Der informale Verfassungsstaat: Aktuelle Beobachtungen des Verfassungslebens der Bundesrepublik Deutschland im Lichte der Verfassungstheorie [1 ed.] 9783428456895, 9783428056897

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Der informale Verfassungsstaat: Aktuelle Beobachtungen des Verfassungslebens der Bundesrepublik Deutschland im Lichte der Verfassungstheorie [1 ed.]
 9783428456895, 9783428056897

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HELMUTH SCHULZE-FIELITZ

Der informale Verfaesungsstaat

Schriften zum ö f f e n t l i c h e n Band 475

Recht

Der informale Verfassungsstaat Aktuelle Beobachtungen des Verfassungslebens der Bundesrepublik Deutschland i m Lichte der Verfassungstheorie

Von Dr. H e l m u t h Schulze-Fielitz

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schulze-Fielitz, Helmuth: Der informale Verfassungsstaat: aktuelle Beobachtungen d. Verfassungslebens d. Bundesrepublik Deutschland i m Lichte d. Verfassungstheorie / von H e l m u t h Schulze-Fielitz. — B e r l i n : Duncker u n d Humblot, 1984. (Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 475) I S B N 3-428-05689-2 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten Ο 1984 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1984 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428*05689-2

Meinem Lehrer der Verfassungstheorie

Vorwort Diese Studie ist aus aktuellem Anlaß als Beitrag für eine als solche nicht zur Publikation vorgesehene Festschrift entstanden. Die Resonanz i m engeren Kreise der Beteiligten ermutigt zu einer monographischen Veröffentlichung i n erweiterter und aktualisierter Form. Neben Autoren-Eitelkeit leitet mich die Hoffnung, der Text könnte, obwohl i m einzelnen gewiß vertiefungsfähig und präzisierungsbedürftig, auch für eine breitere wissenschaftliche Öffentlichkeit Anregungen enthalten. Der unveränderte Entwurfscharakter der nicht ohne systematischen Anspruch formulierten Skizzen, Thesen und Fragmente läßt sich deshalb vielleicht vertreten — zumal Vollständigkeit bei dem Abstraktionsgrad des Themas illusionär und die ausgebreitete Fülle der empirischen Vielfalt unvermeidbar exemplarisch bleiben müssen. Für sehr strenge Maßstäbe wissenschaftlicher Seriosität könnten auch die zahlreichen Beispiele aus der Tagespublizistik zu forciert der Aktualität der letzten Monate verhaftet erscheinen, w e i l solches zu Distanzlosigkeit zu verführen droht; doch verdeutlichen sie eben auch besonders plastisch die relative Statik der informalen Verfassung hinter den Erscheinungsformen politischer Betriebsamkeit. — Für die kritische und ermutigende Diskussion einer Vortragsfassung i m Sellinghausener Studienkreis für öffentliches Recht danke ich den Teilnehmern in der Dammühle. — Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Broermann für sein großzügiges Entgegenkommen bei der Aufnahme der Abhandlung i n diese Schriftenreihe seines Verlages, seinen Mitarbeiter(inne)n für freundliche Hilfe bei der Herstellung. Bayreuth, den 18. 8.1984 Helmuth

Schulze-Fielitz

Inhaltsverzeichnis

I. Problemstellung

11

1. Das „Informale" als aktuelles Paradigma

11

2. Z u m Begriff der informalen Verfassungsregel

15

3. Abgrenzungen: Verfassungskonventionen — Politische K u l t u r — Verfassungskultur

18

I I . Empirische Bestandsaufnahme: Auf der Verfassungsregeln (auf Bundesebene)

Suche nach

informalen

1. Proporzregeln i m Verfassungsleben

21 21

a) Fraktionsproporz auf parlamentarischer Ebene

22

b) Parteienproporz aa) Regierung u n d V e r w a l t u n g E x k u r s : Der „Arnold-Schlüssel" bb) Rechtsprechung cc) Nicht-staatlicher Bereich

25 25 29 30 33

c) Pluralistische Proporzregeln

35

2. Informale Zusammenarbeit i m Verfassungsstaat a) b) c) d) e) f) g)

Koalitions- u n d Parteivereinbarungen Inter-verfassungsorganschaftliche Zusammenarbeit Intra-verfassungsorganschaftliche Zusammenarbeit Besonders: Parlamentarische Kooperation Gemeindeutsche Kooperationsformen ; Besonders: Außenpolitik u n d informale Zusammenarbeit Informale Kooperation von Staat u n d Gesellschaft

46 46 48 51 53 57 64 66

3. Informale Herrschafts- bzw. Machtbalancierung a) Informale I n k o m p a t i b i l i t ä t e n b) Informale institutionalisierte Machtbalancierungen

69 69 82

4. Zwischenbilanz: Einige charakteristische Funktionsmerkmale i n formaler Verfassungsregeln ;

86

a) b) c) d) e) f)

Vereinbarungstreue u n d K o n t i n u i t ä t Reziproke Tauschgerechtigkeit Die nicht-rechtliche Formalisierung des Informalen Besonders: Parakonstitutionelle Entscheidungsgremien Öffentlichkeitsdistanz Vertrauen als integratives Element der Funktionselite

86 88 91 92 96 97

10

Inhaltsverzeichnis

I I I . Anläufe zu einer Theorie und Dogmatik des informalen Verfassungsstaates 1. Ergänzung des Staatsorganisationsrechts

99

2. Spezifische Leistungen informaler Verfassungsregeln a) b) c) d)

100

F l e x i b i l i t ä t und Elastizität der Regelbindung Frühwarnfunktion Feld der Erprobung „Einbruchstellen" der Verfassungsmoral

3. Sachlich-normative Schwerpunkte des informalen staates a) Die D y n a m i k des Parteienstaates

99

100 102 103 104 Verfassungs-

105 105

b) Fortentwicklung der Gewaltenteilung

106

c) Krisensymptome klassisch-liberaler Trennungsdogmatik

108

4. Geltungsgründe informaler Verfassungsregeln a) Der Prozedur ale Verfassungskonsens

109 110

b) Die integrative K r a f t des informalen Verfassungskonsenses . . 111 c) Die Aktualisierung der Verfassung als Vertrag 116 d) Reziprozität als Basisnorm 118 5. Informale Verfassungsregeln zwischen Recht u n d P o l i t i k a) Die informale Verfassungsregel — eine rechtliche Kategorie? b) Die Nähe zum Gewohnheitsrecht c) Informale Verfassungsregeln als „werdendes" Recht

123 123 124 128

6. Die mittelbare Justiziabilität informaler Verfassungsregeln

130

I V . Gefahren und Einwände 1. Die Aufweichung von Verfassungsrechtsregeln a) Umgehung des Öffentlichkeitsgebots der Verfassung b) Verlagerung von Kompetenz- u n d Verantwortungszuweisungen c) Die A b w e r t u n g des VerfassungsVerfahrensrechts d) Schwächung der Gewaltenteilung e) Besonders: Gefahren des Parteienproporzes 2. Gefahren informaler Entscheidungsprozesse a) Die Eigendynamik des Informalen b) Stagnation durch Übermaß an Konkordanz? 3. Z u r Zweckmäßigkeit der Untersuchung des Informalen

134 134 134 137 139 141 142 145 145 147 149

V. Ausblick: Die „Grünen" als Beispiel — Krise oder Bewährungsprobe des informalen Verfassungsstaates? 153 V I . Zusammenfassung in Thesen

160

Personenregister

165

Sachregister

171

I. Problemstellung Die aktuelle Entwicklung der Wissenschaft vom öffentlichen Recht dürfte dort ihre auf- und anregendsten Impulse erfahren, wo der technische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Fortschritt „von außen" an das wissensinterne System neue Fragen stellt und es zu neuen dogmatischen Einsichten und Antworten provoziert, die zugleich auf die Erkenntnisse nicht-juris tischer Wissenschaften zurückgreifen. Speziell i n der Verfassungsrechtslehre und -theorie lassen sich seismographische und verfassungsdogmatische Kreativität wohl kaum ohne Unbefangenheit bei der Überschreitung traditioneller Wissenschaftsgrenzen vereinen, wie die facettenreiche Verarbeitung der „Verfassung als öffentlicher Prozeß", ihrer Dogmatik und zugleich ihrer nicht-rechtlichen Bedingungen belegt 1 . Solche Grenzüberschreitungen ermutigen dazu, ohne künstliche Scheuklappen dem „Phänomen" des informalen Verfassungsstaates rechtswissenschaftlich nachzugehen; dessen scheinbare UnBegreiflichkeit als Typus hat ein — gelegentlich versteckt beklagtes2 — Desiderat der Verfassungs(rechts)lehre geschaffen.

1. Das „Informale" als aktuelles Paradigma Eine erste Assoziation beim juristisch fremdartigen Begriff des „Informalen" mag an informelle, also (vor allem) durch persönliche Beziehungen gefärbte Verhaltensregeln i m Alltag rechtlicher Verfahren erinnern: an den berühmten „kleinen Dienstweg" (per Telefon) neben dem förmlichen Verfahren, an die „interne" Vorverständigung vor der offiziellen Sitzung eines Gremiums oder der Beschlußfassung eines 1

s. pars pro toto: P.Häberle (1974), i n : ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, z.B. S. 93 (103 ff.); ders., Verfassungslehre als K u l t u r w i s s e n schaft, 1982, S. 18 ff., 47 ff.; ders., i n : A. Peisl/A. Möhler (Hg.), Die Zeit, 1983, S. 289 (318 ff.); s. dazu ferner die k r i t . Würdigung bei H.Vorländer, Verfassung u n d Konsens, 1981, bes. S. 333 ff. Zitiertechnisch w i r d i n dieser A r b e i t unter Verzicht auf ein L i t e r a t u r v e r zeichnis ein erstmalig erwähnter Buchtitel vollständig, jede erneute E r w ä h nung unter Hinweis auf die Fußnote m i t dem Erstzitat nachgewiesen. V e r einzelte Abkürzungen, die nicht von H. Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 3. A u f l . 1983, belegt worden sind, werden hier bei erstmaliger Verwendung erläutert. 2 So bereits Hans Schneider, FS ( = Festschrift) f. R. Smend, 1952, S. 303 (303 f.) zum Mangel an Interesse für die Staatspraxis; ähnlich C.Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, 1972, S. 79.

12

I. Problemstellung

größeren Kollektivorgans 3 , auch an die Unterscheidung zwischen den „eigentlichen" Gründen einer (Gerichts- oder Verwaltungs-)Entscheidung und den schriftlich dargestellten Gründen 4 . Damit verbindet sich oft eine Aura des Inoffiziellen, einer gewissen Vertraulichkeit oder Vertrautheit (i. S. einer Undurchschaubarkeit für Dritte), mitunter auch des (gerade für Juristen) nicht ganz Gesetzmäßigen, ohne daß man gleich an Probleme informeller Parteienfinanzierung denken muß. Indessen dürfen pathologische Erscheinungsformen nicht vergessen lassen, daß es sich demgegenüber i. d. R. um ebenso verbreitete wie unvermeidliche Erscheinungen handelt 5 , denn Recht umfaßt, allgemein rechtssoziologisch gesehen, stets mehr als formelle Rechtsquellen und Rechtsregeln 6 . Gemeinsam ist solchen ersten Überlegungen, daß sie sich auf Entscheidungsmodalitäten, nicht auf materielle Inhalte beziehen, und daß sie rechtlich nicht geregelt sind. Damit w i r d das Thema deutlicher: Es geht um die rechtlich nicht geregelten Organisations und Verfahrensmodalitäten im Verfassungsstaat, hier speziell des Grundgesetzes. Informelle Prozesse als Forschungsgegenstand sind aktuell. A m gründlichsten dürften sie i n den Verwaltungswissenschaften unter dem Einfluß der allgemeinen Organisationssoziologie diskutiert worden sein. I m Gerüst (verwaltungs-)rechtlicher und formeller Kompetenzen und Befugnisse in einer bürokratischen Organisation wirken mannigfaltige (i. d. R. unvorhergesehene) informelle Prozesse 7; die streikähnlichen dysfunktionalen Folgen eines „Dienstes nach Vorschrift" belegen ihre informalen Voraussetzungen, deren Mißachtung zum (informal) vorschriftswidrigen Dienst wird 8 . Derartige Informalisierungsprozesse 3 s. am Bsp. der informell-organisierten Gruppierungen i n der SPD u n d ihrer Bundestagsfraktion (ζ. B. die „Kanalarbeiter") F. Müller-Rommel, Innerparteiliche Gruppierungen i n der SPD, 1982, zsfssd. S. 202 ff., 218 ff. 4 Wer ζ. B. ein Strafurteil „revisionssicher" abfassen w i l l , weiß u m diese Unterscheidung. — Probleme des informalen Privatrechts (Stichwörter: Sportverbandsgerichtsbarkeit, Betriebsjustiz, Kautelarjurisprudenz, Kulanzregeln, Frühstückskartelle, familien- u n d eheinterne Pflichten, Selbstbindungen ohne Vertrag usw.) sind hier ausgeklammert. 5 s. jetzt die ausf. politikwissenschaftliche Bestandsaufnahme nicht-rationaler Orientierungsgesichtspunkte bei der Entscheidungsfindung von M i n i sterialbeamten (bes. Gesetzgebungsreferenten) von A. Wender, Entscheidungsspiele i n Politik, V e r w a l t u n g u n d Wirtschaft, 1983, z. B. S. 97 ff. β s. ζ. Β. J. Carbonnier, i n : E. E. Hirsch/M. Rehbinder (Hg.), Studien u n d M a terialien zur Rechtssoziologie, 1967, S. 135 (146 ff.). 7 Ausf. etwa C. I. Barnard, The Functions of the Executive, Cambridge Mass. (1938), 1976, S. 114 ff.; N.Luhmann, Funktionen u n d Folgen formaler Organisation (1964), 3. Aufl. 1976, S. 244 ff., 283 ff.; A.Etzioni, Soziologie der Organisation, 1967, S. 69 ff., 77 ff.; Η. A. Simon, A d m i n i s t r a t i v e Behavior, New Y o r k 1976, S. 147 ff.; H.Quaritsch, FS f. C. H. Ule, 1977, S. 135 ff.; R. Mayntz, Soziologie der öffentlichen V e r w a l t u n g (1978), 2. Aufl. 1982, S. 113 f. 8 Vgl. J. Isensee, J Z 1971, 73 ff., der solche Prozesse freilich rechtlich (mit Figuren wie dem Effizienzgebot, Verwaltungsübung, Vertrauensschutz u. a.)

1. Das „Informale" als aktuelles Paradigma

13

schaffen mitunter erst eine „brauchbare Illegalität" 9 , deren Brauchbarkeit ihnen Dauerhaftigkeit garantiert. Freilich geht es i n diesen Diskussionen entsprechend der Herkunft aus der Human-Relations-Schule oft um die persönlichen Beziehungen zwischen den Menschen neben ihrer formalen Mitgliedschaftsrolle, weniger um solche informalen Regeln, die auch sachlogisch rechtliche Regeln ergänzen (so sehr jene informaleri Regeln selber eine strukturbedingte Funktion haben 10 ); desungeachtet gehört die paradoxe Notwendigkeit informaler Organisationsregeln für die Realisierung formaler Organisationszwecke zum gesicherten Erkenntnisbestand 11 . Dieser Ansatz ist neuerdings am Beispiel der Vollzugspraxis des BImSchG i n theoriebildender Weise auf den Gesetzesvollzug durch die Verwaltungsbehörden übertragen worden, allerdings beschränkt auf solche informalen, d.h. nicht rechtlich geregelten Handlungen, die i n einem faktischen Alternativverhältnis zu den rechtlich geregelten Handlungsformen stehen, also auch i n diesen rechtlich vorgesehenen Entscheidungsformen ergehen könnten 12 . I m Genehmigungsverfahren nach dem BImSchG präjudizieren ζ. B. die Entscheidungen in den informalen Vorverhandlungen zwischen Genehmigungsbehörde und Antragsteller den formellen Antragsbescheid: Dieser ratifiziert oft nur noch das zuvor kooperativ ermittelte Ergebnis 13 — und droht damit unberücksichtigt gebliebene Dritte bzw. Drittinteressen zu vernachlässigen, obwohl und weil diese ohne Einflußchance auf das Verhandlungsergebnis waren 14 . Mittlerweile ist diese Dimension des informalen Verwaltungs(rechts)staats auch i n anderen Rechtsbereichen durch konkrete Fallstudien (ζ. B. zu Fragen der Regionalplanung 15 , der Fusionskontrolle 16 ) und allgemein fassen w i l l , damit aber gerade auch, i n U m k e h r seiner Intention, die Grenzen normtextbezogener Rechtsinterpretation verdeutlicht. 9 N. Luhmann, Funktionen (Fn. 7), S. 304 ff. 10 s. etwa N. Luhmann, Funktionen (Fn. 7), S. 246 f.; jetzt R.Stettner, G r u n d fragen einer Kompetenzlehre, 1983, S. 235 ff. m. w . Nw. — Hauptprobleme jeder Verwaltungsreform sind deshalb nicht rechtliche, sondern Verhaltensreformen innerhalb u n d jenseits rechtlicher Festlegungen. 11 s. noch P. B. Blau, Bureaucracy i n Modern Society, New Y o r k 1956, S. 35 f. 12 s. die begriffsprägende Dissertation von E. Bohne, Der informale Rechtsstaat, 1981, S. 42, 46 f. u. ö.; gekürzt ders., JRR ( = Jahrbuch für Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie) 7 (1980), 20 ff. 18 Neben E. Bohne, Rechtsstaat (Fn. 12) s. z. B. J. Hucke/ Α. Α. Ollmann, i n : R. Mayntz (Hg.), Implementation politischer Programme I, 1980, S. 105 (111 ff.). 14 K r i t . C.H.Ule/H.-W. Laubinger, i n : Verhandlungen des 52. DJT, 1978, Band 1, Gutachten B, S. 29; s. a. K. Meyer-Abich t ZRP 1984, 40 (41). 15 Arthur Benz/F.-W. Henrich, i n : J. J. Hesse u. a. (Hg.), Staat u n d Gemeinden zwischen K o n f l i k t u n d Kooperation, 1983, S. 131 (139 f., 147) m. Nw. 1β J. Gotthold/R. Vieth, JRR 8 (1982), 282 (287 ff.); s. auch am Bsp. des Wasserrechts R. Randelzhofer/D. Wilke, Die Duldung als Form flexiblen V e r w a l tungshandelns, 1981, S. 83 ff.

14

I. Problemstellung

analysiert worden 1 7 und i m Rahmen der Frage nach Selbstbindungen der Verwaltung auf der Staatsrechtslehrertagung thematisiert worden 18 . Das Paradigma des Informalen spielt aber auch (ζ. T. unter anderen Etiketten) auf allgemeiner Ebene i n der Ver - bzw. Entrechtlichungsdebatte eine zentrale Rolle. Diese ist vor allem durch Fragen nach Alternativen zur Ziviljustiz einerseits, nach den gesamtgesellschaftlichen Gründen von Bürokratisierung und Verrechtlichung andererseits angeregt worden. Die informalen Verfahren vor, neben und i m Rahmen der zivil- und strafrechtlichen Prozeßrechtsregeln 1β, die z. B. auf der Ebene der vorgerichtlichen Verfahren bzw. von (international verbreiteten) Verfahren zur Ergänzung und Entlastung der Gerichte sich herausgebildet haben, werden als „Prozeduraler Informalismus" bezeichnet 2 0 . Doch gibt es ebenso i m Verwaltungsprozeßrecht informale Regelansätze 21 wie i m Verwaltungsverfahrensrecht 22 . Auch i n zahlreichen Gebieten des materiellen (Verwaltungs-)Rechts soll das Recht „leerlaufen" 2 8 , weil alternative Problemlösungsmechanismen offenbar angemessener wirken. Nach den Vorstellungen des zuständigen Bundesministers soll ein neues Baugesetzbuch die weit verbreiteten informalen Planungsformen (Strukturpläne, Stadtteilpläne, Rahmenpläne usw.) nicht regeln, sondern — umgekehrt — soll die rechtlich geregelte Form der Entwicklungsplanung (wohl) entrechtlicht werden 24 . Die Diskussion mündet schließlich i n die ungelöste allgemeine Frage der Entwicklung, Leistungsfähigkeit und Grenzen von Recht und Gesetzgebung und ihren Alternativen 2 5 . 17 s. zur Rechtsformenvielfalt i m Verhältnis von Staat u n d Wirtschaft den soziologischen Literaturbericht von G. Winter, JRR 8 (1982), 9 ff. 18 Angeregt durch W. Ho ff mann-Riem, V V D S t R L 40 (1982), 187 (191 ff.) m. ausf. N w . ; k r i t . bis skeptisch u.a. H.-J. Papier, P.Badura, R.Breuer, J.Burmeister, ebd., S. 287 ff., 292 ff., 294 f., 300 f. (Diskussion). 19 Auch die aktuelle Diskussion u m die Verfassungsmäßigkeit des berufsrichterlichen Beisitzers ohne Aktenkenntnis gründet i n dieser Differenz, vgl. K.Doehring, N J W 1983, 851 ff.; zuletzt W.Däubler, JZ 1984, 355 ff. 20 B. Garth, i n : R. A b e l (Ed.), The Politics of I n f o r m a l Justice, Vol. I I : Comparative Studies, New Y o r k 1982, S. 183 ff., zit. nach E. Blankenburg /R. Rogowski, ZfRSoz 5 (1983), 133 (139); s.a. G. Spittler, ZfRSoz 5 (1984), 147 ff. 21 E i n aktuelles Beispiel: W e i l die Unzulässigkeit der Beiladung i m N o r menkontrollverfahren (so BVerwG, DÖV 1982, 938; a. A . O V G Münster, DVB1. 1980, 603; O V G Berlin, DVB1. 1982, 362) den Verwaltungsgerichten ungefilterte Informationen über die Interessen der privaten Betroffenen abschneidet, werden diese oft informell über den Prozeßtermin verständigt u n d i n der Verhandlung informell angehört, so W. Brohm, N J W 1984, 8 (14). — E i n anderes Beispiel könnte sich aus dem Versuch ergeben, mathematische Regeln aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung als Hilfsregeln für die Rechtsanwendung fruchtbar zu machen, s. jetzt allg. E. L. Neil, Wahrscheinlichkeitsurteile i n juristischen Entscheidungen, 1983, S. 137 ff., 163 ff. 22 s. am Bsp. der Behandlung von Petitionen U. Woike, D Ö V 1984, 419 ff. 23 So F. Wagener, V V D S t R L 37 (1979), 215 (244 ff.). 24 s. O. Schneider, DVB1. 1984, 577 (579).

2. Z u m Begriff der informalen Verfassungsregel

15

Wer deshalb naheliegenderweise solchen Fragestellungen speziell auf der Ebene des nationalen 28 Verfassungsrechts bzw. der Verfassungspraxis nachgehen w i l l , w i r d trotz großer, wegweisender älterer Modelle" rechtswissenschaftlich wenig fündig werden: Es dürfte einerseits zu den Spätfolgen des staatsrechtlichen Positivismus gehören, andererseits Reflex einer, zunächst unter dem Eindruck des Neuanfangs i n Art. 1 I I I , 19 I V GG dominierenden, Justizorientierung der Staatsrechtswissenschaft sein, daß die Vielfalt informaler bzw. informeller Verfassungsprozesse verstreut i n einzelnen konkreten Problemzusammenhängen, soweit ersichtlich aber noch nicht als systematische verfassungstheoretische Kategorie jenseits der Dichotomie von Recht und Politik erarbeitet worden ist; das w i r k t verfassungstheoretisch gerade dann paradox, wenn man zudem auch noch i m übrigen der Tragfähigkeit von Verfassungsrecht überhaupt m i t wissenschaftlicher Skepsis begegnet 28 . Ziel der nachstehenden Ausführungen ist es, nicht-rechtliche Regeln der Verfassung systematisch zu erschließen: Es geht um Praxis und Theorie von informalen Verfassungsregeln. 2. Zum Begriff der informalen Verfassungsregel Diese hier zu untersuchenden Regeln lassen sich vorläufig eingrenzend charakterisieren. (a) Es muß sich u m informale Regeln handeln, d. h. solche, die nicht in Verfassungs- oder sonstigen Rechtstexten (ζ. B. audi rechtlichen Verträgen) niedergelegt sind oder zwar nicht selber geschrieben sind, aber von solchen Texten in Bezug genommen (inkorporiert) werden. Es handelt sich (ganz überwiegend) um nicht-rechtliche Regeln oder aber, wenn es sich doch um Rechtsregeln handeln sollte, um ungeschriebenes Recht 29 . U m es an einem späteren Beispiel zu erläutern: 28 Vgl. die Sammelbände von R. Voigt (Hg.), Verrechtlichung, 1980; ders. (Hg.), Gegentendenzen zur Verrechtlichung, ( = JRR 9) 1983; ders. (Hg.), A b schied v o m Recht?, 1983; Uberblick über die Diskussion i n den USA jetzt bei W. Hoffmann-Riem, Der Staat 23 (1984), 17 ff. 26 s. zu informalen Problemen des Verfassungsstaats i m Geflecht der internationalen Beziehungen n u r R. Schmidt, W D S t R L 36 (1978), 65 (81 ff.) u n d unten Fn. 351 ff. 27 So vor allem R.Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, etwa S. 40 ff. (zu den persönlichen Beziehungen der Reichs- u n d Landesminister, 1916); 62 ff. (zu den Folgewirkungen der Verhältniswahl, 1919); D. Schindler, Verfassungsrecht u n d soziale S t r u k t u r (1932), 3. Aufl. 1950, S. 70 ff. (allg.), 92 ff. (zur „Ambiance" des Rechts) u. ö.; H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 255 u. ö. 28 s. zuletzt U.Steiner, W D S t R L 42 (1984), 7 (13 ff., 17, 241, 32 ff., 38 ff.); vgl. dazu G. Haverkate, AöR 108 (1983), 625 (627). 29 N u r so läßt sich eine zirkuläre Vorentscheidung der Frage vermeiden, ob eine Regel (gewohnheitsmäßiges oder sanktionsloses) Redit oder eine nichtrechtliche N o r m formuliert; s. näher unten bei Fn. 721 ff.

16

I. Problemstellung

Daß der zwölfköpfige Wahlmännerausschuß des Bundestages, der die vom Bundestag zu wählenden Richter des BVerfG wählt, selber vom Bundestag nach dem Höchstzahlverfahren von V. d'Hondt gewählt wird, ist gesetzlich formal (in § 6 I I BVerfGG) festgelegt. Das Wahlverfahren der anderen „ständigen" Bundestagsausschüsse ist indessen nicht gesetzlich vorbestimmt; es w i r d vom jeweils neuen Bundestag autonom festgelegt. Die früher nach d'Hondt bzw. T. Hare/H. Niemayer, heute nach H. Schepers besetzten Ausschüsse werden insoweit nach informalen (aber zugleich auch: formellen) Regeln zusammengesetzt 80 . I m (weiten) Begriff des Informalen sind m i t h i n auch formalisierte, aber nicht-rechtliche Regeln einbeschlossen. Der Begriff des Informalen ist folglich auch nicht m i t dem des Informellen identisch. Alles „Informelle" ist definitionsgemäß (also i. S. von „formell nicht vorgesehen") auch informal — aber das gilt nicht umgekehrt. Eine Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder ist ein hochoffizielles, einverständliches, formelles Treffen — Existenz und Verfahrensweise sind gleichwohl rechtlich ungeregelt (und deshalb informal). Oder: Koalitionsvereinbarungen heute werden schriftlich und nach langen Verhandlungen i n einem detaillierten Vertrag formell geschlossen; es handelt sich gleichwohl nicht um rechtliche Verträge, sondern um politisch verbindliche Absprachen und damit u m typische Erscheinungsformen des informalen Verfassungsstaates. (b) Es muß sich weiter um informale Regeln handeln. Der informale Charakter bestimmter verfassungsbedeutsamer Prozesse allein ist unmaßgeblich. Es geht um regelmäßige Verhaltenserwartungen, die sich so verdichtet (institutionalisiert) haben, daß sie auch von Dritten erwartet werden, und zwar unabhängig von ihrer faktischen Erfüllung, also u m „kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen" 31 . I n einer verfassungssoziologisch-empirischen, metadogmatischen Perspektive ist nach der Existenz solcher Regeln zu fragen. I n einer teils verfassungsrechtlich-dogmatischen, teils verfassungstheoretischen Perspektive ist nach Eigenart, Sinn und Berechtigung solcher Normen zu fragen. Die unübersehbare Vielfalt informalen Handelns i m Verfassungsstaat als solche ist naturgemäß empirisch und rechtlich unfaßbar: Letztlich w i r d alles politische Handeln durch informale Prozesse (im Rahmen rechtlicher Regeln vor-)strukturiert; auch thematische Einengungen auf bestimmte einzelne verfassungsrechtlich relevante Prozesse sind wegen ihrer Komplexität nur i n (politik)wissenschaftlichen Fallstudien erfaßbar S2 » 83 . Hier geht es nur u m solche Regelmäßigkeiten, die sich auch zur 30 Vgl, zur genauen Information P. Schindler (Bearb.), Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949—1982, 1983, S. 598 ff. 31 N. Luhmann, Hechtssoziologie (1972), 2. Aufl. 1983, S. 43.

2. Z u m Begriff der informalen Verfassungsregel

17

normativen Verhaltenserwartung verdichtet haben, also um mehr als nur u m faktische Übungen der Staatspraxis, die aus Zweckmäßigkeitsüberlegungen etwas i n bestimmter Weise praktiziert, weil irgendwann einmal so damit begonnen wurde, ohne daß es nicht auch anders gemacht werden könnte* 4 . Es muß sich u m Regeln von gewichtiger Bedeutung i. S. von Entscheidungsrelevanz handeln, d. h. das Verhalten dritter Beteiligter w i r d von der Erwartung solcher Regelmäßigkeiten bestimmt, so daß m i t ihnen bereits ein gewisser normativer Regelungsanspruch (es soll so sein) verbunden ist. Als Regeln i n diesem Sinne kommen nicht nur bestimmte, von den Beteiligten akzeptierte informale, als Gebote formulierbare Sollensanforderungen i. S. von institutionalisierten Verhaltenserwartungen oder Erlaubnisnormen, sondern auch (nur) zweiseitig relativ bindende Absprachen vertragsähnlicher A r t und einseitig selbst-bindende Verhaltensansprüche i n Betracht. Es w i r d nachstehend auch nicht ausdrücklich nach informalen Organisationsnormen und informalen Verhaltensnormen unterschieden. I m übrigen ist informales, von der rechtlichen Rahmenordnung des Grundgesetzes nicht unmittelbar gesteuertes (aber begrenztes) Verhalten die völlig überwiegende Regelpraxis i n der Lebenswirklichkeit jeder verfassungsstaatlichen Verfassung. (c) Es geht drittens um informale Verfassungsregeln t d. h. Regeln, die in unmittelbarem Zusammenhang mit verfassungsrechtlichen Normen stehen, die sie stützen, ergänzen, praktikabel machen, „ m i t Leben erfüllen" usw. Eine der diesem Beitrag zugrundeliegenden Hypothesen stellt darauf ab, daß Verfassungsrecht u m seiner Funktionsfähigkeit 32 s. beispielhaft zur Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers W. Hennis , Richtlinienkompetenz u n d Regierungstechnik (1964), i n : ders., P o l i t i k als praktische Wissenschaft, 1968, S. 161 ff.; s.a. zur Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten W. Heun, AöR 109 (1984), 13 (18 ff.). 33 E i n wichtiges, verfassungsrechtlicher u n d -theoretischer Durchdringung bedürftiges Feld sind die informalen Entscheidungen über die Richtung technischer Grundsatzentwicklungen, deren Zustandekommen i m A r k a n u m sachverständiger Interessenten i n keinem Verhältnis zu ihrer politischen u n d verfassungsrechtlichen Folgewirkung steht. V o r dem H i n t e r g r u n d der hohen Entwicklungs- u n d Vorlaufzeiten technischer Großprojekte etwa i m Bereich der Computer-, K r a f t w e r k s - , Medien- oder Raketentechnik erscheinen angesichts der einschlägigen privaten Investitionsentscheidungen u n d ihrer politischen Sachzwänge die verfassungsrechtlichen Entscheidungs- u n d V e r fahrensregelungen eigentümlich inkongruent; s. auch die gesammelte Ratlosigkeit i n : Stiftung f ü r Kommunikationsforschung (Hg.), Technik als Fassade der Demokratie?, Bonn 1981; zum konkreten Beispiel der Breitbandverkabelung J. Scherer, DÖV 1984, 52 (52 f., 59). 34 s. als Beispiel für eine solche tatsächliche Übung ohne Entscheidungsrelevanz, aber offenbar m i t GG-Kommentarrelevanz: Der Wahlvorschlag des Bundespräsidenten bei der K a n z l e r w a h l erfolgt schriftlich, w i r d aber nicht als Bundestagsdrucksache vorgelegt, sondern v o m amtierenden Bundestagspräsidenten verlesen, s. R. Herzog (1983), i n : T. Maunz/G. Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Stand: September 1983, A r t . 63/Rdn. 15.

2 Schulze-Fielitz

18

I. Problemstellung

willen notwendigerweise auf derartige informale Regeln angewiesen ist. Folglich werden nicht nur Regeln erfaßt, die i n einem Alternativverhältnis zur Verfassimg stehen (und diese möglicherweise konterkarieren), sondern die sie (notwendigerweise) ergänzen. Ausgeschlossen sind verfassungsrechtlich bedeutungslose Regeln: Beispielsweise könnte man politikwissenschaftlich die Regel belegen, nach der die A r t der Koalitionsbildung i n Ländern und Gemeinden mit-geprägt w i r d durch die „Farbe" der jeweiligen Koalitionen auf Bundesebene — verfassungsrechtlich ist eine solche Regel(mäßigkeit) bedeutungslos, weil i h r kein normativer Anspruch zugrundeliegen dürfte. M i t dem unmittelbaren Verfassungsrechtsbezug ist schließlich die hier vorzunehmende Eingrenzung verbunden, daß es i m Falle von verfassungsethischen Regeln nicht u m die Regeln einer individuell kontingenten Moral oder Ethik geht, sondern um eine „objektivere" ethische Kern-Ethik öffentlichen Verhaltens. Die informalen Regeln dürfen m i t h i n nicht von besonders hohen moralischen Standards bestimmt sein, sondern müssen den Durchschnittsmaßstäben eines relevanten Teils der an der politischen Öffentlichkeit Beteiligten (d. h. auch: der Bürger) formulierbar sein. Informale Verfassungsregeln erweisen sich i n diesem Sinne als relevante Teile der politischen K u l t u r eines Verfassungsstaates. 3. Abgrenzungen: Verfassungskonventionen — Politische Kultur — Verfassungskultur (a) Der Begriff der informalen Verfassungsregel gewinnt nähere Konturen i m Lichte weiterer begrifflicher Bemühungen u m Erscheinungsformen des Informalen. Für einen Teil der informalen Verfassungsregeln scheint sich der (engere) Begriff der Verfassungskonventionalregel durchzusetzen; gemeint sind „Normen, die das Verhalten der Verfassungsorgane bestimmen, ohne daß diese rechtlich dazu verpflichtet wären . . . also . . . Regeln, die über die Rechtsvorschriften hinaus den Spielraum politischer Entscheidungen einengen" 35 . Das sind vor allem die (regelmäßig am Beispiel des englischen Verfassungsrechts erläuterten8®) traditionellen Bräuche parlamentarischer Verhaltensweisen 87 , aber 85 So K.-U. Meyn, J Z 1977, 167 (167); s. auch ders., JöR 25 (1976), 133 (1491); ders., Die Verfassungskonventionalregeln i m Verfassungssystem Großbritanniens, 1975, S. 214 ff.: Sondernormen „zwischen Verfassungsrecht u n d V e r fassungsmoral"; s. zuletzt ferner B.-O.Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 434 ff.; f ü r Österreich G. Wielinger, F G ( = Festgabe) f ü r O.Weinberger, 1984, S. 211 ff., bes. 214 ff. 86 Ausf. K.-U. Meyn, Verfassungskonventionalregeln (Fn. 35), S. 25 ff.; s. auch K . Loewenstein, Staatsrecht u n d Staatspraxis von Großbritannien, Band

3. Verfassungskonventionen — Politische K u l t u r — Verfassungskultur

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auch Verhaltensregeln für andere Verfassungsorgane 88 . Alle Verfassungskonventionalregeln sind ein (wichtiger) Teil des informalen Verfassungsstaats; sie erschöpfen ihn aber nicht. Erstens ist (gegenständlich) nicht nur das Verhalten von Verfassungsorganen Thema des informalen Verfassungsstaats; Koalitionsvereinbarungen etwa oder der Parteienproporz in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten betreffen das Handeln von politischen Parteien bzw. von Rundfunkgremien. Zweitens werden räumlich die informalen Zwischen-Länder-Beziehungen i m Bundesstaat begrifflich vom herkömmlichen Anwendungsbereich der Verfassungskonventionen nicht erfaßt. Drittens schließlich legen Verfassungskonventionalregeln (zeitlich) stärker einen traditional gefestigten, relativ statischen, oft i n ständiger Übung sehr lange erprobten, „fast" schon verfassungsrechtlichen Regelcharakter nahe 89 , auch wenn mitunter nur ein Präjudiz regelbegründend w i r k t . Hier sollen aber auch solche Regeln einbezogen werden, deren Herausbildung gerade erst erkennbar oder intendiert (institutionalisiert) wird, u m den Prozeßcharakter informaler Regelstrukturen zu verdeutlichen. Auch ein (vorerst) erfolgloser Regelanspruch einer erheblichen Minderheit kann potentielle informale Verfassungsregeln indizieren. (b) Informale Verfassungsregeln lassen sich jedenfalls ζ. T. auch unter die Begriffe des politischen Stils, der politischen Kultur bzw. der Verfassungskultur rubrizieren. Mehr als eine bloß individuell-personenbezogene (beliebige) politische Stil-Frage und stärker als die verfassungs(rechts)unabhängigen kollektiven politisch-kulturellen Grundlagen der besonderen Eigenart eines Gemeinwesens i m historischen oder internationalen Vergleich ( = Politische K u l t u r 4 0 ) meint Verfassungskultur als spezifischer (Teil-)Ausschnitt der politischen K u l t u r eben jene nichtrechtlichen Rahmenbedingungen, die die gelebte Verfassung umfangen: nämlich die Gesamtheit der subjektiven Gewohnheiten, Einstellungen 1, 1967, S. 52 ff.; M.Lippert, Bestellung u n d Abberufung der Regierungschefs u n d ihre funktionale Bedeutung f ü r das parlamentarische Regierungssystem, 1973, S. 85 ff. 87 s. ζ. B. (außer den Genannten) weiter: T. Oppermann, W D S t R L 33 (1975), 7 (531); Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 4 8 7 1 88 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 434 ff. — Z u m u m s t r i t tenen Begriff des „Verfassungsorgans" s. K . Engelmann, Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht, 1977, S. 98 ff. 89 Vgl. K . - ü . Meyn, Verfassungskonventionalregeln (Fn. 35). — I n England m i t seinem ungeschriebenen Verfassungsrecht sind l a w u n d convention oft schwierig abzugrenzen u n d gleichermaßen verfassungsbedeutsam; überwiegend werden sie am K r i t e r i u m gerichtlicher Erzwingbarkeit unterschieden. 40 Zsfssd. C. Bohret/W. Jann/M.T.Junkers/E.Kronenwett, Innenpolitik und politische Theorie, 2. Aufl. 1983, S. 84 ff.; P.Reichel, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 42/1982, S. 13 ff.; s.a. G. Lehmbruch, Proporzdemokratie, 1967, S. 11 ff.; F. Hufen, AöR 100 (1975), 193 (231 ff.); speziell über „politischen S t i l " : A. Morkel, PVS 7 (1966), 119 ff. u n d unten bei Fn. 384. 2*

20

I. Problemstellung

und leitenden Wertvorstellungen wie Rechtsbewußtsein, Rechtssinn, Moral, Sozialvorstellungen, Achtung vor dem Recht sowie die korrespondierenden objektiven Handlungsweisen der Bürger, Pluralgruppen, Staatsorgane usw. i m Verhältnis zu Verfassung 41 . Informale Verfassungsregeln bilden wesentliche Strukturmerkmale der Verfassungskultur, die (unmittelbar oder mittelbar) speziell die Verfassung konkretisieren 4 2 : Beide stehen in enger Beziehung zueinander 48 . Gleichwohl läßt sich nicht jede informale Regel als solche unter den doch wohl zugleich positiv wertenden Begriff der „Verfassungskultur" subsumieren. Es sind durchaus informale Regeln denkbar, die man als stil- oder verfassungskulturwidrig bezeichnen kann; man denke nur an den „allgemeinen Brauch" 4 4 der Parteien, entgegen § 25 PartG bzw. A r t . 21 I 4 GG Spender und Spenden über 20 000,— D M nicht i m Bundesanzeiger zu veröffentlichen, oder an die parteipolitische Ämter-* patronage. Solche pathologischen Formen informaler Verfassungsregeln werden i m folgenden Text als Grenzüberschreitungen und Gefahren angesprochen 45 — i m Vordergrund stehen aber Beschreibung und Bewertung solcher Regeln, die Elemente der Verfassungskultur des Grundgesetzes zu sein scheinen und im Rahmen des geltenden (Verfassungs-) Rechts wirken. (c) Zusammengefaßt w i r d man, auch angeregt vom Begriff der öffentlichen Ordnung auf einfachgesetzlicher Ebene, versuchsweise definieren können: Informale Verfassungsregeln bilden die Gesamtheit jener ungeschriebenen Regeln für das Verhalten der führenden Amtsträger i n den obersten Staatsorganen, aber auch den politischen Parteien und vergleichsweise öffentlichkeitsbedeutsamen gesellschaftlichen Gruppen, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als auf Dauer unentbehrliche Voraussetzung eines geordneten Verfassungslebens betrachtet wird. 41 Vgl. P. Häberle, i n : Die Zeit (Fn. 1), S. 323 ff.; ders., Verfassungslehre (Fn. 1), S. 20 ff. m. ausf.Nw.; enger oder „rechtlicher" H.-P. Schneider, V V D S t R L 33 (1975), 157 (158): „ T e i l des v e r w i r k l i c h t e n Verfassungs rechts" (Diskussion). 42 Z u m Begriff der Rechtskultur A. Podgórecki, i n : E. E. Hirsch/M. Rehbinder (Hg.), Rechtssoziologie (Fn. 6), S. 271 (275); L.M.Friedman, Das Rechtssystem i m Blickfeld der Sozialwissenschaften, 1981, S. 202 ff. 43 s. a. M. Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegium, 1983, S. 19, der paragouvernementale Willensbildungsprozeduren als „gewachsene Verhaltensmuster" und Prägemerkmale der politischen K u l t u r ansieht. 44 So Minister O. Graf Lambsdorff (FDP), zit. nach F A Z v. 22. 2.1984, S. 5. — Auch wäre z. B. eine informale Regel verfassungskulturwidrig, derzufolge Minister wegen der Unschuldsvermutung nur bei einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung unbedingt zu entlassen sind, vgl. näher unten bei Fn. 399 ff. 45 s. z. B. unten bei Fn. 772 ff.

I I . Empirische Bestandsaufnahme: Auf der Suche nach informalen Verfassungsregeln (auf Bundesebene) Der folgende Überblick w i l l ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit aufgrund subjektiver Beobachtungen des bundesdeutschen Verfassungslebens einige informale Verfassungsregeln annäherungsweise kondensieren. E i n solcher Versuch übersieht nicht viele mögliche Einwände gegen eine solche Regelbildung: die durch sehr aktuelle Beispiele möglicherweise strukturell verzerrte Gewichtung einzelner Regeln; ihr empirisch i m Detail weithin unüberprüfter Thesencharakter (Fragwürdigkeit der Regeleigenschaft); die begrenzte Verallgemeinerbarkeit solcher Einzelbeobachtungen (Gefahr von Induktionsschlüssen). Indessen scheint trotz des, soweit ersichtlich, weitgehenden Fehlens unmittelbar einschlägiger empirischer politikwissenschaftlicher Untersuchungen 46 das hier ausgebreitete, als wohl bekannt vorausgesetzte (und deshalb nur lückenhaft belegte) Beispielsmaterial durchaus hinzureichen für eine erste Ordnung der Erscheinungsvielfalt. Ihre verfassungsrechtliche und «theoretische Untersuchung mag umgekehrt die Suche nach weiteren und präziser formulierten informalen Verfassungsregeln bestärken.

1. Proporzregeln im Verfassungsleben Z u den zentralen Erscheinungsformen des informalen Verfassungsstaats gehört die W i r k u n g von Proporzregeln, durch die die Vertreter von Teilmengen einer größeren Grundgesamtheit i n den Repräsentativorganen mehr oder weniger annähernd anteilig vertreten sein sollen. 48 Die empirische Erforschung informaler Verfassungsregeln i n der P o l i t i k wissenschaft stellt einerseits vor erhebliche methodische Probleme. Andererseits setzt die Fragestellung eine Vorgehensweise voraus, die sich Fragestellungen v o m Verfassungsrecht i n der Perspektive politisdi-administrativer Steuerung (auch einmal) vorgeben u n d sich nicht v o m schnellen V o r w u r f eines „etatistischen Bias" schrecken läßt (in diesem Sinne immer noch lesensw e r t : T. Eschenburg, Z u r politischen Praxis i n der Bundesrepublik, 2 Bände, 1961/1966). N u r wechselseitiges Lernen überwindet die sachlich k a u m erträgt liehe Distanz von Verfassungsrechts- u n d Politikwissenschaft u n d ihren zwei „Gemeinden" (so H. F. Zacher, Der Staat 22 [1983], 605, 606) auf den gemeinsamen Ebenen der Verfassungstheorie (vgl. H.Vorländer, Verfassung [Fn. 1], S.52ff.) oder der Verfassungspolitik (vgl. D.Grimm, i n : U.Bermbach [Hg.], Politische Wissenschaft u n d politische Praxis, 1978, S. 271 [274, 288 ff.]).

22

I I Empirische Bestandsaufnahme

A u s d r ü c k l i c h gesetzlich vorgesehen s i n d solche e h e r s e l t e n 4 7 ; sie begegn e n deshalb p r i m ä r i n e i n e r F ü l l e m e h r oder w e n i g e r g e f e s t i g t e r formaler

Erscheinungsformen

(a—c), v o n d e n e n d e r P a r t e i e n -

inbzw.

F r a k t i o n s p r o p o r z n u r eine w i c h t i g e F o r m u n t e r v i e l e n ist. D a b e i r e d u z i e r t sich einerseits d e r G e d a n k e d e r a n t e i l m ä ß i g e n T e i l habe o f t auf M i n d e r h e i t e n s c h u t z ; e r e r w e i t e r t sich andererseits auch a u f n i c h t - r e p r ä s e n t a t i v e O r g a n e oder I n s t i t u t i o n e n . I m U n t e r s c h i e d z u m P r o p o r z scheint i n s o w e i t der G e d a n k e d e r Parität (Gleichheit) eher a u f e i n s t ä r k e r zweigeteiltes gleiches G e g e n ü b e r v o n R e g i e r u n g u n d O p p o s i t i o n o d e r v o n d e n b e i d e n „ g r o ß e n " p o l i t i s c h e n L a g e r n oder M a c h t g r u p p e n h i n z u w e i s e n , das d a n n ü b l i c h e r w e i s e d i c h o t o m i s i e r t w i r d e t w a i n links/rechts, progressiv/konservativ, rot/schwarz, A r b e i t / K a p i t a l u. ä. I m f o l g e n d e n w e r d e n „ P r o p o r z " u n d „ P a r i t ä t " aber s y n o n y m verwendet. a) Fraktionsproporz

auf parlamentarischer

Ebene

F ü r das d u r c h u n s e r V e r h ä l t n i s w a h l r e c h t i n F r a k t i o n e n a u f g e g l i e d e r t e P a r l a m e n t s i n d P r o p o r z ü b e r l e g u n g e n (auch ü b e r die gesatzte G e s c h ä f t s o r d n u n g des § 12 G O - B T 4 8 h i n a u s ) die nächstliegende F o r m 47 E i n kurzer Blick auf rechtlich ausdrücklich vorgesehene Proporzregeln mag den Blick auch auf informale Anwendungsbereiche schärfen. Verfassungsrechtlich sollen Bundesbeamte anteilig aus allen Bundesländern k o m men (Art. 36 I GG), der Umsatzsteuer-Länderanteil steht diesen nach Maßgabe ihrer Einwohnerzahl zu (Art. 107 I 4 GG). Neben diesem regionalen Proporz kennt das Grundgesetz auch den Fraktions- (Art. 53a GG) bzw. den Parteienproporz (Art. 54 I I I GG: „nach den Grundsätzen der Verhältniswahl"). — A u f bundesgesetzlicher Ebene seien (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Regeln genannt, die das d'Hondtsche Höchstzahlverfahren festlegen: §§ 6 I, 7 I I I B W a h l G (Bundestagswahl nach Landeslisten bzw. Listenverbindungen), § 4 I I I BundespräsidentenwahlG (betr. die LandtagsabgeordnetenW a h l f ü r die Bundesversammlung) u n d die §§ 6 I I BVerfGG, 5 I I R i W a h l G (Wahl der Wahlmänner des BT-Richterausschusses zur W a h l der Bundesverfassungsrichter bzw. desjenigen zur W a h l der sonstigen Bundesrichter). — A u f diese Regelung w i r d mittelbar auch i n anderen Zusammenhängen Bezug genommen. Davon zu unterscheiden sind proportionale (z.B. tt Annäherungsnormen" § 4 I I BWahlO: „angemessene" Berücksichtigung der Parteien entsprechend dem letzten Wahlergebnis i n den Wahlausschüssen) sowie Minderheitenschutzklauseln, die i m p l i z i t i. d. R. dazu führen, daß parteipolitisch oder aus sonstigen Gründen unterrepräsentierte oder i n unterlegenen Positionen befindliche Pluralgruppen sich zur Geltung bringen können: So stellt etwa die GOB T differenzierend auf die F r a k t i o n bzw. 5 v. H. der Mitglieder des Bundestages ab (z. B. §§ 20 I I I , 25 I I , 26, 42, 44 I I I , 45 I I usw.), auf V* der Mitglieder (z. B. §§ 56 I 2, 97 I), auf Va der Mitglieder (z. B. §§ 21 I I , 60 I I ) oder umgekehrt auf 2/s der Mitglieder des Bundestages (§ 126 G O - B T betr. Abweichungen von der G O - B T ad hoc). 48 § 12 G O - B T lautet: „Die Zusammensetzung des Ältestenrates u n d der Ausschüsse sowie die Regelung des Vorsitzes i n den Ausschüssen ist i m V e r hältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen. Derselbe G r u n d satz w i r d bei Wahlen, die der Bundestag vorzunehmen hat, angewandt." E i n Überblick der v o m Bundestag (mit-)beschickten Gremien findet sich

1. Proporzregeln i m Verfassungsleben

23

allseitiger Machtteilhabe: Die Beweggründe für das Verhältniswahlrecht unter dem Regime des A r t . 21 GG verlängern sich i n die parlamentarische Selbstorganisation 49 . Die Verteilung der Gesamtredezeiten auf die Bundestagsfraktionen entwickelte sich vom anfänglichen Proporz nach der Fraktionsstärke (bis Beginn der 60er Jahre) über die absolute Gleichbehandlung aller Fraktionen zu einer seit der Beratung der Ostverträge 1972 wirkenden Verhältnisbestimmung durch (interfraktionelle Vereinbarungen), die die Koalition einschließlich ihrer Minister und Bundesratsvertreter i m Verhältnis zur CDU/CSU und ihrer Bundesratsvertreter verrechnete (damals i m Verhältnis HV2 zu IOV2 Stunden) 50 . Seitdem wurde nur der quantitative Schlüssel verändert (Grundsatz: 60 :40, i m Sinne von Regierung : Regierungskoalition : Opposition = 30 : 30 :40), erneut umstritten nach dem Einzug der Grünen i n den Bundestag 51 . Freilich gibt es hier notwendigerweise Grenzen, die zur Schematisierung der Proportionalisierung führen. Der Bundestagspräsident w i r d aufgrund informaler Regel stets von der stärksten Fraktion benannt; die variable Zahl seiner Vertreter w i r d aufgrund interfraktioneller Vereinbarung und seit 1961 ununterbrochen i n der A r t bestimmt, daß die stärkste Fraktion (neben dem Präsidenten) noch einen Vizepräsidenten, die zweitstärkste Fraktion zwei, die drittstärkste Fraktion einen stellen". Auch der Vorsitzende eines der (ständigen) Ausschüsse w i r d bei P.Schindler (Bearb.), Datenhandbuch (Fn. 30), S. 928 ff.; s.a. F.Schäfer, Der Bundestag, 2. Aufl. 1975, S. 56 ff. 49 Vgl. W. Schmidt, Der Staat 9 (1970), 481 (485, 488, 493 ff. u. ö.). 50 s. H.-P. Schneider, Die parlamentarische Opposition i m Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1974, S. 246; s. aber ausf. H.-R. Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, 1976, S. 11 ff., 31 f., 46 f., zur grds. Bedeutung u n d Rechtfertigung der jetzigen Praxis ebd. S. 98 ff., zsfssd. S. 131 f.; H.-J. Vonderbeck, ZParl 8 (1977), 404 ff.; W.Ismayr, Parlamentarische K o m m u n i kation u n d Abgeordnetenfreiheit, 1982, S. 7 ff. 81 H.-J. Vonderbeck, Z P a r l 8 (1977), 409 ff.; F A Z v. 30.4.1983, S. 4. 52 Vgl. P. Schindler (Bearb.), Datenhandbuch (Fn. 30), S. 222 ff. — Die „ G r ü nen" (seit 1983) stellen, so w i e i n den ersten beiden Wahlperioden verschiedene kleinere Parteien auch schon, keinen Vizepräsidenten. Dies wäre eine bewußte Regelabweichung, w e n n sich „die Gewohnheit eingebürgert (hätte), auch die Anzahl der Vizepräsidenten so zu erweitern, daß alle Parteien proportional i m Präsidium vertreten sind" (so G. Loewenberg, Parlamentarismus i m politischen System der Bundesrepublik Deutschland, 1969, S. 176 f.; ähnlich spricht H.-P. Schneider, i n : Kommentar zum Grundgesetz f ü r die Bundesrepublik Deutschland [ A K - G G ] , 1984, Bd. 2, A r t . 4 0 / R d n . 4 von einem „Parlamentsbrauch, daß jede F r a k t i o n mindestens einen Stellvertreter ins Präsidium entsendet".). Hinsichtlich der „Erweiterungs"-These stimmt dies empirisch nicht; verfassungsrechtlich ist es nicht geboten, vgl. W. Schmidt, Der Staat 9 (1970), 497. E i n solches Gebot könnte sich aber informal aus dem Umstand ergeben, daß das Präsidium politische Sanktionen bei Verstößen gegen den Verhaltenskodex nach Anlage 1 der G O - B T beschließen k a n n : Solche Entscheidungen setzen nach Κ. M. Meessen, FS f. U. Scheuner, 1973,

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I I Empirische Bestandsaufnahme

nicht vom Ausschuß bestimmt (so aber § 58 GO-BT), sondern von der Fraktion benannt, der der Ausschußvorsitz aufgrund interfraktioneller Vereinbarung zusteht (Präsentationsrecht) 53 ; der Ausschuß stimmt allenfalls bei Widerspruch ab 54 . Der strenge Fraktionsproporz nach § 12 GO-BT w i r d m i t h i n durch informale Regeln ergänzt. Würde etwa bei der Beschickung kleiner Gremien nach den Verhältnismaßregeln eine kleinere Koalitionspartei herausfallen, so hat sich durchgesetzt, daß durch eine Listenverbindung der Koalitionsparteien auch einem Vertreter jener kleineren Partei (konkret etwa der FDP) Teilhabe ermöglicht wird, denn grundsätzlich soll i n jedem ständigen Ausschuß jede Fraktion mit mindestens einem Mitglied vertreten sein 55 . Umgekehrte Prozesse auf der Ebene der Oppositionsparteien gab es nach dem Einzug der Grünen i n den Bundestag ansatzweise5®. K a u m noch erkennbar ist der „Fraktionsproporz" beim Kontradiktionsrecht der Oppositionsfraktion(en) 57: Hier w i r d der Paritätsgedanke von Regierungsmehrheit) und Opposition(sminderheit) noch deutlicher 58 . Auch bei der Zusammensetzung der Enquete-Kommission ist der A n teil der Bundestagsabgeordneten an der Kommission i n praxi höher als S. 431 (453) parteipolitische Neutralität u n d daher auch voraus, daß alle Parteien i m Präsidium vertreten sind. 53 H. Troßmann, Parlamentsrecht, 1977, § 69/Rdn. 2 unter Hinweis auf eine interfraktionelle Vereinbarung v o m 2.12.1965; U.Bernzen, ZParl 8 (1977), 36 (37); a. A . jetzt aber N. Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 194 unter H i n weis auf H. Troßmann, Parlamentsrecht u n d Praxis des Deutschen Bundestages, o. J. (1967), S. 38. 54 H. Troßmann, Parlamentsrecht 1977 (Fn. 53), § 69/Rdn. 3. — A u f Landesebene (in NRW) lehnte jüngst die SPD-Landtagsmehrheit das C D U - M d L R. Klein als (nach „Parlamentsbrauch" von den Regierungs- u n d Oppositionsfraktionen alternierend zu benennenden) Vorsitzenden eines Untersuchungsausschusses i m vorhinein ab, was zu Recht als einmaliger E k l a t i n der L a n d tags-Geschichte zu werten ist, vgl. F A Z v. 23. 5.1984, S. 4 u n d 12, u n d nach Intervention des Ältestenrates sofort revidiert wurde, F A Z v. 25. 5.1984, S. 4 u n d 12, u n d v. 1. 6.1984, S. 5. — Z u den Gründen dieser Bindungskraft s. u. bei Fn. 612 ff. 55 Vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. A u f l . 1984, S. 1043. 56 Die SPD verzichtete nicht auf eigene Rechte, wollte aber das G-10-Grem i u m u n d die Parlamentarische Kontrollkommission i n dem Umfang erweitert sehen, daß auch die „Grünen" vertreten gewesen wären, s. F A Z v. 18. 5.1983, S. 2; die Regierungskoalition lehnte dieses ab, s. F A Z v. 24. 5.1983, S.4. — Vgl. auch BVerfGE 30, 1 (31): „einseitige" (?) Besetzung des Gremiums „ i m Zweifel (?) mißbräuchlich" (?). 57 ff.-P.Schneider, Opposition (Fn. 50), S. 245f.; es ist schrittweise k o d i f i ziert worden, vgl. §§ 33 G O - B T 1969, 35 I I G O - B T 1980. 58 Es setzt sich außerparlamentarisch als Kontrast von Bundeskanzler und „Kanzlerkandidat" fort — von K . Seemann, Die V e r w a l t u n g 13 (1980), 137 (144) zur Verfassungskonventionalregel erhoben.

1. Proporzregeln i m Verfassungsleben

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ursprünglich beabsichtigt 59 und nun ungefähr entsprechend der Fraktionsstärke verteilt worden 60 . Schließlich haben sich auch außerhalb des Bundestags Proporzregeln herausgebildet: So war bis M a i 1982 der Vertreter des Bundesrates an der Spitze des Vermittlungsausschusses nach A r t . 77 I I GG ein Ministerpräsident, der einer anderen Partei angehörte als der aus dem Bundestag kommende Mit-Vorsitzende 6 1 ; diese Regel wurde damals partiell, d. h. bei Wahrung der Parteienparität, durchbrochen durch die erstmalige Wahl eines Ministers (D. Posser, NRW) zum Mit-Vorsitzenden 62 . b) Parteienproporz I m Gegensatz zum schematisierten, ζ. T. rechtlich geregelten Fraktionsproporz sind die Erscheinungsformen des allgemeinen Parteienproporzes — wie auch die informalen Fraktionsproporzregeln — nicht streng arithmetisch für alle Parteien, sondern variabler ausgestaltet, mitunter zur Parteienparität zwischen den beiden „großen" politischen Lagern vereinfacht. Das ist möglicherweise Reflex des Umstandes, daß Parteiproporzüberlegungen i n Exekutive, Justiz und nicht-staatlichen Bereichen leichter als sachfremd erscheinen und teilweise auf der Grenze zur Verfassungswidrigkeit angesiedelt sind (Stichwort: Ämter patronage, hier als „Proporzpatronage" 6 ®). aa) Regierung und Verwaltung Hinsichtlich (hier interessierender) Proporzregeln ist ein erster A n knüpfungspunkt die Parteipolitisierung der Ministerialbürokratie. Rechtlicher Ansatzpunkt sind einmal die „politischen Beamten", deren Amtsausübung „ i n fortdauernder Übereinstimmung m i t den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung stehen muß" (§ 31 BRRG). I m Bund gehören dazu vor allem die Staatssekretäre und Ministerialdirektoren und einige andere Vertrauensposten, schließlich Beamte des höheren Dienstes i m Auswärtigen Dienst, Bundesnachrichtendienst und Bundesamt für Verfassungsschutz von der Besoldungsgruppe A 16 an 64 . Dennoch ist es — anders als möglicherweise i n einigen 59 Vgl. ausf. D. Ratzke, F A Z v. 24. 5.1983, S. 8, der Enquete-Kommissionen von Proporz u n d parteitaktischen Vorgaben durch parteiinterne Beraterkreise weitgehend entwertet sieht. 80 H. Troßmann, JöR 28 (1979), 1 (127). 81 So F A Z v. 5. 5.1982, S. 5. 82 Vgl. H. Herles, F A Z v. 14. 5.1982, S. 3. 63 Z u r Typisierung s. T. Eschenburg, Ämterpatronage, 1961, S. 12 ff.; zum Thema ausf. zuletzt: H.H.v. Arnim, i n : C. B o h r e t / H . Siedentopf (Hg.), V e r w a l t u n g u n d Verwaltungspolitik, 1983, S. 219 ff. m. w. Nw. 84 Vgl. Einzelheiten i n § 36 BBG. Z u ihrer Rechtfertigung: H. Trautmann, Innerparteiliche Demokratie i m Parteienstaat, 1975, S. 68 ff.; zur K r i t i k T.

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Bundesländern — heute nicht so, daß eine (neue) Regierung, auch nicht allmählich, nur politische Beamte eigener Couleur einsetzt bzw. gegen andere austauscht. Zumindest auf Ministerialdirektorenebene bleiben oft „alte Hasen" i n A m t und Würden, sofern sie politisch weniger „sensible" Abteilungen leiten (können) und/oder als „loyal" gelten, oder mangels personeller Alternativen 6 5 . Eine Sonderstellung nimmt hier das Auswärtige Amt ein, i n dem während der sozialliberalen Zeit der CDU angehörende Staatssekretäre und Abteilungsleiter neu ernannt wurden, und i n dessen Korps politischer Beamter stets Mitglieder aller Parteien (mit Übergewicht „bürgerlicher" Parteien!) vertreten waren®8 — Ausdruck der außenpolitischen Solidarität aller Bundestagsparteien bis 1983. — Auch die Spitzenpositionen von BND und BfV werden i. S. einer Solidarität der Demokraten* 7 so besetzt, daß der Vizepräsident dem anderen großen politischen „Lager" zugerechnet werden kann 6 8 . Gerade weil informale Proporzüberlegungen hier die rechtliche Möglichkeit der einseitigen Herrschaft einer Partei mildert, w i r d die starke rechtliche Ausweitung der Einrichtung der „politischen Beamten" nach § 36 BBG i n ihren W i r kungen gemäßigt, gewinnt das Proporzdenken eine besondere Rechtfertigung. Eschenburg, Ämterpatronage (Fn. 63), S. 71 ff. („legalisierte Patronage"); W. Berg, M D R 1973, 185 (189 f.). 65 Gerade Loyalität k a n n ihnen bei einem erneuten Regierungswechsel politisch-psychologisch schaden. — Ausf. empirisches Material bei B. Steinkemper, Klassische u n d politische Bürokraten i n der Ministerialverwaltung der Bundesrepublik Deutschland, 1974, S. 45 ff.; P.Grottian, Strukturprobleme staatlicher Planung, 1974, S.95ff.; K.Dyson , Die V e r w a l t u n g 12 (1979), 129ff.: 1972 w a r das Verhältnis von SPD- zu CDU-Abteilungsleitern 2 :1, bei den Unterabteilungsleitern 2 : 1 , 4 (ebd. S. 153); F.K.Fromme, F A Z v. 9.11.1983, S. 12, hält solches f ü r einen „ungeschriebenen Proporz", dem zufolge der Opposition ein D r i t t e l der politischen Beamten zukomme. M Vgl. K . Dyson , Die V e r w a l t u n g 12 (1979), 136 (Fn. 10). — Dieser Umstand läßt sich a u d i umgekehrt so darstellen, daß auf parteipolitische Gesichtspunkte eben keine Rücksicht genommen w i r d , s. zur C S U - K r i t i k an der koalitionspolitisch „falschen" Personalpolitik i m Auswärtigen A m t : F A Z v. 9.11. 1983, S. 4 u n d 12. 67 Zugleich schützt sie eine (nach M. Kriele, Einführung i n die Staatslehre, 1975, S. 194, bestehende) Konventionairegei, daß Geheimdienste nicht zur parteipolitischen Inlandsaufklärung mißbraucht werden. ®8 Vgl. F A Z v. 19.10.1982, S. 2, wonach Bundesinnenminister H.-D. Genscher (FDP) einst alle drei (damaligen) Bundestagsfraktionen an den drei Posten des BfV-Präsidenten, seines Vertreters u n d des Leiters der aufsichtsführenden A b t e i l u n g i m Bundesinnenministerium teilhaben ließ. Präsident des B f V ist seit F r ü h j a h r 1983 H. Hellenbroich (CDU), Vizepräsident St. Pelny (SPD), vgl. F A Z v. 13. 5.1983, S. 1. — Neben den der C D U / C S U zuzuredinenden Präsidenten des B N D w a r 1971—1979 ein Sozialdemokrat Vizepräsident (D. Biötz), 1984 soll es wieder einer werden (W. Koch); zwischenzeitlich (1979— 1982) w a r K. Kinkel (FDP) BND-Präsident, s. Angaben i n Der Spiegel Nr. 12/ 1984, S. 38 ff.

