzt mit „künstlicher Intelligenz", und dabei wurde vergessen, dass „künstlich" soviel wie „technisch", nicht aber wie „künstlerisch" heißt, und dass „intelligence" nichts mit Intelligenz in unserem terminologischen Sinne zu tun hat, sondern „Datenverarbeitung" oder „Informationsverarbeitung" bedeutet. Wäre das nicht der Fall, wäre die CIA die Zentralagentur für Intelligenz, und das ist auch nicht der Fall. „Artificial intelligence" bedeutet also ursprünglich nicht mehr als „technische Informations- oder Datenverarbeitung", und als solche ist sie weder etwas Spektakuläres noch etwas Mythisches, sondern eben ein Stück theoretisch modellierte Weiterentwicklung einer Technik, die man früher „Rechenmaschinentechnik" genannt hat. Das kann man sich leicht daran vor Augen führen, dass man sich Charles Babbages erste Entwürfe einer solchen Maschine anschaut, die selbstverständlich noch mechanisch funktioniert hätte, wenn sie funktioniert hätte, und diese mit unseren Halbleiter- und Supraleitertechnologien vergleicht: Das Prinzip ist genau dasselbe, es geht dabei nur um unterschiedliche materielle Implementierungen dieses Prinzips. Wie aber, wenn es sich hier nur um die Frage unterschiedlicher Implementierungen von technischer Datenverarbeitung handelt, kam es zu der Vorstellung, es handele sich dabei um so etwas wie eine künstliche menschliche Intelligenz, eine Ersetzung der menschlichen Intelligenz? - Nun, die Antwort fällt relativ leicht: Das liegt an einem Test, den Alan Turing 1950 zur Beantwortung der Frage vorgeschlagen hatte, ob Maschinen denken können. Diese uralte Frage, die in Abwandlung bereits bei Aristoteles vorkommt, wird von Turing operationalisiert, wenn er sagt: Statt diese Frage weiterhin zu debattieren, philosophisch und ergebnislos, wollen wir

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sie ersetzen durch einen operationalisierbaren Test. Und dieser Test beruht auf der Frage: Können wir eine Maschine bauen, die einen menschlichen Beobachter hinsichtlich ihrer Denkfähigkeit täuschen kann? Es geht also um die bewusste Täuschung, um die Konstruktion einer Maschine zum Zwecke der Täuschung eines menschlichen Beobachters, der außen steht, das Innenleben der Maschine nicht kennt, aber zur Auffassung kommt, es handelte sich bei seinem Gegenüber um eine menschliche Intelligenz. Oder noch genauer gesagt: der Test besteht darin, dass ein Beobachter nicht unterscheiden kann, ob Antworten von einer maschinellen Informationsverarbeitungsapparatur oder von einem Menschen gegeben werden. Anders: Eine Maschine kann dann denken, wenn wir einen Beobachter darüber täuschen können, ob es sich dabei um eine Maschine oder einen Menschen handelt. Turing benutzt also die alte Roboteridee der intelligenten Maschine. Vor diesem Hintergrund ist es zwar erklärlich, aber trotzdem erstaunlich, warum ein so großer mythischer Streit hat entbrennen können, ob denn nun Maschinen denken können oder nicht. Und heute lebt dieser Streit in Form der Frage wieder auf, ob die Robotisierung der Welt den Menschen überflüssig mache (Vgl. Joy 2000). Einer der Hauptrepräsentanten der kritischen Philosophie der Künstlichen Intelligenz, der Berkeley-Philosoph Hubert Dreyfus, der im Anschluss an sein bekanntes Buch What computers can't do (Dreyfus 1972) großes Aufsehen mit seinen Versuchen erregt hat zu zeigen, was Computer alles nicht können, hat in einem leichtfertigen Moment einmal die These vertreten, Computer könnten im Schachspiel nicht gegen einen guten Schachspieler bestehen. Um das zu demonstrieren, ist er dann allerdings selber angetreten, und er hat, wie vorauszusehen war, gegen ein nach heutigen Maßstäben relativ mittelmäßiges Schachprogramm verloren. Damit hat er sich die Zeitungsschlagzeile eingehandelt: „Computers can't play chess, says Dreyfus", Untertitel: „Neither can Dreyfus". Mit anderen Worten: Ob eine Maschine intelligent ist oder nicht, hängt immer davon ab, woran Intelligenz gemessen wird. Und wenn ich Intelligenz an einem

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durchschnittlichen Schachspieler bemesse und Intelligenz mit Schachspielen gleichsetze, dann gilt natürlich, dass eine Maschine dann intelligent ist, wenn sie besser Schach spielen kann als ein durchschnittlicher Schachspieler. Und so ist es eben mit allen Maschinen: Wer würde einen Verbrennungsmotor in seinem Auto wollen, der nur genauso stark ist wie man selbst? Nein, natürlich will man eine Maschine, die erheblich stärker ist. Oder wer möchte wirklich allen Ernstes einen Rechner haben, der so denkt wie man selbst. Wenn das der Fall wäre, dann würde man, wäre man mit einer solchen intelligenten Maschine konfrontiert, nicht genau wissen, ob sie intelligent oder kaputt ist. Die Menschen möchten keine Maschinen haben, die - abhängig von ihrer eigenen Stimmungslage - arbeiten oder nicht. Die Idee der Künstlichen Intelligenz hat heute viel von ihrer magischen Aufladung verloren und viel von technischer Perfektionierbarkeit dazu gewonnen. Heute ist Künstliche Intelligenz eine sehr leistungsfähige Subdisziplin der Informatik und hat ihren sozusagen märchenhaften Charme weitgehend verloren. Was aber haben wir stattdessen? Nun, die Antwort lautet: wir haben einen neuen Mythos. Howard Rheingold hat sich als Journalist einen großen Namen gemacht und viele Bücher geschrieben, die von den Internetpionieren der ersten Stunde handeln. Der „Mythos Internet" ist allerdings ein typischer Pioniermythos, ein „go-west-Mythos". Das kann man an einem Untertitel eines berühmten Buches, das er geschrieben hat, ablesen. Das Buch heißt The Virtual Community, und der Untertitel Homesteadingon the Electronic Frontier (Rheingold 1991). Nachdem es sozusagen keine anderen Grenzen mehr gibt, weder auf unserem Globus noch im Weltraum, geht es jetzt um den Bereich des Virtuellen. Die virtuelle Welt wird die Welt des Abenteuers. Der Marlboro-Mann der Zukunft wird nicht auf einem Pferderücken irgendwohin galoppieren, sondern wird - wie Boris Becker - freudig erregt darüber sein, dass er im Internet „drin" ist. Das also ist die Zukunft

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der Abenteurer. Die Science-Fiction-Literatur, die sich seit Jonny Mnemonic an dieser Idee zukünftiger Abenteuer entzündet hat, umschreibt genau dies: Die Menschen steigen aus ihrem langweiligen, vorhersehbaren Leben aus, sie loggen sich ein und bewegen sich in ihren „muds and moos" als große Abenteurer auf dem Internet. Der Internet-Mythos, der Netzmythos ist geboren. Und erneut stellt sich die Frage, was denn eigentlich an diesem Mythos ist, was ihn so mythisch macht? Die Antwort darauf lautet zunächst einmal relativ nüchtern: Das Netz ist die DAI, die Distributed Artificial Intelligence, verteilte Informations- und Datenverarbeitung. Und das hat natürlich zur Folge, dass das Internet viele Funktionen, die vorher andere Medien hatten, kompensieren kann. Zum Beispiel die der Kataloge in Bibliotheken. Unsere Suchmaschinen sind nichts anderes als ziemlich unvollständige automatisierte Katalog-Benutzer. Das heißt, es sind Programme, die von Menschen gemacht worden sind, die ihrerseits bestimmte Kriterien für wichtig und andere für weniger wichtig hielten. Wenn sie gut gemacht sind, sind sie von einer Expertengruppe expertensystemgestützt gebaut, d.h. sie bringen ein paar Kriterien mehr ins Spiel, sind aber keineswegs die Maschinen, die uns nun sagen würden, was es an Wissen zu wissen gibt, sondern Maschinen, die uns sagen, was es zu bestimmten Leitbegriffen, die von Menschen zusammengestellt worden sind, im Netz zu finden gibt. Wer jemals selbst einen Schlagwortkatalog gemacht hat, wird wissen, wie hoch arbiträr das ist, je nachdem, welche Schlagworte man benutzt. Ein vollständiges Suchsystem, in dem ein Wissen vollständig adressiert und erschlossen werden könnte, gibt es per definitionem nicht, und infolgedessen ist der Mythos Internet gelinde gesagt naiv, wenn man darunter versteht, dass an die Stelle eines unzureichenden, in verschiedene Bibliotheken verteilten Wissens nun ein zentrales Wissen komme, das seinerseits die Möglichkeit habe, alle anderen Wissensquellen zu erschließen. Zwar ist bekannt, welche Interessen dahinterstecken, und deswegen kann man gut verstehen, warum diese Vorstellung verbreitet wird; aber sie ist falsch. Wohl aber trifft zu 91

und jetzt muss die Gegenseite der Bilanz aufgemacht werden dass sehr viel mehr Informationsquellen erschlossen werden können über die Distributed Artificial Intelligence (verteilte Informationsverarbeitung) als wir sie über traditionelle Formen bisher erschließen konnten. Und die Pointe dabei ist der Grad der Vernetzung. Selbstverständlich lässt sich wie im Falle der Künstlichen Intelligenz alten Zuschnitts aber auch eine ganz andere materielle Implementierung desselben Systems vorstellen. So wäre zum Beispiel ein hochleistungsfähiges Morsenetz, in dem Personen sich über große Distanzen Informationen über ihre eigenen Wissensbestände zumorsen, eine andere materielle Implementierung; allerdings müssten diese Wissensbestände anschließend sortiert und dann mit Informationsspinnen, sogenannten „Crawlers", gesichtet werden, die sozusagen über diese sortierten Informationen kriechen, um mitzuteilen, welche davon in besonders gehäuftem Maße in Washington zu finden sind und welche man beispielsweise besser an der Privaten Universität Witten/Herdecke sucht. Das wäre gewiss technisch machbar; der Nachteil wäre nur: Es würde sehr viel langsamer und es würde sehr viel weniger leistungsfähig sein.

4. Denken und Handeln in Netzwerken Konfrontiert sind wir gegenwärtig ganz offenkundig mit Netzwerken, deren Wirkung auf unsere Phantasie weiter reicht als das, was sie tatsächlich leisten können. Plötzlich taucht der Gedanke des Netzes, des vernetzten Denkens, der Netzwerkorganisation, des sozialen „networking" überall auf und es gibt wohl kaum jemanden, der sich ihn aus der gegenwärtigen Diskussion wegdenken könnte (vgl. Zimmerli 1998; Engel/Keller 2000). Aber wie ist er dahin gekommen? Wenn man theoriehistorisch interessiert ist, wird man feststellen, dass seit den 60er Jahren der Begriff des Netzes und die damit verbundene gedankliche Modellierung an verschiedenen Orten aufzu-

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tauchen beginnt. Das begann mit der Idee einer semantischen Repräsentation des Gedächtnisses (vgl. Quillian 1968). Wie verfährt ein Gedächtnis, sei es nun ein maschinelles oder ein menschliches, wenn es um Assoziationen von semantischen Inhalten, also etwa um BegrifFsassoziationen geht? Wie erinnern wir uns zum Beispiel an einen Namen, den wir vergessen haben? Welche Suchtechniken gibt es da? Jeder Mensch erinnert sich an die peinliche Situation, dass man jemandem vorgestellt wird, der weiß, das man eigentlich weiß, wie er heißt, nur man selbst kann sich nicht daran erinnern. Und deswegen geht nun die Suche los, semantische Suchtechniken werden eingesetzt, etwa der Anfangsbuchstabe des Namens oder Situationen, bei denen man sich schon begegnet sein könnte. War das irgendwann damals auf einer Demo, oder in der Disco? Wenn es bei der Demo oder in der Disco war, dann kennt man wahrscheinlich nur seinen Vornamen, nach dem es nun zu suchen gilt. Auf diesem Wege tastet man sich langsam heran, und in der Tat fällt einem dann plötzlich ein Name ein. Gewiss, es gibt auch elegante Techniken, mit denen man durch besonders herzliche direkte Begrüßung („Ach wie schön, Sie wiederzusehen!") vermeidet, den Namen aussprechen zu müssen. Der Suchvorgang selbst aber läuft weiter, und zwar, wie gesagt, über semantische Netzwerktechniken. Etwa in derselben Zeit, Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, taucht der Begriff des Netzwerkes in sozialwissenschaftlichen Arbeiten auf. Jeremy Boissevain, ein belgischer, in Holland lehrender Sozialanthropologe, hat ein bekanntes Buch geschrieben unter dem Titel Friends of Friends·, und in diesem Buch geht es um die informellen Netzwerke, die die hinter den offiziellen Hierarchien und Strukturen liegenden eigentlich mächtigeren Strukturen darstellen. Im Vorwort dieses Buches findet sich die interessante Bemerkung, der Autor habe den Begriff des Netzwerkes benutzt, um die Personen, die - nicht zuletzt aufgrund der Wirksamkeit der Systemtheorie - aus den Sozialwissenschaften verschwunden gewesen seien, wieder in die Diskussion einzuführen (Boissevain 1974). Der Netzwerkbegriff dient also zur Wiederentdeckung der Personen,

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weil Netzwerke definiert sind durch ihre Knotenpunkte - Knoten in sozialen Netzwerken aber sind Personen. Der Netzwerkbegriff heilt nach Boissevain gleichsam eine Schwäche, aufgrund derer in den Sozialwissenschaften nur noch über Systeme, Umwelt, Subsysteme etc. geredet wurde. Ende der 60er, Anfang der 70er und erneut wieder in den 80er Jahren taucht die Netzwerkidee im Bereich der alternativen Modellierung von Künstlicher Intelligenz auf also bei den sogenannten Konnektionisten wie Rumelhart (Rumelhart 1973, Rumelhart/McClelland 1986). Man sieht: Die Netzwerkmetapher gewinnt in den 60er und 70er Jahren eine Überzeugungskraft, die sie zu einem Paradigma, ja: sogar zu einem Metaparadigma werden lässt, weil sie eben nicht nur in einer Disziplin als Leitvorstellung dient, sondern plötzlich in nahezu allen Disziplinen auftaucht. Obwohl sich das aber so verhält, sprechen wir erst seit den 90er Jahren von einer „Netzwerkgesellschaft" (Castells 1999), und der Grund dafür ist, dass wir erst seit ungefähr einem Jahrzehnt jenes mirakolöse technische System sich entwickeln sehen, das seinesgleichen sucht: das Internet oder World Wide Web. Es handelt sich dabei um das technische System mit der bei weitem größten Entwicklungsgeschwindigkeit überhaupt. Wenn wir von Arpanet, das gerade dreißig Jahre alt geworden und ein rein wissenschaftliches, wenn auch vielleicht verteidigungstechnisch motiviertes Experiment im Auftrag des Pentagon gewesen ist, und von der Phase der ersten paar Netzwerkpioniere, die ihre Computer mit ihrem Telefonsystem verbunden und dann selbst angefangen haben, kleine Netze zu basteln, einmal absehen, dann beginnt das Internet im engeren Sinne erst Ende der 80er Jahre. Für das Jahr 2015 ist prognostiziert - und das ist wahrscheinlich eine eher konservative Schätzung -, dass ein Viertel der Erdbevölkerung Zugang zum Internet haben wird, also gut 2 Milliarden Menschen. Die Geschichte des exponentiellen Wachstums verzeichnet folglich einen Anstieg von 0 auf 2 Milliarden Nutzern in nur 25 Jahren. In der ganzen Geschichte der Menschheit gibt es keine Technik, die ein

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ähnlich rapides Wachstum aufzuweisen hätte. Dies - und nicht die Frage, ob wir in Zukunft irgendwelche gezüchteten, mit einem Mausintelligenz-Gen ausgestatteten Ubermenschen haben werden ist es, was unsere Welt verändert. Gewiss, das mag Ökonomen und Anleger interessieren und solche, die es einmal werden wollen, wie die „new economy" zeigt. Für den Philosophen jedoch ist es deswegen ein so faszinierender Fall, weil es sich dabei um eine die Welt verändernde Entwicklung handelt, die sich nahezu unbemerkt durchgesetzt hat. Es gab eine ganz kurze Phase eines gesellschaftskritischen Protestes gegen die Computer einige werden sich an Joseph Weizenbaum (vgl. Weizenbaum 1991, 1997) und seine Vortragstourneen erinnern - das ist aber graue Vorgeschichte. Wenn heute jemand aufträte und vor dem Computer oder gar dem Internet warnte, dann würde er als luddistischer Bilderstürmer und Spinner abgetan - und wahrscheinlich sogar zu recht. Trotzdem aber lässt einen die eigentliche großtechnologische Revolution erstaunen, die homo sapiens in eine vollständig neue Situation bringt, nämlich in die Situation, die ich pars pro toto als „HypertextSituation" bezeichnen will, in der es die Adressierbarkeit des Urhebers von Gedanken in der uns bekannten Form gar nicht mehr gibt, in der man morgens aufsteht und mit Erstaunen liest, wie das internationale Autorenkollektiv in der Nacht den Beitrag, den man gerade für irgendein Journal angefangen hatte, weiter getextet hat. Diese Veränderung, die die Vollendung des von den Dekonstruktivisten als „Tod des Subjekts" apostrophierten Endes der Moderne markiert, greift Platz, ohne dass sich so etwas wie eine gesellschaftskritische Kosten-Nutzen-Abwägung auch nur regte! Es gibt keine ernstzunehmende wissenschaftliche oder philosophische Internetkritik. Und wenn jemand etwas äußert, was auch nur entfernt nach Internetkritik klingt, greifen die Medien das als eine Rarität begeistert auf, sozusagen als Indiz dafür, dass die „Technikfeinde" (vgl. 1 / Vgl. Zimmerli: „Kritiklos akzeptiert", „Das Internet macht genauso wenig dumm, wie Bücher dumm machen" und „Spielräume erweitern" (alle 2000).

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Sidler 1996; Jaufmann/Bücker-Gärtner 1998) doch noch nicht ausgestorben sind.

5. Internet und

Wissensgesellschaft

Was aber ist mit dem Gedanken einer philosophischen Kritik der Internetkultur eigentlich gemeint? Damit komme ich abschließend zu zwei Dingen, die wir, wenn wir das Menschenbild mit den neuen Technologien kombinieren, ins Auge fassen müssen. Einerseits ist damit gemeint, dass wir eine radikale Veränderung erleben, und andererseits, dass diese radikale Veränderung noch keine hinreichende Bedingung dafür ist, dass homo sapiens nur in dem Wortsinne „sapiens", d.h. ein Wissender würde. Dass wir mit dem Internet nun über eine Objektivation und Verwirklichung der Netzmetapher verfugen, bedeutet nicht zwingend, dass wir uns damit in eine Wissensgesellschaft hineinbewegen; selbst wenn wir in einer Wissensgesellschaft lebten,2 heißt das noch nicht zwingend, dass wir deswegen mehr wüssten oder dass deswegen die These von der sinkenden Halbwertszeit des Wissens plausibler würde oder dass überhaupt Wissen in irgendeinem näher präzisierten Sinne dieses Begriffes in solchen Netzen vorhanden wäre. Das einzige, was daraus folgt, dass wir sagen, mit dem Internet bewegten wir uns in eine Wissensgesellschaft hinein, ist, dass wir hier mit einem äquivoken Begriff von „Wissen" operieren. Der Begriff des Wissens hat sich unter der Hand fortbewegt von der Vorstellung eines Bestandes, über den ein monologisches Einzelwesen, ein Mensch, verfugt, und er mit diesem Wissen sein Weltbild und damit sein kognitiv motiviertes Verhalten steuert. Der Begriff „Wissen" bezieht sich im Kontext der Wissensgesellschaft eben nicht mehr vordringlich auf 2 / Vgl. Stehr (1994); Zimmerli: Vom Unterschied, der einen Unterschied macht: Information, Netzwerkdenken und Mensch-Maschine-Tandem (2000).

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Bestände, auf die das Individuum zurückgreifen kann, ohne sich irgendwelcher Geräte oder Netze zu bedienen. Diesen traditionellen Begriff des Wissens haben wir ersetzt durch einen gleichnamigen Begriff der mit dem Begriff des „Mensch-Maschine-Zentauren" zusammenhängt; er bezieht sich auf die Möglichkeit des Zugriffs auf ausgelagerte Bestände, und zwar sowohl auf Bestände des Gedächtnisses als auch auf Bestände von jenem, was wir früher „Wissen" genannt haben, wie auf die Individuen im Netz, die die Knoten des Netzes darstellen. Und dabei taucht nun zugleich janusköpfig die andere Frage auf, die mit bangem Unterton in vielen Feuilletons, aber auch in wissenschaftlichen Zeitschriften und Büchern diskutiert wird: Wie steht es denn mit dem denkenden individuellen Subjekt? Wie bereits erwähnt, hat uns das, was ich die „französische Krankheit" nenne, die auch in der Philosophie grassiert und auch die deutschen Intellektuellen nicht verschont hat, weismachen wollen, dass das individuelle Subjekt tot sei. Das hätte uns zwar nicht wundern müssen, da wir ja schon seit einer Weile von Nietzsche wussten, dass Gott tot ist, und dann wäre es ja erstaunlich, wenn ausgerechnet sein menschliches Pendant, das omnipotente cartesische Subjekt, noch leben würde. Zum anderen haben wir aus der „französischen Krankheit" aber auch gelernt, dass dieses allgemeine Sterben mit der großen Bewegung der Dezentrierung zusammenhänge, wie man bei Jacques Derrida nachlesen kann (Derrida 1976). Das haben damals viele geglaubt, ohne es wirklich zu verstehen. Heute sehen wir, dass die These von der Dezentrierung und vom Tod des Subjekt überhaupt keinen Sinn macht, es sein denn, man beziehe sie auf etwas, worauf Derrida sie mit Sicherheit nicht bezogen hat. Und selbst Lyotard, der in seinem Report über La condition postmoderne wenigstens auf den Computer und die Datenbanken eingegangen ist, hat noch nicht soweit gedacht (Lyotard 1999). Gemeint ist natürlich die Erfahrung des Netzes. Wenn Menschen in einem nicht nur übertragenen Sinne - sozusagen metaphernartig - dezentriert, wenn sie also Knoten in einem Netz sind, wenn sie auf Ge97

deih und Verderb abhängig sind von dem System, dass sie im Denken und Handeln im wörtlichen Sinne als ihr Inter-Net, als ihr Verbindungsnetz benutzen, dann wird deutlicher, was „Dezentrierung" hier bedeutet. Netze haben nämlich kein Zentrum oder anders: Netze haben so viele Zentren, wie es Knoten gibt. Und auf diesem Erfahrungshintergrund macht das nun einen guten empirischen Sinn. Das heißt, dass die französischen Denker etwas beschrieben haben, ohne zu wissen, dass sie es beschrieben haben. Sie haben die Erfahrungen der Menschen in der auslaufenden Moderne ausgelegt, die ihrerseits zu einem Teil des Mensch-Maschine-Systems nicht nur werden, sondern auch wissen, dass sie es werden. Wer vergisst, dass er nur ein Knoten im Netz ist, benutzt das Internet falsch. Wer sich selber, sozusagen mit Allmachtphantasien in das Internet begibt, mag zwar vielleicht ein guter Hacker werden, aber das hält nicht lange vor, denn auch er benutzt die Vernetzung so, wie ein dezentrierter Knoten an diesem Netz partizipiert, indem er dieses Netz zugleich konstituiert. Und damit taucht eine weitere bange Frage auf: Was bleibt denn dann übrig? Auf dem Wege zur Beantwortung dieser Frage begegnet uns der inzwischen „klassisch" zu nennende Denkfehler, den man als den „postmodernen Fehler" schlechthin bezeichnen kann. Die Vertreter der Postmoderne haben geglaubt, dass deswegen, weil die Vorstellung der einen Vernunft nicht mehr für alle verbindlich sei,3 die Menschen sich sozusagen über nichts mehr vernünftig einigen können, außer darüber, dass sie sich nicht einigen können. In einer karikierenden Pointierung: Der einzige Konsens, den es noch

3 / Und zwar auch nicht in der von Wolfgang Welsch favorisierten, sozusagen eskapistischen Form, dass es zwar nicht mehr die eine Vernunft gebe, aber doch irgend so etwas wie einen rationalen „sky train" quer zu unseren Vernunftformen, die transversale Vernunft, die sich dann von einer Vernunft zur anderen als eine Art von Metavernunft (vgl. Welsch 1996, 1997) fortsetzt.

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geben kann, besteht darin, dass wir übereinstimmen, dass überall sonst Dissens besteht. Nun haben die Postmodernisten aus diesem Beilind die absurde Konsequenz gezogen (der nebenbei auch Manuel Castells folgt), dass unsere eigene Ich-Identität als das, was homo sapiens von sich denkt, in einer Art von vielfältiger Patchwork-Identity zerfließe. Wir nehmen an so vielen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen, an kulturellen und an wertschöpfenden Kreisen teil, dass wir am Schluss gleichsam „zerfranst" und dadurch zu einem Flickenteppich unterschiedlichster Identitäten werden, indem wir von einer Rolle in die andere schlüpfen, wenn wir uns in dieser PatchworkIdentity bewegen wollen. Dass dies eine vollständig falsche Konsequenz ist, kann man zum Glück leicht sehen: verschiedene Rollen kann nur spielen, wer immer zugleich schon weiß, dass er Rollen spielt und sich dadurch von seinen Rollen unterscheiden kann. Virtuelle Realität nutzen, sich in virtuellen Umwelten bewegen, sich mit verschiedenen Namen, also mit verschiedenen „Personae", mit verschiedenen Masken der eigenen Identität in Rollenspielen auf dem Netz surfen, setzt eben immer voraus, dass man weiß, dass man Rollenspiele spielt. Gewiss, das mag manchmal außer Kraft gesetzt werden, wenn ein Rollenspiel ungemein interessant ist oder wenn sich Zuschauer mit Teilen der eigenen Rolle identifizieren. Dass deswegen aber die klassische personale Identität verschwinde, ist ein schlichter Trugschluss. Vielmehr wird es umgekehrt eher so sein, dass sich nun genauer unterscheiden lässt zwischen starken personalen Identitäten klassischer Art, die an dieser Herausforderung, verschiedenen Rollen und verschiedenen Sätteln gerecht zu werden, nicht scheitern, sondern gleichsam überleben und eher wachsen, und denen, die das nicht leisten können. Aber es wird nicht eine Patchwork-Identity von Personen geben, die eine Art Split-Personality haben und dann in fast pathologischer Form nur noch durch ihre Rollen sausen. Es wird sich, wenn meine Analyse zutrifft, im Gegenteil eher so verhalten, dass die klassische personale Identität

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gestärkt aus diesen Rollenspielen hervorgeht. Das Subjekt ist nicht tot, es hat sogar seine alte personale Identität wiederbekommen. Die Surfer auf dem Netz können zwar verschiedene Absenderadressen an- und dadurch verschiedene Identitäten vorgeben, aber die Pointe daran ist ja gerade, dass man verschiedene Identitäten als Rollen auf dem Netz spielen und sie eben dadurch immer wieder verlassen und in die eine eigene Identität zurückkehren kann. Kurz: Was an der virtuellen Welt virtuell ist, ist genauso virtuell wie das, was in der realen Welt virtuell ist. Und was in der virtuellen Realität real ist, ist genauso real wie das, was in der realen Realität real ist (vgl. Zimmerli 1997). Mit anderen Worten, virtuelle Realität ist zwar ein unterhaltungsökonomisch sinnvoller Bereich unserer Industrie, ist aber seinerseits nichts, was uns ändern würde in der Art und Weise, wie homo sapiens seine Wirklichkeit wahrnimmt. Wohl aber - und das ist der Schluss - wird das Wissen der Netzwerkmenschen sich ändern. Denn wir alle sind inzwischen de facto Netzwerkmenschen! Wir alle wissen hinsichtlich unseres individuellen Wissensspeichers, wenn wir ehrlich sind, in vielen Bereichen sehr viel weniger als die Angehörigen der Generation unserer Eltern und Lehrer - aber: wir können sehr viel mehr; auch noch die Intellektuellen unter dieser Gruppe von neuen Netzwerkmenschen verfugen über eine Art impliziten Wissens vom „Skill"-Typ: Wir wissen genau, wo wir suchen müssen, wenn wir etwas finden wollen. Wir brauchen nicht mehr zum Reisebüro zu gehen, wenn wir uns über Zugverbindungen informieren wollen. Wir wissen genau, wie wir über das Internet an diese Informationen kommen können. Das, was sich in diesem Beispiel spiegelt, wird allerdings unseren Arbeitsmarkt drastisch verändern, aber homo sapiens wird einstweilen Nietzsche hin, Sloterdijk her - weiter homo sapiens bleiben. Höchstens, um noch eine Wendung hinzuzufügen, die in solchen Zusammenhängen nicht unterbleiben sollte, wird homo sapiens bemerken, wie wenig er eigentlich selber noch weiß. Und damit wird er „homo sapiens ignorans" werden, und zwar ganz ohne gentechnische Veränderung, nur durch Nachdenken ...