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Problematisch ist die Ausweitung von parteipolitischen Proporzüberlegungen auf nicht-politische Beamte, weil der Teufel Ämter- oder audi nur Proporzpatronage schlecht durch den Beelzebub ausgetrieben w i r d : Die Existenz von „politischen Beamten" bestätigt gerade die (prinzipielle) Verbannung parteipolitischer Gesichtspunkte i m Regelfall 6 ·. Empirisch exakt belegbare Regeln der Proporzpatronage scheuen wegen ihrer verfassungsrechtlichen Zweifelhaftigkeit das Licht der Veröffentlichungen 70 ; Belege müssen hier deshalb durch halb-informierte Spekulationen ergänzt werden. Informell w i r d z.B. auch die Leitung des Bundeskriminalamtes proportional besetzt, obwohl es sich nicht um politische Beamte i. S. des § 36 B B G handelt. Der Proporz i n den Bundesministerien unterhalb der Abteilungsleiterebene ist indessen, soweit ersichtlich, empirisch kaum untersucht worden (weil kaum untersuchbar) 71 . Zwar ist die Auswahl der Mitglieder der Ministerbüros und von Planungsstäben oft (auch) parteipolitisch bestimmt 7 2 . Auch fällt gelegentlich auf, daß nach dem Regierungswechsel 1982/83 eine Reihe von Unterabteilungsleitern i n „unwichtigere" Unterabteilungen „schräg" versetzt worden sind, um altgedienten Referatsleitern i m Hause Platz zu machen, die auch Mitglied der CDU sind. Doch belegen solche parteipolitischen Überlegungen der Ämterpatronage, die selber die K r a f t einer informalen Regel erhalten haben, als solche noch kein Proporzdenken. Auch hier w i r d man von Ministerium zu Ministerium unterscheiden müssen, deren Beamtenkorps teils eher „rot", teils eher „schwarz", teils „gesprenkelt" ist; letzteres könnte auf Proporzüberlegungen verweisen. So soll ζ. B. das Arbeitsministerium zu den eher „gesprenkelten" Häusern gehören, während i n jungen Ministerien wohl eher sozial-liberale Beamte dominieren, i m W i r t schaftsministerium (jedenfalls früher) der CDU angehörende oder nahestehende Beamte 78 . Freilich ist zu zweifeln, ob hier immer ProporzÜberlegungen wirksam waren oder ob nicht die Regierungswechsel 1966 und 1969, jetzt auch 1982/83 die Strukturen der Ministerialbürokratie in der Zeit (erst) pluralisiert haben: Das Kanzleramt war 1969 jeden69 J. Isensee, i n : E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland ( = HandbVerfR), 1983, S. 1149 (1169); vgl. noch näher unten bei Fn. 825 ff. 70 K r i t . zur Äußerung von Oppositionsführer H.-J. Vogel, i n allen bayerischen Ministerien gebe es n u r zwei sozialdemokratische Referatsleiter, F A Z v. 9.11.1983, S. 12: „ A n m e l d u n g des Anspruchs auf ein illegitimes Verfahren". 71 Ausnahme: B. Steinkemper, Bürokraten (Fn. 65), die i m m e r h i n die U n terabteilungsleiter einbezieht, vgl. S. 13 f., aber m i t Daten aus 1972; s. a u d i Κ. Dyson, Die V e r w a l t u n g 12 (1979), 133 ff., 152 ff. 72 F. Wagener, W D S t R L 37 (1979), 215 (235); K.Seemann, Die V e r w a l t u n g 13 (1980), 140 f.; empirische Belege bei P. Grottian, Strukturprobleme (Fn. 65), S. 95. 78 Insoweit K . Dyson, Die V e r w a l t u n g 12 (1979), 137 f.

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falls fest i n der Hand von christdemokratisch orientierten Beamten 74 . Immerhin spricht eine Vermutung für Proporzüberlegungen i n solchen Häusern, in denen auch auf der Ebene der politischen Beamten eine parteipolitisch gemischte Gesellschaft existiert. „Unterhalb" und „neben" der Ministerialverwaltung lassen sich Parteiproporzregeln kaum nachweisen, auch wenn „verselbständigte Verwaltungseinheiten" 7 5 bzw. „ministerialfreie Räume" 7 8 ohne gesetzliche Sperren dies nahelegen könnten. Ausdrücklich auf Proporz soll freilich (informell) in der Verwaltung des Bundestages (ab Besoldungsgruppe A 16) geachtet werden; darin läge die Bestätigung einer informalen Gemeinsamkeit des gesamten Bundestages, was ebenso untypisch wie relativ rechtfertigungsfähig wäre. I m übrigen dürften Spitzenpositionen freilich (auch) nicht völlig ohne parteipolitische Überlegungen besetzt werden, selbst wenn sie keine offiziellen Entscheidungskriterien bilden; indessen treten diese angesichts ihrer rechtlichen und funktionellen Einbindung i n rechtlich strukturierten Kollektivorganen nahezu völlig zurück 77 . Statt parteipolitischer erhalten oft gruppenplurale Proporzüberlegungen größeres Gewicht (s. u.). A m ehesten problematisch ist die Besetzung von Kontrollorganen der Regierung m i t parteipolitisch aktiven Spitzenbeamten der jeweiligen (stärksten) Regierungspartei, wie es i n Bund und Ländern bei den Präsidenten der Rechnungshöfe ausnahmslos üblich ist: N u r gelegentlich w i r d allenfalls bei der Auswahl der Vizepräsidenten auf parteipolitische Balance geachtet 78 ; eine Parlamentswahl der Rechnungshofpräsidenten m i t Zweidrittelmehrheit würde ihre Vertrauensbasis faktisch und symbolisch stärken 79 . — Auch eine Besetzung der Präsidenten der Landeszentralbanken und des Bundesbankdirektoriums m i t ausgewiesenen Parteipolitikerri würde die Gefahr einer Parteipolitisierung des Zentralbankrates heraufbeschwören und damit dem Sinn der gesetzlichen Unabhängigkeit der Bundesbank 80 zuwiderlaufen 81 . 74

Vgl. K.Seemann, Entzaubertes Bundeskanzleramt, 1975, S. 31; k r i t . R. Steinberg, Die V e r w a l t u n g 11 (1978), 309 (316f.); K.Dyson , Die V e r w a l t u n g 12 (1979), 135 ff. 76 s. grdl. die Typologie bei G.F. Schuppert, Die E r f ü l l u n g öffentlicher A u f gaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, 1981, S. 5 ff. 79 s. E. Klein, Die verfassungsrechtliche Problematik des ministerialfreien Raumes, 1974, S. 58 ff. 77 Vgl. zu solchen Ausgleichsfaktoren G. Püttner, Verwaltungslehre, 1982, S. 196 f. 78 So m i t empirischen N w . G.Mann, Z P a r l 12 (1981), 353 (359ff.); s. zur K r i t i k : H.H. v. Arnim, DVB1. 1983, 664 (671, 672); vgl. auch G. Püttner, FS f. C . H . U l e , 1977, S. 383 (398); K.Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 466. 79 I n diesem Sinne: K . Wittrock, Bull. 1984, 613 (613f.); gegen die damit verbundene Gefahr einer interfraktionellen Ämterverteilung ders., D Ö V 1984, 649 (650).

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Exkurs: Der „Arnold-Schlüssel" Auch auf Landesverfassungsebene lassen sich Erscheinungsformen subformaler Regeln m i t verfassungstheoretischer Bedeutung nachweisen. Als aktuelles Beispiel sei der „Arnold-Schlüssel" erwähnt. Seit der Regierungszeit des Ministerpräsidenten K. Arnold (CDU) i n NordrheinWestfalen (1947—1956), über drei Jahrzehnte lang, werden die fünf Regierungspräsidenten als politische Beamte nach einem parteipolitischen Proporz besetzt, unabhängig von der Zusammensetzung der jeweiligen Landesregierung: Je zwei gehören der SPD und CDU an, einer der FDP (ursprünglich war wohl auch noch das Zentrum vertreten) 82 . I m Herbst 1983 wurde der der FDP angehörende Düsseldorfer Regierungspräsident A. Rhode von der Landesregierung i n den einstweiligen Ruhestand versetzt. Die führenden FDP-Landespolitiker interpretierten diese Maßnahme als Affront gegen ihre Partei und Konsequenz jener veränderten parteipolitischen Bündnisperspektiven, die nach der Wende i n Bonn 1983 schon zur Entlassung der drei FDPangehörigen Staatssekretäre durch die SPD-Landesregierung geführt hatte (diese waren nach den Landtagswahlen 1980 trotz Ausscheidens der FDP aus Landtag und Landesregierung i m A m t geblieben). Die Landesregierung verstand die Abberufung des Regierungspräsidenten hingegen nicht parteipolitisch; nach ihrer Interpretation galt die Maßnahme der Person des Amtsinhabers, der provozierend und bewußt die Politik der Landesregierung zu konterkarieren versucht haben soll 83 . Unter deutlichem Mißfallen der SPD suchte die Landesregierung folgerichtig bei der Neubesetzung gemäß dem „Arnold-Schlüssel" nach einem Nachfolger aus den Reihen der FDP. Nach mehrfachen Absagen, die der Auffassung des FDP-Landesvorstandes korrespondierten, wurde schließlich ein 62jähriger parteiloser Ministerialrat aus dem NRW-Innenministerium zum neuen Regierungspräsidenten ernannt 84 . Schon die Benennung als „Arnold-Schlüssel" verweist historisch auf die Entstehungszeit der Wiederaufbauphase der Bundesrepublik und damit auf ein mögliches sachliches Grund-Motiv: alle (partei-)politisch relevanten Kräfte beim (Verwaltungs-) Wiederauf bau des Landes zu 80 Z u i h r R. Schmidt, i n : R. Grawert (Hg.), Instrumente der sozialen Sicherung u n d der Währungssicherung i n der Bundesrepublik Deutschland u n d i n Italien, 1981, S. 61 (65 ff., 69); G. F. Schuppert, E r f ü l l u n g (Fn. 75), S. 10. 81 K.Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 466, sieht auch die Bundesbank bereits durch Parteipatronage gewichtig beeinflußt. 82 F A Z v. 19.10.1983, S. 7. 88 Vgl. F A Z ebd. u n d v. 26.10.1983, S. 5. 84 Dieses „ k o m m t einer Übergangsentscheidung gleich, w e i l die Stelle dam i t kurz nach der Landtagswahl 1985 abermals so gut w i e zur Disposition stehen w i r d " , so F A Z v. 8.11.1983, S. 6.

I I Empirische Bestandsaufnahme

vereinigen 85 . Solche Ursprungsmotive können verblassen; eine bleibende Proporzpraxis läßt aber vermuten, daß sie durch neue Sachgesetzlichkeiten getragen wird. bb) Rechtsprechung Parteiproporzregeln w i r k e n auch i n der Dritten Gewalt bei der Besetzung der höchsten Justizämter 8®. Für das BVerfG liegt es i n der Logik seiner Funktion — politische Rechtsstreitigkeiten in verfaßter Form zu lösen —, daß die beiden großen politischen Lager angemessen repräsentiert sein sollen 87 ; schon die i m Wahlmännerausschuß des Bun^ destages und i m Bundesrat erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit erzwingt den Konsens einer Großen Koalition 8 8 . CDU/CSU und SPD haben seit bald drei Jahrzehnten i n „gleichsam autokephalen Prozeduren" (!) die „feste Usance" (!) gegenseitiger Besetzungspräferenzen für bestimmte Richterstellen als grundsätzliches „Arrangement" kreiert 8 9 , sofern nicht „völlig unakzeptable Kandidaten" präsentiert werden 90 . Das A m t von Präsident und Vizepräsident als den Vorsitzenden der Senate w i r d seit geraumer Zeit entsprechend „paritätisch" besetzt 91 , wobei 1983 erstmals seit Bestehen des Gerichts ein Sozialdemokrat für 4 Jahre Präsident geworden ist. Aber auch die Richterw a h l ist eine politische Entscheidung und deshalb parteipolitisch sensibel: 12 der 16 Bundesverfassungsrichter gehören einer der drei „großen" politischen Parteien an, davon einer der FDP, die seit 1971 informell einen Platz vom größeren Partner i n der Koalition i m Bund zugesprochen erhielt 9 2 . Nach dem KoalitionsWechsel 1982 hatte die FDP 85 Wo solche traditionellen Übungen fehlen, gelingt es einer Oppositionspartei heute offenbar nicht mehr, den Posten eines Leiters der Mittelbehörde zu erhalten, s. z . B . zu vergeblichen Forderungen der SPD i n RheinlandPfalz F A Z v. 7. 2.1984, S. 10. 86 Vgl. auch P. Gilles, DRiZ 1983, 41 (43 f.) m. w. Nw. 87 a. Α. Ν. Achterberg, Parlamentsrecht (Fn. 53), S. 518, der „ausschließlich die fachliche Qualifikation" zum Maßstab machen möchte; ähnlich E.Teubner, Die Bestellung zum Berufsrichter i n B u n d u n d Ländern, 1984, S. 10 ff. 88 B.-O.Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 148 ff.; s.a. D.Grimm, i n : HandbVerfR (Fn. 69), S. 317 (363). 88 K.Kröger, F G B V e r f G I, 1976, S. 76 (94); die W ö r t e r - W a h l verweist t y pisch auf informale Verfassungsregeln. — Ebenso salopp w i e falsch gewendet Der Spiegel Nr. 46/1978, S. 92: „ m e h r gewohnheitsrechtlich als rechtlich einwandfrei". 80 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 149. Nach R. Wassermann, RuP 20 (1984), 5 (6) sind (deshalb?) Versuche der SPD, „progressiv orientierte Hochschullehrer f ü r die W a h l zum Bundesverfassungsrichter v o r zuschlagen, ausnahmslos gescheitert". 91 K. Kröger, F G B V e r f G I, S. 100 f. Selbst die gleichzeitige Ernennung beider Senatsvorsitzenden zu Honorarprofessoren durch den Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz (1978) taucht so i n den Schummer des wissenschaftsfremden Parteienproporzes. 88 So F. K. Fromme, F A Z v. 21.10.1982, S. 12, und v. 16. 6.1983, S. 6; anders

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offenbar Schwierigkeiten, ihren 1983 neu zu wählenden, nun vom „CDU-Kontingent" abzuzweigenden und entsprechend „passenden" Kandidaten unter den amtierenden Bundesrichtern zu finden, wie es bisheriger Lehre 9 8 und informaler Praxis 9 4 entsprach; so wurde, der Logik des Parteien- wie auch des Berufsproporzes durchaus entsprechend, erstmals wieder ein Hechtsanwalt Richter des Bundesverfassungsgerichts 95 . Dieser Parteien- oder Richtungsproporz w i r d zwar von den Richtern selber i. d. R. als für die Alltagspraxis zweitrangig heruntergespielt 9® — wer ist oder hält sich schon für so befangen, daß die Fronten nicht auch querbeet verlaufen; bei der Richterwahl w i r d aber — und dies nach der Eigeneinschätzung der Verfassungsrichter 97 und i m Hinblick auf einige parteipolitisch bundesweit besonders umstrittene, den jeweiligen Senat polarisierende Streitfragen wohl nicht zu Unrecht — vor allem auf den Parteienproporz geachtet 98 , an dem die nachrangigen, auch ausschlaggebenden fachlichen und (früher wichtigen) föderativen Gesichtspunkte so wie alle anderen Erwägungen ihre Grenze finden 99 . Es war nur eine Ausnahme begrenzten Charakters, daß 1975 erstmals seit Jahrzehnten wieder zwei parteiungebundene Staatsrechtslehrer gewählt wurden 1 0 0 : Auch sie sind i m Proporz als „äquidistanziert" verrechnet. Die Forderung, auch die bislang ungeregelte Zusammensetzung der Dreier-Ausschüsse nach § 93 a BVerfGG parteipluralistisch zu beK. Kröger, F G B V e r f G I, S. 97 f., der f ü r 1971 von einem Verzicht der C D U / CSU auf ihre Vorschlagspräferenz (für den F a l l der Wiederbesetzung des Präsidentenpostens) berichtet. 98 s. T.Maunz (1971), i n : T. Maunz/G. Dürig, G G (Fn.34), A r t . 94/Rdn. 14; W. Geiger, EuGRZ 1983, 397 (398 ff.); a. A . B.Erhard, EuGRZ 1983, 473 (474 f.). 94 s. F A Z v. 4.7.1982, S. 5 (betr. die gleichgelagerte Problematik 1971); W. Geiger, EuGRZ 1983, 400 f. 95 Verfassungsprozeßrechtlich gebilligt von BVerfGE 65, 112 ff. — Z u einer weiteren Pikanterie s. u. betr. informale I n k o m p a t i b i l i t ä t e n bei Fn. 449. 98 Zuletzt etwa H.Simon, i n : HandbVerfR (Fn. 69), S. 1253 (1274); W.Zeid1er, i n : Bull. 1983, S. 1288. 97 s. die empirische Untersuchung von M. Riegel/R. Werle/R. Wildenmann, Selbstverständnis u n d politisches Bewußtsein der Juristen, 1974, zit. nach K. Kröger, F G B V e r f G I , S. 86 f. 98 Vgl. publizistisch i n diesem Sinne sowohl Der Spiegel Nr. 46/1978, S. 84 ff., als a u d i F. K. Fromme, F A Z v. 11. 5.1983, S. 1; zu weiteren Proporzüberlegungen s. u. Fn. 130 ff. 99 W. Billing, Das Problem der Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht, 1969, zsfssd. S. 220 ff.; ders., i n : K . Sontheimer /H. H. Röhring (Hg.), Handbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 1977, S. 132 (150 ff.). 100 Vgl. K . Kröger, F G B V e r f G I, S. 98, der als erneuerte Regel sieht, daß ein D r i t t e l der Stellen m i t Personen besetzt werden, die den großen Parteien gleich akzeptabel seien u n d f ü r die allein die fachliche Qualifikation den Ausschlag zu geben habe. Vielleicht ist das (auch) eine E r k l ä r u n g f ü r den hohen A n t e i l parteipolitisch gebundener Professoren bei den Richterwahlen 1983, vgl. zu ihnen F A Z v. 16. 6.1983, S. 6.

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I I Empirische Bestandsaufnahme

setzen 1 0 1 , l i e g t ebenso ganz i n d e r L o g i k dieser E n t w i c k l u n g 1 0 2 w i e d i e F o r d e r u n g nach e i n e r V e r t r e t u n g s r e g e l u n g , die die „ p l u r a l i t ä r e "

Zu-

s a m m e n s e t z u n g d e r Senate b e w a h r t 1 0 3 . A n d e r s l i e g e n d i e M e h r h e i t s v e r h ä l t n i s s e i m Richterwahlausschuß

für

die Bundesrichter: D a h i e r die r e i n e einfache M e h r h e i t r e i c h t 1 0 4 , k ö n n t e v o n einer p o l i t i s c h e n M e h r h e i t rigoros „ d u r c h g e w ä h l t " werden105. P r a k t i s c h g a l t f r e i l i c h j e d e n f a l l s d a n n e i n begrenztes P r o p o r z d e n k e n , w e n n d i e M e h r h e i t s v e r h ä l t n i s s e p a r i passu standen, w i e es v o n F e b r u a r 1976 b i s 1981 d e r F a l l w a r 1 0 8 ; andererseits w i r d k o l p o r t i e r t , daß v o n d e n 1970 b i s 1975 108 g e w ä h l t e n B u n d e s r i c h t e r n 80 d e m einen, n u r 28 d e m a n d e r e n L a g e r „ n a h e s t a n d e n " 1 0 7 . J ü n g s t w u r d e v o n e i n e m (sozialdemokratischen) A u s s c h u ß m i t g l i e d ö f f e n t l i c h berichtet, erstmals i n d e n 15 J a h r e n seiner M i t g l i e d s c h a f t sei a m 24.2.1983 i m R i c h t e r w a h l a u s schuß k e i n e e i n v e r n e h m l i c h e , w i e f r ü h e r m e i s t e i n s t i m m i g getragene, u n g e f ä h r e P r o p o r z l ö s u n g gesucht w o r d e n , s o n d e r n es sei — u n t e r E i n r ä u m u n g eines Vorschlagsrechts f ü r (nur) e i n e n v o n f ü n f R i c h t e r s t e l l e n a n d i e S P D - A u s s c h u ß m i t g l i e d e r — e i n s e i t i g ohne Interesse a n Z u s a m menarbeit von der CDU/CSU/FDP-Mehrheit „durchgewählt" worden 108. 101

F.K.Fromme, F A Z v. 9.4.1984, S. 5; k r i t . aber BVerfG-Vizepräsident a. D. W.Seuffert, F A Z v. 2. 5.1984, S. 19. 102 Schon jetzt werden Nichtzulassungs-Beschlüsse der Vorprüfungsausschüsse unter Nennung der Richternamen öffentliche politische Streitgegenstände, s. z. B. F. K. Fromme, F A Z v. 9. 4.1984, S. 5 (betr. die Verfassungsbeschwerde der Hoechst A G gegen ein U r t e i l des A r b G Frankfurt), andererseits FR v. 5.4.1984, S. 1 (betr. die Mehrfachbestrafung von sog. Totalverweigerern, vgl. B V e r f G N J W 1984, 1675); s. a. zum „ T r i o infernale" Der Spiegel Nr. 21/1982, S. 67 ff. 108 s. R. Wassermann, ZRP 1984, 151 f. 104 s. z. B. R. Herzog (1973), i n : T. Maunz/G. Dürig, GG (Fn. 34), A r t . 95/Rdn. 68. Anders sind i n Hessen oder Schleswig-Holstein 2 /s der abgegebenen S t i m men i m Richterwahlausschuß erforderlich, s. allg. zum Problem K.Ipsen, DÖV 1971, 469 ff.; J. E. Strelitz, FS f. M. Hirsch, 1981, S. 355 ff. 105 Solches behauptet für die SPD „z. B. bei der W a h l F. Jobs zum Β A r b G 1975": W. Billing, i n : Handbuch des politischen Systems (Fn. 99), S. 519 (523). 108 z. Z. besteht das parteipolitische Verhältnis von C D U / C S U / F D P - K o a l i tion zu SPD i m Richterwahlausschuß 14 : 8 ; gleichwohl werde „ein passables Maß von Verständigung u n d wechselseitiger Rücksicht eingehalten, wobei es auch Chancen f ü r Parteilose gibt", so F A Z v. 10.12.1983, S.7; ähnlich R. Wassermann, i n : A K - G G (Fn. 52), A r t . 95/Rdn. 27; a. A. C.Arndt, RuP 19 (1983), 239. 107 W.Meyer, i n : I . V . M ü n c h (Hg.), GG-Kommentar, 1. A u f l . 1978, A r t . 95/ Rdn. 15 (naturgemäß unbelegt), aufgenommen von K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 2, 1980, S.404; s.a. E.Teubner, Bestellung (Fn. 87), S. 29. I n der (im folgenden zitierten) 2. Aufl. 1983 nennt W. Meyer jetzt unter Berufung auf die Deutsche Tagespost v. 24. 3.1976, S. 1, wieder etwas andere Zahlen, s. A r t . 95/Rdn. 16. 108 C.Arndt, RuP 19 (1983), 239; umgekehrt sieht W.Meyer, i n : I. v. Münch (Hg,), GG-Kommentar (Fn. 107), A r t . 95/Rdn. 16, i m Auszug der SPD-Ausschußmitglieder am 24. 2.1983 G r u n d für Furcht vor übergroßer Politisierung.

1. Proporzregeln i m Verfassungsleben

Hier werden erste Gefahren offenkundig: solchen Analysen erkennbare parteipolitische die offenbar — obwohl kaum kontrollierbar mell praktiziert w i r d 1 0 9 . Ferner zeigt sich, Proporzregeln möglicherweise nicht immer male Regeln ersetzt wird.

Einmal überrascht die i n Durchleuchtung der Justiz, oder nachprüfbar — infordaß das Fehlen rechtlicher durch präzisierende infor-

Vor allem die Gerichtspräsidenten werden, nicht anders als i n den Ländern 1 1 0 , (auch) unter parteipolitischen Gesichtspunkten ausgesucht. A u f Bundesebene gibt es hier Proporz-Überlegungen 111 . Schon ζ. Z. der sozialliberalen Koalition wurde vereinbart, daß der (Ende Juni 1984 ausgeschiedene) BSG-Präsident G. Wannagat (SPD) durch einen „der CDU/ CSU genehmen" Kandidaten zu ersetzen sei 112 , w e i l auch B G H und B A G ζ. Ζ. von Sozialdemokraten repräsentiert werden und der (obzwar parteilose) Präsident des BVerwG der SPD „zugerechnet" w i r d ; die CDU ist (seit 1983) durch den BFH-Präsidenten vertreten. cc) Nicht-staatlicher Bereich Parteipolitische Proporzregeln erstrecken sich schließlich auch i n den nicht-staatlichen und gesellschaftlichen Bereich. Bei den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten sind nicht nur die schon gerichtlich umstrittene 1 1 3 parteipolitische proportionale Überformung der Rundfunkund Verwaltungsräte 1 1 4 , sondern selbst die Besetzung der leitenden 109 I m übrigen wären i m zeitlichen Längsschnitt jeweilige — möglicherweise kompensatorische — gegenläufige Tendenzen zu überprüfen. 110 Nicht zufällig w i l l die Landesregierung von Schleswig-Holstein die Kompetenzen des Richterwahlausschusses bei der Wahl der Gerichtspräsidenten einschränken, s. F A Z v. 13.2.1984, S.4; FR v. 14.2.1984; S. 4; Der Spiegel Nr. 10/1984, S.94f. — Anders als auf Bundesebene scheinen parteipolitische Hintergründe bei Landes-Gerichtspräsidenten aber stärker K r i t i k zu finden, s. aus neuerer Zeit: F.K.Fromme, F A Z v. 19.5.1982, S. 12 (betr. L S G Darmstadt), der freilich sozialdemokratische Bewerber strenger zu beurteilen geneigt ist; s. a ders., F A Z v. 25. 5.1984, S. 12. — Nach der „Wende" 1982 auch i n Nordrhein-Westfalen erhielt ein der FDP zuzuordnender Richter entgegen vorherigen Planungen nicht, w i e zuvor, die Präsidentschaft des V G Minden. 111 s. ausf. F A Z v. 24.11.1982, S. 5 (vor der N e u w a h l des BFH-Präsidenten). 112 F A Z v. 10.12.1983, S. 7, u n d v. 2. 3.1984, S. 6, hier auch zum „verhaltenen" V o t u m des Präsidialrates des BSG zum neuen BSG-Präsidenten H. Reiter, einem Ministerialdirigenten aus Bayern. — Der (ungenannte) H i n t e r grund: Wenige Jahre zuvor soll seine Bewerbung u m die Position eines L S G Präsidenten i n Bayern nicht erfolgreich gewesen sein, ohne daß er zwischenzeitlich zusätzliche richterliche Praxiserfahrung hätte gewinnen können. 113 O V G Lüneburg, D Ö V 1979, 170 ff. m. A n m . W. Kewenig, ebd. S. 174 f. u n d H.H.Rupp, JZ 1979, 28f.; ferner M.Stock, AöR 104 (1979), I f f . ; neuerdings BVerfGE 60, 53 ff. (betr. NDR-Staatsvertrag v o m 20. 8.1980). 114 Z u r K r i t i k : C.Starck, ZRP 1970, 217 (219 f.); ders., Rundfunkfreiheit als Organisationsproblem, 1973, S. 24 ff.; W. Kewenig, Z u I n h a l t u n d Grenzen der Rundfunkfreiheit, 1978, S. 21 ff., 67 ff.; W.Schmitt Glaeser, K a b e l k o m m u n i -

3 Schulze-Fielitz

I I Empirische Bestandsaufnahme

journalistischen Positionen proportioniert 1 1 5 ; i n „Personalpaketen" werden allen Parteien Anteile an Spitzenpositionen (Intendant, Direktoren, Hauptabteilungsleiter, Verwaltungsleiter, Chefredakteure usw.) garantiert 1 1 8 . — Auch i n den damaligen dreiköpfigen Vorstand der Ludwigshafener Anstalt für Kabelkommunikation, die Trägerin des Pilotprojektes i n Konkurrenz zum öffentlich-rechtlichen Hundfunk, wurde „binnenpluralistisch" je ein Anhänger der damaligen Bundestagsparteien gewählt 1 1 7 . — Sogar bei Universitäten soll die Parteipatronage wirksam sein 118 . Auch sonst finden sich i m Bereich der nicht-staatlichen Öffentlichkeit Parteiproporzüberlegungen i n höchst unterschiedlichen Zusammenhängen. I m Vorstand des DGB findet sich unter seinen (traditionell regelmäßig der SPD nahestehenden) Mitgliedern stets auch eines der CDU 11 ", dessen kritische Stellungnahmen gegen eine CDU-geführte Regierung i n der Öffentlichkeit besonders beachtet zu werden scheinen 120 . Schließlich gelten Proporzregeln bei der Herausgabe, Zusammenstellung, Organisation, Verantwortung usw. von Podiumsdiskussionen, Tagungen 121, Vortragsreihen 122, (Hand-)Büchern 123, Vereinen 124, der Veröffentlichung von Stellungnahmen 125, der Gestaltung von Fußnoten 128 u. a. m. kation u n d Verfassung, 1979, S. 102 ff., bes. 106 ff.; D. Grimm, i n : HandbVerfR (Fn. 69), S. 365 ff. 115 s. bereits K . v. Bismarck, I m m e r mehr Proporz i m Rundfunk?, 1966, S. 12; ferner: C.Starck, Rundfunkfreiheit (Fn. 114), S. 6, 27 ff. Nicht zufällig gehören fast 54 % der Inhaber von Führungspositionen i n den Rundfunkanstalten einer politischen Partei an, während es bei vergleichbaren Pressejournalisten w e i t weniger sind, s. U. Hoffmann-Lange t Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 47/1983, S. 11 (12, 18). 116 So w a r es (nach Angaben des WDR-Verwaltungsrats H.Kühn, SPD) bislang durchgehende Praxis beim WDR, daß der Fernseh Chefredakteur des WDR der C D U angehörte. W e i l 1983 der Nachfolger eine weniger parteipolitisch geprägte „Fachlösung" darstelle, sei es — bei einem sozialdemokratischen Intendanten — geboten, bei der W a h l des Fernsehdirektors stärker „ i n Richtung CDU" zu gehen, s. Bonner G A v. 9.12.1983, S. 15; Der Spiegel Nr. 10/1984, S. 81 (86). 117 P. Boehnisch („gilt als der C D U nahestehend") u n d die Parteimitglieder D. Fertsch-Röver (FDP) u n d U. Lohmar (SPD), so F A Z v. 21. 7.1982, S. 4. 118 So K . Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 466 (ohne Beleg). 119 Früher Maria Weber, heute G. Fehrenbach (als stv. Vorsitzender). Diese Regel scheint auch für die Einzelgewerkschaften zu gelten, s. ζ. B. f ü r die Gewerkschaft der Eisenbahner (GdED) die jüngsten Auseinandersetzungen: FR v. 10. 2.1984, S. 4. — s. ausf. zur Rolle der CDU-(Minderheits-)Gewerkschafter Der Spiegel Nr. 18/1984, S. 34 ff. 120 s. ζ. B. F A Z v. 18.1.1984, S. 1 zur negativen Äußerung von Bundeskanzler H. Kohl zur 35-Stunden-Woche. 121 Selbst das Präsidium des Evangelischen Kirchentages bestand 1977— 1983 k a u m zufällig aus K . v. Bismarck (parteilos), R. v. Weizsäcker (CDU) u n d E. Eppler (SPD). 122 M a n denke an die Grundwerte-Debatte, ausgelöst durch Vorträge von H. Schmidt (SPD), H. Kohl (CDU) und W. Maihof er (FDP) vor der K a t h o l i -

1. Proporzregeln i m Verfassungsleben

c) Pluralistische

35

Proporzregeln

Neben dem Fraktions- und Parteienproporz gibt es offenbar weitere, pluralistisch fundierte informelle Proporzregeln. Als Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl 1984 waren evangelische CDU-Politiker (E. Albrecht, R. v. Weizsäcker) favorisiert „nach der merkwürdigen, aber offenbar i n den oberen Rängen der Union noch nicht als unbeachtlich geltenden Regel, daß nicht auch der Bundespräsident katholisch sein sollte, wenn Bundeskanzler und Bundestagspräsident es sind" 1 2 7 . Bei der Diskussion der Kabinettszusammensetzung gilt Minister W. Dollinger ζ. Z. als evangelischer Repräsentant der CSU (und soll insoweit eine „unangreifbare" Stellung i m Kabinetts-Mosaik einnehmen), ähnlich wie i m Bayerischen Kabinett Innenminister K. Hillermeier. Schon i n den 50er Jahren waren die Kabinette K. Adenauer von konfessionellen Proporzüberlegungen bestimmt — Reflex des Umstandes starker Überrepräsentation des katholischen Elements i n den Führungsgruppen von CDU und CSU einerseits (zwei D r i t t e l ihrer Bundestagsfraktion sind katholisch 128 ), des bewußt christlich gefärbten politischen Gestaltungsanspruchs andererseits (man spricht salopp vom „hohen C") 1 2 9 . Selbst die Zusammensetzung des BVerfG läßt sich, freilich i n umgekehrter Perspektive, konfessionspolitisch betrachten. Was wohl vor der sehen Akademie i n Hamburg, dokumentiert bei G. Gorschenek (Hg.), G r u n d werte i n Staat u n d Gesellschaft, 1977, S. 11 ff. 128 s. das schon erwähnte von E. Benda, W. Maihof er u n d H.-J. Vogel herausgegebene Handbuch (Fn. 69). 124 Die wissenschaftlich orientierte u n d gesellschaftlich offene „Vereinigung f ü r Parlamentsfragen e.V." achtet bei der Besetzung ihres Vorstandes i n formell (nicht nach der Satzung) auf Parteienparität, s. (das Vorstandsmitglied) F. K. Fromme, F A Z v. 9.12.1983, S. 6. 125 s. z. B. den gemeinsamen Leserbrief von G. Leber (SPD) u n d A. Mertes (CDU) als Mitglieder des Z K der Deutschen K a t h o l i k e n zu ihrer gemeinsamen Stellungnahme gegen die Wertungen der US-amerikanischen Bischofskonferenz zur atomaren Rüstung: F A Z v. 21.4.1983, S. 9. 126 s. etwa U. Steiner, W D S t R L 42 (1984), 31 (Fn. 118). 127 F. K . Fromme, F A Z v. 22.11.1983, S. 12. 128 Einzelheiten bei P.Schindler (Bearb), Datenhandbuch (Fn. 30), S. 193; speziell zur konfessionellen Parität T. Eschenburg, Ämterpatronage (Fn. 63), S. 55 ff. 129 Konfessionelles Denken bei der Besetzung höchster Staatsämter ist der SPD fremder. Das atmosphärische Gewicht, das der i m Januar 1984 erneuerten Mitgliedschaft von zwei Sozialdemokraten (G. Leber u n d A. Rapp} i m Z K der deutschen K a t h o l i k e n beigemessen w i r d , weist auf die „katholische U n terbilanz" ; der bewußte Protestant G. Heinemann als Bundespräsident neben den nicht-katholischen W. Brandt u n d A. Renger als Bundeskanzler bzw. B u n destagspräsidentin w a r f ü r die SPD i n den Jahren 1972—1974 k e i n Problem. Insoweit indiziert der Umstand, daß seit Jahrzehnten die Hälfte der SPDFraktionsmitglieder oder mehr ihre Konfession i m Bundestagshandbuch nicht angeben, eine Indifferenz schon zu ihrem eigenen „Bekenntnis", die eine parallele Gleich-Gültigkeit bei der Besetzung höchster Staatsämter vermuten läßt. 3*

36

I I Empirische Bestandsaufnahme

Wahl von Minister R. Herzog, dem Vorsitzenden des Evangelischen Arbeitskreises der CDU, zum Vizepräsidenten des BVerfG „noch nicht zum Problem gemacht werden sollte" 1 3 0 , ist i n unserem Zusammenhang als Tatsache beachtlich: die (traditionell) starke Repräsentanz protestantisch ausgesprochen engagierter Verfassungsrichter. Derzeit gibt es i m Ersten Senat, soweit ersichtlich, nur zwei Katholiken 1 8 1 . Gleichgültig, ob dieser Umstand Beleg gerade für die Nicht-Existenz von Proporzüberlegungen i m Wahlmännerausschuß 182 oder nur Ausdruck der allgemeinen Überrepräsentation von Protestanten i n den gesellschaftlichen oder staatlichen Führungspositionen ist, aus denen auch BVerfG-Richter rekrutiert werden 1 3 8 — er ist weder irrelevant (man denke nur an das Subsidiaritätsprinzip oder die Fragen u m § 218 StGB!) noch unproblematisch (Stichwort: Konfessionalisierung des BVerfG?) 184 . Unter den sonstigen Proporzregeln fällt auf, daß sie oft nur i n bestimmten Sachbereichen oder auch nur abgeschwächt-symbolisch gelten. Z u nennen ist der — rechtlich kaum geregelte 135 — Geschlechterproporz. Heute gibt es nur noch wenige Spitzen-Gremien oder Institutionen, i n denen nicht (wenigstens) eine Frau symbolisch i m „Gruppenbild mit Dame" vertreten wäre 13®. Man denke an die Regierungen von Bund (seit 1961)137 und Ländern 1 8 8 , an den Kreis der Botschafter 139 , an das BVerfG 1 4 0 , 130

So P. Häberle, AöR 107 (1982), 1 (14, Fn. 27). Dafür mehrere aktive Protestanten: Neben R.Herzog den derzeitigen Kopräsidenten des Evangelischen Kirchentages (H. Simon), einen vormaligen hohen Kirchenbeamten (D. Katzenstein), einen der Evangelischen Kirche eng verbundenen Hochschullehrer (K.Hesse); Richter J.F.Henschel ist Superintendenten-Sohn. 132 I m (Bundes-)Richterwahlausschuß scheint n u r bei der Besetzung der Präsidentenstellen (mit abnehmender Tendenz) der Religionsproporz eine Rolle zu spielen, so W. Billing, i n : Handbuch des politischen Systems (Fn. 99), S. 519 (523). 133 So W. Billing, i n : Handbuch des politischen Systems (Fn. 99), S. 132 (152). — Konfessionelle Überlegungen wurden eher innerhalb der unionsbenannten Richter angestellt, so daß das deutliche protestantische Übergewicht T r a d i t i o n hat, s. D. P. Kommers, Judicial Politics i n West Germany, Beverly Hills 1976, S. 147 f. i. V. m. Tab. 5, zit. nach B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 149. 134 Von den staatskirchenrechtlichen Verfassungsbeschwerden waren (per 31.12.1980) 41,9 % erfolgreich, bei allen (anderen) n u r 1,16%, s. A. Höllerbach, AöR 106 (1981), 218 (222), der die Kirchen „nicht zuletzt" durch diese Rechtsprechung „rechtlich gut situiert", i h r W i r k e n „ o p t i m a l gewährleistet" sieht (S. 278). 136 So aber § 6 I I I 2 PostVerwG (v. 24.7.1953, B G B l . I , 676): Unter den Gewerkschaftsvorschlägen für die Besetzung des Postverwaltungsrates muß sich „mindestens eine F r a u als Vertreter des weiblichen Personals befinden". 136 Selbst f ü r den Schweizer Bundesrat w u r d e 1983 erstmals eine F r a u als offizielle Fraktionskandidatin vorgeschlagen, auch w e n n sie (noch) nicht gew ä h l t wurde, vgl. F A Z v. 8.12.1983, S. 3. 137 Weil die (Frauen i n der) C D U / C S U - F r a k t i o n die Aufnahme einer F r a u i n das K a b i n e t t verlangte(n), w u r d e das Gesundheitsministerium neu ge131

37

1. Proporzregeln i m Verfassungsleben

die R i c h t e r u n d S e n a t s p r ä s i d e n t e n d e r obersten B u n d e s g e r i c h t e 1 4 1 u. a. m . Die „Unterrepräsentation"

der Frauen i m Bundestag ist

sprichwört-

lich142, ihre A u f w e r t u n g bei der Europawahl u n d jüngst durch den „ r e i n weiblichen" Fraktionsvorstand der „ G r ü n e n " e i n symbolischer,

inter-

f r a k t i o n e l l b e d e u t s a m e r A k t 1 4 3 . D e r Geschlechterproporz scheint u n t e r d e m E i n f l u ß „ d e r " F r a u e n b e w e g u n g ζ. Z . v o n besonders

dynamischer

K r a f t zu sein144. I m Bundesstaat s p i e l e n a u f Bundesebene (schwach) auch i m m e r w i e d e r i n f o r m a l e 1 4 5 P r o p o r z g e s i c h t s p u n k t e regionaler Herkunft eine R o l l e , schaffen, s. E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt der Regierung, 1964, S. 195. — Beamtete Staatssekretärinnen gab es seit 1949 bis heute (für je ca. 3 Jahre) n u r zwei (H. Hamm-Brücher 1969—1972; A.Fuchs 1977—1980), p a r lamentarische Staatssekretärinnen i m m e r h i n fünf, vgl. P. Schindler (Bearb.), Datenhandbuch (Fn. 30), S. 322 ff. 188 Frauenlose Kabinette sind freilich nicht n u r seltene Ausnahme, s. ζ. B. (seit Dezember 1983) die NRW-Landesregierung, deren „frauenloser" Zustand p r o m p t die K r i t i k ζ. B. der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen provozierte, FR v. 30.1.1984, S. 4, u n d v. 7. 5.1984, S. 4; erstmals seit Jahren gibt es dafür wieder eine Frau i m Bremer Senat, F A Z v. 26.1.1984, S. 3. — Z u r Rolle der Frauen i m Bundesrat ausf. H.-J. Melder, Das Parlament Nr. 25/ 1984, S. 16. 189 s. jetzt die Ernennung einer zweiten Frau (G. Rheker) zur Botschafterin (in Belgrad): Bonner G A v. 26./27. 5.1984, S. 4. 140 V o n Anfang an (von E. Schef fier über W. Rupp-von Brünneck bis z. Z. G. Niemeyer); schon das äußere Indiz, daß nach dem Verzicht auf Wiederw a h l bzw. nach dem Tode der Vorgängerin stets wieder eine F r a u gewählt wurde, verweist auf Proporzüberlegungen. — 1983 gab es unter den 81 Landesverfassungsrichtern aber n u r 1 Richterin, s. Statistisches Jahrbuch 1983, S. 326. 141 s. die Forderung von BSG-Präsident G. Wannagat nach mehr als n u r 2 Bundesrichterinnen am BSG, zit. nach S.Löf fier, SGb 1980, 175; zum Problem einer fehlenden Senatspräsidentin am B V e r w G s. (krit.) F A Z v. 7.7. 1983, S. 8. — Vgl. jetzt auch die (offenbar gezielte) W a h l (allein) von zwei Bundesrichterinnen, F A Z v. 2.3.1984, S. 6; zu den auffälligen Unterschieden i m Grad der Repräsentanz der Richterinnen i m Bundes- (und Landes-)dienst s. Statistisches Jahrbuch 1983, S. 326. 142 Der Frauenanteil i m Bundestag hat noch nie mehr als 10 % ( = jetziger Höchststand) betragen. E i n statistisch i m Umkehrschluß sichtbarer G r u n d ist: Weibliche Parlamentarier sind signifikant älter u n d häufiger alleinstehend oder kinderlos als der Durchschnitt aller M d B , vgl. P. Schindler (Bearb.), Datenhandbuch (Fn. 30), S. 188 f.; zur Analyse H.Kaack, Z P a r l 12 (1981), 165 (195 ff.). 148 Vgl. n u r ausf. Der Spiegel Nr. 15/1984, S. 19 ff.; Die Zeit v o m 13.4.1984, S. 2. 144 M a n denke auch (unterhalb der Verfassungsebene) an die Diskussion u m die „Quoten"-Regelungen, dazu (eher krit.) W. Schmitt Glaeser, D Ö V 1982, 381 (385 ff.). 145 Rechtlich w i r k t oft der Bundesrat (als Bundesorgan) als M i t t l e r föderat i v e r (nicht unbedingt regionaler) Interessen, s. z. B. seine Vorschlagsrechte für den Postverwaltungsrat (§ 5 I I PostVerwG), den Bundesbahnverwaltungsrat (§ 10 I I BbG); oder jede Landesregierung erhält ein Ernennungsrecht (z.B. § 9 I GjS betr. die Bundesprüfstelle f ü r jugendgefährdende Schriften).

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I I Empirische Bestandsaufnahme

z . B . b e i d e r B e s e t z u n g v o n Verfassungsrichterstellen 1 4 ®, b e i sonstigen Bundesrichterwahlen m i t Länder-Vorschlagspräferenzen u n d -quoten147, auch b e i d e r r e g i o n a l e n (länderspezifischen) A u s g e w o g e n h e i t d e r B u n desregierung 148. Selbst eine repräsentativ-pluralistische Zusammensetzung des Parlaments w i r d d i s k u t i e r t 1 4 9 , w i e sie i m G e d a n k e n e i n e r „ m a t e r i e l l e n G e w a l t e n t e i l u n g " i. S. des B V e r f G angelegt z u s e i n s c h e i n t 1 5 0 . D i e l a n g e T r a d i t i o n solcher K r i t i k a n d e r Z u s a m m e n s e t z u n g d e r P a r l a m e n t e 1 5 1 , d i e statistisch noch n i e m a l s eine r e p r ä s e n t a t i v e S t i c h p r o b e d e r W a h l b e v ö l k e r u n g w a r , t r ö s t e t n u r schwach: Das G l e i c h g e w i c h t d e r K r ä f t e als B e d i n g u n g eines b a l a n c i e r t e n Willensbildungsprozesses w i r d b e i f e h l e n d e r A u s g e w o g e n h e i t d e r personalen Z u s a m m e n s e t z u n g s t ä n d i g bedroht 152. Die starke Überrepräsentation von öffentlich Bediensteten i m B u n d e s t a g , so s c h w i e r i g i h r e E r m i t t l u n g u n d B e w e r t u n g a u f e i n e n g e n a u e r e n z w e i t e n B l i c k auch i s t 1 5 3 , l ä ß t m a n c h e n eine S t e u e r u n g d u r c h p a r t i e l l e I n e l i g i b i l i t ä t e n e r w ä g e n 1 5 4 , o b w o h l solche nach b i s l a n g ganz 146 Vgl. B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 150. — Ä h n l i c h w i r d auch der E u G H inf ormai nach Nationalitätenproporz zusammengesetzt, s. I. Pernice , Grundrechtsgehalte i m Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1979, S. 50. 147 s. F A Z v. 10.12.1983, S. 7; R. Wassermann, i n : A K - G G (Fn. 52), A r t . 95/ Rdn. 27. 148 So erhielt der niedersächsische C D U - M d B W. von Geldern i m März 1983 auch deshalb eine neu geschaffene zweite Stelle eines parlamentarischen Staatssekretärs i m B M E L F , w e i l nach dem schon zu diesem Zeitpunkt geplanten Weggang der pari. StS i m B M J (H. H. Klein, wegen seiner W a h l zum Verfassungsrichter) u n d B M A (H. Franke, wegen seiner Ernennung zum Präsidenten der B f A i m F r ü h j a h r 1984) k e i n niedersächsischer CDU-Politiker mehr i n der Bundesregierung vertreten gewesen wäre, s. bereits allg. F A Z v. 11.1.1983, S. 5. — Gerade parlamentarische Staatssekretäre bzw. Minister ohne Portefeuille sind Instrumente zur Erreichung von Konsens bestimmter Gruppen, vgl. Κ . ν . Beyme, Die V e r w a l t u n g 2 (1969), 279 (285 ff.), auch w e n n sich nicht nachweisen läßt, daß M o t i v f ü r die Schaffung parlamentarischer Staatssekretäre 1966 die Erleichterung bei der Postenverteilung i n der Großen K o a l i t i o n war, so F. K. Fromme, Z P a r l 1 (1969/70), 53 (61, 64). 149 s. (u.a. betr. die Kandidatenauswahl) T.Oppermann, H.Meyer, E.-W. Böckenförde u n d H. Soell, W D S t R L 33 (1975), 7 (46) bzw. 69 (91) sowie 133 u n d 166 f. (Diskussion); K. Schiaich, AöR 105 (1980), 188 (234 ff.); empirische Analyse des 9. Bundestages bei H. Kaack, Z P a r l 12 (1981), 165 (181 ff.), der eine seit mehreren Wahlperioden „ausgesprochen festgefügte" (konstante) S t r u k t u r feststellt. 160 s. dazu BVerfGE 40, 296 (321) u n d P.Häberle (1976), i n : ders., K o m m e n tierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 215 (222, 227); aufgenommen bei K. Schiaich, AöR 105 (1980), 234. 151 E.Burke, Betrachtungen über die französische Revolution (1790), 1967, S. 80 ff., 92 f., 119 ff. u. ö. 162 s. H.H. v.Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, 1984, S. 328. 153 Vgl. die Daten bei A.Hess, ZParl 7 (1976), 34ff.; ders., Z P a r l 14 (1983), 486 ff.; P.Schindler (Bearb.), Datenhandbuch (Fn. 30), S. 197 ff.

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herrschender Auffassung verfassungswidrig wären 1 5 5 . Das Problem verschärft sich i n dem (für Fragen des Beamtenrechts zuständigen) Bundestagsausschuß für Inneres, i n dem die Verbandsfunktionäre der Beamten „fast unter sich" sein sollen15®. Bei der parteieninternen Kandidatenauswahl spielen auch geschlechter-, konfessions-, alters-, Parteigruppen- und berufsspezifische, dominierend aber regionale Proporzüberlegungen eine je eigentümliche 157 Rolle 1 5 8 . Eine angemessene Repräsentation der jeweils bedeutsamen gesellschaftlichen Gruppen steht vor dem ζ. T. fast unlösbaren AuswahlDilemma. Relativ einfach ist die Regel einzuhalten, daß i n der Leitungsebene des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales stets (auch) ein Vertrauensmann der Gewerkschaften vertreten sein sollte 159 , so wie auch der Vizepräsident der Bundesanstalt für Arbeit „traditionell" von Gewerkschaftern besetzt w i r d 1 6 0 ; auch sonst gibt es vielfältige Erscheinungen der Verbandspatronage 1β1. Auch und gerade dort, wo pluralistische Proporzüberlegungen ihren rechtlichen Niederschlag gefunden haben, bleiben informelle „Feinabstimmungen" erforderlich, vor allem — kompensatorisch — i m Bereich der ministerialfreien Verwaltung bzw. verselbständigter Verwaltungseinheiten 1 ® 2 . „Angemessen" pluralistische, d. h. auch den verbandlichen Proporz berücksichtigende Überlegungen müssen ζ. B. der Zusammensetzung des Verwaltungsrats der Deutschen Bundesbahn gelten (§ 10 BbG1®3), dessen 20 Mitglieder mindestens zur Hälfte faktisch von der Gesamtwirtschaft und den Gewerkschaften (je 5) ernannt werden, ohne daß stets deren Interessen denen 154 s. K. Schiaich, AöR 105 (1980), 194 f., 211 ff., 230 ff.; zust. J. Isensee, i n : HandbVerfR (Fn. 69), S. 1149 (1156); weitere Überlegungen bei Η . Η . v. Arnim, Staatslehre (Fn. 152), S. 368 ff. 155 N w . bei K . Schiaich, AöR 105 (1980), 213; zuletzt wieder D.Tsatsos/M. Morlok, Parteienrecht, 1982, S. 11 f. 156 So Η . Η . v. Arnim, i n : V e r w a l t u n g (Fn. 63), S. 222 unter Berufung auf F. Wagener, V V D S t R L 37 (1979), 237. 157 Z u r signifikanten Abweichung der grünen Abgeordneten s. H.Fogt, ZParl 14 (1983), 500ff.; sie sind z.B. deutlich jünger u n d beruflich mehr dem Dienstleistungsbereich verhaftet (Ve sind Lehrer!). 158 D.Herzog, Politische Führungsgruppen, 1982, S. 87f. m. w. N w . ; zur Dominanz des föderal-territorialen Elements der Proporzpraktiken bei (Vorstands-, Delegierten- usw.)Wahlen s. J. Risse, Der Staat 21 (1982), 239 (249). 159 K r i t . zum Einfluß der Verbände auf die Kabinettszusammensetzung K.v. Beyme, i n : W. Steffani (Hg.), Parlamentarismus ohne Transparenz, 1971, S. 124 (126 f.); P.Badura, Z P a r l 11 (1980), 573 (580). 1β0 Der Spiegel Nr. 29/1984, S. 17; auch die derzeitige Vizepräsidentin 17. Engelen-Kefer w a r zuvor beim DGB-Bundesvorstand Abteilungsleiterin gewesen. 1β1 Grdl. T. Eschenburg, Ämterpatronage (Fn. 63), S. 66 ff. 162 Grdl. G. F. Schuppert, E r f ü l l u n g (Fn. 75), zum Verwaltungsrat als Typus bes. S. 278 ff. 168 V o m 19. 12. 1951, BGBl. I, 955.

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I I Empirische Bestandsaufnahme

der Bundesbahn parallel laufen 1 8 4 ; Ansätze für eine Pluralisierung 1 6 5 entbehren deshalb i m Grundsatz nicht einer gewissen Folgerichtigkeit. Ähnliches g i l t für den Postverwaltungsrat 1ββ; man denke ζ. B. auch an die Rundfunkräte (und ihre Verwaltungsräte) 167 . Nicht ohne Verfassungsrelevanz sind auf Verwaltungsebene ζ. B. auch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (§ 9 GjS 1 6 8 ) oder der Verwaltungsrat der Filmförderungsanstalt 169 zu nennen, i n denen durch einen latent verzerrten Pluralismus „hinter" dem Rücken der personalvorschlagsberechtigten Kreise es zu einer einseitigen Dominanz einzelner Gruppen kommen kann 1 7 0 . Gerade eine gewisse „Staatsfreiheit" der Materien legt eine pluralistische Zusammensetzung nahe 171 . Ähnlich ist zu denken an die Filmbewertungsstelle i n Wiesbaden, die Auswahlausschüsse bei der Vergabe der Bundesfilmpreise 172 , die Organisationen der Forschungsförderung usw.; ihr unmittelbarer Verfassungsbezug verdünnt sich hier, auch wenn ihre Verfahrens- und organisationsgerechte Konkretisierung der Freiheiten aus Art. 5 I und I I I GG bedeutsam ist 1 7 3 . Pluralismustheoretisch brisant ist die Sachverständi164 s. A. Dittmann, Die Bundesverwaltung, 1983, S. 169 unter Berufung auf L. Schomerus, Die organisatorische Eingliederung der Interessenverbände i n die Bundesverwaltung, Diss. j u r . Heidelberg 1959, S. 99 f. 165 s. auch den E n t w u r f eines Bundesbahnsanierungsgesetzes der Bundestagsfraktion der Grünen (BT-Drs. 10/808), der auf der Vorschlagsliste des Ministers f ü r Verwaltungsratsmitglieder auch Persönlichkeiten der Verbraucher u n d Umweltschutzverbände berücksichtigt sehen w i l l , vgl. G. Fromm, N V w Z 1984, 348 (348). 166 Vgl. §§ 2, 5 I I , 12 PostVerwG; dazu A. Dittmann, Bundesverwaltung (Fn. 164), S. 179 f. — Auch soweit rechtlich die Einflußmöglichkeiten des verantwortlichen Ministers bleiben, dürfen die faktischen Einflüsse dieser Räte nicht unterschätzt werden. 167 s. etwa C.Starck, ZRP 1970, 217 ff.; ders., Rundfunkfreiheit (Fn. 114), S. 38 ff. ; speziell zu den Kirchen jetzt C.Link/ Α. Ρ ahlke, AöR 108 (1983), 248 (250 f. m. ausf. Nw.). 168 i. d. F. v. 29. 4.1961, BGBl. I, 497; vgl. dazu auch G. F. Schuppert, E r f ü l l u n g (Fn. 75), S. 22 f. u n d E. Schreyer, Pluralistische Entscheidungsgremien i m Bereich sozialer u n d k u l t u r e l l e r Staatsaufgaben, 1982, S. 17 ff., 52 ff., 141 ff. 169 § 6 F F G v. 22.12.1976 (BGBl. I, 1352); dazu auch G. F. Schuppert, E r f ü l l u n g (Fn. 75), S. 59 f.; E. Schreyer, Entscheidungsgremien (Fn. 168), S. 22 f., 60 ff., 139 ff. 170 H.D.Jarass, Die Freiheit der Massenmedien, 1978, S. 255 f.; E. Schreyer, Entscheidungsgremien (Fn. 168), S. 92 ff. (allg.), 140: Verfassungswidrigkeit der Zusammensetzung der Bewertungskommission nach § 7 F F G „liegt . . . nahe" ; 146 f. : Bundesprüfstelle als vorbildliches Modell. 171 Vgl. P.Lerche (1983), i n : T. Maunz/G. Dürig, GG (Fn. 34), A r t . 83/Rdn. 99 u n d 122. 172 Vgl. G. F. Schuppert, E r f ü l l u n g (Fn. 75), S. 61 f. m. w. N. 173 E. Schreyer, Entscheidungsgremien (Fn. 168), S. 117 ff., 149 ff.; s.a. am Bsp. der ungleichen Mittelverteilung bei der staatlichen Forschungsförderung zwischen Groß- u n d Mittelstandsunternehmen wegen einseitiger personeller

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gentätigkeit i m atomrechtlichen Genehmigungsverfahren 174 ; aber als Probleme (primär) auf Verwaltungsebene sollen diese Fragen hier ausgeklammert bleiben. Ein eigenes Kapitel ist die Besetzung von Sachverständigengremien zur Unterstützimg von Regierung bzw. Politikern: Die Ordnung der wissenschaftlichen Politikberatimg ist zu einer erstrangigen Verfassungsfrage i m materiellen Sinn geworden 175 . Ausdrücklich gilt für die Besetzung von Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages zur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe, daß ihre Mitglieder „ i m Einvernehmen der Fraktionen", anderenfalls anteilig durch die Fraktionen benannt werden (§ 56 I I GOBT), also auch dem Parteienproporz entsprechen werden 1 7 6 . Informell gilt solcher Parteienproporz auch i n anderen Zusammenhängen, verflüchtigt sich dabei aber zugunsten anderer Gesichtspunkte — eben deshalb gilt er möglicherweise nur informell. Man denke an die Sachverständigenkommissionen und Beiräte i n den Ministerien 1 7 7 , an die Auswahl der Experten bei Hearings 178 , an die gesetzlich vorgesehenen und w o h l mehr verselbständigten Sachverständigenausschüsse, von der Monopolkommission (nach § 24 b GWB) bis hin zum Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 179. Einer Zusammensetzung der wissenschaftlichen Lenkungsorgane M.-J. Seibert, WissR 16 (1983), 130 (157 f., ferner 154 ff.). 174 s. zur „positiven Voreingenommenheit" von Gutachtern zur Kernenergienutzung aufgrund der Verengung des Fächerspektrums „auf ingenieurwissenschaftliche Kompetenzen": K. Meyer-Abich, ZRP 1984, 41, 44 f.; s. zur Gegenposition den bloßen Rückgriff auf O b j e k t i v i t ä t u n d Unabhängigkeit als K r i t e r i e n für das Behördenermessen bei der Sachverständigenauswahl M. Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, 1983, S. 300 ff., 305 f.; das Pluralismus-Problem w i r d dabei verdeckt. 175 H.H. v.Arnim, Staatslehre (Fn. 152), S. 434, dessen V o t u m für Konflikte fähigkeit, Unabhängigkeit u n d (Berichts-)öffentlichkeit aber u m Überlegungen zu pluralistischen Proporzregeln zu ergänzen wäre. 176 s. die Analyse der Enquete-Kommission Verfassungsreform bei W. Zeh, ZParl 8 (1977), 475 (477 ff.). 177 Vgl. W. Wilhelm, Wirtschaftsdienst 50 (1972), 428 (429 f.), der für P l u r a l i tät ohne Parteiabhängigkeit plädiert. — Die Mitglieder lassen sich je nach Beirat i n die drei Typen „Wissenschaftler" (Professoren), „Verbandsvertreter" u n d „sonstige Sachverständige" aufgliedern, s. G. F. Schuppert, E r f ü l l u n g (Fn. 75), S. 272 ff. 178 Dazu BVerfGE 36, 321 (325, 330) m. A n m . L.-A. Versteyl, ZParl 5 (1974), 473 f. 179 s. Gesetz über die B i l d u n g eines Sachverständigenrates zur Begutacht u n g der gesamtwirtschaftlichen E n t w i c k l u n g v o m 14. 8.1963 (BGBl. I, 685). Das Beratungswesen ist ebenso notwendig (G. F. Schuppert, E r f ü l l u n g [Fn. 75], S. 259 ff., bes. S. 269 ff.) w i e undurchschaubar. Die Z a h l solcher — z.T. jahrelang nicht tagenden — Gremien wurde M i t t e der 70iger Jahre auf ca. 350 m i t 4000 Mitgliedern geschätzt, vgl. BT-Drs. 8/484 ( = 358 Gremien) u n d W.Jann, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 47/1983, S. 26 (31); zuletzt F.Müller-Rommel, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 25/1984, S. 26 (29 f.).

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der f ü n f „Weisen" w i r d i n i n f o r m e l l e m Einvernehmen m i t den G e w e r k schaften b e n a n n t , o b w o h l k e i n M i t g l i e d R e p r ä s e n t a n t d e r S o z i a l p a r t n e r sein d a r f 8 0 . D i e s e r G u t a c h t e r g i l t deshalb — i m Gegensatz z u d e n anderen? — als „ g e w e r k s c h a f t s n a h e " , w i e i n d e n M a s s e n m e d i e n r e g e l mäßig hervorgehoben w i r d u n d gelegentlich i n gutachtlichen Sonderv o t e n oder g a r i m d e m o n s t r a t i v e n R ü c k t r i t t (Prof. W . Glastetter 1981) zum Ausdruck kommt181. A b e r n i c h t n u r die N ä h e z u K a p i t a l u n d A r b e i t 1 8 2 , s o n d e r n ebenso die w o h l p o l a r i s i e r e n d e n (hier:) v o l k s w i r t s c h a f t l i c h e n L e h r m e i n u n g e n v o n Angebots- u n d Nachfragetheoretikern sind denkbare Entscheid u n g s k r i t e r i e n 1 8 3 — doch stößt h i e r d i e K o m p e t e n z des P o l i t i k e r s n i c h t f a k t i s c h a u f Grenzen? A n d e r e r s e i t s lassen sich die Ergebnisse d e r ( g e w i ß : u n a b h ä n g i g e n , aber auf B i t t e n v o n u n d nach S o n d i e r u n g m i t d e n P a r t e i v o r s i t z e n d e n 1 8 4 ) v o m B u n d e s p r ä s i d e n t e n b e r u f e n e n Expertenkommission für die Reform der Parteienfinanzierung durch die Pers o n e n a u s w a h l (begrenzt) s t e u e r n : M i t e i n e m d e m B u n d d e r S t e u e r z a h l e r n a h e s t e h e n d e n S t a a t s r e c h t s l e h r e r w ä r e n die K o m m i s s i o n s e m p f e h l u n g e n m i t g r o ß e r W a h r s c h e i n l i c h k e i t anders, j e d e n f a l l s n i c h t so e i n 180 v g l . die Inkompatibilitätsregelung i n § 1 I I I des soeben erwähnten Gesetzes. Nach W. Brohm, FS f. E. Forsthoff, 1972, S. 37 (69) sollen nach stillem Proporz j e zwei Mitglieder des Sachverständigenrates i m Benehmen m i t den Arbeitnehmer- bzw. den Arbeitgeberverbänden berufen werden; nach G. Eckert, V R 1984, 7 (8, 9) bestanden SPD-Fraktion u n d C D U j e auf einen den Gewerkschaften bzw. der Unternehmerseite nahestehenden Gutachter; i m übrigen dominiere faktisch eine „Inzucht" von Professoren der Universität Saarbrücken u n d ihren Schülern aufgrund des Nachfolger-Vorschlagsrechts ausscheidender Gutachter. — Z u r F u n k t i o n des Sachverständigenrates s. G. F. Schuppert, E r f ü l l u n g (Fn. 75), S. 12 ff. 181

U m so überraschender ist es dann, w e n n — w i e erstmals i m Herbst 1983 — nach einem Gutachterwechsel die MehrheitsVerhältnisse sich überraschend partiell auf ein Verhältnis von 3 : 2 verschieben, s. die p u b l i z i s t i sche Beachtung i n der (die Ratsminderheit favorisierenden) FR v. 25.11.1983, S. 1 u n d 3, i m Kontrast zur F A Z v. 25.11.1983, S. 1 f. u n d 13, die ganz auf die Mehrheitsposition abstellt, i m übrigen n u r auf eine zu mehreren Punkten abweichende Meinung von „Professor Krupp (Berlin), der den Gewerkschaften nahesteht" (S. 2). 182 Z u r sehr unterschiedlich ausgestalteten Gewerkschaftsbeteiligung i n öffentlichen Gremien s. jetzt B. Süllow, Korporative Repräsentation der Gewerkschaften, 1982: Gewerkschaften sind i n ca. Vs der Ministeriumsbeiräte vertreten (S. 60). Uber „Ansätze zu einer Gewerkschaftstheorie" des B V e r f G berichtet H. Seiter, AöR 109 (1984), 88 (103 ff.). 183 s. den Rücktritt des Sachverständigen Prof. Stützel (1969), der sich rechtsw i d r i g an der Abgabe eines Minderheitsvotums gehindert sah, vgl. U. Andersen, i n : Handbuch des politischen Systems (Fn. 99), S. 536 (538). — Andererseits w i r d von vornherein ein Spektrum angestrebt, das praktische Empfehlungen des Sachverständigenrates garantiert, die von der Bundesregierung für politisch realistisch gehalten werden; s. zur Ausklammerung der u n d zur K r i t i k von l i n k e n Alternativ-Ökonomen aus dem Umkreis der Gewerkschafts-Linken aber auch W.-D. Narr, Leviathan 5 (1977), 157 ff. 184 F A Z v. 2. 2.1982, S. 4.

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seitig ausgefallen i. S. einer „Lösung, die an Wohlwollen gegenüber den Parteien nicht zu überbieten w a r " 1 8 5 . So w i r d man bei der proportionalen Zusammensetzung von Kommissionen je nach Typ differenzieren müssen 186 , auch ob es sich u m eine Problemfindungs- oder eine Konsensförderungskommission handelt 1 8 7 . Allgemein sollte das Fachwissen aus möglichst breiten Kreisen vereint werden m i t der Folge, daß bei der Zusammensetzung gleichzeitig auch wirtschaftliche, regionale und konfessionelle Rücksichten zu nehmen sind 1 8 8 . Erfolgreich scheint eine Kombination von pluralistischer Zusammensetzung mit einer gewissen Distanz zu Parteien und Verbänden zu sein: Die Expertenvorschläge werden dann nicht vorschnell „einseitig" vorgeprägt oder als solche verurteilt 1 8 9 . Anderes gilt für (meist verwaltungsbezogene) wissenschaftliche Projektberatungen, bei denen bereits getroffene politische Entscheidungen möglichst effizient umgesetzt werden sollen. Hier kommt es weniger auf sachliche Pluralität an als auf Offenlegung von Auswahlkriterien und verantwortliche Unabhängigkeit trotz gemeinsamer Prämissen und Zielvorstellungen 190 . Die Auswahlprobleme verschärfen sich, wenn Gremien zu groß zu werden drohen und mit zu vielen Teilhabe beanspruchenden Vertretern besetzt sind. Die Konzertierte Aktion, von den Gewerkschaften nur aus Anlaß der Mitbestimmungsklage der Arbeitgeber zum Scheitern verurteilt, scheiterte wesentlich auch daran, daß zu viele „unwichtige" Gruppenvertreter beteiligt sein wollten (von ihrem Blickwinkel aus zu Recht!) 191 . — Allgemein fragt sich, ob und wie sich die Qualität von Sachverständigengremien gerade durch personelle Einbeziehung unterschiedlicher wissenschaftlicher Richtungen innerhalb des Faches ver185 So das Kommissionsmitglied H.Kaack, i n : W D R II-Morgenmagazin v. 4. 5.1984. 186 Ansätze bei G. F. Schuppert, E r f ü l l u n g (Fn. 75), S. 264 f., 275 f. 187 Z u r Rolle von Sachverständigengremien, durch abgestimmtes Verhalten gesetzliche Regelungen überflüssig zu machen, s. G. F. Schuppert, E r f ü l l u n g (Fn. 75), S. 292 f., 298 f.; H.Willke, i n : R . V o i g t (Hg.), Abschied (Fn. 25), S. 298 (311 ff.). 188 So auch (für die Expertenkommissionen i n der Schweiz): W. Buser, SchwZBlStuG 1984, 145 (150) 189 s. am Beispiel der „Neubauer"-Kommission beim Bayerischen Ministerpräsidenten zur Verwaltungsvereinfachung: K.Kruis, V e r w A r c h 75 (1984), 38 (40, 48). Pluralismus verhindert „parteiische Wissenschaft" (so K . MeyerAbich, ZRP 1984, 45). — Anders sind i n der Kommission für Rechts- u n d VerwaltungsVereinfachung des Bundes zwar je ein Vertreter des B D I u n d des D I H T , keiner aber aus DGB-Gewerkschaften, Verbraucherverbänden oder etwaigen sonstigen Gruppen, denen es i n erster L i n i e u m sozialen Schutz durch Recht geht, vgl. H. Waffenschmidt, Bull. 1984, 521 (524). löo v g l E.-H. Ritter, in: J.J.Hesse (Hg.), Politikwissenschaft u n d V e r w a l tungswissenschaft, 1982, S. 458 (463 f.). 191

Z u m Problem der optimalen A u s w a h l : R.Schmidt, u n d Verfassung, 1971, S. 203.

Wirtschaftspolitik

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Empirische Bestandsaufnahme

ändert. Der durch die personale Zusammenarbeit geförderte Zwang zum detaillierten Eingehen auf konträre Positionen dürfte die Dignität von Sachverständigengutachten eher steigern, eine sachlich begründete persönliche Distanz unter den Beteiligten den gruppendynamisch erforderlichen Konsens für gemeinsame Empfehlungen verhindern. Sachverständigen-Sondervoten sind mitunter von querulatorischen Elementen nicht frei, können andererseits aber langfristig Recht bekommen 1 9 2 . — Die Auswahl w i r d noch komplizierter bei betont interdisziplinären Gremien, deren Zielsetzung die Fachgebiete einzelner Sachverständiger überschreitet, sowie bei tatsächlichen oder symbolischen Betroffenen-Rücksichtnahmen 193 . Ein besonderer Fall war die von den Ministerpräsidenten der Länder eingesetzte, aus leitenden Beamten bestehende Kommission zur Unterstützung der vom Bund berufenen Wissenschaftler-Kommission zur Begutachtung der Neugliederung des Bundesgebietes nach A r t . 29 GG (Ernst-Kommission): Beide haben eng zusammengearbeitet und kommen zu charakteristischen unterschiedlichen Urteilen 1 9 4 . Eine dem Proporz verwandte Erscheinungsform w i r d schließlich deutlich bei den aktuellen Auseinandersetzungen u m die inhaltliche Gestaltung der Arbeit der Goethe-Institute als den Vermittlungsinstanzen deutscher K u l t u r i m Ausland 1 9 5 ; diese Kontroversen haben jahrzehntelange Tradition 19 ®. Eine angemessene Selbstdarstellung der Bundesrepublik (nicht: der Bundesregierung) setzt voraus, daß das gesamte Spektrum deutscher K u l t u r vermittelt wird, also die Vorstellungen von 192 M a n denke an G. Dürigs Minderheitsvotum gegen eine A b k e h r v o m Verhältniswahlrecht i n der Wahlrechtskommission ζ. Z. der Großen K o a l i tion; vgl. auch P.Häberle, i n : ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 110 ff. (116 m i t Fn. 55). 198 So müssen z.B. i n der Sachverständigenkommission f ü r eine Reform der sozialen Sicherung der F r a u aus Gründen des Geschlechterproporzes auch Frauen vertreten sein, vgl. Sachverständigenkommission f ü r die soziale Sicherung der F r a u u n d der Hinterbliebenen (Hg.), Vorschläge zur sozialen Sicherung der Frau u n d der Hinterbliebenen, 1979, S. 12: Dem Vorsitzenden M a n n (H. Meinhold) w u r d e n gleich zwei Stellvertreterinnen zur Seite gew ä h l t ; 7 von 17 Mitgliedern waren schließlich Frauen — eine angesichts der geringen Zahl weiblicher Professoren nicht ganz leichte Aufgabe, vgl. etwa die K r i t i k des Deutschen Akademikerinnenbundes am A n t e i l der Frauen an C-4-Professoren ( = 2,4 %): F A Z v. 11. 4.1984, S. 3. 194 Vgl. P. Feuchte, AöR 98 (1973), 473 (488 f.). — s. auch zum Unterschied der Ergebnisse von Kommissionen zur Entbürokratisierung i n Abhängigkeit von ihrer Zusammensetzung T. Ellwein, DVB1. 1984, 255 (258, s. a. 260). 196 s. etwa F A Z v. 29.11.1983, S. 23; L. Maassen, FR v. 1.12.1983, S.28; R. W. Leonhardt, D Z v. 1.12.1983. Äußerer Rahmen w a r der gezielte Vorstoß aus CSU-Kreisen, u. a. i m BT-Haushaltsausschuß die M i t t e l f ü r Wortveranstaltungen i m Haushaltsentwurf 1984 zugunsten von Musikabenden zu k ü r zen, obwohl jene schon weniger als ein F ü n f t e l aller Veranstaltungen ausmachen; s. auch F A Z v. 31.1.1984, S. 21. 196 s. ausf. M.Kilian, FS f. T. Oppermann, 1981, S. 111 (122ff.).

1. Proporzregeln i m Verfassungsleben

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Regierung und Opposition, aber eben auch von jenen zahlreichen kleineren gesellschaftlichen Minderheiten und Einzelpersönlichkeiten, die gerade i m kulturellen Bereich, auch wegen der avantgardistischen Funktion von K u l t u r , dominieren müssen 197 . Auch wer den Begriff „Kulturproporz" für sprachlich und sachlich entsetzlich hält w i r d einräumen, daß die Programme der Goethe-Institute (und Auswärtige K u l t u r politik allgemein) nur pluralistisch sein können, selbst wenn sie sich einem (regelmäßig quantifizierenden) „Proporz" nicht unterordnen lassen. Dieses pluralistische Modell kultureller Selbstdarstellung beruht auf einer prinzipiell änderbaren informalen Übereinkunft der demokratischen Parteien: der kulturelle Pluralismus könnte deshalb rechtlich wohl verengt werden i. S. einer stärker regierungsgenehmen K u l t u r 1 9 8 . Es gibt indessen keine K u l t u r ohne jene (wechselnden) Spannungen, i n denen die innovative Kraft einer offenen Gesellschaft gründet. Der 1976 von der Bundesregierung m i t dem Goethe-Institut geschlossene Rahmenvertrag hatte eben deshalb die auswärtige Kulturarbeit gegenüber der Regierung autonomisiert 199 . Hier w i r d einerseits der enge Zusammenhang proportionalen Denkens mit der Vielfalt der Anschauungen i n einer pluralistischen Gesellschaft besonders offenkundig, zumal i n Verbindung m i t der Selbstdarstellung der Bundesregierung nach außen; zugleich aber zeigen sich Grenzen von Proporzdenken i n solchen Bereichen, deren kulturelle Eigengesetzlichkeiten sich proportionalem Denken überhaupt, jedenfalls dem Parteienproporz widersetzen. So taucht das gleiche Problem beim Streit u m die inhaltliche Gestaltung der K u l t u r p o l i t i k des Bundes „nach innen" auf: ob bei einer Bundeskunsthalle oder, vor allem, bei dem „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" und seiner Geschichtskonzeption 200 oder bei der Zusammensetzung des beratenden Kuratoriums „Kulturstiftung der Länder" aus 20 Sachverständigen und 10 Förderern (Mäzenen) 201 . 197 Das I n s t i t u t arbeitet insoweit m i t einem „erweiterten K u l t u r b e g r i f f " , der gesellschaftliche Themen nicht ausspart, vgl. H. Schwab-Felisch, F A Z v. 2.12.1983, S. 25, u n d v. 11. 4.1984, S. 22; zum „offenen K u l t u r k o n z e p t " als j u ristischer Konsequenz s. P.Häberle, i n : ders. (Hg.), Kulturstaatlichkeit u n d Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 1 (30ff.); s.a. ders., Verfassungslehre (Fn. 1), S. 10ff.; enger U.Steiner u n d w o h l auch D.Grimm, W D S t R L 42 (1984), 7 (10) bzw. 46 (60). 198 So (tendenziell richtig, aber undifferenziert) Staatsminister J. W. Möllemann, F A Z v. 10.4.1984, S. 25. 199 Eindringlich zum Ganzen: M.Kilian, FS f. T. Oppermann, 1981, S. 128ff., 135 ff., pass.; k r i t . zu den neueren „Gängelungs"-Versuchen daher Staatsministerin a.D. H. Hamm-Brücher, FR v. 16.12.1983, S. 8; zur rechtlichen A n gemessenheit des gefundenen Ausgleichs von k u l t u r e l l e r Autonomie u n d staatlicher Gesamtverantwortung s. A. Dittmann, Bundesverwaltung (Fn. 164), S. 135 ff.; G. F. Schuppert, E r f ü l l u n g (Fn. 75), S. 176 ff. 200 s. zum Streit u m den fehlenden historischen Konsens, die K o n t i n u i t ä t s frage u n d die A r t der Geschichtsbetrachtung den Bericht von H. SchwabFelisch, F A Z v. 12. 5.1984, S. 25.

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I I Empirische Bestandsaufnahme

2. Informale Zusammenarbeit im Verfassungsstaat Der für den Verfassungsstaat als Typ zentrale Gedanke der Gewaltenteilung bzw. Funktionsverteilung auf eine Vielfalt von Kompetenzund Aufgabenträgern birgt notwendig eine entsprechende Vielfalt ihrer Zuordnung i n Form von Zusammenarbeit. Deren nur begrenzt mögliche rechtliche Ausgestaltung w i r d durch zahlreiche informale Regeln ergänzt. a) Koalitions-

und Parteivereinbarungen

Die Einbeziehung informaler Verfassungsregeln i n die Verfassungsrechtswissenschaft ist der Sache nach zuerst und breit diskutiert worden am Beispiel von Koalitionsvereinbarungen, also Parteibündnissen auf Zeit zum Zwecke der Bildung und parlamentarischen Unterstützung einer Regierung. Weder die Entstehung noch der Regelungscharakter von Koalitionsvereinbarungen sind positivrechtlich geregelt, obwohl sie i n der Verfassungspraxis erhebliche Bedeutung gewonnen haben 202 : Sie sind praktisch notwendig, wie ζ. B. die Wahl des Bundeskanzlers ohne Aussprache (Art. 63 I GG) voraussetzt 203 . Entgegen den ersten, zunächst vorherrschenden Versuchen, solche Abkommen als (meist: verfassungs-) rechtliche, allerdings meist nicht einklagbare Verträge zu qualifizieren 204 , scheint sich heute eher die Meinung durchgesetzt zu haben, es handele sich um politische Vereinbarungen 205 . Sie betont dabei eine typische 201 Vgl. dazu, nach dem Stand des Abkommensentwurfs v o m 6. 6.1984, zuletzt W. Ismayr, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 27/1984, S. 3 (16). 202 Äußere Übersicht (1949—1982) bei P. Schindler (Bearb.), Datenhandbuch (Fn. 30), S. 369 ff.; politikwissenschaftlich grdl. D. Sternberger, Lebende V e r fassung, 1956, S. 101 ff.; zur Übersicht s. U. Bermbach, i n : H.-H. R ö h r i n g / K . Sontheimer (Hg.), Handbuch des deutschen Parlamentarismus, 1970, S. 239 ff. 203 Vgl. C.Sasse, J Z 1961, 719 (723); H.Steiger, Organisatorische G r u n d lagen des parlamentarischen Regierungssystems, 1973, S. 250 f.; diskussionsauslösender Umstand wurde das — durch nicht autorisierte Presseveröffentlichungen bekannt gewordene — detaillierte Koalitionsabkommen v o m 20.10. 1961 zwischen C D U / C S U u n d FDP, nachdem Koalitionsabsprachen der ersten drei Regierungen K . Adenauer nicht veröffentlicht worden waren. 204 K.Hesse u n d G.E.Kafka, V V D S t R L 17 (1959), 11 (45) bzw. 53 (85 f.); C.Sasse, JZ 1961, 723, 726; K.Stern, JZ 1962, 297 (298); K.H.Friauf, AöR 88 (1963), 257 (307 ff.); T. Maunz (1964), i n : T . M a u n z / G . D ü r i g , G G (Fn.34), A r t . 6 5 / Rdn. 16 ff.; f ü r Österreich s. R. Marcic, Die Koalitionsdemokratie, 1966, S. 16ff., 26 ff.; aus neuerer Zeit n u r H.-P. Schneider, i n : A K - G G I I (Fn. 52), A r t . 63/ Rdn. 3, unter irriger Berufung auf P.Häberle (s. Fn. 205); anders wiederum ders., ebd., A r t . 64/Rdn. 2: „politische Absprachen". m A. Schule, Koalitionsvereinbarungen i m Lichte des Verfassungsrechts, 1964, S. 58 ff., 67 ff. (70); P. Häberle, ZfP 12 (1965), S. 293 ff., jetzt i n : ders., Verfassung (Fn. 1), S.620 (625ff.); zust. K.Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 14. Aufl. 1984, § 5 I I 6 c, cc, Rdn. 178; W.-R. Schenke (1977), i n : Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 1950 ff., A r t . 63/Rdn. 25 ff.; ders., Jura 1982, 57 (58); W. Kewenig, AöR 90 (1965), 182 (191, 196 u.ö.); K.Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), 1. Aufl. 1977, S. 341 u n d 772

2. Informale Zusammenarbeit i m Verfassungsstaat

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Gesetzmäßigkeit des informalen Verfassungsstaats: die starke Verbindlichkeit auch von politischen Absprachen, sei es i m Vertrauen auf die Wirksamkeit politischer Ethik i m Medium der Öffentlichkeit der Verfassung als einer Verfahrensordnung für Verantwortungsverhältnisse 206 , sei es aus Angst vor dem Vertrauensverlust beim politischen Partner oder vor politischen Sanktionen wie dem Verlust der Regierungsverantwortung 2 0 7 . Die grundsätzlich i m Rahmen des Verfassungsrechts zulässigen 208 Koalitionsvereinbarungen müssen dann aber von GG wegen veröffentlicht werden 2 0 9 . Voraussetzung ist ein veröffentlichungsfähiger Text, also Koalitionsabsprachen, die „mehr" sind als informelle mündliche A b sprachen, Gedächtnisprotokolle für die eigenen Akten, Briefwechsel o. ä. 210 . Tatsächlich läßt sich die Geschichte der Koalitionsvereinbarungen unter dem GG als Tendenz zur Formalisierung (und auch Veröffentlichung) der Koalitionsvereinbarungen beschreiben. Bis 1965 offiziell unveröffentlicht, werden sie seit der ersten sozial-liberalen Koalition 1969 detailliert vereinbart und offiziell bekanntgegeben: diese Praxis hat 1982 erstmals auch eine christlich-liberale Koalition übernommen. Sie sind letztlich Bedingung dafür, daß die politischen Parteien ihre Kontrollaufgaben (incl. der Bewahrung ihrer Identität hinter ihrem Parteigrundsatzprogramm) wahrnehmen können 211 , wie ζ. B. die chronischen Auseinandersetzungen um die Inhalte der in den Koalitionsvereinbarungen 1983 weithin ausgeklammerten Außenpolitik der gegenwärtigen christlich-liberalen Koalition zeigen 212 . — Von den Grundsatz-Koali(paradox anders aber jetzt 2. Aufl., S. 986: verf assungsrechtliche Verträge ohne rechtliche Bindungskraft); H. C. F. Liesegang, i n : I . v. Münch "(Hg.), G G - K o m mentar, Band 2, 2. A u f l . 1983, A r t . 65/Rdn. 6; R.Herzog (1983), i n : T . M a u n z / G. Dürig, GG (Fn. 34), A r t . 63/Rdn. 12; H. Steiger, Grundlagen (Fn. 203), S. 254; D. Blumenwitz, FS f. G.-C. v. Unruh, 1983, S. 747 (756); U.K.Preuß, in: A K GG (Fn. 52), A r t . 21 I, I I I / R d n . 60; s. a. f ü r Österreich G. Wielinger, F G f. O. Weinberger, 1984, S. 219; i r r i g daher D. Jung, D Ö V 1984, 197 (203). 2 M So P. Haberle (1965), i n : ders., Verfassung (Fn. 1), S. 626 ff. 207 So R.Herzog (1983), i n : T. Maunz/G. Dürig, G G (Fn. 34), A r t . 63/Rdn. 10 u n d 13. 208 Dies entspricht zwar auch der L o g i k von BVerfGE 20, 56 (98 f.). Dennoch überrascht, m i t welcher Selbstverständlichkeit das B V e r f G m i t t l e r w e i l e die Festsetzung von Bundestagsneuwahlen am 6.3.1984 durch Koalitionsvereinbarung der Partei- u n d Fraktionsvorsitzenden von CDU, CSU u n d FDP bereits am 21. 9.1982 als verfassungsrechtlich irrelevant behandelt, vgl. BVerfGE 62, 1 (6 f., 9, 52 ff.); k r i t . SV W.Zeidler, ebd., S. 64 (65 ff.); SV Rottmann, ebd., S. 108 (112ff.); H.Meyer, DÖV 1983, 243 (246); s. noch unten bei Fn. 761 ff. 209 P.Häberle, Verfassung (Fn. 1), S.627f.; K.-U.Meyn, K o n t r o l l e als V e r fassungsprinzip, 1982, S. 305; noch 1956 spricht D. Sternberger, Verfassung (Fn. 202), S. 122 v o m „Geheimvertrag". 210 Z u den Formen von Koalitionsvereinbarungen s. U. Bermbach, i n : Handbuch Parlamentarismus (Fn. 202), S. 240. 211 Ausf. K.-U. Meyn, Kontrolle (Fn. 209), S. 302 ff.

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I I Empirische Bestandsaufnahme

tionsvereinbarungen sind die sie konkretisierenden Koalitionsabsprachen von Fall zu Fall zu unterscheiden. Dabei hat sich als Regel die Ächtung von „wechselnden Mehrheiten" herausgebildet: Können sich die Parteien der Regierungskoalition nicht einigen, so darf das Problem nicht durch eine parlamentarische Mehrheit m i t Hilfe der Oppositionsfraktionen gelöst werden, sondern es bleibt ausgeklammert. I m übrigen gelten auch hier die genannten allgemeinen Regeln 213 . Nicht nur für KoalitionsVereinbarungen, auch für sonstige politische Absprachen zwischen den Parteien gelten die vorstehenden Überlegungen weithin, etwa für Wahlkampf-Fairneßabkommen 21* und Wahlkampfkostenbegrenzungsabkommen. I n diesen Zusammenhang gehören auch (frühere) Absprachen zwischen der ARD und den politischen Parteien über eine jährliche Sendezeit zur Berichterstattung über ihre Parteitage und -kongresse 215 . Ungeachtet ihrer verfassungspraktischen Probleme 21 · bleiben Versuche zur institutionellen Stabilisierung gemeinsamer Regeln eines fairen Verfahrens 217 ein Stück verbindender Kooperation i m informalen Verfassungsstaat, insoweit auch der „Verfassungskultur" . b) Inter-verfassungsorganschaftliche

Zusammenarbeit

Informale Verfassungsregeln haben sich auch sonst vor allem dort herausgebildet, wo die obersten Staatsorgane ihre verfassungsrechtlich festgelegten Befugnisse i n Rücksichtnahme aufeinander ausüben müssen. Als ein Beispiel sei das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten bei der Wahl des Bundeskanzlers nach A r t . 63 I GG näher behandelt. I m verfassungsrechtlichen Schrifttum herrscht Streit über das Ausmaß 212

s, ζ. B. F A Z v. 7. 5.1983, S. 1 f. (betr. ein „Positionspapier" der CSU). E i n einseitiger Rückzug eines Koalitionspartners von einer verbindlichen Absprache ist daher außergewöhnlich, s. den einseitigen Rückzug der F D P v o m Plan eines Amnestiegesetzes i m Rahmen der Parteispendenaffäre, s. etwa F A Z v. 15. 5.1984, S. 1, aber keine Gefahr f ü r die Koalition, w e i l das Amnestievorhaben nicht Teil der Koalitionsabsprache sei, so Bundeskanzler H. Kohl, zit. nach J. G. Reißmüller, F A Z v. 5. 6.1984, S. 3. 214 Vgl. a u d i Α. Schule, AöR 90 (1965), 81 f. 215 Dazu Κ. v. Bismarck, Proporz (Fn. 115), S. 16 ff. 216 Z u r praktischen Untauglichkeit von Wahlkampfabkommen s. (als ehemaliger Schiedskommissionsvorsitzender) D. Oberndörfer, i n : ders. (Hg.), Wählerverhalten i n der Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 13 (27f.); k r i t . bilanzierend H. Klatt, Z P a r l 12 (1981), 21 (30 ff.). 217 Z u r (gemein)deutschen Geschichte solcher Fairneßabsprachen i n B u n d u n d Ländern s. die Bilanz von G. Wewer, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 14-15/1982, S. 29 (42 f.); Erfahrungsberichte u n d Analysen über die A r b e i t der Schiedsstelle 1965 bei K. Zweigert, AöR 90 (1965), 497 ff. (bes. k r i t . zum E i n stimmigkeitsprinzip); ders., FS f. G. Leibholz I I , 1966, S. 367 ff.; zum W a h l kampfabkommen m i t Schiedsstelle 1980 s. G.Wewer, Z P a r l 11 (1980), 264 ff.; H. Klatt, ZParl 12 (1981), 29 ff. 218

2. Informale Zusammenarbeit i m Verfassungsstaat

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der Ermessensfreiheit, das dem Bundespräsidenten bei Ausübung seines Vorschlagsrechts bleibt. Zuletzt hat R. Herzog wieder primär auf die politische Klugheit und den politischen Takt des Bundespräsidenten abgestellt 218 : Der Bundespräsident werde normalerweise die Erfolgschancen seines Kandidaten abwägen und deshalb personelle Entscheidungen der Parlamentsmehrheit abwarten und diese konsultieren. Andere sehen demgegenüber für den Fall ersichtlich mehrheitsfähiger Kandidaten (ζ. B. aufgrund von Koalitionsvereinbarungen) eine Rechtspflicht des Bundespräsidenten zum Vorschlag dieses Politikers 2 1 9 , sei es durch Ermessensreduktion 220 , sei es durch gewohnheitsrechtliche B i n dung des Bundespräsidenten 221 . Beide Auffassungen stützen sich auf die empirische Beobachtung, daß der Bundespräsident i n der Verfassungspraxis stets den Kandidaten einer Koalitionsmehrheit vorgeschlagen hat und er auch gut daran getan hat 2 2 2 . Diese K l u f t zwischen politischer und rechtlicher Regel(-annahme) w i r d überbrückt, wenn man diese faktischen Regelmäßigkeiten richtigerweise als Ausdruck einer informalen Verfassungsregel (hier speziell: einer Verfassungskonventionalregel 223 ) auffaßt 224 , nicht aber, indem man eine Bindungswirkung solcher Vorschläge der Parteien oder Fraktionen für den Regelfall abstreitet 225 . I m Lichte solcher interstaatsorganschaftlichen Kooperationsformen und -notwendigkeiten lassen sich eine Fülle von informalen Regeln ausmachen, die freilich z. T. auch als (Rücksichtnahme-)Pflichten aus der Verfassungsorgantreue als Rechtsprinzip formuliert werden 226 , etwa des Verhältnisses der Bundesregierung zu anderen Verfassungsorganen 227 : I m 218 R. Herzog (1983), i n : T. Maunz/G. Dürig, GG (Fn. 34), A r t . 63/Rdn. 18 (Hervorhebung bei Herzog). 219 E. Küchenhof f, D Ö V 1966, 675 (679); W.-R. Schenke, i n : Bonner K o m mentar (Fn. 205), A r t . 63/Rdn. 44 ff. (52); u n k l a r H. C. F. Liesegang, i n : I. v. Münch (Hg.), G G K I I (Fn. 205), A r t . 63/Rdn. 4; Κ Stern, Staatsrecht I I (Fn. 107), S. 252. 220 ζ. Β. H. Steiger, Grundlagen (Fn. 203), S. 232 ff. 221 ζ. B. M. R. Lippert, Bestellung (Fn. 36), S. 272. 222 K . Stern, Staatsrecht I I (Fn. 107), S. 252; für die Kanzlerwahlen bis 1969

H. Steiger, Grundlagen (Fn. 203), S. 235 f. 223

K.-U. Meyn, JZ 1977, 167 (167). Praktisch bedeutet diese Auffassung, daß der Bundespräsident einerseits keine Rechtspflicht zu einem bestimmten Vorschlag hat, die er (mit der Folge einer Präsidentenanklage!) verletzen könnte, andererseits nicht v ö l l i g beliebig, sondern nach (nicht gerichtlich, aber) durch öffentliche Diskussion und Erwartungen der Beteiligten überprüfbaren bestimmten Regeln handeln muß; weicht er ab, steht er unter erhöhtem Begründungszwang. 225 So H.-P. Schneider, i n : A K - G G I I (Fn. 52), A r t . 63/Rdn. 4. 226 Grdl. W.-R. Schenke, Die Verfassungsorgantreue, 1977, hier allg. S. 44 ff. 227 Bei W.-R. Schenke, Verfassungsorgantreue (Fn. 226), steht die Bundesregierung u n d i h r Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen i m M i t t e l punkt. — A u f Länderebene wäre die (in Hessen aktuelle) Frage zu stellen, 224

4 Schulze-Fielitz

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I I Empirische Bestandsaufnahme

„keineswegs ausreichend" geregelten Umgang mit dem BVerfG 2 2 8 nimmt das Bundesministerium der Justiz bei Erwägungen zur gesetzlichen Entlastung des BVerfG „auf engen Kontakt zu »Karlsruhe 1 Bedacht""·; die jetzt geplante Vertretungsregelung z.B. „soll auf einen Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts (mindestens seiner Mehrheit) selbst zurückgehen" 230 . Auch die Bindungswirkung der Rechtsprechung des BVerfG nach § 31 I BVerfGG ist „weitgehend tatsächlicher N a t u r " 2 3 1 und läßt Spielraum für die Politik, die praktische Vernunft gegen solche Verfassungsgerichtsentscheidungen auszuspielen, die „ i n eine A r t von unbestimmter Grundrechtslyrik verfallen" sein sollen 232 . Umgekehrt erweist sich die Frage der funktionell-rechtlichen Grenzen der 233 Verfassungsgerichtsbarkeit inhaltlich und verfahrensmäßig als Problem der gegenseitigen Rücksichtnahme i m Verfahren der Verfassungskonkretisierimg bzw. Befugnisausübung, i n Respekt vor der Eigenverantwortung der (anderen) Verfassungsorgane 234 . So scheint das BVerfG jüngst die fakultative und vor dem 2. Senat seltenere mündliche Verhandlung i m Prozeß über die sog. „Zwangsanleihe" nur anberaumt zu haben, w e i l die Bundesregierung auf ihr „bestanden" haben soll 2 3 5 . Als aktuelle Beispiele seien ferner genannt: Der Regierungschef eines Bundeslandes hat vor Auslandsreisen zu politischen Gesprächen m i t i n w i e w e i t bloß geschäftsführende Landesregierungen nicht gerade deshalb i n besonderer Weise auf das Parlament u n d sein gesamtes Spektrum Rücksicht zu nehmen haben, vgl. zum „hessischen Trauerspiel" K.v.Prümmer, F A Z v. 31.1.1984, S. 1. 228 So H. G. Rupp, FS f. H. Kutscher, 1981, S. 371. 229 F.K.Fromme, F A Z v. 3.1.1984, S.8; s.a. ders., F A Z v. 7.3.1984, S.5; zu solchen informellen Kontaktsystemen informativ F.-W. Dopatka, Das B u n desverfassungsgericht u n d seine U m w e l t , 1982, S. 116 ff. 280 F A Z v. 20.1.1984, S. 4. — Problematisch waren einst besonders die Modalitäten der Konfrontation von Bundesregierung u n d Bundesverfassungsgericht i m Verfahren u m den Grundlagenvertrag, s. E. Friesenhahn u n d M.Kriele, ZRP 1973, 188 ff. bzw. 193 ff.; s.a. W.-R. Schenke, Verfassungsorgantreue (Fn. 226), S. 130 ff. 231 So (zuletzt) J.-D.Busch, DVB1. 1984, 385 m . N w . ; ausf. F.-W. Dopatka, Bundesverfassungsgericht (Fn. 229), S. 74 ff.; zur K r i t i k auch K. Schiaich, V V D S t R L 39 (1981), 99 (138 ff.). 282 s. etwa die einschlägige Ermunterung, die P o l i t i k trotz des Volkszählungsurteils „nicht erlahmen zu lassen", bei F. K . Fromme, F A Z v. 2. 5.1984, S. 1. 288 s. K . Hesse, FS f. H. Huber, 1981, S. 261 ff. (mit der Unterscheidung geregelter institutioneller u n d nicht geregelter funktioneller Grenzen, 262); zuletzt E. Klein, AöR 108 (1983), 410 (428 ff.). 284 s. K.Hesse, FS f. H . H u b e r , 1981, S. 266; ausf. R.Dolzer, Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht u n d durch politische Verfassungsorgane, 1982, S. 3 ff., 10 f., 44 u. ö.; J. Delbrück/R.Wolf rum, JuS 1983, 758 (764); s.a. schon W.-R. Schenke, Verfassungsorgantreue (Fn. 226), S. 29. 119 ff. we F A Z V. 12. 7.1984, S. 4.

2. Informale Zusammenarbeit i m Verfassungsstaat

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führenden aktiven Staatsmännern sich vorher mit führenden Vertretern der Bundesregierung (aus Kanzleramt oder Auswärtigem Amt) i n ein angemessenes Benehmen zu setzen 236 . — Selbst wenn man es nicht für verfassungswidrig hält, daß der Vermittlungsausschuß i m Bundestag noch gar nicht verabschiedete Gesetze neu i n seinen Vermittlungsvorschlag aufnimmt 2 8 7 , so w i r d man hier jedenfalls einen Widerspruch zu einer informalen Verfassungsregel sehen müssen, die eigenen Befugnisse i n Respekt vor den Befugnissen eines anderen Verfassungsorgans (hier: des Bundestages) auszuüben. — Die „vertrauliche Runde" der 11 Bevollmächtigten der Bundesländer beim Bund w i r d i n regelmäßigen M i t t wochssitzungen vom Staatsminister i m Bundeskanzleramt über die Kabinettssitzungen informiert 2 3 8 . — Weithin bekannt ist die Schonfrist von 100 Tagen, die die parlamentarische Opposition einzelnen neuen M i n i stern oder einer neuen Regierung durch Zurückhaltung bei der öffentlichen K r i t i k gewährt. c) Intra-verfassungsorganschaftliche

Zusammenarbeit

Auch die vom GG nicht oder nur punktuell geregelten Willensbildungsprozesse innerhalb der Verfassungsorgane unterliegen informalen Regeln; deren Wirksamkeit neben den Grundsätzen der tradierten Dogmatik des Staatsorganisationsrechts belegt die beschränkte Aussagekraft einer ausschließlich rechtlich-institutionellen Betrachtungsweise 289 . So sind i n der Bundesregierung — entsprechend der GGO I I — interministerielle Meinungsverschiedenheiten „von unten nach oben" auszutragen (vgl. auch § 17 I GO-BReg). Das impliziert die informale Regel, nicht „von oben" auf Ministerebene i m Kabinett (namentlich einer Koalitionsregierung) absehbar streitige Vorlagen durch einen Überraschungscoup als Regierungsbeschluß „durchzupauken" 2 4 0 . — Die Kabinettsausschüsse (z. B. das „Wirtschaftskabinett"), die sogar gelegentlich einen eigenen (Ministerialverwaltungs-)Unterbau entwickeln sollen 241 , erfüllen wichtige Vorbereitungs- und Entscheidungsaufgaben, 236 So als „Regel" der „guten Sitten" formuliert i n F A Z v. 16. 2.1984, S. 1 (betr. die Reise von Ministerpräsident F.-J. Strauß nach Syrien). 237 Z u r Problematik zuletzt H.H. Klein, AöR 108 (1983), 329 (363 ff.); H. Schulze-Fielitz, N V w Z 1983, 709 (712 ff.); J.Jekewitz, i n : A K - G G I I (Fn. 52), A r t . 77/Rdn. 23. 238 s. ausf. H. Herles, F A Z v. 8. 8.1984, S. 8. 239 s. W.Brohm, W D S t R L 30 (1972), 245 (296 f.); E.-W. Böckenförde, FS f. H. J. Wolff, 1973, S. 269 (294); F. E. Schnapp, Rechtstheorie 9 (1978), 275 (287 f.). 240 s. zum Scheitern einer solchen I n i t i a t i v e des Ministers H. Ehrenberg (betr. eine Meldepflicht der Unternehmen für offene Arbeits- u n d A u s b i l dungsplätze): F A Z v. 19. 3.1982, S. 13 u n d v. 25. 3.1982, S. 1. 241 So V. Ronge, i n : Handbuch des politischen Systems (Fn. 99), S. 111 (114); E.-W. Böckenförde, Organisationsgewalt (Fn. 137), S. 247 f. (betr. den B u n desverteidigungsrat) ; zu den formalisierten Regeln der Kabinettsausschüsse



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I I Empirische Bestandsaufnahme

wirken dabei aber ebenso neben der GO-BReg wie die — von ihnen zu unterscheidenden — interministeriellen Ausschüsse neben der GGO der Bundesministerien: Diese leisten unter verschiedenen Etiketten wie Arbeitskreise, Arbeitsgruppen usw. 242 , primär (aber nicht notwendig) auf Referatsebene, oft aber über bloß informelle Referatsleiterbesprechungen hinaus, mit einem gewissen Maß an festen organisierten Formen erhebliche Vorentscheidungen bei der Lösung interministeriell abzustimmender Fragen 24 *. — Die regelmäßige wöchentliche Kabinettssitzung der Bundesregierung ermöglicht sowohl dem Bundeskanzler die Wahrnehmung seiner Richtlinienkompetenz als auch den Ministern die Wahrnehmung ihrer politischen Gesamtverantwortung 244 : Das Kollegialorgan Bundesregierung ist nicht nur auf Entscheidungen, sondern auch auf Beratungen ohne Entscheidungen h i n angelegt 245 . — E i n unerschlossenes Forsehungsfeld ist die (ambivalente 248 ) praktische Ausfüllung von § 14 a GO-BReg, der (rechtlich) die Aufgabe der Parlamentarischen Staatssekretäre i n das Belieben des jeweiligen Ministers stellt: Eine 16jährige Regierungspraxis dürfte hier, je nach Ministerium, deutlich eigendynamische Regelmäßigkeiten kreiert haben. Noch unerschlossener sind die praktischen informalen, aber entscheidungsrelevanten Binnenregeln anderer Verfassungsorgane. Zum Bundesratspräsidenten w i r d gemäß einer Vereinbarung der Ministerpräsidenten vom 30. 8.1950 i m jährlichen Turnus nacheinander stets der Regierungschef des nächstkleineren Landes gewählt: Materiell steht das Ergebnis der gleichwohl konstitutiven „Wahl" fest 247 . — Auch beim s. M. Lepper, i n : H. Siedentopf (Hg.), Regierungspolitik u n d Koordination, 1976, S. 433 (437). 242 Κ . v. d. Groeben, Die V e r w a l t u n g 1 (1968), 385 (392 f.) i m Anschluß an die Typologie bei H. Prior, Die Interministeriellen Ausschüsse der Bundesministerien, 1968, S. 108 ff. 248 Vgl. ausf. M. Lepper, i n : Regierungspolitik (Fn. 241), S. 440 ff.; V. Ronge, i n : Handbuch des politischen Systems (Fn. 99), S. 297 (298); H.Prior, Ausschüsse (Fn. 242), S. 14 ff. (zu ihren informalen Kennzeichen), 26 ff. (zur A r beitsweise); s.a. E.-W. Böckenförde, Organisationsgewalt (Fn. 137), S. 243 f. 244 Es wäre deshalb mehr als n u r eine Änderung der Übung der Staatspraxis, w e n n diese wöchentlichen Kabinettssitzungen als Ausdruck einer gezielten Minimierungsstrategie zu häufig ausfielen, k r i t . F A Z v. 22.10.1983, S. 12. 245 Andererseits ist diese Praxis keine verfassungsrechtlich gebotene Regelung i. S. der Konkretisierung der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers durch die Staatspraxis (dazu B.-O.Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35, S. 194). — s. zu den informalen „Hilfseinrichtungen" f ü r Kanzler u n d Regierung auch K. Kröger, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 34/1969, S. 28 (35 ff., 41 ff.). 248 Z u m Status der Parlamentarischen Staatssekretäre grds. F. K . Fromme, Z P a r l 1 (1969/70), 53 ff. 247 B.-O.Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 435; H.H.Klein, AöR 108 (1983), 345.

2. Informale Zusammenarbeit i m Verfassungsstaat

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BVerfG gibt es informale Regeln, so wenn etwa die 1975 und 1978 i n die GO-BVerfG aufgenommene Aufgabe der Präsidialräte bei der Vorprüfung der Verfassungsbeschwerden lediglich eine langjährige Praxis normierte 2 4 8 ; auch das Recht des Dissenters zur Verlesung seines Sondervotums i m Verkündungstermin (jetzt § 55 GO-BVerfG) wurde faktisch (kurz) zuvor bereits wahrgenommen 249 . d) Besonders: Parlamentarische

Kooperation

Speziell i m Bundestag lassen sich eine Fülle interfraktioneller A b sprachen und informaler Traditionen feststellen, die „hinter" rechtlichen Regeln als Ausdruck gemeinsamer Gestaltungsbedürfnisse oder -notwendigkeiten stehen 250 . Mag auch die Verteilung der Ausschußsitze durch § 12 GO-BT geregelt sein — davor und daneben regieren (abstraktgenerelle, meist konkret-individuelle) interfraktionelle Absprachen 251 durch das Fraktionsmanagement bzw. Benennungsrechte der Fraktionen: über die Berechnungsverfahren 252 , über die Zahl der Ausschüsse und Ausschußsitze, über die fraktionelle Verteilung der Ausschuß Vorsitzenden, über die Personen der Ausschußvorsitzenden und -Vertreter 2 5 8 usw., auch über das (Ob und) Wie der Redezeit Verteilung 254 oder über die Tagesordnung 255 . Schon das tatsächliche Gewicht solcher informaler 248 s. jetzt (mit K r i t i k ) B.Schlink, N J W 1984, 89 (90 f.); anti-kritisch W.R. Wand, N J W 1984, 950 ff.; spekulativ zu einer anderen informalen Verfassungsprozeßregel: H. Schulze-Fielitz, JZ 1982, 799 (802). 249 Vgl. K.-G. Zierlein, DÖV 1981, 83 (91). 250 Grdl. zur Herausbildung dieser die G O - B T überlagernden informellen GO-Normen durch die Fraktionsgeschäftsführer (bis 1967): G. Loewenberg, Parlamentarismus (Fn. 52), S. 251 ff.; einen materialreichen Überblick ûbèr die ungeschriebenen Regeln i m Deutschen Bundestag verspricht der Beitrag von W. Blischke, i n : FS f. H. Schellknecht, 1984 (i. E.). 251 Sie werden ζ. T. als Rechtsquelle angesehen, s. N. Achterberg, Grundzüge des Parlamentsrechts, 1971, S. 15; ders., Parlamentsrecht (Fn. 53), S. 65 f. (verfassungsrechtliche Verträge), teils als verfassungspolitische Vereinbarungen, s. K.-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, 1979, S. 89 ff. m. ausf. N w . Diese Diskussion u m die Rechtsnatur verläuft w e i t h i n parallel zu der u m die Koalitionsvereinbarungen (s.o.). 252 Vgl. zu ihnen unten Fn. 520 ff. 253 L.-A. Versteyl, i n : I. v. Münch (Hg.), G G K I I (Fn. 205), A r t . 43/Rdn. l f Die Ausschußmitglieder werden von den Fraktionen bestimmt, vgl. ausf. W. Dexheimer, F G f. W. Blischke, 1982, S. 259 (266 ff.); s.a. K.-H. Rothaug, Leitungskompetenz (Fn. 251), S. 88 m. w . N. u n d oben Fn. 54. 254 Z u r Geschichte unter dem GG H.-P. Schneider, Opposition (Fn. 50), S. 245 ff. u n d bereits oben bei Fn. 50, 51; ferner ausf. H.Troßmann, JöR 28 (1979), 153 f., 175 ff.; W.Ismayr, K o m m u n i k a t i o n (Fn. 50), S. 36 ff. — s. jetzt den gegenläufigen Vorschlag von M d B H. Hamm-Brücher, ein D r i t t e l der Redezeit nicht-fraktionsbenannten M d B einzuräumen, FR v. 12.12.1983, S. 4, u n d eine von i h r eingeleitete, u m weitere Forderungen erweiterte I n i t i a t i v e von 106 Abgeordneten, dokumentiert i n : ZParl 15 (1984), 171 ff. 255 Ausf. R. Kabel, F G f. W. Blischke, 1982, S. 29 ff.

54

I I Empirische Bestandsaufnahme

Verfahren i m parlamentarischen A l l t a g wie für das Verfassurigsleben spricht für den verbindlichen Charakter dieser Vereinbarungen" 6 als informaler Normen 2 5 7 . — Institution für die interfraktionellen A b sprachen ist der i m K l i m a des Nicht-Öffentlichen wirkende Ältestenrat* 6*, personelles Substrat die i m Ältestenrat ausschlaggebenden Fraktionsgeschäftsführer 259. Diese informalen Verfahrensregeln sind Ausdruck eines kooperativen Arbeitsklimas, wie es sich seit der 2. Wahlperiode (zu Lasten der Funktion der kodifizierten GO) herausbildete 260 . Neben diese je neu zu konkretisierenden Vereinbarungen treten stabile, auf ihren ursprünglichen Vereinbarungscharakter schon nicht mehr befragte Traditionen. Die „Wahl" des Bundestagspräsidenten ist keine echte Wahl, sondern w i r d eher als ritualisierter Vollzugsakt betrachtet 261 . Ausdruck gemeinsamer Traditionsbewahrung ist auch eine Eröffnungsrede durch den (in § 2 I GO-BT nur als solchen erwähnten) Alterspräsidenten i6 î. Z u den informalen Regeln parlamentarischer Kooperation gehören auch die Erscheinungsformen der Pflege von Gemeinsamkeiten jenseits des Trennenden. Ein Beispiel sind interfraktionelle Gesetzesinitiativen, d. h. gemeinsam von allen Fraktionen des Bundestages eingebrachte Gesetzentwürfe, die stets auch einmütig zu Gesetzen werden. I h r A n t e i l an allen verkündeten Gesetzen betrug i n den letzten Wahlperioden 3,0 °/o ( = 15, 7. WP), 4,1 Vo ( = 14, 8. WP) bzw. 2,9 °/o ( = 4, 9. WP). I n der 9. Wahlperiode ging es dabei um die neue Wahlkreiseinteilung 2 6 3 und 258 Vgl. H.-P. Schneider, Opposition (Fn. 50), S. 245; nach der offiziellen Ansicht der Fraktionen stehen sie „gentlemen's agreements" nahe (so A. R. S. Dammholz, Die interfraktionelle Vereinbarung, Diss. j u r . M a r b u r g 1972, S. 17 f., zit. nach K.-H. Rothaug, Leitungskompetenz (Fn. 251), S. 91 i. V. m. Fn. 528). 157 So schon G. Loewenberg, Parlamentarismus (Fn. 52), S. 253; zust. H.-A. Roll, F G f. W. Blischke, 1982, S. 93 (95), der sie m i t Konventionalregeln i. S. v o n Julius Hatschek (1915) identifiziert. 258 Z u i h m R.Kabel, F G f. W. Blischke, S. 31 ff., 34ff.; H. Troßmann, JöR 28 (1979), 160 ff.; U.Bleek, i n : Handbuch Parlamentarismus (Fn. 202), S. 28 ff.; ausf. Praxisbericht bei W.Rasner, i n : E. H ü b n e r / H . Oberreuter/H. Rausch (Hg.), Der Bundestag von innen gesehen, 1969, S. 99 ff.; zur K r i t i k : H. Steiger, Grundlagen (Fn. 203), S. 118 f. — Vor der Konstituierung des Ältestenrates w i r d Beschlußbedarf i n der (in der G O - B T nicht erwähnten) sog. i n t e r f r a k tionellen Besprechung gestillt, vgl. W. Dexheimer, F G f. W. Blischke, S. 262. 259 Vgl. H. Troßmann, JöR 28 (1979), 154, 161 m. N w . zum bedeutsamen guten interfraktionell-kollegialen Verhältnis der Fraktionsgeschäftsführer; s. a. W. Rasner, i n : Bundestag von innen (Fn. 258), S. 108; K . - H . Rothaug, Leitungskompetenz (Fn. 251), S. 88 f.; R. Kabel, F G f. W. Blischke, S. 36, 40 f. 260 V. Szmula, i n : Handbuch des politischen Systems (Fn. 99), S. 227 (233 f.). — Z u r Notwendigkeit solchen Vertrauens u n d zu seinem Fehlen i n der 1. W a h l periode: C.Schmid, Erinnerungen, 1979, S.443. 281 s. B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 79. 282 Rückschau bei H. Herles, F A Z v. 16. 3.1983, S. 5.

2. Informale Zusammenarbeit i m Verfassungsstaat

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u m Ä n d e r u n g e n d e r S t e l l u n g des W e h r b e a u f t r a g t e n des B u n d e s t a g e s 2 6 4 , des B e r l i n f ö r d e r u n g s G 2 6 5 (ungeachtet des p a r a l l e l e n t e x t i d e n t i s c h e n R e g i e r u n g s e n t w u r f s ) u n d des T i e f s e e b e r g b a u G 2 6 6 . G e w i ß g r ü n d e t n i c h t jede i n t e r f r a k t i o n e l l e I n i t i a t i v e i n e i n e r i n f o r m a l e n V e r f a s s u n g s r e g e l 2 6 7 , doch k ö n n e n i n f o r m a l e V e r f a s s u n g s r e g e l n z u i n t e r f r a k t i o n e l l e n I n i t i a t i v e n f ü h r e n . So w e r d e n r e g e l m ä ß i g i n t e r f r a k t i o n e l l e i n g e b r a c h t : (1) Berlin d i r e k t b e t r e f f e n d e Gesetze, z u r D e m o n s t r a t i o n e i n m ü t i g e r V e r b u n d e n h e i t 2 6 8 ; (2) Gesetze, d i e d i e innere Organisation des Bundestages betreffen 2 6 ®, b i s z u m E i n z u g d e r „ G r ü n e n " auch Gesetze ü b e r A b g e o r d n e t e 2 7 0 ( u n d i h r e D i ä t e n 2 7 1 ) u n d ü b e r d i e P a r t e i e n 2 7 2 ; (3) p a r l a mentarische I n i t i a t i v e n , d i e a u f völkerrechtliche Beziehungen des B u n des z u D r i t t s t a a t e n i. S. e i n e r e i n m ü t i g e n S t ü t z u n g a u s w ä r t i g e r A k t i v i t ä t e n 2 7 3 ; f e r n e r (4) b e i S t ü t z u n g d e r R e g i e r u n g i n i n n e r e n u n d äußeren Ausnahmesituationen 214, b e i (5) Kriegsfolgenbeseitigungen als Sache des ganzen V o l k e s 2 7 5 s o w i e (6) b e i Verfassungsänderungen A b e r auch d o r t , w o die I n i t i a t i v e a l l e i n v o n d e r R e g i e r u n g ausgeht, k ö n n e n i n d e n P a r l a m e n t s - u n d A u s s c h u ß b e r a t u n g e n i n t e r f r a k 263 6. Ä n d B W a h l G , s. BT-Drs. 9/2034; anders waren es i n der 7. u n d 8. W a h l periode Regierungsvorlagen, vgl. BT-Drs. 7/2873 bzw. 8/2682. 284 ÄndWBeauftrG, s. BT-Drs. 9/419. 2w BT-Drs. 9/2086. 2 M ÄndTiefseebergbauG, BT-Drs. 9/1074; zu den Einzelheiten W.Lauff, N J W 1982, 2700 ff.; so auch schon das TiefseebergbauG, BT-Drs. 8/2363. 267 s. z.B. die Ä n d e r u n g des Kapitalanlagegesellschaftsgesetzes, BT-Drs. 8/4082; DenkmalsdiutzG, BT-Drs. 8/3105; 2. ÄndWeinG, B T - D r s . 7/86 oder das HandwerkszählungsG, BT-Drs. 7/5228. 288 Vgl. die Novellen zum BerlinförderungsG, auch schon i n früheren W a h l perioden (z.B. BT-Drs. 7/4194 bzw. 8/2380), sowie BT-Drs. 7/3795 (betr. das Mietpreisrecht). Diese „Tradition, B e r l i n aus dem Parteienstreit herauszuhalten", besteht unverändert, so der Berlin-Beauftragte der SPD-Bundestagsfraktion H. Apel, zit. nach F A Z v. 14.1.1984, S. 4. 289 Neben dem Ä n d W e h r B e a u f t r G (Fn. 264) z. B. G. über die Befugnisse des Petitionsausschusses, BT-Drs. 7/581. 270 AbgeordnetenG, BT-Drs. 7/5525; ÄndAbgeordnetenG, BT-Drs. 8/4114. 271 2. ÄndDiätenG, BT-Drs. 7/2285; 3. ÄndDiätenG, BT-Drs. 7/5247. 272 Vgl. 3. ÄndParteienG, BT-Drs. 8/3270 („lex Daniels"); 2. ÄndParteienG, BT-Drs. 7/1878 (Erhöhung der Wahlkampfkostenpauschale). Anders jetzt der E n t w u r f von C D U / C S U u n d F D P (BT-Drs. 10/183), der aber von allen P a r teien außer den Grünen getragen wurde, s. zu „diskreten Gesprächen" einer nebenparlamentarischen Arbeitsgruppe zwischen K o a l i t i o n u n d SPD: F A Z v. 28.10.1983, S. 1; s. a u d i schon F A Z v. 25. 6.1983, S. 2. 278 Z u m jüngsten Beispiel, der Änderung des TiefseebergbauG, s. Fn. 266. 274 s. z. B. das KontaktsperreG (BT-Drs. 8/935). 276 Vgl. z. B. 7. ÄndKriegsgefangenenentschädigungsG (BT-Drs. 8/2651); Flüchtlings- u n d VertriebeneneingliederungsG (BT-Drs. 8/4163). 278 s. z. B. BT-Drs. 7/580 (betr. 45c GG). Solche informellen Vorabklärungen illustrieren z. T. die These von der Verfassungsänderung als Verfahren (auch) des politisch opportunen Interessenausgleichs, s. A. Roßnagel, Der Staat 22 (1983), 551 (571, 572 f., 576 u. ö.).

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I I Empirische Bestandsaufnahme

tionelle Gemeinsamkeiten informale Regeln konstituieren. So soll der Innenausschuß bemüht sein, die Frage der Wahlkreisänderungen stets einmütig zwischen allen Fraktionen zu regeln 2 7 7 ; bis 1969 wurde stets auch die Strafgesetzgebung möglichst einmütig verabschiedet 278 . Obwohl der Bundestag nur bei Anwesenheit von mehr als der Hälfte seiner Mitglieder beschlußfähig ist, w i r d aufgrund interfraktioneller Absprache seine Beschlußfähigkeit durch keine Fraktion bezweifelt (vgl. § 45 I, I I GO-BT), selbst wenn — wie i n der Regel — nur wenige Abgeordnete den Gesetzesbeschluß (durchaus rechtmäßig) herbeiführen 2 7 9 ; insoweit lassen sich neuerdings freilich gewisse Durchbrechungen beobachten 280 . I n diesem Zusammenhang gehören auch die existierenden bundesdeutschen Erscheinungsformen des „Pairing", also der gegenseitigen interfraktionellen Absprache zwischen den Regierungsfraktionen und den Oppositionsfraktionen, daß diese bei Abstimmungen i n vereinbarten Fällen nicht eine parlamentarische „Zufallsmehrheit" (wegen überproportionaler Abwesenheit von Abgeordneten der Regierungsfraktionen) ausnutzen. Auch individuelle Vereinbarungen zwischen einzelnen, politisch gegensätzlichen Abgeordneten nehmen dem M d B die Furcht, die faktischen parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse könnten sich durch seine Abwesenheit verschieben 281 . — Schließlich sind auch die schlichten Parlamentsbeschlüsse rechtlich großenteils nicht geregelt und in ihrer rechtlichen Bindungswirkung für die Exeku^ tive i m Detail umstritten; Einhelligkeit besteht nur hinsichtlich der politischen Verbindlichkeit 2 8 2 . Angemessen wäre ein Verständnis als 277 s. F.Schäfer, Diskussionsbeitrag auf der Veranstaltung der Vereinigung f ü r Parlamentsfragen am 22.6.1983 i m Bonner Bundeshaus, Stenographische Niederschrift, S. 35. 278 Vgl. K. Lackner, N J W 1976, 1233 (1234 f.). 279 Z u r Verfassungsmäßigkeit dieses Verfahrens : BVerfGE 44, 308 ff. ; zust. J.-D.Kühne, ZParl 9 (1978), 34ff.; k r i t . J.Jekewitz, i n : A K - G G (Fn. 52), A r t . 77/Rdn. 9. 280 Von 1969—1983 wurde die Beschlußunfähigkeit n u r zweimal festgestellt, vgl. P.Schindler (Bearb.), Datenhandbuch (Fn. 30), S. 805 f.; s. jetzt aber die Feststellung der Beschlußunfähigkeit als neuartige „Waffe" (?), die Uberweisung des Gesetzentwurfs zur Neufassung des Demonstrationsstrafrechts nach 1. Lesung i n die Ausschüsse zu verhindern, F A Z v. 25. 2.1984, S. 1 f. und S. 12, w o F. K. Fromme von einem „Parlamentsbrauch" spricht. — I n einem zweiten F a l l verhinderte ein A n t r a g auf Feststellung der (konkret nicht gegebenen) Beschlußfähigkeit durch die CDU-Abgeordnete A. Hürland, daß ein Gesetzentwurf von 74 männlichen C D U - M d B zur Einschränkung von Schwangerschaf tsabbrüchen auf Krankenschein nach 1. Lesung i n die Ausschüsse verwiesen wurde, s. FR v> 5. 5.1984, S. 8; Der Spiegel Nr. 19/1984, S. 29. 281 Vgl. H.-E. Röttger, JuS 1977, 7 ff.; N. Achterberg, Parlamentsrecht (Fn. 53), S. 646 f. 282 s. ausf. K.-A. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, 1966, S. 31 ff., 35 ff., 44 f., der selber für eine stärkere rechtliche Verbindlichkeit plädiert, vgl. S. 47 ff. u. ö.; zuletzt N. Achterberg, Parlamentsrecht (Fn. 53), S. 743 ff.

2. Informale: Zusammenarbeit i m Verfassungsstaat

informale Bindungswirkung Bindung 2 8 3 .

„zwischen"

politischer

und

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rechtlicher

Eine Erscheinungsform interfraktioneller Zusammenarbeit ist die seit 1969 mögliche (freilich nicht interfraktionell erfolgte) Einsetzung von Enquete-Kommissionen 284, insofern sie i n neuerer Zeit gegenüber neuen Problemstellungen eine erste Form gemeinsamer Problemerarbeitung darzustellen scheinen 285 ; man denke an die Themen der 9. Wahlperiode: „Zukünftige Kernenergiepolitik", „Jugendprotest i m demokratischen Staat", „Neue Informations- und Kommunikationstechniken". — Gerade die Interparlamentarische Arbeitsgemeinschaft als überparteiliche Vereinigung von Abgeordneten aus Bund und Ländern hat sich ebenfalls immer besonders der neuen Probleme i m Zusammenhang mit dem technischen Fortschritt angenommen 286 . — Letztlich scheint auch das Unterrichtungsprivileg des Oppositionsführers durch den Bundeskanzler ein Stück parlamentarischer Zusammenarbeit zu sein, obwohl es auch u m das Verhältnis von Bundesregierung und Parlamentarischer Opposition) geht und es zudem nur unregelmäßig vertraulich (unkontrollierbar) und i m Umfang einseitig bestimmbar ist 2 8 7 . e) Gemeindeutsche Kooperationsformen Informale Formen der Zusammenarbeit sind geradezu ein charakteristisches Merkmal der bundesstaatlichen Ordnung unter dem GG* 88 . So gibt es institutionell unübersehbar viele gemeindeutsche Konferenzen, Beratungsgremien, Arbeitsausschüsse usw. ohne gesetzliche oder vertragsrechtliche Grundlage 289 , bezüglich der Länder untereinander 283 s. jetzt den Versuch der Bundesregierung zur eigenverantwortlichen „Verbesserung" des (fast) einstimmigen Bundestagsbeschlusses über die (Nicht-)Inbetriebnahme des K r a f t w e r k s Buschhaus i m Gegensatz zum W o r t laut des Beschlusses, F A Z v. 24.7.1984, S. 1; die. parlamentarische Sondersitzung u n d die Revision des Bundestagsbeschlusses durch den Bundestag selber (FAZ v. .1.8.1984, S. 1) dürften letztlich die Bindungskraft vpn B u n destagsbeschlüssen als informale Regel gestärkt haben, so däß sie sich nicht mehr auf eine Frage des i n diesem Falle oft angesprochenen „politischen Stils" reduzieren läßt. 284 Ausf. zu ihnen H.Troßmann, JöR 28 (1979), 118 ff. 285 Vgl. H. Herles, F A Z v. 25. 3.1982, S. 7. 288 s. W.E. Burhenne/J. Kehrhahn, FS f. M. Hirsch, 1981, S. 311 (319 ff.). : 287 Vgl. W. Kralewski, F G f. D. Sternberger, 1968, S. 423 (441). 288 Dazu ausf. die politikwissenschaftliche Dissertation von R. Kunze, K o operativer Föderalismus i n der Bundesrepublik, 1968; s. a W. Schreckenberger, i n : K . K ö n i g u.a. (Hg.), öffentliche V e r w a l t u n g i n der Bundesrepublik Deutschland, 1981, S. 93 (98 ff.); K.Stern, Staatsrécht I (Fn. 55), S. 754 f.; ausf. Nw. bei P. Lerche (1983), i n : T. Maunz/G. Dürig, GG (Fn. 34), A r t . 83/Rdn. 91 ff, 289 Z u den (hier ausgeklammerten) Staatsverträgen u n d Verwaltungsabkommen s. G.Kisker, Kooperation i m Bundesstaat, 1971, S. 307ff.; R. Graviert, Verwaltungsabkommen zwischen B u n d u n d Ländern i n der Bundes-

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I I Empirische Bestandsaufnahme

(sog. Dritte Ebene) sowie vertikal bei der Bund-Länder-Kooperation (sog. Vierte Ebene). Zu nennen ist die Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder, die nicht nur vorkonstitutionell beim Aufbau der Bundesrepublik Deutschland" 0 , sondern auch unter dem GG i n seit 1954 regelmäßigen Konferenzen die Entwicklung der Bundesrepublik nachhaltig mitbestimmt haben, weil Kooperation auch auf jenen Gebieten erforderlich ist, auf denen der Bund keine Kompetenzen besitzt" 1 . Die jährlichen, oft mehrtägigen Treffen unter Vorsitz des gastgebenden Landeschefs (mit turnusmäßigem Wechsel i n Konferenzvorsitz und organisatorischer Vorbereitung zwischen einem norddeutschen und einem süddeutschen Land) werden von der jeweils federführenden, für den Bundesrat zuständigen Abteilung der Staatskanzlei organisiert; eine förmliche Rechtsgrundlage oder auch nur eine Geschäftsordnung existiert nicht 2 9 2 , jenseits von rechtlichen Vereinbarungen (Staatsverträge und Verwaltungsabkommen) sind es vor allem die einstimmig gefaßten politischen ( = nicht rechtlich verbindlichen) Beschlüsse298, die die jeweilige Richtlinienkompetenz der Regierungschefs konkretisieren und eine bedeutende politische Wirksamkeit entfalten, selbst für die Bundesgesetzgebung 294 . Von der informalen Ministerpräsidentenkonferenz sind einmal die Arbeitsbesprechungen der Ministerpräsidenten, die nur i n einem kleineren protokollarischen Rahmen stattfinden 2 9 5 , zu unterscheiden sowie — auf der „Vierten Ebene" — die rechtlich i n § 31 der GO-BReg formulierte Pflicht des Bundeskanzlers, die „präsidierenden Mitglieder republik Deutschland, 1967, S. 299 ff.; Hans Schneider, V V D S t R L 19 (1961), 1 (36 ff.); s. a. P. Feuchte, AöR 98 (1973), 475 ff. 299 s. G. A. Zinn, FS f. Ad. A r n d t , 1969, S. 479 (482 ff.) m. w . N w . 291 So G.A.Zinn, FS f. A d . A r n d t , 1969, S.488ff.; ausf. R.Kunze, Föderalismus (Fn. 288), S. 49 ff. — Typisch jetzt die Einigung über die Errichtung einer Stiftung zur Förderung von K u n s t u n d K u l t u r von „nationalem Rang", F A Z v. 25. 2.1984, S. 5, v. 8. 6.1984, S. 25, u n d v. 12.6.1984, S. 25; k r i t . H. Röpke, FR V. 12. 3.1984, S. 3. 292 s. G. Weygaridt, i n : Handbuch Parlamentarismus (Fn. 202), S. 290 f.; R. Kunze, Föderalismus (Fn. 288), S. 60; T. Knoke, Die Kultusministerkonferenz u n d die Ministerpräsidentenkonferenz, 1966, S. 120 ff. 298 s. a u d i K. Stern, Z u r Verfassungstreue der Beamten, 1974, S. 4: „ I n t e r föderative gemeinsame politische Willenserklärung" ; vgl. P. Feuchte, AöR 98 (1973), 503; R. Kunze, Föderalismus (Fn. 288), S. 57 ff.; T. Knoke, K u l t u s m i nisterkonferenz (Fn. 292), S. 125 i. V. m. 68 ff. 294 z.B. berief sich der Bundestags-Innenausschuß für die Verlängerung der gesetzlichen Ubergangsfrist betr. die endgültige bundesgesetzliche Regelung der Stufenlehrerbesoldung i n § 9 B B V A n p G 1981 (v. 21.12.1981, BGBl. I, S. 1465) auf die Einverständniserklärung der Ministerpräsidentenkonferenz (vgl. BT-Drs. 9/815, S. 21). 295 So R. Kunze, Föderalismus (Fn. 288), S. 67 ff.

59

2. Informale Zusammenarbeit i m Verfassungsstaat der

Landesregierungen"

mehrmals

im

Jahr

persönlich

zu

laden216.