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Florian Rötzer Von digitalen Träumereien, _ , . , ,, materiellen Wirklichkeiten und Der technische Fortschritt der im digitalen Zeitalter geht Hoffnung auf den Zufall einher mit wachsenden Individualisierungswünschen und -notwendigkeiten. Deregulierung und Flexibilisierung sind nicht nur Forderungen der neoliberalen Ideologie und von der ökonomischen Globalisierung ausgehende wirtschaftliche Zwänge, sondern entsprechen auch den Emanzipationsantrieben der Individuen, die aus sozialen und familiären Strukturen ausbrechen und ihre einzwängenden Verankerungen mit der realen Welt lösen, zumindest lockern wollen, wozu auch der eigene Leib mitsamt seinem Gehirn gehört. Der Körper des einzelnen ist immer weniger ein Objekt, das auch von der Gemeinschaft etwa durch gesetzliche Vorschriften in Besitz genommen oder reguliert werden kann, sondern individuelles Eigentum, mit dem jeder, unabhängig von irgendwelchen moralischen Prinzipien, machen können soll und will, was er wünscht. Die Wünsche sind allerdings durchaus sozial geprägt, wie man sehr gut weiß. In einer Mediengesellschaft, in der die Aufmerksamkeitsökonomie mehr denn je durchschlägt, setzen etwa die Prominenten, die Aufmerksamkeit akkumuliert haben, natürlich auch auf ihren Körper und sein Erscheinungsbild. Hier wird, unter Anfuhrung besonders entschlossener Individuen wie Michael Jackson oder Cher oder auch von Künstlern wie Orlan, gnadenlos der Körper in ein vermeintliches Schönheitsideal mit glatter Haut und fehlendem Bauch, passender Nase und entsprechender Brustgröße gepresst, aufgedopt und möglichst lange jung gehalten. Gleich ob es sich um die äußerliche Erscheinung oder um körperliche oder geistige Leistungskapazitäten handelt, wird der Druck zumindest auf diejenigen wachsen, die in der Wissensgesellschaft nicht zu den Verlierern

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gehören wollen, ihren Körper und ihr Gehirn gemäß den vorhandenen Möglichkeiten aufzurüsten. Und wenn es möglich sein wird, nicht nur chirurgisch oder chemisch den Körper und seine Funktionen zu verändern, sondern ihn durch direkte Anbindungen an Maschinen, Implantate, Neurotechnologien oder auch irgendwann genetisch einem Upgrade zu unterziehen, um ihn leistungsfähiger zu machen, so wird diese Cyborgisierung auch unter marktstrategischen Gesichtspunkten geschehen. Auf der anderen Seite werden die Zwänge finanzieller Art zunehmen, die Verantwortung für den eigenen Körper und den der eigenen Nachkommen stärker übernehmen zu müssen, während der Möglichkeitsspielraum des Machbaren auch die Erwartungen erhöht, dass etwa Kinder weitgehend genetisch perfekt, vielleicht irgendwann auch mittels Eingriffen in die Keimbahn oder durch Einfügung künstlicher Chromosomen auf die Welt kommen. Der Druck wird hier natürlich vor allem dort am stärksten sein, wo sowieso Kinder durch in-vitro-Fertilisation schon nicht mehr auf natürlich-zufällige Weise entstehen. Die große Frage wird in Zukunft sein, wie weit die Gesellschaften ein Auseinanderdriften der unterschiedlich medizinisch, technisch oder genetisch aufgerüsteten Menschen zulassen kann oder will. Die bestehende Chancenungleichheit wird, sofern sie über Geld geregelt wird, natürlich weiter zunehmen und sich verschärfen, beispielsweise im Hinblick auf Bildungskarrieren und Arbeitsplätze, aber einfach auch, was Gesundheit oder Alter angeht. Sollten Menschen dank neuer Techniken wie dem Klonen oder der Gentechnik allgemein wesentlich älter werden können, als dies biologisch bislang möglich ist, während andere weiterhin, weil unbehandelt, bestenfalls mit 60, 70 oder 80 Jahren sterben müssen, dann stehen womöglich gewaltige Konflikte ins Haus. Aber noch einmal zurück zur Verantwortung für den eigenen Körper und den der Nachkommen. Das wird etwa so aussehen, dass entweder die Eltern gezwungen werden, die Verantwortung für ein Kind mit bestimmten genetischen Eigenschaften auch insofern schon übernehmen zu müssen, dass sie etwa erheblich höhere Krankenkas-

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senbeiträge zahlen müssen, wenn sie ein Kind mit einem schwerwiegenden und voraussehbaren Krankheitsrisiko auf die Welt bringen. Der Verantwortungsdruck, unter dem die Eltern natürlich auch gegenüber den eigenen Kindern stehen, die einklagen können, warum man sie hat so überhaupt entstehen lassen, wenn es denn auch anders möglich gewesen wäre, wird auch an die Experten weitergereicht. Am 6.01.1998 wurde so etwa von einem amerikanischen Gericht ein Urteil gefällt, das die Gesundheitsorganisation Columbia/HCA insgesamt 42,9 Millionen Dollar bezahlen muss, weil sie gegen den Wunsch der Eltern ein Baby, das nach 22 Wochen auf die Welt kam, über ein Jahr lang künstlich am Leben gehalten hatte. Die Bezeichnung dafür: „ungerechtfertigte Geburt". Das Kind ist blind, gehirngeschädigt und nahezu völlig behindert. Die Anklage lautete, dass das Krankenhaus die Bitte der Eltern missachtet hätte, das Neugeborene nicht mit künstlichen Mitteln wieder zu beleben. Columbia/HCA zeigte sich über das Urteil erstaunt, weil das Baby schließlich lebendig geboren wurde und überlebensfähig war, weswegen man die gesetzliche und moralische Pflicht gehabt habe, für es zu sorgen. Die Eltern schieben die Verantwortung an das Krankenhaus, das Krankenhaus verweist auf Gesetz und Moral, die verpflichten, das Leben des Kindes zu retten. Wer auch immer gesellschaftlich dann die Verantwortung zu tragen hat, so ist jede Natürlichkeit damit zu einer Entscheidung geworden, die man auch anders fällen kann. Mit Gentests wie bei der eben in Deutschland diskutierten Präimplantationsdiagnostik spielt dann auch der Gesichtspunkt eine Rolle, dass man Kinder, die nicht die gewünschten Eigenschaften besitzen, abtreiben könnte und wird. Kann man aber „aus Ehrfurcht vor dem Leben", wie die Formel heißt, mit der etwa die bayerische Staatsregierung „ausnahmslos", wie sie sagt, die Präimplantationsdiagnostik ablehnen will, verhindern, dass Menschen sich Wissen verschaffen, das sie in Verantwortung treibt, weil sie sich dann aufgrund des Wissens entscheiden müssen? Sozialstaatssekretär Georg Schmid erklärte z.B. am 3. Mai 2000 in München bei der Fach-

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tagung „Biotechnologie und Biomedizin im 21. Jahrhundert - Eine Gefahr fur behindertes Leben?", dass mit diesem gentechnischen Verfahren eine Grenze überschritten werde, die zu überschreiten die Ehrfurcht vor dem Leben verbiete. Die Ehrfurcht vor dem Leben heißt hier, Akzeptanz des sich biologisch Ergebenden, eine Maxime, die sich kaum halten lässt, weil sie von Ausnahmen natürlich durchlöchert ist und weil das Leben, selbst wenn man es lässt, bereits zu einem Konstrukt geworden ist. Streng genommen dürfte man keine Krankheit mehr heilen, eine Ehe gesetzlich eingehen oder eine Schwangerschaft verhüten - und schon gar keine künstliche Befruchtung durchführen. Schmid sagte weiter: „Ich frage, wer maßt sich das Recht an zu entscheiden, dieser Embryo soll leben und jener nicht" Wo es EingrifFsmöglichkeiten oder die Vermeidung von Eingriffen gibt, müssen heute immer schwerwiegendere Entscheidungen getroffen werden, die bislang natürliche Vorgänge unwiderruflich, egal ob durch eine aktive Handlung oder eine passive Duldung, der Kultur unterwerfen: keine Delegation an Natur oder Gott oder etwas anderes ist mehr möglich. Und auch wenn gesetzliche Schranken in bestimmten Ländern aufgerichtet werden, um gewissermaßen künstliche Natürlichkeit zu bewahren, sind sie in einer globalen Gesellschaft doch immer anfechtbar und für den Einzelnen womöglich nicht akzeptabel, wenn anderswo Eingriffe statthaft sind. Das ist dann eigentlich auch nicht anders, als wenn man beispielsweise für sich oder sein Kind eine bestimmte medizinische Behandlung nicht erhalten kann, weil man sie sich nicht leisten kann, also eine Ungerechtigkeit. Mit dem Wunsch nach schrankenloser, d.h. selbstverantworteter Selbstverwirklichung auch im Hinblick auf die eigene Verkörperung, deren beliebige, wenn auch immer noch primitive Gestaltung im Cyberspace bereits möglich ist, wird auch das Versprechen auf künftige Freiheiten verstärkt, auf die technischen Möglichkeiten, gezielt in den Körper eingreifen und ihn verändern oder verbessern zu können. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um eine wechsel108

seitige Verstärkung, bei der es müßig wäre, Ursache und Folge zu unterscheiden. Ganz eindeutig ist jedoch, dass die Wissenschaften nicht nur die Möglichkeiten eröffnen, den Körper umzugestalten, ihn aufzurüsten oder ihn gar irgendwann - maßgeschneidert mit den erwünschten Eigenschaften - gentechnisch erzeugen oder gar ingenieurtechnisch konstruieren zu können, sondern dass sie gleichzeitig auch Ausdruck des Antriebs sind, die Grenzen des Schicksals, des Zufalls und der Notwendigkeit außer Kraft zu setzen und die wirkliche Welt in eine mögliche Welt zu verwandeln, die zumindest das Versprechen enthält, auch ganz anders sein zu können. Selbst also, wenn wir uns störende, mangelhafte oder fehlende Eigenschaften unseres Körpers nicht verändern oder keinen Ersatz, und sei es nur einen virtuellen, dafür finden können, bleibt alleine mit der Einsicht in die theoretische Möglichkeit von alternativen Entwicklungen vermutlich eine Kränkung zurück - und damit der Stachel für eine weitere Revolte gegen das, dem wir uns scheinbar zu fugen haben. Schon allein der Umstand, dass wir ein Zufallsprodukt einer Milliarden Jahre währenden Geschichte der Evolution sind, die möglicherweise auch hätte ganz anders verlaufen können, und dass wir wie alle anderen Lebewesen auch zumindest biologisch nur eine vorübergehende Existenz als diese Menschengattung besitzen, nimmt uns alles Notwendige, das wir gehorsamst zu ertragen hätten, und stellt uns in eine Welt der Optionen, auch wenn dies nur theoretisch so ist und praktisch nicht in wirkliche Wahlmöglichkeiten umgesetzt werden kann. Das ist so ähnlich wie bei Gentests, mit denen Krankheitsrisiken erkannt werden können, aber eine Therapie noch nicht verfugbar ist. Dass man nichts an dem ändern kann, was gleichwohl nicht notwendig hätte so sein müssen, ist wahrscheinlich sowieso noch eine größere Kränkung als die Hinnahme von Tatsachen, die prinzipiell nicht veränderbar erscheinen und vor denen jeder gleich ist. Immer weniger akzeptieren wir Krankheiten und Behinderungen, wird auch der Tod als ein prinzipiell manipulierbarer Prozess verstanden, der sich technisch abstellen oder zumindest verlangsamen

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lässt, wenn man nur die Mechanismen kennt. Im Zeichen der prinzipiellen Veränderbarkeit, Austauschbarkeit und Ersetzbarkeit von körperlichen Organen, Geweben, Flüssigkeiten und Funktionen ist jede Anthropologie und jede darauf aufbauende Ethik, die nicht einen zufällig erreichten historischen Stand der Wissenschaft und Technik zu erhalten suchen, an ihr Ende gekommen. Bislang war Anthropologie das Unternehmen, das Wesen des Menschen vor allem danach zu bestimmen, was er selbst nicht gezielt verändern kann. Heute erscheint theoretisch fast alles manipulierbar und praktisch wird immer mehr möglich. Daher heißt jetzt Emanzipation nicht nur Befreiung von sozialen Zwängen und Naturbeherrschung, sondern Selbstbestimmung bis hin zur Gestaltung der eigenen Verkörperung. Und gegen dieses Recht auf die eigene körperliche Gestaltung oder auch auf die Gestaltung seiner Kinder werden langfristig die Blockaden nicht gehalten werden können, die mit dem Bild einer staatlich verordneten Eugenik verteidigt werden. Doch ebenso wie die kommunistische Planwirtschaft verschwunden ist, lösen sich auch die Schreckgespenste der Vergangenheit auf: wie immer Körperpolitik auch dem Diktat des Marktes, der Masse und der Moden gehorchen wird, so ist sie doch vornehmlich zu einem Bereich der individuellen Verantwortung geworden - und daher fern jeder beschworenen Eugenik, mit der heute eher ein bestimmter Umgang mit dem Körper fixiert werden soll, als ob sich die Menschen noch von oben vorschreiben lassen würden, was sie mit sich und ihrem Körper nicht machen dürfen. Uberall sind die Menschen heute konfrontiert mit einer wachsenden Zahl von Optionen und dem Problem, aber auch der Erwartung, sich selbst unter eigenem Risiko entscheiden zu können oder auch zu müssen. Das trifft nicht nur auf Lebensentwürfe, Identitäten, Beziehungen, Waren oder Medien zu, sondern mit den steigenden Möglichkeiten der Veränderungen auch auf den Körper. Deswegen rückt Technik immer stärker ins Zentrum jeder Utopie, ist sie die Einlösung eines Versprechens auf ein anderes Leben, weil der Mensch in seiner historischen Gestalt nicht mehr wie einst das Maß aller Dinge, das 110

Endprodukt der Schöpfung, ist. Anthropologie ist heute möglicherweise eher eine Art Designlehre vom schönen oder funktionierenden Körper, je nachdem, wie man ihn haben will. Vielleicht lässt sich die Mentalität des Möglichen, aus der die Erwartung erwächst, nichts auf Dauer akzeptieren zu müssen, was auch den eigenen Körper einschließt, in einem anderen Bereich besser erkennen, der zudem weniger mit moralischen Bedenken umgeben ist. Medien sind vielleicht von Grund auf Maschinen, um der Wirklichkeit zu entkommen. Ich meine das nicht ganz im banalen Sinne, wie dies gerne medien- und kulturkritisch gesagt worden ist, dass Medienkonsum Wirklichkeitsflucht sei, sondern eher in dem Sinn, dass Medien die Bindung an den Glauben an eine feste, den Menschen unerbittlich festhaltende Wirklichkeit auflösen und den Schein möglicher Wirklichkeiten präsentieren. Mit den herkömmlichen Medien vom Buch bis zum Film oder Video blieb dieser Einblick in eine andere Welt mit anderen Gesetzen oder auch nur in eine Welt, die mit anderen Augen gesehen wird, eine Möglichkeit für einen Beobachter, der durch ein Fenster sieht, aber nicht selbst in die andere Welt eintreten oder auch nur auf sie einwirken kann. Der Zuschauer blieb mit seinem Körper vor der Bühne, auch wenn die Vielfalt der Medien und damit der Optionsraum der Auswahl rasant angestiegen ist. Nur noch in Ausnahmefällen lässt sich der Beobachter darauf ein, nur ein Schauspiel ansehen zu können, während er normalerweise davon ausgeht, schon bei der geringsten aufkommenden Langeweile in ein anderes Programm zappen zu können. Wir werden davon ausgehen können, dass die Menschen, je mehr und je länger sie sich in den künstlichen Umwelten der Medien aufhalten - und wir sollten nicht vergessen, dass viele Menschen schon während der Arbeit etwa am Computer sich in einer Medienumgebung bewegen - auch die Erwartungen an das wirkliche Leben steigen, eine ähnliche Montage der Attraktionen mit der permanenten Möglichkeit des Umschaltens und Wechseins zu bieten: der flexible Medienmensch will stets eine Optionsvielfalt von Waren und Programmen über Jobs und Aufenthaltsorte bis hin

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zu Beziehungspartnern, die bei Bedarf und Langeweile ebenso schnell gewechselt werden sollen wie Fernsehprogramme. Und ebenso wie digitale Medien Interaktion anbieten, also Programme, die letztlich die Entscheidungen über Optionen in ein Angebot einbeziehen oder die Programme personalisieren, aber es auch möglich wird, sich in einer anderen Gestalt im Cyberspace anderen nicht zu präsentieren, sondern auch mit diesen zu interagieren, will man diesen Spielraum auch für die Gestaltung des eigenen Körpers wahrnehmen. Als 1997 große Aufregung nach dem erfolgreichen Klonen des ersten Tieres, das Schaf Dolly, herrschte, wurde natürlich auch wieder einmal grundsätzlich über die Schranken des Machbaren im Bereich der Biotechnologie nachgedacht. Bemerkenswert sind dabei die Rückzugsgefechte derjenigen, die immer wieder letzte Grenzen ziehen wollen, dabei aber auf Positionen getrieben werden, die man eigentlich nur noch als absurd bezeichnen kann. Als Beispiel verweise ich auf die Argumentation von Jürgen Habermas, der in der Süddeutschen Zeitung vom 17./18. Januar 1998 über die „moralischen Grenzen des Fortschritts" räsoniert hat. Da letztlich eine Ablehnung von Eingriffen auf die die Bewahrung und Duldung eines natürlichen Prozesses zurückgehen muss, steht auch bei Habermas die Zufälligkeit unserer Existenz im Zentrum der Argumentation, wobei flugs Freiheit ex negativo definiert wird, nämlich dass „keine Person über eine andere so verfügen und deren Handlungsmöglichkeiten so kontrollieren (darf), dass die abhängige Person eines Stücks ihrer Freiheit beraubt wird." In ihrer Persönlichkeitsbildung müssen nämlich Menschen eine Antwort auf die bislang als Schicksal oder als kontingenter Umstand verstandene Tatsache finden, dass wir das „Ergebnis eines zufallsbestimmten Prozesses" sind und uns schon „als eine bestimmte Person" vorfinden. Wir wollen jetzt keineswegs von der wirklichen Welt und der Einlösung der idealen Forderung sprechen, dass im Gegensatz zu irgendeinem „zufallsbestimmten Prozess" keine Person eine andere Person eines „Stücks ihrer Freiheit" berauben dürfe, die gerade in der -

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möglicherweise unglücklich formulierten Überschrift des Habermasschen Artikels - „Sklavenherrschaft der Gene" liegt. Aber warum wird jetzt die genetische Zufälligkeit einer Person zur großen Freiheit und Autonomie erklärt und der Zwang, den die Gene über uns ausüben geradezu verklärt? Nur weil keine andere Person dahintersteht, sondern nur die „Natur", die man schließlich als Rationalist nicht zur Verantwortung ziehen kann? Beim Klonen, ganz klar, hat jemand „über das genetische Programm eines anderen" entschieden. Deswegen könne sich ein Klon - wie ein Sklave, sagt Habermas eines Teils seiner Verantwortung entziehen. Es geht also eigentlich auch gar nicht um das Klonen, d.h. um die genetische Identität zweier Menschen. Die entsteht auch zufällig durch die Existenz von eineiigen Zwillingen. Es geht vielmehr um die Entscheidungskompetenz, die sich ein Mensch über einen anderen, den er klonen lässt, anmaßt. Der Gedankengang hat zunächst etwas an sich. Menschen sind sich insofern gleich oder ebenbürtig, als jeder einen zufälligen Hintergrund besitzt, für den er nicht verantwortlich ist. Das macht die Autonomie eines jeden einzelnen aus, aus der gegenseitige Anerkennungsverhältnisse erwachsen, die unmöglich sind, wenn etwa über das Klonen eine Hierarchie zwischen „Produzent" und „Produkt" eingezogen wird. Aber so allgemein - und eigentlich vom Klonen abgelöst - dieses Argument formuliert wird, wäre es Einwand nicht nur gegen jede Art der Gen- und Reproduktionstechnologie, sondern auch etwa gegenüber dem Kinderkriegen, das auch auf Beschlüssen beruht und für das man nicht nur bei „ungerechtfertigten Geburten" verantwortlich gemacht werden könnte. Schließlich hat jeder der Beteiligten auch sein Erbgut zur Geburt gestiftet, selbst wenn es mit dem Partners gemischt wird. Zufälligkeit ist beim Klonen ja insofern nicht ausgeschlossen, weil nur das genetische Programm - aber wohl auch das nicht im einzelnen, solange sich nicht jedes Gen screenen und eventuell verbessern lässt - als Grundlage für eine künstliche ausgelöste Schwangerschaft wird. Das Genom legt keineswegs alles bereits fest, sonst müssten eineiige Zwillinge

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körperlich und als Person identisch sein. Den Kritikern liegt meist, zu fest verbohrt in Frankensteinphantasien, ein allzu reduktionistisches Verständnis des Genoms als Bauplan zugrunde. Zudem sei der genetische Code eines Geklonten „unwiderruflich" über ihn verhängt, obgleich daran ja gerade die Gentechnologie arbeitet, manche der unerwünschten Festlegungen zu manipulieren, um etwa Krebs zu behandeln. Auch ein Klon findet seine genetische Erbschaft vor und muss seine Antworten darauf finden. Gleichwohl meint Habermas, dass die genetischen „Gegebenheiten", also das genetische Schicksal oder die genetische Kontingenz, für einen Klon auf andere Personen „als das Ergebnis ihres absichtlichen Tuns" eher zurechenbar ist als bei normalen Zeugungen. Hat der „Täter" mitsamt seinen medizinischen Tatgehilfen aber nur das gesamte Genom eines Menschen geklont, kann er dann wirklich für alle Einzelheiten verantwortlich gemacht werden? Ist er „mehr" verantwortlich als einer, der wissentlich ein Kind zeugt oder die Zeugung nicht verhindert, auch wenn dabei nur die Hälfte seines Genoms zum Zuge kommt? Spielt die Quantität eine Rolle? Ist es zufälliger, wenn ein Genom kloniert wird oder ein Cross-Over der Gene von Frau und Mann zustande kommt? Ist der Klon, nur weil ein ganzes Genom eines Einzelnen verwendet wurde, dann auch eher als Sklave zu verstehen? Will uns das Habermas sagen? Oder hätte er es nur unverdientermaßen besser als jeder herkömmlich Gezeugte, weil er sich eher entschuldigen könnte? Passt dem Philosophen vielleicht das nicht? Oder ist der Klon kein „richtiger" Mensch mehr - so wie wir archaisch Gezeugten -, weil ihm ein weiteres Stück Zufall abgenommen wurde? Meint der Philosoph deswegen, dass wir uns fragen sollten, welchen Blick ein Geklönter auf sich selbst richten würde - und „ob wir ihm dies zumuten dürfen." Wir, die „natürlich" durch Kontingenz Gezeugten. Sicher, ein geklöntes Kind kommt als geplantes Produkt mit vielleicht vielen Anläufen zustande. Aber das wäre bei einer in-vitroFertilisation auch nicht anders. Man könnte ja auch fragen, wie viele Transplantationen eigenen oder fremden Gewebes oder tech-

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nische Plug-ins einen Menschen noch die Person sein lassen, die er genetisch gewesen ist, oder ob es eine moralische Verpflichtung gibt, der genetisch zu bleiben, der man von der Zeugung an gewesen ist. Wo hört die im Namen von vorgeblicher Autonomie und Freiheit zu akzeptierende Kontingenz auf, vor allem dann, wenn die Zufälligkeit keine „echte" mehr ist, sondern nur noch eine geduldete oder zugelassene? Habermas fragt - und glaubt vermutlich daran -, ob moralische Gründe, „wenn sie öffentlich überzeugen, nicht auch ihre empirische Wirkung haben" können? Möglicherweise schon, aber die Gründe, die hier scheinbar rationalistisch und im Namen der Freiheit vorgeführt werden, überzeugen ebenso wenig wie jene Argumentationen, die irgendeine nicht zu überschreitende Grenze unterstellen. Und auch wenn man den gesamten Bereich der Biotechnologien oder überhaupt der Technologien moralisch und gesetzlich regelt, um zu sanktionieren, was man tun und lassen darf, käme man gerade nicht zur ersehnten Zufälligkeit und Unverantwortlichkeit. Der Zufall, sowieso nur eine Maske für Gottes nicht nachvollziehbare Entschlüsse, ist kein Ausweg, um sich vor der (Eigen-) Verantwortung zu drücken oder die Schmach zu verherrlichen, zufällig auf dieser komplexen, wenig steuerbaren Welt zu sein und trotzdem dauernd verantwortlich zu sein oder verantwortlich gemacht zu werden. Manche Computerenthusiasten kehren sich mit Verachtung ab von der Wetware und der Meatware, von den natürlichen Materialien und analogen Codierungen. Alles ist nicht perfekt genug, zu wenig genau und zu kurz haltbar. Die Biologie, so die Behauptung, ist immer weniger Schicksal und nur ein erster, überdies mangelhafter Versuch der Natur ein vollkommeneres, störungsfreies Leben zu erschaffen. Letztlich geht es darum, das schwache und anfällige Fleisch nicht nur technisch nach Belieben gestalten und manipulieren zu können, sondern es zu computerisieren. Digitales ist, weil leicht herzustellen und beliebig formbar, schlicht das bessere Plastik. Diese gegenwärtige Verachtung des Biologischen spiegelt sich paradoxerweise in der gleichzeitig steigenden Wertschätzung des 115

Körpers, den man durch Fitnessübungen, gesundem Leben, Zufuhren von Substanzen, chirurgischen Eingriffen und allen möglichen Absicherungs- und Erhaltungsstrategien dem Altern entreißen will. Sind alle Maschinen auf Beschleunigung angelegt, so geht es beim eigenen Leib derzeit noch um Aufhalten, Hinausschieben, Verzögern, Ersetzen, kurz: um das Verhindern des Alterwerdens. Möglicherweise ist diese auf Realisierung drängende Wertschätzung des langen Lebens auch das Phänomen einer vergreisenden Gesellschaft. Die Macht des Alters wird buchstäblich zu einem Kennzeichen der Politik und der Wirtschaft, zumindest in den reichen westlichen Ländern, die sich vor dem Zuzug von anderen Menschen immer mehr abschotten oder nur noch, wie es so schön heißt, kontrolliert fremde, also zumeist junge Menschen aufnehmen wollen. Das jetzt schon überwiegende Gewicht der Alten fuhrt aber nicht nur zu allen möglichen Problemen etwa bei den sozialen Systemen, sondern es könnte allmählich auch die Innovationsfähigkeit der wissensbasierten Gesellschaften ausbremsen. Mit zunehmenden Alter werden die Menschen, auch wenn sie körperlich sich jugendlich erhalten können, weniger experimentierfreudig. Ihre sich akkumulierende Erfahrung blockt viele ungestüme Regungen ab, scheut Risiken und lässt vieles vertraut erscheinen. Alter heißt vermutlich eher Variieren statt Neues kreieren. Wir leben heute allerdings nicht nur im Computerzeitalter, sondern auch im biotechnologischen Zeitalter. Die biologische Evolution mit ihren Mechanismen gilt seit einiger Zeit geradezu als die vorbildliche Kreativitätsmaschine, die auch technisch nachgeahmt werden soll, um lernfähige Computer, Künstliche Intelligenz und Künstliches Leben hervorzubringen. Das soll technisch natürlich schneller vor sich gehen als in der langsamen biologischen Evolution. Daher züchten wir auch nicht mehr über Generationen unsere Nutzpflanzen und Haustiere, sondern greifen in ihr Genom ein, um sie sofort in ihrer gewünschten Form zu haben. Wie überall auf dem freien Markt, der nach der neoliberalen Ideologie durch Kon116

kurrenz und Selektion am besten ohne eine direkt eingreifende steuernde Hand immer Neues hervorbringen soll, um die Wachstumsmaschinerie zu erhalten, geht es dabei um einen möglichst schnellen Generationswechsel der Produkte, die immer neue Eigenschaften haben. Das Alter ist, wenn es um Innovation und Kreativität geht, kein Vorbild, sondern geschäftsschädigend. Bei den Genpflanzen wird beispielsweise die sogenannte Terminatortechnik angestrebt, um eine Wiederverwertung der Samen zu verhindern. Nach dem Reifen wird die Reproduktionsfähigkeit der Samen ausgeschaltet, die Pflanzen sollen nur einmalig gebraucht werden. Dann muss man sich die nächste Generation, womöglich mit neuen Eigenschaften, erneut kaufen. Kurzlebigkeit garantiert eben besseren Umsatz. Auch bei einer künstlichen Evolution im Computer wird eine schnelle und harte Selektion ausgeübt, um das gewünschte Resultat zu erhalten. Der Tod nicht brauchbarer Versionen und die Optimierung von besser angepassten Programmcodes durch eine künstliche Reproduktion sind die vorherrschenden Mechanismen, um Neues hervorzubringen. Die Erhaltung des Alten spielt beim Aussieben der besseren Lösungen keine Rolle, auch wenn es Marktnischen gibt, in denen Altes, das zu verschwinden droht, ästhetisiert und teuer gehandelt wird. Möglicherweise hat deswegen auch Kunst, selbst eine mittlerweile veraltete Produktions-, Präsentations- und Rezeptionsweise, eine besondere Affinität zum Alter. Die Erhaltung der Innovationsfähigkeit ist vermutlich der Grund, warum in der biologischen Evolution, zumindest seit der Entstehung von etwas komplizierteren Lebewesen, der Tod erfunden wurde, dem das Altern vorhergeht. Ohne weiteres denkbar wäre jedoch, dass die Evolution auch einen Selektionsdruck ausgeübt hätte, so dass die Lebewesen immer älter werden. Biologisch ist langes, womöglich ewiges Leben wahrscheinlich im Prinzip kein Problem. Tatsächlich variiert die Lebensdauer auch sehr stark. Bäume können mehrere tausend Jahre alt werden. Bei manchen Tieren stehen, wenn sie denn nicht gefressen werden oder anderweitig