A u c h v o n diesem „ i n f o r m e l l e n G r e m i u m , das e i g e n t l i c h e i n p o l i t i s c h e r Gesprächskreis i s t " 2 9 7 , u n d seinen E n t s c h l i e ß u n g e n gehen l a n g f r i s t i g e , nachhaltige W i r k u n g e n aus298. I n ä h n l i c h e r F o r m , d. h. o f t ohne R e c h t s g r u n d l a g e u n d f o r m e l l e Geschäftsordnung, aber „ i n enger A n l e h n u n g a n d e n j e w e i l i g e n A u s schuß des B u n d e s r a t e s " 2 9 9 , a g i e r e n auch (ζ. Z . w o h l ) 13 Fachministerkonferenzen ( m i t ζ. T . ebenfalls v o r - g r u n d g e s e t z l i c h e r Tradition)® 6 0 , d e r e n e i n s t i m m i g e Beschlüsse ebenfalls d e n C h a r a k t e r v o n E m p f e h l u n g e n u n d p o l i t i s c h e n V e r e i n b a r u n g e n h a b e n 3 0 1 . A l s a k t u e l l e Beispiele f ü r das G e w i c h t dieser Beschlüsse seien n u r d i e E i n f ü h r u n g d e r g y m n a s i a l e n O b e r s t u f e 8 0 2 d u r c h d i e S t ä n d i g e K o n f e r e n z d e r K u l t u s - (d. h. auch: B i l d u n g s - , Forschungs-, Wissenschafts- usw.) m i n i s t e r 8 0 8 u n d d e r j ü n g s t e , rechtstheoretisch u n b e k ü m m e r t e V o r s t o ß v o n A. Bleckmann 804 805 erwähnt , bis z u m E r l a ß eines Subventionsgesetzes d e n Beschlüssen 296 Vgl. R. Kunze, Föderalismus (Fn. 288), S. 34 ff.; s.a. G. Lehmbruch, Parteienwettbewerb i m Wandel, 1976, S. 79. 297 F. K . Fromme, F A Z v. 28.1.1982, S. 9. 298 M a n denke an den gemeinsamen A u f t r a g an die „Troesrer-Kommission" (zur Vorbereitung der Finanzreform von 1969), s. den Überblick bei J. Kölble, DÖV 1967, S. 1 ff.; ferner an den Beschluß v o m 28.1.1972 („Radikalenerlaß"), der so nachhaltig w i r k t e u n d offenbar mehr als n u r informelle W i r k u n g e n entfaltete. 299 So G. Weygandt, i n : Handbuch Parlamentarismus (Fn. 202), S. 131. eoo p.Feuchte, AöR 98 (1973), 481 ff.; ferner G. Weygandt, ebd.; R.Kunze, Föderalismus (Fn. 288), S. 105 ff. 801

s. Hans Schneider, V V D S t R L 19 (1961), 10 ff.; ausf. T. Knoke, K u l t u s ministerkonferenz (Fn. 292), S. 49 ff. (bes. 68 ff.: i. d. R. „politische Versprechen"). — Eine andere F u n k t i o n ist die vereinheitlichende Interpretation gemeindeutschen Landesrechts, s. z. B. V G H Mannheim, DVB1.1984, 273 ff. (betr. § 2 GFaG); K M K - V e r e i n b a r u n g e n erscheinen „als eine A r t Rechtserkenntnisquelle" (so W. Zimmerling, D Ö V 1984, 257, 258), jedenfalls als eine V e r k ö r perung des Konsenses über das Vertretbare u n d Erforderliche (so BVerfGE 54, 173, 198), beide betr. die Vereinbarung über die Regellehrverpflichtung f ü r Hochschullehrer. 802 Z u r Unvereinbarkeit m i t der hess. Landesverfassung s. HessStGH, D Ö V 1982, 244 ff. m i t k r i t . A n m . H.-J. Mengel, ebd., S. 246 ff. 808 Z u der freilich u. a. i m Bernkasteler Beschluß u n d einer (unveröffentlichten) GO i . d . F . von 1955 „verrechtlichten" K M K s. P.Reichel, i n : H a n d buch des politischen Systems (Fn. 99), S. 348 ff.; T. Knoke, K u l t u s m i n i s t e r konferenz (Fn.292), S. 22ff., 139 („außerrechtliches Gebilde"); anders G.Kisker, Kooperation (Fn. 289), S. 248 f.: die GO spreche f ü r einen rechtlichen B i n dungswillen, auch w e n n sie keine Rechtsnorm i m staatsrechtlichen (aber i m rechtstheoretischen, s. a. S. 264) Sinne sei. — s. jetzt zum kooperativen B i l dungsföderalismus A.Laaser, RdJB 30 (1982), 352 ff.; C.Jülich, FS f. H. U. Scupin, 1983, S. 755 (761 ff., 766 ff.). 804 Vgl. A. Bleckmann, Verhandlungen des 55. DJT, 1984, Band 1, Gutachten D, S. 65 ff., 114 f. i. V. m. 61 ff. 805 E i n anderes Beispiel: Das Grunderwerbssteuergesetz 1983 v. 17.12.1982 (BGBl. I, 1777), m i t dem durch eine erfolgreiche Bundesratsinitiative erstmals

'60

I I ; Empirische Bestandsaufnahme

clef W i r t s c h a f t s m i n i s t e r k o n f e r e n z s t ä r k e r e B i n d u n g s w i r k u n g „ z u v e r l e i h e n " . I n diesen K o n f e r e n z e n ( z . B . i n d e r S t ä n d i g e n K o n f e r e n z d e r I n n e n m i n i s t e r ) h a t d e r zuständige B u n d e s m i n i s t e r ζ. T . e i n e n „ G a s t s t a t u s " 3 0 6 ; w e n i g s t e n s f i n d e n r e g e l m ä ß i g e Gespräche m i t d e m B u n d e s m i n i s t e r s t a t t 3 0 7 . — D a r ü b e r h i n a u s s o l l es a l l e i n i m B e r e i c h d e r I n n e n v e r w a l t u n g ca. 60 bis 100 weitere Arbeitskreise und Gremien geben, i n denen A n g e l e g e n h e i t e n zwischen d e n L ä n d e r n e r ö r t e r t w e r d e n , t e i l weise u n t e r E i n b e z i e h u n g des B u n d e s 3 0 8 . I n v i e l f ä l t i g e r Weise a r b e i t e n B u n d u n d L ä n d e r auch sonst neben und unterhalb der Ebene der Regierungschefs und der Fachminister mit mitt e l b a r e m Verfassungsbezug zusammen. Z u d e n k e n ist a u f d e r Ebene der Gesetzgebungsorgane a n die g e m e i n s a m e n K o n f e r e n z e n j e w e i l s d e r S P D - , C D U / C S U - oder FDP-Fraktionsvorsitzenden i n den Landesp ä r l ä m e n t e n einschließlich d e r B u n d e s t a g s f r a k t i o n s Vorsitzenden ( m i t g e m e i n s a m e n E n t s c h l i e ß u n g e n f ü r die Ö f f e n t l i c h k e i t 3 0 9 , auch f ü r die F a c h m i n i s t e r k o n f e r e n z e n 3 1 0 , aber auch m i t V e r h a n d l u n g e n u n t e r e i n a n d e r 3 1 1 ) , a n d i e K o n f e r e n z e n v o n Fraktionsexperten zu Spezialfragen a l l e i n f ü r sich 3 1 2 , a n die j ä h r l i c h e i n m a l ( f r ü h e r z w e i m a l ) s t a t t f i n d e n d e n Landtagspräsidentenkonferenzen 313, die i h r e Beschlüsse m i t u n t e r d u r c h eine -bundesrechtliche Gesamtregelung des Grunderwerbssteuerrechts geschaffen wurde, wurde maßgeblich durch einen einstimmigen Beschluß der Konferenz der Landesfinanzminister v o m 5. 5.1978 vorangetrieben; die F M K hat am 21. 6.1979 das L a n d Niedersachsen u m Einbringung des von der F M K erstellten Gesetzentwurfs gebeten, vgl. BT-Drs. 9/251, S. 13. 3oe F A Z v. 14.1.1984, S. 6, anläßlich der Innenministerkonferenz am Vortag. 307 s. jetzt den „Widerstand" der Länderminister gegen die Vorschläge des Bundesverkehrsministers zur Sanierung der Bundesbahn „während eines ausführlichen Gesprächs": F A Z v. 24.12.1983, S. 11. 398 P. Feuchte, AöR 98 (1973), 481. 809 s. ζ. B. die Entschließungen der Fraktionsvorsitzenden der F D P (FAZ v. 15. 2.1982, S. 4), der SPD (FAZ v. 3. 2.1984, S. 2). — Zur Forderung der F r a k tionsvörsitzenden von C D U / C S U nach Auflösung der B u n d - L ä n d e r - K o m mission f ü r Bildungsplanung s. ausf. B. Mohr, F A Z v. 24.4.1984, S. 7. 310 So mußten sich die Kultusminister der C D U / C S U bei ihrer Zustimmung zum KMK-Beschluß über die Anerkennung der Gesamtschulabschlüsse über ein entgegenstehendes V o t u m der CDU/CSU-FraktionsVorsitzenden hinwegsetzen, s. F A Z ν. 29. 5.1982, S. 5, u n d K. Reumann, F A Z v. 2. 6.1982, S. 1. Die Fraktionsvorsitzenden scheinen insoweit (auch) parlamentarische Kontrolle der Fachministerkonferenzen „gemeindeutsch" zu organisieren. 311 ζ. B. zur Stärkung der Opposition, vgl. J. Echternach, Z P a r l 6 (1975), 3 ff. 312 Nach H. Lauf er, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufi; 1977, S. 123. 313 s. H. Klatt, in: Der Bürger i m Staat 1/1979, S. 20 (23 ff.) m i t weiteren Gremien wie der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft e. V. aus ζ. Z. ca. 150 Bundes- u n d 300 Landtagsabgeordneten (vgl. zu i h r ausf. W. E. Burhenne/J. Kehrhahn, FS f. M.Hirsch, 1981, S. 311 ff.), dem (zunächst gescheiterten) Norddeutschen Parlamentsrat der vier norddeutschen Landtage (1970— 1976), zu dessen Absichten auch R. Baumann, ZParl 2 (1971), 293 ff. Eine jetzt neu gegründete „Konferenz Norddeutschland" der v i e r norddeutschen M i n i -

2. Informale Zusammenarbeit i m Verfassungsstaat

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(politisch und regional und nach Ländergröße proporz-besetzte) Arbeits* kommissionen vorbereiten 314 . — Auf Exekutivebene zwischen den Län* d e m gibt es die regelmäßigen Treffen von Vertretern der Staats- bzw.· Senatskanzleien, die von den Regierungen eingesetzten Ausschüsse ständiger Koordinationsgremien der Ministerialverwaltungen, vor allem aber die informale Zusammenarbeit der Spitzen von Bundes- und Länderbürokratien 3 1 5 ; man denke auch an die Konferenz der Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern 3 1 6 . Bei der Zuordnung und Ausfüllung ihrer Befugnisse werden z. B. nach einer „unförmlichen' Verständigung" 3 1 7 zwischen Bund und Land die Leiter der Oberfinanzdirektionen, die Bundes- und Landesbeamte zugleich sind 3 1 8 , z. B. i n Bayern i n München vom Land, i n Nürnberg vom Bund bestimmt; in anderen Ländern wechseln sich Bund und Land i n ihren Benennungsrechten teilweise ab. — A u f justizieller Ebene schließlich ist an die Konferenzen der OLG-, LAG-, OVG- bzw. LSG-Präsidenten zu denken. — Z u erwähnen ist auch die Konferenz der Bund/Lärider-Rechnungshofpräsidenten. Neben diesen informalen organisatorischen Einrichtungen gibt es auch verhaltensbedeutsame informale Regeln. Zunächst gibt es neben rechtlichen gemeindeutschen (Staats-)Verträgen und Verwaltungsab-. kommen eine (wohl noch größere 319 ) Fülle an rechtlich unverbindlichen politischen Absprachen und gemeinsamen Empfehlungen, deren Abgrenzung zu (rechtlichen) Verwaltungsabkommen nicht immer eindeutig und nur i m Einzelfall möglich ist 3 2 0 , vor allem bei der Vereinbarung von sterpräsidenten soll die Zusammenarbeit reanimieren (s. F A Z v. 26.5.1984, S. 4). — Z u den Tagesordnungen der Lahdtagspräsidenten s. etwa ZParl 2 (1971), 249 f., ZParl 5 (1974), 302 f. u n d ZParl 6 (1975), 387 £ betr. die 37., 43.· u n d 45. Konferenz 1971, 1974 bzw. 1975; wichtig die Empfehlung zur S t ä r ^ k u n g der Parlamente bei Staats Verträgen u n d Verwältungsabkommen,s. dazu H.Lenz, D Ö V 1977, 157ff.; zur Landtagspräsidentenkonferenz jetzt ausf. A. Böhringer, i n : FS f. H. Schellknecht, 1984 (i. E.). 314 So z.B. betr. den damals neuen Art.91a GG: ZParl 1 (1969/70), 173ff.; auch die neueren Empfehlungen gegen die Auszehrung der Länderparlamente beruhten auf jahrelangen Vorarbeiten, vgl. F. K. Fromme, F A Z v. 10. 2.1983, S. 10. 315 Vgl. auch H. Klatt, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, ; È 31/1982, S. 3 (4 f.). Daß es nicht n u r u m Behördenspitzen geht, zeigt die Tagung der S P D - F r a k tionsVorsitzenden i n Städten m i t über 250 000 Einwohnern, FR V. 22; 2.1984, S. 16. 316 s. z. B. ihre (jeweils einstimmigen) k r i t . Erklärungen zum Referentene n t w u r f f ü r eine Änderung des BDSG (nach F A Z v. 9.11; 1983, S. 1) bzw. zu Folgerungen aus dem Volkszählungsurteil des B V e r f G f ü r den Gesetzgeber (FAZ v. 10. 4.1984, S. 1, u n d D Ö V 1984, 504 ff.). 317 Berichtet bei T. Maunz, FS 50 Jahre Boorberg-Verlag, 1977, S. 95 (98). 318 Vgl. § 9 I I , I I I F i n V è r w G (v. 30. 8.1971, BGBl. I, S. 1427). 319 So R. Grawert, Verwaltungsabkommen (Fn. 289), S. 60. 320 R. Grawert, Verwaltungsabkommen (Fn. 289), S. 61.

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I I Empirische Bestandsaufnahme

Richtlinien oder allgemeinen VerwaltungsVorschriften 521 . I n diesen Zusammenhang gehört ferner die zunächst informelle Erstellung von Mustergesetzentwürfen durch interföderative Arbeitsgruppen, die nach Verabschiedung durch eine Fachministerkonferenz bei Realisierung durch die Länder trotz länderspezifischer Differenzierungen starke unitarisierende K r a f t entfalten (können) 822 . E i n charakteristisches Merkmal informaler Verfassungsregeln kann es schließlich sein, rechtliche Regeln durch einverständliche Praxis zu ersetzen. Das w i r d deutlich am Zusammenwirken von Bund und Ländern bei der Abgrenzung ihrer Kompetenzen als Voraussetzung ihrer Kooperation. So werden A r t . 30, 104 a I GG als Grundregeln der A b grenzung der Verwaltungs- und Finanzierungskompetenz von Bund und Ländern deklaratorisch festgestellt und damit konkretisiert i m sog. Flurbereinigungsabkommen, dem Entwurf einer Verwaltungsvereinbarung über die Finanzierung öffentlicher Aufgaben von Bund und Ländern 8 2 8 . Obwohl dieser Entwurf der Bundesregierung von den Ländern bis heute nicht formell gebilligt worden ist, und ungeachtet verfassungsrechtlicher Bedenken 824 spielt er i n der Staatspraxis der Fondswirtschaft eine wichtige Rolle 8 2 5 . Ähnlich wie bei der V o r w i r k u n g von Gesetzentwürfen 82 · oder Rechtsvereinbarungen liegt hier noch keine endgültig beschlossene Vereinbarung vor 8 2 7 ; schon der Entwurf entfaltet 821 s. R.Grawert, Verwaltungsabkommen (Fn. 289), S. 62 f., der solche V e r einbarungen dem Vertragsrecht zuordnet. 382 Als Modell interföderativer Zusammenarbeit empfohlen bei H.Klatt, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 31/1982, S. 23. Realisierte, praktisch besonders bedeutungsvolle Beispiele sind der Modellentwurf eines Landespressegesetzes (1960) einer Kommission der Innenminister der Länder (dazu P. Feuchte, AöR 98 [1973], 494) u n d der einer Landeshaushaltsordnung; der Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes (1977) ist erst i n einigen Ländern v e r w i r k l i c h t worden, s. E. Rasch, DVB1. 1982, 126 ff. — Z u m aktuellen Stand der landesrechtlichen Umsetzung (und der Vorgeschichte) der neuen MBauO (1980), beschlossen von der Konferenz der f ü r das Bau-, W o h nungs- u n d Siedlungswesen zuständigen Minister der Länder (ARGE-Bau) am 11.12.1981, s. R. Ley, N V w Z 1983, S. 599 ff. 828 Abgedruckt bei F. K l e i n , B u l l . 1967, 713 (714 f.). Dieser E n t w u r f folgte einem Vorschlag der Kommission für die Finanzreform, s. Gutachten über die Finanzreform i n der Bundesrepublik Deutschland, 1966, Ziff. 81 ff. 824 G. Kisker, Kooperation (Fn. 289), S. 38; grds. positiv K . Hesse, FS f. Gebh. Müller, 1970, S. 141 (157, Fn. 34); zuletzt M. Bothe, i n : A K - G G (Fn. 52), A r t . 30/ Rdn. 25. 825 s. H. Fischer-Menshausen, i n : I. v. Münch (Hg.), GG-Kommentar, Band 3, 2. Aufl. 1983, A r t . 104a/Rdn. 11 („weitgehend reibungslos angewendet"); D. Hömig, i n : K . - H . Seifert/D. Hömig, Grundgesetz, 1982, A r t . 30/Rdn. 4; vgl. auch G.-H. Kemper, D Ö V 1983, 951 (952). 828 s. allg. zur V o r w i r k u n g von Gesetzen P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 296 (Fn. 148); 543 (Fn. 149); ders. (1974), i n : ders., Verfassung (Fn. 1), S. 83 ff.; ausf. M.Kloepfer, V o r w i r k u n g von Gesetzen, 1974, bes. S. 94 ff.

2. Informale Zusammenarbeit i m Verfassungsstaat

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aber praktisch eine (freilich reversible) informal regelnde Wirkung 8 8 8 — Ausdruck eines offenbar dringenden praktischen Bedürfnisses nach einer Verständigung über den modus vivendi. Insgesamt belegen alle genannten Beispiele „eine gewaltige Vielfalt von Formen des Zusammenwirkens" 8 2 9 ; ein zentrales, für den permanenten Prozeß des bundesstaatlichen Interessenausgleichs möglicherweise entscheidendes Element des „kooperativen Föderalismus" ist gerade die informale Abstimmung und Zusammenarbeit unterhalb rechtlicher Institutionalisierung 8 8 0 , und zwar durch ihre Regelhaftigkeit „zwischen" der bloßen informellen gegenseitigen Information und Fühlungnahme und formellen rechtlichen Regeln bzw. Vereinbarungen 881 . Es scheinen sich die Stimmen zu mehren, nach denen bei dieser „Selbstkoordinierung" die zulässige Grenze exekutivischer Zusammenarbeit i n Bund und Ländern überschritten sei 882 , die Innovationskraft unterschiedlicher experimenteller Alternativen nicht geschwächt werden darf 8 8 3 ; damit ist zugleich mehr föderative Toleranz gegenüber abweichenden Länderentwicklungen gefordert 884 . Dabei bleibt aber Grundkomponente die grundsätzliche Gleichgestimmtheit i m Verfahren der Konfliktbewältigung 8 8 5 . 327 s. jetzt die Forderung der Arbeitsgemeinschaft Christlich-Demokratischer Juristen (ACDJ) Rheinland-Pfalz nach Vereinbarung eines solchen A b kommens zur Stärkung der Länderkompetenzen, F A Z v. 27.5.1983, S. 4. 328 Insoweit liegt es anders als beim S A L T - A b k o m m e n zwischen den USA u n d der Sowjet-Union, das zwar vereinbart, aber nicht ratifiziert worden ist, bislang aber w o h l trotzdem das Handeln beider Vertragspartner (noch i n formal) bestimmt. 329 P.Lerche (1983), i n : T . M a u n z / G . D ü r i g , G G (Fn. 34), A r t . 83/Rdn.4. 330 Vgl. hierzu f ü r die U S A : W. Kewenig, AöR 93 (1968), 433 (473 f.); f ü r die Bundesrepublik Deutschland: K.Hesse, FS f. Gebh.Müller, 1970, S. 151; H.Lauf er, System (Fn. 312), S. 122 f., 1261; W. Schreckenberger, VerwArdi69 (1978), 341 (344, 352 ff.); s. a. W. Zeh, Z P a r l 8 (1977), 484. 381 Sie finden ihre Fortsetzung „nach unten" i n den informellen Formen des Politikverbundes von Gemeinden einerseits, L a n d u n d B u n d andererseits, s. J.J.Hesse u n d E.-H. Ritter, i n : Staat u n d Gemeinden (Fn. 15), S. 11 (21) bzw. 247 (252 ff.). 882 H.Klatt, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 31/1982, S. 3 (211); H.-P. Schneider, i n : A . K l ö n n e u.a., Lebendige Verfassung, 1981, S.91 (1061 u.a.); W. Schreckenberger, i n : V e r w a l t u n g (Fn. 288), S. 109 ff.; A.Laaser, RdJB 30 (1982), 356, 3591, 367 u.ö.; s.a. allg. W.Schmitt Glaeser, AöR 107 (1982), 337 (359 ff.) u n d noch unten bei Fn. 649, 852 ff. 888 s. allg. etwa D.Grimm, i n : Wissenschaft (Fn. 46), S. 278 ff. ; bes. (am Bsp. des Musterentwurfes eines Abgeordnetengesetzes der Landtagspräsidenten) P.Häberle, i n : ders., Verfassung (Fn. 1), S.524. 884 C.Jülich, FS f. H. U. Scupin, 1983, S.772; s. aber z.B. die K r i t i k von Bundesminister F. Zimmermann an der einseitigen „Lockerung" der Ausländerrechtsverwaltungspraxis i n Hessen als A u f k ü n d i g u n g eines (gemeindeutschen) Grundkonsenses: F A Z v. 18. 8.1984, S. 3. 88a So P. Lerche (1983), i n : T. Maunz/G. Dürig, GG (Fn. 34), A r t . 83/Rdn. 123.

64

I I Empirische Bestandsaufnahme

f) Besonders: Außenpolitik

und ini ormale

Zusammenarbeit

Speziell der Bereich der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepub l i k ist nicht nur i m Bereich parlamentarischer Gesetzgebung 336 ein Feld von Kooperationsformen aller Arten. I m Innern gibt es, vor allem seit dem Wandel der SPD-Programmatik Ende der 50er Jahre, ansatzweise eine Traditio η des Bemühens, zentrale Elemente deutscher Außenpolitik i m gemeinsamen staatlichen Interesse auch nach außen hin gemeinsam zu vertreten und zu symbolisieren 337 . Dazu gehört, auf personal-persönlicher Ebene, die Einladung von Vertretern der Oppositionsparteien bei „großen" außenpolitischen Vertragsabschlüssen: Auf Bundeskanzler K . Adenauers Moskau-Reise 1956 begleitete i h n ζ. B. der damalige außenpolitische Sprecher der SPD, Carlo Schmid ; oder man denke an das (freilich abgelehnte, w e i l wohl verspätete) Angebot zür Begleitung des Bundeskanzlers W. Brandt an die CDU-Opposition bei Abschluß der Ostverträge 338 . I n den gleichen Zusammenhang gehört es, wenn 1980 CDU-MdB R. Barzel von der sozial-liberalen Bundesregierung zum Koordinator der deutsch-französischen Zusammenarbeit berufen 3 3 9 bzw. 1981 erstmals ein Oppositionspolitiker, CDU-MdB K.-H. Narjes, von der Bundesregierung zum Mitglied der EG-Kommission (neben W. Haferkamp, SPD) vorgeschlagen wurde 3 4 0 ; hier w i r d die Nähe von Kooperation und Proporzdenken deutlich. Diese Traditionen, genauer w o h l Versuche zur Traditionsbegründung sind freilich nur. sehr schwach ausgeprägt und deshalb (noch) Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen, etwa bei der K r i t i k von Seiten der Opposition, Bundeskanzler H. Kohl habe sich — anders als Premierministerin M. Thatcher — nicht auch durch Oppositionspolitiker zu den Beerdi336

s. oben bei Fn. 268, 273 ff. : s. ausf. W. Link, i n : Probleme der Demokratie heute, 1971, S. 359 (373 f f ). 338 Vgl. C.-C. Schweitzer, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 19/1980, S. 3 (16) m. w. Bsp. 339 Nach dem Regierungswechsel 1982 (mit der Ernennung R.Barzels zum Minister) wurde freilich w e i t e r h i n ein CDU-Politiker, C. O. Lenz, sein Nachf o l g e r / d e m 1984 Frau H.Wex (CDU-MdB) folgte (vgl. Das Parlament v. 4. 2. 1984, S. 8 und 16). 340 Ausf. E. Hauser, FR v. 9. 2.1984, S. 12. — Es bleibt abzuwarten, ob diese Proporzpraxis, w i e sie auch Frankreich u n d Italien praktizieren, f ü r die Neubesetzungen ab 1985 aufrechterhalten w i r d : Nach FR v. 10. 3.1984, S. 4, u n d v. 4. 8.1984, S. 3, soll das der SPD angehörende DGB-Vorstandsmitglied A. Pfeiffer Nachfolger des (ehedem ebenfalls DGB-Vorstandsmitglieds und) EG-Kommissars W. Haferkamp werden, Indiz für einen doppelten (parteipolitischen u n d pluralistischen) Proporz (s. a. Der Spiegel Nr. 30/1984, S. 20). Zugleich waren der CDU-Politiker K.-H. Biedenkopf (zeitweise sogar für den EG-Kommissionsvorsitz, vgl. Der Spiegel Nr. 23/1984, S. 93, u n d F A Z v. 11. 7. 1984, S. 2) u n d der CSU-Politiker P.Schmidhuber i m Gespräch, beide allerdings als Nachfolger des (CDU-)Kommissars K.-H. Narjes (ab 1986), vgl. Bonner G A v. 21. 7.1984, S. 1; ferner F A Z v. 23: 7.1984, S. 5, wonach der zweite deutsche EG-Kommissar „traditionsgemäß der SPD vorbehalten ist". 337

2. Informale Zusammenarbeit i m Verfassungsstaat

65

gungsfeierlichkeiten i n Moskau anläßlich des Todes von Generalsekretär J. W. Andropov begleiten lassen 341 . A u f sachlich-institutioneller Ebene ist z. B. an die Übereinkunft der Parteien zu denken, die auswärtige K u l t u r p o l i t i k liberal und pluralistisch zu gestalten 342 . Ferner ist auch die vorherige Beteiligung des auswärtigen Bundestagsausschusses (und/oder von Bundesländern) an der Verhandlungsphase auswärtiger Verträge durch die Exekutive ein Stück inter-organschaftlicher Kooperation 343 , wie sie als „gleitende" Kontrolle durch Zusammenspiel von Regierung und Parlament unter heutigen Verhältnissen wohl zunehmend nur noch möglich ist 3 4 4 ; als Instrument zur politischen Haftungsbeteiligung der Parlamentarier hat die Bildung eines Unterausschusses des Auswärtigen Ausschusses, dem gegenüber der Unterausschuß zur Geheimhaltung verpflichtet war(!), ebenfalls schon 1951 eine frühe, von K. Adenauer veranlaßte parakonstitutionelle Erscheinungsform gefunden 345 . Ähnlich kontrolliert der Bundestag bzw. der Haushaltsausschuß deshalb die zuständigen Exekutivvertreter vor der Beschlußfassung i m Europäischen Ministerrat „ i n einem informellen, nicht-gesetzlichen Rahmen" 3 4 6 . — Der von der 1. bis zur 8. Legislaturperiode existierende 347 informale „Beirat des Bundestages für handelspolitische Vereinbarungen" sollte als Ersatz für eine parlamentarische M i t w i r k u n g i m Gesetzgebungsverfahren unter beratender M i t w i r k u n g von vier Bundesratsvertretern die Regierung einschlägig beraten, ohne Parlamentsausschuß zu sein 348 . Wie die auswärtigen sind erst recht die gesamt-deutschen Beziehungen bislang auf der Basis eines gemeinsamen Grundkonsenses behandelt 3 4 9 . Der erstmalige Besuch einer Vertretung der SPD-Bundestags341

So E. Bahr i m „Vorwärts", zit. nach FR v. 22. 2.1984, S. 4. So Staatsminister J. W. Möllemann, F A Z v. 10. 4.1984, S. 25. 343 Vgl. K.J.Partsch, W D S t R L 16 (1958), 74 (98 f.); ausf. C.-C. Schweitzer, Aus P o l i t i k und Zeitgeschichte, Β 19/1980, S. 15 ff. (23: „interparteilicher Resonanzboden") ; W. Feldmann, Z u r verfassungsrechtlichen Neuverteilung der Kompetenzen bei Abschluß völkerrechtlicher Verträge i n der Bundesrepublik Deutschland, Diss. j u r . Augsburg 1975, S. 229 ff. 344 s. ζ. Β . K. Kaiser, i n : Probleme der Demokratie heute, 1971, S. 340 (348 f.); s. a. C. Tomuschat, W D S t R L 36 (1978), 7 (34 ff.). 345 s. A. Baring, I m Anfang w a r Adenauer (1969), 2. Aufl. 1982, S. 290 ff. 346 E. Moeser, Die Beteiligung des Bundestages an der staatlichen Haushaltsgewalt, 1978, S. 105; ähnlich bei den bundesstaatlichen Gemeinschaftsaufgaben: S. 162. 347 Seit der 9. Wahlperiode scheint er nicht mehr zu existieren, vgl. P. Schindler (Bearb.), Datenhandbuch (Fn. 30), S. 597, 594 usw. 348 Vgl. K . P. Tudyka, PVS 12 (1971), 282 (289 ff.); k r i t . R. Schmidt, W D S t R L 36 (1978), 65 (101). 349 U m so bemerkenswerter sind dann K o n f l i k t e wie der u m den Jahreskalender des Gesamtdeutschen Instituts; seine Verteilung an den Schulen wurde 1975 i n Rheinland-Pfalz, 1983 i n Nordrhein-Westfalen v o m K u l t u s 342

5 Schulze-Fielitz

66

I I . Empirische Bestandsaufnahme

f r a k t i o n b e i d e r V o l k s k a m m e r d e r D D R a u f E i n l a d u n g des V o l k s k a m mer« V o r s i t z e n d e n ü b e r s c h r e i t e t p a r t i e l l die b i s h e r i g e p a r l a m e n t a r i s c h e G e m e i n s a m k e i t i n dieser F r a g e 3 5 0 . I m Bereich der Außenbeziehungen der Bundesrepublik wiederholen sich schließlich f ü r die B u n d e s r e p u b l i k als T e i l d e r V ö l k e r g e m e i n s c h a f t oder als G l i e d s t a a t v ö l k e r r e c h t l i c h e r G e m e i n s c h a f t e n ζ. T . jene F o r m e n u n d R e g e l n i n f o r m a l e r K o o p e r a t i o n entsprechend, w i e sie auch f ü r das V e r h ä l t n i s d e r B u n d e s l ä n d e r u n t e r e i n a n d e r c h a r a k t e r i s t i s c h s i n d . Es geht dabei nicht u m informelle Außenbeziehungen jenseits v o n v ö l k e r rechtlichen B i n d u n g e n als solchen 3 5 1 , s o n d e r n u m i h r e z u R e g e l n sich verfestigenden Erscheinungsformen 352. g) Informale

Kooperation

von Staat und

Gesellschaft

D i e V i e l f a l t i n f o r m a l e r K o o p e r a t i o n v o n u n d i n n e r h a l b v o n Staatso r g a n e n m i t „ d e r " Gesellschaft, n a m e n t l i c h d e r W i r t s c h a f t u n d i h r e n V e r b ä n d e n 3 5 3 , v e r b i e t e t j e d e n A n s p r u c h auf V o l l s t ä n d i g k e i t . Schon d e r minister untersagt m i t jeweils deutschlandpolitisch motivierten Einwänden, s. F A Z v. 20.12.1983, S. 5. 350 V g l F A Z v. 22. 2.1984, S. 5. 351 Vgl. zur informalen Vielfalt der auswärtigen Gewalt etwa U. Fastenrath, i n : A. D i t t m a n n / M . K i l i a n (Hg.), Kompetenzprobleme der Auswärtigen Gewalt, 1982, S. I f f . ; speziell zu Städtepartnerschaften als außerrechtlichen Vereinbarungen H.-J. Konrad, ebd., S. 138 (167 ff.); D. Blumenwitz, FS f. G.-C. v. Unruh, 1983, S. 747 (755 ff.). 352 Auch i m Recht der Europäischen Gemeinschaften haben ζ. B. nicht normierte interinstitutionelle Absprachen u n d Vereinbarungen dem Europäischen Parlament eine stärkere Stellung als i n den EG-Verträgen vorgesehen verschafft. Deren rechtswissenschaftliche Beurteilung schwankt zwischen der Annahme einer außerrechtlichen, bloß politischen Verpflichtung, der Qualifikation als quasiverbindlichem „soft l a w " u n d der Meinung, diesen Vereinbarungen komme Rechtsgeltung zu. Dabei erweisen sich die Versuche zu deren dogmatischer Begründung (aus Selbstbindung, Vertrag, Organisationsgewalt oder Gewohnheitsrecht, auch der Organloyalität) als unzureichend, s. M. Hilf, EuR 19 (1984), 9 (18 ff.). Hilf vermag m i t seinem Lösungsansatz der Organloyalität letztlich keine unmittelbare Rechtsgeltung der Vereinbarungen zu begründen, sondern n u r indirekte W i r k u n g e n als Mißbrauchsgrenzen : Eben darin liegt allgemein die Bedeutung (vieler) anderer informaler V e r fassungsregeln, so daß die von i h m als unergiebig angesehene Ebene des „soft l a w " zwischen P o l i t i k u n d Recht vielleicht nicht vorschnell abgelehnt werden sollte. — Auch das Einstimmigkeitsprinzip i m Ministerrat beruht auf einer (vertrags-)rechtlich nicht gesicherten informalen Absprache von 1966 (vgl. n u r A. Bleckmann, Europarecht, 3. Aufl. 1980, S. 24), so w i e — ζ. T. i n E n t sprechung zu föderalistischen (gemeindeutschen) informalen Verfassungsregeln — die E G von zahlreichen informalen Regeln „lebt". Es handelt sich u m informale (Gemeinschaftsverfassungs-)Regeln, die die F u n k t i o n informaler Verfassungsregeln als Aggregatzustand der Verfassungsrechts (fort)b i l d u n g gerade hier besonders unterstreichen, w o es ein formales Gemeinschaf tsverfassungsrecht eben (noch) nicht gibt; s. aber zu dessen gegenwärtigen Entwicklungen jetzt I. Pernice, EuR 19 (1984), 126 ff.; J. Schwarze/R. Bieber (Hg.), Eine Verfassung f ü r Europa, 1984; zuletzt H.-W. Rengeling/ M. C. Jakobs, DVB1. 1984, 773 ff.

2. Informale Zusammenarbeit i m Verfassungsstaat

67

Bundeskanzler läßt sich durch private Personen beraten 854 . Freilich sind bemerkenswert solche nicht-gesetzlichen Gremien wie der Nuklearrat beim Bundeskanzler, i n dem neben den Fraktionsvorsitzenden und -experten der Bundestagsparteien auch Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter den Bundeskanzler beraten sollen 855 . Auch die i n § 3 StabG nur als Begriff erwähnte Konzertierte Aktion als Gremium aus Persönlichkeiten wurde informal besetzt und praktiziert. A n diesem Gesprächskreis nahmen (unter Vorsitz des Bundeswirtschaftsministers) regelmäßig ein halbes hundert Repräsentanten der wirtschaftspolitisch wichtigen Bundesministerien, der Deutschen Bundesbank, des Sachverständigenrates und der als wichtig eingestuften Spitzenverbände der Unternehmer und der Gewerkschaften teil35®, ehe er 1977 von den Gewerkschaften verlassen und damit offenbar funktionslos und 1979 aufgegeben wurde 3 5 7 . I h r Grundgedanke staatlich-gesellschaftlicher Kooperation hat sich indessen in vielen Sachzusammenhängen ausgeweitet, von den Berliner Wirtschaftskonferenzen bis zu „Konzertierten Aktionen" i m Gesundheitswesen (§ 405 a RVO), oder bei der Zusammenarbeit i m Steinkohlebereich oder der Bauwirtschaft 358 . Unmittelbar auf ministerieller Ebene gibt es eine Fülle informaler Kooperationstechniken vor allem zwischen Staat und Wirtschaft i n Form einmal der Verbändebeteiligung i m vorparlamentarischen Gesetzgebungsverfahren (§ 24 I GGO II), deren dem „Ermessen" der Ministerien anheimgestellte Regeln undurchschaubar sind 3 5 9 , sowie i n Form von unübersehbar vielen Beiräten 960. Sie beruhen nicht auf einer rechtlichen Grundlage (sind aber i n § 62 GGO I vorausgesetzt) 381 . I n ihnen 353 Z u informalen „Arrangements" zwischen Staat u n d Kirchen s. Herrn. Weber, N J W 1983, 2541 (2545), unter Hinweis auf M. Stolleis, Z e v K R 18 (1973), 376 (394 f.); dens., Z e v K R 22 (1977), 124 (127); A.v. Campenhausen, Kirche, Staat, Diakonie, 1982, S. 24 ff. 354 Verfassungspolitische Bedenken bei W.-R. Schenke, Jura 1982, 337 (347). — Z u r Parallele i n Großbritannien: H. Setzer, JöR 32 (1983), 71 (196). 355 H. Herles, F A Z v. 25. 3.1982, S. 7. 35β v g l u. Andersen, i n : Handbuch des politischen Systems (Fn. 99), S. 338. 357 Die Konzertierte A k t i o n w a r nicht nur ein institutionalisierter Appell an den Gemeinsinn von Arbeitgebern u n d Gewerkschaften, sondern auch Instrument zur Verbreiterung der Informationsbasis aller Beteiligten füt die Folgen ihres Handelns, so P.Hort, F A Z v. 27.12.1983, S. 1; zur Bedingung dieses freiwilligen „sozietalen Verhandlungssystems" (Vorteile f ü r alle Beteiligten) s. H. Willke, i n : Abschied (Fn. 25), S. 298 (312 f.); s. a. G. F. Schuppert, E r f ü l l u n g (Fn. 75), S. 298 f. 358 Ausf. E.-H. Ritter, AöR 104 (1979), 389 (392 f., 405, 410); zur staatstheoretischen Einordnung H. Willke, PVS 20 (1979), 221 (231 ff.). 369 Die Beamtenorganisationen sollen i m Gesetzgebungsverfahren informal eine starke Stellung einnehmen, so B. Keller, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 24/1983, S. 34 (41 f.). 360 s. H. Schröder, Z P a r l 8 (1977), 491 (497 f., 498).

5*

68

I I . Empirische Bestandsaufnahme

spielen jeweils die Vertreter von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften eine bedeutsame Rolle 8 6 2 . Schließlich können auch gesetzlich vorgesehene Beiräte oder Verwaltung sräte als intensivere Form der verwaltungsorganisatorischen Einbeziehung sachverständiger Kreise 3 6 3 sowie gesetzliche Formen der Sicherung der Unterstützung durch die Betroffenen 3®4 i m Rahmen ihrer gesetzlichen Vorgaben einer informalen Regelpraxis unterliegen; „durchgehende feste Regeln" für das Verfahren des Gesamteinbezugs „der mittelbar beeinflussenden Kräfte des politischen Gemeinwesens" fehlen 3®5. — Zuletzt lassen sich industrielle Selbstbeschränkungsabkommen als Erscheinungsform regelmäßiger informaler Kooperation von Staat und Wirtschaft begreifen, die gesetzliche Regeln überflüssig machen können3®®. — Außenpolitisch läßt sich die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik als „Clearing-Stelle" für Diskussionen „ i n dem Dreieck zwischen Politik, Wissenschaft und Wirtschaft" beschreiben3®7. Insgesamt verbinden sich die informalen Beteiligungsformen, Beiräte und Regeln gesetzlich institutionalisierter Gremien zu einem kooperativen Verbund 3®8, der die Differenz von staatlicher Kompetenz und gesellschaftlicher Willensbildung kurzzuschließen droht 3®9, namentlich bei informalen, d. h. „quasi-vertraglichen Vereinbarungen" (ζ. B. Stabilitäts- und Rahmenpakte über Lohnpausen usw.) zwischen Staat und Wirtschaft 3 7 0 . Diese Fragen werden i n der Politikwissenschaft unter 361 Vgl. E.-W. Böckenförde, Organisationsgewalt (Fn. 137), S. 253 ff.; G. F. Schuppert, E r f ü l l u n g (Fn. 75), S. 269 ff., am Bsp. des Bundesministeriums für Wirtschaft (S. 272 f.). Von Beiräten nachgeordneter Anstalten oder Bundesoberbehörden w i r d hier ganz abgesehen. 362 Ausf. B.Süllow, Repräsentation (Fn. 182), S. 61; zu den gezielt gemischten Zusammensetzungen der Gremien ebd. S. 71 ff. — Anders jetzt die nicht formalisierte „ A b s t i m m u n g " von Kooperationsmodellen zur Breitbandverkabelung m i t ausgewählten Interessengruppen ohne Gewerkschaftsbeteiligung, s. J. S eher er, DÖV 1984, 53. — A k t u e l l ist auch die Neuregelung der Zusammensetzung des Auswahlausschusses, der den Bundesinnenminister, n u n unter seinem Vorsitz, bei der Vergabe der Filmförderungsmittel berät, s. etwa H.-D. Seidel, F A Z v. 30.1.1984, S. 19. ses V g l G > ρ Schuppert, E r f ü l l u n g (Fn. 75), S. 269 ff. 384

Vgl. G. F. Schuppert, E r f ü l l u n g (Fn. 75), S. 299 ff. P.Lerche (1983), i n : T. Maunz/G. Dürig, GG (Fn. 34), A r t . 83/Rdn. 99. 3ββ G. F. Schuppert, E r f ü l l u n g (Fn. 75), S. 289 ff.; J.H.Kaiser, N J W 1971, 585 ff. ; s. zu entsprechenden (paragesetzlichen) A k t i v i t ä t e n des Bundeskartellamtes J. Gotthold/R. Vieth, JRR 8 (1982), 293 f. 367 So Bundespräsident K. Carstens, Bull. 1984, 301. 368 E.-H. Ritter, AöR 104 (1979), 391 f., 395 f., 403 ff., 408 f. u. ö. 389 D. Grimm, i n : HandbVerfR (Fn. 69), S. 373 (378 f.). 370 s. (krit.) zu diesen Formen M.Schmidt-Preuß, Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher L o h n - u n d Preisdirigismen, 1977, S. 40 f., 179 ff., 220 ff. 365

3. Informale Herrschafts- bzw. Machtbalancierung

69

dem Stichwort (Neo-)Korporatismus diskutiert 3 7 1 ; eines seiner charakteristischen Merkmale ist sein weitgehend informaler Charakter 8 7 2 .

3. Informale Herrschafts- bzw. Machtbalancierung Das für die westlichen Verfassungsstaaten charakteristische Prinzip der Gewaltenteilung (Funktionentrennung) w i r d durch eine Reihe informaler Herrschafts- und Machtbalancierungsregeln abgestützt. Dazu gehören traditionelle Inkompatibilitätsvorschriften als zugleich institutionelle und personale Ausformung der Funktionentrennung (a), aber auch neue Formen gegenseitiger Funktionskontrollen und Selbstbeschränkungen unter parteienstaatlichen Bedingungen (b). a) Informale

Inkompatibilitäten

Inkompatibilitätsvorschriften — hier i. w. S. verstanden 373 — sind personenbezogene Erscheinungsformen der Funktionentrennung: Sie schützen den Amtsinhaber vor Rollenkonflikten und damit auch die Sachgerechtigkeit der Amtsführung 3 7 4 . Ihren rechtlichen, ausdrücklich geregelten Formen 3 7 5 stehen eine Reihe dem rechtlichen Status nach unklare (verfassungsgewohnheitsrechtliche oder verfassungskonventionale) Inkompatibilitäten zur Seite (aa), die durch den Verfassungsprozeß ständig verfeinert werden (bb); 1983/84 besonders aktuell mögen Fragen nach den Maßstäben für die Ministerverantwortlichkeit sein (cc), doch begegnen sie vielfältig auch i n anderen Bereichen (dd). 371 Überblick bei U. v. Alemanni R.G. Heinze, ZParl 10 (1979), 469 (hier: 483 ff.); ausf. Materialien i n U.v. Alemann (Hg.), Neokorporatismus, 1981; s. a. aus der rechtswissenschaftlichen Rezeption: G.Teubner, JZ 1978, 545 ff.; G. Winter, JRR 8 (1982), 9 ff.; zuletzt W. Hoffmann-Riem, N V w Z 1984, 286 (287). 372 E.-H. Ritter, AöR 104 (1979), 393 ff.; C. Offe, i n : J. Habermas (Hg.), Stichworte zur ,Geistigen Situation der Zeit 4 , Band 1, 1979, S. 294 (303 f.). 373 Enger w i l l H.-P. Schneider, A K - G G I I (Fn. 52), A r t . 66/Rdn. 2 trennen zwischen I n k o m p a t i b i l i t ä t e n i. e. S. (d. h. i m staatsorganschaftlichen Bereich) u n d Erwerbs- u n d Berufsausübungsverboten, die das andere Ziel der Interessenverquickung beträfen. E i n weites Verständnis rechtfertigt sich aber bei einem weiten, (auch) gesellschaftlich-materiellen Gewaltenteilungsverständnis. 374 s. zur „subjektiven Gewaltenteilung": G.Sturm, Die I n k o m p a t i b i l i t ä t , 1967, S. 23 ff. 375 Vor allem: die Unvereinbarkeit von A m t u n d Bundestagsmandat (s. A r t . 137 I GG), dazu ausf. D. Tsatsos, Die parlamentarische Betätigung von öffentlichen Bediensteten, 1970; Überblick über ausländische Rechtsordnungen bei W.W.Schmidt, ZParl 1 (1969/70), 181 ff.; zur Rechtsprechung des B V e r f G B. Sinemus, Der Grundsatz der Gewaltenteilung i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1982, S. 282 ff.; zur Systematisierung ausf. N. Achterberg, (zuletzt:) Parlamentsrecht (Fn. 53), S. 226 ff.

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I I . Empirische Bestandsaufnahme

(aa) Die Unvereinbarkeit von Bundestags- und Bundesratsmandat w i r d teils als sanktionsloses verfassungsrechtliches Gebot des A r t . 20 I I GG aus der Eigenart der institutionellen Gegensätzlichkeit von Bundestag und Bundesrat i m GG abgeleitet 376 , teils als nur politisch stilwidrig kritisiert 3 7 7 . Ebenso w i r d die Unvereinbarkeit von Regierungsamt einerseits und Bundestagspräsidium, Ausschußvorsitz oder Ausschußmitgliedschaft andererseits ζ. T. als informale Konventionsregel i. S. einer langen parlamentarischen Tradition 3 7 8 , ζ. T. als Gewohnheitsrecht angesehen 379 . Die Übernahme von Ministerämtern der „klassischen" Ressorts i n Personalunion durch den Bundeskanzler w i r d mitunter als verfassungswidrig, jedenfalls als rechtspolitisch bedenklich angesehen 380 , ebenso wie eine Personalunion von Ministeramt und Fraktionsvorsitz 3 8 1 oder die Wahrnehmung der Funktion des Alterspräsidenten des Bundestages durch einen Bundeskanzler 382 . (bb) Neben solchen „anerkannten", weil heute weithin respektierten und unter den Beteiligten wirksamen informalen Inkompatibilitäten gibt es eine Reihe von Forderungen, die sich (möglicherweise) noch nicht allgemein durchgesetzt haben, aber erste Ansätze zu einer Verfassungskonvention zeigen bzw. mit einem solchen Anspruch formuliert werden können. Der Ausbau solcher Inkompatibilitäten als Teil der Durchsetzung der verfaßten Staatlichkeit gegen persönliche Motive ist durchaus nicht abgeschlossen, sondern der Verfeinerung zugänglich 383 . A l l e r dings berühren oder überschneiden sich solche informalen Regeln oft mit Fragen des politischen „Stils"* 8*, besonders wenn sie primär auf das individuell-persönliche Verhalten einzelner Beteiligter i m Sinne einer individuellen Moral zielen, deren allgemeine Beliebigkeit aber ver376 So D. Tsatsos, Die Unzulässigkeit der K u m u l a t i o n von Bundestags- u n d Bundesratsmandat, 1965, S. 29 ff., 35 ff., 43 ff. m . w . N w . ; ähnlich schon K . J . Partsch/W. E. Genzer, AöR 76 (1950/51), 186 (199 ff.); zust. G.Sturm, Inkompatibilität (Fn. 374), S. 107. 377 N w . bei D. Tsatsos, Unzulässigkeit (Fn. 376), S. 8, 44. 378 G. Sturm, I n k o m p a t i b i l i t ä t (Fn. 374), S. 95 f. 379 Z u r Vereinbarkeit von Ministeramt u n d Parlamentsmandat i m parlamentarischen Regierungssystem s. etwa HessStGH D Ö V 1970, 243 (245 f.); zur Tradition: E. Schmidt-Jortzig, Z P a r l 3 (1972), 343 ff.; k r i t . aber A.Dittmann, ZRP 1978, 52 ff. 380 W.-R. Schenke, Jura 1982, 57 (63) m. w. Nw.; k r i t . G.Sturm, Inkompatib i l i t ä t (Fn. 374), S. 88. 381 T. Eschenburg, Praxis I I (Fn. 46), S. 161 f.; G.Sturm, Inkompatibilität (Fn. 374), S. 96. 382 Vgl. E. Schmidt-Jortzig, ZStW 130 (1974), 123 (140). 383 So Herb. Krüger, Staatslehre (Fn. 37), S. 271, 267; s. als Bsp. auch H . H . v. Arnim, Staatslehre (Fn. 152), S. 435 f. 384 Z u m Begriff des „politischen Stils" s. A.Morkel, PVS 7 (1966), 119 ff., der fünf Stile (von Ämtern, Institutionen, Regierungen, Gruppen u n d der Politik) unterscheidet, s. S. 122 ff.; vgl. ferner W. Hennis (1964), i n : ders., P o l i t i k als praktische Wissenschaft, 1968, S. 230 ff.

3. Informale Herrschafts- bzw. Machtbalancierung

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fassungsinformal begrenzt ist; es sind i n einem strengen Sinne keine Inkompatibilitäten, wenn man solche stets als institutionell erforderlich oder aber unzulässig ansieht 385 . Es geht u m jene Bestandteile der Verfassungskultur, die i m Vergleich zum Bürger an den Inhaber eines öffentlichen Amtes besondere individuelle Verhaltensansprüche stellen (deren Verletzung aber nicht rechtlich sanktioniert werden könnte). So ist i n der Forderung nach Mandatsniederlegung bei Parteiwechsel „eine jetzt schon i m Volk geltende" Konventionairegei gesehen worden 3 8 6 (obwohl sich die Verfassungsrechtswissenschaft über die Rechtmäßigkeit der Mandatsausübung auch nach einem Parteiwechsel weithin einig ist 3 8 7 ); nach anderer Ansicht soll jedenfalls das (an das jeweilige Parteiprogramm rahmen-)gebundene „generelle" Mandat nicht nur eine verfassungspolitische Option 3 8 8 , sondern ein verfassungsfunktional verbindlicher Auftrag sein 889 . Auch die (in der Verfassungspraxis früher durchbrochene) Regel der Unvereinbarkeit von Bundestagsmandat und Landesregierung gehört i n diesen Zusammenhang 390 . — Das Verbot bestimmter Beraterverträg e und die Pflicht zur (präsidialinternen) Offenlegung auch aller sonstigen finanziellen Verbindungen der MdB mit Verbänden, Firmen oder sonstigen Interessenten usw. sind (wegen Bedenken u. a. aus der Abgeordnetenfreiheitsgarantie des A r t . 38 I GG) nicht als Rechtsnorm i n die GO-BT aufgenommen, aber 1972 als (rechtlich sanktionslose) Pflicht i n Anlage 1 der GO-BT beigefügt worden. Obwohl sich Abgeordnete stets unabhängig und frei fühlen 8 9 1 , ist damit das praktisch und theoretisch 385

So z.B. D.Tsatsos, Unzulässigkeit (Fn. 376), S. 10; s. aber auch die „ u n echte" oder „faktische" I n k o m p a t i b i l i t ä t eines Zugleichs von Ministeramt u n d Parlamentsmandat (so N. Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, 1970, S. 166), die auch für Ministeramt u n d Generalsekretärsamt einer politischen Partei g i l t (so etwa die Praxis der CSU; anders z. Z. die C D U bzw. Minister H. Geißler; dieser Umstand w i r d i h m von der CSU chronisch vorgehalten, z. B. von Staatssekretär E. Stoiber, zit. nach F A Z v. 26. 7.1984, S. 1). 889 M. Kriele, W D S t R L 29 (1971), 46 (72). 387 s. n u r ausf. K . Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 1074 ff.; H. Säcker, ZParl 3 (1971), 347 ff.; H. Trautmann, J Z 1970, 405 ff.; i n der Tendenz zuletzt wieder anders: K.-U. Meyn, Kontrolle (Fn. 209), S. 381 ff. 388 So N. Achterberg, Das rahmengebundene Mandat, 1975, S. 36 ff.; s.a. T.Oppermann, W D S t R L 33 (1975), 53; k r i t . ausf. T.Würtenberger, Staatsrechtliche Probleme der politischen Planung, 1978, S. 139 ff. (146: M d B sei „ n u r politisch" gebunden). 389 So K . - U . Meyn, Kontrolle (Fn. 209), S. 294 f. (den Charakter der Regel ausdrücklich offenlassend); s. bereits ders., Verfassungskonventionalregeln (Fn. 35), S. 71 f., 91 f., 119 f. 390 s. G. Ziller, DVB1. 1962, 577 ff.; D. Tsatsos, Unzulässigkeit (Fn. 376), S. 7 ff.; K.J.Partsch/W.E. Genzer, AöR 76 (1950/51), 201 ff. 391 Ausf. z.B. die Rundfrageergebnisse bei K.Broichhausen, F A Z v. 24.8. 1982, S. 6. — Unter den zuletzt (auch parlamentarisch, vgl. Verhandlungen des 9. Deutschen Bundestages, 126. Sitzung, S. 7676 ff.) Aufmerksamkeit er-

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I I . Empirische Bestandsaufnahme

ungelöste, v i e l l e i c h t u n l ö s b a r e P r o b l e m angesprochen, i n w i e w e i t — u n geachtet d e r 1980 nachgeschobenen gesetzlichen G r u n d l a g e i n § 44 a A b g G — f i n a n z i e l l gestützte p r i v a t e I n t e r e s s e n v e r b i n d u n g e n die G e m e i n w o h l k o n k r e t i s i e r u n g d u r c h die A b g e o r d n e t e n als T e i l des V e r f a s sungsorgans B u n d e s t a g b e e i n t r ä c h t i g e n k ö n n t e n 3 9 2 . Diese ebenso m o d e raten w i e auslegungsfähigen Verhaltensregeln f ü r Bundestagsabgeordnete versuchen, ohne s i c h t b a r e n ( M i ß - ) E r f o l g 3 9 3 , d e r a r t i g e n „ w i r t s c h a f t lichen I n k o m p a t i b i l i t ä t e n " 3 9 4 p r ä v e n t i v gegenzusteuern305. A u c h sonst k r e i e r t das Verfassungsleben neue „ P r ä z e d e n z f ä l l e " : So d a r f sich e i n M d B n i c h t d e n Ehepartner ( v e r a l l g e m e i n e r t : nahe V e r w a n d t e ) als parlamentarischen Assistenten anstellen, w e i l d i e p r i v a t e D i m e n s i o n die sachbezogene so zu ü b e r l a g e r n scheint, daß die V e r m u t u n g u n w i d e r l e g b a r f ü r e i n e n M i ß b r a u c h s p r i c h t 3 9 6 . D e s h a l b l i e g t es anders, w e n n A m t s i n h a b e r erst w ä h r e n d i h r e r A m t s z e i t h e i r a t e n , erst recht z u m a l , w e n n i h r e T ä t i g k e i t g r u n d s ä t z l i c h n i c h t z u K o m p e t e n z k o n f l i k t e n f ü h r e n k a n n 3 9 7 . — Schließlich s t e l l t sich auch f ü r die A s s i s t e n regenden Fällen sah M d B C. Schwarz- S chilling keinen Widerspruch darin, einerseits Vorsitzender der Enquete-Kommission Neue Informations- u n d Kommunikationstechniken des Deutschen Bundestages zu sein, andererseits p r i v a t — ohne dieses p u b l i k zu machen — unternehmerisch an einer „ P r o jektgesellschaft K a b e l k o m m u n i k a t i o n G m b H " beteiligt zu sein, von der u n bekannterweise mehrere weitere Anteilseigner als neutrale Sachverständige i n der Enquete-Kommission angehört w u r d e n u n d deren Planungen maßgeblich von Planungsentscheidungen der Bundespost abhingen, die i n den Sitzungen der Enquete-Kommission Gegenstand der parlamentarischen I n f o r m a t i o n waren: Sein Engagement sei nicht gewinnorientiert, sondern politischer N a t u r gewesen, vgl. dazu Der Spiegel Nr. 48/1982, S. 114 ff. u n d Nr. 50/1982, S. 89 ff.; F A Z v. 9.11.1982, S. 2; FR v. 4.12.1982, S. 4; nach F A Z v. 2.12.1982, S. 2, sah auch das Bundestagspräsidium keine Verletzung der Verhaltensregeln f ü r Abgeordnete, allerdings ohne Diskussion u n d ohne Einverständnis von Vizepräsidentin A. Renger (SPD). 392 Vgl. K.M.Meessen, FS f. U. Scheuner, 1973, S. 434 ff.; P. Krause, DÖV 1974, 325 ff.; P.Häberle, i n : ders., Verfassung (Fn. 1), S. 503 (511 ff., 517, 523); s. zur besonders intensiven Verquickung von Mandat u n d beruflichem I n t e r esse i m Ausschuß f ü r Forschung u n d Technologie: Der Spiegel Nr. 9/1984, S. 63 ff. 393 s. aber die Klage über „die ungewohnt dürftigen biographischen A n gaben" mancher M d B i m Amtlichen Handbuch des 10. Bundestages bei E.-P. Müller, ZParl 15 (1984), 187 (188). 394 Ausdruck bei C. Schmitt (1930), i n : ders., Verfassungsrechtliche A u f sätze, 1958, S. 41 (43 f.), aufgenommen von R. Steinberg, ZRP 1972, 207 (210), der eine Unvereinbarkeit von Mandat u n d höheren Verbandsfunktionen i n tendiert; a. A. G.Sturm, I n k o m p a t i b i l i t ä t (Fn. 374), S. 116 f. 395 Zuletzt H.-A. Roll, ZRP 1984, 9 ff., m i t Hinweisen auf die strengeren Regeln i m Ausland; skeptisch: P. Krause, D Ö V 1974, 333 f., 335 f.; zum Rechtscharakter dieser Verhaltensregeln s. u. Fn. 572. 398 s. den Rückzug von M d B I. Matthäus-Maier 1976 nach entsprechender öffentlicher Auseinandersetzung, vgl. m i t allg. Bilanz der Assistentenstellung H.-K. Hirsch, Z P a r l 12 (1981), 203 (218). 397 s. den Bericht über „kleinliche Bedenken" gegen die Eheschließung der Bundes Verfassungsrichter H. G. Rupp (2. Senat) m i t W. Rupp-v. Brünneck

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ten der MdB das Problem der Inkompatibilität mit einem zusätzlichen anderweitigen Beschäftigungsverhältnis bei privaten Dritten, die an der Tätigkeit des MdB besonders interessiert sind 3 9 8 . (cc) Eine wesentliche (Teii-JFrage der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Minister ist die nach den Maßstäben für einen vorzeitigen Rücktritt, die sich gerade nicht den Verfassungsbestimmungen ohne weiteres entnehmen lassen, sondern nach den gemeinwohlorientierten Qualitäts- und Vernünftigkeitsmaßstäben richten, an die sich die Parlamentsmehrheit bzw. die Mehrheitsparteien binden 3 9 9 . Auch wenn die Realisierung „praktisch i n der Hand des Regierungschefs und der Regierungspartei oder Regierungskoalition liegt" 4 0 0 , so obliegt die Formulierung jener nicht-rechtlichen Zurechnungsmaßstäbe als Konkretisierung der Prästationspflicht des Ministers 4 0 1 dem gesamten Parlament bzw. der demokratischen Öffentlichkeit. Die empirische Ermittlung von solchen Maßstäben w i r d freilich durch die Differenz zwischen Anlaß und Grund eines Ministerrücktritts erschwert; parlamentarische Mißbilligungs- oder Entlassungsanträge waren unter dem GG unmittelbar noch nie erfolgreich 402 . Je nach Stärke des Ministers oder entgegenstehender (ζ. B. koalitions-)politischer Gründe kann ein Minister untragbar und dennoch (auf Zeit) Amtsinhaber sein — um den Preis moralischer Unglaubwürdigkeit und chronischer politischer K r i t i k . Man hat Rücktrittsgründe empirisch danach unterschieden, ob die Minister (1) demonstrierende Gesinnungsabweichler waren, ob ihre persönliche Integrität (2) von einer unerträglichen Vergangenheit belastet oder (3) in das Zwielicht von Korruption oder (4) von privaten sittlichen Verfehlungen geraten ist, oder ob (5) die Betroffenen für die Parlamentsmehrheit lästig waren, oder ob sie (6) für Fehlleistungen parlamentarisch die politische Verantwortung übernahmen 403 . Hier seien zwei aktuelle Beispiele informaler Regelbildung angesprochen, die jenseits bloß politisch beliebiger Ansichtssache zu liegen scheinen und „ungeschriebene Gesetze der Bonner Demokratie" 4 0 4 ansprechen. (1. Senat) bei H.-P. Schneider, i n : W. Rupp-v. Brünneck, Verfassung und V e r antwortung, 1983, S. 13 (19). 398 Beispiele bei H.-K. Hirsch, ZParl 12 (1981), ,219. 399 s. grds. P.Badura, ZParl 11 (1980), 573 (579 ff.); insoweit unergiebig E. Brandt, Die Bedeutung parlamentarischer Vertrauensregelungen, 1981. 400 P. Badura, ZParl 11 (1980), 581. 401 Vgl. K. Kröger, Die Ministerverantwortlichkeit i n der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, 1972, S. 24 ff. 402 P. Schindler (Bearb.), Datenhandbuch (Fn. 30), S. 418. 403 Vgl. H. Schueler bzw. H.-J. Winkler, Z P a r l 11 (1980), 583 f. bzw. 585 f. (Diskussion). 404 So Der Spiegel Nr. 21/1984, S. 9.

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I I . Empirische Bestandsaufnahme

Der „Fall" des kurzzeitigen saarländischen Wirtschaftsministers W. Kenn weist über den Einzelfall oder die individuelle Moral hinaus 405 . Der Minister erhielt nach Übernahme seines Ministeramts faktisch die Differenz seiner Bezüge als Minister zu seinem vorherigen höheren Gehalt als Vorstandsmitglied der Vereinigten Saar-Elektrizitäts-Aktiengesellschaft (VSE) von der VSE bezahlt; rechtlich lag dem die Fälligkeit einer Pensionszusage auch schon bei Ausscheiden vor dem 65. Geburtstag zugrunde, wobei das Ruhegeld um die anderweitigen Bezüge gekürzt sein sollte 4 0 8 ; verknüpft war diese Regelung indes mit einer Rückkehrklausel in den VSE-Vorstand bis nach den nächsten Landtagswahlen 407 . I n der m i t Bekanntwerden ausgelösten landespolitischen Kontroverse hielten Vertreter der Regierungskoalition diesen Sachverhalt für „völlig unanfechtbar" 408 , wenn nicht (aus Gründen der Eliten-Mobilität) politisch wünschenswert, obwohl der Minister i n seinem A m t ζ. B. oberste Genehmigungsbehörde für Kraftwerksneubauten und auch für Stromtarife „seiner" VSE ist 4 0 9 . Selbst wenn letztere aufgrund vertraglicher (also: prinzipiell reversibler) Bindung dem Minister insoweit keine eigenen Entscheidungsbefugnisse einräumen sollten — schon der äußerlich indizierte objektivierbare Schein der Befangenheit infolge von Interessenkollisionen ist Grund für tiefgreifende Zweifel. Ein solcher Schein ist Grundlage zahlreicher rechtlicher Inkompatibilitätsvorschriften 4 1 0 , vom kommunalen Vertretungsverbot für Rechtsanwälte 411 über den Amtskonflikt als Ausschlußgrund i m Verwaltungsverfahren 4 1 2 bis zu den richterlichen Befangenheitsregeln 413 . Nicht zufällig sieht (anders freilich als die Verfassung des Saarlandes vom 15.12.1947) A r t . 66 GG für Bundesminister ein Besoldungsamts-, Gewerbe- bzw. Berufs(ausübungs)verbot vor: Sie dürfen als Vorstands- oder als Aufsichtsratsmitglieder nicht nur nicht eine Tätigkeit ausüben, sondern solche Positionen nicht einmal „pro 405 n w z u r K r i t i k an Fällen der 60iger Jahre bei D. Tsatsos, V e r w A r c h 58 (1967), 360 (Fn. 2). 4oe F A Z v. 24.12.1983, S. 4. 407

408 V 409

Vgl. F A Z a.a.O. g L

F R

v> 19> l h

1983) s>

L

F A Z v. 17.11.1983, S. 4. 410 M a n w i r d zwar rechtsdogmatisch zwischen dem generellen Ausschluß von einem A m t (Inkompatibilität) u n d dem einzelfallbezogenen Ausschluß (Befangenheitsbesorgnis) unterscheiden können; die zugrundeliegenden Maßstäbe der Verhinderung von Interessenkollisionen sind die gleichen. 411 Vgl. ausf. z. B. F. K . Schoch, Das kommunale Vertretungsverbot, 1981, S. 20, 22 ff., 25, 27 u. ö. m. w . N w . 412 s. D. H. Scheuing, N V w Z 1982, 487 ff. m. ausf. N w . 413 Vgl. z. B. J. Riedel, Das Postulat der Unparteilichkeit des Richters — Befangenheit u n d Parteilichkeit — i m deutschen Verfassungs- u n d Verfahrensrecht, 1980, S. 21, 94 ff.

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f o r m a " i n n e h a b e n 4 1 4 ; m i t Z u s t i m m u n g des Bundestages d ü r f e n sie a l l e n f a l l s i n A u f s i c h t s r ä t e b u n d e s b e h e r r s c h t e r U n t e r n e h m e n entsendet w e r d e n 4 1 5 . Ä h n l i c h e R e g e l u n g e n f i n d e n sich i n 7 v o n 11 L a n d e s v e r f a s s u n g e n 4 1 8 ; sie s t e l l e n die F r a g e nach d e r E x i s t e n z e i n e r i n f o r m a l e n v o r - r e c h t l i c h e n V e r f a s s u n g s r e g e l 4 1 7 . D e n n die rechtlichen Inkompatibilitätsvorschriften sind j a n u r exemplarischer, insoweit rechtlich v e r dichteter Ausdruck einer allgemeinen, m i t dem M i n i s t e r a m t verbunden e n besonderen personalen V e r t r a u e n s p o s i t i o n . Diese m a c h t einerseits die gesamte P e r s ö n l i c h k e i t des A m t s i n h a b e r s (incl. V o r - u n d P r i v a t leben) z u m G e g e n s t a n d d e r p o l i t i s c h e n Ö f f e n t l i c h k e i t , k o n s t i t u i e r t a n d e rerseits eine gesteigerte V e r a n t w o r t l i c h k e i t i. S. e i n e r P f l i c h t z u r Rechenschaftslegung 4 1 8 . Diese enge G e m e i n w o h l f u n k t i o n des M i n i s t e r s als „ D i e n e r " v e r f l ü c h t i g t sich, w e n n auch n u r d e r Schein entsteht, d e r D i e n s t a m p o l i t i s c h e n G e m e i n w e s e n sei n u r eine a b h ä n g i g e V a r i a b l e p r i v a t e r Interessen; d a m i t w i r d das V e r t r a u e n n i c h t n u r i n d e n M i n i s t e r als Person, s o n d e r n i n die G e m e i n w o h l f u n k t i o n d e r R e g i e r u n g ü b e r h a u p t geschwächt 4 1 9 . Ü b e r dieses V e r t r a u e n w a r d e r M i n i s t e r n i c h t v ö l l i g e r h a b e n ( n i c h t w e g e n des Ruhegeldbezuges als solchen, s o n d e r n w e g e n dessen V e r k n ü p f u n g m i t e i n e r d e m U n t e r n e h m e n gegenüber 414

D.Tsatsos, V e r w A r c h 58 (1967), 368; H. C. F. Liesegang, i n : I . V . M ü n c h (Hg.), GG I I (Fn. 205), A r t . 66/Rdn. 2; H.-P. Schneider, i n : A K - G G (Fn.52), A r t . 66/Rdn. 7. — Auch Minister C. Schwarz- S chilling verkaufte vor seiner Amtsübernahme seine Anteile an jener Projektgesellschaft K a b e l k o m m u n i kation, die n u n auch w e i t e r h i n f ü r die Post Projektmodelle ausarbeitet, s. F A Z v. 2.12.1982, S. 2. 415 Vgl. ausf. D.Tsatsos, V e r w A r c h 58 (1967), 360 (370); N. Achterberg, ZStW 126 (1970), 344 (353). 418 Vgl. A r t . 53 I I BaWüVerf.; 57 BayVerf.; 113 BremVerf.; 39 Hamb Verf.; 25 I I , I I I NdsVerf.; 64 I I , I I I NRWVerf.; 29 SHVerf., alle zit. nach: Verfassungen der deutschen Bundesländer, E i n f ü h r u n g von C. Pestalozza, 2. A u f l . 1981. — Praktische Fälle werden immer wieder bekannt: So verkaufte ζ. B. Ministerpräsident L.Späth eine stille Beteiligung durch Treuhandverhältnis an einem Elektronikunternehmen erst nach langjähriger Amtszeit, nachdem der damalige Landtagspräsident L. Gaa wegen des Vorwurfs mangelnder Offenbarung eigener Beteiligungen an dem gleichen Unternehmen zurückgetreten (worden) war, so Der Spiegel Nr. 23/1984, S. 93 f. 417 Z u fragen wäre, ob die Existenz von solchen verfassungsrechtlichen Regeln i n vergleichbaren anderen Verfassungen, unabhängig von der Frage „gemeindeutschen Verfassungsrechts", nicht stets schon i n d i v i d u a l - m o r a lische Ansprüche stellt, ein bestimmtes Niveau „verfassungsstaatlicher H y giene" selber zu bewahren. Zur Idee des „gemeindeutschen Verfassungsrechts": P.Häberle (1969/1978), i n : ders., Verfassungsrechtsprechung (Fn. 150), S. 200 (bes. 210 ff.); 213. 418 Vgl. allg. M. Morlok, DVB1. 1979, 837 (842, 840). 419 Ist es von gruppendynamischer Relevanz für die Regierung als psychologischen Gesetzmäßigkeiten unterworfenes Kollektivorgan, w e n n ein M i n i ster 50 % mehr verdient als der Ministerpräsident (vgl. auch Der Spiegel Nr. 47/1983, S. 45)? Nicht zufällig auch entsprechen die Abstufungen der Gehälter der Amtsinhaber von bzw. i n Verfassungsorganen ihrer funktionellen bzw. protokollarischen Rangfolge.