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umkommen, offenbar so etwas wie eine eher mechanische Abnutzung, die Ansammlung toxischer Nebenprodukte des Stoffwechsels oder andere schädigende Einflüsse im Vordergrund. Altern muss also nicht unbedingt notwendig Sterben heißen. In aller Regel leben größere Tiere länger, weil hier die Investitionen höher und die Reproduktionsrate niedriger ist. Bei Säugetieren, also besonders komplexen, zumindest aber späten Evolutionsprodukten, scheint das Altern aber vorprogrammiert zu sein. Eine besondere Art von Zellen, die Keimzellen und die Krebszellen, sind jedoch im Gegensatz zu den meisten somatischen Zellen potentiell durch fortwährende Teilungsfähigkeit unsterblich. Ihr Trick ist, dass bei ihrer Teilung die Telomerase, die sich an den Enden der Chromosomen befindet, immer wieder ergänzt wird. Das findet auch noch bei jungen somatischen Zellen statt, die sich schnell teilen, später aber wird keine Telomerase mehr produziert und nach einer bestimmten Anzahl von Teilungen hört die Replikationsfähigkeit auf Vermehrung, gleich ob geschlechtlich oder ungeschlechtlich, ist also die Weise, wie sich die genetische Identität über Generationen hinweg erhalten kann, ohne dadurch einen individuellen Organismus auf Ewigkeit zu stellen. Es gibt ungezählte Theorien über das Altern, deren Gemeinsamkeit wohl dahin geht, dass zumindest der Generationswechsel eine bessere Chance bietet, die Art überlebensfähig zu halten, wobei die Zeitfenster der Individuen, wie gesagt, sehr verschiedenartig sein können. Offenbar spielt auch eine Rolle, wie groß der Anpassungsdruck etwa durch Fressfeinde oder eine veränderte Umwelt ist. Wo schneller Innovationen geschehen müssen, findet auch ein schnelleres Altern statt und wird die Reproduktionsfähigkeit früher erreicht. Sind die Lebensbedingungen jedoch „sicher", erreichen mehr Individuen ein hohes Alter und sinkt die Mortalitätsrate junger Erwachsener, weil der Selektionsdruck geringer ist. Dadurch aber sinkt gewissermaßen auch das Kreativitätspotential. In einer solchen Situation scheinen wir uns gegenwärtig biologisch zu befinden. Für viele Menschen geht derzeit der Selektionsdruck 118

nicht mehr von der biologischen Umwelt aus, sondern von der Kultur, auch wenn deren Rückwirkung auf die Natur durchaus wieder zu einem neuen Selektionsdruck fuhren kann. Ist also der Selektionsdruck auf uns als biologische Organismen derzeit gering, so steigt er, was unsere kulturelle Anpassungsfähigkeit betrifft. Schließlich hat die Kultur auch die Tendenz, durch Maschinen den Druck auf die körperliche Leistungsfähigkeit zu mildern. Körperliche Arbeit wird mehr und mehr geistige Arbeit, der Mensch zum homo sedens, der bald vielleicht nicht einmal mehr seine Finger einsetzen muss, sondern nur noch Stimme oder Augen, um seinen Zweitkörper, den Computer zu bedienen. Womöglich aber kann er auch irgendwann auf diese Schnittstellen verzichten und durch seine Hirnwellen die Computer steuern, gleich ob dies in Form einer EEG-Abnahme oder durch eingebaute Chips geschieht, durch die er auch seine kognitiven Fähigkeiten erweitern könnte. Und schließlich ist in diesem Trend der Zerebralisierung auch die Ersetzung des nassen Gehirns durch künstliche Neuronenverbände ein zumindest logisches Entwicklungsziel. Die künstlichen Gehirne bräuchten dann nicht mehr einen Körper, mit dem sie notwendig verbunden sind, sondern sie könnten sich etwa über die Computernetze all der verfugbaren Sensoren und Effektoren bedienen, ganz egal wo sich diese befinden mögen. Nicht mehr Organismen müssen dann in einer Generationenfolge abgewechselt werden, sondern Wissensstrukturen. Die biologische, auf DNA beruhende Evolution und damit auch die biologische Sterblichkeit mag hier für die Menschen an ein Ende kommen, nicht aber die Notwendigkeit der Evolution und damit Endlichkeit, Tod und möglicherweise auch permanente Fehlschläge, die sich in Form von Krankheiten und Gebrechen zeigen. Schließlich räumt auch niemand, wenn nicht eine äußere Notwendigkeit wie Krankheit und Tod eintritt, freiwillig seinen Platz zugunsten von anderen. Jetzt also fällt womöglich mit der Bio- oder der Computertechnologie auch diese Grenze der Generationen119

balance und will man die biologische List überwinden, um immer länger zu leben oder gar im Diesseits Unsterblichkeit zu erlangen. Die Übertragung des im Gehirn verankerten Geistes in einen Chip ist für manche das langfristige Ziel der technischen Entwicklung, um all den Problemen des biologischen Alterns endgültig zu entgehen. Dann würde man nicht nur schneller denken oder wahrnehmen können, man würde auch länger leben. Der Robotikforscher Hans Moravec hat das Szenario vorgegeben, das bei den Posthumanisten großen Anklang gefunden hat. Robotik, Künstliche Intelligenz und Künstliches Leben werden es für ihn langfristig ermöglichen, intelligente künstliche Systeme mit Verhaltensweisen zu schaffen, die denen ähnlich sind, die Organismen (und Menschen) mit komplizierten Nervensystemen hervorbringen können. Schließlich könnte es soweit kommen, dass mit dem wachsenden Verständnis der neuronalen Architektur Programme geschrieben und Hardware entwickelt werden können, die die Funktionen der jeweiligen Gehirnareale simulieren und in die sich dann die Daten eines Gehirns Schicht um Schicht einscannen lassen. Die Computersimulation der gesamten Persönlichkeit in einem bestimmten Alter würde dann mit einem „neuen glänzenden Körper verbunden, der in Art, Farbe und Material den Wünschen entspricht", wie Moravec schreibt. Hans Moravec setzt dabei vornehmlich auf die ungebrochene Fortschrittsrate bei der Verbesserung von Chips und Prozessoren. Ein guter Chip aus Kristall könne schließlich, so Bart Kosko, ein bekannter Wissenschaftler im Bereich der Fuzzy Logic und natürlich auch in Kalifornien lebend, Tausende oder gar Millionen von Jahren halten, vielleicht bis ans Ende der Welt. Das wäre ein Stück Ewigkeit, auf die Religion kein Monopol mehr besitze, der Himmel in einem Chip, eine Wiederauferstehung durch Technik: „Dieses lange Leben in einem Chip ermöglicht es uns, so nahe als möglich an den Himmel in einem Universum aus Materie und Energie zu gelangen. Man wird nicht mehr arbeiten oder regiert werden müssen, wenn man dies nicht will. Krankheit, Schmerz oder Tod wird 120

es nicht mehr geben, es sei denn, man will damit spielen. Das Virtuelle wird real sein und das Reale virtuell. Wille und Geist werden in demselben Strom von Elektronen und Photonen leben." Das ist alles ganz schön, wenn es denn möglich wäre, aber bei jeder Steigerung der Computerkapazität bleiben auch Computer und Chips materielle Dinge, die dem Verschleiß unterliegen. Das könnte sich langfristig auch auf die sich auf ihnen befindenden Emulationen und Daten auswirken. Man müsste, um bei der Ewigkeit ganz sicher zu gehen, nicht nur das Universum in einer Simulation emulieren, sondern eigentlich auch die Computer und Datenträger immaterialisieren. Nur der Einschluss der Simulation in die Simulation wäre ein gangbarer Ausweg, was allerdings den berühmten Progress ins Unendliche zum Ergebnis hätte, denn irgendwo muss jede Simulation verankert werden. Weil die Robotikforscher zwar in einer Welt leben, in der ständig neue Versionen von Hard- und Software zu immer neuen Leistungen imstande sind und die alten Versionen veralten lassen, sie aber sich in ihrer Ausrichtung auf die Optimierung von Leistung wenig Gedanken darüber machen, ob denn ihre Kreaturen nicht nur einfach technisch überholt werden, sondern sie womöglich auch alt werden oder gar nach einer bestimmten Lebenszeit sterben sollten, was zumindest ab dem Zeitpunkt nicht uninteressant wäre, ab dem Roboter ihre eigenen Nachfolger bauen werden, wenden wir uns fur die Frage nach dem Alterungsprozess in der technischen Evolution dem Bereich der digitalen Speicherung zu, also dem Erhalt des digitalen Äquivalents der Gene. Warum sollten wir, so fragt Hans Moravec, das Gehirn mit seinen Informationen dem vergänglichen Leib und den organischen Materialien auf Dauer ausliefern? Digitalisieren wir doch einfach die Information und speichern sie im Computersystem eines Roboters ab, dann wäre Schluss mit der Endlichkeit. Aber selbst die Träume von immateriellen Daten, die niemals zerstört werden und die sich verlustfrei kopieren lassen, stoßen sehr schnell wieder auf die krude Materialität der Speicher- und Lesesysteme, ja sie unterbieten sogar 121

in ihrer Vergänglichkeit traditionelle Speicher wie das Buch oder natürliche Speicher wie den genetischen Code. Welche Lebensdauer haben die meisten trivialen Maschinen und Roboter, die wir bislang entwickelt haben? 5 Jahre vielleicht? Oder 10 Jahre, vielleicht auch 20? Bislang jedenfalls sind nicht unsere Maschinen dauerhaft, nur der Abfall, den sie hinterlassen. Und wenn sie in einen ähnlichen Innovationsprozess wie den der biologischen Evolution eintreten, dann folgt auf Robot 1.0 eben bald Robot 1.1 oder die nächste Generation 2.0 - und wer will noch im Gehäuse von Robot 1.0 existieren, wenn bessere Versionen vorhanden sind oder sich neue Moden durchsetzen, wobei zusätzlich das Problem entsteht, wenn man nicht eifrig nachrüstet, wie man seine Daten in die neue Hard- und Software überfuhren kann. Wie die Dinge jetzt laufen, können wir zwar in der Archivierung von digitalen Daten ertrinken, nur wird in ein paar Jahrhunderten oder Jahrtausenden niemand mehr wissen können, was in unserer Zeit geschehen ist. Zeichen auf Steintafeln oder sogar auf Papier können bei geeigneter Lagerung Jahrhunderte und Jahrtausende überdauern, Informationen auf Videofilmen oder Magnetbändern mehr oder weniger 20 Jahre, Daten auf einem Mikrofilm vielleicht 500 Jahre, aber solche, die auf einer Diskette oder einer CD-ROM gespeichert wurden, halten hingegen vielleicht gerade einmal 25 Jahre. Genau weiß dies noch niemand. Aber natürlich ist die Situation noch viel schlimmer, denn selbst wenn optische Speichermedien die Informationen für lange Zeit unbeschadet bewahren könnten oder sie beim Kopieren nicht beschädigt würden - wer wird sie in 100 Jahren noch lesen können, wenn die entsprechenden Laufwerke längst verschwunden sind und neue Formate die alten in Vergessenheit geraten ließen, einmal ganz abgesehen von verschlüsselten Daten? Ohne die entsprechenden Geräte, die notwendige Software und das erforderliche Spezialwissen bleiben die gespeicherten Daten wahrscheinlich unverständlich. Wenn es mit der jetzigen Innovationsgeschwindigkeit weiter geht, dann sind Daten, die vor 10 Jahren gespeichert wurden, fiir

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viele bald schon nicht mehr ohne weiteres zugänglich. Auch die zusätzliche Speicherung von Metadaten zur Kontextualisierung von Daten steht vor demselben Problem. Digitale Daten können nicht einmal wie Hieroglyphen entziffert werden. Ohne Kontextinformation kann man eine Bitfolge nicht interpretieren, die unendlich viel „bedeuten" kann, was andererseits gerade die Universalität des digitalen Codes ausmacht. Während in materiellen Speichern abgelegte Informationen direkt zugänglich sind, ist jetzt eine Maschine nötig, um überhaupt die abgespeicherte Information sehen zu können. In einem solchen Kontext also steht das Begehren nach Unsterblichkeit, das „Digerati" wie Hans Moravec oder Marvin Minsky ungeniert zum Ausdruck bringen, wenn sie von Robotern als den Nachfolgern der Menschen sprechen, in die wir uns womöglich durch das Uploaden der Inhalte unseres Gehirns hinüberretten können.

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Geist: Nachdenken über Freiheit und Reproduzierbarkeit

Klaus Kornwachs Bewusstsein Programm, l.

Einleitung

Körper

Durch die Nachbildungsversuche menschlicher Intelligenz und die EingrifFsmöglichkeiten in die menschliche Erbinformation sind in der Tat neue Qualitäten des Machbaren erreicht worden, d.h. weder Wissenschaft noch Technik machen vor dem Menschen und seiner Personalität halt. Diese Entwicklung ist eine Konsequenz des technischen Handelns des Menschen selbst, wenn man philosophische Deutungen der Technik ernst nimmt, nach denen der Mensch im Laufe seines evolutionären wie kulturellen Werdegangs gar nicht anders konnte, als seine Werkzeuge als Organprojektion, als Organersatz, als Verstärkung und Kompensation mannigfacher Mängel, als Optimierung seiner Fähigkeiten durch Exteriorisierung und Imagination zu entwickeln. Freilich - neben der Rehabilitation des Mängelwesens Mensch durch Technik, versinnbildlicht im Mythos des Hephaistos, des hinkenden, protheseherstellenden Schmieds, ist immer auch Spiel mit im Spiel gewesen. Wer neueste Technik sehen wollte, musste bis vor Kurzem auf die Jahrmärkte gehen - dort wird sie auch noch heute am schnellsten zum Einsatz gebracht. 1 Die Motivationen technischen Handelns, das sich in Prothetik und Spiel, in Optimierung und Imagination, aber auch in Selbstübersteigerung ausdrückt, finden sich in vielen Selbstbekenntnissen derer, die Roboter bauen, Implantate entwickeln, das menschliche Erbgut therapieren und künstliche Lebewesen schaffen wollen. Neben dem Spiel ist es die Hoffnung, mit dem Bau menschenähnlicher Artefakte den Menschen zu verstehen: sub species technologiae, versteht

1 / Diesen Hinweis verdanke ich Stefan Poser. Vgl. auch Poser 1998.

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sich, denn „bauen heißt verstehen". Viele Ingenieure glauben daran heute noch. Das fährt mich zur Motivation des gewählten Titels, durchaus mit dem Blick auf zeitgenössische Roboter wie dem COG am MIT: Bauen ist mehr als Errechnen, Artefakte haben einen Körper, der Raum braucht. Wir versuchen - ironisch gesprochen - mit Gebilden der res extensa ironischerweise die res cogitans zu verstehen. Umgekehrt weist gerade das Forschungsprogramm der Künstlichen Intelligenz eine eigentümliche Abwendung von diesem technischen und artifiziellen Zugang auf: Algorithmen scheinen unkörperlich zu sein, sie gehören wohl zur res cogitans, wenn ich in dieser ironischen Sprechweise einmal bleiben darf 2 Die begriffliche Präzisierung des Algorithmus kommt ohne die Maschine aus, die ihn durchführt, bzw. sie setzt ihn mit der Begrifflichkeit einer solchen Maschine gleich. A. Turing hat mit seiner Gedankenmaschine3 die Berechenbarkeit begrifflich präzisiert, aber genau genommen ist der heutige Rechner natürlich keine exakte Turing-Maschine, sondern eine komplizierte Zusammensetzung aus Speichern und verschalteten Turing-Maschinen mit endlichen Zuständen und Ein- und Ausgabeneinrichtungen. Interessanterweise schien die Hinwendung zu den neuronalen Netzen4 die Unkörperlichkeit der Berechnungsverfahren in die Körperlichkeit dediziert gebauter Apparaturen zu überfuhren - aber solange neuronale Netze lediglich auf klassischen Rechnern simuliert werden, bleiben sie algorithmisch, auch wenn der Begriff des Programmierens bei neuronalen Netzen bereits versagt oder neu definiert werden muss. 2 / Selbstredend möchte ich nicht auf diese Descartsche Position zurückfallen. 3 / In Analogie zu einem Gedankenexperiment. 4 / Eine echte Wiederentdeckung der 70er Jahre, nachdem McCulloch und Pitts bereits 1942 die formalen Neuronen und Karl Steinbuch 1961 die Lernmatrix erfunden hatte. Vgl. auch Palm 1982.

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Es geht schließlich um das Ziel, eine Maschine zu bauen - ob wir sie Superrechner oder bewusster Roboter nennen, ist gleichgültig. Sie soll, analog zum Selbstbewusstsein des Menschen, genuine Verstehensprozesse und kognitive Akte durchführen können sowie Wissen, Bewusstsein, ja Selbstbewusstsein haben. Nach den Aussagen einiger Protagonisten auf diesem Gebiet soll dies in wenigen Jahrzehnten möglich sein.5 Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist angesagt, die Grenzen zwischen den Forschungsprogrammen von Neurobiologie und Neuroinformatik, KI (Künstlicher Intelligenz), kognitiver Psychologie, Hirnforschung und Systemtheorie scheinen zu verschwimmen, und manchmal wird auch die Philosophie hinzugezogen, weil das hartnäckige Leib-Seele Problem immer wieder auftaucht. Bei der jüngsten Kontroverse zwischen Hirnforschung und Philosophie wurde die Philosophie - nicht ganz zu unrecht - daraufhingewiesen, dass sie doch - bitte schön - nicht an der Naturwissenschaft und Informatik vorbei philosophieren solle, wie einst die Philosophen des Deutschen Idealismus tapfer gegen die zeitgenössische Physik andachten6. Umgekehrt stellen die Philosophen fest, dass die zum Teil (wohl auch aus forderpolitischen Gründen) recht großsprecherischen Ankündigungen und Verheißungen der Neuroinformatik und der KI unreflektierte Voraussetzungen beinhalten, die zum einen nicht nur das eigene Forschungsziel gefährden, sondern zum andern auch wenig oder unakzeptable Konsequenzen der Forschungsergebnisse mit sich bringen könnten.

5 / Vgl. Moravec sowie frühere KI-Forscher wie Marvin Minsky. Zum Uberblick vgl. auch Wellmann/Thimm. 6 / Philosophen sollten, so der Hirnforscher Roth 1999 ein dreijähriges Studium der Ergebnisse der Hirnforschung und Neuroinformatik auf sich nehmen, bevor sie sich über das Selbstbewusstsein äußerten. Vgl. auch Beckermann/Roth/Prinz.

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Als eine Art teilnehmender Beobachter, als Systemtheoretiker und Forscher im Bereich der Technikphilosophie, der weder dem Paradigma der Geistphilosophie des 19. Jahrhunderts, also den Spielarten von Geistmonismus oder Dualismus verpflichtet ist, noch an eine rein algorithmische Lösung des Problems glaubt, selbstbewusste Roboter bauen zu können, stelle ich doch fest, dass wir viel zu wenig darüber nachgedacht haben, welche begriffliche Voraussetzungen wir beim Bau von Maschinen, in Sonderheit von sogenannten intelligenten Maschinen machen, was unsere Ziele dabei sind und ob wir dabei nicht in die Fallstricke einer kybernetischen Anthropologie hineinlaufen, während wir ja nur aufklären wollten, was der Mensch eigentlich sei und wie sich seine kognitiven Leistungen vollziehen. Natürlich sind auch andere als Erkenntnisinteressen im Spiel: Die demographische Entwicklung verleitet dazu, den wachsenden Pflegebedarf maschinal zu kompensieren, Roboter (von „robot", tschechisch: Fronarbeit) suchen einen Markt, vom Industrieroboter bis hin zu Tamagochi-artigem Spielzeug für emotional unterentwickelte und zu sozialen Beziehungen wohl nicht mehr voll fähige, weil mediengeschädigte Kinder. Ausgehend von einigen nicht so häufig hinterfragten Voraussetzungen der derzeitigen Leistungen der kognitiven Psychologie wie der Künstlichen Intelligenz vermute ich, dass eben diese Voraussetzungen einen Zugang zum Problem des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins verstellen, weil sie nicht nur von der Körperlichkeit der menschlichen Existenz abstrahieren, sondern auch die Leiblichkeit des Selbstbewusstseins vernachlässigen. Das so ängstlich gemiedene Leib-Seele Problem spielt dabei ebenso eine Rolle wie das immer noch vorherrschende algorithmische Paradigma. Ich will deshalb einige Bestimmungsversuche flir Körperlichkeit und Leiblichkeit angeben. Danach werde ich einige technische, anthropologische und ethische Aspekte beleuchten: Intelligente Roboter scheinen auf sehr lange Sicht machbar zu sein, aber wir müssen jetzt schon die Frage beantworten, ob wir sie auch wollen. 130

2. Einige nicht hinterfragte Voraussetzungen der technischen Reproduzierbarkeit Die technische Machbarkeit der zahlreichen Imitations- und Simulationsleistungen in Neuro-Biologie, Prothetik, Robotik und dem Forschungsprogramm der Künstlichen Intelligenz ist beeindruckend. Allerdings heißt es, diese Leistungen hochzustilisieren, wenn wie im Titel dieses Buches von der „technischen Reproduzierbarkeit" von Körper und Intelligenz gesprochen wird - ich denke, davon kann noch keine Rede sein. Diese angebliche technische Reproduzierbarkeit hätte eine Reihe von Voraussetzungen, die bei der Bewunderung über diese Leistungen meist übersehen werden. So schreibt Thomas Christaller: Da Intelligenz in der Natur nie ohne einen Körper auftritt und existieren kann, muss sie in ihm eingebettet sein (embodiment). Diese Einbettung geschieht durch aufeinander aufbauende sensomotorische Rückkopplungsschleifen. Will man versuchen, ein künstliches intelligentes System zu konstruieren, so geht dies nur mit Hilfe und auf der Basis von Robotern. (Christaller 2000, S. 106)7 Diese Voraussetzungen beziehen sich meist auf die Disziplinen, die sich mit der Erforschung, der Erklärung, des Nachbaus (der Reproduktion, Imitation oder Simulation) und prothetischen Verbesserung menschlicher Leistungen beschäftigen, also Hirnforschung, kognitive Psychologie und Physiologie, Künstliche Intelligenz, Systemtheorie, Biologie, Medizin und Robotik. Vier solcher Voraussetzungen seien, in hoffentlich akzeptabler Unvollständigkeit, genannt: 1. Mentale und kognitive Leistungen konnten in der Kognitionsforschung über lange Zeit unabhängig von ihrer physiologischen Basis beschrieben und erforscht werden. 7 / Roboter sind nach Norm ISO 8373 universell einsetzbare Handhabungsautomaten mit mindestens drei Achsen, deren Bewegungen ohne mechanischen Eingriff frei programmierbar sind. Vgl. Ritter 2000.

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Die Strukturen des Problemlösens wurden mit den Begriffen zu beschreiben versucht, die auf Elementarisierung hin orientiert waren. Eine darauf aufbauende Problemlösungslogik erscheint jedoch seltsam abstrakt gegenüber der Tatsache, dass unsere Wahrnehmungsleistungen, unser Denken, Fühlen und Handeln, soweit es von kognitiven Akten bestimmt wird, extrem anfällig gegen physiologische Störungen, Stimmungen und äußeren wie inneren Umständen sind. 2. Die Suche nach geeigneten Algorithmen zur Imitation und Simulation kognitiver Leistungen geschieht unter der Annahme, dass die Art der materiellen Realisation des algorithmischen Prozesses (hydraulisch, mechanisch, elektrisch, elektronisch, optisch) die Performanz des Algorithmus bis auf Geschwindigkeit und massive Parallelität invariant lässt. Dabei soll nicht ausgeschlossen werden, dass die quantitativen Zuwächse an Geschwindigkeit der Verarbeitung, die Parallelität und vor allem die Miniaturisierung bei der Entwicklung der Gebrauchsmöglichkeiten zu qualitativen Sprüngen gefuhrt haben, einschließlich eines in der Technikgeschichte bisher einmaligen Preisverfalls pro Leistungseinheit. Darum geht es jedoch an dieser Stelle nicht. Die Frage ist, ob es in der Tat etwas ausmacht, wenn eine Aufgabe durch eine Rechenmaschine, die mechanisch oder elektrisch realisiert ist, durchgeführt wird, oder durch einen Rechner, der auf neurobiologischer oder chemischer Grundlage oder auf atomarer resp. molekularer Basis als Quantencomputer arbeitet. Der Mathematiker Roger Penrose in Oxford steht für einen Teil der Fachwelt, der das nicht glaubt.8 Nun ist zwei und zwei gleich vier, gleichgültig ob auf einem Taschenrechner oder einem chemischen Rechner - dies der Einwand des anderen Teils der Fachwelt.

8 / Vgl. Penrose 1991 und 1995.

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Das Argument von Penrose geht jedoch weiter: dass zwei und zwei gleich vier sei, ist auch bei ihm unbestritten weiterhin gültig, die Frage ist, ob man mit anderen Rechnern auch noch andere Frage behandeln kann als Rechnen und die Durchführung von Algorithmen. Zugespitzt formuliert: Penrose greift die Voraussetzung der sogenannten starken KI an, dass alle geistigen Leistungen ausschließlich und im Prinzip (nothing but...) durch Algorithmen dargestellt werden könnten, und er sucht nach nichtalgorithmischen Anteilen solcher Prozesse. Dazu muss er den Bereich der Physik suchen, der sich als nicht berechenbar in Turings Sinne erweist, wenn er davon ausgeht, dass man zur Erklärung geistiger Leistungen keine zusätzliche metaphysische Annahmen wie Geist, Beseeltheit oder andere Entitäten machen will und man sich nicht auf eine generelle Unerklärbarkeit durch naturwissenschaftliche Begriffe zurückziehen möchte. Diese nicht berechenbaren Teile der Physik erweisen sich in ihrem Ergebnis dann als Prozesse, die von ihrer materiellen Realisation eben nicht unabhängig sind.9 3. Der entdeckte Wichtigkeit von Gefühlen bei menschlichen kognitiven Prozessen wird dadurch Rechnung getragen, dass man zum einen das Gehirn als chemischen Rechner konzipiert und zum anderen versucht, Gefühle als Co-Algorithmen zu simulieren. Ein Exponent des Versuchs, Gefühle und deren Auswirkungen auf kognitive Prozesse durch algorithmische Anätze zu verstehen, ist der Bamberger Psychologe Dörnen Auf die vielfache Kritik dieses Ansatzes möchte ich hier nicht eingehen, das reduktionistische Programm ist jedoch unübersehbar.

9 / Vgl. Penrose 1991. So sind viele Prozesse der Informationsübertragung in Technik und Biologie innerhalb eines bestimmten Intervalls unabhängig von Intensität und Raten (Frequenzen). Dies erlaubt die Abbildung solcher Prozesse auf verschiedene realisierte „Techniken", die Schwellwertverhalten realisieren können.

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Der erstgenannte Versuch scheint mir vielversprechender zu sein. Die Untersuchung des Gehirns als System ergibt neben der immer präziseren Verortung neurophysiologischer Prozesse in den einzelnen Arealen des Gehirns (durch Untersuchungen analog den Kernspinverfahren oder NRM) und ihre Zuordenbarkeit zu bestimmten mentalen Aktivitäten (z.B. durch Selbstbeschreibung, vgl. Roth 1999, 2000), dass gleiche neurophysiologische Prozesse je nach „Einstellung" des chemischen Milieus, in dem sie stattfinden, verschiedene „Bedeutung" haben können. Dies hängt mit dem physiologischen System des Gehirns zusammen: das verteilte chemische Milieu, in dem die neuronalen Prozesse eingebettet sind, gibt gleichen Signalabfolgen (Spikes) unterschiedliche Funktionen. Diese chemische Kontextsensitivität ist wohl schwierig algorithmisch zu formulieren oder gar zu simulieren, aber die Versuche hierzu sind in vollem Gange. 4. Die übliche klinische Behandlung apallischer Patienten geht davon aus, dass bestimmte Funktionsausfälle im kognitiven Bereich wie Nicht-Verfugen über Sprache, Unansprechbarkeit, existentielle Angewiesenheit auf Pflege und apparative Maßnahmen einen Verlust des Empfindungsvermögens und damit des Entscheidungsvermögens anzeigen und damit Menschen charakterisieren, die nicht mehr Personen im Sinne von John Locke sind (vgl. Stinker), welche verantwortlich, intentional und aufgrund eigener Identität handeln oder kommunizieren können. Ich habe deshalb das klinische Beispiel zum Schluss gewählt, weil es wohl drastischer als die anderen Voraussetzungen, die Unangemessenheit einer philosophischen Position zeigt, welche diese Voraussetzungen negiert: Der Funktionalismus geht davon aus, dass mentale Zustände nicht aufgrund eines physikalischen Prozesses in der Welt, sondern aufgrund ihrer Funktionen definiert werden können. Diese Funktionen können auch andere Systeme auf anderer Grundlage (Computer, Organe etc.) als „Träger" haben. Es geht nur darum, dass eine mathematisch modellierbare Beziehung zwischen Input, Output und inneren Zuständen als eine kausale Beziehung konstatiert werden

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kann. Die Analogien zur Vorstellung des Automaten, zur Turing-Maschine und zum Behaviorismus sind auch hier unübersehbar. Die Argumente gegen diesen Funktionalismus sind zahlreich. So könne man zum Beispiel nicht zeigen, dass der mentale Zustand des Schmerzes identisch mit einem bestimmten Zustand des Systems, modelliert als Turing-Machine, sei, oder dass man mentale Zustände so gar nicht als objektivierbare Zustände eines mentalen Systems begreifen könne, weil die Qualität des je eigenen Empfinden ihr einen besonderen Rang gebe (sog. Qualia). Die Subjektivität des persönlichen Empfindens sowie die Subjektivität nicht nur des „Wie" eines mentalen Gehalts (Bewusstseinsinhalt, Vorstellung), sondern auch dessen „Dass", sei, so auch in zahlreichen Kontroversen, weder deduzierbar noch modellierbar. Nun wird die Tatsache, dass mentale Zustände durch verschiedene neuronale Zustände realisiert werden können, wie auch die Tatsache, dass gleiche Prozesse in anderem chemischen Kontext verschiedene mentale Zustände bedeuten können, im Funktionalismus durchaus berücksichtigt. Man kann gegen den Funktionalismus nur dann etwas ausrichten, wenn man als Voraussetzung der Spezifika von Prozessen im Gehirn und ihrer Funktion die materielle Basis dieser Prozesse in Anschlag bringt und auf die Besonderheiten der daran beteiligten physikalischen und chemischen Prozesse verweist, die wohl noch nicht vollständig verstanden sind. Insbesondere scheinen die quantenmechanischen Züge dieser Prozesse stärker ins Gewicht zu fallen als es eine Denkweise vermutet, die auf dem Paradigma der klassischen Mechanik aufbaut,10 und dem letztlich

1 0 / Diese Beziehung zu klassischen Mechanik ist leicht herstellbar: Die Turing-Machine ist ein Automat mit einer definierten Zustandsiiberfìihrungsfùnktion. Mathematisch dazu äquivalent ist ein Phasen- oder Zustandsraumkonzept, in dem die Werte der Zustandvariablen (Input als Kräfte, innerer Zustände als Position und Impulse, Zustandsüberfiihrungsfiinktion als zeitliche Entwicklung in Form von DifFerenzengleichungen in Analogie zu Differentialgleichungen) zeit- und zustandsdiskret sind.

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die zeitgenössische Informatik, sowie die Ingenieurwissenschaften, die sich mit Robotik beschäftigen, aber auch die kognitive Psychologie, immer noch verhaftet sind. Es wären noch weitere Voraussetzungen zu nennen, denn eine Disziplin, die Philosophie, deren ureigenstes Thema unter anderem die Beziehung zwischen Körper und Geist ist, wie immer man diese beiden Begriffe definieren mag, hat eine Reihe von Denkmöglichkeiten entwickelt, deren Zutrittsberechtigung zum wissenschaftlichen Diskurs erst jüngst wieder in einer Kontroverse um die Zusammenarbeit zwischen Hirnforschern und Philosophen bestritten wurde.11 Diese Voraussetzungen sind eine strikte Trennung der Positionen des Physikalismus (des Blicks auf das System, die Exosicht) und des Phänomenalismus (des Blicks innerhalb des Systems, der Endosicht). Dass Endosicht und Exosicht des Gehirns oder eines bewussten Systems nicht vermittelbar zu sein scheinen, bezweifle ich. Denn wir gehen mit solchen „Systemen," einschließlich uns selbst, tagtäglich erfolgreich um. Mein Beitrag geht davon aus, dass diese eben genannten Voraussetzungen einen Zugang zum Problem des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins verstellen, weil sie nicht nur von der Räumlichkeit technischer Apparate und der Körperlichkeit der menschlichen Existenz abstrahieren, sondern auch die Leiblichkeit des Selbstbewusstseins vernachlässigen. Man könnte es auch so formulieren: die Endosicht berücksichtigt nicht, dass ein bewusstes System materiell realisiert ist und damit letztlich der Physik unterworfen ist, und die Exosicht berücksichtigt nicht die von jedermann nachvollziehbare Qualität der Selbsterfahrung. Dazu gehört auch die Erfahrung des eigenen Körpers. Im Zusammenhang mit Würde und Gnade (eines Herrschers) schreibt Lao Tse:

1 1 / Vgl. Beckermann, Roth, Prinz, S. 102-115.

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„Ich habe deshalb große Plage\ weil ich einen Körper habe. Bin ich erst ohne Körper, welche Plage habe ich?" (Tao Te King XIII).12 Die Wortwahl deutet schon an, dass ein körperloses Ich, von dem Lao spricht, zumindest die Abwesenheit von Leid bewusst - also auch sprachlich - konstatieren kann. Hier fügt das Bewusstsein ohne Körperlichkeit lediglich die Sensomotorik in negativer Bestimmung zu etwas hinzu, was der Empfindungen und des Ich-Sagens auch ohne Körper fähig sein soll. Nun kann man Lao Tse sicherlich nicht vorwerfen, dass er ein Funktionalist sei, er ist eher ein Dualist, der an zwei Entitäten glaubt - eine geistige und eine körperliche mit einer klaren Prioritätensetzung. Die geistige Entität kann den Verlust des Körpers erleichtert verkraften, sie kommt im Endzustand ohne ihn aus, ohne Geist ist der Körper aber nur erbärmliches Fleisch, schmutziges Blut, Knochen, wie sich Marc Aurel schon drastisch ausdrückte (Marc Aurel Wege zu sich selbst, II, 2). So finden wir, dass unterschiedliche Positionen, hier Funktionalismus, da Dualismus manchmal die gleichen Konsequenzen zu haben scheinen, und dies macht die philosophische Debatte so verwirrend. Deshalb versuche ich, einige Bemerkungen zu dem, von KI-Forschern und Naturwissenschaftlern bisweilen als anrüchig gekennzeichneten Leib-Seele-Problem zu machen.

3. Zum Leib-Seele

Problem

Genauer müsste man von Körper-Geist-Problem sprechen (Hasted, S. 14), da es nicht um die Frage nach dem Verhältnis von geistigkognitiven Fähigkeiten des Menschen zu seiner Leiberfahrung und dessen Verletzlichkeit geht, sondern darum, wie mentale Phänomene sich insgesamt zu der in Naturwissenschaft und Technik themati12 / Ubersetzt von V. von Strauss.

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sierten Körperwelt verhalten (ebd.).13 Die Standardlösungen des Problems sind Ergebnis einer mehr als 2000jährigen Debatte, entsprechend sind auch die Standardeinwände bekannt14 und brauchen hier nicht wiederholt zu werden.15 Man kann das Körper-Geist-Problem im Zusammenhang mit der technischen Reproduzierbarkeit des Menschen auch im Sinne einer sukzessiven Prothetik16 diskutieren: Der Träger einer perfekten Gehirnprothese würde keinen Unterschied merken, ob er ein biologisches oder elektromechanisch oder elektronisch realisiertes Gehirn besitzt - man kann sich ja auch vorstellen, dass das Gehirnimplantat aus technisch praktischen Gründen nicht im Bereich des Schädels, sondern irgendwo sonst untergebracht ist und die Verbindung über Funk erfolgen kann.17 Dabei wäre es dann, zumindest nach der 13 / Ob diese Umbenennung die „Seele eliminiert", wie in der Diskussion kritisch eingewendet wurde, sei dahingestellt. Die drei großen mosaischen Religionen, insbesondere die Christliche, unterscheiden Geist und Seele, allerdings in theologischer, nicht in kognitionswissenschaftlicher Hinsicht. 1 4 / Vgl. Hasted. Er nennt: Interaktionismus, Parallelismus, Epiphänomenalismus, Aspektdualismus, Materialismus. Zoglauer behandelt zusätzlich Reduktionismus, Emergenz, Supervenienz, Dualismus, Identitätstheorie, eliminativer Materialismus, Funktionalismus, Probleme der Qualia, sowie anomaler Monismus. Von all diesen Positionen gibt es entsprechende Varianten, abgesehen von theologischen und kulturtheoretischen Adaptionen dieser Ansätze. 1 5 / Vgl. auch Zimmerli. 1 6 / Man stelle sich darunter ζ. B. die von Robert Kirk als Gedankenexperiment vorgeschlagene schrittweise Ersetzung menschlicher Organe vor, einmal durch Fremdorgane, einmal durch artifizielle Implantate, die auch vor einer Schritt-fiir-Schritt-Substitution des Hirngewebes durch Chips, die alle Funktionen der Neuronen imitieren, nicht halt macht; vgl. Kirk 1994, S. 88 ff. 1 7 / So bei dem japanischen System Roboneko, einem Roboterkatzenjunges. Es verfugt über ein Gehirn mit 32000 Modulen und ca. 40 Millionen künstlichen Neuronen und soll, um möglichst wie eine echte Katze auszusehen, ein Fell bekommen. Das „Gehirn" ist per Funk mit dem System verbunden. Vgl. Decker, S. 15, sowie www.telepolis.de/tp/deutsch/ special/robo/6353/1.html.

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These des Funktionalismus, uninteressant, auf welchem Substrat diese Gehirnprothese realisiert wäre.18 Ohne die Frage nach Prothetik und Menschenwürde hier erörtern zu können, da die Zeit fehlt, berühren solche Gedankengänge doch merkwürdig und erzeugen ein Gefühl des Unbehagens. Denn Prothetik hat auch das Moment des Scheiterns, unter realen Bedingungen ist alles nicht so perfekt, wie es sein sollte. Der Optimierungsgedanke verleugnet, dass er ein Ziel hat: Wohin soll optimiert werden? Ist diese Prothetik, die gleichzeitig ja auch die Erklärbarkeit des zu Ersetzenden voraussetzt, und die auch durch ihre Baubarkeit eine Erklärung für die Funktionalität menschlicher Glieder und Organe liefern soll, ausgerichtet auf ökonomische, ökologische, individuell sensuelle, beglückende oder lokal interpretierbare Funktionalität? Welche Interessen stehen dahinter? Wir wollen nicht in der Arroganz des Gesunden verharren - Prothetik, Pharmazie und Chirurgie stellen Hilfsmittel bereit, die das Leben retten, gestalten und verbessern helfen. Das Bild der Grenze zwischen gesund und krank beginnt jedoch schon seit längerem zu verschwimmen und die Perfektion des prothetisch verbesserten oder optimierten Menschen (Cyborgs) setzt sich, neben dem nicht zu leugnenden und nicht zu bestreitenden therapeutischen Zweck dem Verdacht aus, eine Perfektion für etwas zu sein, das nicht genannt wird. Ich will auf diese ethische Frage am Ende noch einmal zurückkommen. Fest steht jedoch, dass das Geist-Körper-Problem (mind-body) durch krasse Reduktionen nicht gelöst wird, allerdings auch nicht durch Einfuhrung zusätzlicher Entitäten. Es wird uns vermutlich auch

1 8 / Man denke in diesem Z u s a m m e n h a n g an das Argument von G. W. Leibniz, der sich dagegen gewandt hatte, dass die Perzeption aus mechanischen Gründen erklärbar sei. Zur Demonstration benutzt er die Vorstellung einer Mühle, die man betreten kann, und deren Gestänge und Mechanik Zustände wie bei neuronalen Prozessen verwirklichen könnten; vgl. Monadologie § 17.

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deshalb erhalten bleiben, weil die eine Seite, das persönliche, subjektive Empfinden, auf Einzelereignisse (innere Ereignisse) rekurriert, während die naturgesetzliche Beschreibung körperlicher Vorgänge, um zu gesetzesartigen Aussagen zu gelangen, immer vom Einzelereignis absehen muss. Hier liegt auch ein erkenntnistheoretisches Problem vor, dessen Noch-nicht-verstanden-Sein sich darin äußert, dass diese beiden Sichtweisen allem Augenschein nach in komplementärem Verhältnis zueinander stehen. Im Zeitalter der Reproduzierbarkeit des Menschen - um diesen Titel, nun eher ironisch zitierend, noch einmal aufzunehmen - geht es um das Bauen, und damit um die körperliche Seite der in Frage stehenden mentalen Funktionen. Programmierbarkeit und Baubarkeit berühren unmittelbar das Geist-Körper-Problem, weil ja die Hoffnung besteht, durch einen bestimmten Zusammenbau Funktionen zu erzeugen, die mentale Prozesse darstellen sollen oder sie wenigstens erfolgreich simulieren, so dass die simulierende Maschine als Prothese, als Unterstützung, als Ausgleich fur das Mängelwesen Mensch zu Einsatz kommen könne. Das experimentum crucis wäre dann der Versuch, eine Maschine zu bauen, bei deren wachsender Komplexität sich Bewusstseinseffekte (von außen als bewusstes Verhalten erkennbar) zeigen müssten. Meine These ist nun, dass bei diesen Überlegungen, obwohl es gerade um das Bauen geht, die Rechnung ohne den Wirt gemacht wird, und dieser Wirt ist der Körper.19

19/ D.h., dass sich die Dualismen wohl nicht so schnell auflösen werden, wie dies Damasio erhofft.

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3.1 Körper Neun Bestimmungstücke des Begriffs Körperlichkeit können genannt werden: 1. Körperlichkeit setzt Räumlichkeit voraus, ist aber nicht mit ihr identisch. Räumlichkeit besteht aus Dimensionalität, Distanz, Freiheitsgraden, Volumen und Grenzen von Gebieten durch Gebilde der jeweils niedrigeren Dimension n-1 (Flächen werden von Geraden, Räume durch Flächen, Linien durch Punkte begrenzt). Körperlichkeit setzt Räumlichkeit und Zeitlichkeit voraus: d.h. der Körper ist im Raum durch seine Oberfläche, in der Zeit durch endliche Existenz begrenzt. 2. Ausdehnung res extensa - ein Körper braucht Raum, wo er ist, kann kein anderer koexistieren, es sei denn eingebettet und damit als Teil eben dieses Körpers. 3. Physikalisch bedeutet Körperlichkeit eine dreh- und translationsinvariante Struktur und mit der materiellen Realisation von Verbindungen und Elementen auch ein Trägheitsmoment.20 Hier wird die Anordnung der Elemente im Raum wichtig. 4. Ein Körper bedeutet auch eine gewisse Zeitkonstante oder Eigenzeit, denn die Signale und Wirkungen, die den Körper zusammenhalten, breiten sich mit endlicher Geschwindigkeit aus, d.h. der Körper ist weder völlig ideal steif noch immédiat reaktiv, sondern träge und verwindungsfähig. 5. Jeder Körper konstituiert eine Oberfläche, die innen und außen scheidet. An der Oberfläche treten die Veränderungen von Qualitäten auf, deren zeitliche Dynamik wir mit Hilfe von unabhän-

2 0 / Für die physikalischen Dimension der Komplementarität von Verhalten und Struktur hat dies Konsequenzen: Das Produkt aus den Operatoren „Verhalten" und „Struktur" als vollständige Systembeschreibung hat die Dimension der Wirkung; vgl. Kornwachs.

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gigen und abhängigen Variablen als Verhalten begrifflich fassen. Ebenfalls ist die Oberfläche Einfallstor für Reize aller Art, von Stimuli bis zur Information. Uber solche Oberflächen tritt der Körper auch mit anderen Körpern in Verbindung - sensorisch, informatorisch, physikalisch raumzeitlich. Die Integrität des Innenraumes eines Körpers ist hierbei Voraussetzung für die Weiterexistenz. 6. Biologische Körper (Organe, Systeme, Lebewesen) verändern Struktur, Verhalten und Oberfläche als Ergebnis ontogenetischer Lernprozesse wie phylogenetischer Evolution - beides wird zuweilen verwechselt - bleiben sich aber gleich und zeigen eine Zeitlang, nämlich während ihrer Existenzdauer, Identität.21 7. Technische Körper können, sofern es sich nicht um - noch nicht physikalisch realisierbare - selbstreproduzierende Automaten handelt, nur ihr Verhalten aufgrund von ontogenetischen Lernprozessen verändern, wobei sich dieses Lernen lediglich auf eine Auswahl aus einem endlichen Repertoire vorher festgelegten Klassen von Verhaltensalternativen erstreckt. 8. Körperliche Systeme sind ein Sonderfall von Systemen schlechthin: Jedes System ist eine Beschreibung eines vom Systemautor herausgegriffenen und konstituierten Gegenstandes (konstruktivistisch gesehen), körperliche Systeme sind, sofern sie technisch sind, aufgrund von Beschreibungen aufgebaute Materialmodelle dieser Beschreibung.22

21 / Man sieht das zirkuläre definitorische Problem: Ein Körper ist solange ein Körper, als er ein Körper ist. Dies ist nur aufhebbar, indem man zubilligt, dass das, was ein Körper ist, durch eine Systemdefinition festgelegt wird. In der Biologie ist diese Definition unstrittig, weil es ein eindeutiges Modell fur die Oberfläche gibt: Haut, Zellrand etc. Bei einem technischen Gerät ist die Oberfläche definitorisch wesentlich weniger festgelegt gehört die Fernbedienung noch zum TV-Gerät? 22 / Kempin: Eine Maschine ist eine implementierte Theorie.

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9. Algorithmen können ebenfalls als „formale" Systeme von Operationen aufgefasst werden, deren Exekution ein körperliches System voraussetzt. Korrektheit und formale Richtigkeit dieser Operation alleine hängen aber nicht von körperlichen Systemen ab. Allerdings hängt die Exekution eines Algorithmus durchaus vom körperlichen System ab: ein fehlerhafter Rechner kann vermöge eines Hardwarefehlers durchaus falsche, d.h. unerwünschte Ergebnisse liefern. Für das Verstehen der Funktionalität eines informatorischen Systems, z.B. der Implementierung eines neuronalen Netzes auf einen normalen Rechner, ist seine Körperlichkeit unwesentlich, sie macht sich höchstens bei der geometrischen Anordnung der Schaltkreise aufgrund der Forderung nach gleichen Laufzeiten der Signale bemerkbar.23 Die Körperlichkeit eines Prozessors, der Algorithmen exekutiert, z.B. eine Turing-Maschine, erweist sich darin, dass er gebaut werden muss. Er ist zwar konstruierbar, aber er kann nicht vollständig errechnet werden.24 Bauen bedeutet räumliches Anordnen von Funktionselementen, die eine Ausdehnung haben und miteinander verbunden sind. Diese Verbindung konstituierten Entfernungen und räumliche Dimensionierung: Nicht kreuzungsfreie Graphen als Konstruktionsvorlage erfordern beim Bau die dritte Dimension.25 Beim Gehirn scheinen die Forschungen darauf hinauszulaufen, dass die Spikefrequenzen die Wichtigkeit eines Beitrags eines Neurons zu einem Signalgehalt ausdrücken, der wesentliche Inhalt aber in

2 3 / Z.B. die Zylinderform der CRAY in den achtziger Jahren. 24 / Die Spezifizierung einer universellen Turing-Maschine zu einer speziellen geschieht durch sequentielles Einlesen von Symbolen, nicht durch den Vorgang des Bauens. Das Bauen ist räumlich, das Band muss allerdings hergestellt werden (Speicher, CPU etc.). 25 / Einen Computer in der Fläche gibt es nicht, eine Flip-Flop-Schaltung ist ohne gekreuzte Leiterbahnen nicht darstellbar.

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der räumlich-zeitlichen Struktur der Verteilung des Signals enthalten ist.26 Dies hat eine Reihe von Konsequenzen.27 Ein weiteres Bestimmungsstück des Begriffs der Körperlichkeit sei als zehntes hinzugefügt: Der Stoffwechsel. Roboter, und dies fällt erst beim zweiten Hinsehen auf weisen keinen Metabolismus auf wenn man einmal vom Ölwechsel und dem Auswechseln von Ersatzteilen absieht. Sie erhalten ihre Energieversorgung schon vor ihrer „Existenz" durch ihren „Schöpfer" außerhalb ihrer Oberfläche, z.B. durch Batterien, die dann eingesetzt werden. Im Gegensatz zu jeder noch so niedrigfunktionalen Zelle haben wir bisher kein Gerät bauen können, das durch Stoffwechsel, d.h. Aneignung von energiereichen, hochstrukturierten Verbindungen aus der Umgebung,

2 6 / Das kybernetische Modell hierzu stammt schon von Karl Steinbuch, der die Hypothese aufgestellt hat, dass die Puls-Frequenz-Modulation für die Signalübermittlung im Gehirn eine wesentliche, wenn nicht ausschließliche Rolle spielt. Nachrichtentheoretisch ist dabei interessant, dass die Puls-Frequenz-Modulation von allen Codierungen diejenige ist, die sich am wenigsten anfallig gegen Störungen, insbesondere Rauschen zeigt (vgl. Steinbuch 1965). Eng damit verbunden ist die Holographie-Hypothese von Pribam (1974, 1991) u.a., die davon ausgeht, dass innerhalb funktional abgrenzbarer Bereiche, wie z.B. das Sprachzentrum, die Information nicht in einzelnen Nervenzellen oder Prozessen lokalisierbar ist, sondern verteilt wie in einem Hologramm. Werden zeitlich hintereinander liegende Eingangsreize in ein räumlich nebeneinander liegendes Muster abgebildet, was der Speicherung in einem Netz von neuronalen Zellen entspricht, so kann dies auch als eine Fouriertransformation von zeitlichen Frequenzen in räumliche Frequenzen und bei der Abfrage umgekehrt aufgefasst werden. Diese Transformation ist dieselbe, wie sie bei einem Hologramm durchgeführt wird. Von einem Hologramm ist bekannt, dass man nur einen Bruchteil zu kennen braucht, um den gesamten Informationsgehalt zu einem gewissen Grade (Unschärfe) rekonstruieren zu können. 2 7 / Dazu gehört z.B. auch, dass Gehirne nicht flach sein können, also nicht in zwei Dimensionen realisierbar sind. Wegen der enorm hohen Konnektivität der Gehirns kann eine kreuzungsfreie Schaltung also kein adäquates Modell eines Gehirns sein.

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Energiegewinnung durch Abbau dieser Strukturen und Umwandlung in körpereigene Strukturen sowie Entsorgung niedrig strukturierter Verbindungen, zu seinem Selbsterhalt, d.h. auch zur Aufrechterhaltung seiner Oberfläche als Grenze zwischen innen und außen, beiträgt. Nicht die Immunreaktion, die schon vorhandene Panzerung (Gehäuse) leistet bei technischen Geräten diese Aufgabe. Die Identitätserhaltung durch Erneuerung der eigenen materiellen Basis durch Umwandlung von Verbindungen aus der Umgebung in körperliche Verbindungen wird beim Roboter durch eine externe Instandhaltung gewährleistet.28 Körperlichkeit scheint mir hingegen auch darin zu bestehen, dass sie sich ihre Voraussetzungen selbst schafft.29 Mit dieser zehnten Bestimmung wird die Körperlickeit allerdings von einer rein räumlichen zu einer organischen Körperlichkeit spezifiziert.

3.2 Leib Nach dem Begriff des Körpers soll nun der Begriff des Leibes eingeführt werden - eine Unterscheidung, die man weder im lateinischen (corpus) noch im griechischen (soma) kennt, sondern nur im Deutschen: Aus dem mittelalterlichen lîp (ursprünglich Leib und Leben) wurde die Bestimmung von einem lebendigen, beseelten, eine individuelle Person darstellenden Körper.30

2 8 / Damit ist immer auch die Frage der Topologie der Oberfläche eines organischen Körpers gestellt: Die Aneignung „fremder" Stoffe geschieht durch partielle Oberflächen, an denen die Differenzierung zwischen innen und außen zeitlich variabel ist. 2 9 / Roboter sind keine gegenseitigen Feinde von Natur aus, da sie nicht, wie jeder Organismus (als organischer Körper) um externe Ressourcen konkurrieren müssen. Man kann sie dazu machen, wenn man sie per Programm darum konkurrieren lässt. 3 0 / Borsche 1980, Bd. 5, Spalte 174.

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So wie der Algorithmus Sequentialität, der Prozessor Räumlichkeit und der baubare Prozessor Körperlichkeit verlangt, so können wir versuchen, in Analogie das zu suchen, was über die Körperlichkeit hinaus der Leiblichkeit entspricht. Leiblichkeit ist das Miteinander von Körpern, die sich durch diese anderen Körper in Verhalten und Struktur ändern können - sie lernen durch die Koexistenz. Das bedeutet, dass Rückkopplungsschleifen über die Umwelt des Köpers diesen verändern und dessen Verhalten korrigieren, ohne seine Identität, d.h. seine kohärente Geschichtlichkeit, aufzulösen. Zu dieser Interaktion gehört ein Gedächtnis, dessen Inhalte sich auf Umwelt und innere Zustände beziehen - d.h. die Leiblichkeit setzt eine Repräsentation des eigenen Körpers voraus. Ich behaupte nun nicht, dass Leiblichkeit in diesem Sinne schon Bewusstsein konstituiert - sondern ich vermute die schwächere These: bereits Bewusstsein würde Körperlichkeit verlangen, Selbstbewusstsein aber Leiblichkeit. Die Phänomenologie des Selbstbewusstseins bis hin zur Hegelschen Bestimmung des Anerkanntseins ist auf Interaktion mit anderen Subjekten angewiesen - der soziale Bestimmungsgrund von Leiblichkeit ist hierin noch nicht begründet, aber angedeutet. Man darf die Analogie nicht überziehen - auch Tiere haben Leiblichkeit, aber vielleicht noch ein sehr schwach ausgeprägtes Selbstbewusstsein, ja, wir billigen höheren Säugetieren gerade einmal phänomenologisch so etwas wie Bewusstsein im Sinne eines Erinnerungsvermögens und der Fähigkeit zum Probehandeln zu. Selbstbewusstsein ist - zumindest anthropologisch gesprochen - an Sprache geknüpft und hier dürfte der wesentliche Unterschied zur Leiblichkeit des Tieres und der Leiblichkeit des Menschen liegen. Das Selbstbewusstsein macht vor dem eigenen Körper und dem Bewusstsein - wie der Name schon sagt - nicht halt, d.h. es hat sich selbst und seinen Leib zum Objekt: ein Objekt, das eine Geschichte hat, an die sich das Selbstbewusstsein erinnert und das ihm Identität stiftet. Die Sprache vermittelt diese Erinnerung im Gespräch mit andern und mit sich selbst.

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Diese Identität ist nach überwältigend vielen Argumenten der philosophischen Anthropologie auch immer an die bewusste tätige Auseinandersetzung mit der Umwelt geknüpft, d. h. also mit der Räumlichkeit der Gegenstände, der Widerständigkeit und Zeitlichkeit der Natur, an die Erfahrung der Mitkörperlichkeit und Mitleiblichkeit wir sind hungrige, durstige, soziale, gierige, sexuelle, gemeinschaftliche, wahrnehmende und erinnernde Wesen. Das Gefäß der Reflexion hierüber ist die Sprache, in ihr betreiben wir Kommunikation, Rückfluss der Gewissheit und Selbstvergewisserung - das Selbstgespräch mag als phänomenologischer Ausdruck des Selbstbewusstseins gelten.

4. Das algorithmische

Paradigma

Die in der Sensorik und Robotik angestrengte Problemlösung, eine Repräsentation der Außenwelt des kognitive Leistungen simulierenden, vielleicht auch genuin durchführenden technischen Systems (vulgo Roboter) zu konstruieren 31 , baut letztlich wieder auf Algorithmen auf - das gilt auch für die Repräsentation gewisser innerer Zustände wie Innentemperatur, Betriebszustände, Indikatoren der Performanz etc. Die Sensorik benutzt dezentrale Mikroprozessoren, die dann interagieren, prärationale Intelligenzen, wie sie genannt werden (vgl. Cruse, Ritter). Auch diese sind algorithmisch basiert, denn zum Teil aus technischen Gründen werden Funktionalitäten, die auch durch analoge Signalverarbeitung dargestellt werden könnten, digitalisiert. Auch sind die neuronalen Netze, soweit sie nicht dediziert gebaut, sondern auf einem Neumann-Rechner implementiert werden, diesem algorithmischen Paradigma verhaftet. Das algorithmische Paradigma hat gerade wegen der durch es induzierten Versuchung, Reduktionismus aller Spielarten zu betreiben, eine Reihe von Gedankenexperimenten provoziert - die Reihe geht 3 1 / Im Sinne des Errechnens nach Heinz von Foerster.

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vom berühmt-berüchtigten Turing-Test über das Geheimnis des Chinesischen Zimmers von Searle bis hin zu Argumenten der evolutionären Erkenntnistheorie und der von ihr propagierten Identität von mentalen und physio-neurologischen Zuständen. Das Ergebnis dieser Gedankenexperimente ist keine endgültige Erklärung, ob nun die Durchführung einer Reihenfolge von Zeichenmanipulationen ein Verstehen dieser Zeichen darstellt, wenn der äußere Beobachter nicht mehr unterscheiden kann, ob es sich um Mensch oder Maschine handelt. Die Befürworter argumentieren: Wenn die Funktionalität des Verstehens zustande kommt (als Annahme), dann ist es unerheblich, ob der Prozessor dieser Manipulationen sich des Inhalts der Zeichen bewusst ist oder nicht. Die Gegner bezweifeln, ob, wie in einem Gedankenexperiment, die Benutzung von einer Milliarde Chinesen, als jeweils neuronale Zellen über Sichtkontakt miteinander verbunden, durch synchrone Aktivitäten Bewusstsein als Ganzes darstellen könnten. Gegner des algorithmischen Ansatzes wenden ein, dass es zum Verstehen gehöre, dass sich der Verstehende seines Verständnisses bewusst sei, und dieses Wissen sei nur von ihm und niemand sonst erfahrbar. Die Jemeinigkeit 32 dieser Erfahrung, wie auch der sinnlichen Erfahrung eines personalen Subjekts, gibt diesem Gedankeninhalt eine besondere, einzigartige Qualität. Deshalb nennt man solche personal exklusive Eigenerfahrung in der Debatte der analytische Philosophie Qualia. Die Frage spitzt sich dann darauf zu, ob man Qualia durch Algorithmen ersetzen kann.

5. Körperlichkeit des Bewusstseins, Leiblichkeit des Selbstbewusstseins Die Behauptung ist nun, dass die Diskussion über Qualia (genauer über deren Eliminierbarkeit) weder ethisch noch bei Bau besserer (?) 32 / Um einen Ausdruck aus der Heideggerschen Philosophie zu gebrauchen.

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Roboter weiter hilft: Weder Physikalismus noch Phänomenalismus ziehen den erforderlichen kartesischen Schnitt zwischen Welt und Subjekt. Zwar sagt man gerne, dass die Lage dieses Schnittes von Konventionen bestimmt sei. Wenn man aber diesen Schnitt zieht, konstituiert man an dieser Stelle Körperlichkeit, systemtheoretisch gesprochen: Oberfläche. Der Schnitt zwischen Welt und Subjekt ist aber kein objektivierbarer. Da wir soziale Wesen sind, ist die Bestimmung dessen, was alles zum Menschen gehören solle, sehr stark von konventionalistischen Entscheidungen geprägt: Sein unmittelbares soziales Umfeld, seine Einbettung in ein verfasstes Gemeinschaftswesen (vom Stamm bis hin zum Staat oder andere Organisationsformen), auch die Beurteilung seiner Körperfunktionalität (krank, gesund) scheint in gewisser Weise von dieser Einbettung und seinem Selbstverständnis abzuhängen. Das macht die ethische Debatte zum Beispiel um die Verfügbarkeit und Selbstverfiigbarkeit menschlicher Leiblichkeit, gerade in der Medizin, auch so schwierig, weil sie von diesen Konventionen und Uberzeugungen abhängt und auch nur so definiert werden kann. Die Konstitution des Ichs (so umstritten der Begriff neurophysiologisch und hirnanatomisch sein mag) geschieht zumindest gemessen an unserer Phänomenologie des Selbst in der Sozialisation: Das Ich beginnt durch die Auseinandersetzung mit dem Du. Die Psyche baut sich den Außenregelkreis des Ichs durch soziale Kontrolle auf - der Körper kontrolliert sich nicht bewusst selbst, dies muss er ernst lernen, sondern durch andere Körper - dies konstituiert die Leiblichkeit des Ich.33 Das Ich ist aber auch kognitiv bestimmt. „Ich" zu sagen ist ein kognitiver Akt, er setzt Wissen um sich selbst voraus. Hier kommt ein zweifaches analytisches Argument ins Spiel: Zum einen zieht das Wissen um sich selbst, wenn man es formal ausdrückt, Selbstreferenz nach sich. Diese ist, wenn man Unentscheid3 3 / W. von Lucadou, miindl. Mitteilung 1993, Bonn.

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barkeitsfragen Turingscher oder Gödelscher Provenienz ausweichen möchte, nur sequentiell, weil rekursiv, approximierbar, aber nicht aufhebbar.34 Auch diese Approximation geht von der Invarianz gegenüber materiellen Realisationen solcher iterativen Prozesse aus. Das bedeutet, dass Selbstbewusstsein algorithmisch-sequentiell nicht darstellbar, sondern nur approximativ imitierbar oder simulierbar ist. Zum anderen bedarf die weiter noch mögliche Lösung, die auch in der Sensorik angewendet wird, nämlich die Parallelisierung, zur Realisierung der dabei notwendigen nebenläufigen Prozesse, des Raumes und damit einer der fundamentalen Voraussetzungen fur Körperlichkeit. Das Begriffsarsenal des Algorithmus ist aber, wie eine Begriffsanalyse zeigen kann, sequentiell orientiert. Dies sei im folgenden kurz skizziert.