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I I . Empirische Bestandsaufnahme

loyalitätsbindenden Rückkehrklausel). Inhaber eines öffentlichen Amtes haben präventiv mögliche In-Sich-Konflikte zwischen öffentlichem Amtsinteresse und eigenen privaten Interessen durch entsprechende organisatorische Trennungsmaßnahmen zu unterbinden 4 2 0 und nicht i m Zwielicht zu belassen oder gar zu fördern 421 . Informale Inkompatibilitätsregeln greifen hier folglich dann ein, wenn das Vertrauen i n die öffentliche und private persönliche Integrität eines Amtsinhabers aufgrund objektivierbarer Umstände verblaßt. Dabei wirken persönlich-sittliche Schwächen i n Ländern m i t puritanischer Tradition unmittelbar: Der „Profumo-Skandal" ist sprichwörtlich für britische politische Sittlichkeit geworden. I n der Bundesrepublik gelten solche informalen Regeln offenbar wesentlich schwächer 422 , qua Tradition und verstärkt durch die Pluralisierung der Moral-Kodices und durch ihren Geltungsverlust oder -wandel als Spaltprodukt der Säkularisierung: Solche Fragen werden öffentlichen Diskussionen und Sanktionen entzogen. Nur wenn das nicht möglich ist, gilt anderes: So fällt es schon als „fast zu korrekt" 4 2 3 auf, wenn der Generalsekretär einer politischen Partei sich von seinem Parteiamt suspendieren läßt, weil er i n betrunkenem Zustand einen tödlichen Verkehrsunfall verursacht haben soll 4 2 4 ' 4 2 5 . Etwas anderes muß aber gelten (und gilt), wenn die persönliche Integrität eines Ministers i m Zusammenhang mit seiner Amtsführung angegriffen wird. Solange ein solcher Verdacht nur von der allgemeinen Nähe zu bestimmten Interessen genährt w i r d 4 2 0 oder von rechts420 Es geht also nicht oder nicht nur u m ein Problem individueller M o r a l (wie außer seinen politischen K r i t i k e r n auch Minister W.Henn glaubte, als er i n Reaktion auf die öffentliche K r i t i k einen Teil seines zusätzlichen monatlichen Gehalts gemeinnützigen Einrichtungen zukommen lassen wollte). 421 Das ist der K e r n p u n k t der Auseinandersetzungen u m Staatsminister J.W. Möllemann, s. Der Spiegel Nr. 25/1984, S. 23 ff. einerseits, die Gegendarstellung i n Nr. 28/1984, S. 33 f. andererseits. 422 P.Häberle, V V D S t R L 33 (1975), 134 (135; Diskussion). Ganz allgemein werden w o h l i n der Bundesrepublik die Rechtsnormen des politischen K o n flikts wenig von Normen der politischen K u l t u r gestützt, so R. Wassermann, JZ 1984, 263 (264). 423 F A Z v. 9.11.1983, S. 12. 424 s. jetzt den sofortigen R ü c k t r i t t des Hamburger Finanzsenators J. König nach zunächst unrichtigen Angaben gegenüber der Polizei über einen (von i h m möglicherweise unter Alkoholeinfluß verursachten) Verkehrsunfall, F A Z V. 4. 5.1984, S. 2. 425 Neuere Erscheinungen der politischen K u l t u r der Bundesrepublik scheinen freilich politischen Vertrauensentzug allein an rechtswidriges Verhalten des Amtsinhabers zu koppeln; umgekehrt scheint die Berufung auf die Rechtmäßigkeit des Handelns stets auch schon eine politische Rechtfertigung darzustellen. 428 s. jetzt auch das Argument von Minister O. Graf Lambsdorff, kein einziger SPD-Bundesarbeitsminister hätte dieses A m t je bekleiden dürfen, w e n n

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widrigen Indiskretionen und Angriffen politischer Gegner zehrt, fehlt es an jenem objektivierbaren Maßstab für moralische Konsequenzen. Sobald aber etwa eine Staatsanwaltschaft Antrag auf Aufhebung der Immunität zwecks Anklageerhebung stellt, w e i l sie nach mehrjähriger gründlicher Prüfung (unter hoher psychischer Belastung wegen dieser Ausnahmesituation) „genügenden Anlaß" (§ 170 StPO) festgestellt hat 4 2 7 , dann ist auch das öffentliche Vertrauen i n den Amtsinhaber und seine Amtsführung i n einem erheblichen Ausmaß belastet. Eine demonstrative Ermutigung durch die eigene Partei (unmittelbar vor der Anklageerhebung) 428 und koalitionsinterne Spannungen nach einem etwaigen Rücktritt dürfen nicht die informale Regel außer K r a f t setzen: Der äußere, durch den Abschluß des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens durch Anklageerhebung objektivierte und verdichtete Schein der Verfehlungen i n der Amtsführung zugunsten privater Eigeninteressen sollte, ungeachtet der bürgerlichen Unschuldsvermutung, zu Ablösung bzw. Rücktritt als Minister führen 4 2 9 ; diskutabel ist allenfalls, ob man bis zum richterlichen Eröffnungsbeschluß über das Hauptverfahren warten kann 4 8 0 — insoweit mag es auf die Evidenz der Einzelfallumstände ankommen 431 . Die vorstehende Behauptung informaler Verfassungsregeln, die sich auf praktische Übungen und/oder theoretische Folgerungen stützt, darf ihre Nähe zu den Gewerkschaften m i t den gleichen Maßstäben gemessen würde w i e seine angebliche A f f i n i t ä t zur Wirtschaft oder zur Fa. Flick, F A Z v. 20.1.1984, S. 1. 427 Die informelle Beurteilung dieses Falles von außergewöhnlicher Bedeutung durch eine kollegiale (Mehr-)Zahl bearbeitender Staatsanwälte dient der Absicherung gegen Fehlentscheidungen, vgl. H. Quaritsch, FS f. C. H. Ule, 1977, S. 153 f. 428 s. P. Hort, E i n Kämpfer vor dem Kampf, F A Z v. 28.11.1983, S. 10. 429 Diese Argumentation stellt auf das Vertrauen i n die A m t s f ü h r u n g u n d die Nähe des vertrauensbeeinträchtigenden Handelns zur A m t s f ü h r u n g u n d auf die Objektivierbarkeit des Vorwurfs ab. Anders T. Eschenburg (Interview i n der Sendung „ M o n i t o r " — A R D am 29.11.1983): I n Fällen rechtlich nicht sanktionierter, sittlicher Verfehlungen sei strenger zu urteilen als i m Vorfeld strafrechtlicher Verurteilungen, w e i l diese eine verbindliche E n t scheidung treffen (können). — Abgesehen von der paradoxen Umgewichtung der Verstöße am Maßstab ihrer Sozialschädlichkeit: Soll ein Rücktritt nach mehrjährigen Verfahren erst bei Rechtskraft nach Zurückweisung einer Revision geboten sein? 480 s. den R ü c k r i t t von Minister O. Graf Lambsdorff, nachdem i h m mitgeteilt worden war, das Bonner Landgericht werde die Anklage zur Hauptverhandlung zulassen, F A Z v. 28. 6.1984, S. 1. 431 Vgl. zum Charakter als informaler (Verfassungs-)Regel insoweit F . K . Fromme, F A Z v. 2.12.1983, S. 1: „Gewiß gibt es keine irgendwo nachzulesenden Abstufungen des Ausmaßes der moralischen Pflicht, i m Falle einer A n klage von einem herausragenden politischen A m t zurückzutreten, w i e es auch umgekehrt keine Skala der Unschuldsvermutung gibt, die bis zum U r t e i l gilt. Beides aber gibt es in der Wirklichkeit" (Hervorhebungen von mir).

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I I . Empirische Bestandsaufnahme

nicht vergessen lassen, daß es sich nur um eine empirisch illustrierte Annahme handelt, und daß es noch viel mehr Erscheinungsformen i m Verfassungsleben gibt, i n denen die Annahme einer informalen Regel bzw. eine verfassungskulturelle Regelmäßigkeit noch viel weniger gesichert ist 4 3 2 . Gehört es ζ. B. „zu den ungeschriebenen Gesetzen des Stils" oder gar zu den informalen Verfassungsregeln, daß man nach Beendigung seiner Ministerzeit nicht als Abgeordneter i n den Bundestagsausschuß betr. sein ehemaliges Ministerium zurückkehrt, weil es Peinlichkeiten schaffe, wenn Beamte ihrem ehemaligen Minister Rede und A n t w o r t stehen müßten 433 ? Ähnlich soll es „nicht üblich" sein, daß ein Minister a. D. (wie unmittelbar?) nach Ausscheiden aus seinem A m t i m Parlament sachpolitisch Stellung nimmt 4 3 4 . — Umgekehrt gibt es informale Inkompatibilitäten, die die Einheit staatlichen Handelns gewährleisten sollen: Regierungsmitglieder und Parlamentarier, die von der Bundesregierung i n Aufsichtsräte von Bundesunternehmen oder Kontrollgremien sonstiger Institutionen, in denen der Bund Einfluß hat, berufen worden sind, „sollen i n der Regel" bei Verlust ihrer Funktion auch i h r Aufsichtsratsmandat usw. niederlegen 435 . (dd) Informale Inkompatibilitäten bestehen auch bei Verfassungsorganen, deren überparteilich-neutrale Funktion sich nicht mit (partei-) politischen Einseitigkeiten verträgt 4 3 8 . Der Bundespräsident läßt nach seiner Wahl, so hat sich informal fest eingebürgert, seine Parteimitgliedschaft „ruhen"; er muß nicht austreten 437 . Es handelt sich um einen symbolischen A k t demonstrativer Überparteilichkeit, der auch bislang stets die praktische Amtsführung bestimmt hat. — Offener ist das Verhältnis von Bundesverfassungsrichteramt und (partei-)politischem Engagement. Mangels rechtlicher Regelung i m BVerfGG, das selbst eine § 39 DRiG entsprechende Regelung nicht kennt (und auch insoweit die Eigenständigkeit von BVerfG und seinem Prozeßrecht bestätigt), ist die informale Praxis als Ausdruck einer Regel beachtlich: Die 482 K.Kröger, Ministerverantwortlichkeit (Fn. 401), S. 26, s.a. 169, bezweifelt (m. E. zu Unrecht) grundsätzlich, daß es generalisierbare Richtmaße der Prästationspflicht gebe; sie könnten „heute offenbar n u r für den konkreten Einzelfall erfragt werden" — v o m Historiker! Aber das setzt einzelfallübergreifende Maßstäbe zwingend voraus. 433 So Bundesminister F. Zimmermann, i n : Der Spiegel Nr. 28/1983, S. 22. 434 So M i n i s t e r i n a. D. I . Donnepp nach ihrem Rücktritt ins Glied der L a n d tagsfraktion, zit. nach R. Voss, FR v. 13.12.1983, S. 3. 435 So die Berufungsrichtlinien der Bundesregierung v. 24.4.1974 (unveröffentlicht); das Gleiche gilt f ü r die Angehörigen des öff. Dienstes. 4se v g l K. Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 80; W. Heun, AöR 109 (1980), 13 (18). 437 U. Hemmrich, i n : I . V . M ü n c h (Hg.), GG I I (Fn. 205), A r t . 55/Rdn. 9 m. w. N w . : s. a. H. H. v. Arnim, Staatslehre (Fn. 152), S. 344 („ungeschriebener G r u n d satz").

3. Informale Herrschafts- bzw. Machtbalancierung

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Richter bleiben M i t g l i e d i h r e r Partei; aktives parteipolitisches Engagem e n t d u r c h B e k l e i d u n g v o n P a r t e i ä m t e r n aber ist i n f o r m a l t u n l i c h s t zu vermeiden 438, w o d u r c h öffentliche Grundsatzreden offenbar nicht ausgeschlossen s i n d 4 3 9 ; selbst e i n so „ p o l i t i s c h e r " R i c h t e r w i e M . Hirsch h a t aber erst m i t A b l a u f seiner A m t s z e i t als V e r f a s s u n g s r i c h t e r s e i n neues politisches A m t als V o r s i t z e n d e r d e r A r b e i t s g e m e i n s c h a f t S o z i a l d e m o k r a t i s c h e r J u r i s t e n (ASJ) a k t i v w a h r g e n o m m e n . A u c h n u r politische Meinungsäußerungen v o n Bundes(verfassungs)r i c h t e r n p r o v o z i e r e n o f t d e n k r i t i s c h e n R u f nach „ Z u r ü c k h a l t u n g " 4 4 0 . N a m e n t l i c h d e r f a u x pas e i n e r n a c h t r ä g l i c h e n I n t e r p r e t a t i o n e i n e r v o n i h m selbst m i t g e t r a g e n e n k o l l e k t i v e n Senatsentscheidung d u r c h PresseI n t e r v i e w s i m L i c h t e a l l e i n d e r eigenen ( E i n z e l - ) M e i n u n g v o n R i c h t e r M . Hirsch 441 d ü r f t e v o m Senat m o n i e r t w o r d e n s e i n 4 4 2 (ohne daß dieses „befangenheitsrechtliche" Folgen hatte443). I m übrigen w i r d m a n vorerst n u r s c h w e r i n f o r m a l e R e g e l n feststellen k ö n n e n , w e i l d i e ö f f e n t l i c h e politische K r i t i k a n R i c h t e r ä u ß e r u n g e n 4 4 4 o f t v o n d e r e n p o l i t i s c h e n I n h a l t b e s t i m m t w i r d 4 4 5 , ( i n f o r m a l e ) R e g e l n aber i n h a l t s n e u t r a l g e l t e n sollten 4 4 ®; aber es g i b t sie 4 4 7 . So s t e h t l e t z t l i c h eine d e z i d i e r t e ö f f e n t l i c h e 438 z. B. C. Niethammer-Vonberg, Parteipolitische Betätigung der Richter, 1969, S. 107 f.; s. a. P. Gilles, DRiZ 1983, 44 f. 439 s. jetzt die Ansprache von BVerfG-Vizepräsident R.Herzog als scheidendem Vorsitzenden des Evangelischen Arbeitskreises der C D U (Bonner G A V. 13. 2.1984, S. 3). 440 s. jetzt dezidiert Richter des B V e r f G a. D. W. R. Wand, Rheinischer M e r k u r v o m 30.12.1983, zit. nach FR v. 31.12.1983, S. 4; s. bereits BVerfGE 35, 175 ff. (SV Wand). Allgemein entzündet sich K r i t i k freilich p r i m ä r an einzelnen Meinungsäußerungen von Richtern u n d an ihren (personalisierten) Entscheidungen i n unteren Instanzen, zuletzt polemisch gebündelt bei C. Berglar, ZRP 1984, 4 (5 ff.); a n t i - k r i t . C.Strecker, ZRP 1984, 122 ff.; F.Hase, K J 17 (1984), 142 ff.; ausf. u n d abgewogen jetzt H. Sendler, N J W 1984, 689 ff. 441 v g L F R v > 8.9.1976, S. 11; Der Spiegel Nr. 48/1978, S.36ff. — s. jetzt die Weigerung von BVerfG-Präsident a. D. E. Benda, das unter seinem V o r sitz ergangene Volksbefragungsurteil auf einer Tagung auszudeuten, obw o h l seine Amtszeit kurz zuvor abgelaufen ist, zit. nach FR v. 5. 3.1984, S. 11. 442 BVerfGE 46, 14 (17: „Das ungewöhnliche, m i t der gebotenen Zurückhaltung schwer verträgliche, persönlich gefärbte, wiederholte Eingreifen i n die öffentliche Diskussion"); s.a. H.-J.Wipfeider, ZRP 1982, 121 (122f.). 443 Das könnte tendenziell anders werden bei V e r w i r k l i c h u n g eines neueren Referentenentwurfs, der u. a. eine gegenseitige Vertretung von B V e r f G Richtern beider Senate vorsieht, s. F. K . Fromme, F A Z v. 20.1.1984, S. 4; k r i t . zum vorgesehenen Losverfahren u n d f ü r eine die „ p l u r a l i t ä r e " Zusammensetzung der Senate bewahrende Vertretungslösung jetzt R. Wassermann, ZRP 1984, 151 f. 444 Bes. profiliert (und Adressat von K r i t i k ) Richter H. Simon, u. a. wegen seiner Äußerungen zur Friedensbewegung, z. B. i n : P. Glotz (Hg.), Z i v i l e r Ungehorsam i m Rechtsstaat, 1983, S. 99 ff. u n d i n : Der Spiegel Nr. 38/1983, S. 34 ff. ; k r i t . neben W.R.Wand (Fn. 368) etwa F A Z v. 20.1.1984, S. 4. 445 s. z.B. C D U betr. Richter H.Simon: F A Z v. 11.3.1982, S. 4 (betr. K r i t i k am U r t e i l des 2. Senats zur Wehrpflichtnovelle als „falsch"). — Ausf. Der Spiegel Nr. 12/1984, S. 76 ff. und H. Sendler, N J W 1984, 695 ff.

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I I . Empirische Bestandsaufnahme

Rechtskritik an aktuellen, noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Rechts- oder Gerichtsentscheidungen i m Widerspruch zum Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des (in diesem speziellen Fall noch anrufbaren!) BVerfG selber. Auch läßt sich aus der Möglichkeit von Sondervoten schließen, daß der Weg eines Sondervotums durch Presseinterview rechtlich nicht äquivalent sein sollte. Jedenfalls strukturieren informale Regeln die „reine Selbstverantwortung der Verfassungsgerichtsbarkeit" 448 . (ee) Besteht keine informale Inkompatibilität, so können dennoch Intra-Rollenkonflikte einzelner Personen punktuelle informale Selbstbeschränkungen bei der Amtsführung begründen. Als ein Beispiel aus dem parlamentarischen Bereich sei die jüngste Wahl des Verfassungsrichters J. F. Henschel genannt, der als Rechtsanwalt seit 1978 die Praxis seines langjährigen FDP-Ortsvorstandskollegen und Rechtsanwalts D.Kleinert mitversah 4 4 9 . Dieser bestimmte als FDP-MdB i m Wahlmännerausschuß des B T 4 5 0 maßgeblich die FDP-Präferenz bei der Wahl zum BVerfG-Richter mit. Ist es nur eine Stilfrage oder könnte hier eine informale Regel verletzt worden sein, der zufolge zumindest bei Wahlen i n ein öffentliches Amt, die nicht-öffentlich (und von Gesetz wegen vertraulich) und i n sehr kleinen Gremien (hier: von 12 Personen) stattfinden, die überdies — wegen der Va-Mehrheit — politisch unter Einigungszwang (und damit Kritikverlust?) stehen, daß dann das Ausmaß der Distanz von Wählern und Kandidat über jeden Zweifel privater Befangenheit erhaben sein sollte? — I n der Öffentlichkeit noch umstrittener war die Frage, ob die 16 durch staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung i n der Parteispendenaffäre selbst persönlich betroffenen Bundestagsabgeordneten bei Verabschiedung eines Amnestiegesetzes i m Bundestag m i t abstimmen dürfen 4 5 1 . Auch hier läßt sich i n einem gemeindeutschen Verfassungsvergleich 452 und in 446 Neben den w o h l zu unscharfen K r i t e r i e n (für BVerfG-Richter) von BVerfGE 46, 14 (17): kein ungewöhnliches Verhalten (?), Ausklammerung persönlicher Farbigkeit (?), n u r einmaliges Eingreifen (?) wäre zu denken an: Sind konkrete Prozeßparteien angesprochen (vgl. „ F a l l " Leibholz — BVerfGE 20, 1 [7, 16 f.])? Handelt es sich u m laufende rechtliche (Verwaltungs- oder Gerichts-)verfahren? s. allg. J.Riedel, Postulat (Fn. 413), S. 47 ff.; H.-J.Wipf eider, DRiZ 1983, 337 ff.; s.a. F.Hase, K J 17 (1984), 154 ff. — Z u r Verteidigung der „öffentlichkeitsfreundlichen L i n i e " zahlreicher Bundesverfassungsrichter R. Wassermann, RuP 20 (1984), 5 f. 447 H.Sendler, N J W 1984, 690 („Was das Gesetz nicht verbietet, k a n n i m merhin der Anstand verbieten"), 695, 697 f. u. ö. 448 s. K. Schiaich, Neutralität (Fn. 436), S. 64. 449 F. Κ . Fromme, F A Z v. 17. 8.1983, S. 12. 450 V g l > F A Z v. 20. 5.1984, S. 7. 451 V g L D e r Spiegel Nr. 20/1984, S. 26 f.; ferner C. Pestalozza, J Z 1984, 559 (561); s.a. B. Schünemann, ZRP 1984, 137 (139); M. Breitbach, DuR 12 (1984), 12^(136). 452 Vgl. auch oben bei Fn. 416 ff.

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Analogie zu den landesverfassungsrechtlichen Verboten des Mißbrauchs des Mandats i n gewinnsüchtiger Absicht 4 5 3 ein wenn nicht verfassungsrechtliches 454 , so doch informales Abstimmungsverbot für die betroffenen Parlamentarier begründen — sofern jene Betroffenheit objektiv indiziert ist, ζ. B. durch den Abschluß eines staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens 455 . Dieser Gedanke der Objektivierung liegt auch § 107 I I GO-BT i. V. m. Ziff. 3 der Anlage 6 zugrunde; danach „soll" das vom Antrag ζ. B. der Staatsanwaltschaft auf Aufhebung der Immunität betroffene MdB das Wort zur Sache nicht erhalten; dann w i r d er „erst recht" nicht abstimmen dürfen 4 5 6 . Nur dann läßt sich auch eine Ausdehnung auf ein Redeverbot ernsthaft i n Erwägung ziehen, nicht aber allein aufgrund politischer Verdächtigung oder Beweisanträgen i n einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß 457 . Ein anderes Beispiel aus dem Bereich der Exekutive ergibt sich aus dem (wohl schon i n § 28 I I 2 GO-BReg kodifizierten) Verbot für die Bundesminister, „gegen die Auffassung der Bundesregierung zu w i r ken", etwa von ihnen intern nicht mitgetragene Beschlüsse des Kollegialorgans Bundesregierung öffentlich zu kritisieren. Da diese Norm die verfassungsrechtliche Gewissensfreiheit der Parlamentsangehörigen Minister (Art. 38 I GG) nicht einschränken kann, hat man eine stets vorrangige verfassungsunmittelbare, durch Übernahme des Ministeramtes freiwillig eingegangene, i m übrigen gerichtlich sanktionslose Rechtspflicht zu solchem Regierungszwang konstruiert 4 5 8 ; angesichts praktischer Ausnahmefälle realistischer, politisch und rechtlich angemessener erscheint es, wenn man für Bundesminister eine informale Selbstbeschränkimg bei der Ausübung des Abgeordnetenmandats annimmt (etwa i. S. einer Verfassungskonvention); das gilt auch für Regierungsmitglieder, die nicht als Abgeordnete, aber als Parteipolitiker ihre Regierung grundsätzlich angreifen 459 . — Auch die Grenzen der Urteils453 s. A r t . 42 I Verf. Baden-Württemberg; 84 Verf. Bremen; 13 I Verf. Niedersachsen; 87 Verf. Saar. 454 So BVerfG-Präsident a.D. E. Benda, i n : Der Spiegel Nr. 20/1984, S. 22 (23); ähnlich C.Pestalozza, J Z 1984, 561; k r i t . M. Breitbach, DuR 12 (1984), 136. 455 v g l . z u m K r i t e r i u m der Objektivierbarkeit schon oben die Parallele i n und bei Fn. 429. 456

So schon T.Maunz (1960), i n : T. Maunz/G. Dürig, GG (Fn. 34), A r t . 46/ Rdn. 22 m. ausf. N w . i n Analogie zu § 17 I WahlPrüfG, s. hier aber auch § 17 I I . 457 Gegen ein Rede-Verbot für Oppositionsführer H.-J. Vogel i n der „ A m nestie"-Debatte (allein) wegen eines Beweisantrages i m Flick-Untersuchungsausschuß betr. den Empfang einer Spende: F A Z v. 24. 5.1984, S. 4 u n d 12. 458 So E. Schmidt-Jortzig, Die Pflicht zur Geschlossenheit der kollegialen Regierung (Regierungszwang), 1973, S. 25, 33 ff., 41. 459 Diesem Grundgedanken entsprach es, daß 1982 (nach der hessischen Landtagswahl) die F D P - M i n i s t e r E. Gries u n d K. Hoffte aus dem geschäftsführenden Kabinett H. Börner austraten (s. F A Z v. 29. 9.1982, S. 1), nachdem ihre Partei, zumal i m Sog des Bonner Wechsels, m i t dem Wahlergebnis zur außerparlamentarischen Oppositionspartei geworden war. 6 Schulze-Fielitz

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I I . Empirische Bestandsaufnahme

schelte durch Amtsträger lassen sich nach dem „Störpotential" der Funktion des Kritisierenden objektivieren 4 6 0 : Selbst wenn man z.B. dem Justizminister nicht rechtlich aus A r t . 97 I GG generell jede öffentliche K r i t i k an richterlichen Entscheidungen untersagen w i l l , an denen Richter mitwirkten, auf deren Verwendung er Einfluß hat 4 6 1 , so gilt eine solche Grenze jedenfalls informal. Gesprächsgegenstand (und potentielle informale Verfassungsregel) ist auch die Überlegung, daß die Spitzenpolitiker der (Regierungs- oder Oppositions-)Parteien nicht Mitglieder der Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sein sollen, u m diese von primär parteipolitisch motivierten Kontroversen zu entlasten 482 . Ähnlich ist als eine Konsequenz aus Erkenntnissen des Flick-Untersuchungsausschusses betr. die „besondere Pflege der Bonner Landschaft" (so das Selbstverständnis des Flick-Bevollmächtigten Ε. v. Brauchitsch) die Aufstellung von Regeln „unterhalb des geschriebenen Rechts" für den Umgangsstil von Interessenvertretern mit Behördenleitern (Ministern) ventiliert worden 4 8 8 . b) Informale

institutionalisierte

Machtbalancierungen

(aa) Informale Gewaltenteilungsregeln entwickeln sich nicht nur m i t personalem, sondern auch mit institutionellem Bezug. So entspricht es der Parlamentspraxis, daß i n Bundestagsausschüssen der Vorsitzende und sein Stellvertreter nicht derselben Fraktion angehören 484 ; oder es läßt sich seit längerem der Parlamentsbrauch nachweisen, daß — vielleicht i n Übernahme einer britischen Verfassungskonvention 465 — der Vorsitzende des Haushaltsausschusses stets von der Opposition besetzt w i r d 4 6 8 ; gleiches soll für den Geschäftsordnungsausschuß des Bundes460

Vgl. G. Kisker, N J W 1981, 889 (890 ff.). So aber w o h l G. Kisker, N J W 1981, 891 f. 462 s. entsprechende Forderungen bei Ministerpräsident J. Rau, zit. nach FR v. 16.12.1983, S. 4; ähnlich f ü r Unvereinbarkeit von Regierungsamt u n d Mitgliedschaft i m Rundfunkrat der stv. Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion, FR v. 26. 7.1984, S. 10; s. schon C. Starck, ZRP 1970, 220: f ü r I n k o m p a t i b i l i t ä t von Parlamentsabgeordneten i m R u n d f u n k r a t ; ders., Rundfunkfreiheit (Fn. 114), S. 20 (unter Berufung auf die Kommunikationswissenschaftler P. Glotz u n d W. R. Langenbucher) u n d 27; D.Grimm, i n : HandbVerfR (Fn. 69), S. 368 (für I n k o m p a t i b i l i t ä t m i t staatlichen Ämtern). 483 So der Ausschußvorsitzende M.Langner (CDU), zit. nach P.Hort, FAZ V. 29. 2.1984, S. 12. 464 So H. G. Ritzel/J. Bücker, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand: 1983, § 58 G O - B T / A n m . b . 465 Z u dieser K.-U. Meyn, Verfassungskonventionalregeln (Fn. 35), S. 79. 466 s. H.-P. Schneider, Opposition (Fn. 50), S. 247; K.Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 1043. — Entsprechend wechselte m i t dem Regierungswechsel 1982 auch der Ausschußvorsitz, von L. Haase (CDU) an H. Esters (SPD). — Begünstigt w i r d solche Praxis, wenn an Finanzminister u n d Mitglieder des 461

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tages gelten4®7. Die darin liegende Anerkennung, daß Regierungsfraktionen und Regierung oft als Einheit gegenüber den Oppositionsparteien zu betrachten sind, zeigt sich auch i n informalen Regeln bei der Redezeitverteüung m, nämlich der erst seit 1963 üblichen Praxis, nach einer Regierungserklärung einem Sprecher der Opposition das Wort zu erteilen 4 8 9 oder auf Wunsch (nur) einer Fraktion (Opposition) Plenarsitzungen kurzfristig zu unterbrechen 470 . — Demgegenüber scheint sich abzuzeichnen, bei der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste solche Fraktionen auszuschließen, „denen Einblick in die Tätigkeit der Nachrichtendienste zu gewähren untunlich sein könnte" 4 7 1 . (bb) Es gibt schließlich Formen parteipolitischer „Gewaltenteilung" (namentlich i n Koalitionsregierungen). So hat die FDP mehrfach das Prinzip formuliert, das Wirtschafts- und Finanzministerium sollten i n einer Koalitionsregierung nicht von Politikern derselben Fraktion besetzt werden 4 7 2 ; ähnliche Aufteilungen lassen sich i m Verhältnis von Innen- und Justizministerium feststellen 473 . Bei der christlich-liberalen Koalition werden die parlamentarischen Staatssekretäre i m „Kreuzstichverfahren" 474 aufgeteilt, so daß den FDP-Ministern stets auch ein CDU-angehöriger parlamentarischer Staatssekretär zugeordnet wird, so wie die FDP-angehörigen parlamentarischen Staatssekretäre (mit Ausnahme des auf dieser Ebene seit 1972 stets paritätisch besetzten Auswärtigen Amts) CDU-geführten Ministerien zugeordnet sind. Auch die koalitionsparitätische Besetzung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung gehört i n diesen Zusammenhang 475 . (cc) Es gehört weiter zu den rechtlich ungeregelten Regelmäßigkeiten, daß i n bestimmten Gremien oder Organen durch Wechsel des Vorsitzes Haushaltsausschusses „durch soziale Konvention" besondere Verhaltenserwartungen als „neutralisierte Pufferzone" zwischen Einnahmen- u n d A u s gabenpolitik gestellt werden sollten, so jedenfalls A. Greifeid, Der Rechnungshof als Wirtschaftlichkeitsprüfer, 1981, S. 62 f. 467 So V. Szmula, i n : Handbuch des politischen Systems (Fn. 99), S. 227 (236); anders aber i n der 9. Wahlperiode bis zum Regierungswechsel: Vorsitzender des 1. Ausschusses (u. a. f ü r Geschäftsordnungsfragen) w a r S P D - M d B M. Schulte; er blieb es i n der 10. Wahlperiode. 468 s. o. auch bei Fn. 50, 51. 469 H.-P. Schneider, Opposition (Fn. 50), S. 245. 470 H.-P. Schneider, Opposition (Fn. 50), S. 247. 471 F A Z v. 20.12.1983, S. 4. 472 C.Gennrich, F A Z v. 12.12.1983, S. 2; das g i l t i m B u n d seit 1961 m i t Ausnahme der Jahre 1969—1972. 473 Seit 1961 (mit Ausnahme 1965/66) koalitionspolitisch kontrastierend. 474 s. schon F. K . Fromme, ZParl 1 (1969/70), 55 unter Hinweis auf T. Eschenburg, auch zum O d i u m des „Contreministers" (s. Praxis I I [Fn. 46], S. 19 f., 28 ff.); ders., F A Z v. 2.11.1983, S. 4. 475 s. die Klage der CSU über ihre „Unterrepräsentanz" i m Bundespresseamt, F A Z v. 25. 6.1983, S. 2, u n d v. 29. 6.1983, S. 7. 6=

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I I . Empirische Bestandsaufnahme

i n zeitlich festgelegtem Turnus Verfestigungen vermieden und gemeinsame Teilhabe an der Funktionsausübung gesichert werden. A m bekanntesten ist der jährliche Wechsel der Bundesratspräsidentschaft, der Ministerpräsidenten- und Fachministerkonferenzen usw. Vierteljährlich wechselt (aufgrund interfraktioneller Absprache) der Vorsitz i n der Parlamentarischen Kontrollkommission der Nachrichtendienste 47® ebenso wie der (paritätische) Vorsitz i m Vermittlungsausschuß nach A r t . 77 I I GG. Derartige Rotationen gewährleisten, daß alle Einheiten (Parteien, Länder usw.) auch einmal „zum Zuge kommen" und sich nicht benachteiligt zu fühlen brauchen. Selbst die Mitglieder wissenschaftlicher Beiräte von Ministerien sollten nicht unbefristet berufen werden 4 7 7 . Besonders deutlich werden Eigenarten des informalen Verfassungsstaates am aktuellen Problem, daß die Parteibasis der „Grünen" bei Halbzeit einer Legislaturperiode die „Mandatsträger" ihrer Partei i m Bundestag bzw. den Landesparlamenten durch neue Abgeordnete auf der Nachrücker-Liste ersetzen will, die als Fraktionsangestellte schon zuvor bei den „Erstparlamentariern" mitarbeiten. Dieses von innerparteilichen plebiszitär-unmittelbar-demokratischen Tendenzen geprägte (und als informale Regel zumindest intendierte) „Rotationsprinzip" ist insoweit verfassungswidrig, als die grünen Alt-Parlamentarier durch den Druck derartiger Vereinbarungen i n ihrer Abgeordnetenfreiheit nach Art. 38 I GG beeinträchtigt werden 478 . Die faktische Sanktionslosigkeit, w e i l ohnehin höchst problematische Sanktionierbarkeit der gleichwohl existierenden verfassungswidrigen Rotations(vorbereitungs)praxis zeigt die Grenzen einer bloß verfassungsrechtlichen Betrachtungsweise. Gerade die informalen Folgen i n der Verfassungspraxis könnten über praktische Erfahrungen m i t der (theoretisch längst gesicherten 479 ) Ziel476 H. Troßmann, JöR 28 (1979), 66. 477 Wilhelm, Wirtschaftsdienst 50 (1972), 432. — Umgekehrt ist eine zu häufige Rotation eher ein Krisensymptom; s. am Bsp. der erneuten Besetzung speziell der Rolle des gewerkschaftsnahen Mitgliedes des Sachverständigenrates (vgl. Fn. 180) skeptisch FR v. 21. 2.1984, S. 5 (mit Prof. D. Mertens amtiert n u n der 3. Sachverständige binnen 3 Jahren). 478 s. R. Stober, ZRP 1983, 209 (2111), auch zu weiteren verfassungsrechtlichen K o n f l i k t e n m i t der Unmittelbarkeit der Wahl, der Dauer der Legislaturperiode oder A r t . 211, 48 I I 1 GG; s. a. den Feststellungsbeschluß der K o n ferenz der Landtagsdirektoren (FAZ v. 2.3.1983, S. 6); R.Scholz, Krise der parteienstaatlichen Demokratie?, 1983, S. 17 ff.; I.v. Münch, i n : ders. (Hg.), G G - K I I (Fn. 205), A r t . 38/Rdn. 64. — Vor dem H i n t e r g r u n d einer jahrzehntelangen Diskussion u m A r t . 38 i. V. m. 21 GG w i r d m a n ein solches Ergebnis noch als nahezu allgemeine Meinung ansehen dürfen; s. a. E. L. Nell, J Z 1975, 519 (521); D.Jung, D Ö V 1984, 197 ff.; grds. a. A . aber K.-H. Hohm/T. Rautenberg, N J W 1984, 1657 (1658 ff.) durch einengende Neuinterpretation von A r t . 38 I 2 GG. — Problematisch ist die (von der Frage der „Fraktionsdisziplin" her bekannte) Frage der tatsächlichen F r e i w i l l i g k e i t der Mandatsniederlegung, s. a. H. Heilmann, BayVBl. 1984, 196 (200, Fn. 55); F. Hase, ZRP 1984, 86 (87 ff.).

3. Informale Herrschafts- bzw. Machtbalancierung

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untauglichkeit solcher Praktiken auf verfassungsrechtlich gesicherte Bahnen (zurück-)führen 480 , die durch den Ruf nach verfassungsrechtlich begründeten Sanktionen erst recht verschüttet würden 4 8 1 . (dd) Gegenstück zu informalen Kooperationsformen sind informale Befugnisabgrenzungen i. S. von kompetenziellen Selbstbeschränkungen von Verfassungsorganen, die man auch schon als Rechtspflichten i m Rahmen ihrer gegenseitigen „Verfassungsorgantreue" formuliert hat: „Je intensiver die Verfassungskonkretisierung durch ein Verfassungsorgan die parallele Befugnis eines anderen Verfassungsorgans berührt, desto gesteigerter ist die gegenseitige Rücksichtnahmepflicht i m Verfahren" 4 8 2 . Ein Beispiel ist die Frage des rechtlich ausdrücklich nicht geregelten judicial oder political self restraint des BVerfG (besonders) gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber 483 , des „Lebenselixiers" (G. Leibholz) der Rechtsprechung des BVerfG; sie w i r d durch einen Rückgriff allein auf das GG als Prüfungsmaßstab gerade verfehlt 4 8 4 . Auch der bloße Hinweis auf eine (überlegene) detailgerechte Kognitionsfähigkeit des BVerfG mag speziell bei Prognoseentscheidungen bzw. i n außerparlamentarischen Angelegenheiten die Offenhaltung der politischen Gestaltung des Gesetzgebers bzw. der Auswärtigen Gewalt rechtfertigen 485 , versagt aber i n binnenverfassungsrechtlichen Angelegenheiten. Insoweit wirken andere informale „funktionelle" Überlegungen 486 wie die einer „strengeren" Überprüfung dort, wo ζ. B. die A b geordneten, nach strenger Lesart die politischen Parteien, durch Konsens „ i n eigener Sache" den Gesetzgeber für sich selbst übermäßig haben ausnutzen können 4 8 7 (etwa bei der Parteienfinanzierung, bei einer 479 s. ausf. U.Bermbach, i n : Probleme der Demokratie heute, 1971, S. 110 (112 ff.); H. Fogt, PVS 25 (1984), 97 ff. 480 s. die niedersächsische „Rotations-Variante", nach der n u r „mindestens fünf" der 11 M d L ihre Mandate niederlegen sollten (FAZ v. 10.1.1984, S. 2), es w o l l t e n (FAZ v. 11.5.1984, S. 5) u n d dann auch taten; zum Widerstand des Parlamentspräsidenten u n d den Folgen s. u. Fn. 769. 481 s. noch ausf. allg. unten bei Fn. 882 ff. 482 So zuletzt E. Klein, AöR 108 (1983), 431; ausf. W.-R. Schenke, Verfassungsorgantreue (Fn. 226), S. 19 ff., 29, 115 ff., pass. 483 Dazu zuletzt E.Klein, AöR 108 (1983), 428 ff.; R.Dolzer, Verfassungskonkretisierung (Fn. 234), S. 20 ff.; A. Gerontas, EuGRZ 1982, 145 ff.; vgl. auch schon oben bei Fn. 233, 234. 484 s. K. Schiaich, V V D S t R L 39 (1981), 112; vgl. K.Hesse, FS f. Hans Huber, 1981, S. 261 ff. 485 E. Klein, AöR 108 (1983), 426 f., 429 f. i m Anschluß an R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung (Fn. 234), S. 19 ff.; P. Henseler, AöR 108 (1983), 485 (558). 486 Z u r Verwandtschaft von Verfassungsorgantreue u n d funktionell-rechtlichem Denken s. W.-R. Schenke, Verfassungsorgantreue (Fn. 226), S. 121. 487 s. P. Häberle (1976), i n : ders., Verfassungsrechtsprechung (Fn. 150), S. 215 (230 f.); H.H. v.Arnim, Parteienfinanzierung, 1982, S. 46 ff.; s.a. D.Grimm, i n : HandbVerfR (Fn. 69), S. 317 (370); anders aber jetzt w o h l BayVerfGH, DVB1. 1983, 706 (708).

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I I . Empirische Bestandsaufnahme

Amnestie nur für steuerhinterziehende Parteispender 488 , evtl. auch Diätengesetzen), oder wo das Parlament die Verfahrensregeln seiner Existenz für sich ändert (ζ. B. Verkürzung oder Verlängerung der Wahlperiode durch sofort wirksame Verfassungsänderung 489 ). — Namentlich Empfehlungen an den Gesetzgeber, allgemein die „BindungsWirkung" von obiter dicta erscheinen als informale Regelungsansprüche. — Zumindest ein Stilbruch der Regierung ist es, faktisch langfristige Organisationsentscheidungen unmittelbar vor einem möglichen Regierungswechsel zu treffen, um die Nachfolgeregierung noch möglichst lange zu binden 4 9 0 . — Letztlich sind die gesamte Verfassungsrechtsdogmatik, vor allem die verfassungsgerichtlichen Präjudizien, ein informales Regelwerk, das den freien und unabhängigen Verfassungsrichter bzw. das BVerfG an die eigenen Präjudizien (relativ) nicht nur faktisch 491 , sondern normativ durch informale Regeln bindet 4 9 2 . Umgekehrt w i r d man heute ein etwaiges Abgehen des parlamentarischen Gesetzgebers von der verfassungsstaatlichen zentralen ZweiDrittel-Mehrheitswahl der Verfassungsrichter nach § 6 BVerfGG (mindestens) als Verstoß gegen eine informale Verfassungsregel ansehen müssen. 4. Zwischenbilanz: Einige charakteristische Funktionsmerkmale informaler Verfassungsregeln a) Vereinbarungstreue

und Kontinuität

Eine entscheidende Funktionsbedingung informaler Verfassungsregeln ist das Prinzip der Vereinbarungstreue (i. S. einer vor-rechtlichen Ausformung des Grundsatzes „pacta sunt servanda") bei Verein488 s. aus dem publizistischen Echo auf entsprechende Pläne der Regierungsfraktionen n u r F. K. Fromme, F A Z v. 5. 5.1984, S. 1 ; R. Reifenrath, FR v. 5.5.1984, S. 3; k r i t . C. Pestalozza, N J W 1984, 561; B. Schünemann, ZRP 1984, 139, 143. 489 Verfassungspolitische K r i t i k betr. eine Selbstauflösung des Bundestages qua Verfassungsänderung ζ. B. bei M. Kriele („verfassungspolitisch nicht ganz unbedenklich") u n d J. Isensee („die feine A r t ist das nicht"), i n : Die Welt v. 8.10.1982. Gerade w e i l i n anderen Ländern (ζ. B. Schweden) eine Verfassungsänderung m i t A n w e n d u n g f ü r die laufende Legislaturperiode rechtlich nicht möglich ist (J.-M. Mössner, ebd.), w i r d m a n bei uns zumindest eine informale Regel annehmen dürfen. 490 M a n denke n u r an kumulierte Beamtenbeförderungen bestimmter Beamter vor Wahlen. 491 s. n u r K.Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 412 ff.; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. A u f l . 1976, S. 243 ff. 492 s. zum Problem ausf. M. Sachs, Die B i n d u n g des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, 1977, S. 111 ff. m. w. N w . ; H. Schulze-Fielitz, DVB1. 1982, 328 (335 f.), dort noch als allein rechtliche B i n d u n g thematisiert, insoweit also auf Extremfälle bezogen — i m übrigen geht es u m informale Bindungen.

4. Charakteristische Funktionsmerkmale informaler Verfassungsregeln 87

barungen bzw. der Kontinuität der selbstpraktizierten Verhaltensmaßstäbe. Nur Verläßlichkeit und Berechenbarkeit schaffen das gegenseitige Vertrauen für Vereinbarungspartner oder Zusammenwirkende 493 ; sie entlasten (wie Rechtsnormen) den „Verkehr" i m Verfassungsleben von zeitraubenden Vertrauensbildungsprozessen und risikoreicher Vertrauensgewähr 494 . Eine wiederholte, „regel-mäßige" Übung liegt zwar schon begrifflich einer Regel als institutionalisierter Verhaltenserwartung zugrunde: die informalen Regeln gewinnen K r a f t für die Zukunft gerade erst durch eine praktische Bewährung, deren Kontinuität sogar mehr normative K r a f t entfalten kann als ζ. B. wirklichkeitsunangemessene Gesetzesnormen: Informale Verfassungsregeln tragen die Vermutung einer realistischen W i r k k r a f t „auf der Stirn" — sonst wären sie keine. Ein Beispiel für derartige Vereinbarungstreue sind die Verfassungsrichterwahlen 1983. Aufgrund von langfristigen informellen Personalentscheidungen konnten alle Wahlen termingerecht und verabredungsgemäß durchgeführt werden 4 9 5 ; Versuche zu personellen Umdispositionen i n letzter Minute sind dann nicht mehr konsensfähig. — E i n anderes Beispiel: 1985 soll, so das Ergebnis einer grundsätzlichen Vereinbarung i m WDR-Verwaltungsrat von 1983, m i t der einhelligen Wahl eines sozialdemokratischen WDR-Intendanten zu rechnen sein49®. — Die praktische Bedeutung der Einhaltung von politischen Vereinbarungen w i r d quasi umgekehrt deutlich an den Begleiterscheinungen ihres Bruches, etwa beim Koalitionswechsel 1982: Nicht die politischen, inhaltlichen oder personellen Gründe für einen Regierungswechsel, sondern Vorwürfe über die Abweichung von Vereinbartem bestimmte (jedenfalls) die (Oberflächen-)Diskussion 497 ' 4 9 8 . Auch bei der Diskussion des Amne493 s. (für interfraktionelle Vereinbarungen der Fraktionsgeschäftsführer) R. Kabel, i n : F G f. W. Blischke, 1982, S. 40 f., 42 f. 494 Vgl. N. Luhmann, Vertrauen. E i n Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 1968, S. 35, s. a. 25, 21 f. u. ö. 495 Schon 1980/81 soll informell bekannt gewesen sein, daß der Politiker u n d Staatsrechtslehrer R. Herzog 1983 zum Vize- u n d 1987 zum Präsidenten des B V e r f G gewählt werden sollte; bereits i m Herbst 1981 berichtete die Süddeutsche Zeitung darüber; s. i m übrigen F. K. Fromme, F A Z v. 21.10. 1982, S. 12, u n d v. 16. 6.1983, S. 6. 496 So das Verwaltungsratsmitglied H.Kuhn (SPD), nach Bonner G A v. 9.12.1983, S. 15, allerdings „ i n CDU-Kreisen" bestritten, so Bonner G A v. 10./11.12.1983, S. 24; s.a. F A Z v. 15.12.1983, S. 4 u n d 12. H i e r k o m m t es nicht auf die Richtigkeit der Vereinbarung, sondern auf das (insoweit allseits akzeptierte) Prinzip an. 497 Die Berufung der F D P - F ü h r u n g auf die m i t den Koalitionsvereinbarungen unvereinbaren wirtschaftspolitischen Beschlüsse des Münchener SPDParteitages 1982 bestätigt i m übrigen, daß Parteien, nicht Fraktionen die Vertragspartner von Koalitionsvereinbarungen sind. 498 Parallele Erscheinungsformen scheint es bei den politischen K r a n k h e i ten (vor allem) politischer Beamter zu geben. Dies wurde — neben der recht-

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I I . Empirische Bestandsaufnahme

stiegesetzentwurfes 1984 für bestimmte Parteispender war die SPD deshalb besonders empfindlich, weil ihre Zustimmung zur neuen Parteienfinanzierungsgesetzgebung i m Rahmen einer damaligen Kompromißvereinbarung von einem Verzicht auf eine Amnestie abhängig gemacht worden war 4 9 9 . b) Reziproke Tauschgerechtigkeit Voraussetzung einer solchen Vereinbarungskontinuität ist ein Mindestmaß an Tauschgerechtigkeit beim wechselseitigen Ausgleich gegenläufiger Partei-, Länder- oder Machtinteressen. Tausch, „do ut des" 500 und Reziprozität sind zentrale Motive für informale Verfassungsregeln 501 ; ein zufriedenstellender Kompromiß oder relativer Ausgleich garantieren ihre Langlebigkeit. Vereinbarungstreue und/oder Verhaltenskontinuität durch Selbstbindung i n Entsprechung zu informalen Verfassungsregeln ist nie nur einseitig, sondern stets (auch) gegenseitig möglich. „Schwächere" und „stärkere" Vereinbarungspartner müssen sich darauf verlassen können, daß sie i n Zukunft in der eigenen vergleichbaren Lage wie der heutige Partner i n gleicher Weise von dem jeweiligen „Recht" Gebrauch machen können bzw. ihnen Teilhabe eingeräumt wird. Wo jene Reziprozität 502 zerstört wird, etwa durch elementare Verstöße gegen die Tauschgerechtigkeit oder andere Formen nicht erwiderten Vertrauens, w i r d die Funktionsfähigkeit der informalen Verfassungsregeln und des informalen Verfassungsstaates überhaupt gefährdet.

lieh schon f ü r sich erstaunlichen Selbstverständlichkeit, m i t der informell Krankheitsgründe bereitstehen, u m politische personelle Mißhelligkeiten zu verbergen — beispielhaft deutlich bei der Vereinbarung von Minister M. Wörner u n d General G. Kießling v o m 10. 9.1983. Der General sollte bis zu einer Zurruhesetzung zum 31.3.1984 den Dienst nicht wieder aufnehmen, sich i n ärztliche Behandlung begeben u n d so verhalten, daß an seinem K r a n k heitszustand i n der Öffentlichkeit kein Zweifel entstünde. Der Umstand, daß der General dennoch i n der Öffentlichkeit auftrat, u n d damit die Nichteinhaltung dieser Vereinbarung waren einer der drei Gründe für seine V e r setzung i n den vorzeitigen Ruhestand: A l l e Angaben zit. nach einer E r k l ä r u n g von Minister M. Wörner, abgedruckt i n F A Z v. 20.1.1984, S. 6. 499 s. Der Spiegel Nr. 19/1984, S. 23. — Auch schon die Arbeit der v o m Bundespräsidenten berufenen Expertenkommission für die Reform der Parteienfinanzierung soll von dieser ausdrücklichen Voraussetzung geprägt w o r den sein, so i h r M i t g l i e d H.-P. Schneider, nach Der Spiegel Nr. 20/1984, S. 18. eoo V g l > E.-H. Ritter, AöR 104 (1979), 393 betr. das Verhältnis S t a a t / W i r t schaft; K . Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 987 betr. Koalitionsabsprachen; F A Z v. 30. 3.1984, S. 4 betr. Koalitionsarithmetik i m Richterwahlausschuß. 501 Vgl. für informale Verwaltungsregeln W. Hoffmann-Riem, W D S t R L 40 (1982), 208. 502 Soziologisch verallgemeinert bei A. W. Gouldner, Reziprozität u n d A u t o nomie, 1984, S. 91 ff., 97 ff., 118 ff., pass, u n d unten bei Fn. 667 ff.

4. Charakteristische Funktionsmerkmale informaler Verfassungsregeln 89

Bedingung von Tauschgerechtigkeit ist es, daß bei den zugrundeliegenden informalen Vereinbarungen und Regeln jeder Beteiligte (im allgemeinen) „zufriedenstellend" zum Zuge kommt 5 0 3 . Aushandeln und/ oder Zusammenwirken m i t allseits akzeptablem Ergebnis ist ein Kennzeichen der informalen Konkordanzregeln 504 . Äußerer Indikator solcher Tauschgerechtigkeit ist bei Beschlüssen und Vereinbarungen die Einstimmigkeit i n den jeweiligen Gremien, ζ. B. in den Länderminister(präsidenten)konferenzen. Gerade sie verleiht den Grundsatzentscheidungen als Ergebnis von Verhandlungen jene bundesweite Glaubwürdigkeit 5 0 5 , die nur ausnahmsweise Widerstand provoziert 596 . Um so alarmierender erscheinen vor dem Hintergrund der Geschichte jener gemeindeutschen Kooperationsformen Überlegungen, diese Konferenzen Mehrheitsbeschlüssen zu unterwerfen 5 0 7 . Auch sonst dominiert das Einstimmigkeitsprinzip ζ. B. nicht nur i n der Interparlamentarischen A r beitsgemeinschaft 508 , sondern auch etwa bei interfraktionellen Vereinbarungen 509 : Seitdem i m Ältestenrat des Bundestages eine Mehrheitsentscheidung über die Redezeiteinteilung i m Bundestag zur (wenn auch sachlich erfolglosen) Organklage geführt hatte 5 1 0 , soll es nie wieder zu einer kontroversen Beschlußfassung gekommen sein 511 . Die Bedeutung des Einstimmigkeitsprinzips w i r d darin deutlich, daß faktisch als informale Regel Einstimmigkeit auch dort angestrebt und praktiziert wird, wo gesetzlich Mehrheitsentscheidungen möglich wären, ζ. B. i n den gemeinsamen Planungsausschüssen aufgrund der Gemein503 ζ. B. muß beim Personalproporz i m Rundfunk ein Wechsel von einem Parteimann zum parteiungebundenen Spitzenjournalis ten durch zusätzliches Entgegenkommen gegenüber dieser Partei auf einem vergleichbaren, v i e l leicht vorher „rein fachlich" besetzten Posten ausgeglichen werden i. S. einer gewissen „allgemeinen Ausgewogenheitskonzeption", so W D R - V e r w a l t u n g s ratsmitglied H. Kühn, zit. nach Bonner G A v. 9.12.1983, S. 15. 504 Vgl. am Beispiel des kooperativen Föderalismus : H. Klatt, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 31/1982, S. 6 f.; F.W.Scharpf/B.Reissert/F.Schnabel, Politikverflechtung, 1976, S. 39 ff., 218 ff. 505 Vgl. schon BVerfGE 1, 299 (315 f.); 41, 291 (308). — Andererseits kann man i m Einstimmigkeitsprinzip auch eine Effektivitätsminderung sehen, so W. Schreckenberger, V e r w A r c h 69 (1978), 353, oder eine Versteinerungsgefahr, vgl. P.Lerche (1983), i n : T. Maunz/G. Dürig, GG (Fn. 34), A r t . 83/Rdn. 113. 506 s. zur gymnasialen Oberstufe i n Hessen oben Fn. 302. 507 Vgl. die Überlegungen der CDU/CSU-Ministerpräsidenten aus Anlaß der Kontroverse u m das Satellitenfernsehen, zit. nach FR v. 19.12.1983, S. 16, freilich hinfällig geworden durch die einmal mehr kompromißhafte Einigung der Ministerpräsidentenkonferenz auf ihrer Sitzung i m Februar 1984, s. F A Z V. 25. 2.1984, S. 1 f. 508 s. W. E. Burhenne/J. Kehrhahn, FS f. M. Hirsch, 1981, S. 317. 509 s. K . - H . Rothaug, Leitungskompetenz (Fn. 251), S. 88 f. — Ausnahmen gab es n u r i m 1. Deutschen Bundestag, vor allem wegen fehlender K o m promißbereitschaft der K P D , N w . bei Rothaug, Fn. 459, 470 (S. 208 f.). 510 Vgl. BVerfGE 10, 4 ff. 511 So H.-A. Roll, F G f. W. Blischke, 1982, S. 104.

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I I . Empirische Bestandsaufnahme

schaftsaufgabengesetze nach A r t . 91 a GG 5 1 2 ; freilich stößt bei tief gehenden Interessengegensätzen eine solche „hohe Konsensschwelle" an die Grenze der Funktionsfähigkeit 5 1 3 . Das Einstimmigkeitsprinzip garantiert den stets notwendigen Kompromiß als Form inhaltlichen Interessenausgleichs; dieser Zwang zum Kompromiß gibt den Entscheidungen eine politische Stärke, die sie geradezu i n Konkurrenz zur parlamentarischrepräsentativen Willensbildung bringen kann 5 1 4 . Fehlt es an einem kompromißhaften Ausgleich, besteht die Gefahr einer (mehr oder minder konfliktreichen) Aufkündigung des Kompromisses. So wurden ζ. B. bei den Verfassungsrichterwahlen 1971 erstmals die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse teilweise ausgeglichen, w e i l als Reflex der politischen Veränderungen durch die Bundestagswahlen 1969 die CDU/CSU, freilich i m Tausch für die Zusage des Präsidentenpostens, ein „Vorschlagsrecht" (betr. den 2. Senat) an die FDP abgab; i m 1. Senat behielt die CDU/CSU ihre 5:3-Mehrheit 515 . Nach den Verfassungsrichterwahlen 1975 ist zwar der 1. Senat „ausgeglichen", herrscht aber i m 2. Senat ein Übergewicht des „konservativen" Flügels, sehr zum Unmut mancher sozialdemokratischer K r i t i k e r 5 1 6 , aber ohne Änderung durch die Verfassungsrichterwahlen 1983. Die Vermutung ist nicht unbegründet, daß eine solche Konstellation bei der Geschäftsverteilung zwischen den Senaten i n Zweifelsfällen zu positiven Kompetenzkonflikten führen kann 5 1 7 . So wie bei den Verfassungsrichter wählen 1971 wirken sich politischparlamentarische Wahlergebnisse i. S. einer politischen clausula rebus sie stantibus auf die Rahmenbedingungen der „Tauschgerechtigkeit" aus, und damit auch auf die Festigkeit der Vereinbarungstreue; so w i l l ζ. B. die CDU die Neuwahl des WDR-Intendanten auch vom Ausgang der Landtagswahl 1985 abhängig machen 518 . 512

Zit. nach R. Borell, Mischfinanzierungen, 1981, S. 32. s. zur Insuffizienz des Finanzplanungsrates nach § 51 H G r G H. FischerMenshausen, i n : I . V . M ü n c h (Hg.), GG I I I (Fn. 325), A r t . 109/Rdn. 24 m. w. N. ; dennoch tagt er regelmäßig m i t informaler W i r k u n g , s. ζ. B. i n der 52. Sitzung (zit. nach Bull. 1983, 1218) die Einsetzung einer Arbeitsgruppe, die Empfehlungen für eine Entlastung der K o m m u n e n von bundes- u n d landesgesetzlichen Pflichten erarbeiten soll. 514 Vgl. für die Zusammenarbeit Staat/Wirtschaft: E.-H. Ritter, AöR 104 (1979), 410 f. 515 So B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 151. 516 z.B. T. Rasehorn, i n : W. Däubler/G. Küsel (Hg.), Bundesverfassungsgericht und Politik, 1979, S. 149 (167 f.). 517 Die weitgehende spektakuläre VerfassungsWidrigerklärung des Volkszählungsgesetzes 1983 wäre nach verbreitetem informellen (Vor-?)Urteil außerordentlich unwahrscheinlich gewesen, w e n n der 2. Senat zuständig gewesen wäre. 518 Bonner G A v. 10./11.12.1983, S. 24, i n K r i t i k an den Thesen von H. Kühn (s. o. Fn. 496). — A u d i die Krise u m die N e u w a h l eines sozialdemokratischen 513

4. Charakteristische Funktionsmerkmale informaler Verfassungsregeln

c) Die nicht-rechtliche

Formalisierung

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des Informalen

Wie i m schon betonten Regel-Charakter angelegt, zeichnen sich informale Verfassungsregeln durch regel-mäßige Verfestigungsprozesse aus: Obwohl nicht i n Rechtstexten festgelegt, formulieren sie doch progressiv (möglichst) feste Regeln, deren Durchbrechimg nur nicht rechtlich (aber: politisch) sanktioniert wird. Diese nicht-rechtliche „Formalisierung" läßt sich deshalb auch als Teil der Institutionalisierung von Verhaltenserwartungen über die zwischen zwei Partnern hinaus bezeichnen: Diese können nun auch auf unterstellbare Erwartungserwartungen Dritter gestützt werden 519 . Höchstmögliche Formalisierung i. S. einer mathematisch festgelegten Gerechtigkeit läßt sich bei den Proporzberechnungsweisen für die Besetzung repräsentativer Gremien feststellen. Für die Besetzung der Bundestagsausschüsse und die Zahl der den einzelnen Fraktionen zustehenden Ausschußvorsitzenden war als „System" i. S. von § 57 I GOBT lange das d'Hondtsche Höchstzahlverfahren „herrschend". Dessen Bevorzugung der jeweils größeren Partei führte während der 6. Wahlperiode zur Verwendung des Proportionalverfahrens nach T. Hare und H. Niemeyer, weil nach dem Fraktionswechsel von 3 FDP-Abgeordneten zur CDU/CSU nach d'Hondt die Mehrheitsverhältnisse i m Ausschuß nicht mehr denen i m Plenum entsprochen hätten 5 2 0 . Wegen der dem neuen Verfahren eigentümlichen „logischen Sprünge" wurde es seit der 9. Wahlperiode durch das Rangmaßzahlverfahren von H. Schepers ersetzt, das nach heutigem Konsens als am gerechtesten gilt 5 2 1 . Dieses Entscheidungsideal höchstmöglicher Formalisierung täuscht freilich, insofern bei Bedarf die Rahmenbedingungen geändert werden können; ζ. B. kann durch die Zahl der Ausschußsitze die fraktionelle Zusammensetzung „gesteuert" werden, auch wenn grundsätzlich für die ständigen Ausschüsse als informale Regel gilt, daß jede Fraktion m i t mindestens einem Vertreter i m Ausschuß vertreten sein soll 5 2 2 . Ein Beispiel: Durch die Ablehnung eines Antrags der SPD-Fraktion auf Erhöhung der Sitzzahl i n der parlamentarischen Kontrollkommission der Nachrichtendienste des Bundes von 8 auf 9 durch die Parlamentsmehrheit wurde ausdrücklich verhindert, daß die Grünen i m Ausschuß Bundesrates i n der Schweiz gründet (u. a.) i n der gegenüber den Sozialdemokraten deutlichen Stärkung der Freisinnigen i n den Parlamentswahlen vom 23.10.1983, s. P. Amstutz, FR v. 13.12.1983, S. 3. 519 N. Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 31), S. 65. 520 K r i t . zu dieser Änderung H.-P. Schneider, ZParl 1 (1969/70), 442 ff. 521 Vgl. näher die vergleichende Darstellung der Systeme bei P. Schindler (Bearb.), Datenhandbuch (Fn. 30), S. 598 ff. 522 s. oben bei Fn. 55.

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I I . Empirische Bestandsaufnahme

vertreten sind 5 2 3 : Sie erhalten (nach H. Schepers) erst einen 9. Sitz. M i t gleicher Zielsetzung wurde jüngst die Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste von einem Unterausschuß des Haushaltsausschusses auf ein 5-köpfiges, vom Plenum gewähltes Sondergremium des Bundestages verlagert 5 2 4 . Vorzug und Nachteil solcher schnellen Änderungen der Rahmenbedingungen von informalen Verfassungsregeln oder auch von diesen selbst zeigen sich dort, wo ζ. B. das d'Hondtsàie Höchstzahlverfahren gesetzlich festgeschrieben ist (§§ 6 I I BVerfGG, 5 I I DRiG): Hier sind FDP bzw. Grüne auf eine Listenverbindung und damit auf ein Entgegenkommen von CDU/CSU bzw. SPD angewiesen 525 . Aber unabhängig von diesen Berechnungsmodi läßt sich allgemein für alle informalen Regel(bildunge)n ein Trend zur nicht-rechtlichen Formalisierung von informalen Verfassungsregeln beobachten. Stärker als Rechtsregeln, die durch Erlaß und Verkündung sich autoritativ zur Geltung bringen, müssen sich informale Regeln immer wieder i m Verfassungsalltag neu bewähren; sie orientieren sich dabei immer wieder an einmal begründeten Traditionen. Insoweit sichert Formalisierung auch Vereinbarungstreue und Kontinuität und schützt legitime Erwartungen: Man weiß verläßlich, woran man ist, ζ. B. welcher Ministerpräsident wann dem Bundesrat präsidiert, welche Posten der Opposition zustehen, wann man sein A m t rollengerecht ausfüllt usw. Die nichtrechtliche Formalisierung macht den informalen Verfassungsstaat berechenbar, schafft Vertrauensstrukturen. Negativ gewendet läßt sich diese zur Dauerhaftigkeit tendierende Formalisierung freilich auch unter dem Gesichtspunkt der Bürokratisierung kritisieren 5 2 8 .

d) Besonders: Parakonstitutionelle

Entscheidungsgremien

Eine besondere Erscheinungsform der Formalisierung ist die Herausbildung parakonstitutioneller Entscheidung s gremien, deren Entscheidungen rechtliche Entscheidungen faktisch vorwegnehmen. M i t der Existenz von Koalitionsregierungen etwa scheint (möglicherweise je nach der Größe der Koalitionen, der Zahl der Koalitionsparteien, der Existenz detaillierter Koalitionsvereinbarungen, der Divergenzen zwischen den vereinigten und berücksichtigungsbedürftigen Extrem-Positionen oder auch danach, ob i n der Regierung alle Parteivorsitzenden vertreten sind) ein Bedarf an zusätzlichen, extrakonstitutionellen Be523

s. F A Z v. 20. 5.1983, S. 7. F A Z V. 24. 2.1984, S. 2. 525 V g l # F A Z v. 20. 5.1983, S. 7. 524

526

So W. Schreckenberger,

V e r w A r c h 69 (1978), 353.

4. Charakteristische Funktionsmerkmale informaler Verfassungsregeln

ratungs-, Abstimmungs- oder Entscheidungsgremien zu bestehen, die über eine informale Abstimmung des gemeinsamen Handelns der Beteiligten hinaus die Entscheidungsfindung institutionalisieren und materiell maßgeblich bestimmen 527 . Erstmals sah das Koalitionsabkommen vom 20.10.1961 für die 4. Wahlperiode ausdrücklich (gemäß Weimarer Vorbildern) einen Koalitionsausschuß vor, der von den Vorsitzenden, ihren Stellvertretern und den parlamentarischen Geschäftsführern der Koalitionsfraktionen besetzt werden sollte 5 2 8 ; der K o n f l i k t reichtum der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und FDP nach Verlust der absoluten Mehrheit der Union sollte offenbar durch dieses Gremium auf parlamentarischer Ebene vermieden werden. 1965 wurde der Koalitionsausschuß nicht wieder vorgesehen. Erinnert sei weiter an den (nach dem Urlaubsort des damaligen Bundeskanzlers benannten) Kreßbronner Kreis, i n d e m sich während der Großen Koalition ab 1967 Bundeskanzler K . G. Kiesinger, Vizekanzler W. Brandt, die Fraktionsvorsitzenden R. Barzel und H. Schmidt und je nach Bedarf weitere Spitzenpolitiker von CDU/CSU und SPD i n (un-) regelmäßigen Treffen über die Richtlinien der Koalitionspolitik verständigten 529 ; es gab damals keinen detaillierten Koalitionsvertrag zwischen den Koalitionsparteien 530 . — Auch die seit der christlich-liberalen Koalitionsregierung 1983 regelmäßigen Treffen der CSU-angehörig en Bundesminister mit dem CSU-Parteivorsitzenden, stärker noch dessen Streben nach regelmäßigen Treffen mit den Parteivorsitzenden von CDU und FDP zur Beeinflussung der Regierungspolitik 5 3 1 oder auch die Koalitionsspitzengespräche zeigen vergleichbare parakonstitutionelle Züge. Wie zu Zeiten der sozial-liberalen Bundesregierung fallen Entscheidungen über koalitionsintern stark umstrittene Probleme oft nicht i m Kabinett, sondern i n eben solchen Spitzengesprächen zwischen dem 527 Vgl. K.Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S.466; f ü r Österreich R. Marcic, Koalitionsdemokratie (Fn. 204), S. 44 f. 528 V g l ρ Schindler (Bearb.), Datenhandbuch (Fn. 30), S. 370. 629 s. K.Kröger, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 34/1969, S. 28 (43f.); W. Kralewski, F G f. D. Sternberger, 1968, S. 429 f. 630 s. H.Knorr, Der parlamentarische Entscheidungsprozeß während der Großen K o a l i t i o n 1966 bis 1969, 1975, S. 139 ff., 223 ff. — Auch i m Österreich der Großen K o a l i t i o n waren Koalitionsausschüsse regelmäßig vorgesehen, s. G. E. Kafka, V V D S t R L 17 (1959), 53 (93 f.). 581 s. C. Gennrich, F A Z v. 12.12.1983, S. 2; zuletzt wieder der CSU-Landesgruppenvorsitzende T. Waigel, zit. nach F A Z v. 13. 2.1984, S. 6. Nach einem 1. Treffen am 1. 6.1983 fand ein zweites erst wieder am 11. 4.1984 statt, w e i l der Bundeskanzler zunächst gegen eine „Institutionalisierung" m i t dem E i n druck einer „Nebenregierung" w a r (FAZ v. 12.4.1984, S. 1); weitere sind i n dessen vorgesehen, denn die informale Beteiligung „erleichtere, so ist zu hören, dem Bundeskanzler das Regieren, w e i l es Strauß einbinde" (so der über das Denken i m Kanzlerumkreis stets vorzüglich informierte C. Gennrich, F A Z v. 8. 5.1984, S. 3); s. zuletzt das „Koalitionsgipfel"-Treffen am 14. 6. 1984 (Bonner GA v. 15. 6.1984, S. 1).