5.1 Sequentialität und Räumlichkeit Zur Abbildung des Hintereinanders in zeitlichem Verständnis benutzt man eine Zahlengerade mit einer Wohlordnung 35 , d.h. man benutzt eine räumliche Dimension (Geometrisierung der Zeit). Die Zeitachse hat bestimmte Invarianzeigenschaften, insbesondere sind die Distanzen translationsinvariant. Man benutzt eine gerichtete Zeit (deshalb Ordnung), diese Gerichtetheit ergibt sich physikalisch aus der Erfahrung der Irreversibilität, die Wirkung folgt der Ur3 4 / Vgl. Wandschneiders Ansätze zur Eliminierung des Gödelschen Problems; Wandschneider 1975. Die nachfolgende Kontroverse zeigte, dass man zwei Prozessoren braucht, die miteinander kommunizieren und die so gebaut sein müssen, dass man sie nicht als eine Turing-Maschine zusammen konzipieren kann; vgl. Kleinknecht 1976, Pittioni 1976, Wandschneider 1976. 3 5 / Mathematisch gesprochen bedeutet dies, dass die Zeitpunkte einer reflexiven, antisymmetrischen und tranistiven Relation „>" unterworfen sind, wobei jeder Abschnitt aus der Zeitgeraden ein kleinstes Element hat (Anfang eines Zeitraumes).

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sache, nicht umgekehrt, mathematisch aus der Nichtvertauschbarkeit von Ereignissen oder, bei sequentiellen Anordnungen von Befehlen bei Algorithmen, aus der Nichtvertauschbarkeit der Reihenfolge von Operationen. Dabei spielen die Distanzen zwischen den Operationen keine Rolle. Insofern fehlt gerade beim Algorithmus als einer Anordnung von Operationen der räumliche Bezug, es würde, mathematisch gesprochen, auch eine Halbordnung genügen. Algorithmen brauchen zur Exekution ihrer Befehle die TuringMaschine, die ein Band voraussetzt, worauf Zeichen geschrieben werden können. Auch hier kommt es nur auf die Reihenfolge in zwei Richtungen an, nicht auf die Distanz. Erreichbar sind die Felder des Bandes einer Turingmaschine immer nur durch jeweilige Schritte. Nun könnte man aus der Schrittanzahl die Entfernung eines zu erreichenden Feldes auf dem Band charakterisieren, dies ist aber für das Verständnis der Turing-Maschine nicht erforderlich. Das Band kann auch eine Fläche sein - auch dies ändert nichts, weil die Felder abzählbar bleiben und damit auf ein Band abgebildet werden können. Prozesse, die genuin räumlich sind, also sich auf Körperlichkeit beziehen müssten daher Prozesse sein, welche die Entfernung und den Ort begrifflich konstitutiv enthalten und damit über den Turing-Prozess, d.h. einen Algorithmus auch in dieser Hinsicht hinausgehen. Penrose (1991, 1995) hat sich bemüht nachzuweisen, dass die Verarbeitung von Information, Signalen, Reizen etc. im Gehirn Anteile enthält, die sich nicht algorithmisch darstellen lassen. Er zieht hierzu die nicht berechenbaren Probleme der Mathematik36 und die bekannten logischen Paradoxien, die Theoreme von Turing, Godei und Church zusammenfassend heran. Penrose argumentiert mit noch nicht verstandenen physikalischen Prozessen, wobei er die Nichtberechenbarkeit gewisser Probleme der Quantengravitation

3 6 / Z.B. D. Hilberts 10. Problem, die diophantische Gleichung, oder das Parkettierungsproblem.

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benutzt und zu zeigen versucht, dass in der Neuroanatomie sich Mechanismen abspielen, bei denen die Quantengravitation eine Rolle spielen könnte. Darauf möchte ich an dieser Stelle jedoch nicht näher eingehen. Wichtiger erscheint mir hier die Argumentation, dass das, was sich nicht durch einen Algorithmus ausdrücken lässt, sich also als nicht berechenbar erweist, die Struktur des Räumlichen im Sinne einer jeweils individuellen Topographie haben kann oder vielleicht sogar haben muss. Ich stelle eine These auf deren Beweis oder Widerlegung ich den Fachleuten überlassen muss, die ich aber hier als Arbeitshypothese einmal benutzen will: Prozesse, die in diesem Sinne auf räumliche Dimension angewiesen sind und sich nicht ohne Verluste sequentiell transformieren lassen, sind solche, die entweder nicht durch Algorithmen berechenbar sind oder zumindest nichtalgorithmische Anteile haben. Dies macht sie für Prognose, Kontrolle oder Erklärung nur beschränkt zugänglich und verfügbar. Gehen wir noch einmal zur Räumlichkeit zurück: Die Räumlichkeit der Hardware führt zur physikalischen Begrenzung.37 Auch stellt man rasch fest, dass man z.B. Computer nicht beliebig groß und nicht beliebig klein machen kann: Die Funktionalität der Hardware ist skalenvariant. Die Größe der Oberflächen der Subsysteme bestimmt die Störanfälligkeit gegen Rauschen und Laufzeitunterschiede, kleine Distanzen sind empfindlich gegen E-M3 7 / Bekannt ist die sogenannte Bremermanngrenze fur die maximale räumliche Informationsdichte von ca. 10" bit/cm 3 wie auch Temperaturabhängigkeit der Informationsverarbeitung, die Laufzeit der Signale (Ausdehnung), die Topologie der Struktur, das Gewicht der Struktur, insbesondere das Verhältnis der Masse der Verbindungen zu Masse der Funktionselemente, oder das Oberflächen-Volumenverhältnis bezüglich Störungen der Außenwelt und Aufrechterhaltung der Innenverhältnisse. Vgl. hierzu Bremermann 1982, Levitin 1982, Rothstein 1982 und Landauer 1982.

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Streufelder, Wärmediffiision (Abfallwärme bei Verarbeitung) und unter gewissen Umständen hat man es bei genügend weit getriebener Miniaturisierung mit einer gegenseitige Beeinflussung der Bauelemente durch quantenmechanische TunnelefFekte sowie große Kohärenzwellenlängen zu tun. Der Bau einer solchen Hardware ist offensichtlich weder beliebig komprimierbar noch unter Funktionserhaltung in eine Sequenz transformierbar: Für das Bauen gibt es keinen Ersatz. Das bedeutet auch, dass jede Abbildung von sequentieller in räumliche Darstellung und umgekehrt mit Verlusten behaftet ist.

5.2 Leiblichkeit des Selbstbewusstseins? Wenn aber schon diese Voraussetzung der Körperlichkeit kognitiver Prozesse zu vernachlässigt zu werden scheint, um wie viel schwieriger dürfte es sein, die Leiblichkeit des Menschen konstitutiv in eine Theorie des Selbstbewusstseins aufzunehmen - Leiblichkeit setzt Körperlichkeit, die „dingliche Seite unserer Existenz" voraus, geht aber darüber hinaus: Sie umfasst die personale, ethische, geschichtliche und soziale Existenz des Körpers in einer konkreten Situation. Diese Situiertheit ist eine der notwendigen Voraussetzungen, wenn wir über Menschenwürde sprechen wollen. Deshalb besteht das Plädoyer, die Körperlichkeit des Bewusstseins und die Leiblichkeit des Selbstbewusstseins bei dem Unterfangen, sie reproduzieren zu wollen, wenn schon, theoretisch, technisch wie ethisch zu berücksichtigen.

6. Machbarkeit,

die Anthropologische

Frage und das

Wünschbare

Anthropologisch heißt dies, medizinische Prothetik und Fürsorge nicht nur funktional und mit der Fixierung auf die sensuelle Wahrnehmungsfähigkeit und damit intersubjektivierbare Leidensfähig-

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keit ihres „Gegenstandes" zu betreiben, sondern der Selbstwahrnehmungsfähigkeit, die immer auch in die Mitkörperlichkeit und damit Leiblichkeit eingebunden ist, den fur sie erforderlichen Rang zurückzugeben. Wir müssen uns demnach vor einer ausschließlich und reduktionistisch verfahrenden kybernetischen Anthropologie hüten. Auch wenn die Hirnforschung, wie G. Roth (2000) dies erst jüngst wieder skizziert hat, zeigt, dass das Ich nicht ganz Herr im eigenen Haus ist und viele Beweggründe unseres Handelns uns nicht bewusst oder prinzipiell einer Selbstbeschreibung nicht zugänglich sind und wir sie mit unserem sozial konstituierten Ich, notabene auch mit unserer Leiblichkeit im Nachhinein rationalisieren, besser sogar, rechtfertigen, dann heißt das noch nicht, dass man dem menschlichen Individuum eine gewisse Autonomie vollends absprechen sollte. Wenn sich die pessimistischen Vermutungen vieler Philosophen, wonach der freie Wille eine Illusion sei, nunmehr durch die Empirie bestätigen sollten, dann steht dem ergänzend die Erfahrung zu Seite, dass wir unsere Selbsterkenntnis trotzdem verbessern können, dass wir eine Anthropologie entwerfen können, die nicht reduktionistisch ist und dies vielleicht einen befriedigenderen Erklärungsgrad aufweist als die nicht eingelösten Versprechen, Gefühle durch Algorithmen darstellen zu können. Wird nach der technischen Machbarkeit gefragt, so muss betont werden, dass Machbarkeit über den Begriff des Algorithmischen formaliter und in praxi hinausgeht. Machbar ist mehr, als wir errechnen und gezielt präparieren können - die alltägliche Praxis zeigt dies ständig. Im Handwerk geht es sehr leiblich zu - manche nennen Handwerk auch Individualtechnik. So könnte es durchaus sein, dass Erbauer und Erbauerinnen (eher seltener - warum eigentlich) von Robotern Überraschungen erleben - so zumindest vielfach diskutiert in der Schreckensvorstellung einer für möglich gehaltenen Autonomie wildgewordener Roboter. Aber woher kommen solche Ängste, wenn wir noch nicht einmal dem menschlichen Informationsverarbeitungssystem Autonomie zusprechen,

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weil wir es ja auf Algorithmen reduziert haben wollen? Haben wir also doch etwas nichtrichtiggemacht? Wird nach der ethischen Dimension gefragt, so ist nicht die verzweifelte Frage zu stellen, ob es - hoffentlich - doch nicht funktioniere, dass man selbstbewusste Roboter oder solche, die Selbstbewusstsein bis zur Scheinsubjektivität hin simulieren, bauen könne, sondern die, ob wir wollen, dass es sie gibt, was wir mit ihnen anfangen sollen oder wollen und wie wir zu ihrer Leiblichkeit und damit auch Integrität stehen, sofern wir ihnen diese zubilligen. Ich werde versuchen zu begründen, weshalb man solche Roboter aber nicht mit dem heutigem Algorithmusbegriff- vermutlich wird bauen können und warum ich es fur nicht wünschenswert halte, dass es sie gibt. „Wenn man meint, aufgrund des Verhaltens eines Roboters, den man in Simulation eines Menschen gebaut hat, Rückschlüsse ziehen zu können auf den Menschen, dann setzt man voraus, dass der Mensch im Prinzip nichts anderes als eine Maschine ist" (Anne Forst, 1999, S. 197) Man könnte nun durchaus vermuten, dass die Möglichkeit nicht ganz von der Hand zu weisen ist, dass die Baubarkeit bestimmter Funktionen uns bei der Erklärung dazu analoger Funktionen des Menschen in die Irre fuhrt - Vergleiche hinken, und bei Analogien sollte man vorsichtig sein. Coy hat vermutet, dass die Erfolge der Künstlichen Intelligenz, die, gemessen an ihrer Public Relation vielleicht auch kleiner veranschlagt werden können, daher rühren, dass das, was sie zu imitieren, zu simulieren oder zu ersetzen vorgeben, nämlich natürliche Intelligenz, bereits so als sozial vermitteltes Produkt definiert wurde, dass KI zum Abbild dieses Produktes wurde. „Ideologisch interessante KI-Probleme sind KI vollständig" (Coy). Man kann diese Betrachtung noch etwas weiter treiben. Technik, und dazu wird man Robotik, KI und neuronale Netze wohl zählen dürfen, entsteht aus einer Wechselwirkung mit ihrer organisatori155

sehen Hülle. Das bedeutet, dass die Funktionalität eines technischen Gebildes, z.B. eines Autos, sich nicht entfalten kann ohne die dazu gehörigen nichttechnischen Co-Systeme wie Straßenbau, Verkehrsstrafrecht, Organisation von Ersatzteilen, Treibstoff und anderen Betriebsmitteln etc. Dies fuhrt zu einem auch vom VDI mitgetragenen erweiterten TechnikbegrifF, der nicht nur das eigentliche technische Instrumentum oder Verfahren meint, sondern auch dessen Herstellung, Gebrauch, Verwendungsweise bis hin zu Entsorgung. Damit enthält diese Technikdefinition auch die Ziele technischen Handelns und nicht nur die Zweck-Mittel-Relation alleine. Es ist ein wohlgepflegter Irrtum, Technik lediglich fur wert- und zweckfrei angewandte Naturwissenschaft zu halten - schon die Informatik verfugt nicht mehr über eine analoge Muttertheorie, wie dies der Maschinenbau beispielsweise in der klassischen Mechanik hat. Jedenfalls kann man sagen, dass die Wechselwirkung mit der organisatorischen Hülle zum einen die Zwecke technischen Handelns verändert, zum andern Technik auch Ausdruck der Verhältnisse in der organisatorischen Hülle ist: Technik ist, wie der Technikphilosoph und Technikfolgenabschätzer Jürgen Seetzen einmal sagte, machtschlüssig,38 d.h. sie passt sich gegebenen Machtstrukturen schmiegsam an, verstärkt und stabilisiert sie. Es gibt in der Technik keine Ketzer, Scheiterhaufen und Märtyrer, in der Philosophie, der Physik und der Mathematik wohl. Die organisatorische Hülle der technischen Reproduzierbarkeit des Menschen ist weniger der Wissenschaftsbetrieb mit seinen Erkenntnisinteressen - falls es diese rein überhaupt geben sollte - , sondern die angewandte Forschung und Entwicklung mit ihrem Produktionsinteresse. Herstellbarkeit impliziert Körperlichkeit gleichzeitig negiert die theoretische Basis der Neuroinformatik, der KI und der Robotik jegliche Technizität, die auch Räumlichkeit verlangt. Das bedeutet, dass das Paradigma des Algorithmus 3 8 / I. Seetzen, mündliche Mitteilung, DGSF-Workshop Cottbus, September 1997.

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den eigenen Produktionsinteressen dieser Wissenschaft entgegensteht. Man kann fuglich danach fragen, welcher MaschinenbegrifF denn gemeint ist und ob ein solcher Begriff zwangsläufig eine negative Konnotation haben muss. „Wer Maschinen benutzt (Ziehbrunnen), dessen Herz wird selbst eine Maschine. Wer aber ein Maschinenherz hat, dessen Einfalt ist verloren, ... und er erreicht nicht mehr den Ursprung (tao). Nicht, dass ich von solchem Zeug nicht wüsste; ich würde mich schämen, es anzuwenden."39 Soweit werden wir in Europa nicht gehen, und auch das moderne China geht wohl nicht diesen rigorosen Weg. Auch wenn wir Maschinen benutzen, zwingt uns niemand dazu, uns selbst als Maschine zu begreifen, wie dies Marvin Minsky und andere, denen das Schockieren auch ein wenig Spaß zu bereiten scheint, versuchen. Wir können aber zum Schluss fragen, welche ethische Dimensionen die Vernachlässigung der Körperlichkeit beim Entwurf solcher Maschinen angesprochen sind. Ohne dem Ethiker das Thema wegnehmen zu wollen, werden wir doch fragen müssen, ob wir den Altenroboter wirklich wollen, der, neben den durchaus nützlichen Verrichtungen der Pflege das Zuhören, die Zuwendung und Intentionalität simulieren soll, also Anerkennung heuchelt und deren Umsorgepotential vielleicht weniger hoch als deren Überwachungspotential werden dürfte. Wollen wir den neuen Sklaven, der nicht nur perfekt montiert, imitiert, simuliert, fügt, säubert, transportiert, bringt, fortnimmt, entsorgt, sondern auch zustimmende Partnerschaft, fügsame Freundschaft, beflissene Mitarbeit, widerspruchsfreie Kreativität unmerklich durch

39 / Vgl. Schilling, S. 112, zit. nach Büchel, S. 51.

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bezahlbare, all dies simulierende Dienstleistung ersetzt? Vielleicht ist auch an einen programmierbaren Hofnarren zu denken, der zur Hebung der eigenen Kreativität begrenzt widerspricht und den man, analog zur Verbannung vom Hofe des Kaisers, gegebenenfalls abschalten kann. Wollen wir die entscheidungsersetzenden Maschinen und Systeme haben, die Risiko tausendmal präziser und genauer abschätzen können, als dies menschliche Entscheidungsträger tun können? Schon heute werden uns ja durch technische Servosysteme, die viele Komponenten der Künstlichen Intelligenz enthalten, gerade bei Steuerungsaufgaben viele Entscheidungen abgenommen, und zur Sicherheit in einer technischen Welt sind sie unabdingbar geworden. Wir könnten natürlich auch sagen, dass wir diese Leistungen einer technisierten Welt nur deshalb verfugbar haben, weil es diese Servosysteme gibt, zum anderen aber wird man den Verdacht nicht los, dass eben unser Arrangement einer technischen Welt solche Servosysteme geradezu erzwingt. Arrangieren wir unsere Welt so, dass wir ohne Roboter eines Tages nicht mehr auskommen werden? Wollen wir Roboter haben, deren Komplexität sie zu kontraintuitivem Verhalten befähigt, und denen wir ein Maß von Autonomie und Selbstbewusstsein zubilligen, das wir uns durch die Ergebnisse der Hirnforschung gerade selbst beginnen abzusprechen? Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Paradigma des Algorithmus zu Ende geht. Es gibt Hinweise darauf, die in der Sache selbst liegen, denn das, was diese Technologie will, wird sie mit dem Begriff des Algorithmus alleine wohl nicht erreichen. Weshalb aber sollen Roboter, die doch Fronarbeit leisten sollen, also keine selbstbestimmte Arbeit verrichten sollen, Bewusstsein haben oder gar selbstbewusst werden? Weshalb wollen wir unsere Sklaven, die wir gerade zu schaffen im Begriffe sind, zu eigener Mündigkeit befreien? Spielt hier der Gebärneid der männlichen Ingenieure eine Rolle, wie manche Psychologen behaupten (ich schließe mich dieser Deutung nicht an), ist es die Imitation der

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Schöpferrolle und das Ausspielen eines Machtwunsches, selbstbewusste Geschöpfe zu schaffen mit freiem Willen, die sich auflehnen oder unterwerfen können? Wollen wir durch selbstbewusste Roboter (in doppelter Bedeutung des Wortes) anerkannt sein? Wollen wir also im Zeitalter der Reproduzierbarkeit des Menschen diese Fähigkeit der Auflehnung ebenfalls reproduzieren? Wir müssen nochmals trennen zwischen Machbarkeit und Wünschbarkeit. Eine Weltuntergangsmaschine erscheint seit den Überlegungen von Hermann Kahn machbar, aber sie ist nicht wünschenswert und sie wird hoffentlich nicht gebaut. Ist ein selbstbewusster Roboter im Sinne der Mind Children von Moravec wirklich wünschenswert? Rein algorithmisch ist er wohl nicht zu machen, weil der Algorithmus lediglich, wenn vielleicht auch perfekt, simulieren kann - man denke an das Chinesische Zimmer. Die Simulation eines kognitiven Aktes (z.B. Erkennen der Konstruierbarkeit unseres Bildes von Außenwelt, Entdecken oder Postulieren eines wahren mathematischen Satzes und seines Beweises) ist insofern noch kein Verstehen, als sie die Körperlichkeit und Selbstbezüglichkeit des Subjektes lediglich ausdrücken, aber nicht exekutieren kann. Somit bliebe die Turing-Maschine nicht stehen und könnte nichts entscheiden. Das Prädikat „Ich bin" ist wohl in diesem Sinne nicht entscheidbar, aber jedes Kind kann mit dem Satz spielend umgehen und Konsequenzen daraus ziehen, also das „Berechnungsverfahren" endlich abschließen - anders ausgedrückt: kognitive Prozesse kommen zu einem Ende, auch wenn sie Selbstreferenzen beinhalten. Moravecs Provokationen sind sehr lehrreich - denn sie konfrontieren uns mit der Frage, ob wir potentielle Unsterblichkeit, also die Persistenz des Bewusstseins und Selbstbewusstseins erstreben wollen, wenn wir in der Lage sein sollten, unser Bewusstsein auf andere Trägersysteme als das Gehirn zu übertragen. Der Preis wäre ein Verzicht auf explizite Körperlichkeit - aber dieser Preis bezieht eben sich auf eine der wesentlichen Voraussetzungen des Selbstbewusstseins. 159

Die Perfektion, die durch solche Maschinen angestrebt wird, ist neben dem psychologisch verstehbaren Schöpfungs- und Abbildungs- resp. Widerspiegelungsinteresse selbstbewusster Subjekte, wie wir sie sind, vielleicht auch durch die Ziele erklärbar, die sich solche Forschungs- und Entwicklungsprogramme selbst setzen. Neben therapeutischen, prothetischen und anderen ehrenwerten Zielen gibt es verständlich ökonomische - es gibt viele technische Produkte, wie das Farbfernsehen, bei denen der intellektuelle Aufwand zu ihrer Entwicklung und Entfaltung ihrer Funktionalität bei weiten den Aufwand übersteigt, der zu gegenwärtig aktuellen Nutzung erforderlich erscheint. Tamagochis und deren Nachfolger bis hin zum Roboterhündchen sind eine Verschwendung von Intelligenz, wenn man sich ihre Nutzung ansieht, ökonomisch sind sie jedoch immer noch ein Renner. Für welche Verbesserung des Lebens wollen wir also intelligente Roboter einsetzen? Weshalb wollen wir den Menschen reproduzieren? Wollen wir Kampfmaschinen, stählerne Soldaten. Arbeiter, die sich nicht solidarisieren und keine Lohnerhöhung fordern? Man denke nur an die virtuellen Schauspieler, die gerade entwickelt werden und wie Personen auf dem Markt der Stars und Sternchen sozial erzeugt werden. Fragen wir nochmals nach den unausgesprochenen Zielen dieser Technologie. Fragen wir danach, ob wir die Technik brauchen, die wir haben, und ob wir die Technik haben, die wir brauchen. Gehören intelligente Roboter dazu, welche die gegenwärtigen und sicher noch zu perfektionierenden Roboter in Fertigung, Montage und Dienstleistung weit hinter sich lassen? Ich denke, dass viele Befürchtungen sich eher auf uneingelöste Versprechen beziehen und man nicht zu frühzeitig Alarm auslösen sollte. Dennoch verlangt ein bewusster Umgang mit Technik, die Verantwortungsfrage zu stellen. Deshalb sollte wir mit unseren heutigen Entwicklungen, auch wenn wir nur Spaß daran haben und lediglich ausprobieren wollen, ob „es geht", die nächsten Generationen nicht unter Sachzwänge setzen, in denen sie nicht mehr

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verantwortlich handeln können, weil wir ihnen die Optionen unnötig eingeschränkt haben. Man kann auch dezisionistisch argumentieren. Ich behaupte nicht, wie dies Technikkritiker vor allem früher getan haben, dass das alles ganz gefährlich wäre, schreckliche Konsequenzen hätte und darüber hinaus wegen der Hybris der Technik das ganze Vorhaben sowie so nicht funktionieren könne. Ich denke eher, dass wir, wenn wir wollen, eines Tages solche bewussten Maschinen werden bauen können, allerdings nicht unter dem Paradigma des Algorithmus und vermutlich wird sich auch unser Begriff von Bewusstsein gewandelt haben. Ich bekenne hier aber auch, dass ich solche Maschinen, wenn ich unter dem gegenwärtigen Menschenverständnis Vor- und Nachteile abwäge, weder mir noch meinen Kindern und Kindeskindern zumuten möchte, weil man damit unter der Voraussetzung eines wohl noch traditionellen Menschenbildes der Aufklärung mit christlichen Restbeständen wohl nicht mehr verantwortlich umgehen kann.40

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4 0 / Dies zu begründen, wäre mit dem Prinzip der Erhaltung der Bedingungen verantwortlichen Handelns möglich. Vgl. hierzu Kornwachs 2000.

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Dieter Birnbacher Der künstliche Mensch 1. Auf dem Weg zum Cyborg

ein Angriff auf die menschliche Würde?

In der Ausgabe vom 8. Februar 2002 berichtet das Wissenschaftsmagazin Science unter dem Titel „Part Man, Part Computer" über das Vorhaben Kevin Warwicks, eines Professors für Kybernetik an der Universität Reading, sich einen Computerchip in den Mittelnerven des Handgelenks einsetzen zu lassen, um auf diese Weise die in die Hand und aus der Hand fließenden Impulse abzuleiten und an einen Computer zu übermitteln. Die Operation wurde am 14. März 2002 ausgeführt. Das Experiment soll u.a. dazu dienen herauszufinden, ob es dem Computer gelingt, die aus dem Handgelenk kommenden Signale Bewegungen, Empfindungen und Stimmungen (die sich in Veränderungen der Hand niederschlagen) zuzuordnen und ob ein Roboter, der die Signale vom Computer empfängt, diese wiederum in Bewegungen umsetzen kann. Außerdem will Warwick diese Signale in seinen eigenen Nerven zurückspielen, um zu sehen, ob sich dadurch die ursprünglichen Bewegungen und Empfindungen auslösen lassen. Falls dies gelingt, soll seine Frau ein entsprechendes Implantat erhalten und Signale mit ihm austauschen. Hintergrund dieser Experimente ist die Vision eines computergestützt funktionierenden Menschen - eines Menschen, der ausgefallene Funktionen durch die Symbiose mit einem Computer ersetzt oder kompensiert oder vorhandene Funktionen erweitert, indem er z.B. seine Gedächtnisfünktionen durch einen ins Gehirn implantierten Chip unterstützt. Neben einer Reihe von skeptischen Stimmen aus der Wissenschaft zitiert das Magazin auch die ethischen Bedenken des New Yorker Politikwissenschaftlers Langdon Winner. Winner hält die geplanten Experimente für hochgradig moralisch bedenklich. Die natürlichen Fähigkeiten der 165

Informationsverarbeitung dadurch zu verbessern, dass man das Nervensystem an einen Computer anschließt, bedeute eine grundlegende Veränderung des Wesens des Menschen (vgl. Vogel 2002, S. 1020). Zweifellos ist der Einbau eines Chips zur Steigerung der Möglichkeiten, Bewegungsabläufe in den Extremitäten zu steuern, ein Schritt, der über die Ersetzung oder Kompensation verlorengegangener Funktionen hinausgeht. Die Technik dient hier nicht mehr dazu, eine ausgefallene Funktion durch künstliche Aggregate zu substituieren (wie bei der künstlichen Gehörschnecke oder dem künstlichen Gehörnerv) oder einen pathologisch entgleisten Prozess durch einen künstlichen Impulsgeber zu korrigieren (wie bei den sogenannten „Gehirnschrittmachern"). Der Anschluss des implantierten Chips an einen Computer bzw. Roboter würde vielmehr dazu dienen, eine bisher nicht verfugbare Option verfugbar zu machen: die „Fernsteuerung" einer Extremität von außerhalb des Körpers. Wie immer man diese Option beurteilen mag - ich kann mir die Aussicht, von einem oder mittels eines Roboters „ferngesteuert" zu werden, kaum als besonders angenehm vorstellen - , handelt es sich doch eindeutig um eine „enhancing" und nicht mehr nur um eine therapeutisch korrigierende oder substituierende Körpertechnologie. Die Entwicklung und Anwendung solcher Technologien hat Stanislaw Lem bereits in den 60er Jahren unter dem Titel „Cyborgisierung" diskutiert. Cyborgs (das Kunstwort wurde 1960 von Manfred Clynes und Nathan Kline geprägt) sind halbkünstliche Menschen, die dank künstlicher Aggregate auch unter extremsten Lebensbedingungen überleben können. Zur Anpassung an kosmische Lebensbedingungen ist ihnen der gesamte Verdauungsapparat herausoperiert und dieser durch einen Apparat von osmotischen Pumpen ersetzt, so dass man ihnen „nach Bedarf Nährstoffe, aktivierende Substanzen - Medikamente, Hormone, anregende Präparate - oder umgekehrt solche Stoffe zufuhren (kann), die den Grundumsatz senken oder ihn sogar in den Zustand der Hibernation versetzen" (Lem 1981, S. 583 ff). 166

Es dürfte kaum gelingen, einen Cyborg herzustellen, ohne zentrale ethische Grundsätze zu verletzen. Aber wie steht es in dieser Hinsicht mit Warwicks Selbstversuch? Zweifellos ist Warwicks Unternehmen ein Schritt in Richtung „Cyborgisierung". Aber kann man ihn als moralisch bedenklich bezeichnen - einmal vorausgesetzt, es existieren Kontrollinstitutionen wie Ethikkommissionen und Berufsordnungen, die das Abgleiten auf einer Schiefe Ebene, die zu unkontrollierten Fremdversuchen fuhrt, verhindern? Gibt es Gründe, Versuche, die natürliche Beschaffenheit des Menschen durch funktionsverbessernde künstliche Maßnahmen gezielt zu verändern, moralisch zu verwerfen?

2. Natürlichkeit

und Künstlichkeit

Es gibt wohl keine Kategorie, bei der sich zwischen philosophischer Ethik und Alltagsmoral größere Wertungsdiskrepanzen finden als bei der Natürlichkeit. „Natürlichkeit" ist in der modernen Moralphilosophie keine Orientierungsgröße mehr. Der ethische Naturalismus, nach dem sich das menschlichen Handeln an den Verfahrensweisen der Natur orientieren soll, hat in keiner seiner Formen der Kritik standgehalten. Gegen eine Begründung normativer oder auch nur bewertender Aussagen auf Aussagen über die Verfahrensweisen der Natur sprechen nicht nur metaethische Argumente (wie das Argument des „naturalistischen Fehlschlusses"), sondern insbesondere auch eine Reihe normativ-ethischer Plausibilitätsgründe (vgl. Birnbacher 1997, S. 230 ff.): Die Natur, so wie sie sich in der Erfahrung zeigt, kann allenfalls in ausgewählten Aspekten als Vorbild für menschliches Handeln gelten. Als Ganzes ist sie dazu wenig geeignet, denn im Ganzen erweist sie sich als allzu gleichgültig gegen menschliches Wohl. Wenn es so etwas wie einen Plan in der Natur gibt, dann kann dieser, wie John Stuart Mill sagt, „das Beste menschlicher oder anderer fühlender Wesen nicht zu seinem einzigen oder auch nur zu seinem Hauptzweck gehabt 167

haben" (Mill 1984, S. 62). Als Werte, Ideale oder Verhaltensmodelle für den Menschen kommen allenfalls bestimmte Aspekte der Natur in Frage, etwa die Schönheiten der Natur, die Stabilität bestimmter Ökosysteme oder die im 19. Jahrhundert von Kropotkin ausfuhrlich beschriebene natürliche Solidarität in bestimmten Tierpopulationen (Kropotkin 1975). Diese Aspekte sind aber weniger als die ganze Natur, und zu ihrer Auswahl bedarf es eines Prinzips, das nicht wiederum der Natur selbst entnommen werden kann. Nicht die Natur, sondern der Mensch legt fest, welche Aspekte der Natur als Maßstab gelten sollen. Zugespitzt gesagt: „Natur ist eine Fiktion, die sich die menschliche Psyche erschafft, um zu vermeiden, die Verantwortung für Herzensentscheidungen zu übernehmen. Die Stimme der Natur ist eine menschliche Stimme." (Hardin 1976, S. 16). Aus dieser argumentativen Falle hilft auch keine Naturteleologie heraus. Der Versuch, eine irgendwie geartete Verbindlichkeit des Natürlichen unter Berufung auf Naturzwecke zu begründen, ist vielmehr mit einer Reihe bekannter Schwierigkeiten konfrontiert: Erstens ist fraglich, ob die Redeweise von Naturzwecken überhaupt sinnvoll ist. Zwecke sind undenkbar ohne Zwecksetzungen. Wer aber soll das Subjekt dieser Zwecksetzungen sein? Dadurch, dass die Natur eine Vielzahl von bewusstseinsfähigen Wesen enthält, hat sie als solche noch kein Bewusstsein, das als Basis seiner wie immer gearteten Intentionalität fungieren könnte. Zweitens stellt sich die Frage, wie sich Naturzwecke identifizieren lassen. Die Natur ist ein Gesamtsystem aus Teilen mit zum Teil gegensätzlichen Tendenzen. Warum etwa sollen Mängelkorrekturen, nicht aber Verbesserungen am Bauplan der Schöpfung den Zwecken der Natur entsprechen? Und drittens bliebe selbst dann, wenn es so etwas wie Zwecke der Natur gäbe und diese feststellbar wären, die Frage offen, weshalb wir diese Zwecke befolgen sollten. Auch dann, wenn man von der Natur sagen könnte, dass sie Zwecke verfolgt oder auf bestimmte Zwecke hin angelegt ist, folgt daraus nicht, dass man diese Zwecke gutheißen oder als für den Menschen verbindlich betrachten muss.

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Die Redeweise von Naturzwecken scheint wenig sinnvoll ohne die Annahme eines personalen Schöpfers. Durch die Interpretation der Natur als „Schöpfung" im wörtlichen Sinne wird die Begründung jedoch theologisch und erfüllt nicht mehr die Bedingungen an Allgemeingültigkeit, die an Begründungen von moralischen Normen zu stellen ist. Die von moralischen Normen ausgehenden Beschränkungen der persönlichen Handlungsfreiheit verlangen jedoch eine möglichst allgemeinverbindliche Begründung. Natürlich muss man „Natürlichkeit" weder im Sinne einer Ubereinstimmung mit der empirischen Natur noch im Sinne einer Ubereinstimmung mit Naturzwecken verstehen. Man kann sie auch im Sinne von Normalität verstehen und behaupten, dass wir uns in unserem Handeln an dem Natürlichen im Sinne des „Normalen" orientieren sollten. In diesem Fall wäre allerdings offenkundig, dass die Berufung auf das Natürliche einen logischen Zirkel beinhaltet. Denn was als „normal" gilt, ist seinerseits nichts anders als das Resultat einer wertenden Definition: Das Normale ist von vornherein das Richtige, Angemessene und Akzeptable. Die Aussage, dass bestimmte Verhaltensweisen „unnatürlich" sind, wiederholt dann lediglich, dass sie falsch und unakzeptabel sind, begründet dieses Urteil aber nicht. Behauptungen wie die, dass Homosexualität „unnatürlich" im Sinne von „unnormal" sei oder dass „der natürliche Zweck der Ehe in der Fortpflanzung" bestehe und dass Geburtenkontrolle deshalb unerlaubt sei, können deshalb die Ablehnung der entsprechenden Verhaltensweisen stets nur bekräftigen, aber nicht begründen. Zur Entidealisierung des Natürlichen haben vor allem die pessimistischen und empiristischen Strömungen der Philosophie des 19. Jahrhunderts beigetragen: Schopenhauer j o h n Stuart Mill, Williamjames, Albert Schweitzer. Durch die Hervorkehrung der zerstörerisch-grausamen Seiten der ungezähmten Natur (James: „the moral equivalent of war") haben diese Philosophien populäre Bilder einer „guten Natur" (die in der Werbung mit Bio- und Öko-Labels fortlebt) ideologiekritisch als Konstruktionen entlarvt und Natür169

lichkeit als ethisches Prinzip im Prozess fortschreitender Aufklärung zunehmend „entzaubert". Im Gegensatz dazu hält das alltagsmoralische Denken an der moralischen Relevanz der Unterscheidung zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit fest - wobei allerdings die Grenze zwischen Natürlich und Künstlich je nach Kontext in unterschiedlicher Weise gezogen wird. Wie immer „natürlich" und „künstlich" in ihrem jeweiligen Kontext verstanden werden, das Natürliche wird dem Künstlichen, das Vorgegebene dem Gemachten durchweg vorgezogen. Negativ bewertete Zustände, die auf menschliche Intervention zurückgehen, werden als gravierendere Übel bewertet, als wenn sie natürlichen Ursprungs sind; natürliche Gefahren werden weniger gefürchtet und eher hingenommen als anthropogene Risiken, vielfach auch dann, wenn sie sich durch menschliches Eingreifen verhindern lassen („omission bias"); die Verwirklichung positiv bewerteter Zustände im Zuge des Naturverlaufs wird als günstiges Schicksal oder Gottesgeschenk begrüßt, gleichzeitig aber gezielte menschliche Interventionen zur Verwirklichung derselben Zustände verworfen. Die Gegenläufigkeit der moralphilosophischen und der alltagsmoralischen Bewertung von Natürlichkeit zeigt sich gegenwärtig u. a. in den Haltungen gegenüber innovativen Verfahren in der Biomedizin, insbesondere in der Genetik und der Reproduktionsmedizin. Die rapide zunehmenden Möglichkeiten steuernder Eingriffe haben in diesen Bereichen - anders als in anderen Bereichen der Medizin - nicht durchweg zur Akzeptanz der neuen Möglichkeiten gefuhrt, sondern gerade im Gegenteil zur Errichtung neuer Tabugrenzen für technische Eingriffe und zu einer auf den ersten Blick paradox wirkenden Aufwertung des Naturwüchsigen. Typisch dafür sind Slogans wie „Recht auf Zufall", „Unantastbarkeit der Gattungsgrenzen", oder Respektierung „der basalen Naturwüchsigkeit des Menschen". Zumindest da, wo neuartige Möglichkeiten der steuernden Intervention als diffus bedrohlich empfunden werden, sind Haltungen des passiven Gewährenlassens und des Interventionsverzichts („therapeutischer Nihilismus") rehabilitiert worden.

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Lässt sich dieses Festhalten des alltagsmoralischen Denkens an Natürlichkeit als Prinzip erklären? Mögliche Erklärungen bieten sich an, bleiben allerdings spekulativ. Die Überhöhung der außermenschlichen Natur zu einer gesetzgebenden Instanz muss gerade in Zeiten fehlenden metaphysischen Konsenses als eine Art „Gottersatz" attraktiv sein. Immerhin lassen sich der Naturordnung eine Reihe von Attributen zuschreiben, die sie zu einer Art „Gottersatz" geeignet erscheinen lassen: Sie ist zeitlich invariant („ewig"), transzendiert raumzeitlich den jeweiligen Erfahrungshorizont („unendlich"), lässt sich nur partiell beschreiben („unergründlich"), bietet aber (anders als Gott) die Möglichkeit zu einer intersubjektiv konsensfähigen Beschreibung und, als normative Autorität, Hoffnung auf eine „wissenschaftlich" begründete Moral. Möglicherweise lassen sich die idealisierenden Tendenzen aus einem umfassenden Harmoniebedürfnis erklären („just world hypothesis") oder auch aus dem Bedürfnis, sich mit dem, was man ohnehin hinnehmen muss, durch Aufwertung auszusöhnen (Dissonanzreduktion). Die Polarisierung zwischen Vertraut-Natürlichem und Unvertraut-Künstlichem entspricht dann dem Bedürfnis, gegen den vielfach als zu rasch empfundenen Wandel der Lebensformen und der Machbarkeiten einen Horizont von Normalität bzw. Bereiche der Unverfügbarkeit festzuhalten und gegen weitere Eingriffe zu immunisieren. So gegenwärtig die „natürliche" Fortpflanzung gegen die schnell zunehmenden Möglichkeiten einer technisch assistierten Reproduktion, die „natürliche" Eltern-Kind- oder Geschlechterbeziehung gegen die Ablösung der sozialen von der biologischen Bindung, das „naturwüchsige" Genom gegen gentechnische Veränderungen und den „natürlichen" gegen den „künstlichen" Menschen.

3. Menschenwürde

und der „Yuk-Factor"

Eins der Symptome dieser Aufwertung des Naturwüchsigen im Bereich der Biomedizin ist die zunehmende „Naturalisierung" des Be171

griffs der Menschenwürde. Dem Begriff der Menschenwürde werden zunehmend Funktionen übertragen, die ursprünglich von der philosophisch diskreditierten - Berufung auf Natürlichkeit übernommen wurden. Gegenstand der von dem Prinzip der menschlichen Würde geforderten Achtung ist dabei zunehmend nicht mehr (nur) der Mensch als bewusstes und in personale und gesellschaftliche Bezüge eingebundenes Individuum, sondern die diesem Wesen vorausliegende naturale Basis, insbesondere seine genetische Ausstattung und die Modalitäten seines Entstehens und Vergehens. Damit verschieben sich Begriff und Prinzip der Menschenwürde in eine zunehmend nicht mehr psychologisch und sozial, sondern biologisch bestimmte Richtung. Nicht mehr Würde im Sinn der Unantastbarkeit von Freiheit, Privatsphäre, Selbstachtung und Existenzminimum stehen im Vordergrund, sondern Würde im Sinn der Unantastbarkeit biologischer Strukturen und Verläufe. Als Kerngehalt des Menschenwürdebegriffs wird zunehmend nicht mehr die Autonomie der Person gesehen, sondern die Sakrosanktheit ihrer biologischen Substrate wie Leben und genetische Identität. Durch diese Ausdehnung des Menschenwürdeprinzips auf die naturalen Bedingungen personaler Existenz verschärft sich die insbesondere in der deutschen Bioethik vielfach konstatierte Tendenz zur Inflationierung der Berufung auf das Menschenwürdeprinzip. Das Menschenwürdeprinzip wird in vielen bioethischen Debatten als eine Art argumentativer „Joker" ausgespielt, der umstrittene Innovationen wie heterologe Insemination, In-vitro-Fertilisation, Leihmutterschaft, Keimbahninterventionen, Klonen sowie die zur (Weiter-)Entwicklung dieser Verfahren erforderliche Embryonenforschung verwirft, ohne sich dabei auf eine differenzierte Analyse der jeweiligen spezifischen Problemprofile einzulassen. Die ohnehin nicht besonders klare Kontur des Prinzips verschwimmt dabei teilweise bis zur Unkenntlichkeit. Auffällig ist besondere eine unzureichende Trennung zwischen Menschenwürde und Recht auf Leben. Angesichts des hohen Rangs des Schutzguts Menschenwürde im Grundgesetz kann jedoch eine Verwischung der Kontu172

ren dieses Prinzips nicht wünschenswert sein. Je mehr beliebige und zeitgebundene Inhalte in das Prinzip der Menschenwürde hineingelegt werden, desto größer wird die Gefahr, dass der Begriff seine unverzichtbare normative Kraft verliert und zur bloßen rhetorischen Geste wird. Damit würde ungewollt die bereits von Schopenhauer gegen Kant gerichtete Kritik bestätigt, nach der die zweite Formulierung des Kategorischen Imperativs, auf die der moderne Begriff der Menschenwürde zurückgeht, nichts anderes sei als das, was man heute eine Leerformel nennt: ein „bedeutend klingender und daher für alle die, welche gern eine Formel haben mögen, die sie alles fernem Denkens überhebt, überaus geeigneter Satz", der ohne weitere Konkretisierungen jedoch „ungenügend, wenigsagend und dazu noch problematisch" sei (Schopenhauer 1988, S. 412). Ist aber das Menschenwürdeprinzip nichts anderes als eine Art apotropäische Geste, die das Neue, Unvertraute, Unheimliche, das „Unnatürliche" mit einer magischen Formel abwehrt? Hat die Berufung auf die Menschenwürde gar keinen semantischen, sondern lediglich einen pragmatischen oder allenfalls ästhetischen Gehalt, ähnlich dem neuerdings vielbeschworenen „Yuk-Factor", dem „aus dem Bauch kommenden" Igitt!, mit dem das Monströse, das Entartete, das Ekelhafte, das als „unnatürlich" Empfundene begriffslos, aber dezidiert und hochemotional abgelehnt wird (vgl. Midgley 2000)? Ist die Ablehnung des Neuen und Unheimlichen im Bereich der technischen Zurichtung des Menschen als menschenwürdewidrig lediglich ein Symptom von emotionaler und moralischer Überforderung - eine verständliche und im Kern gesunde Reaktion auf die Zumutung einer allzu schnellen Verschiebung der für die Orientierung in der Welt unabdingbaren Grenze zwischen Gewordenem und Gemachtem (vgl. Norman 1996)? Das wäre zweifellos zu kurz gegriffen. Zwar weist der Begriff der Menschenwürde erhebliche Unbestimmtheiten auf Auch ist es richtig, dass die Berufung auf die Menschenwürde in vielen Diskussionen schlicht als „conversation stopper" fungiert, der eine Frage ein für allemal entscheidet und jede weitere Diskussion als unan-

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ständig erscheinen lässt. Aber beides zusammen heißt nicht, dass sich seinen Bedeutung in seiner Funktion erschöpft und dass sich über seinen semantischen Gehalt nichts sagen lässt. Ich glaube vielmehr, dass für ihn durchaus so etwas wie ein Bedeutungskern aufgewiesen werden kann, der sich durch alle verschiedenen Bedeutungen, die der Ausdruck annehmen kann, durchhält: Das Gemeinsame aller Verwendungen des MenschenwürdebegrifFs liegt in dem besonderen normativen Status, der dem Menschen als biologischer Gattung zugeschrieben wird. Der Begriff schreibt dem Menschen - als Individuum und als Gattung - eine besondere Wertigkeit zu, die ihn über die Individuen anderer biologischer Gattungen (bzw. über diese anderen Gattungen) hinaushebt und die von allen individuellen qualitativen Besonderheiten wie Entwicklungsstand, Fähigkeiten, Leistungen und besonderen Bedürftigkeiten unabhängig ist. Bereits aus dieser grundlegenden Gemeinsamkeit der vielfältigen Verwendungsweisen des Ausdrucks „Menschenwürde" ergeben sich wichtige Konsequenzen: Erstens ein strikter Egalitarismus. Menschenwürde kommt allen Menschen (bzw. allem Menschlichen) unabhängig davon zu, ob sie die spezifischen oder typischen Potenzialitäten dieser Gattung realisieren oder zu ihrer Realisierung auch nur fähig sind. Auch Menschen, die die für die Gattung Mensch charakteristischen Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein, Sprachfähigkeit, Kreativität und Moralität nicht verwirklichen oder nicht verwirklichen können, büßen damit ihre Menschenwürde nicht ein. Zweitens ein (wertneutral verstandener) Speziesismus. Menschenwürde kommt allen Angehörigen der biologischen Spezies Homo sapiens zu, und er kommt nur diesen zu. Hypothetische Marsbewohner, die in einigen oder allen für den Menschen charakteristischen Fähigkeiten dem Menschen überlegen, aber biologisch nicht mit ihm verwandt wären, kommen als Träger von Menschenwürde ebenso wenig in Frage wie dem Menschen in denselben Hinsichten überlegene Roboter. Dasselbe gilt für einzelne hochentwickelte Tiere, deren Fähigkeiten denen durchschnittlicher Men174

sehen zumindest nahekommen. Drittens die Ν ich tabstuflarkeit der Menschenwürde. Ahnlich wie der Personenbegriff lässt der Begriff „Menschenwürde" kein Mehr oder Weniger zu. Man kann nicht Menschenwürde in einem bestimmte Grade besitzen, man besitzt sie oder besitzt sie nicht.

4. Was heißt „Menschenwürde"? Dass man Menschenwürde nur ganz oder gar nicht besitzen kann, impliziert allerdings nicht, dass man deshalb Menschenwürde auch stets in ein und derselben Bedeutung besitzt. Die faktische Verwendung des Terminus in der Ethik, in der Alltagsmoral und im Recht lässt sich in der Tat nicht rekonstruieren, ohne für ihn eine Mehrzahl von Bedeutungen zu postulieren. Zwar stimmen diese Bedeutungen in den genannten Merkmalen des Egalitarismus, des Speziesismus und der Nichtabstufbarkeit überein. Sie unterscheiden sich jedoch sowohl in ihren deskriptiven Anwendungsbedingungen als auch in ihrem jeweiligen normativen Gehalt. Bei näherem Hinsehen erweisen sie sich als eine „Begriffsfamilie" im Wittgensteinschen Sinn, deren Mitglieder miteinander verwandt sind, aber dennoch klar gegeneinander abgegrenzt werden können. Der Anwendungsbereich des ersten und normativ stärksten Begriffs umfasst alle geborenen lebenden Menschen, der Anwendungsbereich des zweiten, normativ schwächeren Begriffs alle der biologischen Gattung nach menschlichen Wesen einschließlich menschlicher Leichname und menschlicher Embryonen von der befruchteten Eizelle an, der Anwendungsbereich des dritten Begriffs die menschliche Gattung als ganze. Dabei sind die Unterschiede zwischen den ersten beiden Begriffen ersichtlich weniger radikal als die zwischen den beiden ersten und dem dritten. In ihrer ersten und die zweiten Bedeutung bezieht sich Menschenwürde auf Individuen, in der dritten auf ein Kollektiv. In der ersten und zweiten Bedeutung hat „Menschenwürde" Individuen, in der dritten ein Kollektiv (die 175

ganze Gattung) zum grammatischen Subjekt. Entsprechend verschieden sind die Verhaltensweisen, durch die die jeweilige Würde geachtet oder missachtet wird. Menschenwürde im starken Sinn impliziert, dass ihr Träger eine Reihe von moralischen Rechten besitzt, die anderen bestimmte negative (Unterlassungs-) und positive (Handlungs-) Pflichten auferlegen. Dazu gehören, soweit ich sehe, mindestens die folgenden fünf Rechte: 1. das Recht, von Würdeverletzungen im Sinne der Verächtlichmachung und Demütigung verschont zu bleiben, 2. das Recht auf eine Minimum an Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, 3. das Recht auf Hilfe in unverschuldeten Notlagen, 4. das Recht auf ein Minimum an Lebensqualität im Sinne von Leidensfreiheit, und 5. das Recht, nicht ohne Einwilligung und in schwerwiegender Weise zu fremden Zwecken instrumentalisiert zu werden. Das Recht, vor Würdeverletzungen verschont zu bleiben, knüpft am nächsten an den Begriff der Würde im Sinne von Würdigkeit an und wird von daher vielfach als besonders zentraler Bedeutungsbestandteil gesehen. Das Recht auf ein Minimum auf Handlungsund Entscheidungsfreiheit gehört zu den ältesten Bedeutungskomponenten des Menschenwürdebegriffs, wird heute jedoch nicht mehr nur im Sinne einer Garantie minimaler moralischer Freiheit (die Freiheit zu tun, was man soll oder zu sollen meint, Gewissensfreiheit) verstanden, sondern vor allem auch als Garantie minimaler negativer Freiheit (die Freiheit, zu tun, was man will). Das Recht auf Hilfe in unverschuldeten Notlagen ist insbesondere durch die sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts in den Menschenwürdebegriff importiert worden. Heute kann es als mehr oder weniger unbestritten gelten, dass die Achtung der Menschenwürde nicht nur die Garantierung bestimmter minimaler Freiheitsrechte, sondern auch die Garantierung der elementaren Mittel zu ihrer Wahrnehmung - also ihre „Effektivierung" - beinhaltet, darunter insbesondere elementare Gesundheitsfürsorge, Bereitstellung von Wohnraum und Hilfe zum Lebensunterhalt. Ein noch jüngerer „Import" ist das Recht auf Leidensminderung, das mittlerweile zu einem festen

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Bestandteil des MenschenwürdebegrifFs geworden ist. Einem Menschen einen „würdigen" Tod im Sinne eines von schweren Leiden freien Todes zu ermöglichen, wird zunehmend als im Menschenwürdebegriff enthaltener Anspruch anerkannt. Soweit der erste und stärkste Sinn von Menschenwürde. Der zweite und schwächere Sinn wird gemeinhin nicht nur auf geborene Menschen, sondern auch auf die Vor- und Reststadien des Menschenlebens angewendet, etwa auf menschliche Embryonen und menschliche Leichname. Dieser Begriff schützt nicht irgendwelche Rechte des individuellen Embryos oder des individuellen Leichnams, sondern er schützt das Gattungsmäßige in beiden, das, was sie zu spezifisch menschlichen Wesen macht. Da menschliche Embryonen oder Leichname nicht gedemütigt, ihrer Freiheit beraubt oder in unverschuldeten Notlagen sich selbst überlassen werden können, scheint es nicht sinnvoll, sie dem Schutz des starken Begriffs (bzw. der starken Norm) zu unterstellen. Leichenschändung ist zwar eine Form von Demütigung und Verächtlichmachung, aber Gegenstand der Demütigung ist dabei nicht der Leichnam selbst, sondern der verstorbene Mensch. Ein Fetus kann möglicherweise durch böswillige oder fahrlässige Eingriffe so schwer geschädigt werden, dass das spätere Kind dadurch zu einem Leben unterhalb der Grenze dessen, was die Menschenwürde fordert, gezwungen wird. Aber hier werden Rechte des späteren Kindes und nicht Rechte des Fetus verletzt. Von den fünf aus der Menschenwürde im starken Sinne fließenden Rechten lassen sich allenfalls zwei auf die relevanten Fälle anwenden: die Verpflichtung, niemanden schwer leiden zu lassen (die auf den empfindungsfähigen Fetus anwendbar ist) sowie die Verpflichtung, niemanden in schwerwiegender Weise zu fremden Zwecken zu instrumentalisieren. Relevant fiir die Frage nach der möglichen Menschenwürdigkeit des künstlichen Menschen ist aber allein der dritte und normativ schwächste Begriff von Menschenwürde: die Würde der Gattung als solcher. Die Menschenwürde in diesem gattungsbezogenen Sinn kann auch dann verletzt sein, wenn weder zentrale moralische 177

Rechte eines menschlichen Individuums verletzt sind noch Vorund Restformen eines individuellen Menschenlebens unzulässig zu fremden Zwecken instrumentalisiert werden. Nicht zufällig ist einer der Kontexte, in denen der generische Begriff regelmäßig zitiert wird, die mögliche Erzeugung von Mischwesen aus Mensch und Tier, also etwa von Menschen und Menschenaffen. Wenn in diesem Zusammenhang davon die Rede ist, dass die Erzeugung solcher Wesen mit der „Menschenwürde" unvereinbar sei, geht es offensichtlich weder um eine Beeinträchtigung der individuellen Menschenwürde des Erzeugers noch um eine Beeinträchtigung der individuellen Menschenwürde des Erzeugten, sondern um eine Beeinträchtigung der Identität und Eindeutigkeit der Gattung als ganzer. Auch wenn es im individuellen Wohl des erzeugten Wesens liegende gute Gründe gibt, Experimente dieser Art zu unterlassen, so sind es doch nicht diese Gründe, die in diesem Fall die Berufung auf die Menschenwürde motivieren. Das den einschlägigen Verboten zugrundeliegende Motiv scheint vielmehr eine Art „Reinheitsgebot". Analog zu rassistisch motivierten Verboten von Mischlingsehen geht es darum, die Verwischung der Grenze zwischen der eigenen und fremden Gattungen zu verhindern. Wie der schwache Begriff individueller Menschenwürde ist auch der generische Begriff normativ sehr viel schwächer als der für geborene Menschen geltende Begriff. Vermischungen von menschlichen und tierischen Gameten, z.B. bei der Vitalitätsprüfung für menschliche Spermien, die dazu mit Eizellen von Hamstern zusammengebracht werden, gelten als nicht besonders anstößig, solange eine Weiterentwicklung der erzeugten Mischembryonen unterbunden wird. Ahnliches gilt für die Einbringung menschlicher Gene in transgene Tiere wie des Gens flir das menschliche Wachstumshormon in Mäuse. Solche Experimente, so kritisierbar sie sind, werden nur selten mit Hinweis auf die dadurch kompromittierte Menschenwürde kritisiert. Relevanter sind Argumente, die sich auf die Würde der beteiligten Tiere berufen oder quasi-ästhetische Argumente der Monstrosität oder Pervertiertheit solcher Züchtungen.

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5. „Künstlichkeit" - adverbial und prädikativ Bevor wir uns der Titelfrage nach dem Verhältnis zwischen Künstlichkeit und Würde des Menschen zuwenden, gilt es zunächst, eine Klärung des Ausdrucks „künstlich" vorzunehmen. Man kann unterscheiden zwischen einem adverbialen und einem prädikativen Sinn von „künstlich". Im adverbialen Sinn betrifft „künstlich" den Modus der Erzeugung eines Wesens, im prädikativen Sinn dessen Beschaffenheit. Ein künstliches Aroma kann künstlich hergestellt sein, ohne selbst seiner Beschaffenheit nach künstlich zu sein (es gilt dann als „naturidentisch"). Im prädikativen Sinne künstlich wäre es nur dann, wenn es nicht nur künstlich erzeugt wäre, sondern auch seiner Beschaffenheit nach künstlich wäre, d.h. in der Natur nicht vorkäme. Analog kann man von zwei idealtypischen Formen eines „künstlichen Menschen" sprechen: erstens einem Menschen, der künstlich erzeugt worden ist, aber seiner Zusammensetzung nach „natürlich" ist, zweitens einem Menschen, dessen Beschaffenheit oder Zusammensetzung gegenüber dem natürlichen Menschen auf technische Eingriffe zurückgehende Veränderungen aufweist. Dabei kann man für diese zweite Bedeutung noch einmal zwischen zwei Varianten von „qualitativer" Künstlichkeit unterscheiden: die Künstlichkeit, die darin besteht, dass ein Mensch nicht mehr nur aus biotischer, sondern aus andersartiger Materie besteht (etwa aus Siliziumchips), und der Künstlichkeit, die darin besteht, dass ein Mensch infolge gezielter Eingriffe in signifikanter Weise darüber hinausgehend von seinen natürlich vorkommenden Artgenossen abweicht. Ein künstlicher Mensch im ersten Sinne wäre einem alten Alleebaum vergleichbar, der zu großen Teilen nicht mehr aus Holz, sondern aus Zement und anderen Stützmaterialien besteht, sich seiner Erscheinungsform nach aber nicht signifikant von anderen, prothesenlosen Bäumen unterscheidet. Ein künstlicher Mensch im zweiten Sinne wäre einem Bonsai analog, der zwar nicht aus naturfremden Materialien besteht, aber infolge kunstvoller züchterischer Eingriffe

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seiner Erscheinungsweise nach von einem Baum normaler Größe signifikant abweicht. Dabei braucht die Abweichung nicht in jedem individuellen Fall auf einen technischen Eingriff zurückgehen. Der von der Naturform abweichende Mensch könnte die abweichende Form auch „natürlich" vererbt bekommen haben, analog zu den Nachkommen der Linie der transgenen Riesenmäuse, die ihre Ubergroße von ihren Vorfahren erben, ohne dass es eines gesonderten Eingriffs bedarf Lediglich am Anfang der Linie muss ein gezielter Eingriff stehen. Ein reiner Fall eines künstlichen Menschen im adverbialen Sinne, ein „naturidentischer" Mensch ist der potenzielle menschliche Klon, der aus einem künstlichen Prozess des Kerntransfers resultiert, sich seiner Beschaffenheit nach aber in keiner Weise von einem „natürlichen" Menschen unterscheidet. Wer seine Herkunft nicht kennt, wird ihn ohne weiteres fiir einen „natürlichen" Menschen halten. Ein reiner Fall eines künstlichen Menschen im ersten prädikativen Sinne wäre ein Prothesenmensch, dessen natürliche Funktionen weitgehend durch Apparate übernommen werden.1 In diesem Fall sind die Funktionen dieses Menschen zwar möglicherweise „naturidentisch", aber nicht die Medien oder Träger dieser Funktionen. Diese Funktionen würden von einem künstlichen Medium übernommen, d. h. von einem anderen Medium als dem, das wir als natürliche Voraussetzung und Grundlage dieser Funktionen kennen. Eine Reinform des im zweiten prädikativen Sinne künstlichen Menschen ist ein durch technische Eingriffe gezielt veränderter Mensch, etwa ein durch Gen-Doping in seinen athletischen Fähigkeiten gesteigerter Sportler, ein durch gezielte Selektion gezüchteter Stamm von Superdenkern oder ein durch Eingriffe in die Keimbahn gegen bestimmte Krankheiten resistente Linie von

1 / Nur „weitgehend" und nicht „gänzlich", denn ein Mensch, dessen Funktionen gänzlich - einschließlich der Steuerungsfiinktionen - von Apparaten ausgeführt werden, wäre ein Roboter und kein Mensch.