94

I I . Empirische Bestandsaufnahme

Bundeskanzler und seinem Vizekanzler unter Hinzuziehung der Fraktionsvorsitzenden und der Fachminister, evtl. auch weiterer Abgeordneter als Parteivorstandsmitglieder 532 . Schon K. Adenauer erörterte besonders heikle außenpolitische Fragen i n einem sehr kleinen informalen Kreis m i t Vertretern aller Fraktionen 5 3 3 . Auch die Außenminister luden (jedenfalls bis 1969) i n besonders „delikaten" außenpolitischen Angelegenheiten (nur) die ordentlichen Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses zu besonders vertraulichen Arbeitsbesprechungen ein, um den (größeren) Kreis des Auswärtigen Ausschusses zu umgehen 534 . — Aber auch innerhalb des Regierungskabinetts lassen sich (übrigens auch international) Hierarchisierungsprozesse feststellen, i n denen die wichtigsten Minister m i t dem Kanzler einen zentralen Entscheidungskern bilden 5 3 5 ; gelegentlich werden die FraktionsVorsitzenden der Regierungsfraktionen auch zu den Kabinettssitzungen hinzugezogen. — Erwähnenswert ist auch das beratende „Küchenkabinett" bevorzugter enger Mitarbeiter der Bundeskanzler. Gemeinsam ist solchen informalen Gremien, daß sie neben den verfassungsrechtlichen Entscheidungskompetenzstrukturen eine politische Beratungs- bzw. Kompetenzstruktur zur funktionalen Erleichterung und Vereinfachung der rechtlichen Entscheidungen schaffen 53®, ohne daß solche (Spitzen-)Treffen jeweils fest institutionalisiert wären. Mitunter werden, gerade i n außerordentlichen Fällen, solche informalen Gremien ad hoc geschaffen. Zu denken ist an interfraktionelle Gremien zur Vorbereitung schwieriger oder von gemeinsamem Eigeninteresse geprägter „interfraktioneller" Entscheidungen 537 oder auch an den „Großen 682 s. ζ. B. das „paritätische" Spitzengespräch von CDU, CSU u n d F D P zur Steuerreform m i t den 3 Parteivorsitzenden, je 1 Minister jeder der 3 Parteien und den Fraktionsvorsitzenden incl. des CSU-Landesgruppenvorsitzenden, F A Z v. 22. 2.1984, S. 1 f. 538 C.-C. Schweitzer, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 19/1980, S. 14. 534 E.Majonica, i n : Bundestag von innen (Fn. 258), S. 114 (121 f.); s.a. oben bei Fn. 345, 348. 685 Vgl. Κ . v. Beyme, Die V e r w a l t u n g 2 (1969), 289 ff. M a n denke s. Z. an die ständigen Dreier-Verständigungen der Minister N. Blüm, O. Graf Lambs* dor ff u n d G. Stoltenberg — sie sollen i n Bonn die „Heiligen drei Könige" geheißen haben, so Der Spiegel Nr. 9/1984, S. 21 — bei den Bemühungen u m die Eingrenzung der Bundeshaushalte. — Verfassungsrechtliche Bedenken schon bei E.-W. Böckenförde, Organisationsgewalt (Fn. 137), S. 246 f. 538 I n diesem Sinne rechtfertigt Koalitionsausschüsse W. Rudzio, Z P a r l 1 (1969/70), 206 ff.; fraktions interne Arbeitskreise, Vorabstimmungen der Ausschußmitglieder einer Fraktion, auch die zahlenmäßig wachsenden fraktionsinternen Sachverständigenanhörungen sind weitere aktuelle Erscheinungsformen von Formalisierungsprozessen informaler Vor-Diskussionen. Selbst mehrere (Mehrheits- u n d Minderheits-)Berichterstatter eines Bundestagsausschusses können faktisch als eine A r t Unterausschuß tätig werden, so G. Weng, Z P a r l 15 (1984), 31 (36) m. N w . 587 So wurde die Änderung der Parteifinanzierung i m Herbst 1983 von einer interfraktionellen Arbeitsgruppe von CDU/CSU, SPD u n d FDP v o r -

4. Charakteristische Funktionsmerkmale informaler Verfassungsregeln 95

Krisenstab", einer erweiterten Kabinettssitzung anläßlich der Entführung von B D I - und BDA-Präsident H.-M. Schleyer, einem alle politischen Führungspersönlichkeiten der Bundesrepublik Deutschland vereinigenden Beratungsgremium für die Entscheidungen des Bundeskanzlers bzw. des Bundesinnenministers. Dennoch dürften per saldo solche parakonstitutionellen Gremien ihrer Sachlogik nach i n der Hegel auf Dauer angelegt sein. So fällt die (Vor-) Entscheidung über die Wahl der Richter zum BVerfG „ i n der Praxis" außerhalb 538 der Ausschüsse von Bundestag und Bundesrat i n einer „Gruppe maßgeblicher Politiker der Parteien", zu der auch je ein Vertreter eines CDU- und eines SPD-regierten Landes gehören 539 . Die Entscheidungen dieser „Findungskommissionen" werden von den Obmännern der Parteien vorabgeklärt 5 4 0 : welche Partei das „Vorschlagsrecht" hat, welche Kandidaten infragekommen usw. 541 . — Auch i m Bundesrat stimmen sich „Α-Länder" und „B-Länder" zunächst untereinander i n regelmäßigen Sitzungen und Gesprächskreisen ab 542 . Die Existenz parakonstitutioneller Entscheidungsgremien ist nicht auf Entscheidungen beschränkt, für die der Parteienproporz direkt oder indirekt maßgeblich ist; sie sind ebenso i m Bereich informaler Kooperationsformen bedeutsam. So wie schon die Konzertierte Aktion als „ M i t w i r k u n g an der Vorformung der Wirtschaftspolitik" 5 4 3 von Anfang an unter dem Gesichtspunkt einer Vergesellschaftung des Staatshandelns problematisiert wurde 5 4 4 , so können auch andere, gesetzlich erwähnte oder gar nicht vorgesehene, Beratungsgremien mit Beteiligung sachverständig präjudizierender Interessenvertreter ein großes Eigengewicht entfalten, ζ. B. der Nuklearrat, die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen usw. bereitet. Auch der Neuordnung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung gingen jahrelange (letztlich gescheiterte) interfraktionelle Beratungen v o r aus, vgl. zur Vorgeschichte A.Krölls, K J 14 (1981), 255 (265 ff.); zu interfraktionellen Gesetzesinitiativen s. bereits oben bei Fn. 263 ff. 538 Anders möglicherweise bis Ende der 60iger Jahre: Bis dahin fiel die personelle Vorentscheidung i m Wahlmännergremium selber, so W. Billing , Richterwahl (Fn. 99), S. 176 f.; a. A. (Findungsausschuß bereits seit 1951) B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 149 i m Anschluß an D. P. Kommers, Judicial Politics i n West Germany, 1976, S. 121. 539 F A Z v. 30. 8.1983, S. 12. 540 Vgl. Der Spiegel Nr. 46/1978, S. 92 f. 641 Z u r relativen Bedeutungslosigkeit der v o m Bundesminister der Justiz geführten Listen nach § 8 B V e r f G G s. K . Kröger, F G B V e r f G I, S. 88 unter Bezug auf W. Billing, Richterwahl (Fn. 99), S. 155 f. 542 Beschrieben bei H. Herles, F A Z v. 8. 8.1984, S. 8. 843 K . Schiller, F G f. A . Möller, 1968, S. 66 (71). 544 s. etwa K.H.Biedenkopf, B B 1968, 1005 ff.; ferner C.Offe, i n : Stichworte 1 (Fn. 372), S. 303 f.

96

I I . Empirische Bestandsaufnahme

e) Öffentlichkeitsdistanz Der informale Verfassungsstaat steht i n einem spezifischen Spannungsverhältnis zur Öffentlichkeit der Verfassung 545 : Er weicht ihr gezielt aus. Es scheint gerade die Leistungsfähigkeit der parakonstitutionellen Gremien zu kennzeichnen, daß dort auf publikumswirksames Reden verzichtet wird, daß effizienter und diskreter verhandelt w i r d : Informale Prozesse gedeihen vor allem in der Sphäre der Vertraulichkeit, der gezielten Distanz zur Öffentlichkeit. Proporzüberlegungen sind regelmäßig m i t Personalentscheidungen verbunden und werden schon deshalb vor einer Veröffentlichung des Entscheidungsergebnisses vertraulich behandelt; eine öffentliche Kontrolle w i r d durch Unkenntnis der Alternative i m Regelfall wesentlich erschwert. Aber auch die informalen Kooperationsformen leben von Öffentlichkeitsdistanz, sei es bei der Entscheidungsfindung, sei es bei der Entscheidungsveröffentlichung54®. Nach solchen Maßstäben ist es eine „Verluderung der Sitten" 5 4 7 , wenn z. B. vertrauliche Absprachen über zukünftige Parteiproporzplanungen betr. Personalentscheidungen i n einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt in der breiten (Medien-)Öffentlichkeit diskutiert werden (und nicht die dabei zutagegetretenen zweifelhaften Auswahlkriterien). Die Wirksamkeit solcher Gremien lebt gerade von ihrer Vertraulichkeit und dem Vertrauen i n die gemeinsame Vertraulichkeit; der Gang i n die Öffentlichkeit erscheint dann eher als ein Krisensymptom für die Funktionsunfähigkeit eines Gremiums, zumal wenn es durch mögliche Kompetenzüberschreitungen „am Rande der Legalität" operiert. Mitunter sind die Vertraulichkeit garantierenden Verschwiegenheitspflichten ausdrücklich normiert 5 4 8 ; sie müssen erst recht gelten, wenn sich i n solchen Fällen informelle Vor-Entscheidungsgremien institutionalisiert haben. — Aber auch i n anderen, nicht normierten Fällen ist Nicht-Öffentlichkeit faktisch sehr bedeutsam: Man denke nur an interfraktionelle Absprachen i m Ältestenrat des Bundestages 549 oder Parteiabsprachen 550 . 545 Unverändert aktuell: P. Häberle, S t r u k t u r u n d F u n k t i o n der Öffentlichkeit i m demokratischen Staat (1970), i n : ders., Pluralismus (Fn. 192), S. 126 ff. 546 s. die K r i t i k am „rechtsstaatlich-konstitutionellen K u l t u r v e r f a l l " bei E.-W. Böckenförde, Organisationsgewalt (Fn. 137), S. 282, betr. die NichtVeröffentlichung regierungsinterner Organisationsregelungen; zu den Beratungsgremien B. Süllow, Repräsentation (Fn. 182), S. 96 ff. 547 So NRW-Ministerpräsident J. Rau zu der öffentlichen Personaldiskussion i m WDR i m Herbst 1983, zit. nach FR v. 16.12.1983, S. 4. Vgl. auch oben Fn. 496. 548 s. § 6 I V B V e r f G G (Verschwiegenheitspflicht des Wahlmännerausschusses).

4. Charakteristische Funktionsmerkmale informaler Verfassungsregeln 97 f) Vertrauen

als integratives

Element

der

Funktionselite

M i t d e r Ö f f e n t l i c h k e i t s d i s t a n z i n k l e i n e n , entscheidungsfähigen G r e m i e n h ä n g t zusammen, daß B e d i n g u n g f ü r das ( f u n k t i o n a l e ) V e r t r a u e n i n d i e V e r e i n b a r u n g s t r e u e des a n d e r e n (politischen P a r t n e r s u n d G e g ners) e i n M i n d e s t m a ß v o n p e r s o n a l e m V e r t r a u e n i n die Z u v e r l ä s s i g k e i t u n d G r a d l i n i g k e i t des V e r h a n d l u n g s p a r t n e r s i s t 5 5 1 . N u r i m K l i m a des Respekts f ü r die A n t r i e b s m o t i v e des anderen, l e t z t l i c h d e r Ü b e r z e u g u n g v o n e i n e m n i c h t n u r a m p r i v a t e n Eigeninteresse, s o n d e r n ethisch a m G e m e i n w o h l o r i e n t i e r t e n g e m e i n s a m e n F u n d a m e n t i s t es m ö g l i c h , m e h r als n u r k u r z l e b i g e „ K u n g e l e i e n " z u s t a n d e z u b r i n g e n . Soziologisch scheint sich i m B e r e i c h d e r p o l i t i s c h e n „ E l i t e n k u l t u r " (R. Putnam) eine A r t esprit de corps g e m e i n s a m e r G r u n d h a l t u n g e n h e r a u s g e b i l d e t z u h a b e n 5 6 2 . Das g i l t u m so m e h r , j e h o c h r a n g i g e r d e r K r e i s ist. E i n e feste i n f o r m a l e Vereinbarung der Parteivorsitzenden 553 dürfte n u r m i t einem kapitalen V e r t r a u e n s v e r l u s t f ü r d e n B e t r o f f e n e n z u re v i d i e r e n s e i n 5 5 4 ; die F o l g e n des Rückzugs d e r F D P aus d e m v o n d e n P a r t e i v o r s i t z e n d e n d e r R e g i e rungskoalition gebilligten P l a n einer Amnestie f ü r Steuerhinterzieher d u r c h P a r t e i s p e n d e n f ü r d e n F D P - V o r s i t z e n d e n H . - D . Genscher hat dieses e r n e u t d e u t l i c h g e m a c h t 5 5 5 . D e s h a l b b e d a r f es h i e r r e g e l m ä ß i g 549 H.-P.Schneider, i n : HandbVerfR (Fn. 69), S. 239 (267); s.a. H.-A.Roll t F G f. W. Blischke, 1982, S. 93, 102. 550 Die geradezu programmatisch öffentlichen Kooperations-Verhandlungen zwischen Hessens G r ü n e n - F r a k t i o n u n d Ministerpräsident H. Börner gerieten zu „Fenster"-Veranstaltungen; Entscheidungen, Kompromisse u n d V e r handlungsfortschritte ergaben sich i n den nicht-öffentlichen Verhandlungen der Unterkommissionen u n d Unter-Unterkommissionen, deren Unterschiede zu den öffentlichen Verhandlungen gerade zu öffentlicher U n k l a r h e i t über den Stand der Sachvereinbarungen geführt haben, vgl. B. E. Heptner, F A Z V. 2. 3.1984, S. 6. 551 So am Beispiel der Fraktionsgeschäftsführer R. Kabel, F G f. W. Blischke, 1982, S. 42 f.; ganz allg. N.Luhmann, Vertrauen (Fn. 494), S. 37 ff.; speziell zur Bedeutung informell-persönlicher K o n t a k t e : H.D.Jarass, Politik und Bürokratie, 1975, S. 117, 126 f. 552 D.Herzog, Führungsgruppen (Fn. 158), S. 97 f. m. N w . ; vgl. i m K o n t e x t des Proporzsystems auch G. Lehmbruch, Proporzdemokratie (Fn. 40), S. 28 ff. ; s. a. G. Wielinger, F G f. O. Weinberger, 1984, S. 212 f., 222. 553 s. die vorbereitenden Treffen bei Bundeskanzler H. Kohl (als CDU-Parteivorsitzendem), unter Ausschluß der Grünen, zur Frage der Parteienfinanzierung, F A Z v. 20. 5.1983, S. 1. 564 D a r i n gründet der (letztlich untaugliche Ablenkungs-)Versuch von Staatsminister J. Möllemann (z. B. F A Z v. 12. 5.1984, S. 1), die politische U n bedenklichkeit des geplanten Amnestiegesetzes 1984 aus anfangs billigenden Äußerungen des SPD-Parteivorsitzenden W. Brandt zum Plan einer entsprechenden Amnestieregelung i m Dezember 1981 abzuleiten, obwohl der damalige E n t w u r f am eindeutigen Widerstand des damaligen SPD-Justizministers J. Schmude u n d der SPD-Fraktion gescheitert war. 555 s. die K r i t i k der CSU, zit. nach F A Z v. 17. 5.1984, S. 2; ferner R. Zundel, DZ 21/1984, S. 1: „Das Ende der Ä r a Genscher" (lange vor dessen Rücktrittsankündigung). Der „ i n seiner Plötzlichkeit etwas Erschreckendes" anzeigende

7 Schulze-Fielitz

98

I I . Empirische Bestandsaufnahme

auch keiner formellen Abstimmungsprozeduren. Vielen informalen Entscheidungsregeln liegt ein gemeinsames „Einvernehmen" zugrunde. Es gibt (ζ. B. i n der Ministerpräsidentenkonferenz oder i m Ältestenrat des Bundestages 558 ) keine Mehrheitsentscheidungen bzw. -abstimmungen, sondern die Absprachen werden gemeinsam „getragen", wenn auch m i t unter wohl nur i n der Weise, daß ihnen nicht widersprochen wird, weil abweichende Vorbehalte von keinem Beteiligten geäußert werden. Die Gruppendynamik i n solchen Gremien dürfte ein wesentlicher Faktor bei Kompromißfindungsprozessen sein. — Kehrseite dieses personalen und funktionalen Vertrauens ist die gemeinsame Wahrung vereinbarter oder üblicher Vertraulichkeit, die regelmäßig auch nicht um kurzfristiger Wahlvorteile w i l l e n aufs Spiel gesetzt wird 5 5 7 .

„Abgang des FDP-Vorsitzenden" (FAZ v. 19. 7.1984, S. 1) hatte hier seinen entscheidenden Anlaß. 556 R. Kabel, F G f. W. Blischke, 1982, S. 32. 657 Vgl. M . Kriele, W D S t R L 29 (1971), 73 als Bsp. f ü r eine demokratische Konventionairegei. — So erregte es i n Hessen auch öffentliches Aufsehen, als W. Wallmann als C D U - K a n d i d a t für das A m t des Ministerpräsidenten abfällige Äußerungen von Ministerpräsident H. Börner (SPD) über die Grünen i n privat-vertraulichem Kreise öffentlich machte.

I I I . Anläufe zu einer Theorie und Dogmatil· des informalen Verfaseungsstaatee 1. Ergänzung des Staatsorganisationsrechts Die Existenz informaler Verfassungsregeln indiziert Bedarf nach ihnen: Offenbar sind sie zumindest zweckmäßig, wenn nicht geradezu notwendig. W i l l man sich nicht m i t der erwähnten organisationswissenschaftlichen Einsicht begnügen, daß formale Regeln für ihre Realisierung stets auch informale Normen benötigen 558 , so sind die spezifischen Leistungen und Eigenarten informaler Verfassungsregeln zu erfragen. Gemeinsam ist ihnen, daß sie geschriebenes (Verfassungs-)Recht ergänzen, auf das h i n sie — wie alles ungeschriebene Verfassungsrecht und die Verfassungspraxis — ausgerichtet sind 559 . Es fällt auf, daß die hier gemeinten informalen Verfassungsregeln — ähnlich wie (Verfassungs-)Gewohnheitsrecht 500 — sich offenbar vor allem 561

im Staatsorganisationsrecht

herausbilden, also bei prozeduralen

Regeln der Entscheidungsfindung und staatlichen Herrschaftsausübung. Dabei scheint sich der Umstand, daß das GG den inneren Willensbildungsprozeß der einzelnen Funktionsträger der Staatsgewalt nicht selber reglementiert, als eine Quelle informaler Verfassungsregeln zu 558

s. o. bei Fn. 9 ff. Deshalb dürfte die Existenz informaler Verfassungsregeln f ü r alle Verfassungsstaaten nachzuweisen sein, freilich spezifisch j e weils den Rechtsregeln u n d dem Verfassungstyp angepaßt. Die weiteren Ausführungen beanspruchen aber Geltung n u r f ü r die Verfassung des G r u n d gesetzes. ess v g l auch K. Eichenberger (1974), i n : ders., Der Staat der Gegenwart, 1980, S. 332 (333, Fn. 4). 560

C. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht

(Fn. 2), S. 80;

P.Häberle

(1974), i n : ders., Verfassung (Fn. 1), S. 99 f. — E i n zentraler G r u n d für die Distanz der Grundrechte zum Gewohnheitsrecht dürften die praktischen Folgen von A r t . 1 I I I , 19 I V GG sein, die ζ. B. zur „Verrechtlichung" der einst informalen besonderen Gewaltverhältnisse geführt haben. 561 Auch i m Bereich der Grundrechte w i r k e n (schwächer) informale Regeln u n d Voraussetzungen. I m Bereich faktisch fehlender gerichtlicher K o n trolltätigkeit ζ. B. können sich auch Grundrechte informal verschieben (man denke an A r t . 5, 8 oder 9 GG). Ohne die Regel-Voraussetzung, von dem Recht aus A r t . 19 I V GG nicht „exzessiv" (querulatorisch?) Gebrauch zu machen, würde die Justiz zusammenbrechen. Anders als bei den positiven Ergänzungsregeln zum Staatsorganisationsrecht formulieren informale Regeln beim Grundrechtsgebrauch die Normalität aber eher negativ i. S. eines Ausschlusses von Extremumständen. 7*

100

I I I . Theorie u n d Dogmatik des informalen Verfassungsstaates

erweisen 562 : Diese ergänzen hier das Willensbildungsverfahren, soweit es rechtlich nicht geregelt ist; sie ersetzen es sogar, wenn eine Regelung völlig fehlt (namentlich i m Bereich bundesstaatlicher Zusammenarbeit). Solche Selbstbescheidung des Verfassungsrechts ist Ausdruck seines notwendig fragmentarischen und nur grundsätzliche Fragen regelnden Charakters. Informale Regelbildung stabilisiert die Verfassung als Verfahrensordnung und entlastet von der Unsicherheit bei der Entscheidungsfindung. Als gemeinsamer Bezugspunkt informaler Verfassungsregeln entpuppt sich insoweit die „Vorformung des politischen Willens" 5™ nicht nur des parlamentarischen Gesetzgebers, sondern aller Verfassungsorgane, deren Entscheidungen (auch) nach (partei-)politischen Kriterien nach Diskussion (Beratung) getroffen werden (können). Der damit begrifflich erfaßte (Parteien und Verbände, letztlich den gesamten öffentlichen Willensbildungsprozeß und die Verfassungswirklichkeit umfassende) Bereich unablässiger Auseinandersetzung zwischen kompetenten Staatsorganen w i r d durch informale Verfassungsregeln strukturiert: Eben diese regeln als Hilfsregeln für Rechtsregeln die Prozesse der „Vorformung" von (insoweit politischen) Entscheidungen und schaffen relative Erwartungssicherheit, leisten Entscheidungshilfe. Die Dominanz solcher staatsorganisatorischen Regeln erklärt indessen noch nicht ihren spezifisch informalen Charakter, denn andere Regeln des intra- oder interverfassungsorganschaftlichen Willensbildungsprozesses sind j a durchaus rechtlich (vor allem i n Geschäftsordnungen) geregelt. Insoweit ist nach spezifischen Leistungen gerade informaler Regeln zu fragen. 2. Spezifische Leistungen informaler Verfassungsregeln a) Flexibilität

und Elastizität

der Regelbindung

Die spezifischen Leistungen informaler Verfassungsregeln erschließen sich bei einer näheren Betrachtung einiger charakteristischer Funktionen auf einer Zwischenebene der „Verregelung" zwischen verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Normen 5 6 4 . Herausragendes Merkmal informaler Verfassungsregeln, gerade i m Unterschied zu rechtlichen 582

s. W. Kewenig, AöR 90 (1965), 182. Vgl. grdl. U. Scheuner (1957), i n : ders., Schriften zum Staatskirchenrecht, 1973, S. 411 (415 ff.), freilich begrenzt auf das W i r k e n der politischsozialen Verbände „zwischen" Staatsorganen u n d V o l k ; aufgenommen von BVerfGE 8, 104 (113); 20, 56 (98); heute „communis opinio", so P.Häberle, Z e v K R 26 (1981), 105 (117) m. w . N w . 564 Vgl. auch V. Ronge, in: R . V o i g t (Hg.), Abschied (Fn. 25), S. 278 (283 ff.). 663

.

eiische

i s e

informaler

Verfassungsregeln101

Normen, ist ihre hohe Flexibilität und Elastizität i n Korrespondenz zur Verfassung des politischen Prozesses. Die politische Verbindlichkeit und Sanktionierung informaler Verfassungsregeln ist den spezifischen Bedürfnissen des politischen Bereichs angepaßt, weil ihre abgestuften politischen Sanktionen (ζ. B. öffentliche oder innerparteiliche 565 K r i t i k ; persönliches Mißtrauen; Abwahl; letztendlich Regierungswechsel u. ä.) praxisnäher sind als das aufgrund seiner juristischen Rigidität leichter zerbrechliche (Vertrags-)Recht 5ee . Informale Verfassungsregeln indizieren deshalb keine Vermutung unzureichender Rechtsregeln, obwohl auch das ein Entstehungsgrund sein kann; eher sprechen sie für einen bereichsspezifisch zweckmäßigen, nämlich äquifunktionalen Ersatz für Rechtsregeln, weil rechtliche Verbindlichkeit (d. h. tendenziell: Durchsetzbarkeit durch andere auch gegen den eigenen Willen) inadäquat erschiene. Informale Verfassungsregeln können so nämlich „aus wichtigem Grunde" ohne politischen Schaden (vor allem einvernehmlich) sanktionslos durchbrochen oder ad hoc modifiziert werden, ohne daß es langwieriger rechtlicher formeller Veränderungsprozesse bedürfte 567 . Für informale Regeln gilt eher als i m Recht die clausula rebus sie stantibus 568 . Nicht nur die aktuellen Regeln der Ministerverantwortlichkeit können ζ. B. durch ständige Infragestellung, Überprüfung und Rechtfertigung immer wieder erneuert werden 5 6 9 , sondern ζ. B. auch interfraktionelle Redezeitvereinbarungen (ζ. B. durch das verfassungsrechtliche Rederecht abweichender fraktionsloser Abgeordneter 570 ) können so schnell bei gewichtigen Gründen einer neuen politischen Situation angepaßt werden. Gerade für das Parlamentsrecht gilt, daß die parlamentarische Autonomie keinen rechtlichen Zwang verträgt, Organisation, Geschäftsgang und Disziplin zu kodifizieren 571 . Als Beispiel seien 565 Beispiel: W e i l er seit der letzten Kabinettsumbildung kein weibliches M i t g l i e d i n seine Regierung aufnahm (vgl. oben Fn. 138), erzielte Ministerpräsident J. Rau als stv. SPD-Bundesvorsitzender auf dem folgenden SPDBundesparteitag durch ein gezieltes Abstimmungsverhalten weiblicher Delegierter ein (psychologisch durchaus relevantes) deutlich schlechteres W a h l ergebnis als die anderen Präsidiumsmitglieder, vgl. E. Kohrs, Bonner G A v. 21. 5.1984, S. 2. 566 So W. Kewenig, AöR 90 (1965), 189, bezogen auf Koalitionsvereinbarungen; C. Jülich, FS f. H. U. Scupin, 1983, S. 755 (768, betr. Vereinbarungen der Fachminister); K.-U. Meyn, Verfassungskonventionalregeln (Fn. 35), S. 166 (betr. Verfassungskonventionalregeln); zu Sanktionen i n England ebd. S. 168 ff. 567 Z u „good reasons" als Durchbrechungsgründen für Verfassungskonventionalregeln: K.-TJ.Meyn, Verfassungskonventionalregeln (Fn. 35), S. 124 ff. 568 Vgl. K . Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 987 (betr. Koalitionsvereinbarungen). 589 So K.Kröger, Ministerverantwortlichkeit (Fn. 401), S. 24; s.a. G. Wielinger, F G f. O. Weinberger, 1984, S. 217. 570 s. P. Scholz, F G f. W. Blischke, 1982, S. 81 ff.

1 0 2 I I I . Theorie u n d Dogmatik des informalen Verfassungsstaates

die Verhaltensregeln für Bundestagsabgeordnete erwähnt: Sie sind als Anlage 1 zur GO-BT ergangen und weder Gesetzes-, Geschäftsordnungsoder Rechtsverordnungsrecht, sollen aber doch (durch einfache Bundestagsbeschlüsse änderbares) „parlamentarisches Innenrecht" sein 572 , obwohl eine Verletzung des Verhaltenskodex nur zu einer spezifischen Sanktion des Bundestagspräsidiums, nämlich einer öffentlichen Stellungnahme führt. Gerade weil sie flexibel und leicht änderbar sein sollen 573 , formulieren diese Verhaltensvorschriften vielmehr informale Regeln, ohne daß es der Konstruktion eines neuen Rechtsquellentyps bedarf; Recht mögen sie später einmal werden (durch Gewohnheit oder Aufnahme i n die GO-BT). Einzige Besonderheit: Diese informalen Regeln sind ausnahmsweise geschriebene Regeln. Gewiß gilt: Je seltener solche informalen Regeln durchbrochen werden, desto eher wirken sie i n der Praxis „wie Recht" 5 7 4 . Es wäre indessen ein Fehler, informale Regeln stets nur als tendenzielle, werdende, potentielle Verfassungskonventionalregeln oder -rechtsregeln anzusehen; sie formulieren vielmehr oft gerade spezifische politikangemessene Verbindlichkeitsformen: Die Einhaltung von Koalitionsvereinbarungen ζ. B. läßt sich weder vor Gericht erstreiten noch unter Berufung auf Recht nicht-gerichtlich durchsetzen; Personalproporzüberlegungen lassen sich ohne Schaden für eine angemessene Personalauswahl nicht in dauerhaften Rechtsnormen festschreiben; bestimmte Vereinbarungen der Minister (-Präsidenten) würden nicht geschlossen werden können bei umständlichen rechtlichen Verfahrenszwängen. Eine rechtliche Institutionalisierung informaler Formen der Zusammenarbeit könnte zu Streitigkeiten und Effektivitätsverlusten führen. b) Frühwarnfunktion Gerade die größere Leichtigkeit von Regelmodifizierungen impliziert zugleich eine Frühwarnfunktion: „Unterirdische" Veränderungen i m Verfassungsstaat werden bei Androhung oder Vollzug einer Änderung informaler Regeln schneller angezeigt 575 . Schon Überlegungen zur A b schaffung des Einstimmigkeitsprinzips der Länderministerpräsidenten57 1 M. Schröder, Grundlagen u n d Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, S. 315. 572 So zuletzt H.-A. Roll, ZRP 1984, 11, unter Hinweis auf M. Bullinger, Die Selbstermächtigung zum Erlaß von Rechtsvorschriften, 1959, S. 19; s. schon oben bei Fn. 391. 67 3 H.-A. Roll, ZRP 1984, 11. 574 s. H.-A. Roll, F G f. W. Blischke, 1982, S. 95, betr. interfraktionelle V e r einbarungen; L. Wildhaber, ZSchwR 941 (1975), 113 (114 f.) schreibt Koalitionsabsprachen „ f u n k t i o n e l l Rechtssetzungscharakter" zu. 575 Vgl. Hans Schneider, FS f. R. Smend, 1952, S. 308, 318. — s. als ein Bsp. für eine verfehlte I n i t i a t i v e als Krisensymptom i n u n d bei Fn. 240.

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eiische

i s e

informaler

Verfassungsregeln103

konferenz 578 oder der informale Ausschluß der Grünen i m Bundestag von bestimmten Gremien 5 7 7 oder auch nur gehäufte, nicht bloß w i l l kürliche Mißbilligungsanträge der Opposition gegen einzelne Minister signalisieren tiefergehende soziale, politische, wirtschaftliche oder k u l turelle Konflikte u m den verfassungs(verfahrens)rechtlichen Grundkonsens. Schon der Verzicht auf einen gemeinsamen Gesetzentwurf m i t der SPD über die Neuregelung der Parteienfinanzierung 578 k ü n digte, ex post gesehen, den Vertrauensbruch durch die einseitige geplante Amnestie gegen das Votum der SPD an 5 7 9 . Bereits i n geringfügigen Proporzveränderungen dürften sich Machtverschiebungen i m Verfassungsstaat seismographisch sensibel niederschlagen, auch ohne daß es (schon) zu einem Regierungswechsel aufgrund von Wahlen gekommen wäre: Diesem gehen Verschiebungen i m Rahmen informaler Regeln voraus, ζ. B. bei der Besetzung von leitenden Rundfunkpositionen, bei der Kompromißbildung i n der informalen Zusammenarbeit, bei der Rücksichtnahme auf die Opposition i n der Außenpolitik. U m als konkretes Beispiel die Besetzung der EG-Kommission zu nennen 580 : Die erstmalige Einbeziehung der Opposition 1981 signalisierte möglicherweise auch schon eine „Schwäche" der damaligen Regierungskoalition, eine schnelle Abkehr von jener Regel i m Jahre 1984 wäre Ausdruck eines atmosphärisch sehr stabilen Mehrheits- oder Selbstbewußtseins der derzeitigen Regierungsmehrheit 581 . Derartige Verschiebungen und Veränderungen i m Gefüge informaler Regeln zeigen besonders deutlich die Verfassung als Prozeß. c) Feld der Erprobung Die Informalität hat deshalb auch die spezifische Funktion, Regeln i n Schritten von „trial and error" zu testen. Gerade die Flexibilität ermöglicht Versuche zur Regelbegründung (mitunter durch ein erstes tatsächliches Verhalten) und einen Test ihrer Bewährung ohne die aufwendigeren Verfahren der Gesetzgebung oder Verfassungsänderung. Die für ihren Bestand und Bewährung erforderliche Entfaltung und Fortbildung der Verfassung entsprechend dem Wandel der Verhältnisse 582 findet i n informalen Verfassungsregeln ein Vor-Feld der Erprobung. 576

s. o. bei Fn. 507 u n d FR v. 19,12.1983, S. 16. s. o. bei Fn. 56, 471. 578 s. o. Fn. 272. 579 s. näher unten bei Fn. 692 ff. 580 s. o. bei Fn. 340. 581 Wahrscheinlich ist dieser europäische Proporz aber eine bloße, konsequente „Verlängerung" der außenpolitischen Zusammenarbeit (s.o. bei Fn. 336 ff.) i n europäische Gremien hinein. 581 s. u. a. W. Kewenig, AöR 93 (1968), 482, i m Anschluß an U. Scheuner. 577

1 0 4 I I I . Theorie u n d Dogmatik des informalen Verfassungsstaates

Gerade bei der Konkretisierung hochabstrakt formulierter Verfassungs(grund)sätze spielt die Bewährung i m Bereich des Informalen eine wesentliche Rolle. Die denkbare Einseitigkeit von Regeln, die durch schrittweise Konkretisierung von Einzelbeispielen (kasuistisch) gewonnen werden, bleibt so korrigierbar; Prinzipien entwickeln sich schrittweise. Die Rechtsgrundsätze gegenseitiger „Verfassungsorgantreue" lassen sich deshalb nur schwierig von Fragen des politischen Stils abgrenzen 583 , weil sie eben nicht sofort existieren, sondern Ergebnisse von praktisch erprobten und bewährten (informalen) Verfassungsregeln sind, die einmal als ungeschriebenes Recht angesehen werden mögen. Auch die informalen Regeln bundesstaatlicher Kooperation etwa sind spezifische Formen, i n denen sich die bundesstaatliche Rechtsordnung den gewandelten Anforderungen an die Staatlichkeit angepaßt hat und anpaßt; die inhaltliche Konkretisierung des heute allseits anerkannten Verfassungsgrundsatzes der Bundestreue 584 i m meist umstrittenen und offenen Detail vollzieht sich vorzugsweise i m Bereich informaler, leichter revidierbarer Regeln gegenseitiger Rücksichtnahme, die erst bei klarer Bewährung verfassungsrechtliche Weihe durch Staatspraxis und BVerfG erhalten. So erscheint es undenkbar, daß die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den Entwurf des Flurbereinigungsabkommens bei einer etwaigen Inkraftsetzung noch durchgreifen könnten, nachdem er fast 2 Jahrzehnte quasirechtliche Richtschnur für die Kompetenzabgrenzung war und sich bewährt hat. Allgemein gilt: Informale Verfassungsregeln charakterisieren Ob und Wo der Flexibilität einer Verfassung; sie zeigen zugleich Grenzen einer (Verfassungs-)Verrechtlichung. d) „Einbruchsteilen"

der Verfassungsmoral

Informale Regeln sind schließlich „Eiribruchstellen" für (sozial- oder individual-)ethische Moralvorstellungen, die den Verfassungsstaat bereichern können. Das kann sogar vielleicht einmal i n Form von dauerhaftem, unbezweifeltem Verfassungsrecht geschehen — dann aber nicht ohne vorherige Bewährung i m informalen Verfassungsstaat. Moralische Standards erfahren hier ihre Prüfung, ehe sie zum ius cogens verallgemeinert werden. — I m Regelfall stützen informale Regeln der Verfassungsmoral das Verfassungsrecht nur ab. Sie konkretisieren ζ. B., wann Minister politisch untragbar sind, bestimmen den Umgang von Konfliktparteien oder -ländern miteinander, rechtfertigen (Partei-) Proporzregeln und definieren damit zugleich auch illegale Formen der 683 v g i # w.-R. Schenke, Verfassungsorgantreue (Fn. 226), S. 34 f., 36 f. 584 BVerfGE 1, 299 (311, 315); 4, 115 (140, 141 f.); 13, 54 (75); zuletzt zsfssd. K.Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 699 ff.; A.Dittmann, Bundesverwaltung (Fn. 164), S. 103 f.

3. Sachlich-normative Schwerpunkte

105

Ämterpatronage, legen Grund für das personale Vertrauen der führenden Politiker untereinander. Primär informale Regeln verzahnen Recht, Moral und Politik. 3. Sachlich-normative Schwerpunkte des informalen Verfassungsstaates Die besondere Eigenart informaler Verfassungsregeln erklärt noch nicht, ob und i n welchen besonderen normativen Sachbereichen sie sich entwickeln. I n gewisser Weise sind informale Regeln notwendigerweise ubiquitär 5 8 5 ; aber ihr unterschiedliches sachliches Gewicht für den Verfassungsstaat drängt zu theoretischer Differenzierung. Die allgemeine Einsicht, daß nach den Gesetzmäßigkeiten der „law in (public) action" (J. Esser) informale Regeln primär verfassungsrechtliche Regelungsdefizite anzeigen, legt für die hier behandelten informalen Regeln bestimmte Erklärungen nahe58®. Als generelle Hypothese drängt sich die Inkongruenz von geschriebenem Verfassungsrecht und den Eigengesetzlichkeiten der Entwicklung der parteienstaatlichen parlamentarischen Demokratie auf. a) Die Dynamik des Parteienstaates Die Bundesrepublik Deutschland ist ein „Parteienstaat" i n dem Sinne, daß die M i t w i r k u n g der politischen Parteien an der Willensbildung des Volkes und die Existenz von mehreren Parteien zu den Grundmerkmalen des grundgesetzlichen Verfassungsstaates gehören. Die faktische Bedeutung der politischen Parteien ist als Ausfluß einer parteienstaatlichen Eigendynamik bei den Regeln der Verteilung politischer Macht ständig gewachsen 587 . Politisch-psychologisch konnten sie nach 1945 eine dominierende Machtfunktion auf- und ausbauen, bevor andere (vor 1945 diskreditierte) Führungseliten (Ministerialbürokratie, Wissenschaft, Militär) an Bedeutung gewannen 588 . Rechtlich hat die Rechtsprechung des BVerfG unter Berufung auf Art. 21 GG und unter dem dominierenden Einfluß der (theoretisch durchaus umstrittenen 5 8 9 ) Parteienstaatslehre von G. Leibholz 590 den politischen Parteien großes Gewicht beige585

Vgl. oben bei Fn. 9 ff. Dies gilt ungeachtet der nicht zu verkennenden Gefahr eines Zirkels durch ein selektives Vorverständnis bei der Bestandsaufnahme der informalen Verfassungsregeln. 587 s. ausf. H. Trautmann, Demokratie (Fn. 64), S. 36 ff. 588 D. Herzog, Führungsgruppen (Fn. 158), S. 71 f. 589 Zsfssd. K r i t i k bei P.Haungs, Z P a r l 4 (1973), 502 ff.; H. Trautmann, Demokratie (Fn. 64), S. 28 ff.; G.Schmid , Politische Parteien, Verfassung und Gesetz, 1981, S. 28 ff. 590 Z u i h r G. Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967, S. 78 ff., 112 ff.; zsfssd. W. Röhrich, N J W 1981, 2674 ff. 588

1 0 6 I I I .

Theorie u n d Dogmatik des informalen Verfassungsstaates

messen 591 und deren tatsächliches Bedeutungswachstum gefördert. Informale Verfassungsregeln sind der unmittelbare, nicht-rechtliche Reflex dieser verfassungsrechtlich heute vielleicht nicht (mehr) ausreichend gesteuerten Entwicklung, und zwar nicht nur i m (offenkundigen) Fall der Parteiproporzregeln. Auch die Koalitions- und Parteivereinbarungen oder die Regeln parlamentarischer und außenpolitischer Zusammenarbeit sind unmittelbare Folgen des faktischen Monopols der politischen Parteien bei der Besetzung der höchsten Staatsämter und ihrem Einfluß auch auf die inhaltliche Gestaltung der (politischen und rechtlichen) Entscheidungen vieler Verfassungsorgane (vor allem Bundestag, Bundesregierung, Bundesrat). Viele informale Regeln suchen der verfassungsrechtlich nur generalklauselhaft gesteuerten Machtausübung durch die Parteien unmittelbar zu steuern. b) Fortentwicklung

der Gewaltenteilung

Aber auch mittelbar gelten informale Verfassungsregeln den Folgen parteienstaatlicher Dynamik, insofern sie i n einem spezifischen Zusammenhang mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung 5 9 2 stehen und seinen „zeitlosen", aber ebenfalls durch die Gesetzmäßigkeiten des Parteienstaates neu gestellten Aufgaben: neben dem Freiheitsschutz vor allem die institutionelle Einbindung der sozialen und politischen Kräfte und eine arbeitsteilige, funktionsgerechte und verantwortungsklare Konstituierung, Zuordnung und Balancierung der Gewalten 595 . Die doppelte Aufgabe der Gewaltentrennung und Gewaltenverknüpfung m findet sich auch auf informaler Ebene wieder i n den Elementen der Inkompatibilität und abgrenzender Kompetenzbewahrung einerseits, Elementen gemeinsamer Teilhabe und Kooperation andererseits. Zu einem kleinen Teil ergänzen sich (einerseits) die Verhaltensregeln zwischen den verfassungsrechtlichen Organen als Trägern staatlicher Gewalt; i n diesem „traditionellen" Bereich können auch am ehesten Konventionalregeln zu Verfassungs(gewohnheits)recht erstarken. So läßt sich die Zusammenarbeit von Mehrheitsparteien und Opposition bzw. Regierung Und Parlament (Auswärtiger Ausschuß) auch als Aus591

s. z.B. BVerfGE 2, 1 (73); 4, 27 (30); 5, 85 (134); 6, 367 (372, 375); 11, 239 (241); 20, 56 (100). 592 Trotz berechtigter B e g r i f f s k r i t i k (vgl. z.B. N. Achterberg, Funktionenlehre [Fn. 385], S. 109 ff.; U. Lange, Der Staat 19 [1980], 213 ff.) soll hier dem eingebürgerten Sprachgebrauch gefolgt werden; zsfssd. zum herrschenden Verständnis K . Hesse, Grundzüge (Fn. 205), § 13 I, Rdn. 476 ff. 593 s. K.Hesse, Grundzüge (Fn.205), § 13 I I , Rdn.484ff.; B. Schlink, Die Amtshilfe, 1982, S. 17; U. Lange, Der Staat 19 (1980), 234; F. Ossenbühl, D Ö V 1980, 546 (547). 594 H. D. Jarass, P o l i t i k (Fn. 551), S. 3 f.

3. Sachlich-normative Schwerpunkte

107

druck dessen erklären, daß Abschluß und Ratifikation langfristiger völkerrechtlicher Verträge durch das Parlament auch nachfolgende Parlamente irreversibel binden kann 5 9 5 . Wichtiger ist der zweite Bereich: Informale Verfassungsregeln entwickeln sich gerade dort, wo das klassische formale (Drei-)Gewaltenteilungsschema endet und i. S. eines alternativen, ergänzenden Gewaltenteilungsverständnisses neue Antworten auf neue Probleme gefunden werden müssen59®. Informale Verfassungsregeln sind ζ. T. erste regelhafte Antworten auf solche Fragen. (aa) Das gilt offenkundig für die korrigierenden Antworten auf Problemv er Schiebungen durch das parlamentarische Regierungssystem, in dem bekanntlich nicht mehr (nur 5 9 7 ) Parlament und Regierung einander, sondern (auch) Regierung und Parlamentsmehrheit (Mehrheitskoalition) auf der einen Seite der Opposition als Parlamentsminderheit gegenüberstehen 598 . Proporzregeln 599 , Koalitionsvereinbarungen, parlamentarische Kooperationsformen und neue Formen der Machtbalancierung wie ζ. B. die Besetzungsregel für den Haushaltsausschußvorsitz oder auch die Einbeziehung der Oppositionspolitiker bei gesamtstaatlicher Interessenvertretung nach außen zielen auf Zuordnung und Balance der neuen Macht-Gewichte® 00. Die Herrschaftskontrolle verlagert sich ζ. T. i n das Parteiensystem: „Die konkurrierenden Parteien bewachen sich gegenseitig"®01. (bb) Die Fortentwicklung des Gewaltenteilungsgedankens gilt aber noch i n einem weiteren Sinne. Speziell Proporzregeln, die parteipolitischer oder gruppenpluraler Ausgewogenheit gelten, erweitern den Gedanken staatlicher Gewaltenteilung und -balance über den engeren 595

Herb. Krüger, Staatslehre (Fn. 37), S. 580. s. den Überblick bei G. Zimmer, F u n k t i o n — Kompetenz — Legitimation, 1979, S. 19 ff.; B.Sinemus, Gewaltenteilung (Fn. 375), S. 52 ff. 597 Sehr starke Betonung aber bei SV Rottmann, BVerfGE 44, 181 ff.; k r i t . P. Häberle (1977), i n : ders., Verfassung (Fn. 1), S. 526 (536). 598 s. n u r H. Trautmann, Demokratie (Fn. 64), S. 58 ff.; H.Meyer, WDStRL 33 (1975), 81, 85 ff. u.ö.; K.Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 1032 ff. 599 Gerade erst eine Proporz-Politisierung der Ministerialbürokratie v e r hindert sowohl ein einseitiges Unterlaufen der Gewaltenteilung durch die Parteipolitisierung als auch die Wahrnehmung politischer G u b e r n a t i v - A u f gaben durch f i k t i v neutral-unpolitische Beamtenspitzen; anders etwa K . Seemann, Die V e r w a l t u n g 14 (1981), 133 f., dessen Argumente sich letztlich gegen „politische Beamte" überhaupt auswirken, und H. Ridder, i n : A K - G G I I (Fn. 52), A r t . 33/Rdn. 58, der die prinzipiell unbegrenzte E n t - u n d U m amtung politischer Beamter als Konsequenz eines funktionsfähigen parlamentarischen Regierungssystems ansieht. 600 s. auch P.Häberle (1977), i n : ders., Verfassung (Fn. 1), S. 540 zur „ ( i n formellen) Gewaltenteilung zwischen Regierung (und) Opposition". 601 D. Grimm, i n : HandbVerfR (Fn. 69), S. 370. 596

1 0 8 I I I . Theorie u n d Dogmatik des informalen Verfassungsstaates

staatsorganisatorischen Bereich hinaus* 02. Gerade weil das GG i n seiner parteienstaatlichen Wirklichkeit einer strengen Trennung von staatlichem Staat und Gesellschaft eine Absage erteilt hat und die Staatsgewalt als öffentliche Gewalt auf mannigfache Weise dem Einfluß nichtstaatlicher, gesellschaftlicher Gremien und Gruppen geöffnet hat 6 0 3 , sind Parteienproporz und gruppenplurale Ausgewogenheit kompensatorische Balanceelemente, die (zu) einseitige Entscheidungen verhindern, Machtbalancierungen auch i m nicht-staatlichen, öffentlichen Bereich organisieren sollen. Informale Regeln antworten auf Strukturfragen der Verfassung des Pluralismus; noch die bundesstaatlichen Kooperationsformen sind Ausdruck dieser „neuen" Gewaltenteilung 6 0 4 . Informale Verfassungsregeln sind m i t h i n spezifische Garanten des staatlichen und gesellschaftlichen Pluralismus und der Ausbalancierung und Zusammenführung seiner Kräfte 6 0 5 . c) Krisensymptome

klassisch-liberaler

Trennungsdogmatik

Eng mit der verfassungstheoretischen Ergänzung des traditionellen Gewaltenteilungsschemas hängt die Einsicht zusammen, daß auch traditionelle staatsrechtliche bzw. verfassungstheoretische Differenzierungen unscharf geworden sind. Das Modell von Gesetzgebung und (bloßer) „Anwendung" dieser Gesetze ist hinfällig, Staat und Gesellschaft sind mannigfach verschränkt, Politik und Recht, Politik und Wissenschaft 606 und K u l t u r kaum noch umstandslos abgrenzbar, Landes- und Bundesautonomie durch faktische und rechtliche Unitarisierung relativiert, die Einheit der Staatsgewalt vielfältig pluralisiert, kurz: Die analytischen Dichotomien und Reinheitsgebote der Systematik des liberalen Staatsrechts sind m i t der heutigen verfassungsstaatlichen Wirklichkeit nur sehr vermittelt zu vereinbaren 607 . 602 Anders (krit.) G. Winkler, Der Staat 6 (1967), 293 (317 ff.), der (für die Zeit von Österreichs Großer Koalition) die konstitutionelle Gewaltenteilung „überlagert" u n d ihren „Schwerpunkt außerhalb der Verfassung" (S. 322) sieht. 803 s. n u r H. Ehmke (1960), i n : ders., Beiträge zur Verfassungstheorie u n d Verfassungspolitik, 1981, S. 300 (317 ff.); H. Trautmann, Demokratie (Fn. 64), S. 55; k r i t . W. Weber (1959), i n : ders., Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 152 (160ff.); C.Heinze, Der Staate (1967), 433 ff. (am Beispiel des Sachverständigenrates). 604 Grdl. K.Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 20f.; s. aber auch G. Lehmbruch, Parteienwettbewerb (Fn. 296), S. 170 ff. 605 Z u m pluralistischen GewaltenteilungsVerständnis allg. s. P. Häberle (1970), i n : ders., Pluralismus (Fn. 192), S. 126 (137 ff.) zur Rolle der Öffentlichkeit; ders., Verfassung (Fn. 1), S. 476 f.; B.Sinemus, Gewaltenteilung (Fn. 375), S. 87 ff. βοβ s. zu Sachverständigengremien als „institutionalisierter Rechtspolitik": W. Schmitt Glaeser, AöR 107 (1982), 344. 607 s. a. R. Pf äff, Planungsrechtsprechung u n d ihre Funktionen, 1980, S. 21 ff.

4. Geltungsgründe informaler Verfassungsregeln

10Ô

Die Besonderheit informaler Verfassungsregeln scheint nun darin zu liegen, daß sie jene theoretischen Krisensymptome des „Verfließens" von „Systemgrenzen"® 08 praktisch beantworten wollen. Proporzregeln steuern die (begrenzt für unvermeidlich anzusehende bzw. angesehene) Politisierung von Rechtsprechung und Verwaltung, von Wissenschaft und K u l t u r , erst recht der Wirtschaft; sie sind nur Konsequenz einer Verfassung des Pluralismus. Inkompatibilitäten versuchen, solche unvermeidlichen Überschneidungen in Form von Rollenkonflikten i n einer Person zu verhindern (man ist ζ. B. entweder Parteipolitiker oder Verfassungsrichter, Minister oder Unternehmer); Kooperationsformen zwischen den Ländern und dem Bund (auch: zwischen Parteien) folgen dem Zwang zur Gemeinsamkeit; die korporatistische Zusammenarbeit folgt der Verschränkung von Staat und Gesellschaft® 09. Informale Verfassungsregeln schaffen m i t h i n nicht einfach (parakonstitutionell) Verfassungsrechtsprobleme, sondern sie sind zunächst einmal reagierende Problemlösungsversuche für reale Verfassungsentwicklung sprobleme. Gerade weil ζ. B. Richter nicht nach politischen Kriterien ausgewählt werden, obwohl sie „politisch" Richter recht setzen®10, werden informale Proporz-Regeln auf sie angewendet®11 (und sind wahrscheinlich auch angemessener). — N u r wer die genannten Entwicklungsprobleme um den Preis erheblicher Distanz zur Verfassungsrealität zugunsten geschlossener, ebenso klarer wie schlichter traditioneller Schemata leugnet, w i r d informale Verfassungsregeln i n den Vorhof des rechtlich Irrelevanten oder Pathologischen abstellen können. 4. Geltungsgründe informaler Verfassungsregeln Der Regelungsbedarf als solcher vermag noch nicht die Geltungskraft informaler Verfassungsregeln erklären. Obwohl kein Recht, entfalten diese Regeln doch eine — gewiß: je differenziert abgestufte — insgesamt große und kontinuierliche Verbindlichkeit. Der tiefere Grund solcher Bindungskraft erscheint erklärungsbedürftig, ohne daß man sich damit begnügen darf, informale Verfassungsregeln als ungeschriebene Verfassung dem (sei es geschriebenen, sei es ungeschriebenen) Verfassungsrecht gegenüberzustellen® 12 und die allgemeinen Gründe für Existenz eoe vgl. die systemtheoretischen Anleihen bei B.Schlink, Amtshilfe (Fn. 593), S. 81. Möglicherweise sind informale Verfassungsregeln Ersatzformen für „reflexives Recht" i. S. von G. Teubner/H. Willke, ZfRSoz 5 (1984), 4 (30 ff.). 609

s. a. D. Grimm, i n : Wissenschaft (Fn. 46), S. 285. ®10 Z u r Ambivalenz deutlich W. Schmitt Glaeser, AöR 107 (1982), 345 f. e n K a u m problemangemessen zuletzt wieder W. J. Dodenhoff, V e r w A r c h 75 (1984), 1 (13).

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I I I . Theorie u n d Dogmatik des informalen Verfassungsstaates

und Geltungskraft von Verfassungen auf die informalen Verfassungsregeln zu übertragen. Ein solches Vorgehen würde die spezifischen Eigenarten informaler Verfassungsregeln verfehlen. Nicht die flexible Veränderbarkeit i m Unterschied zum „starren" Recht, sondern die freiwillige, praktisch täglich immer wieder neu realisierte Geltung durch Selbstbeschränkung der politischen Machthaber ohne rechtliche Erzwingbarkeit ist erstaunlich. a) Der prozedurale Verfassungskonsens Verbindlichkeit ohne rechtliche Dignität oder Durchsetzungsmacht verweist auf konsensuale Ubereinstimmung als gemeinsamen Geltungsgrund. Die verschiedenen Parteien oder Funktionsträger sind sich über die prozeduralen Regeln (im Grundsatz) einig. Diese Gemeinsamkeit informaler Verfassungsregeln macht sie zu Förderbausteinen des Ver fassungs(grund)konsenses, von dem Verfassungen leben e i s : Proporzregeln integrieren alle relevanten Anschauungen und Pluralgruppen um der gemeinsamen Verfassung(saufgabe) willen; informale Kooperationsformen haben den gemeinsamen, meist durch Einstimmigkeit gesicherten Willen zum Miteinander zur Voraussetzung; und auch informalen Gewaltenteilungsregeln liegt letztlich das gemeinsame Interesse zugrunde, Einseitigkeiten um der Wirkungsmöglichkeiten aller willen zu verhindern. Selbst wo, wie i m Verhältnis von Parlamentsmehrheit und Opposition, scheinbar der Konflikt, das Gegeneinander geregelt ist 8 1 4 , läßt sich dieser gerade als Regel auf der Basis implizit vorausgesetzter Gemeinsamkeiten i n der verfahrensrechtlichen Ausübung der verfassungsrechtlichen Rollen begreifen® 15. Der prozedurale Konsens verweist auf eine damit verbundene weitere Gemeinsamkeit informaler Verfassungsregeln: Sie zielen auf organisatorisch-institutionell verfestigte Regeln, um eine (kollektive) Willensbildung zu ermöglichen, die sachlich — und sei es auch nur über Personen vermittelt — alle wesentlichen Gesichtspunkte (primär: Interessen) in Rechnung stellt und damit nicht einseitig, sondern maßvollangemessen, gemeinwohlorientiert, kurz: (verfassungs-)gerecht sein soll. 612

Z u r Differenz von ungeschriebenem Verfassungsrecht u n d ungeschriebener Verfassung s. Hans Huber (1955), i n : ders., Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, 1971, S. 329 (330). β1ί Ausf, zum Verfassungskonsens: U. Scheuner, i n : G. Jakobs (Hg.), Rechts geltung u n d Konsens, 1976, S. 33 ff. (65: Ausgestaltung des Konsenses durch Verfassungskonventionen); H.Vorländer, Konsens (Fn. 1), S. 106 ff., 157 ff. e14 So spricht BVerfGE 2, 143 (170 f.) von der (nicht-rechtlichen) „Pflicht" der parlamentarischen Opposition, ihre Bedenken geltend zu machen. 615 P.Häberle (1975), i n : ders., Pluralismus (Fn. 192), S. 79 (93); W.Schmitt Glaeser, Die V e r w a l t u n g 14 (1981), 277 (283 ff.).

4. Geltungsgründe informaler Verfassungsregeln

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Proporzregeln gewährleisten — i m Groben, nicht unbedingt bei jeder Einzelentscheidung — die Berücksichtigung von Minderheitspositionen, Kooperationsformen versuchen das gemein(sam)e Beste herauszufinden, Machtbalancierungen, bes. Inkompatibilitäten verhindern strukturell bzw. personal distanzlos-einseitige Entscheidungsfindungen® 10 . Informale Verfassungsregeln optimieren pluralistische Meinungs- bzw. Interessenberücksichtigung i n kollegialen Gremien. Sie erleichtern durch Erweiterung des Verhandlungsgegenstandes damit auch die Kompromißfindung® 17 . Die Beobachtung, daß i m politischen Denken die Mäßigung der Staatsgewalt, von den Griechen über die Ausbildung des Verfassungsstaats bis heute®18, immer wieder durch intensive kollegiale Beratung als Prinzip staatlicher Willensbildung angestrebt worden ist (Deliberation vor Dezision)®19, verbindet diese Regeln i m Gedanken der Stützung der Verfassung als einer des maßvollen Ausgleichs, der „constitutio mixta" 620: Alle relevanten (unterschiedlichen) Bevölkerungsgruppen sollen sich i n entsprechend „ausgewogenen" Entscheidungsgremien vertreten fühlen können i. S. pluralistischer Gewaltenteilung. b) Die integrative

Kraft

des informalen Verfassungskonsenses

Der informale Verfassungskonsens entfaltet eine (gewiß: variable, aber) erhebliche Integrationskraft, wie sich bei der (parteien- und gruppen-)proportionalen Besetzung von Staatsorganen als Ausdruck eines gemeinsamen Grundkonsenses i m pluralistischen Gegeneinander der Interessen zeigen läßt. Die vertretenen Gruppen können sich alle je angemessen vertreten, also nicht ausgeschlossen fühlen; sie werden als Teil bzw. Teilgruppen bei der Erfüllung einer gemeinsamen A u f gabe anerkannt und „integriert". Ein gefestigter Proporz ist mithin auch Ausdruck eines stabilen status quo, eines „Waffenstillstandes" der i n dem betreffenden Bereich stillgelegten konkurrierenden (Partei-)Interessen, eines Status der Entpolarisierung® 21 . So ist es kein Zufall, daß i n 818 Z u r Distanzlosigkeit als „Todsünde" f ü r P o l i t i k e r : Max Weber, P o l i t i k als Beruf, 4. Aufl. 1964, S.53f.; s.a. M.Kloepfer, W D S t R L 40 (1982), 63 (65); k r i t . P. Häberle, ebd., S. 110 (111) i n der Diskussion. 817 Vgl. W.A.Jöhr, Der Kompromiß, 1958, S. 17; V. Büchler-Tschudin, Demokratie u n d Kompromiß, 1980, S. 52. 618 s. z.B. U. Scheuner (1961), i n : ders., Staatstheorie u n d Staatsrecht, 1978, S. 245 (254); vgl. dazu P.Badura, FS f. U. Scheuner, 1973, S. 19 (39). 619 W. Hennis (1971), i n : ders., P o l i t i k u n d praktische Philosophie, 1977, S. 243 (254). 620 s. zu den verschiedenen Möglichkeiten heute V. Wemb er, Verfassungsmischung u n d Verfassungsmitte, 1977, S. 214 ff., 225 ff.; vgl. auch W. Hennis, P o l i t i k (Fn. 619), S. 252 ff. 821 Durch die Ä n d e r u n g der Gemeindeordnung i n Nordrhein-Westfalen wurde jüngst das d'Hondtsdae Höchstzahlverfahren für die W a h l der k o m munalen Repräsentationsorgane (Oberbürgermeister und Stellvertreter) durch

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I I I . Theorie u n d Dogmatik des informalen Verfassungsstaates

der einerseits als Hort der Stabilität geltenden, andererseits ethnisch sprachlich-kulturell, wirtschaftlich, konfessionell und politisch außerordentlich heterogen-pluralen Schweiz eine Große Koalition von vier Parteien regiert, die sich auf 83 °/o der Mandate i m Nationalrat stützen kann. Seit 1959 w i r d dabei der siebenköpfige Bundesrat nach einer „Zauberformel" i m Parteienproporz von 2:2:2:1 besetzt 822 , der zugleich einem Regional- bzw. Sprachgruppenproporz entsprechen muß 8 2 3 . Solche nicht nur in der Schweiz (auch geschichtlich) verwurzelten Elemente der „Konkordanzdemokratie" 8 2 4 gelten schwächer, aber überwiegen auch i m deutschen Verfassungsstaat 825 ; die Polarisierung i m bundesdeutschen Parteiensystem 828 ist gerade (nur) dann möglich, wenn die Gemeinsamkeiten geklärt sind. Jedenfalls sind informale Verfassungsregeln die konkordanzdemokratische Ergänzung und Kompensation konfligierender rechtlicher Aufgaben und Befugnisse. Symbolisch findet die konsensstabilisierende Funktion namentlich von Proporzregeln ζ. B. darin Ausdruck, daß i n Reden bei hohen staatlichen Festakten „Prominenten"-Urteile proportional aus allen politischen „Lagern" zitiert 8 2 7 oder Prominente proporzgerecht erwähnt 8 2 8 werden, oder aber daß führende Vertreter aller großen Parteien auch dann zu Worte kommen, wenn sie nicht als Repräsentanten eines Verfassungsorgans auftreten 829 . (Ausdruck dieses Grundkonsenses ist auch die kommunalen Räte gesetzesverbindlich vorgeschrieben, u m parteipolitische Polarisierungen auf Gemeindeebene abzubauen, vgl. (auch zu etwaigen Folgen f ü r die kleinen Parteien) F A Z v. 29.11.1983, S. 5. 622 Vgl. ausf. G. Lehmbruch, Proporzdemokratie (Fn. 40), S. 15 ff.; L. Wildhaber, ZSchwR N.F. 94 I (1975), 135 f.; G.Schmid, Parteien (Fn. 589), S. 44 f. m. N w . ; s.a. G.F.Höpfli, Das Parlament v. 26.11.1983, S. 12. Dieses Bündnis scheint selbst regelmäßige Abstimmungsniederlagen f ü r offiziell vorgeschlagene Bundesratskandidaten durch die Mehrheit der Bundesversammlung zu verkraften; die sichere Regierungsmehrheit ermöglicht persönlichkeitsbezogenere Wahlen, vgl. zu den jüngsten Bundesratsnachwahlen F A Z v. 8.12. 1983, S. 3, u n d P. Amstutz, FR v. 13.12.1983, S. 3. — Dieser Regierungsproporz ist rechtlich ( „ n u r " oder „sogar"?) i n einigen Kantonen vorgeschrieben, s. ausf. W. Linder IB. Hotz/H. Werder, Planung i n der schweizerischen Demokratie, 1979, S. 37 ff. 828 s. K. Niclauß, PVS 8 (1967), 126 (132). 624 s. f ü r andere Länder D. Herzog, Führungsgruppen (Fn. 158), S. 120 ff. 625 Vgl. i n diesem Sinne auch E. Jesse, F A Z v. 9.12.1983, S. 11; f ü r Österreich s. R. Marcie, Koalitionsdemokratie (Fn. 204), S. 12, 15, 47, 49, pass. β2β G. Lehmbruch, Parteienwettbewerb (Fn. 296), S. 33 ff. 827 So etwa beim Festakt anläßlich des Präsidenten- u n d Richterwechsels beim Bundesverfassungsgericht: Bundestagspräsident R. Barzel (betr. Carlo Schmid u n d A. Süsterhenn über das BVerfG) bzw. Bundeskanzler H. Kohl (T. Heuss, C. Schmid, Κ. Adenauer), zit. nach Bull. 1983, S. 1282 f. bzw. 1285 f. 828 s. die Ansprache von Bundespräsident K. Carstens bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt B e r l i n an ihn, Bull. 1984, S. 325: „ . . . ich w i l l heute an Männer u n d Frauen wie Paul Lobe u n d Jakob Kaiser, Louise Schröder u n d Ferdinand Friedensburg, Konrad Adenauer u n d Willy Brandt erinnern . . . " .

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die demokratische Konventionairegei, die auf Achtung der gemeinsamen Verfassungsbasis zielt, daß „keine Partei sich mit Begriffen identifiziert, die, wie Staat, Nation und Demokratie, das politische Ganze bezeichnen" 630 .) I n diesen Zusammenhang gehört die Übereinkunft der Parteien, eine möglichst liberale, d. h. pluralistische, auch die Oppositionskultur einbeziehende auswärtige K u l t u r p o l i t i k zu betreiben 631 . — Parteipolitisch pluralistisch strukturierte Sachverständigenkommissionen können (bei gewisser Distanz zu den Verbänden) zu jener konsensschaffenden Versachlichung beitragen 632 , die wirkliche politische Kontroversen oft erst offenlegt. Namentlich relevante Minderheiten werden so anerkannt und verfassungsstaatlich integriert, ob als Opposition i m Parlament, ob als politische oder soziale Kräfte i m Verfassungsstaat 633 . Für die Bundesrepublik mag das am Beispiel der SPD deutlich werden. Diese These von der Integration der Sozialdemokratie als Minderheit w i r d auf den ersten Blick überraschen angesichts von deren Selbstverständnis als „staatstragender" Partei 6 3 4 und der über viele Jahrzehnte objektivierbaren, heute kaum problematischen Einbindung in den Verfassungsstaat. Die moderne Elitenforschung zeigt freilich, daß die SPD (1982) bei den Parteipräferenzen der nicht-politischen gesellschaftlichen Führungspositionen i n den Sektoren Verwaltung, Wirtschaftsunternehmen, Wirtschaftsverbände, Massenmedien, Wissenschaft und M i l i t ä r deutlich unterrepräsentiert, nur i n den Sektoren Gewerkschaften und K u l t u r überrepräsentiert ist 6 3 5 . „Diese Asymmetrie hängt allerdings nur schwach m i t dem durchschnittlich höheren Herkunfts- und Ausbildungsstatus 629

s. ζ. B. den Festakt f ü r den ersten Bundespräsidenten der Bundesrepub l i k aus Anlaß der Wiederkehr seines 100. Geburtstags (mit Reden von B u n destagspräsident R. Barzel (CDU), Bundespräsident K. Carstens, Bundesratspräsident F.-J. Strauß (CSU), dem Parteivorsitzenden W. Brandt (SPD) u n d dem Vizekanzler u n d Parteivorsitzenden H.-D. Genscher (FDP), vgl. Bull. 1984, S. 97 ff. 830 So M. Kriele, W D S t R L 29 (1971), 73. Bedenklich daher die SchwarzRot-Gold-Symbolik i n C D U - u n d SPD-Wahlwerbung. 631 s. Staatsminister J. W. Möllemann, F A Z v. 10.4.1984, S. 25 u n d oben bei Fn. 197 ff. 832 Vgl. K. Kruis, V e r w A r c h 75 (1984), 48. 833 Auch insoweit ist das ausgeprägte Proporzdenken i m profilierten Schweizer Pluralismus typisch, vgl. G.Schmid, Parteien (Fn. 589), S. 45; s.a. F A Z v. 3.2.1984, S. 12; zum Mindestmaß an sozialer Homogenität als V o r aussetzung f ü r „die Möglichkeit eines fair play f ü r den innenpolitischen Gegner" s. schon H.Heller (1928), i n : ders., Gesammelte Schriften I I , 1971, S. 421 (427 ff.); ferner W. Fiedler, J Z 1984, 201 (206). 834 s. K. Schumacher, Der K a m p f u m den Staatsgedanken i n der deutschen Sozialdemokratie (1926), 1973; zu seiner heutigen Bedeutung s. U. Sarcinelli, Das Staatsverständnis der SPD, 1979, S. 34 ff.; zur K r i t i k an der doppelten Ebene langfristiger sozialistischer Zukunftsvisionen ebd., S. 104 ff. 835 So die informative Zwischenbilanz der neueren Elitestudien bei U. Hoffmann-Lange, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 47/1983, S. 17 ff. 8 Schulze-Fielitz

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I I I . Theorie u n d Dogmatik des informalen Verfassungsstaates

der Eliten, dagegen i n weit stärkerem Maße mit ihrer Position (Sektorzugehörigkeit) sowie ihren persönlichen Werthaltungen zusammen"· 86 . Auch zeigen die Ergebnisse der Wahlforschung, daß die SPD strukturell auf Bundesebene auf absehbare Zeit allein „nie" mehrheitsfähig werden dürfte 6 3 7 . I n dieses B i l d gehört der Umstand, daß es (T. Eschenburg zufolge) „mindestens seit 1953 deutlich" eine negative Patronage gegenüber sozialdemokratischen Beamten auf Bundesebene gegeben hat 6 3 8 . Proporzregeln, die demgegenüber bei der Besetzung der verfassungsstaatlichen Führungspositionen auch Sozialdemokraten zum Zuge kommen lassen, haben jedenfalls (objektiv) die Funktion, diesen (minderheitsschützend) mehr Macht zu verschaffen als ihnen ohne solche Steuerung zuwachsen würde; der Zugang zu Führungspositionen i m pluralistischen Verfassungsstaat w i r d offener 639 ; Verfassungskonsens ist zunächst einmal Konsens der politischen Führungsschicht 640 . Proporz verschafft Anerkennimg und Machtteilhabe für Minderheiten, erschwert vereinfachendes Oben/Unten-Denken einschließlich der Verschwörungstheorien über „die da oben" bei den sonst nicht Vertretenen und integriert nicht nur die führenden Parteipolitiker, sondern auch ihre Anhänger an der Basis in diesen („unseren") Verfassungsstaat 641 . Nach außen gewährleistet der personifizierte Parteienkonsens eine politische Gemeinsamkeit aller „nationalen Kräfte", um innere Kontroversen nicht zum Hebel für ausländische Einwirkungen werden zu lassen 642 ; eben deshalb eignet sich Außenpolitik wenig zur „Codierung" i n „progressiv" und „konservativ" 0 4 3 . — Doch auch die Fairneß bei der (notwendig einverständlichen) Herausbildung informaler Gewaltenbalancierung stärkt das gegenseitige Vertrauen. 888

U. Hoffmann-Lange, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 47/1983, S. 19. Vgl. n u r W. Kaltefleiter, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 14/1983, S. 3 ff., 15 ff. — Selbst unter den für sie optimalen Bedingungen 1972 erhielt die SPD nur 45,8 % der Zweitstimmen. 688 T. Eschenburg, Ämterpatronage (Fn. 63), S. 63. 689 Vgl. i n historischer Sicht auch G. E. Kafka, V V D S t R L 17 (1959), 89, für Österreich; G. Lehmbruch, Proporzdemokratie (Fn. 34), S. 56, f ü r die Schweiz. Gegen die (vom Parteitag dann mißbilligten) Überlegungen des Vorstands der Schweizer Sozialdemokraten zum Rückzug aus dem Bundesrat sprechen gerade diese Überlegungen, vgl. dazu z.B. W.van den Wyenbergh, F A Z v. 3. 2.1984, S. 5, u n d v. 13. 2.1984, S. 5. 840 s. H. Hofmann, L e g i t i m i t ä t u n d Rechtsgeltung, 1977, S. 73; W.Heun, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, 1983, S. 186. 841 Parteipolitisches Proporzdenken sollte deshalb eher gerade i n jenen Bundesländern verstärkte Bedeutung gewinnen, i n denen „unerschütterliche" u n d seit Jahren unerschütterte politische Mehrheiten n u r einer Partei dominieren. 842 Selbst T. Eschenburg, Ämterpatronage (Fn. 63), S. 26, akzeptiert insow e i t „ernsthafte M o t i v e " ; s. a. D. Herzog, Führungsgruppen (Fn. 158), S. 122 ff. 848 Vgl. N. Luhmann, Politische Theorie i m Wohlfahrtsstaat, 1981, S. 38. 687

4. Geltungsgründe informaler Verfassungsregeln

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Der informale Grundkonsens korrespondiert schließlich insoweit auch dem Mehrheitsprinzip als Entscheidungsregel für Sachalternativen, indem er dessen Geltungsvoraussetzung für eine Funktionsfähigkeit, eben die Beachtung gewisser gemeinsamer Grundlagen 644 , mittelbar abstützt: Die Mehrheit muß sich bei ihrem Recht zur Entscheidung „auf Grundsätze stützen, die von allen eingesehen und als legitim empfunden werden können" 6 4 5 . Nicht nur Grundwerte 6 4 6 und unabänderliche Grund-Rechte, sondern auch derartige informale Konsensregeln gehören demnach zu den ungeschriebenen Verfassungsvoraussetzungen 647 . Erst recht spiegeln informale Formen der Zusammenarbeit angesichts des ihnen oft zugrundegelegten Einstimmigkeitsprinzips den Basiskonsens des Grundgesetzes bzw. seine Gefährdungen. Besonders das bundesstaatliche (Bund-)Länder-Länder-Verhältnis w i r d von solchem Grundkonsens als Ausdruck der „Homogenität i m Verfahren" 6 4 8 getragen, der freilich bei Alleingängen einzelner Länder gefährdet werden kann — als Chance zum kompetitiven Föderalismus 649 oder als Risiko, das eine Wiedergewinnung des Konsenses provoziert 6 5 0 . Doch gerade die informalen Beratungsformen leisten Verständigung ohne das „Fallbeil der Mehrheitsentscheidimg" 651 . Auch sonst fördert die gemeinsame Basis der Einstimmigkeit Verständigungsbereitschaft und Toleranz m i t dem politischen Gegner, ζ. B. bei interfraktionellen Vereinbarungen i m Ältesten844 Vgl. U. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, 1973, S. 9, 54; P.Saladin, AöR 104 (1979), 345 (373f.); W.Schmitt Glaeser, Die V e r w a l tung 14 (1981), 284; C.Gusy, AöR 106 (1981), 328 (335, 337, 342f.); W.Heun, Mehrheitsprinzip (Fn. 640), S. 176 ff.; s.a. T. Dittmann, Toleranz i m Schulrecht der Hessischen Landesverfassung, 1982, S. 97 (zum Zusammenhang von Grundkonsens, Toleranz u n d Mehrheitsprinzip). 845 So Bundespräsident R. v. Weizsäcker i n seiner Antrittsrede am 3.7.1984, Bull. 1984, 710 (716). 848 Bilanz der Grundwerte-Debatte bei P. Häberle, Erziehungsziele u n d Orientierungswerte i m Verfassungsstaat, 1981, S. 19 ff.; zur K r i t i k zuletzt D. Göldner, FS f. O. Bachof, 1984, S. 21 (25 f.). 847 Vgl. ausf. W.Heun, Mehrheitsprinzip (Fn. 640), S. 175 f., 177 ff., 243 f.; allg. zuletzt E. Benda, AöR 109 (1984), 1 (6); anders etwa E. Klein, Problemat i k (Fn. 76), S. 205 f.: B i n d u n g der Mehrheit n u r an Verfassung ( = Verfassungsrecht). 848 P. Lerche, W D S t R L 21 (1964), 66 (85 ff.). 849 s. schon oben bei Fn. 332. 850 A k t u e l l e r Problemfall ist die medienpolitische Landschaft (der A l l e i n gang Niedersachsens, die Schwierigkeiten der Ministerpräsidentenkonferenz, die länderkompetenziell relevante technische Verkabelungspolitik der B u n despost usw.), s. jetzt die Übereinstimmungen von P. Glotz, E. Stoiber u n d W. Remmers, in: Stiftung f ü r Kommunikationsforschung (Hg.), Kooperativer Föderalismus — ein Modell für Medienpolitik?, 1983, S. 37 f., 45, 51, 58 f. (Diskussion). Als ein früherer Problemfall ist die später von den CDU-regierten Ländern aufgekündigte Finanzierung der Universität Bremen zu nennen. 851 So G. Lehmbruch, Parteienwettbewerb (Fn. 296), S. 82 f.

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1 1 6 I I I .

Theorie u n d Dogmatik des informalen Verfassungsstaates

rat des Bundestages als Instrumenten zum Abschluß von Kompromissen 852 . c) Die Aktualisierung

der Verfassung

als Vertrag

Der Konsens und seine integrative K r a f t sind freilich selber erklärungsbedürftig, denn sie können nur beschreiben, nicht begründen, warum er bewahrt bleibt, warum informale Verfassungsregeln nicht häufiger kurzfristig modifiziert werden — durch Verschiebungen des Konsenses selber: Warum bleiben z. B. gelegentliche Initiativen von Parlamentsneulingen, den Bundestagspräsidenten durch Mehrheitswahl zu bestimmen, so regelmäßig erfolglos? Weshalb einigen sich die Minister(präsidenten) auf ihren Konferenzen letztlich doch immer wieder einmütig? Wo einvernehmlich informale Vereinbarungen getroffen werden, lassen sich die informalen Regeln als Aktualisierung der Verfassung als (teils fiktiver, teils impliziter, teils realer) Vertrag begreifen 853 . Der i n der bindenden K r a f t des Verfassungsvertrages liegende Schutz der Minderheit(en) kommt nicht nur „absolut" und (explizit) verfassungsgesetzlich i n den Grundrechten, sondern relativiert auch i m Staatsorganisationsrecht vor. So wie z. B. das Geschäftsordnungsrecht des Parlaments besonders (auch) als Minderheitsschutzverfahrensrecht aufzufassen ist 8 5 4 , so läßt sich der Parteienproporz bei der Besetzung öffentlicher Ämter als institutionalisierte Sicherung der ständigen Suche nach einem gütlichen Einvernehmen durch Kompromisse i m politischen und gesetzgeberischen Verfahren der Beratungs- und Entscheidungsförderung begreifen 855 , aktualisieren regionale Proporzgesichtspunkte die Verfassung als Bundesvertrag. Die i n Deutschland seit Weimar unter den Bedingungen eines Vielparteiensystems fest verankerte parlamentarische „Proporzkultur" läßt das Konkurrenzprinzip hinter einem Modell des Aushandelns zurücktreten 858 . Proporzregeln unterstreichen 652 So K . - H . Rothaug, Leitungskompetenz (Fn. 251), S. 88 f. — Auch i n stark segmentierten politischen Parteien w i e den „ G r ü n e n " garantiert das K o n sensprinzip als zentrale Verfahrensregel den Zusammenhalt. Vgl. H. Fogt, PVS 25 (1984), 99. 663 Z u r Verfassung als Vertrag aus neuerer Zeit: P. Saladin, AöR 104 (1979), 372ff. m . w . N w . ; P.Häberle (1978), i n : ders., Verfassungsrechtsprechung (Fn. 150), S. 425 (428 ff.); ders., i n : Die Zeit (Fn. 1), S. 335 ff.; E.-W. Böckenförde, FS f. R. Gmür, 1983, S. 7 (11 ff.); s.a. R. Marcic, Koalitionsdemokratie (Fn. 204), S. 9 f. 654 F.Schäfer, Bundestag (Fn. 48), S. 11, 74 ff.; vgl. zu diesem materialen Geschäftsordnungsverständnis auch M. Schröder, Grundlagen (Fn. 571), S. 91 f. m. w . N w . 655 So G. Lehmbruch, Proporzdemokratie (Fn. 40), S. 41 ff.; A. Windhoff -Héritier, ZParl 11 (1980), 441 (444 f.), für die Schweiz; f ü r Österreich G. Wielinger, F G f. O. Weinberger, 1984, S. 214 f., 218 f. 656 So G. Lehmbruch, Parteienwettbewerb (Fn. 296), S. 21; vgl. auch U. Scheuner, i n : Hechtsgeltung (Fn. 613), S. 65 f.

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die gemeinsame, auch gegenseitig verpflichtende Aufgabe zur Führung des Gemeinwesens und zur Verantwortlichkeit i m Verfassungsstaat; namentlich i m Parteienstaat dehnen die Proporzregeln das schon den Parlamentarischen Rat konstituierende und von ihm für die ersten Bundestagswahlen vorgesehene und kompromißanlaßerhöhende 657 Verhältniswahlsystem nur auf den staatsorganisatorischen Bereich aus 658 . Zugleich finden die Tendenzen zu parakonstitutionellen Gremien 6 5 9 ihre Erklärung: Kompromisse zwischen den Proporzgruppen werden eher i n kleinen Gruppen gefunden 660 . Erst recht und offenkundig sind politische Vereinbarungen auf der Ebene informaler Zusammenarbeit sinnfällige und nahezu täglich neu aktualisierte Erscheinungsformen des Sich-Vertragens. Die ihnen zugrundeliegende Bildung von „Inter-Eliten-Kompromissen" 6 6 1 konkretisiert die Tugend des Verhandlungsausgleichs 662 , die schon i m Verfassungskompromiß angelegt ist. — Die Gleichgestimmtheit bundesstaatlicher Zusammenarbeit „vor, neben, hinter und trotz der Verfassung" i. S. einer Homogenität i m Verfahren w i r d durch die „ L u f t ursprünglicher Verfassungsgebung" i. S. ständig erneuerter Einigung und Legitimation der Staatlichkeit umweht 6 6 3 . Selbst informale Gewaltenbalancierungen suchen demnach nur die Rahmenbedingungen für Vertragsund Verhandlungsgerechtigkeit i n Distanz zu den Interessenkonflikten und ihren Verhandlungslösungen zu halten. Gerade auch die chronische Rotation der Vorsitzenden gemeindeutscher Konferenzen drückt die gleiche Teilhabe(berechtigung) jedes Mitglieds i m Bundesstaat und damit dessen (Teil-)Vertragsgrundlage aus. Die Bedenken gegen das Vertragsdenken auf Verfassungsebene und Behauptungen seiner Entbehrlichkeit gründen letztlich in den damit verbundenen Fiktionen 6 6 4 , der Vernachlässigung nichtvertraglicher Voraussetzungen und den Vorstellungen vom Vertrag als Ergebnis des Verhandeins willensbegabter autonomer Individuen i m Sinne der klassischen Postulate liberaler Philosophien. Dennoch bleibt jedenfalls der ® 57 W. A. Jöhr, Kompromiß (Fn. 617), S. 49. Vgl. auch Hans Schneider, FS f. R. Smend, 1952, S. 308 f. — Die Diskussionsruhe u m eine (Mehrheits)Wahlrechtsreform u n d die schleichende Selbstverständlichkeit des Parteienproporzes entsprechen einander, vgl. E. Jesse, F A Z v. 9.12.1983, S. 11. 959 s. o. bei Fn. 527 ff. 660 So (betr. Koalitionsausschüsse) W. Kralewski, F G f. D. Sternberger, 1968, S. 428 f. ββ1 D. Herzog, Führungsgruppen (Fn. 158), S. 122 u. ö. 662 W. A. Jöhr, Kompromiß (Fn. 617), S. 21 ff. 663 So P. Lerche, W D S t R L 21 (1964), 87 i. V. m. 90. 664 s. als Bsp. f ü r die K r i t i k anläßlich der Diskussion von J. Rawls ' Gerechtigkeitstheorie: G. Lübbe(-Wolff), Rechtstheorie 8 (1977), 185 (189 ff.). 658

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Grundgedanke des Sich-Vertragens i m K o n f l i k t (auf Zeit, potentiell auf Dauer) durch einverständliche Übereinkunft als (virtuell) stärkste und vermutlich vernünftigste Form des Interessenausgleichs auch für das öffentliche Recht unverändert aktuell. Er bleibt freilich die A n t w o r t auf die Frage nach den Gründen des freiwilligen Sich-Vertragens schuldig 665 . d) Reziprozität

als Basisnorm

Für eine Verfassungstheorie ohne Naturrecht bietet sich insoweit ein Rückgriff auf anthropologische oder soziale Grundannahmen an 666 . (Relativ) erklärungskräftig scheint insoweit der Gedanke der Reziprozität für vertragliche und vertragsähnliche politische Beziehungen und Bindungen zu sein. Als möglicherweise universelle Norm i n allen Kulturen 6 6 7 ist er i n der soziologischen Theorie als Ansatz aufbereitet 668 und schon für (quasi)vertragliche Verpflichtungen i m Zivilrecht fruchtbar gemacht worden 6 6 9 . Seine Prinzipien lassen sich auch verfassungstheoretisch auswerten 670 . Reziprozität ist (zunächst einmal allgemein und i n einer ZweierBeziehung von Ego und Alter gedacht) das Prinzip, daß empfangene Leistungen zu erwidern sind 6 7 1 , sei es i m Nachgang als Dankesschuld 672 , sei es i m Vorhinein als Fremdbindungsinstrument, andere zu Gegenleistungen zu bringen 6 7 3 . Beide Parteien müssen Zustandekommen und Aufrechterhaltung solcher Austauschbeziehungen als für sich selber lohnend ansehen; damit werden ihre egoistischen Motive sozial eingebunden i n die gegenseitige Übernahme auch von eigenen Opfern und 685 Ebenso bleiben die „Verfassungsloyalität als generelle Erscheinung" u n d die „Furcht vor der Veränderung des verfassungsmäßigen Status quo insgesamt" i n Großbritannien, über den Hinweis auf die englische Verfassungskultur hinaus, als E r k l ä r u n g für die Bindungskraft der Verfassungskonventionalregeln (so K.-U. Meyn, Verfassungskonventionalregeln [Fn. 35], S. 167) ihrerseits erklärungsbedürftig. βββ s. P.Häberle (1977 u n d 1974), i n : ders., Verfassung (Fn. 1), S. 56 f. bzw. 113 f. 887 Grdl. für archaische Gesellschaften M. Mauss, Die Gabe (1923), i n : ders., Soziologie u n d Anthropologie I I , 1978, S. 9 (bes. 123ff.); C.Schott, JRR 1 (1970), 107 (129 ff.); K.F.Röhl, FS f. H. Schelsky, 1978, S. 435 (448 ff.). 998 s. vor allem A. W. Gouldner (1973), i n : ders., Reziprozität (Fn. 502), bes. S. 79 ff.; s.a. f r ü h : G.Simmel (1907), i n : ders., Schriften zur Soziologie, 1983, S. 210 ff.; ferner K . F. Röhl, FS f. H. Schelsky, 1978, S. 446 ff. βββ v g l . (auch zum folgenden Text) J. Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, bes. S.240ff.; W.Schmid, Z u r sozialen W i r k l i c h k e i t des Vertrages, 1983, S. 84 ff. 870 s. a. B. Moore, Ungerechtigkeit (1978), 1982, S. 666 ff. 871 M . Mauss, Gabe (Fn. 667), S. 13, 16 ff., 77 ff. 872 Z u r Dankbarkeit als „Ergänzung" u n d „Stellvertreterin des Rechts" schon G.Simmel, i n : ders., Schriften (Fn. 668), S. 210. 878 J. Köndgen, Selbstbindung (Fn. 669), S. 244 f.

4. Geltungsgründe informaler Verfassungsregeln

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Pflichten um der gemeinsamen Austauschbeziehungen willen. I m Unterschied zum liberalen (utilitaristischen) Austauschverständnis des (vertraglichen) Do-ut-des ist der Leistungsaustausch aber nicht i m voraus genau „bestimmt": Reziprozität ist zeitlich, gegenständlich und personal asymmetrisch und bildet nur eine „Hintergrunderwartung" der Gegenseitigkeitsbeziehungen· 74 . Zeitlich sind Leistung und Gegenleistung unbestimmt versetzt („diachron"). Die Erwiderung eines Nachgebens bei Verhandlungen heute ζ. B. kann (möglicherweise lange) aufgeschoben werden; je nach Häufigkeit und Wachstum wechselseitiger Beziehungen bildet sich schrittweise Vertrauen i n die Zuverlässigkeit des Interaktionspartners als reziprok Leistenden. Politische Verhandlungen zwischen Koalitionspartnern 6 7 5 , politischen Parteien, zwischen Fraktionsgeschäftsführern i m Ältestenrat oder auch i n den Richterfindungsgremien 676 leben davon; sie überstehen dann kurzfristige Balancestörungen. Unmittelbare Aushandlungsprozesse werden in der Zeitachse durch eine allgemeine Reziprozitätserwartung überlagert. Gegenständlich sind die Tauschobjekte mangels einer geldähnlichen Verrechnungseinheit sehr variabel (Posten, Prestige, Macht, Geld usw.) und vor allem nicht notwendig äquivalent. Wer bei Vereinbarungen nachgibt, kann nicht notwendig beim nächsten M a l „ Z u g u m Zug" i n anderem Zusammenhang mit gleichartigem oder gleichgewichtigem Entgegenkommen rechnen 677 . Die BSG-Präsidentenstelle für einen CSUgenehmen Bundesrichter garantiert noch nicht eine spiegelbildliche Nachgiebigkeit bei der nächsten notwendigen Neubesetzung, sondern dann vielleicht nur ein zusätzliches Vorschlagsrecht bei der Richterwahl. Ein Nachgeben der sozialdemokratischen Ministerpräsidenten i n der Frage des Satellitenfernsehens kann sie nicht schon deshalb ein Entgegenkommen der CDU-geführten Länder bei der nächsten Streitfrage erwarten lassen. Personal kann Reziprozität nicht nur i n einer gegenseitigen Zweierbeziehung wirken, sondern als generalisierte Reziprozität, d. h. die Lei874 J. Köndgen, Selbstbindung (Fn. 669), S. 246 ff., 258 ff.; W.Schmid , W i r k lichkeit (Fn. 669), S. 89 f., 94. 675 L. Wildhaber, ZSchwR N.F. 94 I (1975), 137. β7β Beispiel: Nach dem Regierungswechsel 1982 durfte die SPD damit rechnen, daß „ i h r " 1971 an die F D P abgetretenes Vorschlagsrecht f ü r Verfassungsrichter 1983 auch wieder an sie zurückfiel (deshalb ist Nachfolger von Richter J. Rottmann [FDP] der Richter E.-W. Böckenförde [SPD] geworden). Andererseits soll die neue Zusammensetzung des Gerichts „weiter rechts" stehen, so: R. Wassermann, RuP 20 (1984), 6; es w ü r d e damit zeitgeistgerecht die „Wende" reflektieren (?). 67 7 K.F. Röhl, FS f. H. Schelsky, 1978, S.451f.; W. Schmid , W i r k l i c h k e i t (Fn. 669), S. 92 ff. ; s.a. G. Lehmbruch, Proporzdemokratie (Fn. 40), S. 44 ff.

1 2 0 I I I . Theorie u n d Dogmatik des informalen Verfassungsstaates

stungserwiderung w i r d nicht notwendig vom selben Interaktionspartner erwartet, geschweige von der selben Person, sondern es w i r d die Umkehrung der Situation v i r t u e l l unterstellt, man könne selber einmal i n der vergleichbaren Situation des anderen sein — entsprechend der goldenen Regel: Was D u nicht willst, das man D i r t u . . . e 7 8 . Eben diese generalisierte Reziprozität wurde Carlo Schmid entgegengehalten, als er 1949 mit der Konventionairegei des Reichstages brechen wollte, daß die stärkste Fraktion den Bundestagspräsidenten stellt 6 7 9 . Alle nichtvertraglichen informalen Regeln i m Verfassungsstaat leben von ihr: Als verinnerlichte Norm erzeugt sie Motive zur Leistungserwiderung über kurzfristige, machtverzerrte Interessenkalkulation hinaus; Machthaber werden (auch) vor sich selbst geschützt 680 . Gemeinsame Funktion von Reziprozität (auch) i m Verfassungsstaat ist daher letztlich, Vertrauen, Kooperation und soziale Solidarität zu stiften und durch immer wieder neue Leistungen auf (relativer) Gegenseitigkeit aufrechtzuerhalten 681 . Gerade w e i l — i m Unterschied zum Do-ut-des — Vertrauen nur durch (riskante) Vorleistung erbracht werden kann, stiften reziproke (nicht so sehr vertragliche) wechselseitige Beziehungen Vertrauen 6 8 2 . Dieses Vertrauen ist die „Geschäftsgrundlage" des Verfassungslebens. Es ermöglicht z. B. überhaupt erst die Normalität einer Änderung des Wahlverhaltens zugunsten der Oppositionspartei(en) und damit den Regierungswechsel durch Wahlen. Dieses theoretische Prinzip der Reziprozität hat Schwächen 683. — Vertrauen ist zunächst personengebunden; bei Beziehungen zwischen Organisationen, auf Verfassungsebene z. B. zwischen Verfassungsorganen 67 8 J. Köndgen, Selbstbindung (Fn. 669), S. 249. — Der Gedanke der Reziprozität liegt auch der F i k t i o n des „Schleiers des Unwissens" der Vertragsparteien über den eigenen späteren gesellschaftlichen Platz zugrunde, m i t der J. Rawls die Gerechtigkeit seines Gesellschaftsvertrages garantieren w i l l (s. ders., Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 159 ff.), oder auch den diskursethischen Bemühungen u m die „Wahrheitsfähigkeit" praktischer Fragen, die die Verallgemeinerungsfähigkeit von ethischen Normen f i k t i v an eine Zustimmung aller Betroffenen bindet, von denen jeder durch universellen Rollentausch zur Einnahme der Perspektive aller anderen gezwungen w i r d , s. zuletzt J. Habermas, Moralbewußtsein u n d kommunikatives Handeln, 1983, S. 75 f., letztlich dem Kategorischen Imperativ. Als verfassungssoziologische Kategorie läßt sich Reziprozität aber auf verfassungstheoretischer Ebene u n mittelbar abbilden. 679 s. o. bei Fn. 52, 502 u n d unten bei Fn. 701 ff. 680 A. W. Gouldner, Reziprozität (Fn. 502), S. 104. 681 G. Wielinger, F G f. O.Weinberger, 1984, S. 222: „wechselseitige Garantie von Existenzgrundlagen" (betr. Verfassungskonventionen). — Vgl. zu einer parallelen K o n s t r u k t i o n der Wissenschaftlergemeinschaft: A. Blankenagel, AöR 105 (1980), 35 (60 f.); zu Austauschbeziehungen innerhalb der Ministerialbürokratie A. Wender, Entscheidungsspiele (Fn. 5), S. 137 ff. 882 N. Luhmann, Vertrauen (Fn. 494), S. 41 ; s. a. 35. 883 Vgl. J. Köndgen, Selbstbindung (Fn. 669), S. 243 f.

4. Geltungsgründe informaler Verfassungsregeln

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oder politischen Parteien als bürokratischen Großorganisationen, scheint es dem Funktionsinhaber, der an seine Rolle als Amtsträger denkt, primär u m seine Funktion, sekundär nur u m die personale Ebene zu gehen. Das erschwert aber nur spontane Reziprozität 684 — als einmal eingelebte, i m verfassungspraktischen Umgang bewährte Norm bleibt sie handlungsorientierend. Die nicht-rechtliche Formalisierung des I n formalen 0 8 5 entspricht diesem Bestreben, die Reziprozität als Norm für die gegenseitigen Beziehungen zu stabilisieren. Reziprozität setzt sodann paradoxerweise das erstmalige Gelingen von Reziprozität und damit einen Test von gegenseitigem Vertrauen voraus, das doch zugleich erst noch geschaffen werden soll 6 8 6 ; die Verhandlungen zwischen „Grünen" und SPD i n Hessen sind ein anschauliches aktuelles Beispiel. I n diesen Fällen kann nur langfristige Interaktion Mißtrauen abbauen und Vertrauen initiieren und stabilisieren. Reziprozität versagt schließlich i n formalen asymmetrischen Beziehungen der Beteiligten 6 8 7 , d. h. wenn Austauschpartner material (zu) ungleich sind, also Gegenleistungen von einer Seite gar nicht oder nicht annähernd angemessen erbracht werden können 888 . A u f informaler (wie auch formaler) Verfassungsebene gilt das für bedeutende Machtungleichgewichte: Nicht organisierte oder organisierbare Interessen bleiben, z. B. i n den Rundfunkgremien oder bei der korporatistischen Zusammenarbeit, vernachlässigt 889 ; viele Proporzregeln benachteiligen die kleinen Parteien; die Stabilität bei informalen Inkompatibilitätsregeln hängt letztlich vom politischen Gewicht der politischen Gegner (-schaft) ab. Diese Erscheinungen lassen sich als Reziprozitätsversagen interpretieren 890 . Die Reziprozität der politischen Beziehungen i m Verfassungsstaat w i r d m i t h i n auf Dauer nur gesichert, wenn einzelne Parteien oder Funktionsträger nicht zu übergewichtig werden 8 9 1 . 084

Vgl. J. Köndgen, Selbstbindung (Fn. 669), S. 208, 244. s. o. bei Fn. 519 ff. 688 Vgl. K . F. Röhl, FS f. H. Schelsky, 1978, S. 452 ff., 470 ff. 687 Auch der Vertragsgedanke hat hier seine sozialen Schwächen, vgl. etwa E.A. Kramer, Die „ K r i s e " des liberalen Vertragsdenkens, 1974, S. 35 ff.; H. Klein, Koalitionsfreiheit i m pluralistischen Sozialstaat, 1979, S. 143 ff. m. w. N w . βββ A.W.Gouldner, Reziprozität (Fn. 502), S. 118 ff.; N.Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 31), S. 155. Z u r Reziprozität als Ideologie s. (historisch) B. Moore, Ungerechtigkeit (Fn. 670), S. 668 f. 689 s. am (Extrem-)Beispiel der Strafgefangenenvertretung bei der Strafvollzugsgesetzgebung: C. Hoffmeyer, Grundrechte i m Strafvollzug, 1979, S. 69 f. 690 D a m i t läßt sich auch erklären, weshalb (auf Länderebene) eine Proporzregel w i e der „Arnold-Schlüssel" (s. o. bei Fn. 82 ff.) sich nicht i n Ländern bewahrt (hat), i n denen i n aller Regel n u r eine politische Partei regiert. 691 F ü r einen kompensatorischen „Umkehrproporz" i n Rundfunkgremien daher W. R. Langenbucher/W. A. Mahle, Publizistik 18 (1973), 322 (325 ff.). 685

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I I I . Theorie u n d Dogmatik des informalen Verfassungsstaates

Der seltene und deshalb die besondere Empörung der betroffenen SPD provozierende aktuelle (Beispiels-)Fall einer Durchbrechung bestehender Reziprozitätserwartungen war die Planung einer Amnestie für Steuerhinterziehungen durch bzw. anläßlich von Parteispenden. Darin liegt nicht bloß die Aufgabe jener informalen interparteilichen Gemeinsamkeit in parteienrechtlichen Dingen 8 9 2 , wie sie schon i n den streng geheim gehaltenen monatelangen Vorberatungen innerhalb der Koalition 69 ® zum Ausdruck kam. Sondern der Verzicht auf eine derartige „Amnestie" war einige Monate zuvor die Geschäftsgrundlage für eine Vereinbarung gewesen, aufgrund der auch die SPD einer neuen gesetzlichen Regelung der Parteienfinanzierung zustimmte 6 9 4 ; noch wenige Stunden vor der 2. und 3. Lesung war dies i n einer geänderten Fassung des Berichts des Bundestags-Innenausschusses dokumentiert worden 6 9 5 . Die Grundlage jenes Kompromisses wurde durch die geplante Amnestie einseitig aufgekündigt und signalisierte eine (Selbst-)Sicherheit der Regierungsmehrheit, die auf Maßstäbe politischer Moral und Reziprozitätserwägungen ζ. Z. keine große Rücksicht glaubte nehmen zu brauchen. Der Verzicht auf eine „Zustimmung oder wenigstens das billigende Stillschweigen der Mehrheit der SPD-Opposition" 6 9 6 ist ein bewußter partieller Verzicht auf den informalen Grundkonsens, oder kritischer: Ausdruck für „die prinzipielle Bereitschaft der jetzt i n Bonn Regierenden, den Minimalkonsens über politischen Anstand zu kündigen" 6 9 7 . Ein solches Reziprozitätsversagen bildet indessen keine zentrale Gefahr für die Funktionsfähigkeit des informalen Verfassungsstaates, denn er kann (wie informale Verfassungsregeln überhaupt) nur i m Rahmen und nach Maßgabe des Verfassungsrechts wirken, das solchen Selbstgefährdungen des informalen Verfassungsstaats (weit weniger elastische) Grenzen setzt 698 . Das Grundgesetz bildet den Rahmen für die (flexibleren) Verfahrensausprägungen der informalen Regeln 699 . Nicht nur ist das Verfassungsrecht auf informale Regeln angewiesen; der informale Verfassungsstaat ohne Verfassungsrecht würde sehr bald ®92 s. o. i n u n d bei Fn. 272. 693 s. F A Z v. 4. 5.1984, S. 7. ®94 s. Der Spiegel Nr. 19/1984, S. 23. 695 Vgl. dazu auch G. Offczors, DuR 12 (1984), 141 (164). βββ K r i t . F. K. Fromme, F A Z v. 5. 5.1984, S. 1. 697 So R. Reifenrath, FR v. 5. 5.1984, S. 3. 698 A u f formaler (rechtlicher) Ebene verschafft deshalb ζ. B. die Notwendigkeit einer 2 /3-Mehrheit für Verfassungsänderungen i n Bundestag u n d Bundesrat (Art. 79 GG) Minderheiten Gegenleistungsmacht, nicht n u r i n Verfassungsänderungs(vertrags)verhandlungen, sondern auch reziprok für geplante oder künftige Verfassungsänderungen. β9θ v g l a u c h τ . Ellwein t Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl. 1983, S. 109 f.

5. Informale Verfassungsregeln zwischen Recht u n d P o l i t i k

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atavistisch ungebundener Macht verfallen. So bleibt es beim Fazit: Generalisierte Reziprozität schafft jene Vertrauensgrundlage, die Verfassungskonsens garantiert.

5. Informale Verfassungsregeln zwischen Recht und Politik a) Die informale

Verfassungsregel

— eine rechtliche Kategorie?

Die Gemeinsamkeit informaler Verfassungsregeln liegt darin, daß sie weder Recht i. S. von justiziablen, sanktionsbewährten Regeln formulieren noch bloße Politik i. S. völlig beliebig revisibler, alternativ entscheidbarer Forderungen darstellen; es soll sich (definitionsgemäß) um präskriptiv formulierbare Regelmäßigkeiten handeln 700 . Dieser Bereich „zwischen" Recht und Politik fügt sich nicht einem Entweder/Oder und w i r d dementsprechend durch eine Fülle unterschiedlicher wissenschaftlicher Klassifikationsversuche ausgefüllt, die den breiten Anwendungsraum und den unsicheren „Rechts"-Status informaler Verfassungsregeln illustrieren. Ζ. B. w i r d schon allein das Benennungsrecht des Bundestagspräsidenten durch die stärkste Fraktion ζ. T. als Übung ohne einen damit verbundenen Anspruch der stärksten Fraktion 7 0 1 , als „parlamentarischer Brauch" 7 0 2 , als (Satzungs-)Gewohnheitsrecht 703 , parlamentarisches Innengewohnheitsrecht 704 , allgemeiner: als parlamentarisches Gewohnheitsrecht 705 , als ungeschriebenes Parlamentsrecht 708 , übergreifend als (Verfassungs-)Gewohnheitsrecht 707 oder als eine der Verfassungskonventionalregeln7 0 8 bezeichnet, die wiederum als nichtrechtliche Normen der Verfassung 709 , als „Grundregeln der politischen und gesellschaftlichen Sittlichkeit" 7 1 0 , als nicht justiziable materielle Verfassungsnormen 711 , als 700

Vgl. oben bei Fn. 31 ff. toi H. Troßmann, Parlamentsrecht (Fn. 53), § 2/Rdn. 2.3; K.J.Partsch, AöR 86 (1961), 1 (19) unter Hinweis auf (damals) erst drei Bundestagswahlen. 702 N. Achterberg, Grundzüge (Fn. 251), S. 25; L.-A.Versteyl, in: I.V.Münch (Hg.), GG I I (Fn. 205), A r t . 40/Rdn. 3; s.a. O.Uhlitz, AöR 87 (1962), 296 (300). 703 H. Steiger, Grundlagen (Fn. 203), S. 47. 704 So w o h l K . - H . Rothaug, Leitungskompetenz (Fn. 251), S. 87 f. 705 So jetzt N. Achterberg, Parlamentsrecht (Fn. 53), S. 67, 190. 706 F. Schäfer, Bundestag (Fn. 48), S. 67; differenzierend (oder widersprüchlich) S. 94: „Parlamentsbrauch", keinen Gegenkandidaten aufzustellen. 707 So w o h l H.-J. Mengel, JöR 30 (1981), 21 (61). 708 K.-U. Meyn, J Z 1977, 167. 709 Herb. Krüger, Staatslehre (Fn. 37), S. 487. 710 M. Kriele, Staatslehre (Fn. 67), S. 193. 711 So B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 440.

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„Sondernormen zwischen Verfassungsrecht und Verfassungsmoral" 712 oder „als eine dem Gewohnheitsrecht nahestehende verfassungsmäßige Übung" 71 ® qualifiziert werden 7 1 4 . Über dieses Beispiel aus dem Parlamentsrecht 715 hinaus sollte die Fülle der skizzierten informalen Verfassungsregeln gezeigt haben, daß hier Bereiche angesprochen sind, die polar 'mal näher der Politik, 'mal näher dem Recht zugeordnet werden. Sie gelten also einerseits als „gentlemen's agreements", politische A b sprachen bzw. Vereinbarungen, „Sozialpraktiken i n der Verwirklichung von Rechtsprinzipien" 718 , aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, weiter als Fragen des politischen „Stils", der politischen K u l t u r oder Verfassungskultur, der politischen Moral 7 1 7 , der Courtoisie, andererseits als „soft law", werdendes Verfassungsrecht, (Verfassungs-)Gewohnheitsrecht, sanktionsloses Recht, Observanzen, Naturalobligationen usw. 718 . Der solche ErscheinungsVielfalt übergreifende Begriff der „informalen Verfassungsregel" lebt daher primär von der negativen Ausgrenzung von Justiziabilität einerseits und von politischer Beliebigkeit andererseits, ohne positiv eine hinreichend präzise selbständige juristischdogmatische Kategorie bilden zu können 7 1 9 — zu unterschiedlich ist der regelungslogische Status dieser einzelnen Erscheinungsformen, der jeweils nur i m Einzelfall präziser bestimmt und rechtsquellen theoretisch eingeordnet werden könnte. Dennoch gibt es — informale Verfassungsregeln verstanden als Teil der „objektiv-normierenden Verfassungswirklichkeit" 7 2 0 — einige charakteristische regelungstheoretische Gemeinsamkeiten. b) Die Nähe zum Gewohnheitsrecht Informale Verfassungsregeln verdanken ihre Regelhaftigkeit meist einer tatsächlichen Übung und der präskriptiven Auffassung, es solle auch so sein. Diese Entstehungsvoraussetzungen signalisieren eine große Nähe zum Gewohnheitsrecht i m herkömmlichen Verständnis 721 , das ent712

K.-U. Meyn, Verfassungskonventionalregeln (Fn. 35), S. 214 ff. T. Oppermann, W D S t R L 35 (1977), 7 (53). 714 I m K o n t e x t von W.Schmidt, Der Staat 9 (1970), 492 ff., 497 erscheint diese Regel bereits als verfassungsrechtliche Folgerung aus A r t . 21 GG. 715 Nach N. Achterberg, DVB1. 1974, 693 (701) „zu einem guten T e i l lex de j u r e imperfecta, de politicis perfecta". 716 A. Podgórecki, in: Rechtssoziologie (Fn. 42), S. 275. 717 z. B. K . M. Meessen, FS f. U. Scheuner, 1973, S. 440, betr. Beraterverträge von Bundestagsabgeordneten. 718 Vgl. auch E.-H. Ritter, AöR 104 (1979), 394; K.Stern, Verfassungstreue (Fn. 293), S. 5. 719 Das gilt selbst für den engeren Begriff der Verfassungskonvention; dennoch bleibt die Kategorienbildung zweckmäßig, s. u. bei Fn. 866 ff. 720 K . - U . Meyn, Verfassungskonventionalregeln (Fn. 35), S. 222. 721 s. zu diesem z.B. BVerfGE 57, 121 (134 f.); 22, 114 (121); 15, 226 (232 ff.). 713

5. Informale Verfassungsregeln zwischen Recht u n d P o l i t i k

sprechend entsteht. So ist es kein Zufall, daß manche der oben genannten Beispiele ζ. T. auch schon als Gewohnheitsrecht qualifiziert werden 722 . Die Gemeinsamkeit informaler Verfassungsregeln liegt i n der Tat darin, daß sie ein vor-rechtliches Regelungsgefüge strukturieren, ein Reservoir von Übungen und Richtigkeitsüberzeugungen bilden, aus dem (Verfassungs-)Gewohnheitsrecht (oder aber auch: verfassungsgerichtliche Neuerkenntnis) „erwachsen" kann 7 2 3 — wenn jene Richtigkeitsüberzeugung als Rechtsüberzeugung aufzufassen ist 7 2 4 . (aa) Rechtsquellentheoretisch w i r d dabei vorausgesetzt, daß es Verfassungsgewohnheitsrecht geben kann 7 2 5 . Insoweit bestehen Zweifel zunächst für jene (formellen) Verfassungsrechtsbereiche, die der verfassungsgerichtlichen Justiziabilität unterliegen — hier setzt die Anerkennung tatsächlicher Übungen als Recht stets (sei es denknotwendig, sei ea faktisch) eine verîassungsgerichtliche Anerkennung voraus 728 , w i r d insoweit „Verfassungsgewohnheitsrecht" regelmäßig i m Rahmen des geschriebenen Verfassungsrechts durch dessen gerichtliche Auslegung anerkannt. Für selbständiges Gewohnheitsrecht neben oder gar gegen die (formellen) Verfassungsnormen bleibt hier kein Raum 7 2 7 . Indessen bewirken die tatsächlichen Übungen und Richtigkeitsüberzeugungen der Staatspraxis eine Vor-Interpretation der Verfassung, von der das BVerfG nur ausnahmsweise oder unter erhöhten Begründungszwängen abweichen wird 7 2 8 . I n diesem Bereich können informale Regeln folglich 722 s. ζ. B. H.-P. Schneider, Opposition (Fn. 50), S. 245 f., betr. die Redezeitverteilung i m Bundestag u n d die Vertretung jeder F r a k t i o n i n jedem Ausschuß; s. a. E. Schmidt-Jortzig, ZStW 130 (1974), 123 (134 f.). — Z u r W a h l des BT-Präsidenten s. N w . oben Fn. 701 ff. — Auch für die Entstehung der Verfassungskonventionalregeln i n England gelten diese Entstehungsvoraussetzungen, vgl. K.-U. Meyn, Verfassungskonventionalregeln (Fn. 35), S. 95 ff. 723 Z u r Nicht-Identität von Gewohnheitsrecht u n d ungeschriebenem Recht s. C.Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht? (Fn. 2), S. 45 ff. ; H. Huber (1955), i n : ders., Rechtstheorie (Fn. 612), S. 332; anders (wohl identifizierend) K . Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 111 f. 724 Das juristische Schrifttum neigt dazu, Uberzeugungen von der Richtigkeit einer Regel (Norm) sogleich als Rechtsregel anzusehen, ohne die Vielfalt von nicht-rechtlichen Normtypen zu berücksichtigen. 726 So die h. Μ., ζ. B. O. Bachof (1951), i n : ders., Wege zum Rechtsstaat, 1979, S. 1 (27); A. Voigt, V V D S t R L 10 (1952), 33 (37 f.); K. Hesse, Grundzüge (Fn. 205), § 1 I I I 3, Rdn. 34; ausf. auch K.-H. Rothaug, Leitungskompetenz (Fn. 251), S. 83 ff.; s. a. H.-J. Mengel, JöR 30 (1981), 59 ff. 726 Rechtstheoretisch grdl. J. Esser, Grundsatz u n d N o r m i n der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, S. 279 ff.; ders., FS f. F . V . H i p p e l , 1967, S. 95 (124 ff.); w. N w . bei C.Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht? (Fn. 2), S. 55; s. neuestens auch K. Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 112. 727 C.Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht? (Fn. 2), S. 140 f., 141, 144; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 452. 728 B.-O.Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 440 ff.; vgl. jetzt auch BVerfGE 61, 149 (175, 185, 189 f. u.ö.); 62, 1 (38 f., 49) und K.Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 112.

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als Verfassungsrecht intra constitutionem anerkannt bzw. als seine Konkretisierung verstanden werden bzw. durch Staatsorgane vorpraktiziert werden. Es gibt weiterhin Bereiche des (formellen) Verfassungsrechts, i n denen die Rechtsprechung des BVerfG keine Rolle spielt, weil es de facto unter Bedingungen der Normalität nicht zum Zuge kommt 7 2 9 : Man denke an die Amtsführung des Bundespräsidenten, die Selbstdefinition von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat i n ihren Geschäftsordnungen und die Beziehungen der Verfassungsorgane zueinander, auch die Regeln der Bund-Länder-Zusammenarbeit 730 . Hier dominiert statt der Gerichtspraxis die — i n sich ausbalancierende — Staatspraxis (mit wissenschaftlicher Begleitung 731 ) bei der Verfassungsinterpretation mit der Folge, daß bestimmte tatsächliche Übungen als konkretisiertes Verfassungsrecht gelten können 732 , ohne daß auch hier es i. d. R. einer selbständigen Rechtsquelle „Verfassungsgewohnheitsrecht" bedarf 733 , zumal in konsensüberschreitenden „Extremfällen" das BVerfG doch angerufen werden kann 7 3 4 . Ausnahmsweise ist aber i m Falle sehr offener, sprachlich nahezu unbestimmter Verfassungsrechtsnormen oder gar nur -prinzipien bzw. ihrer Systematik die Figur des Verfassungsgewohnheitsrechts doch erforderlich, u m die konkretisierende Staatspraxis an den Konsens einer möglichst breiten, auch Verfassungsrechts wissenschaftlichen opinio juris zu binden: Verfassungsgewohnheitsrecht, das — anders als Interpretationsergebnisse des BVerfG — nur m i t qualifizierter Mehrheit geändert werden könnte, bedarf einer besonderen öffentlichen Rechtsverwurzelung, über die beteiligten interessierten Kreise des Verfassungslebens hinaus 735 . — I n allen Fällen können informale Verfassungsregeln hier noch stärker auf das Verfassungsrecht wirken — i m Vorfeld oder gar schon „als" Verfassungsrecht.

729 v g l àie von der Verfassungsrechtsprechung noch nicht berührten Bereiche des GG anhand der „weißen Flecken" i n G. Leibholz/H. J. Rinck, Rechtsprechungskommentar zum Grundgesetz (6. Aufl. 1980 ff.). 730 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 191 ff. 731 Z u r Aufgabe der staatsrechtlichen Gutachten s. P. Häberle, i n : ders. (Hg.), Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, 1982, S. 15 (30 ff.). 732 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 445 f. 733 vgl. P.Häberle (1974), i n : ders., Verfassung (Fn. 1), S. 99, Fn. 37; ders., AöR 108 (1983), 456 (458 f.); a. A. B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn.35), S. 452. 734

s. auch insoweit BVerfGE 62, 1 (38 f., 49). A u f deren Überzeugung allein k a n n Gewohnheitsrecht sich nicht begründen, vgl. C. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht? (Fn. 2), S. 138 i . V . m . 135; H. Huber (1955), i n : ders., Rechtstheorie (Fn. 612), S. 332. 735

5. Informale Verfassungsregeln zwischen Recht u n d P o l i t i k

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(bb) Unterhalb der formellen Verfassungsrechtsebene w i r d man i m (materiellen) Verfassungsrecht am ehesten auf gewohnheitsrechtliche Ausformungen (einst) informaler Verfassungsregeln stoßen. Das läßt sich schon an der GO-BT belegen 738 , für die das parlamentarische Gewohnheitsrecht zugleich Vorstufe und Quelle ist 7 3 7 und darüber hinaus als Katalysator von „werdendem Verfassungsrecht" 738 fungiert. (cc) Auf allen Ebenen des materiellen Verfassungsrechts können schließlich auch Verfassungskonventionalregeln eine Vorstufe des Prozesses der Verfassungs(gewohnheits)rechtsbildung sein 739 . Namentlich die Parlamentsbräuche erfüllen geschriebenes Recht erst mit Leben und können inter oder praeter legem zu parlamentarischem Gewohnheitsrecht erstarken 740 . (dd) Prinzipien auf einem traditionellen Feld der Gewohnheitsrechtsbildung., dem Völkerrecht 741 , finden letztlich auch i m Zwischenländerverhältnis und i m Bund-Länder-Verhältnis der Bundesrepublik aufgrund einer entsprechenden Ausformung des grundgesetzlichen Bundesstaates Geltung 7 4 2 . Informale Verfassungsregeln sind auch hier besonders „gewohnheitsrechtsnahe" 743 . Das Dilemma aller genannten möglichen Rechtsbildungsprozesse liegt darin, daß die gleiche ungeschriebene Form und opinio necessitatis von informalen Verfassungsregeln und Gewohnheitsrechtsregeln bei ihrer schwierigen Abgrenzung allein am K r i t e r i u m der subjektiven „Rechts"Überzeugung selten unumstrittene, eindeutige Ergebnisse zulassen wird, obwohl damit die Scheide-Grenzziehung zur Justiziabilität bzw. Bestandskraft der GO-BT (vgl. § 126 GO-BT) gezogen w i r d 7 4 4 ; auch mag 736 K . - H . Rothaug, Leitungskompetenz (Fn. 251), S. 84 ff.; H.-P. Schneider, Opposition (Fn. 50), S. 243 ff. 737 K . - H . Rothaug, Leitungskompetenz (Fn. 251), S. 84. Aber auch umgekehrt können Regeln der G O - B T nach längerem Nicht-Gebrauch auch formell gestrichen werden, s. f ü r den 1980 gestrichenen A n t r a g auf Schluß der Aussprache: H.-A. Roll, F G f. W. Blischke, 1982, S. 104 f. 738 s. P.Häberle, ZRP 1977, 311 (312); s.a. F.Schäfer, Bundestag (Fn.48), S. 62. 739 So H.-P. Schneider, Opposition (Fn. 50), S. 245 (Fn. 300); s.a. P.Häberle, ZRP 1977, 312; a. A. B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 435 f., aber: (1) Auch ergänzende Regelungen können gewohnheitsrechtliche Geltung erlangen, d. h. Gewohnheitsrecht muß nicht immer derogieren; (2) V e r fassungskonventionen ritualisieren auch nicht immer n u r verfassungsrechtliche Formerfordernisse. 740 s. K.-H. Rothaug, Leitungskompetenz (Fn. 251), S. 87 m. w. Nw.; H.-P. Schneider, Opposition (Fn. 50), S. 247 ff. 741 Vgl. ausf. A. Verdross, ZaöRV 29 (1969), 635 ff.; s.a. C.Tomuschat, V e r fassungsgewohnheitsrecht? (Fn. 2), S. 77 f. 742 W. Schaumann, W D S t R L 19 (1961), 86 (121 f., 124 f.); BVerfGE 1, 14 (51); 34, 216 (231 f.); so jetzt auch K.Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 757 f. 743 Vgl. B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 433 f.

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I I I . Theorie u n d Dogmatik des informalen Verfassungsstaates

politische Verbindlichkeit einer „Verrechtlichung" vorzuziehen sein. Solche Schwierigkeiten sind theoretisch unvermeidbar; ihre praktische Bedeutung läßt sich an Beispielen erläutern. c) Informale

Verfassungsregeln

als „werdendes"

Recht

Die Entwicklung des Verfassungsrechts als Prozeß über die „ Z w i schenstation" informaler Verfassungsregeln läßt sich an drei Beispielen aus Staatspraxis, Verfassungsrechtsprechung und Gesetzgebung erläutern 7 4 5 . — Beim Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten bei der Kanzlerwahl nach Art. 63 I GG war W. Laforet, Mitglied des Parlamentarischen Rates, kurz nach Inkrafttreten des GG noch von einer politisch und rechtlich i n keiner Weise gebundenen Entscheidung ausgegangen 746 . Die wissenschaftliche Folgediskussion ging schon regelmäßig von politischen Bindungen aus 747 . Erstmals konstruierte E. Küchenhoff 1966 gewisse rechtliche Bindungen 7 4 8 und initiierte die seitherige Diskussionstendenz i n Richtung auf eine wachsende Bindung; heutige Auseinandersetzungen kreisen nur u m die A r t (politische oder rechtliche Bindung?) und Intensität dieser (nach h. L. i m Normalfall der Mehrheitskoalition nur schwachen 749 ) Bindung 7 5 0 . Die Annahme von informalen Verfassungsregeln macht diesen Prozeß und seine Erscheinungsformen plausibel: Jene speichern diese verfassungsrelevanten politischen Klugheitsregeln der bisherigen GG-Praxis und kondensieren sie zu einem Vorrat, der bei „Bewährung" nach Jahr(zehnt)en durch verfassungsgerichtliche Verfassungsfortbildung verfassungsrechtliche Geltung erlangen kann, i m übrigen abgeschwächte vorrechtliche W i r k u n g entfaltet. Solche informalen Regeln können die Wirkungen gerade i n solchen unvollständigen Bestimmungen wie Art. 63 GG entfalten, die „einen politischen Vorgang weder erschöpfend be744 K.-H. Rothaug, Leitungskompetenz (Fn.251), S. 87; K.-U. Meyn, JZ 1977, 168; H.Steiger, Grundlagen (Fn. 203), S. 45, 48. Der von Steiger als zusätzliches Indiz f ü r Recht herangezogene „enge u n d f u n k t i o n a l notwendige Z u sammenhang" (S. 47) gilt auch für informale Verfassungsregeln. 745 Z u r vergleichbaren Verrechtlichung von Verfassungskonventionalregeln i n England: K.-U. Meyn, Verfassungskonventionalregeln (Fn. 35), S. 181 ff. 746 W. Laforet, V V D S t R L 8 (1950), 55 (Diskussion). 747 s. z.B. Η . v. Mangoldt/F. Klein, Das Bonner Grundgesetz, Band 2, 1964, A r t . 63/Anm. I I I 1 a (S. 1227 f. m . w . N w . ) ; H.Rein, J Z 1969, 573 (574) i m A n schluß an Hans Schneider, N J W 1953, 1330. 748 E. Küchenhoff, DÖV 1966, 675 (679). 749 F ü r eine eher stärkere Bindung W.-R. Schenke, Jura 1982, 57 (59); H.Steiger, Grundlagen (Fn. 203), S. 233 ff. 750 Repräsentativ die insoweit i m Detail unklaren Unentschiedenheiten bei K.Stern, Staatsrecht I I (Fn. 107), S. 252; H. C. F. Liesegang, i n : I . V . M ü n c h (Hg.), GG I I (Fn. 205), A r t . 63/Rdn. 4; w. N w . oben bei Fn. 218 ff.; K.-U. Meyn, JZ 1977, 167, geht von einer Konventionairegei aus.

5. Informale Verfassungsregeln zwischen Recht u n d P o l i t i k 1 2 9

schreiben, noch die Gewichtsverteilung richtig erkennen lassen" 751 . Informale Verfassungsregeln sind potentielles, (weil) i n der Logik der jeweiligen Verfassungsnormen angelegtes Verfassungsfortbildungs-: recht. Der unklare und unsichere Status solcher Regeln w i r d am verfassungsgerichtlichen Streit um das (in der GO-BT nicht kodifizierte) Rügerecht des Bundestagspräsidenten deutlich. Vom BVerfG wurde es (widersprüchlich) „ i n der Regel"(?) teils als rechtsunerheblich für die Status- (hier: Rede-)Rechte der Abgeordneten qualifiziert und als formlose präventiv hinweisende Maßnahme der Mißbilligung unterhalb der Sanktion bezeichnet 752 ; es w i r d sonst teils dem parlamentarischen Gewohnheitsrecht 753 , dem parlamentarischen Satzungsgewohnheitsrecht 754 , teils dem Parlamentsbrauch zugeordnet 755 ; jedenfalls unterstreicht der umstrittene rechtliche Status der informalen Verfassungsregel ihren ProzejScharakter. Der Charakter als „werdendes" Recht auch für und durch den parlamentarischen Gesetzgeber läßt sich ebenfalls belegen. So wurde 1956 zur Information über die Tätigkeit der Nachrichtendienste (von BND und später auch von B f V und MAD) ein (informelles) „Vertrauensmännergremium" aus neun von den Fraktionen entsandten (!) Spitzenpolitikern aller Parteien (u. a. alle drei Fraktionsvorsitzenden) geschaffen, das — unter dem Eindruck verschiedener Geheimdienstskandale — nach verschiedenen Fehlanläufen durch Gesetz vom 11. 4.1978 (BGBl. I, S. 543) i n jener achtköpfigen Parlamentarischen Kontrollkommission eine Nachfolgeinstitution fand, die heute (unter unverändert strenger Geheimhaltung) die parlamentarischen Kontrollbefugnisse wahrnimmt und wahrnehmen kann 7 5 6 : Die einstigen Erfahrungen i m rechtlich nirgends erwähnten Vertrauensmännergremium wurden Basis für eine rechtliche, vom Vertrauen einer möglichst breiten Mehrheit getragenen 757 , m i t Politikern aller Richtungen gebildeten parlamentarischen 75 1 Hans Schneider, N J W 1953, 1330, betr. A r t . 62—69 GG. Das Verbot einer Aussprache vor der K a n z l e r w a h l i n A r t . 63 GG gebe n u r „zwischen den Zeilen zu verstehen, daß die Entscheidung anderswo vorbereitet w i r d " . Genau hier knüpfen informale Verfassungsregeln an. 752 BVerfGE 60, 374 (381 ff.); zust. L.-A.Versteyl, N J W 1983, 379 (380 f.); insoweit auch N. Achterberg, JuS 1983, 840 (842); k r i t . J.Milinski, N J W 1983, 2808 f. 75 3 N. Achterberg, Grundzüge (Fn. 251), S. 77 (Fn. 247); zuletzt ders., JuS 1983, 841 m. w. N w . 75 4 K.-H. Rothaug, Leitungskompetenz (Fn. 251), S. 85. 755 s. BremStGH, DÖV 1971, 164 (164); s.a. J. Milinski, N J W 1983, 2809: „parlamentarische Gepflogenheiten". 756 Z u r Entstehungsgeschichte s. H. Borgs-Maciejewski, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 6/1977, S. 12 (14 f., 24 ff.); zum I n h a l t H.Troßmann, JöR 28 (1979), 64 ff.; s. a. ff. Herìes, F A Z v. 25. 3.1982, S. 7. 757 s. schon J. Rottmann, AöR 88 (1963), 227 (243).

9 Schulze-Fielitz

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I I I . Theorie u n d Dogmatik des informalen Verfassungsstaates

Kontrollform 7 5 8 . — Schließlich kann sogar der verfassungsändernde Gesetzgeber eine i n problematischen „Grauzonen" des Grundgesetzes entstandene faktische Regelpraxis verfassungsrechtlich legalisieren 759 .

6. Die mittelbare Justiziabilität informaler Verfassungsregeln Aus dem unklaren Rechtscharakter informaler Verfassungsregeln folgt zugleich, daß sie auch nicht justiziabel sind. Ihre Einhaltung ist nicht gerichtlicher Nachprüfbarkeit (und Durchsetzbarkeit) unterworfen. Das gilt unabhängig davon, ob den jeweiligen Regeln i m Einzelfall bloß politisch verbindliche oder zwar (ungeschrieben) rechtliche, aber aus funktionell-,,rechtlichen" Gründen nur nicht justiziable Verbindlichkeit 7 8 0 zuzuschreiben ist. Dem informalen Verfassungsstaat ist so Distanz zur Verfassungsgerichtsbarkeit eigentümlich: Diese kann nur Grenzen, nicht die Einhaltung informaler Verfassungsregeln garantieren. Diese haben dennoch mittelbar eine doppelte rechtliche Bedeutung. Einmal bestimmen sie ihre verfassungsrechtlichen Grenzen m i t (a); zum anderen sind bestimmte verfassungsrechtliche Probleme als solche erst durch sie erkennbar (b). (a) Informale Verfassungsregeln entwickeln sich in Regelungsnischen, indem sie einen verfassungsrechtlich nicht gestillten Regelungsbedarf erfüllen: Die Verfassung regt hier an. Sie sind allerdings nur i n den Grenzen der Verfassung (als „Schranke") zulässig. Die verfassungsrechtlichen Grenzziehungen selber lassen sich praktisch freilich (interpretatorisch) nicht ohne Blick auf die nicht-rechtlichen Verfassungsregeln bestimmen; die juristische Auslegung der Verfassungsgrenzen w i r d auch von solchen faktischen informalen Verfassungsregeln bestimmt, die für verfassungswidrig erklärt werden müßten. So w i r k t eine verfassungsjuristische Auslegung, die die informalen Verfassungsregeln 758 Die Enquete-Kommission Verfassungsreform hatte sie nicht einmal definitiv vorzuschlagen gewagt! Vgl. BT-Drs. 7/5924, S. 60 ff. 759 So betr. die Einfügung von A r t . 75 Ziff. 1 a, 91 a u n d b GG: Bericht der Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge, 1983, Rdn. 188; zur (Rechts-)Lage zuvor U. Scheuner (1966), i n : ders., Staatstheorie (Fn. 618), S. 435 (447 f.). ™ Z u dieser Unterscheidung, der die von Funktionsnorm u n d K o n t r o l l n o r m entsprechen dürfte, vgl. etwa E. Forsthoff (1955), i n : ders., Rechtsstaat i m Wandel, 1964, S. 78 (94); W.-R. Schenke, Verfassungsorgantreue (Fn. 226), S. 140ff.; allg. P.Häberle, DVB1. 1973, 388 (389); ders. (1976), i n : ders., V e r fassungsrechtsprechung (Fn. 150), S. 215 (231 f.); K . Hesse, Grundzüge (Fn. 205), § 14 I I I 3e, Rdn. 569; speziell zur innerparlamentarischen Organisation: K.-H. Rothaug, Leitungskompetenz (Fn. 251), 1979, S. 156. Informale Verfassungsregeln umfassen beide Erscheinungen u n d bestätigen ihre Eigenart als Ebene „zwischen" Recht u n d Politik.

6. Die mittelbare Justiziabilität informaler Verfassungsregeln

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i m Zwischen-Länder-Bereich als bundesstaatswidrige „dritte Ebene" qualifizieren wollte, angesichts von deren Ausmaß und Bedeutung für einen kooperativen Föderalismus bestenfalls realitätsfern. Ein anderes Beispiel war die Bundestagsauflösung 1982/83. Die verfassungsrechtlichen Fragen nach den Grenzen der Vertrauensfrage, der Abstimmung und ihrer Folgen wurden maßgeblich präjudiziert durch die (politischen) Koalitionsvereinbarungen der christlich-liberalen Spitzenpolitiker vom September m i t ihrem begrenzten Geltungsanspruch bis zu den vereinbarten Neuwahlen am 6. 3.1982. Die politische A b sprache war Grundlage für die verfassungsrechtlich relevante Einschätzung des Bundeskanzlers, er habe i m Bundestag keine Vertrauensgrundlage mehr 7 6 1 . Die Beendigung der 9. Wahlperiode zeigt plastisch, wie rechtliche Grenzen (hier: der Vertrauensfrage) durch nicht-rechtliche informale Verfassungsregeln (hier: Koalitionsvereinbarungen plus Vorab-Zustimmung der Opposition) mitbestimmt werden 7 6 2 . Insoweit bestätigt sich einmal mehr die These von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" 768 : Die Interpretation der verfassungsrechtlichen Grenzen w i r d auch durch informale Regeln der Verfassungspraxis und i h r Gewicht mitbestimmt 7 6 4 , namentlich die für verfassungsgemäß gehaltenen politischen (Gestaltungs-)Absprachen der politischen Parteien. Nicht nur durch die juristische Auslegung einzelner Normen i n Staatspraxis, Bundesverfassungsgerichtsjudikatur und Staatsrechtslehre w i r d die schrankenbestimmende Kraft der Verfassung bestimmt, sondern auch durch die politische Expansion (faktischer) informaler Regeln i n deren Normbereich 765 . (b) A m Problem der Bundestagsauflösung läßt sich auch eine zweite wichtige Rechtsrelevanz informaler Verfassungsregeln verdeutlichen: 761 Vgl. BVerfGE 62, 1 (52 ff.). Die Entscheidung beschreibt freilich den Tatbestand des „Vertrauens auf Zeit" verkürzt, allein am Beispiel der FDP i n ex-post-Perspektive, ohne Rückgriff auf die Koalitionsvereinbarung v o m 21. 9.1982, die die zeitliche Begrenzung des Vertrauens ex ante vorsah (und auch schon das Verhalten der Parteien u n d ihrer Flügel einschließlich der F D P i m Blick auf die Neuwahlen bestimmte). 762 Die Frage ist nicht identisch m i t der nach der „rechtlichen Relevanz" von KoalitionsVereinbarungen der A r t , daß der Bundeskanzler verpflichtet wäre, sie i m Rahmen seines rechtlichen Gestaltungsspielraums zu beachten (so H.Steiger, Grundlagen [Fn. 203], S. 265); vgl. dazu A. Schule, Koalitionsvereinbarungen (Fn. 205), S. 70 ff. ; k r i t . P.Häberle (1965), i n : ders., Verfassung (Fn. 1), S. 625 f. („inkonsequent"). 76 8 P.Häberle (1975), i n : ders., Pluralismus (Fn. 192), bes. S. 83ff. 764 Anders W. Seuffert, AöR 108 (1983), 403 ff., indem er i n strenger Dichotomie von Recht u n d P o l i t i k verfassungsrechtliche als politische Fragen definiert; s. a. ders., N J W 1984, 908 f. 765 K r i t . zu dieser „Entformalisierung" L.Gussek, N J W 1983, 721 (7221); J. Delbrück/R. Wolf rum, JuS 1983, 758 (763); G. Schlichting, J Z 1984, 120 (121 f.); W. Heun, AöR 109 (1984), 29 f.