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Nachkommen. In diesem letzten Sinn besteht die „Künstlichkeit" dieser Menschen wesentlich darin, dass sie aufgrund gezielter technischer Eingriffe Eigenschaften aufweisen, die ohne diese Eingriffe entstandene Menschen nicht aufweisen. Bei diesen Menschen werden mit künstlichen Mitteln nicht nur Funktionen ersetzt, die durch Pathologien oder Unfälle ausgefallen sind bzw. Beeinträchtigungen kompensiert, die relativ zu den Fähigkeiten der überwiegenden Mehrheit von Menschen bestehen, sondern es werden Funktionen realisiert, die Menschen natürlicherweise nicht besitzen. Die Technik dient nicht nur dazu, Defizite zu beheben, sondern sie dient dazu, völlig neue Möglichkeiten - zum Guten wie zum Schlechten verfügbar zu machen. Mit den Prädikaten „unnatürlich", „widernatürlich" oder „frevelhaft" belegt und als tendenzielle Verletzungen der Menschenwürde abgewehrt werden im allgemeinen nur die erste und die letzte Weise der Verkünstlichung des Menschen. Nur in diesen beiden Fällen ist vielfach von moralisch bedenklicher „Hybris" oder von „Gott spielen" die Rede.2 Denn nur hier werden die Grenzen des Natürlichen in einem überindividuellen Sinn überschritten. Dagegen wird die künstliche Behebung oder Kompensation natürlicher Defizite (entweder in Hinsicht auf den individuellen oder den generischen „Normalzustand") nur selten als frevelhaft gebrandmarkt. Diese Korrekturen (etwa der Einbau eines Kunstherzens bei einem vom Tod bedrohten Herzkranken oder die Verabreichung eines gentechnisch hergestellten Wachstumshormons bei einem Zwergwüchsigen) verändern zwar die Natur des jeweils betroffenen Individuums, aber sie verbleiben in Rahmen der vorgefundenen Naturordnung. Im Extremfall würde dies sogar noch für Menschen gelten, deren gesamter Organismus durch technische Prothesen er-

2 / Interessanterweise jedoch nicht bei etablierten verbessernden Eingriffen wie bei der Impfung gegen Kinderkrankheiten oder der Kieferregulierung.

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setzt wäre, während nur ihr Gehirn weiterhin aus „natürlicher" biotischer Materie bestünde.3

6. Verletzt die künstliche Erzeugung des Menschen die menschliche Würde? Wenden wir uns also dem ersten von den beiden problematischen Fällen zu: der Ersetzung der natürlichen Entstehung des Menschen durch eine hochgradig künstliche wie beim reproduktiven Klonen. Dieses Verfahren ist „künstlich" in dem speziellen Sinn, dass es nicht lediglich eine natürliche und „normale" Funktion ersetzt oder kompensiert (wie die künstliche Insemination oder die In-vitro-Fertilisation, sofern diese nicht zu weiteren Zwecken wie etwa der gezielten Auswahl von Nachkommen eingesetzt wird), sondern dass es eine gänzlich neue, über den Rahmen des Natürlichen hinausgehende Möglichkeit eröffnet, in diesem Fall die gezielte und zeitlich versetzte (Beinahe-) Reproduktion eines lebenden oder verstorbenen Menschen. Verletzt das reproduktive Klonen die Menschenwürde? Nach dem Gesagten müssen wir diese Frage präzisieren: In welchem Sinne verletzt das reproduktive Klonen - falls überhaupt - die Menschenwürde? Als Ernst Benda, damals Präsident des Bundesverfassungsgerichts, 1985 die Auffassung vertrat, ein Klonen von Menschen sei mit der Menschenwürde unvereinbar, begründete er dies mit dem 3 / Auch hier gilt: Wäre auch dies durch eine technische Prothese ersetzt, hätten wir es nicht mehr mit Menschen, sondern mit Robotern zu tun, fur die sich Fragen nach der Menschenwürde nicht stellen. Mit Robotern hätten wir es wohl auch dann zu tun, wenn lediglich das Gehirn eine technische Prothese wäre und diese ansonsten „natürliche" biotische Organe steuerte. Allerdings stellt sich hierbei die schwierige Frage nach dem Umschlagspunkt: Wie viel von dem natürlichen Gehirn muss erhalten sein, um sagen zu können, dass es sich noch um einen Menschen und nicht um einen anthropoiden Roboter handelt? (Vgl. dazu auch Birnbacher 1998, S. 85)

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„elementaren Recht jedes Menschen, nicht die genetisch identische Kopie eines seiner Eltemteile zu sein" (Benda 1985, S. 224). Das klingt zunächst nach einem individuellen Rechtsanspruch im Sinne des individuellen Würdeprinzips. Die von Benda gegebene Begründung verrät allerdings, dass es sich bei diesem Postulat eher um eine Berufung auf das generische Würdeprinzip handelt. Denn Benda begründet seine Auffassung nicht mit möglichen Demütigungen oder Interessenverletzungen des Klons, sondern mit der These, Klonen sei dem „Wesen" des Menschen zuwider. Eine ähnliche Begründung gibt das Zusatzprotokoll zum Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarats vom Januar 1998: Das Klonen sei uneingeschränkt verboten, da es mit der Menschenwürde unvereinbar sei, und zwar deshalb, weil ein menschliches Lebewesen durch die bewusste Erzeugung als mit einem anderen genetisch (weitgehend) identisches menschliches Wesen instrumentalisiert werde. Es werde künstlich gezeugt, um einem anderen (lebenden oder verstorbenen) Wesen ähnlich zu sein. Diese Argumentation ist allerdings nur auf den ersten Blick plausibel. Bei näheren Hinsehen drängen sich mehrere Fragen auf: 1. Wer wird durch das Klonen instrumentalisiert? Als Mittel gebraucht wird ja zunächst nicht ein Mensch oder ein anderes der Ausnutzung und Ausbeutung fähiges Wesen, sondern Zellen und Zellbestandteile zusammen mit einer exotischen Fortpflanzungstechnik. Nicht ein Mensch, sondern eine bestimmte Methode der Erzeugung eines Menschen wird zum Mittel zu Zwecken gemacht. Nicht erst zum Zeitpunkt der Geburt des geklonten Nachkommens, sondern bereits zum Zeitpunkt des Lebensbeginns des Embryos gehört die Instrumentalisierung bereits der Vergangenheit an: Nach dem Vorgang des Klonens, der zur Entstehung eines Embryos fuhrt, wird dieser - anders als etwa bei der Keimbahnintervention - nicht weiter manipuliert. 2. Liegt das Würdeverletzende des Klonens darin, dass die Reproduktion beim Klonen zwangsläufig zweckgerichtet ist, indem sie von Anfang auf die genetische Kopie des „Originals" zielt? Dann 183

wäre allerdings schwer zu sehen, warum die Zeugung eines Kindes zu einem bestimmten Zweck menschenwürdewidrig (oder überhaupt nur moralisch bedenklich) sein soll, z.B. zu dem Zweck, einem bereits vorhandenen Kind ein Geschwister zu verschaffen, für das eigene Alter vorzusorgen, einen Erben für das Familienunternehmen zu haben, gesellschaftlichen Erwartungen zu genügen oder die Einsamkeit zu zweit zu bekämpfen. Dass Planung und Zweck-Mittel-Rationalität der Würde des Menschen zuwider sein sollen, ist um so unverständlicher, als diese ansonsten eher als Ausweis charakteristisch menschlicher Vollkommenheiten gelten. Die Fortpflanzung der Natur zu überlassen, verbindet uns eher mit den Tieren als mit den Göttern. Menschenwürdewidrig kann nicht die Zweckgesetzlichkeit als solche sein, sondern allenfalls der für einen anderen in concreto schädliche Zweck oder die für einen anderen in concreto schädlichen Mittel - z.B. dann, wenn der Zweck des Klonens die Erzeugung einer „Serien-Person" ist oder wenn der Geklonte ausschließlich und in einer für ihn selbst abträglichen Weise auf die Interessen anderer optimiert wird. Es ist aber keineswegs so, dass eine Instrumentalisierung der Fortpflanzung zu bestimmten Zwecken notwendig damit verbunden ist, dass der auf diese Weise Gezeugte selbst zum Gegenstand einer kritikwürdigen Instrumentalisierung oder einer anderweitigen Schädigung gemacht wird. Moralisch problematisch ist in jedem Fall nur die Schädigung des Klons selbst und nicht die Tatsache, dass seiner Erzeugung Zwecke zugrundeliegen. 3. Instrumentalisierung als eine Form der Indienstnahme zu fremden Zwecken ist weder eo ipso moralisch unzulässig noch stellt sie in jedem Fall eine Verletzung der Menschenwürde dar. Das gilt selbst dann noch, wenn es sich bei dem instrumentalisierten Menschen um einen Menschen handelt, der in diese Indienstnahme nicht eingewilligt hat oder nicht einwilligen kann. Kants zweite Formel des Kategorischen Imperativs besagt nicht, dass niemand als Mittel gebraucht, sondern dass niemand bloß als

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Mittel gebraucht werden darf, und dieses „bloß" lässt einen gewissen Interpretationsspielraum offen. Kant fur seinen Teil dachte u.a. an die Versklavung, an den Menschenhandel und an entehrende Strafen, also an Formen radikaler Herabwürdigung. Nicht jede unfreiwillige Indienstnahme eines anderen Menschen ist eine derart radikale Herabwürdigung. Falls das Klonen als solches und unabhängig von seinen Folgen für das konkrete Individuum die Menschenwürde verletzt, dann allenfalls die Würde der Gattung. Aber wird die Würde der Gattung verletzt, wenn diese in eben den Merkmalen fundiert ist, die den Menschen vom Tier unterscheiden, also in Eigenschaften wie Selbstbewusstsein, Denkfähigkeit, Autonomie und Moralität? Was beim reproduktiven Klonen verletzt wird, sind gerade nicht diese spezifisch menschlichen Prinzipien, sondern das gänzlich unspezifische Prinzip der Zufallskombination der Gene durch geschlechtliche Fortpflanzung. Dass aber gerade dieses Prinzip fur die besondere Würde der Gattung Mensch bestimmend sein soll, ist schwer einsichtig zu machen (vgl. Gutmann 2001, S. 373). Was an der Fortpflanzungsweise des Menschen sollte in spezifischer Weise würdestiftend sein?

7. Würdeverletzung des Menschen?

durch

Selbsttranszendierung

Das Ergebnis der bisherigen Überlegungen lautet, dass eine künstliche Erzeugung des Menschen die Menschenwürde allenfalls dann verletzt, wenn ihre Folgen derart sind, dass sie Menschen dazu zwingen, unter menschenunwürdigen Bedingungen zu leben. Keinesfalls kann aber die Künstlichkeit der Erzeugung selbst ein Grund für eine etwaige Menschenwürdewidrigkeit sein. Wenn künstliche Verfahren wie das reproduktive Klonen oder die Ektogenese (die vollständige Ersetzung der natürlichen Schwangerschaft durch einen Inkubator) moralisch kritikwürdig sind, dann allenfalls aufgrund 185

ihrer individuellen und sozialen Risiken. Was das Klonen betrifft, so scheint auf dem gegenwärtigen Stand des Wissens in der Tat ein reproduktives Klonen durch Kerntransfer moralisch unvertretbar. Dies aber nicht wegen der Künstlichkeit und Unnatürlichkeit (oder einer damit fälschlicherweise hergeleiteten Menschenwürdewidrigkeit) des Verfahrens, sondern aufgrund der physischen und psychischen Gefahrenpotentiale, denen auf der Gegenseite kein gleichwertiges Nutzenpotential gegenübersteht. Analoges muss für technische Eingriffe gelten, durch die bestimmte menschliche Eigenschaften oder Fähigkeiten verbessert oder vervollkommnet werden und mittels derer der Mensch seine eigene Natur über den historisch erreichten Stand der natürlichen Evolution hinaus weiterentwickelt. Wenn diese Versuche moralisch kritikwürdig sind, dann entweder wegen ihrer offensichtlichen Untauglichkeit, die angestrebten Ziele zu erreichen (dieser Kritik sind insbesondere alle bisherigen Versuche einer gezielten Eugenik ausgesetzt) oder wegen der Risiken, die sie für betroffene Individuen, für andere oder für die Gesellschaft insgesamt beinhalten. Demgegenüber können weder die Tatsache einer Veränderung der menschlichen Natur zum Besseren noch die Absicht auf eine Verbesserung der menschlichen Natur mit künstlichen Mitteln als solche als moralisch kritikwürdig oder sogar als menschenwürdewidrig gelten. Dieses Urteil wäre nur dann gerechtfertigt, wenn die menschliche Natur sakrosankt wäre oder wenn ein vorgegebenes „Wesen" des Menschen aufweisbar wäre, das menschlicher Selbstentfaltung und -gestaltung Grenzen setzte. Wie sollte sich aber eine Sakrosanktheit der menschlichen Natur begründen lassen? Die Freiheit des Menschen als „Freigelassenen der Schöpfung" besteht gerade auch in der Freiheit, seine eigene Natur zum Gegenstand planvoller Gestaltung zu machen. Der Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen, und Kultur zielt nicht nur auf die Uberwindung von Zufall und naturgegebenen Mängeln, sondern auch auf eine die natürlichen Vorgaben überbietende Selbstgestaltung. Diese Freiheit erstreckt sich auf seine geistige wie auf seine körperliche Seite. Was die letztere betrifft, so gehört zur Autonomie des 186

Menschen nicht nur die Freiheit, körperliche Beeinträchtigungen medizinisch zu korrigieren, sondern auch die Freiheit, seine naturgegebene Physis zu verändern, etwa durch Sport, Kosmetik und Körperdesign. Dass diese Selbsttranszendierungen, soweit andere betroffen sind, mit einer erheblichen Verantwortung zusammengehen, versteht sich von selbst. Diese Verantwortung ist jedoch kein spezifisches Merkmal und trifft in derselben Weise bloß korrigierende oder kompensierende Formen von Selbstgestaltung. Eine Begrenzung menschlicher Selbstvervollkommnung andererseits auf eine Wesensdefinition des Menschen zu gründen, wie es etwa Hans Jonas und in seinem Gefolge Ernst Benda (im Zusammenhang mit Fragen der Reproduktionsmedizin) versucht haben, ist ein intellektuell nicht weniger riskantes Unternehmen. Eine Wesensdefinition des Menschen ist entweder empirisch begründet und umfasst dann die Merkmale, die den Menschen erfahrungsgemäß kennzeichnen und von der übrigen Natur unterscheiden, oder sie stellt eine Norm auf, die sagt, wie der Mensch sein soll. In beiden Fällen ist von der Wesensdefinition keine überzeitliche Gültigkeit zu erwarten. Im ersten Fall ist die Wesensdefinition abhängig vom Stand der historischen Erfahrung, im zweiten Fall von den jeweils kulturell und historisch vorherrschenden normativen Menschenbildern. Zudem ist von einer rein empirischen Wesensdefinition von vornherein keine irgendwie geartete legitimierende oder kritische Funktion zu erwarten. Dass der Mensch so ist, wie er ist, kann für sich genommen nicht zeigen, dass er anders werden soll oder nicht anders werden darf. Ein im empirischen Sinne wahres Menschenbild gebietet oder verbietet nichts. Dass der Mensch infolge „genchirurgischer" Eingriffe möglicherweise zu einem „neuen Wesen" wird (Benda 1985, S. 231) oder dass funktionssteigernde apparative Einbauten das Wesen des Menschen verändern, wie es im Zusammenhang mit Warwicks Selbstversuchen von Winner befurchtet wird, besagt nichts darüber, ob die Veränderungen als Fortschritt und Vervollkommnung oder als Rückschritt und Regression gelten müssen. Versteht man den Begriff der Wesensdefinition andererseits in einem normativen Sinn, d.h. als ein 187

ideales Menschenbild oder eine Leitidee dessen, wie der Mensch sein soll, und verwirft eine technische Selbststeigerung als mit diesem Bild nicht vereinbar, so ist fraglich, ob damit fur die Praxis viel gewonnen ist. Geht man von dem aufklärerischen und im der westlichen Welt vorherrschenden Ideal aus, nach dem sich der Mensch als Individuum wie als Gattung zu einem möglichst autonomen und individuierten, seine natürlichen Neigungen möglichst souverän steuernden und zugleich sozial verantwortlichem Wesen entwickeln soll, ist schwer zu sehen, warum eine mögliche Vervollkommnung seiner physischen (einschließlich genetischen) Natur mit diesem Ideal weniger vereinbar sein soll als die traditionell aus diesem Ideal hergeleitete geistige und moralische Vervollkommnung. Man kann darüber streiten, ob man dieses weithin geteilte Ideal zugleich auch als Verpflichtung akzeptieren möchte und ob man heute noch so unbefangen wie Mill im 19. Jahrhundert sagen kann, dass „die Pflicht des Menschen bezüglich seiner eigenen Natur dieselbe ist wie seine Pflicht bezüglich der Natur aller übrigen Dinge, nämlich nicht, ihr zu folgen, sondern sie zu verbessern" (Mill 1984, S. 53). Aber auch wenn man nicht so weit geht, eine Pflicht im Selbstvervollkommnung zu fordern, so wird man doch „künstliche" - im adverbialen oder prädikativen Sinne Verbesserungen der menschlichen Natur zumindest soweit für erlaubt halten müssen, als sie mit den Idealen von Autonomie, Individuation, Selbststeuerung und sozialer Verantwortung nicht in Konflikt geraten. Zumindest solange dieses Ideal nicht gefährdet ist, kann es nicht unzulässig sein - oder gar menschenwürdewidrig -, die technischen Hilfsmittel, die heute zur Kompensation und Korrektur von angeborenen oder erworbenen Benachteiligungen entwickelt werden, darüber hinaus auch zur Steigerung von Fähigkeiten über das von der Natur vorgesehene Maß hinaus zu einzusetzen.4 4 / Ein Beispiel wären etwa die Gehirnimplantate, die es auch weitgehend gelähmten Patienten erlauben, durch bloße Gedankenanstrengung einen Mauszeiger über einen Bildschirm zu bewegen (vgl. Brooks 2002, S. 240). Es fällt nicht schwer, sich Einsatzmöglichkeiten solcher Hilfsmittel auch bei Gesunden vorzustellen.

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Kultur: Der künstliche Mensch im Spiegel seiner Rezeption

Bernd Flessner Emanzipation der Prothese und multitechnokulturelle Gesellschaft

„Das Paradoxon liegt darin, dass sich nicht der Punkt ermitteln lässt, an dem der nächste Schritt nicht mehr getan werden darf. Jeder Schritt bringt das Ideal [...] näher, aber dieses Ideal ist ein Geschöpf, das mit dem Menschen nichts mehr gemein hat." (Stanislaw Lern, Lokaltermin)

1 Sein genaues Alter kennt Kar. nicht, er weiß lediglich, dass seit seiner letzten Generalüberholung ungefähr 1500 Jahre verstrichen sind. Die Welt, in der er ewig lebt, ist unentrinnbar posthistorisch und die notorische Langeweile nur deshalb keine tödliche, weil es keinen Tod mehr gibt. Wer dennoch versucht, sich der Jahrtausende währenden Gleichförmigkeit des vollständig artifiziellen Daseins durch eine Selbsttötung zu entziehen, wird augenblicklich und exakt, von der molekularen Mikrostruktur bis zum letzten Gedankenmuster, rekonstruiert und wieder in die schon betagte, schöne neue Welt entlassen. Auch fiir Kar., der bereits mehrere Selbstmorde hinter sich hat, gibt es kein Entrinnen aus diesem ewigen Pseudoleben. Denn die Menschen dieser zukünftigen Welt sind die evolutionären Nachfolger des Homo sapiens, wissenschaftlichtechnisch perfektioniert, kontrolliert und unsterblich, irgendwann geschaffen von ihren sterblichen Vorfahren.

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Kar. ist der Held einer Erzählung des ungarischen Schriftstellers Gyula Hernádi mit dem Titel Homoprothesiensisr, er und die anderen Geschöpfe sind, wie der Titel treffend avisiert, vollkommene Prothesen des einst als unvollkommen interpretierten biologischen Menschen (Hernádi, 1974).

2 Hernádis dystopischer Entwurf eines endlosen und posthistorischen Weltendes ist indes weniger phantastisch, als es anmuten mag. Denn zu den nicht wenigen Möglichkeiten, der menschlichen Kulturgeschichte eine plausible Deutung zu verleihen, zählt auch jene, sie als Prozess fortschreitender Prothetisierung zu verstehen. Erst in jüngster Zeit haben Paläoanthropologen wie Phillip Tobias und Roland-Clarke unterstrichen, dass der Mensch ein Wesen ist, „das darauf spezialisiert ist, unspezialisiert zu sein" {Der Spiegel 38/1996). Diese einmalige Form der Spezialisierung basiert nicht, wie evolutionär üblich, auf einer biologischen Anpassung an sich permanent ändernde Umweltbedingungen, sondern auf einer kulturellen, die der biologischen an Schnelligkeit und Flexibilität weit überlegen ist. Mit dem Homo sapiens hat die Natur eine Spezies hervorgebracht, die dem Anpassungsdruck, dem jede Pflanze und jedes Tier im Laufe der Evolution ausgesetzt ist, durch den Bau von Prothesen also durch „die Exteriorisierung der technischen Organe", begegnet, wie der französische Paläontologe Andre Leroi-Gourhan 1964 schreibt (Leroi-Gourhan, S. 321). Der Mensch ist also aufgrund seiner anthropogenetisch erworbenen geistigen und körperlichen Fähigkeiten in der Lage, seinen Körper bei Bedarf um künstliche Körperbausteine zu erweitern. Nicht der Mensch passt sich seiner Umwelt an, sondern er rekonstruiert die Umwelt zum „artifiziellen Auswuchs des Körpers" (Baudrillard, S. 252). Dieser Prozess, die Menschwerdung der Welt, verwandelt im Laufe der Kulturgeschichte den vorgefundenen,

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natürlichen Raum in einen „humanisierten Raum" (Leroi-Gourhan, S. 395). Marshall McLuhans fast schon populärer These folgend, wonach elektronische Schaltkreise die logische Weiterentwicklung unseres Gehirns sind, so wie das Rad eine Fortentwicklung des Fußes ist, resümiert der MIT-Pionier und Computer-Kritiker Joseph Weizenbaum den Vorgang der Prothetisierung folgendermaßen: „Viele Maschinen sind funktionelle Erweiterungen des menschlichen Körpers, im wesentlichen Prothesen. Manche von ihnen, wie der Hebel und die Dampfschaufel, verstärken die rohe Muskelkraft derer, von denen sie bedient werden; manche, wie das Mikroskop, das Teleskop und verschiedene Messinstrumente sind Erweiterungen des menschlichen Sinnesapparats. Andere vergrößern die natürliche Reichweite des Menschen. Der Speer und das Radio ermöglichen beispielsweise dem Menschen, seinen Einfluss innerhalb eines Bereichs geltend zu machen, der den seiner Arme bzw. seiner Stimme übersteigt. Die verschiedenen Fahrzeuge ermöglichen dem Menschen, sich weiter und schneller fortzubewegen, als wenn ihn allein die Füße tragen würden [...]" (Weizenbaum, S. 38 f). Somit ist die Emanzipation des Menschen von der Herrschaft der Natur ohne den „Einfluss von prothesenartigen Werkzeugen auf die menschliche Transformation der Welt" (Weizenbaum, S. 39) gar nicht vorstellbar, der Emanzipationsprozess konvergiert vielmehr mit der fortschreitenden Prothetisierung. Seit dem Beginn der Aufklärung forcieren Vernunft, Wissenschaft und Technik die Prothetisierung der Welt, nicht zuletzt dadurch, dass die Emanzipation von der Herrschaft der Natur von der Aufklärungsphilosophie zum eigentlichen Ziel der menschlichen Kulturgeschichte erhoben wird. Die Aufgabe der Wissenschaft, schreibt etwa Francis Bacon in seiner Utopie Nova Atlantis (1638), ist „die Erkenntnis der Ursachen und Bewegungen sowie der verborgenen Kräfte in der Natur und die Erweiterung der menschlichen Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen" (Bacon, S. 205). Bacons Konzept einer vollständig umgewandelten

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und somit beherrschten Natur involviert in letzter Konsequenz auch den Menschen selbst, der ja, wie jede Pflanze und jedes Tier, Teil der Natur ist. Zum Programm der Wissenschaft zählen daher auch die Konstruktion von „künstlichen Menschen" und „durch Gleichmaß und Feinheit ausgezeichnete Automaten" (Bacon S. 212). Der Jahrtausende alte Mythos von einer zweiten Schöpfung, der zweiten Erschaffung des Menschen, gerinnt im Zuge der Aufklärung zu einem Postulat der Wissenschaft, die die magische Tradition der Alchimie fortfuhrt, indem sie sie ablöst. Aus der prima materia der Alchimie, die durch einen Prozess der Läuterung und durch magische Rituale nach und nach vervollkommnet werden sollte, wird der Rohstoff der durch chemische und physikalische Prozesse perfektioniert wird. Rohstoff und prima materia stehen für die noch nicht beherrschte, also die noch nicht in funktionelle Erweiterungen des menschlichen Körpers und Geistes umgewandelte Natur (vgl. Flessner 1997, S. 97 ff). Der Begriff Vollkommenheit ist eine absolute Metapher, die sich einer exakten Definition entzieht und einen unermesslichen Bedeutungsüberschuss impliziert. Vollkommenheit ist ein seit Jahrtausenden tradiertes Postulat, eine gleichfalls betagte wie aktuelle Utopie, eine Konstruktion des menschlichen Geistes, die uns ebenso zu beflügeln wie zu terrorisieren vermag, ein faszinierendes Telos, von Religionen, Philosophien und Ideologien immer wieder bemüht und immer wieder anders definiert, so dass sich im Laufe der Zeit ein weit gefächertes Angebot unterschiedlichster Vollkommenheiten angesammelt hat. Seit den Hochkulturen der Antike wird Vollkommenheit primär als göttliche Eigenschaft angesehen, doch auch der Natur, geometrischen Figuren und so manchem Kunstwerk wurde schon Vollkommenheit attestiert. Und seit der Antike stellt sich die Frage, wie der Mensch sich vervollkommnen, wie er den Göttern gleichen kann, Schöpfiingskraft und Unsterblichkeit inklusive. Vielfältig wie die möglichen Vollkommenheiten sind auch die von uns erdachten Wege, diese zu erreichen. An erster Stelle steht

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natürlich seit je her der richtige Glaube, denn wer ihn hat und die entsprechenden religiösen und moralischen Gesetze befolgt, wer Rituale und vorgegebene Lebensentwürfe praktiziert, den erwarten im Jenseits Himmel, Nirwana, Paradies und ein ewiges Leben, befreit von irdischen Sünden und anderen Unvollkommenheiten. Für das Abendland wurde somit die Devise ausgegeben: Imitatio Christi. Weitaus profaner sahen die Konzepte der Aufklärer aus, die auf eine Vervollkommnung im Diesseits und somit vor allem auf die richtige Erziehung und Ausbildung setzten. Jean-Jacques Rousseau führte uns das Schicksal seines Emile vor Augen. Bacon, Descartes, Voltaire und andere führten Ratio und Wissenschaft wider die tradierten Vervollkommnungskonzepte ins Feld: „Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen" (Horkheimer/ Adorno, S. 7). Gut hundert Jahre nach Bacons Nova Atlantis veröffentlicht der bretonische Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie sein Werk Vhomme machine {Der Mensch eine Maschine, 1748) und nährt nachhaltig die Vorstellung, dass auch der Mensch, nach eingehender Analyse, rekonstruierbar und somit selbst prothetisierbar ist. In diesem Standardwerk der Entzauberungsepoche versichert er seinen Zeitgenossen: „Der Körper ist nur eine Uhr" (de La Mettrie S. 87). Angeregt hat ihn auch der aus Grenoble stammende Mediziner Jacques de Vaucanson, der als Automatenbauer Karriere machte und 1738 seinen berühmten Flötenspieler der Öffentlichkeit präsentierte. Sein aus Holz konstruierter Musiker konnte Lippen, Finger und Zunge bewegen und zwölf Melodien auf einer Querflöte spielen. Ein Meisterwerk mechanischer Präzision und Urahn unserer heutigen Roboter. Auch seine Ente, die sogar die Verdauung von Körnern nachahmen konnte, beeindruckt La Mettrie nachhaltig, so nachhaltig, dass er seine Schrift einem klaren Ziel widmet; sie „diente als Anregung zur Vervollkommnung der mechanischen Menschenkonstruktionen" (Völker, Bd. 2, S. 257). Die Automaten

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Vaucansons sind fur ihn lediglich der Anfang eines umfassenden Neuschöpfungs- und Vervollkommnungsprozesses. De La Mettries berühmte Maschinen-Metapher involviert über eine bloße Reproduzierbarkeit hinaus auch die seit Jahrtausenden in vielen Varianten kursierende Idee einer Vervollkommnung des Menschen. Doch setzt seine Mensch = Maschinen-Analogie nicht auf den richtigen Glauben, das richtige Weltbild, die richtige ethnische Zugehörigkeit, die richtige Partei oder die richtige Erziehung, um einen vervollkommneten oder neuen Menschen zu schaffen, vielmehr zielt seine These auf eine wissenschaftlichtechnische Perfektionierung des Menschen ab. Denn ist der Mensch als mechanische Apparatur interpretierbar, lässt er sich auch, wie jede Maschine, verbessern und weiterentwickeln (Passmore, S. 197 ff)

3 Moderne und Industrielle Revolution folgen konsequent dem Naturbeherrschungskonzept Francis Bacons und sorgen dafür, dass immer mehr Natur immer schneller in immer neue Prothesen und deren Metabolite verwandelt wird. Rasch wachsen die separaten Prothesen zu einem globalen Prothesensystem zusammen, zu einer „Megamaschine" (Eurich 1988) die die Natur auf eine museale und residuale Kategorie reduziert. Dieser humanisierte Raum, diese zu einem komplexen System verzahnten, prothesenartigen Auswüchse des menschlichen Körpers umgeben seinen Schöpfer als zweite Natur wie einst die ursprüngliche Umwelt. Folgt man dieser Deutung, so sind die in der Gegenwart verstärkt auftretenden Krisen, vom Ozonloch bis zum Treibhauseffekt, vom Verkehrsinfarkt bis zum Super-Gau, keine Umwelt-, sondern Prothetisierungskrisen, die die Machbarkeit der vollständigen Umgestaltung der Welt vermehrt in Frage stellen. Überdies verdeutlichen jene Krisen, dass die Geschichte der Prothetisierung keineswegs nur eine des Triumphes ist; sie ist zugleich auch eine Verlustgeschichte.

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Wie keine andere Epoche entledigt sich die Moderne zum Teil über Jahrhunderte gemachter Erfahrungen, Kenntnisse, Traditionen und nicht zuletzt Zugänge zur Natur, die rasant der „Verwandlung der Welt in Industrie" (Horkheimer/Adorno, S. 37) zum Opfer fällt. Doch auch der Mensch ist Natur und bleibt daher vom fortschreitenden Prozess der Prothetisierung, den er selbst initiiert hat und auf dem sein Erfolg als Gattung beruht, nicht ausgenommen. An ihm offenbart sich vielmehr die Dialektik der Prothese, denn während er die Welt zum humanisierten Raum kultiviert, bewirkt der Mensch seine eigene Dehumanisation. Dieser auch als Verdinglichung des Menschen interpretierte Vorgang findet seinen ersten umfassenden Niederschlag in La Mettries Mensch=Maschine-Analogie und seine Fortsetzung in der Instrumentalisierung und Objektivierung des Menschen durch das Industriezeitalter, das den Körper „durch unzählige Körperprothesen verwüstet" (Baudrillard, S. 257). Eingebettet in das ihn umgebende Prothesensystem, sieht sich der Mensch zunehmend einem Anpassungsdruck ausgesetzt, wie ihn einst die Evolution und die natürliche Umwelt ausgeübt haben. So gerät er vom Regen in die Traufe. Dem Zugriff der Natur mehr und mehr entflohen, wird der Mensch nun zusehends konfrontiert mit dem Zugriff der funktionellen Erweiterungen seines Körpers und Geistes, die jene Flucht überhaupt erst ermöglichten. An die Stelle des Selektionsprinzips tritt gewissermaßen die „Herrschaft der Gebrauchsanweisung" (Mahr, S. 89 ff) der Megamaschine. Auf diesen zunehmenden Anpassungsdruck reagiert die moderne Naturwissenschaft mit einer Aktualisierung von La Mettries Analogie, die einerseits von der Transplantationsmedizin tendenziell bestätigt, andererseits von der KI-Forschung zur Analogie Mensch = datenverarbeitende Maschine erweitert wird. Die Pioniere Alan Turing und Norbert Wiener schaffen in den fünfziger und sechziger Jahren die philosophischen Grundlagen für diese nun auch den menschlichen Geist erfassende Aktualisierung. (Turing 1987; Wiener 1964) Eine Verkörperung der kybernetischen Theorien in neu-

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en Prothesen lässt nicht lange auf sich warten. So kann Robert Jungk nach seinem Besuch der neu gegründeten Zentren der zweiten Schöpfung in den USA 1952 schreiben: „Welch zahmer Stümper war Prometheus, verglichen mit seinen fernen amerikanischen Nachfahren!" (Jungk, S. 14) Im Visier der Wissenschaft sieht der junge Zukunftsforscher, nachdem große Teile der Natur zumindest tendenziell beherrschbar geworden sind, „die seit Menschengedenken kaum erschütterten Wirkungsformen der Schöpfung" (ebd.). Der Mensch selber rückt unaufhaltsam ins Zentrum der Prothetisierung. Der Externalisierung und Mechanisierung körperlicher Fähigkeiten folgt die Externalisierung des Denkens. Zwar verfügte der Mensch in Form von Bildern, Zeichen und Schriften bereits über diverse mnemotechnische Prothesen, mit denen er sich Wirklichkeit aneignete, sie tradierte, reflektierte und konstruierte, doch fungierten sie vornehmlich als passive Speicher. Auch die seit Blaise Pascal bekannte mechanische Rechenmaschine (1642) stößt schnell an ihre Grenzen. Erst die Erfindung des Computers in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts erlaubt es, ganz bestimmte menschliche Denkprozesse zu formalisieren und dadurch einer Maschine zu übereignen. „Ein Computer", schreibt Friedrich Dürrenmatt, „ist eine Prothese des menschlichen Hirns" (Dürrenmatt, S. 10), oder er ist, falls man der Kompetenz eines Medienphilosophen wie Vilém Flusser eher zu folgen bereit ist, „eine Prothese des Zentralnervensystems" (Flusser 1992, S. 34). Diese zweite Stufe der Prothetisierung veränderte, wie wir alle wissen, in nur wenigen Jahrzehnten die Welt in einer Weise, wie sie bislang unvorstellbar und für evolutionäre Dimensionen geradezu ketzerisch-revolutionär war. Diesem Triumph ist jedoch auch ein fester Platz in der bereits erwähnten Verlustgeschichte sicher, denn die Ubereignung bestimmter Denkvorgänge an externe Denkprothesen bleibt fur den Ubereigner, also den Menschen, nicht folgenlos. Kritiker dieser Übereignung, wie Joseph Weizenbaum oder Theodore Roszak, weisen immer wieder auf den

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„Verlust des Denkens" (Roszak 1986; Weizenbaum 1978) und die zunehmende Autonomie der Denkprothesen hin, die ohnehin das menschliche Denken auf seine formalisierbaren und reproduzierbaren Aspekte reduzieren. Am Ende des 20. Jahrhunderts resümiert Jean Baudrillard den erreichten Stand der Prothetisierung folgendermaßen: „Das Ganze des menschlichen Wesens, seine biologische, muskuläre, tierische Körperlichkeit ist in die mechanischen Prothesen übergegangen. Nicht einmal mehr unser Gehirn ist in uns verblieben, sondern flottiert in den unzähligen Hertzschen Wellen und Vernetzungen, die uns umgeben" (Baudrillard, S. 253).

4 So stellt sich uns heute, in unserem längst vielnamigen Zeitalter, das erst das der Technik und des Atoms, nun das der Information, der Medien, der Gentechnik und des Computers ist, die Frage nach dem weiteren Verlauf und möglichen Ziel des fortschreitenden Prothetisierungsprozesses. Lässt sich also, wie der polnische ScienceFiction-Autor und Philosoph Stanislaw Lem 1964 in seiner Summa technologiae fragt, aus der bisherigen „technologischen Evolution" eine „teleologische Struktur" (Lem 1981, S. 21) ableiten? Diese Frage, die letztlich die nach dem Fortbestand der bisherigen menschlichen Zivilisation ist, glauben namhafte Vertreter der Künstlichen Intelligenz schon lange beantworten und bejahen zu können. Seit die Künstliche Intelligenz 1956 auf einer Konferenz am Dartmouth College ihren Namen erhalten hat, plädieren führende Pioniere der neuen Disziplin wie Marvin Minsky, Norman Stuart Sutherland, Raymond Kurzweil oder Robert Jastrow fur eine neue Rolle des Menschen im Spiel der Evolution. Sie identifizieren im nach wie vor als unvollkommen interpretierten Menschen eine Art Missing link, das zwar den Höhepunkt der biologischen Evolution, zugleich jedoch auch deren Ende und Abschluss darstellt. Den Sinn seiner Existenz sehen sie in seiner Aufgabe, einen oder mehrere vollkommene 201

Nachfolger von sich selbst zu erschaffen und somit ein ebenso postbiologisches wie posthumanes Zeitalter anbrechen zu lassen. „Dies kann man", erklärt Hans Moravec, Roboterexperte an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh und derzeit wohl bekanntester Apologet der Posthumanität, „als eine völlig natürliche Entwicklung betrachten". (Moravec, S. 98). In Mind Age, seinem aktuellen Buch, in dem die Thesen seines vorangegangenen Werkes Mind Children - der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz noch vertieft werden, datiert er den Abschluss des erforderlichen Schöpfungsaktes auf das Jahr 2040. Spätestens von diesem Zeitpunkt an sollen universelle Roboter der sogenannten vierten Generation das kulturelle Erbe der Menschheit antreten und fortfuhren. „Unser biologisches Erbe", meint Moravec, „wird wahrscheinlich nicht verloren gehen - es wird in Zoos und Libraries sicher aufbewahrt, auch wenn seine Bedeutung in großem Maße abnehmen wird. Der vollkommen intelligente Roboter [...] wird frei von biologischen Grenzen existieren" (ebd., S. 98) Nicht wenige seiner Kollegen pflichten ihm bei und widersprechen somit dem gelegentlich vorgebrachten Argument, bei Hans Moravec handele es sich um einen verwirrten Jünger der KI-Forschung. Lediglich im Detail weichen nämlich die Konzepte anderer Wegbereiter einer posthumanen Kultur voneinander ab. Der KI-Pionier Marvin Minsky folgt den Thesen von Hans Moravec; schon 1980 gab er den Menschen den Rat, „sich in Maschinen zu verwandeln, denn wenn sie ihre Intelligenz in eine andere Verkörperung zu übertragen vermögen, könnten sie in der Lage sein, ewig zu leben und sich fortzuentwickeln." (Minsky, S. 332) Nicht nur perfekte Maschinen zu konstruieren, ist somit das Ziel, sondern selbst zur Maschine zu werden. Schon 1968 ahnt der KI-Pionier Norman Stuart Sutherland, dass wir bald „in der Lage sind, eine mit höherer Intelligenz begabte Spezies zu schaffen, die uns als Herren der Erde verdrängt" (Sutherland, S. 31). Will Minsky wie Moravecs den Menschen abschaffen, plädiert Luc Steels, Direktor des Artificial Intelligence Lab der Freien Universität

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Brüssel, fur eine informationstechnologische Anpassung des Menschen an sein inzwischen intelligentes Prothesensystem. Steels möchte also den Menschen bis zu einem gewissen Grad erhalten und der Gefahr, dass dieser in naher Zukunft von seinen eigenen Prothesen überrundet und dominiert wird, durch eine direkte Vernetzung von Hirn und Hirnprothese entgegenwirken. Der Mensch soll seiner Meinung nach mit Hilfe von implantierten Interfaces und Neurochips vervollkommnet und informationstechnologisch nachgerüstet werden. Sein biologisches Mensch-Sein endet somit, denn der Mensch wird zum Cyborg, zum kompatiblen Segment seines eigenen globalen Prothesensystems. Die ersten Schritte sind bereits getan, denn seit gut fünfzehn Jahren wird weltweit an Chips gearbeitet, die mit dem Nervensystem kompatibel sind. Im August konnte das Münchener Max-Planck-Institut für Biochemie einen weiteren Erfolg auf dem Weg zur neuronalen Prothese verkünden, nämlich eine dauerhafte Verbindung von Nervenzelle und Chip, die die Übertragung von Information erlaubte. Peter Fromherz, Leiter des Projektes machte in einem Interview mit t-online die Tragweite des gelungenen Experimentes deutlich: „Das ist ein Quantensprung in unserer bisherigen Forschung" (t-online). Der Stecker hinterm Ohr als Interface ist eine ebenso alte wie scheinbar triviale Idee der Science Fiction. Schon Kurd Laßwitz beschreibt in seiner Erzählung Gegen das Weltgesetz, erschienen 1877, eine ferne Zukunft, in der es möglich ist, „unmittelbar, ohne Vermittlung der Sinne, auf das Bewusstsein durch direkte Reizung der betreffenden Gehirnpartien zu wirken." (Laßwitz, S. 284). Die von Laßwitz erdachte Apparatur heißt „Psychokinet" und ist durch sogenannte „Zufühler" mit dem Gehirn verbunden und erlaubt die Übertragung von Wissen ebenso wie die von Unterhaltungssoftware (ebd.). Die direkte Vernetzung eines Speichermediums mit dem Gehirn ist auch ein Thema in Friedrich Thiemes Erzählung Das Warenhaus der Zukunft (1909). Zu den verschiedenen Angeboten des in satirischer Form beschriebenen Warenhauses zählt auch die Möglichkeit, sich

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Wissen oder eine Sprache unmittelbar ins Gehirn einspeisen zu lassen. Durch eine kleine Öffnung im Schädel werden Drähte eingeführt, die mit einem besonderen Phonographen verbunden sind. Die gespeicherten Inhalte können nun auf die Hirnzellen übertragen werden. Ergänzt wird diese Cyberspace-Variante durch die Projektion eines plastischen Tonfilms. Reisen in ferne Länder und die Begegnung mit anderen Menschen werden so ohne große Mühen möglich. Einfach vom Kaufhaus aus, in dem Wirklichkeit längst eine Ware wie jede andere ist. In Zukunft, so die These der Erzählung, sind Erfahrungen, Erlebnisse und Realitäten genauso käuflich wie Kleider oder Lebensmittel. Die bessere und schönere Welt ist die der Datenspeicher und digital generierten Realitäten (Flessner 1998, S. 76). Diese These gilt auch für das Konzept Vilém Flussers, der den menschlichen Körper weder durch einen Roboter ersetzen noch durch Prothesen nachrüsten will. Er prophezeit vielmehr eine „Schrumpfung des Körpers" zugunsten einer „telematischen Gesellschaft", deren Mitglieder als digitalisierte Datenwesen in Rechnern und Datennetzen ein ewiges Software-Dasein führen (Flusser 1985, S. 144f). Wenige Jahre später schließt sich der amerikanische Physiker Frank J. Tipler diesem Konzept an. Auch er setzt auf den Computer als Garant für die (digitale) Unsterblichkeit und einsäkularisiertes Jenseits (Tipler 1994). Selbstverständlich will auch die Gentechnologie die posthumane Geschichte mitgestalten, sie konstruiert zwar keine Roboter, doch ist auch ihr Vorbild die Maschine, denn die von ihr initiierte Vervollkommnung des Menschen orientiert sich an deren Eigenschaften. Gleich dieser wird der Mensch als reparierbar und perfektionierbar angesehen, als Maschinenwesen, für das Ersatzteile gezüchtet werden können, das geklont, also reproduziert werden kann, letztendlich beliebig oft, ein Industrieprodukt wie ein PC. De La Mettries Maschinen-Metapher ist auch hier das Agens der Neuschöpfungsutopie. Die Gentechnologie lässt sich allerdings auf einen Wettlauf mit den KI-Laboratorien ein, vielleicht in der Hoff-

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nung, den Menschen davor bewahren zu können, zum musealen Geschöpf zu werden. „Warum auch sollte man den Menschen nicht .verbessern'?", fragt der Bonner Neurophysiologe Detlef B. Linke provozierend und sieht in der Möglichkeit, Gehirne oder Gehirnteile zu verpflanzen, „die erste Unsterblichkeit auf Erden" (Linke 1993, S. 308). Weitere sollen folgen. Die Säkularisation des Jenseits hat also, je nach Wahl der Prothetisierungsgrades und ihrer -Varianten, viele Gesichter. Dem Menschen, so wie wir ihn kennen, geben jedenfalls die genannten Posthumanisten keine Chance. „Auf lange Sicht sind wir natürlich völlig obsolet" (Moravec, S. 106), urteilt Hans Moravec, und auch für Luc Steels steht fest, dass der Mensch ausgedient hat und sich allenfalls fiir die eine oder andere Variante der Posthumanität entscheiden kann: „Entweder es entsteht der Homo cyber sapiens oder der Robot hominidus intelligens" (Steels, S. 21), konstatiert er 1995 auf einer Tagung in München.

5 Einst dominierte der Mensch seine Prothesen; heute dagegen ist das Prothesensystem so allgegenwärtig und komplex, dass es zunehmend Autonomie gewinnt und nun seinerseits den Menschen zu dominieren droht. Treffen die Sehnsüchte und Schöpfungsträume der KI-Forscher und Gentechniker zu, so wird, meint Jean Baudrillard, „der Körper selbst zum künstlichen Auswuchs des Menschen und der Mensch zum künstlichen Auswuchs seiner eigenen Prothesen" (Baudrillard, S: 253). Als Instrument zur Herrschaft über die Natur ins evolutionäre Spiel gebracht, gewinnen die Prothesen jetzt selbst Herrschaft. Als zweite Natur umgeben sie den Menschen wie einst die erste und diktieren Verhaltensweisen und Überlebensstrategien; sie sind im Begriff sich von der Herrschaft des Menschen zu emanzipieren, wie dieser sich einst von der Herrschaft der Natur emanzipiert hat. Aus der domi-

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nierten wird die emanzipierte Prothese (Flessner 1991, S. 346). So gesehen, antizipieren Moravec & Co bereits den Triumph des neuen Herrn und schlagen sich auf die Seite des möglich-wahrscheinlichen Siegers. Und dies gelingt ihrer Ansicht nach nur durch die Aufgabe des bisherigen biologischen Menschen zugunsten eines teilweise oder vollständig prothetisierten. So soll der Mensch davor bewahrt werden, als Relikt einer antiquierten Dynastie zum Befehlsempfänger einer neuen zu werden. Hinter diesen Vorstellungen verbirgt sich nicht nur der alte Mythos einer zweiten Schöpfung, sondern auch die Furcht vor den Maschinen und der Neid auf sie; das Vervollkommnungskonzept lautet nicht mehr lmitatio Christi\ wie in vorangegangenen Epochen, sondern Imitatio tnachinae. Aus dem Neid auf die Götter, ihre Schöpferkraft und Unsterblichkeit wird der Neid auf die Maschinen. Gefangen im Netz seines eigenen Prothesensystems, dessen Entwicklung längst eine unüberschaubare Eigendynamik erlangt hat, wird die Maschine zum Ideal erhoben und der Mensch selbst für maschinenwürdig erachtet. Im Gegenzug erhalten intelligente Maschinen den Status der Menschenwürde, werden, wie populäre Leinwand-Epopöen von RoboCob bis zum Terminator zeigen, zu überlegenen, väterlichlichen Partnern und Vorbildern ihrer zusehends unterlegenen Schöpfer (Spreen 1995; Flessner 2000). Der zur totalen technischen Prothese vervollkommnete Mensch avanciert zum Leitbild unseres Fin de siècle. Der Mensch, verheißt dieses Leitbild, kann in seiner Prothesenwelt nur überleben und sich entwickeln, indem er sich neu erschafft. Inzwischen sind die Schatten, die die posthumane Kultur vorauswirft, so evident, dass diese nicht mehr als bloße technische Utopie bzw. Dystopie abgetan werden kann. Die Konvergenz wissenschaftlicher, literarischer und philosophischer Ideen ist kaum mehr zu übersehen. „Wer meint, so etwas töne sehr nach Science Fiction, hat nicht verfolgt, was sich in den Biowissenschaften getan hat", schreibt der amerikanische Politologe Francis Fukuyama und sieht seine 1992 aufgestellte These vom Ende der Geschichte durch die 206

sich abzeichnende Entwicklung bestätigt: „Wir werden das Ende der menschlichen Geschichte tatsächlich herbeigeführt haben, weil wir dem Menschen, wie wir ihn kennen, ein Ende bereitet haben. Dann beginnt in der Tat eine neue, eine posthumane Geschichte." (Fukuyama 1999). Auch der renommierte Genforscher Lee Silver (Princeton University) bemüht die Science Fiction und erklärt: „Aus Science Fiction ist Science-fact geworden, die Zukunft ist bereits Realität. Jetzt wird alles möglich, alle Grenzen sind gefallen." (Der Spiegel 6/1998, S. 183). Die Elmauer Rede des Philosophen Peter Sloterdijk über die Möglichkeit von Menschenzüchtungen sowie die heftigen Reaktionen auf seine Äußerungen sind ebenfalls ein Indiz für das Herausziehen eines Zeitalters der Posthumanität zu werten (Sloterdijk 1999). Wer sich nun noch immer im Reich der Utopie wähnt, werfe einen Blick auf die Webseiten des Artificial Intelligence Laboratory des Massachusetts Institute of Technology (www.ai.mit.edu/projects/ humanoid-robotics-group/cog/cog.html) und verfolge die Fortschritte beim Bau des humanoiden Roboters Cog. Das von dem Roboterexperten Rodney Brooks konzipierte Projekt sieht die Konstruktion eines Roboters vor, der „in seinen Ausmaßen und seiner Bewegungsfähigkeit dem menschlichen Körper so ähnlich wie möglich sein soll; damit der Roboter ähnliche körperliche Erfahrungen macht wie der Mensch, soll auch das Hirn des Roboters dem menschlichen Hirn möglichst ähnlich sein (Foerst 1996, S. 22). Und Cog scheint zu gelingen, denn es ist schwer, schreibt Anne Foerst, „sich der Faszination zu entziehen, wenn man vor dem Roboter steht, dieser Augenkontakt herstellt und seine Hand, wie ein Neugeborenes, um die menschliche Hand schließt (Foerst 1997, S. 20). Cog ist jedoch kein posthumanes Einzelkind, sondern erhält derzeit vor allem in amerikanischen und japanischen Instituten stattliche humanoïde Geschwister. Und auf das Humanoïde legen Rodney Brooks und seine Schöpferkollegen großen Wert, denn für sie ist die Zeit insektenähnlicher Krabbelroboter vorbei; für sie ist der künst207

liehe Mensch das erklärte Ziel, die emanzipierte Prothese, somit unser evolutionärer Nachfolger, der uns als Missing link in Reservaten und Genbanken zurücklässt. „The motivation behind creating Cog is the hypothesis: Humanoid intelligence requires humanoid interactions with the world" (www.ai.mit, a.a.O). Ob die Konstruktion eines Homo prothesiensis, in welcher Variante auch immer, tatsächlich gelingt und aus dem Mensch-Sein ein Maschine-Sein wird, bleibt indes offen. Zu oft schon hat uns die Technikgeschichte überrascht und uns Entwicklungen verweigert, während andere unerwartet schnell realisiert wurden. Doch schon 1952 war sich Robert Jungk sicher, dass die modernen Schüler Prometheus, die sich auf die Seite des möglich-wahrscheinlichen Siegers geschlagen haben, nicht so leicht aufgeben werden: „Dies ist eine Verschwörung, die ihres Erfolges so sicher ist wie nur je eine andere revolutionäre Bewegung" (Jungk, S. 14). Die Ansicht schließlich, der Mensch werde ausgerechnet in diesem Fall darauf verzichten, die ihm nunmehr gegebenen Möglichkeiten auch zu realisieren, muss angesichts entsprechender historischer Erfahrungen als weltfremd angesehen werden: So konstatiert Hans Jonas schon 1985: „Kein Wunsch ist so pervers (wie der nach Selbstreziplierung) oder so wissenschaftsfanatisch (wie der nach erbgleichen Forschungssubjekten), als dass er nicht beim Angebot seiner Erfüllbarkeit Bieter und Fürsprecher unter den Kindern Adams und Evas fände." (Jonas, S. 185 f.) Oder, wie Detlef B. Linke 1997 treffend kommentiert: „Die Achtung des Klonens beim Menschen ist so selbstverständlich wie seine baldige Verwirklichung" (Der Spiegel, 11/1997, S. 228). Für Kar., den Homo prothesiensis aus Gyula Hernádis Erzählung, gewissermaßen die realisierte Utopie Hans Moravecs und Marvin Minskys, findet nach Jahrtausenden eines sinn- und lustfreien, weil ewigen Pseudolebens die Erlösung erst durch die totale Zerstörung der Prothesenwelt statt. Erst der Finis mundi hat die Verlustgeschichte, die den Triumph der zweiten Schöpfung begleitet, wieder aufgehoben und den Tod reaktiviert. Und mit ihm, und sei es

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flir eine noch so kurze Zeit, das Lachen und Weinen, das Genießen und Empfinden des biologischen und sterblichen Lebewesens Mensch. Gyula Hernádis Erzählung ist eine Dystopie, die ein mögliches Telos der (Nach) Geschichte beschreibt, eine Säkularisation des Jenseits, die sich als Säkularisation der Hölle erweist. In der Welt der Unsterblichen verbleibt als einziger und letzter Wunsch der nach Sterblichkeit.

6 Dass wir auf ein postbiologisches, posthumanes Zeitalter zusteuern, auf eine umfassende Konvergenz von Bio- und Techno-Evolution, steht außer Frage. Offen ist, wie die Menschen die sozialen Folgen einer wie auch immer realisierten zweiten Schöpfung verarbeiten werden, wie sie „in einer Welt leben, in der die Mikrowelle einem geistig überlegen ist?" (Steinmüller, S. 373). Wie werden wir mit geklonten Menschen, Homunculi, Cyborgs, digitalen Intelligenzen und Robotern umgehen? Werden wir den Menschen weiterhin primär als biologisch definierte Spezies sehen oder, wie Hubert Markl, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft dies jüngst eingefordert hat, das Mensch-Sein primär als kulturell definiert betrachten? (Markl 2001) Schließt die biologische Definition eine Akzeptanz einer zweiten Schöpfung weitgehend aus, eröffnet die kulturelle Definition die Möglichkeit einer technomultikulturellen Gesellschaft, deren Ethik nicht auf einem bestimmten genetischen Code oder bestimmten chemischen Grundbausteinen wie Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff basiert. Der Ubergang zu dieser multitechnokulturellen Gesellschaft findet indes längst statt, auch wenn dieser nur von Teilen der Gesellschaft als solcher wahrgenommen wird. Während einerseits, wie die Sloterdijk-Debatte zeigt, noch ethische Bedenken diskutiert werden, sind andererseits längst viele Menschen bereit, das belegen in

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den USA gemachte Umfragen, sich klonen zu lassen (Der Spiegel 6/1998, S. 183). Chipimplantate, die Blinden das Augenlicht wiedergeben oder Taube wieder hören lassen, elternlose Retortenbabys, sprechende Bankautomaten und Rechner sowie genmanipulierte Mäuse und Schweine, deren Organe als Transplantate fur Menschen dienen, Kunstherzen, Pflege- und Operationsroboter, Sonys Roboterhund Aibo und Sonys Roboter SDR-3X demonstrieren den Stand des Übergangs {Der Spiegel 5/1998, S. 140 f.; Rötzer, S. 7 £; Dworschak, S. 248 ff). Die nahe Zukunft der Robotik wird von den Zukunftsforschern Angela und Karlheinz Steinmüller wie folgt skizziert: Sie suchen den Meeresboden nach unbekannten Lebensformen ab oder sammeln Manganknollen ein. Sie steigen, von Keramikpanzern geschützt, in tätige Vulkane hinab, überdauern sogar auf der Oberfläche der Venus einige Tage - bei über 400 Grad Celsius und in einer säuregeschwängerten Atmosphäre, die Stahlplatten förmlich dahinschmelzen lässt. Roboter mit strahlengeschützten Chips demontieren die heißen Zonen von abgeschalteten Kernkraftwerken, sie reinigen und reparieren die Abwasserkanäle der Städte, säubern die Straßen und teilen Strafzettel aus, sie errichten Gebäude und reißen sie wieder ab, und sie montieren auch immer noch Autos zusammen. Lieferroboter, oft in der Form selbstfahrender Paletten mit ein oder zwei Paaren mechanischer Hände, bringen per Teleshopping gekaufte Ware zu jedem Haus. Roboter fuhren im Krankenhaus die diffizilsten Operationen durch, sie entschärfen unter Einsatz der eigenen Existenz Landminen - aber dies alles ist ein Kinderspiel im Vergleich zu den Aufgaben, die von den Haushaltrobotern zu meistern sind! (Steinmüller, S. 345 £) Und wie gewohnt, werden die nächsten Schritte anfangs ihren Preis haben, so dass sich eine Verlängerung des Lebens mit Hilfe neuer Gentherapien, Hirnverpflanzungen oder tatsächlich funktionierenden kryonischen Verfahren vorerst nur Reiche werden leisten kön-

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nen, während große Teile der Menschheit aus pekuniären Gründen selbst auf gängige Impfungen nach wie vor werden verzichten müssen. Auch der Einsatz intelligenter und sprechende Roboter wird anfangs eine Frage des Preises sein und somit erst einmal dem Militär, der Raumfahrt und der Industrie vorbehalten bleiben. Roboter werden den bereits projektierten und unbemannten amerikanischen Kampfbomber UCVA lenken und, quasi als Synthese aus bemannter und unbemannter Raumfahrt, die Planeten und Monde jenseits des Asteroidengürtels erkunden (Helms, S. 28). Auch als Bodygard, Shoppingassistent oder Singleanimateur, der den (post) modernen Eremiten in allzu einsamen Stunden als Freund zu Seite steht, kann ein Roboter sicher gute Dienste leisten, vorausgesetzt, man kann ihn sich leisten. Und vielleicht wird der lange Zeit belächelte Traum eines Haushaltsroboters doch bald in Erfüllung gehen, ebenso wie jener nach einem für menschliche Kategorien nahezu ewigen Leben. Chipimplantate und Brain-Interfaces werden uns das Lernen und den Zugang zur Virtuellen Realität erleichtern. Denkbar ist auch eine Art Schöpfiingskonvention der UNO, die uns vor allzu exotischen Kreaturen aus den Labors der Wissenschaft und jenen der Militärs weitgehend bewahren wird. Die multitechnokulturelle Gesellschaft des posthumanen Zeitalters wird auf jeden Fall eine heterogene mit einem großen Konfliktpotential sein, denn zu den bereits vorhandenen basalen Zugehörigkeitskonflikten kommen nun noch jene, die sich auf emanzipierte Prothesen und andere Kunstgeschöpfe beziehen (von Trotta, S. 168 f). Teile der Gesellschaft werden die Innovationen der neuen Ära begeistert begrüßen und, sofern sie finanzierbar sind, auch umfassend nutzen. Doch nicht jeder will und kann an den Offerten der Posthumanität partizipieren. So wird eine längst im Entstehen begriffene Mehrklassenmedizin die Optionen der Gentherapie vorerst nur Privilegierten bieten können. Auch werden Roboter für viele Betriebe, Haushalte und Singles unerschwinglich bleiben. Andere soziale Gruppen werden posthumane Technologien aus ethischen, ideologischen oder religiösen Gründen teilweise oder sogar

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prinzipiell ablehnen und sich, vergleichbar den Amish oder anderen Gemeinschaften, als „Rebellen gegen die Zukunft" aus der Entwicklung ausklinken (Steinmüller, S. 452). Es wird Demonstrationen gegen und Plädoyers für bestimmte Innovationen geben sowie gegen und für die Anerkennung der intelligenten Roboter als (sekundäre) Lebensform. Es wird Befürworter der These geben, die emanzipierte Prothese in eine posthumane Anthropologie zu involvieren und Gegner dieser These. Stanislaw Lem spricht sich, bei aller Kritik am Projekt einer zweiten Schöpfung, für die Anerkennung der emanzipierten Prothese aus, „einer tätigen Existenz, die weder besser noch schlechter ist als die Existenz der Eiweißverbindungen, die Tier oder Mensch genannt werden" (Lem 1979, S. 154). Zu diesem Schluss kommt Rohan, der Held aus Lems Roman Der Unbesiegbare angesichts der Begegnung mit einer autonom agierenden, technischen Lebensform, deren Beurteilung sich konventionellen menschlichen Maßstäben entzieht. Auch andere seiner Helden, allen voran Pirx und Tichy, sehen sich regelmäßig mit unbekannten und fremdartigen Formen der Existenz konfrontiert, deren Autonomie sie, nicht selten nach längerer Auseinandersetzung, akzeptieren. Die Basis ihrer Akzeptanz ist nicht die Erscheinungsform, die chemische Zusammensetzung ihrer Organe oder das, was wir Intelligenz nennen, sondern ihre Komplexität und die daraus resultierende Autonomie. „Auf dieser Erkenntnis beruht für Lem die einzige dem kybernetischen Zeitalter entsprechende Moral" (Vormweg, S. 170). Jenseits der Sinnfrage, der Frage nach dem Telos und konservativer anthropologischer Kategorien und Verständnismuster plädiert Lem für eine Toleranz der emanzipierten Prothese (Flessner 1991, S. 346 ff). Überarbeitete und ergänzte Fassung des Beitrags „Herrschaft der Prothesen", erschienen im Kursbuch 128 (Lebensfragen), Berlin 1997

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