9*

1 3 2 I I I . Theorie u n d Dogmatik des informalen Verfassungsstaates

Sie sensibilisieren für verfassungsrechtliche Probleme. Ohne die (informalen) politischen Absprachen der politischen Parteien bzw. ihrer Spitzenpolitiker wäre die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers gar nicht als Problem erschienen; erst die Finalität des Vorgehens aufgrund der den verfassungsrechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen vorgelagerten Koalitionsabsprachen machte die Künstlichkeit bzw. die verfassungsrechtliche Problematik der Handlungskette bis zur Bundestagsauflösung deutlich; denn Neuwahlen dürfen nicht durch Koalitionsabsprachen durchgesetzt werden 7 6 8 . „Formenmißbrauch" i m Verfassungsstaat w i r d oft überhaupt erst durch die Einbeziehung vorheriger informaler Absprachen deutlich, weil nur so seine falsche Zweck-Mittel-Relation aufgrund subjektiver Umstände deutlich wird 7 6 7 . — Erst die Beschlüsse der „Grünen" 7 6 8 über eine Rotation ihrer Abgeordneten 769 oder die Schuldenlast ( = Motiv) und die interfraktionellen Absprachen der großen Bundestagsparteien über eine möglichst ergiebige (einen Mißbrauch „überflüssig" machende) Parteienfinanzierung unter Herausforderung der bisherigen verfassungsgerichtlichen Maßstäbe 770 macht zum verfassungsrechtlichen Problem, was für sich betrachtet verfassungsmäßig zu sein scheint 771 . (c) Die umgekehrte Wirkung einer verfassungsrechtlichen Grenzziehung auf die Ausgestaltung informaler Verfassungsregeln erscheint demgegenüber rechtlich unproblematisch. Freilich wirken verfassungsrechtliche Verbote oft nur sektoral, ohne immer funktional äquivalente informale Regeln zu treffen (also: Eine verfassungswidrige Ämter- oder 7ββ

So, i n Ergänzung zur Vorauflage, K . Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 460. Vgl. dazu schon R. Smend (1928), i n : ders., Abhandlungen (Fn. 27), S. 259. — Allerdings bedarf es nicht immer informaler Regeln; ein Formenmißbrauch k a n n auch durch regel-loses informales Handeln (Verhalten) einzelner verursacht werden. 768 s. auch ihre Qualifikation als „vorjuristische Abmachung" durch G r ü n e n - M d B J.Fischer, zit. nach F A Z v. 13.7.1984, S. 5; ähnlich K.-H. Hohm/T. Rautenberg, N J W 1984, 1658. 789 s. am Bsp. des Widerstandes des niedersächsischen Landtagspräsidenten gegen die Mandats Verzichtserklärung der „Grünen "-Abgeordneten (aufgrund der konstitutiven Mitwirkungsnotwendigkeit des Landtages) F A Z v. 6. 7.1984, S. 4; k r i t . F A Z v. 7. 7.1984, S. 1; zur Ablehnung einer einstw. Anordnung durch den Staatsgerichtshof F A Z v. 12. 7.1984, S. 5 u n d v. 19. 7.1984, S. 5. 770 s. jetzt (insoweit übereinstimmend) K.H.Friauf u n d H.H.v. Arnim, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 8/1984, S. 3 ff. (5: „verfassungsrechtliches Restrisiko") bzw. 9 ff. 771 W o h l insoweit hält W. Kewenig, AöR 90 (1965), 196, n u r i n Ausnahmefällen (ζ. B. bei einem K o m p l o t t gegen die Verfassung) f ü r möglich, daß K o a litionsvereinbarungen selber verfassungswidrig sind; der Vereinbarung (dem „Papier") komme n u r die Bedeutung eines Indizes zu. — Indessen kann der faktische Druck aufgrund einer solchen Vereinbarung selber schon verfassungsrechtliche Bedeutung erlangen; insoweit zu Recht D.Jung, D Ö V 1984, 200, aber m i t zweifelhafter Ausweitung von A r t . 48 I I GG; anders K . - H . Hohm/T. Rautenberg, N J W 1984, 1658, 1659. 787

6. Die mittelbare Justiziabilität informaler Verfassungsregeln

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Proporzpatronage ζ. B. läßt sich auch i n den Kategorien von A r t . 33 I I GG vertreten, ohne daß Anhaltspunkte für die Verfassungswidrigkeit eines solchen Vorgehens erkennbar würden). Damit werden Grenzen der Justiziabilität bzw. die Gefahren informaler Verfassungsregeln deutlich.

I V . Gefahren und Einwände Entgegen der bisherigen neutral-deskriptiven Bestandsaufnahme einerseits und einer eher die positiven Funktionen hervorhebenden Analyse andererseits gehen von informalen Verfassungsregeln auch spezifische Gefahren aus. Es ist kein Zufall, daß die Verfassungsrechtswissenschaft sich etwa dem Parteienproporz und informaler Kooperation durchweg eher kritisch nähert. Zugleich implizieren sie grundsätzliche Einwände gegen „informale" Regeln als selbständigen Erkenntnisgegenstand. 1. Die Aufweichung von Verfassungsrechtsregeln Eine erste generelle Gefahr informaler Verfassungsregeln w i r d beispielsweise an W.Bagehots Unterscheidung zwischen den „dignified parts" und den „efficient parts" der (englischen) Verfassung oder der Gegenüberstellung von „wirklicher" und „förmlicher" Regierungsbildung deutlich 772 . Sie liegt i n ihrer Tendenz, geschriebenes Verfassungsrecht zu vernachlässigen, zu umgehen oder (in kritischer Absicht) zu modifizieren. Damit verbunden ist ein Verlust an Klarheit und Kraft der Verfassung, wenn ihre rechtlichen Regeln durch „eine Reihe schwierig faßbarer, mehr i m Tatsächlichen liegenden Entwicklungen" 7 7 8 ihre materielle K r a f t einbüßen 774 . Diese Gefahr faktischer Korrekturen geltenden Verfassungsrechts besteht überall, wo informale Verfassungsregeln bestehen; dennoch dürften sich einige besondere Gefahrenschwerpunkte lokalisieren lassen. a) Umgehung des Öffentlichkeitsgebots

der Verfassung

Es ist ein Merkmal verschiedener informaler Verfassungsregeln, daß entweder die Entscheidung für sie oder die Modalitäten ihrer zukünf772 s. (in A n k n ü p f u n g an W. Bagehot): D. Sternberger, Verfassung (Fn. 202), S. 121 ff. 77 3 P.Lerche, i n : M . B u l l i n g e r / F . K ü b l e r (Hg.), Rundfunkorganisation u n d Kommunikationsfreiheit, 1979, S. 15 (44), spricht von „grauen Zonen" (konkret betr. die faktische Zusammensetzung der Rundfunkaufsichtsgremien). 774 Plastisch schon 1952 (!) Hans Schneider, FS f. R. Smend, 1952, S. 308: Parteiproporz mache die Richterwahlen „ z u m Gegenteil dessen, was ein unbefangener Staatsbürger aus den einschlägigen Verfassungsartikeln (Art. 94, 95 GG) herausliest".

1. Die Aufweichung von Verfassungsrechtsregeln

135

tigen Fortsetzung sich ganz oder teilweise (nach informal-beliebiger Maßgabe der Beteiligten) dem Verfassungsgebot demokratischer Öffentlichkeit entziehen 775 : Die Informalität ist geradezu ein Indiz für Öffentlichkeitsdistanz. Durch die Ausbildung informaler Regeln werden verfassungsrechtlich oder verfassungskulturell zweifelhafte Entscheidungen arkanisiert und öffentlicher Kontrolle entzogen: Koalitionsausschüsse unterliegen, anders als die Regierung, weder einer parlamentarischen noch einer öffentlichen Kontrolle; Richterfindungsgremien außerhalb der Wahlausschüsse unterliegen fast gar keiner Öffentlichkeitskontrolle 77 ®; unveröffentlichte Koalitionsabsprachen über ein veröffentlichtes Koalitionsprogramm und/oder über eine Regierungserklärung hinaus sind unkontrollierbar; parteipolitische „Freundeskreise" i n den Rundfunkräten entscheiden Intendantenwahlen ohne öffentlich erkennbare Kriterien 7 7 7 ; „hochpolitische" Verfahrensregelungen i m Ältestenrat des Bundestags werden ebenso effektiv wie nicht-öffentlich entschieden 778 . Öffentlichkeit als spezifisches (Kontroll-)Medium einer demokratischen Verfassung w i r d hier unterlaufen, gerade auch weil Öffentlichkeit ein spezifisches Medium der Kontrolle und Sanktionierung informaler Verfassungsregeln ist. Die Bedeutung von Öffentlichkeit als verfassungsrechtliches Prinzip braucht an dieser Stelle nicht erneut begründet zu werden: Es entfaltet nach seiner dogmatischen Aufbereitung 7 7 9 immer wieder neue verfassungsrechtliche Stoßkraft 7 8 0 . So richtig und wichtig es ist, auf ein möglichst öffentliches Verfassungsleben zu drängen (und ζ. B. Richterkandidaten einer öffentlichen Anhörung zu unterwerfen 7 8 1 ) — die Forderung nach Öffentlichkeit w i r d hier auf Grenzen stoßen. Denn die Vertraulichkeit scheint oft eine Effektivitätsbedingung zu sein 782 ; sie 775

s. oben bei Fn. 545 ff. F.K. Fromme, F A Z v. 11.5.1983, S. 1: „Die Politiker verstehen es m e i sterhaft (die potentiell Betroffenen helfen ihnen dabei), die Wahlen unbeanstandet zum Gegenstand stiller Vereinbarungen zu machen"; ähnlich k r i t . A.Rinken, i n : A K - G G I I (Fn. 52), A r t . 94/Rdn. 8. 777 M a n erinnert sich an E. Forsthoff s D i k t u m über die Rundfunkanstalten (in: ders., Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 156): „Nisthöhlen f ü r Cliquen". 778 K r i t . z. B. U. Bleek, in: Handbuch Parlamentarismus (Fn. 202), S. 28 (29 f.); V.Szmula, i n : Handbuch des politischen Systems (Fn. 99), S. 30 (32). 77 9 P.Häberle (1970), i n : ders., Pluralismus (Fn. 192), S. 126 (128ff.); ders. (1967 u n d 1970), i n : ders., Verfassungsrechtsprechung (Fn. 150), S. 193 ff., 297 ff. u. ö.; ders. (1969), i n : ders., Verfassung (Fn. 1), S. 225 ff.; traditioneller W. Martens, ö f f e n t l i c h als Rechtsbegriff, 1969, S. 59 ff. 780 s. ζ. Β. Η. Η. υ. Arnim, Die Öffentlichkeit kommunaler Finanzkontrollberichte als Verfassungsgebot, 1981, S. 25 ff., 31 ff. 781 P.Häberle, i n : J . A . F r o w e i n u.a. (Hg.), Das Bundesverfassungsgericht i m d r i t t e n Jahrzehnt, 1973, S. 79 f. (Diskussion); zust. K . Kröger, F G B V e r f G I, 1976, S. 99. 77 6

136

I V . Gefahren u n d Einwände

würde bei Forderung nach Öffentlichkeit neue informale Gremien konstituieren, wenn die alten ihre Existenz gerade dem Interesse an vertraulich-informaler Zusammenarbeit verdanken 783 . Auch das parlamentarische Ausschußwesen verdankt sich historisch dem Bestreben, Details der Parlamentsvorlagen nicht-öffentlich i m kleineren Kreis zu beraten 7 8 4 . Informalität erscheint so als Komplementärerscheinung zum Öffentlichkeitsprinzip. Der informale Verfassungsstaat offenbart hier ein Desiderat der Verfassungsrechtswissenschaft: eine Theorie des Zusammenhangs und Ergänzungsverhältnisses von öffentlichen und nichtöffentlichen Diskussions- und Entscheidungsprozessen i n der Demokratie, i n Fortführung der zunächst primär notwendigen verfassungspolitischen Forderung nach „mehr" Öffentlichkeit. Selbst die „Grünen" i m Bundestag sind zwischenzeitlich vom Prinzip uneingeschränkter Öffentlichkeit der Fraktionssitzungen abgekommen 785 . Die Prozesse der Öffentlichkeitsdistanz sind besonders dort zweifelhaft, wo sie die Ausübung verfassungsrechtlicher Kompetenzen erschweren: Man denke an die nahezu unmögliche (länder-)parlamentarische Kontrolle informaler bundesstaatlicher Exekutiv-Absprachen, schon weil klare Verantwortungsbereiche für bestimmte politische Entscheidungen nicht mehr erkennbar sind 7 8 6 , aber auch weil informale politische A b sprachen i m Bund einen unwiderstehlichen (Zustimmungs-)Druck auf die Parlamente entfalten 787 . Darin werden, verallgemeinert, die Gefahren einer (je nach Sachzusammenhang) Entdemokratisierung, Entparlamentarisierung oder Hierarchisierung deutlich, denn die Informalisierung ist stets m i t einer Verkleinerung des Kreises der (faktisch) Entscheidenden verbunden. Auch der Rechtsschutz (Art. 19 I V GG) w i r d ohne Kenntnis „eigentlicher" Entscheidungsgründe erschwert, sollten Bürger von informalen Entscheidungen i n ihren subjektiven Rechten verletzt sein; man denke an Beamtenklagen.

782

s. für den Vermittlungsausschuß H.H. Klein, AöR 108 (1983), 365; T. EllRegierungssystem (Fn. 699), S. 290. 788 So ζ. Β. P. Blachstein, Z P a r l 4 (1973), 144 (147), gegen das Plädoyer für die Öffentlichkeit von Rundfunk-Aufsichtsgremien von J. Seifert, Z P a r l 3 (1972), 529ff.; H.H. v. Arnim, Staatslehre (Fn. 152), S. 325. 784 s. zuletzt G. Weng, ZParl 15 (1984), 33 f. m. N w . 785 s. H. Fogt, PVS 25 (1984), 99, u n d oben Fn. 550. 788 z.B. D.Grimm, i n : Wissenschaft (Fn. 46), S. 281; s. zu den Bestrebungen einer Stärkung der Länderparlamente etwa H. Klatt, F A Z v. 11. 5.1984, S. 8; A. Martin, Z P a r l 15 (1984), 278 ff. 787 s. W.Leisner, D Ö V 1968, 389 (392 u. ö.); W. Schreckenberger, i n : K . K ö n i g u.a. (Hg.), V e r w a l t u n g (Fn. 288), S. 110; H. Klatt, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 31/1982, S. 9, 12 u n d 14 f. wein,

1. Die Aufweichung von Verfassungsrechtsregeln

b) Verlagerung

137

von Kompetenz- und Verantwortungszuweisungen

Eine weitere Gefahr von Informalisierungen liegt in der Entrechtlichung von Verantwortungsund Kompetenzzuweisungen zugunsten faktischer Verantwortungslosigkeiten, allgemein: i m Unterlaufen verfassungsrechtlicher gewaltenteilender Kompetenzordnung. Die „MischVerantwortung" im Bundesstaat wird, auch unter dem Etikett der „Politikverflechtung", nicht nur als ein zentrales Problem des kooperativen Föderalismus seit langem diskutiert 7 8 8 . Doch gelten die Gründe ihrer K r i t i k i n vielen anderen Zusammenhängen, etwa bei Verfassungsrichterwahlen, wenn Mitglieder, die nicht dem Wahlmännerausschuß des Bundestages angehören, die interfraktionellen Wahl-Vorentscheidungen in den informalen Richterfindungsgremien mitbestimmen und damit die Funktion des Wahlmännerausschusses unterlaufen, Distanz zu unmittelbaren Parteieinflüssen zu schaffen 789 ; das gilt erst recht, wenn heute die Personalpakete für die Wahlen durch Bundestag und Bundesrat unter Beteiligung auch je eines Vertreters eines CDU- und eines SPD-regierten Landes 790 in verfassungsorganübergreifender, Bundestag und Bundesrat prä judizier ender Weise geschnürt werden 791 . — Auch das faktische „Vorrecht" einer Koalitionspartei, „ihre" Ministerkandidaten selber zu benennen, reibt sich mit dem Vorschlagsrecht des Bundeskanzlers (Art. 64 I GG) 792 . Ein anderes Beispiel ist die „Vergesellschaftung" der verfassungsrechtlichen Gewaltenteilung. Wenn eine sachangemessene GremienLogik ζ. B. i n Aufsichtsgremien des Rundfunks Regierungs-, Parlaments» oder Bundesratsmitglieder als Repräsentanten spezifischer Staatsfunktionen durch Wahl m i t gesellschaftlichen Gruppenvertretern einschließlich der Parteien vereint, dann widerstrebt es einem solchen rechtlichen Pluralismus-Modell, diese Funktionsgrenzen durch eine rein parteipolitisch motivierte Besetzung bzw. durch quasi „innerparteiliche" Diskussionen und Entscheidungen zu überlagern 793 . Die verfassungs788

s. z.B. W.Zeh, Z P a r l 8 (1977), 475 f.; W. Sehreckenb erger, i n : K . K ö n i g (Hg.), V e r w a l t u n g (Fn. 288), S. U l f . ; P.Lerche (1983), i n : T. Maunz/G. Dürig, GG (Fn. 34), A r t . 83/Rdn. 110. — Die Abschaffung des Bundesratsministeriums 1969 w a r auch eine Konsequenz seiner politikwissenschaftlich nachgewiesenen FunktionslosigkÄt (vgl. R. Kunze, Föderalismus [Fn. 288], S. 20 ff., zsfssd. 32 f.) angesichts einer Fülle rechtlich geregelter u n d informaler B u n d - L ä n der-Kooperationsformen. 789 K r i t . K . Kröger, F G B V e r f G I, 1976, S. 93. 790 F A Z v. 30. 8.1983, S. 12, u n d oben bei Fn. 538 ff. 791 Ausf. zum Verfahren 1983: F. K . Fromme, F A Z v. 21.10.1982, S. 12, u n d v. 16. 6.1983, S. 6. — Z u einem anderen verfassungsorganübergeifenden Beispiel oben Fn. 348. 792 K r i t . schon D. Sternberger, Verfassung (Fn. 202), S. 124; s. a. H. H. v. Arnim, Staatslehre (Fn. 152), S. 337. 793 s. am Beispiel von Rundfunkräten H. D. Jarass, Massenmedien (Fn. 170),

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I V . Gefahren u n d Einwände

rechtliche Gewaltenteilung und ihre Dialektik von „Herrschaft und K r i t i k " (C. Starck) w i r d hier gerade geschwächt. Das gilt erst recht, wenn die Parlamente wohl entgegen der Rechtsprechung des BVerfG 7®4 in die Aufsichtsgremien des Rundfunks (fast) nur noch Parteivertreter entsenden 795 : I h r dominierendes Eigeninteresse, das die vom Rundfunk weniger existenziell getroffenen Rundfunkratsmitglieder instrumentalisiert, unterläuft die Staatsfreiheit des Rundfunks mit der Folgegefahr, daß zwar — wegen des Proporzes — nicht ein Regierungsfunk, aber ein den politischen Parteien gegenüber kritikloser Rundfunk entsteht™. Nicht spektakuläre Einzelfälle 797 , sondern die permanente präventive „Schere i m Kopf" alltäglicher Medienarbeit sind die schleichende Gefahr. — Schließlich w i r d auch die Opposition als die „Regierung von morgen" i n ihrer Aufgabe, Alternativen für das Gemeinwesen aufzuzeigen, entscheidend geschwächt, wenn sie zu stark i n Entscheidungsprozesse der Regierung eingebunden würde 7 9 8 ; ein wesentlicher Strukturvorteil des Parlamentarismus würde damit verkleinert. Solche Beispiele ließen sich mehren. Wie kompetenzgerecht ζ. B. kann ein Minister handeln, der durch das „Kreuzstichverfahren" 7 9 9 von vornS. 281. Deshalb verdient die Forderung Beifall, daß nicht Spitzenpolitiker selber i n den Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sitzen sollen, so Ministerpräsident J.Rau, FR v. 16.12.1983, S. 4; ähnlich schon C. Starck, ZRP 1970, 219; ders., Rundfunkfreiheit (Fn. 114), S. 6, 27. 794 Vgl. BVerfGE 12, 205 (261 f.), das freilich auch (partei-)politischen Gremien-Pluralismus anerkennt. 795 Z u r K r i t i k etwa C. Starck, ZRP 1970, 219 f.; ders., Rundfunkfreiheit (Fn. 114), S. 24 ff.; W.Rudolf, ZRP 1977, 213 (216); J.Lücke, DVB1. 1977, 977 (985, m. w. N w . Fn. 109); W. Kewenig, Rundfunkfreiheit (Fn. 114), S. 67 ff.; zuletzt W.Schmidt, N J W 1984, 762 (767); J. Wieland, Der Staat 23 (1984), 245 (246, 272); w o h l großzügiger P.Lerche, i n : Rundfunkorganisation (Fn. 773), S. 78 f. — I m Herbst 1984 w i l l die NRW-Landesregierung, herausgefordert durch den E n t w u r f eines Mediengesetzes der CDU u n d die A n k ü n d i g u n g einer Verfassungsbeschwerde der katholischen Kirche, i n einer Novelle des WDR-Gesetzes den Wahlmodus des Rundfunkrates ändern, FR v. 26. 7.1984, S. 10. ™ D.Grimm, i n : HandbVerfR (Fn. 69), S. 367 f.; H.H. v.Arnim, Staatslehre (Fn. 152), S. 453. 797 M a n denke an das K r i t i k v e r b o t für WDR-Journalisten zugunsten des CDU-Politikers K . Grundmann i n Sachen „Neue H e i m a t " ; an den Widerstand gegen eine ARD-Sendung des W D R über die „Affäre F l i c k " (FR v. 4.1.1984, S. 1) ; an das zeitweilige Moderationsverbot f ü r den Redakteur F. Alt (vgl. aber auch zur K r i t i k daran von P o l i t i k e r n aller Parteien FR v. 6.10.1983, S. 1, 3 u n d 4). 798 s. auch R.Marcic, Koalitionsdemokratie (Fn. 204), S. 42 ff.; H.H. v.Arnim, Staatslehre (Fn. 152), S. 324. 799 s. o. bei Fn. 474. — s. etwa die K r i t i k des pari. StS B. Erhard (CDU) am V o t u m von B M J H. A. Engelhard (FDP) für ein Gesetz gegen neonazistische Propaganda (FR v. 6.1.1984, S.4), oder jetzt die K r i t i k des pari. StS R. Sprung (CDU) an den wirtschaftspolitischen Vorstellungen „seines" Ministers M. Bangemann (FDP), zudem noch vor A b l a u f von dessen 100-Tage-Schonfrist: FR v. 16. 8.1984, S. 1 u n d 3.

1. Die Aufweichung von Verfassungsrechtsregeln

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herein an die Parteiräson einer anderen Koalitionspartei gebunden wird? Auch die Koalitionsspitzengespräche lassen die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers weit hinter das Kabinetts- und Ressortprinzip zurücktreten 800 , wenn ihre Entscheidungen über die Ausgestaltung von Gesetzen nicht sogar generell zu Legitimationsdefiziten führen 8 0 1 . Allgemein führt das „ i n Bonn" so ausgeprägte Beratungsgremienwesen durch die präjudizierende K r a f t der Gremien zu einer Verlagerung der Willensbildungs- und (faktischen) Entscheidungsprozesse, die man durch eine formale Trennung von „Vorfeld" und „Entscheidung" vielleicht analytisch 802 , nicht aber real aufspalten kann. Auch eine zu fordernde zeitliche Befristung der Mitgliedschaft und Rotation der offen auszuwählenden Sachverständigen in möglichst öffentlichen Beratungsgremien 803 kann die faktisch präjudizierende politische Kraft von wissenschaftlicher Beratung nur ansatzweise disziplinieren. Diese Bedenken gelten erst recht, wenn staatliche Funktionsträger sich durch informale Vereinbarungen ihrer Verantwortung begeben sollten 804 . c) Die Abwertung

des Verfassungsverfahrensrechts

Eine weitere Gefahr begegnet i n der Abwertung des Verfassungsverfahrensrechts. Die Erwartungssicherheit parteipolitischer oder auf höchster informaler Entscheidungsebene einstimmig getroffener Entscheidungen i n parakonstitutionellen Gremien birgt die Gefahr, daß die „eigentlichen", konstitutiven Wahlentscheidungen nur noch als „formaler" A k t ohne bedeutenden rechtlichen Eigenwert angesehen werden. So trat z. B. R. Herzog als Innenminister Baden-Württembergs schon vor seiner Wahl zum Bundesverfassungsrichter i m Wahlmännerausschuß des Bundestages i n sicherer Erwartung einer solchen Wahl von seinem A m t zurück 805 . Auch der vorzeitige Rücktritt des Berliner Regierenden Bürgermeisters R. v. Weizsäcker bereits vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 23. 5.1984, allein aufgrund seiner formellen und infor800 s. H.-P. Schneider, i n : A K - G G I I (Fn. 52), A r t . 65/Rdn. 14, u n d oben bei Fn. 532. 801 H.-J. M eng el t ZRP 1984, 153 (156). 802 So f ü r die Konzertierte A k t i o n z. B. R. Schmidt, Wirtschaftspolitik (Fn. 191), S. 202; k r i t . E.-H. Ritter, AöR 104 (1979), 410. 803 So E.-H. Ritter, i n : Politikwissenschaft (Fn. 190), S. 464. 804 s. k r i t . Κ . H. Friaufy AöR 88 (1963), 309 ff.; D. Grimm, i n : Wissenschaft (Fn. 46), S. 285 f. ; speziell zu „quasi-vertraglichen Vereinbarungen" i. S. eines „Stabilitätspaktes" usw. M. Schmidt-Preuß, Zentralfragen (Fn. 370), S. 220 ff. 805 s. auch die ironische K r i t i k i n : F A Z v. 7.10.1983, S. 12; anders t r a t H. H. Klein als parlamentarischer Staatssekretär i m Bundesministerium der Justiz erst nach seiner W a h l zum Bundesverfassungsrichter zurück, aber bald, w e i l „aus Gründen des politischen Stils" ein direkter Übergang aus einem A m t der Exekutive „als untunlich" gelte, so F. K . Fromme, F A Z v. 2.11.1983, S.4.

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I V . Gefahren und Einwände

malen Nominierung durch Parteigremien und angesichts der parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung, wertet die Vorentscheidung durch die Parteien zu Lasten der verfassungsrechtlichen Verfahrensordnung (Wahl durch die Bundesversammlung) auf; bislang sind nominierte Bundespräsidentenkandidaten vor ihrer Wahl noch nie schon deshalb zurückgetreten 808 . Wahlen und Ernennungen sind auf diese Weise bloß „ i m formellen Sinne noch nicht a k u t " 8 0 7 ; sie verpflichten sogar vorwirkend zu amtsangemessenem Verhalten vor der Wahl 8 0 8 . Nicht der empirische Umstand, daß eine Mehrheitspartei faktisch entscheidet, ist als solcher schon problematisch 809 ; denn solche Erscheinungsform festgelegter Meinungs- und Entscheidungsfronten zwischen den Parteigruppierungen entspricht nur der Logik der Vorformung der politischen Willensbildung i m Parteienstaat durch die politischen Parteien und kann den regelmäßig zugrundeliegenden (parteiinternen) pluralistischen Meinungsbildungsprozeß nur formell verdecken. Entscheidend ist, daß die Differenz von Parteinominierung und Amtserwerb durch staatlichen Konstitutionsakt verwischt w i r d ; gerade sie verdeutlicht, daß staatliche Handlungsaufträge an Amtsträger vom ganzen Volk abgeleitet und i h m zugerechnet werden 8 1 0 ; i n dieser Differenz gründet die K r a f t des Grundkonsenses, die es (partei-)politisch unterlegenen Bürgern ermöglicht, sich der Mehrheitsentscheidung zu fügen 811 . Für die Wahl der Rundfunkratsmitglieder ist deshalb vorgeschlagen worden, diese durch die Parlamente aus einer von den i n den Aufsichtsgremien vertretenen pluralistischen Gruppen erstellten Liste von 3 Kandidaten wählen zu lassen 812 . Solche Kandidaten-Mehrfach808 Vgl. F A Z v. 12.12.1983, S. 6. — s. aber andererseits auch die I n t e r v e n t i o n von R.V.Weizsäcker gegen ein Erscheinen seiner Biographie vor dem 24. 5.1984 m i t der Begründung, daß die Mitglieder der Bundesversammlung „negativ reagieren, w e n n ihre Entscheidung als etwas behandelt w i r d , w e l ches bereits entschieden sei", zit. nach Der Spiegel Nr. 19/1984, S. 32. 807 s. F A Z v. 2. 3.1984, S. 6, betr. die (zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfolgte) W a h l von H. Reiter zum Bundesrichter u n d seine Ernennung zum neuen BSG-Präsidenten. Die W a h l am 7. 6.1984 wurde schon vorher angekündigt, s. F A Z v. 29. 5.1984, S. 5; s. a. zur Amtseinführung F A Z v. 29. 6.1984, S. 2. 808 s. ζ. B. die Nichtbeteiligung von R. v. Weizsäcker auf dem CDU-Parteitag u n d i m Bundesvorstand der CDU zur Frage des Amnestiegesetzes: F A Z v. 14.5.1984, S. 2; entgegenstehende Gerüchte hatten die SPD bereits ihre Unterstützung der K a n d i d a t u r R. v. Weizsäckers „überdenken" lassen, s. B o n ner G A v. 12./13. 5.1984, S. 1. 809 So w o h l K . Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 466, i n Reanimierung des Parlaments als Stätte wechselseitiger Überzeugung durch Diskussion. 810 Dazu D. Grimm, i n : HandbVerfR (Fn. 69), S. 359 f. 811 s. U. Scheuner, in: Rechtsgeltung (Fn. 613), S. 61. 812 Zuerst C. Starck, ZRP 1970, 220; zust. W.Kewenig, Rundfunkfreiheit (Fn. 114), S. 76 ff.

1. Die Aufweichung von Verfassungsrechtsregeln

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liste könnte auf den ersten Blick, auch i n anderen Zusammenhängen, dem eigentlich befugten Gremium mehr Kompetenz gegenüber den Vorentscheidungen von Parteigremien gewähren, wenn nicht die Eigendynamik informaler Regeln auch hier solche Wahlentscheidungen bald informal präjudizieren dürfte. Erst recht bedenklich aber ist, wenn nicht nur die Differenz von Parteinominierung und Amtserwerb, sondern zugleich auch die Differenz von Partei und Amtsträger verwischt w i r d 8 1 3 ; m i t dem Amtserwerb hat der Parteieinfluß zu enden! d) Schwächung der Gewaltenteilung Die Regeln des informalen Verfassungsstaats scheinen Spezifika des (Bundes-)Staatsorganisationsrechts zu sein; i n Kenntnis des materialen Zusammenhangs von Grundrechten und (staats-)organisatorischer Ausgestaltung ihres Entfaltungsraumes 814 kann indessen die Eigendynamik des Informalen auch zur Gefährdung der grundrechtlichen Freiheit führen. Eine übermäßige Beteiligung von politischen Parteien ζ. B. i m öffentlich-rechtlichen Rundfunk 8 1 5 kann die vom BVerfG angestrebte „Staatsfreiheit" 81 ®, d. h. die Freiheit öffentlicher Meinungsäußerung gefährden; ähnliches gilt aber letztlich für alle Formen, i n denen freiheitsschützende Gewaltenteilungsregeln informal überspielt werden, oder i n jenen Fällen, in denen informale Gewaltenteilungsregeln (rechtlich ja durchaus sanktionslos) nicht befolgt werden. Speziell die Schwächung der gewaltenbegrenzenden Funktion des Bundesstaatsprinzips durch Kompetenzverschränkung, Entscheidungsverbund und Mischfinanzierung i. S. von primär informaler „Politikverflechtung" ist bereits breit diskutiert worden 8 1 7 und einschlägig i m Zusammenhang m i t der gewaltenteilenden Funktion des Bundesstaates 818 ; auch allgemein ist die partielle Ablösung verfassungsrechtlicher Gewaltentrennung durch eine Parteienkonkordanz und -kontrolle eine seit langem gesehene Gefahr 819 . Schon oft auch ist die Mediatisierung der Bun813 Ebenso plastisch w i e bedenklich formuliert i n diesem Sinne der (dpa-) Bericht über die Amtseinführung des neuen BSG-Präsidenten H. Reiter, dieser sei der erste Präsident eines obersten Bundesgerichts, „der von der CSU gestellt" werde (Stuttgarter Zeitung v. 27. 6.1984, S. 2). 814 Grdl. P. Häberle, V V D S t R L 30 (1972), 43 (86 ff.). 815 Z u m Problem zsfssd. P. Lerche, i n : Rundfunkorganisation (Fn. 773), S. 75 ff.; W. Schmitt Glaeser, K a b e l k o m m u n i k a t i o n (Fn. 114), S. 107 ff. 816 Vgl. BVerfGE 12, 205 (263); 31, 314 (327, 329); s. auch 57, 295 (323*. 817 s. F.W.Scharpf, i n : Politikverflechtung (Fn. 504), S.39ff., 54 ff.; zust. z.B. R. Boreil, Mischfinanzierungen (Fn. 512), S. 27 ff.; s. für die Schweiz: A. Windhoff -Héritier, ZParl 11 (1980), 448 f., die dort überdies eine w e i t gehende Stillegung der öffentlichen Kontrolle zwischen Regierung u n d parlamentarischer Opposition feststellt (ebd. S. 445). 818 K . Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 27 ff. 819 Vgl. etwa H. D. Jarass, P o l i t i k (Fn. 551), S. 119 f.; D. Grimm, HandbVerfR

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I V . Gefahren u n d Einwände

destagsabgeordneten durch die informalen Absprachen der Fraktionsgeschäftsführer, besonders die „Oligarchisierung" bei der Rednerverteilung und der Redezeit 820 , i n ihrer Schwächung des verfassungsrechtlichen Freiheits-, Gleichheits- und Öffentlichkeitsstatus der Bundestagsabgeordneten 821 kritisiert worden 8 2 2 . Gerade wenn man die nicht zufällig nur erschwert abänderbaren verfassungsrechtlichen Regeln als Schutzgarantien für (relativ) unabdingbare, gegen jedermann durchsetzbare, fundamentale individuelle (und korporative) Freiheitsräume begreift, dann birgt jede informale Umgehung von Verfassungsrecht eine potentielle Gefahr für jene Freiheitsräume. Eben darin liegt ζ. B. auch die Gefahr von informalen Rotationsprinzipien, ob auf formaler verfassungsrechtlicher Ebene durch informale Mandatsrotation durch die Grünen (für die Freiheit der Abgeordneten 828 ) oder ob auf informaler Verwaltungsebene durch formal kurz bemessene Amtszeiten (aktuell etwa i m Filmförderungsausschuß — für dissentierende Ausschußmitglieder? 824 ). e) Besonders: Gefahren des Parteienproporzes Zuletzt soll eine spezifische Gefahr von Parteiproporzregeln, nämlich die damit untrennbar verbundene Ämterpatronage, erwähnt werden — an letzter Stelle, w e i l sie i n der Verfassungsrechtswissenschaft oft genug als verfassungswidrig kritisiert wird, regelmäßig aber als „(leider) praktisch kaum zu verhindern" 8 2 5 letztlich hingenommen wird, ohne daß die Gründe dafür immer genannt werden 8 2 6 . Zudem w i r d oft vernach(Fn. 69), S. 370; zur A b w e r t u n g des Parlaments durch Proporzregierung u n d Amtsverlängerungskonventionen i n der Schweiz: K. Niclauß, PVS 8 (1967), 133 m. Nw., zur Begrenzung der Opposition auf eine Regierungsopposition „ v o n F a l l zu Fall", ebd., S. 141 ff. 820 Empirisch grdl. G. Loewenberg, Parlamentarismus (Fn. 52), S. 456 ff.; s. a. M. Schulte, i n : Bundestag von innen (Fn. 258), S. 68 (76 ff.). 821 P.Häberle (1976), i n : ders., Verfassungsrechtsprechung (Fn. 150), S. 215 (218 ff.). 822 s. z.B. W.Schmidt, Der Staat 9 (1970), 500; H.-P. Schneider, i n : HandbVerfR (Fn. 69), S. 285; gleichsinnig bereits R.Smend (1919), i n : ders., A b handlungen (Fn. 27), S. 62 f.; s. auch schon oben bei Fn. 251 ff. 823 s. etwa R. Stober, ZRP 1983, 211 f. 824 H.-D.Seidel, F A Z v. 30.1.1984, S. 19; äußerst k r i t . W. Schütte, FR v. 2.3.1984, S. 3. — I n dieser aktuellen Diskussion w i r d freilich oft die spezifische demokratische Ministerverantwortlichkeit bei einer nicht gesetzlich geregelten fördernden Vergabe von Kunstpreisen u n d -förderungsmitteln übersehen, vgl. n u r P.Häberle, i n : ders., Kulturstaatlichkeit (Fn. 197), S.41, Fn. 120; zust. U.Steiner, W D S t R L 42 (1984), 37; s.a. G. Bannas, F A Z v. 2.3. 1984, S. 27. 825 K . Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 376, s.a. 367, 466; ferner H.H.v. Arnim, i n : V e r w a l t u n g (Fn. 63), S. 229. 826 s. aber m i t rhetorischem Tagungsholzschnitt J. Isensee, i n : G . R . B a u m u. a., Politische Parteien und öffentlicher Dienst, 1982, S. 67 ff.

1. Die Aufweichung von Verfassungsrechtsregeln

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lässigt, daß weniger sichtbare (und deshalb noch gefährlichere) Erscheinungsformen der Patronage von Cliquen, Verbänden, Kirchen und sonstigen Einflußgruppen nicht weniger verwerflich sind 8 2 7 . Psychologisch werden und wurden Parteiproporzregeln sicher durch die Charakterisierung der Bundesrepublik als „Parteienstaat" 8 2 8 begünstigt. Doch stößt die Eigendynamik des staatlichen und gesellschaftlichen Bedeutimgszuwachses der politischen Parteien auf Grenzen: Die Parteipolitisierimg der Beamtenschaft bis i n untere Ränge, der Führungspositionen i m Rundfunk und seinen Aufsichtsgremien, auch der Richterwahlen 829 , und die vergeblichen Versuche zur Begrenzung der staatlichen Parteifinanzierung sind nur einige Erscheinungsformen einer problematischen Partei-Politisierung, die man auch ohne die traditionellen deutschen Vorbehalte gegen politische Parteien nicht gut finden kann und überdenken muß 8 3 0 . Freilich fehlen gesicherte, d. h. empirisch repräsentative Belege, die die verbreitete juristische K r i t i k über den Skandal des Einzelfalles hinaus ausreichend fundieren; als Ersatz formulierte Modell-Beispiele sind kaum realitätsgerecht. Parteiproporzregeln erleichtern prinzipiell jene Parteipolitisierung durch einvernehmliche Teilhabe mit spezifischen problematischen Folgen. Es können „Erbhöfe" und „Machtbesitzstandsklauseln" entstehen, die einseitige und damit auf Dauer schädliche Strukturen hervortreiben. So w i r d vermutet, daß i. d. R. „schwache", weil (nur?) als Parteimitglieder kreierte Parteivertreter primär ihre Partei statt die sachlichen Notwendigkeiten ihrer Aufgabe i n ihrer Position sähen 881 , i m übrigen der Leistungsgrundsatz ausgehöhlt werde. Entsprechend w i r d ζ. B. der Vorteil einer Rundfunkratsbesetzung primär durch gesellschaftliche Gruppen-Vertreter darin gesehen, daß diese dann — trotz der parteipolitischen Dynamik und ungeachtet ihrer (auch) parteipolitischen Verrechnung — ihre erste Loyalität nicht den Parteien, sondern „ihrer Gruppe" schenken 882 . Andererseits geraten gerade Nicht-Mitglieder politischer Parteien weithin schutzlos i n eine informelle Gesinnungsprüfung, wenn Distanzen zu den politischen Parteien informell vermessen werden. 827

R. Wassermann, i n : A K - G G I I (Fn. 52), A r t . 95/Rdn. 27. s. bereits oben bei Fn. 587 ff.; k r i t . J. Isensee, i n : Parteien (Fn. 826), S. 57 ff. 829 s. auch H. Trautmann, Demokratie (Fn. 64), S. 84 ff. 830 D. Grimm, HandbVerfR (Fn. 69), S. 370 f. 831 So i m K o n t e x t am Beispiel der Rundfunkgremien: C. Starck, R u n d f u n k freiheit (Fn. 114), S. 17 f., 21, 27 ff., 36 ff.; s. f ü r die W a h l der Verfassungsrichter k r i t . auch H.G.Rupp, FS f. H.Kutscher, 1981, S. 380; den Leistungsgesichtspunkt betont auch H. H. v. Arnim, i n : V e r w a l t u n g (Fn. 63), S. 221 f. 832 W. Kewenig, Rundfunkfreiheit (Fn. 114), S. 80 f. 828

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I V . Gefahren u n d Einwände

W e n n m a n n i c h t k o m p r o m i ß l o s solche i n f o r m a l e n (auch: paritätischen) P a r t e i p r o p o r z r e g e l n als s c h l e c h t h i n v e r f a s s u n g s w i d r i g a b l e h n e n w i l l 8 3 3 , so w i r d m a n doch i h r e stets n u r s e k u n d ä r e (nachrangige) F u n k t i o n bet o n e n 8 3 4 müssen u n d d o r t auf p l u r a l i s t i s c h e n A u s g l e i c h i n der Zeitachse drängen, w o keine Parlamentswahlen u n m i t t e l b a r w i r k e n . Die L e i t e r v o n V e r w a l t u n g s - oder J u s t i z a p p a r a t e n (oder auch n u r b e s t i m m t e n A b t e i l u n g e n i n i h n e n ) s o l l t e n z w a r n i c h t p a r i t ä t i s c h besetzt w e r d e n , aber auch n i c h t a u f D a u e r stets derselben p a r t e i p o l i t i s c h e n R i c h t u n g angeh ö r e n 8 3 5 . A l l g e m e i n g i l t es, die verfassungsrechtlichen G r e n z e n h e r a u s z u a r b e i t e n , d i e j e n e r f a t a l e n E i g e n d y n a m i k des P a r t e i e n p r o p o r z e s E i n h a l t gebieten u n d G e g e n e n t w i c k l u n g e n f ö r d e r n 8 3 8 — f r e i l i c h so, daß die p o s i t i v e n S e i t e n d e r E n t w i c k l u n g , die M o d e r n i s i e r u n g d e r B ü r o k r a t i e durch V e r k n ü p f u n g administrativer u n d politischer Qualitäten837 erhalt e n b l e i b t . D e n n d i e ( P a r t e i - ) P o l i t i s i e r u n g d ü r f t e eine ( u n v e r m e i d l i c h e , international verbreitete 838) Politisierimg v o n Entscheidungen der M i n i s t e r i a l b ü r o k r a t i e r e f l e k t i e r e n 8 3 9 , ohne daß P o l i t i s i e r u n g u n d P a r t e i p o l i t i 833 So allerdings die h. M. i n aller Rigorosität, s. ζ. Β. Κ. A. Bettermann, FS f. C. H. Ule, 1977, S. 265 (286); K. Schiaich, W D S t R L 37 (1979), 156 ff. (Diskussion); F.Knöpfle, Die V e r w a l t u n g 13 (1980), 93 (94f.); H.H. v.Arnim, Ämterpatronage durch politische Parteien, 1980, S. 18 ff.; ders., i n : V e r w a l tung (Fn. 63), S. 223; D.Grimm u n d J. Isensee, i n : HandbVerfR (Fn. 69), S. 362 f. bzw. S. 1149 (1164 f., 1169); U.K.Preuß, i n : A K - G G I I (Fn. 52), A r t . 21 I, I I I / R d n . 61. 834 s. D.Tsatsos, Betätigung (Fn. 375), S. 123 f.; H. Trautmann, Demokratie (Fn. 64), S. 78; k r i t . J. Isensee, i n : Parteien (Fn. 826), S. 70; H.H.v. Arnim, i n : V e r w a l t u n g (Fn. 63), S. 224 (wegen der Mißbrauchbarkeit dieses Arguments; aber: w a n n gilt dieses Mißbrauchbarkeitsargument jemals nicht?). 835 Vgl. auch G. Püttner, FS f. C. H. Ule, 1977, S. 383 (386, 397 f.), der i m Paritätsdenken ein Mißtrauen gegen die (stets erforderliche) Neutralitätspflicht sieht. Indessen zwingen die psychologische Grunderkenntnis von der (unvermeidlichen) selektiven Wahrnehmung eines jeden Menschen u n d die hermeneutische Einsicht i n die Vorverständnisabhängigkeit aller (auch: j u ristischer) Textauslegung und Problemlösung dazu, solche Fragen nicht i n Kategorien individueller Vorwerfbarkeit, sondern als objektive Strukturen zu sehen: Parität k a n n Wahrnehmungsselektivität reduzieren u n d damit Entscheidungsinhalte objektivieren, parteipolitische Stallblindheit vermeiden (vgl. das Beispiel bei J. Isensee, i n : Parteien (Fn. 826), S. 63, dort freilich i n umgekehrter Intention). 838 s. auch die grundsätzliche Bereitschaft des NRW-Ministerpräsidenten J. Rau, auf Drängen der Kirchen die parteipolitische Dominanz i m WDR durch eine Änderung des WDR-Gesetzes i n Anpassung an die Rechtsprechung des B V e r f G zurückzuschrauben, zit. nach F A Z v. 24.12.1982, S. 4. 837 s. K.Dyson, Die V e r w a l t u n g 12 (1979), 130, 150 ff., 157 ff.; vgl. auch B. Steinkemper, Bürokraten (Fn. 65), S. 102 ff.; W.Berg, M D R 1973, 187; k r i t . F.Knöpfle, Die V e r w a l t u n g 13 (1980), 94f.; s.a. als Neu-Aufguß seiner politischen Polemiken K. Seemann, Die V e r w a l t u n g 13 (1980), 137 ff. 838 R. D. Putnam, PVS 17 (1976), 23 ff. 839 Zsfssd. R. Mayntz, Soziologie (Fn. 7), S. 196 ff. — Die Kehrseite läßt sich i n Großbritannien studieren: Dort f ü h r t die Schwäche der Parteiendemokratie zur Dominanz der Interessengruppen, so H.Setzer, JöR 32 (1983), 196 f.

2. Gefahren informaler Entscheidungsprozesse

145

sierung identifiziert werden dürften 8 4 0 . Es erscheint deshalb unangebracht, Proporzregeln mit Ämterpatronage oder parteipolitisch mitbeeinflußte Personalentscheidungen ohne jede Differenzierung m i t verfassungswidriger Ämterpatronage gleichzusetzen. Es müssen vor allem die Unzuständigkeit der informell Einwirkenden (Parteiinstanzen) und amts- bzw. sachfremde Motive als die maßgeblichen Unwertkriterien i m Auge behalten werden 8 4 1 . Es ist kaum sachfremd, wenn z.B. ein Minister seine persönlichen Referenten „aus dem Hause" auch nach parteipolitischen Kriterien auswählt. Ähnliches mag für das Verhältnis von Bundestagsausschuß Vorsitzenden und ihrem jeweiligen beamteten Ausschußsekretär gelten 842 . Freilich sind derartige Fälle spezifischer Vertrauens- oder Loyalitätsverhältnisse eher (öffentlich begründungsbedürftige) Ausnahmen, die nicht zum Freibrief für eine (möglicherweise verbreitete) verfassungswidrige Praxis verallgemeinert werden dürfen 8 4 3 . Auch wären solche Bereiche (wie die Justiz) herauszuarbeiten, i n denen wegen der latenten Bedrohimg ihrer Unabhängigkeit durch die politischen Parteien von vornherein allenfalls eine „Proporzpatronage" angemessen wäre, wo Patronage nur i m (positiven) Sinne einer Pluralismusgarantie verstanden werden kann und Distanz besonders dringlich wäre 8 4 4 . 2. Gefahren informaler Entscheidungsprozesse a) Die Eigendynamik

des Informalen

Jene Gefahr der Umgehung des Verfassungsrechts gründet i n der Eigendynamik informaler Prozesse. Gerade w e i l diese rechtlich unstrukturiert sind und den handelnden Politikern maß-lose, unkontrollierte Freiräume überlassen, werden die rechtsfreien Räume bis an ihre rechtlichen Grenzen genutzt — eine ständige Praxis festigt sich und sucht Erweiterungsmöglichkeiten für die eigene (Macht-)Entfaltung. 840

Η . Η . v. Arnim, Staatslehre (Fn. 152), S. 374 f. s. T. Eschenburg, Ämterpatronage (Fn. 63), S. 11; G.Sturm, Inkompat i b i l i t ä t (Fn. 374), S. 45. 842 s. zu personellen Umsetzungen von Beamten wegen des parteipolitischen Vorsitzenden-Wechsels : M. Mester-Grüner, Das Parlament Nr. 14/1984, S. 20. 843 Reiches Anschauungsmaterial böte eine Untersuchung der ebenso stillen w i e tiefgreifenden personellen Veränderungen i n Bonner Ministerien nach dem Regierungswechsel 1982/83 unterhalb der Ebene der politischen Beamten; vor allem die Personalreferenten (!) dürften i n den meisten (nicht von F D P - P o l i t i k e r n geführten) Ministerien versetzt (oder „ausgewechselt") worden sein. Der Vorschlag von Verfahrens Verbesserungen (Η. Η. v. Arnim, Ämterpatronage [Fn. 833], S. 31 ff.) muß sich freilich auf alle amts- bzw. sachfremden Erwägungen erstrecken. 844 s. als gegenteiliges Mißverständnis das Bsp. i n Fn. 813. 841

10 Schulze-Fielitz

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I V . Gefahren u n d Einwände

Die Dynamik des Parteienproporzes etwa neigt zur Ausdehnung der beeinflußten Bereiche 845 und läßt die Gefahr eines „Gesinnungs-TÜV" erkennen; die Existenz politischer Beamter hat offenbar „nach unten" nur schwache Grenzen belassen. Das Dilemma besteht freilich darin, daß eine Verrechtlichung informaler Regeln diese nur i n einen neuen Bereich informaler Beziehungen vor-verlagert 8 4 e . — Rechtswidrige Praktiken generieren zudem oft neue Rechtswidrigkeiten, wenn sich ζ. B. Proporzregeln nicht auf einige zentrale funktionsbezogene Merkmale (ζ. B. Parteizugehörigkeit, Konfession, regionale Herkunft) beschränken, sondern zu sehr differenzieren und damit das Entscheidungsverfahren außerordentlich komplizieren bzw. vereinfachen 847 oder mit zusätzlichen sachfremden Erwägungen anreichern. So ist ζ. B. für die Wahl von Bundesverfassungsrichtern das (ζ. Z. offenbar entscheidungsbeeinflussende) informale K r i t e r i u m eines (Mindest-)Lebensalters „ u m 55 Jahre" zur Verhinderung von „Nachverwendungsproblemen" kein sach-, nämlich amtsfunktionsspezifisches K r i t e r i u m 8 4 8 : Die Entscheidung über ihre private berufliche Tätigkeit nach ihrer Amtszeit darf der Gesetzgeber bzw. der Wahlmännerausschuß getrost dem Interesse des einzelnen überlassen 84 ". Viel eher wäre gerade umgekehrt eine stärkere Ausschöpfung der Altersgrenze nach unten hin, hier i m öffentlichen Interesse, geboten, u m dem „gerontokratischen" Hauch einiger Entscheidungen zu Lasten der jüngeren Generation 850 gegenzusteuern 851 . 845

So bereits T. Eschenburg, Ämterpatronage (Fn. 63), S. 24. Vgl. W. Hoffmann-Riem, W D S t R L 40 (1982), 226 f.; R. Wahl, ebd., S. 289 (290) — Diskussion. 847 Die K u m u l a t i o n schon weniger K r i t e r i e n k a n n die Frage nach der A m t s eignung v ö l l i g i n den H i n t e r g r u n d stellen, s. T. Eschenburg, Ämterpatronage (Fn. 63), S. 65; s. a u d i zur Konkurrenzlosigkeit der Wahlkandidatur von F r a u G. Niemeyer zur Richterin am B V e r f G B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), S. 150. 848 Anders F. K . Fromme, F A Z v. 5.12.1983, S. 12 (der ernsthaft eine H e r aufsetzung des gesetzlichen Mindestalters erwägt); s. auch entsprechende p r i vat-personale Anspielungen des alten (E. Benda) u n d des neuen B V e r f G Präsidenten (W.Zeidler) i n ihren Ansprachen anläßlich ihres Amtswechsels : Bull. 1983, 1286 (1287) bzw. S. 1288, sowie R. Ley, N J W 1984, 1343. 849 s. jetzt die angemessene Gutachter-Tätigkeit von Richter a. D. J. Rottmann i n der Regierungskommission zur Überprüfung der Tätigkeit des M A D ; zum Kommissionsbericht F A Z v. 25. 5.1984, S. 5. 850 v g l z u r jungen Generation als v o m B V e r f G negativ Betroffener P. Häberle (1978), i n : ders., Verfassungsrechtsprechung (Fn. 150), S. 425 (439); die Ängste vor allem von Vertretern der jüngeren Generation berücksichtigt jetzt aber das Volkszählungs-Urteil, s. BVerfGE 65, 1 ff. = D Ö V 1984, 156 ff. m i t (krit.) A n m . (des Emeritus) Hans Schneider, S. 161 ff.; anders A.Podlech, Leviathan 12 (1984), 97: „Sternstunde des Gerichts". 848

851 H. G. Rupp, FS f. H. Kutscher, 1981, S. 380, betrachtet ein Lebensalter von 56 Jahren umgekehrt als Höchstgrenze, damit Amtszeiten v o l l ausgeschöpft, „Gastrollen" angesichts der langen Einarbeitungszeit von 1—2 Jahren vermieden werden.

2. Gefahren informaler Entscheidungsprozesse

147

Eine derartige Dynamik erstreckt sich aber ebenso auf die Zunahme relativ kontrollfreier informaler Zusammenarbeit der Exekutive i m Bundesstaat oder die Tätigkeit präjudizierender parakonstitutioneller Gremien; bei informalen Machtbalancierungen entfaltet ein zu großzügiger Maßstab eine gleichsam negative Dynamik. Sind Barrieren erst — gar mehrfach — eingerissen, wirken jene Regeln bald kaum noch diesseits rechtlicher Mindeststandards. — Diese Dynamik informaler Prozesse läßt sich theoretisch und praktisch nicht beseitigen — sie kann aber den Blick für Rechtsprobleme frühzeitig schärfen. b) Stagnation durch Übermaß an Konkordanz? Die starke Betonung von Konsens, Einstimmigkeit, Kooperation, einvernehmlich proportionaler Teilhabe usw. bei informalen Verfassungsregeln verbindet sich mit Gefahren, die am Beispiel der Optimierung des kooperativen Föderalismus breit diskutiert worden sind: Unitarisierung und mobilitäts-, innovationsund initiativ feindliche Einigungen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner 852 , vor allem bei informaler Geltung des Einstimmigkeitsprinzips. Zugleich können allerdings auch die Vorteile des kooperativen Föderalismus gestärkt werden 8 5 8 : Herstellung und Sicherung politischer Freiheit, der demokratischen Ordnung durch Verstärkung der Opposition über die Länder sowie der föderativen Gewaltenteilung 8 5 4 . Insoweit setzt sich die Ambivalenz des kooperativen Föderalismus 855 auch auf informaler Ebene fort. Gegen solche Stagnationsgefahren eines „Föderalismus auf Zementfüßen" (Hans Maier) optiert der neuerdings stärker favorisierte „Konkurrenzföderalismus", der — als bundesstaatsrechtliche Entsprechung zur Privatisierungs- bzw. Entstaatlichungsdebatte — den einzelnen Ländern möglichst viele rechtliche und finanzielle M i t t e l i n autonomer Regie überlassen möchte, um fruchtbare Konkurrenzen, auch: Gewaltenteilung, demokratische Kontrolle, zu aktivieren 8 5 8 . Er zielt gerade auf die informale Vereinbarungsebene 857 . Als Kehrseite droht eine ver852 Vgl. dazu etwa K . Hesse, FS f. Gebh. Müller, 1970, S. 145 ff.; F. W. Scharpf und B. Reissert/F. Schnabel, i n : Politikverflechtung (Fn.504), bes. S. 54ff. bzw. 218 ff.; H. Klatt, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 31/1982, S. 6 f. ess p ü r Schweiz scheinen sich die Nachteile eher zu häufen, so A. Windhoff -Héritier, Z P a r l 11 (1980), 445, 448 f., 454. 854

Dazu K . Hesse, FS f. Gebh. Müller, 1970, S. 147 ff. s. E. Moeser, Beteiligung (Fn. 346), S. 100. 866 s. z.B. H.-P. Schneider, in: Verfassung (Fn. 332), S. 113 ff.; H. Klatt, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 31/1982, S. 21 ff.; H. Maier, i n : Essener Gespräche zum Thema Staat u n d Kirche 12 (1977), 11 (23, 26 ff. u. ö.). 857 s. H. Klatt, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 31/1982, S. 23. — s. allerdings jetzt Niedersachsens (rechtliche) K ü n d i g u n g der Länderfinanzierung 855

IQ*

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I V . Gefahren u n d Einwände

stärkte Polarisierung i m Bundesstaat, die über die Frage der Verteilung i m Finanzausgleich hinausgeht; die positiven Folgen eines Mindestmaßes an Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse werden durch die Verwirklichung solcher Fehlvorstellungen freilich sichtbarer: Sie könnten Teil jener Dialektik der „Wellenbewegungen" i m Verfassungsstaat sein, von denen seine Entwicklung i m Prozeß von „ t r i a l and error" lebt. I n ein ähnliches, wohl ebenso unumgängliches Dilemma führen Parteiproporzregeln, wenn sie die verfassungsrechtlichen Kompetenzregeln und demokratischen Strukturen überlagern: Einerseits kann die Parteienkonkordanz nach Aushandlungsgrundsätzen i m Konsensverfahren einer „informellen Großen Koalition" 8 5 8 die Parteienkonkurrenz nach Wettbewerbsregeln m i t abschließendem Mehrheitsentscheid durch parteipolitische Quasi-Kartellbildung von der Rückbindung an das Volk entkoppeln 859 . Die Transparenz von Entscheidungsverantwortlichkeit und von demokratischen Alternativen geht verloren 8 6 0 , Demokratie w i r d entwertet 8 8 1 , schwierige Entscheidungen eher aufgeschoben 882 . Das gilt auch für den durch Veto-Teilmächte reduzierten Minimalkonsens der pluralistischen Interessenorganisationen, der so Mehrheitsentscheidungen unterbindet 8 8 3 . Andererseits werden allseits akzeptierte Kompromisse produziert, die soziale und politische Gräben nicht aufreißen und die zentrale Lebensbedingung des Gemeinwesens stabilisieren. Damit verbindet sich schließlich das Dilemma, daß durch Teilhaberegeln eine bestehende soziale Fragmentierung (Versäulung) gestärkt wird, wo es u m ihre Überwindung geht, sozialer Wandel sich i m status quo der Teilhabe nicht niederschlägt 884 . Indessen gibt es i n diesen Fragen hier kein Entweder/Oder, sondern Konsens (besonders i m Verfahren) und Konflikt (besonders i n den inhaltlichen Auseinandersetzungen) bedürfen je differenzierter Verfasdes Schulbauinstituts, der einzigen Einrichtung aller Kultusministerien, dazu ff. Haibach, F A Z v. 25.1.1984, S. 4. ess D.Grimm, in: Wissenschaft (Fn. 46), S. 281; G. Lehmbruch, Parteienwettbewerb (Fn. 296), S. 136. 859 H.H. v.Arnim, Staatslehre (Fn. 152), S. 278; s.a. W.Jäger, Der Staat 19 (1980), 583 (601). 860 Vgl. D. Grimm, i n : HandbVerfR (Fn. 69), S. 364 f., allerdings i n A n k n ü p fung an die rechtliche Rolle des Vermittlungsausschusses nach A r t . 77 I I GG. 881 D.Grimm, i n : Wissenschaft (Fn. 46), S. 280 u. ö.; systemtheoretisch verallgemeinert: Den einfachen Mitgliedern des Systems fehlen funktionale Kommunikationskanäle; die Lernkapazität des Systems sinkt ab, so: J. Steiner, PVS 11 (1970), 139 (144 f.). 862 s. a. D. Herzog, Führungsgruppen (Fn. 158), S. 124. 863 s. ff. Hofmann, L e g i t i m i t ä t (Fn. 640), S. 89. 884 s. G. Lehmbruch, Proporzdemokratie (Fn. 40), S. 33 ff.; am Bsp. des p l u ralistischen Wandels u n d der bestehenden Rundfunkratzusammensetzung W. R. Langenbucher/W. A. Mahle, Publizistik 18 (1973), 327 f.

3. Zur Zweckmäßigkeit der Untersuchung des Informalen

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sungsorganisation 865 . Obwohl sich die hier behandelten informalen Verfassungsregeln eher auf einige Kernfragen des Verfassungs(verfahrens)konsens reduzieren, sind auch sie gewiß einem stärker kompetitiven Verständnis zugänglich. Ein Mindestmaß an informalem Einvernehmen w i r d indessen immer notwendig sein und bleiben; der informale Verfassungsstaat als Prinzip bleibt davon unberührt.

3. Zur Zweckmäßigkeit der Untersuchung des Informalen (a) Ein erster bekannter Einwand zielt auf die hier zugrundegelegte Erweiterung des verfassungsjuristischen Wissenschaftsprogramms: Sind die diskutierten Fragen nicht politikwissenschaftlicher Natur? Sprengen sie juristisches Denken? Solche K r i t i k kann sich auf neuere Tendenzen einer Rückkehr zu einem Verfassungspositivismus berufen, der den Verfassungstext bzw. die Entscheidungskompetenzen des BVerfG zum Bezugspunkt rechtswissenschaftlicher Fragen macht 866 . Eine solche Begrenzung ist alltagspraktisch durchaus denkbar, wenn man die Eigenständigkeit des Rechts der Verfassung leugnet und es als (gewiß: technisch erschwert änderbares, besonders politiknahes, i m übrigen aber) Recht wie jedes andere Recht auch ansieht 867 . Ein solcher Verfassungsreduktionismus klammert einfach aus, entledigt sich damit der Probleme aber nur scheinbar 868 . Man muß demgegenüber alte Einsichten w o h l immer wieder betonen — in Thesen: Verfassungen als kollektive rechtliche Grundentscheidungen beruhen auf ebenso fundamentalen nichtrechtlichen Voraussetzungen. I h r Anspruch auf generationenüberspannende Dauerhaftigkeit muß auch mittelbar wirksame Veränderungsprozesse auf das Verfassungsrecht, also auch Verfassungsvoraussetzun865 s. am Unterschied Schweiz/Österreich: G. Lehmbruch, Proporzdemokratie (Fn. 40), S. 48 ff. 8ββ z.B. F.Knöpfle, W D S t R L 33 (1975), 142ff. (Diskussion); jüngst E.-W. Böckenförde, FS f. H. U. Scupin, 1983, S. 317 (323 ff.); C.Gusy, „Verfassungsp o l i t i k " zwischen Verfassungsinterpretation u n d Rechtspolitik, 1983, S. 5 ff., 28 ff., 31 ff.; allg. K . Adomeit, J Z 1978, I f f . ; s. als konkretes Bsp. den Ansatz bei M. Oldiges, Bundesregierung (Fn. 43), S. 22 ff. (26) u. ö. 867 Vgl. W. Henke, Der Staat 21 (1982), 277 (279 f.) betr. die bleibenden E i n sichten Paul Labands; s. auch die Verständnislosigkeit bei W. Seuffert, N J W 1984, 908. 868 E.-W. Böckenfördes Plädoyer für eine juristische Staatsrechtswissenschaft (FS f. H. U. Scupin, 1983, S. 323 ff.) w i l l zwar den Zusammenhang j u ristischer Probleme m i t sozialer Wirklichkeit, P o l i t i k u n d Philosophie u n d ihren Wissenschaften nicht lösen (S. 327 ff.), beharrt aber auf einer apriorischen dogmatischen Einbindung (S. 324 ff.), die von der Hoffnung auf eine gesicherte juristische Methode lebt (S. 330 f.). Die Artenvielfalt dogmatischer Bindung u n d der Methodenpluralismus sind indessen unvermeidliche Folgen der Vorverständnisabhängigkeit juristischer Wissenschaft, der man sich n u r praktisch (und) dezisionistisch durch Ausklammerung von Hinter-Fragen, nicht aber theoretisch entledigen kann.

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I V . Gefahren und Einwände

gen 869 einbeziehen 870 . Ihre normative Abstraktionshöhe und Unvollständigkeit sind auf permanente Konkretisierung jenseits „rein" j u r i stischer Interpretationen und Verfahren angewiesen. Als Kondensat generationenlanger geschichtlicher Erfahrungen kann sie nicht ohne deren vertiefte Aneignimg aktualisiert (und dadurch erst dauerhaft wirksam) werden. Eine staatsrechtlich halbierte Verfassungslehre, die auch informale Verfassungsregeln aus ihrem Erkenntnisprogramm ausklammert, muß ζ. B. blind bleiben für die schlechterdings unbestreitbare Existenz von Verfassungsentwicklungen jenseits förmlicher Verfassungsänderungen 871 : sie gibt unverzichtbare Einsichten i n den Zusammenhang von Staatslehre und Verfassungstheorie 872 auf. Wie realitätsund verfassungsgerecht ist eine Staatsrechtslehre, die ζ. B. die Bundesregierung als Kollegialorgan unter Ausklammerung der Verfassungswirklichkeit (also auch parakonstitutioneller Entscheidungsgremien) und unter Berufung auf die Normativität der Verfassung „rein staatsrechtlich" untersuchen w i l l 8 7 3 oder die Existenz und Wirksamkeit der Ministerpräsidentenkonferenz einer Behandlung i m Lehrbuch nicht für würdig befindet 874 ? Sie führt zu Fehlurteilen wie dem, die Regeln und Bedingungen der Ministerpräsidentenkonferenz könnten „überhaupt nirgendwo festgehalten werden", weil sie i m GG nicht vorkommen 8 7 5 . Vielmehr ist auch „die soziologische Geltung des Grundgesetzes" Teil des Verfassungsrechts bzw. seiner Wissenschaft 870 . 869

s. Herb. Krüger, FS f. U. Scheuner, 1973, S. 285 (286 ff.). Ausdrücklich bestreitet jetzt C. Gusy, „Verfassungspolitik" (Fn. 866), S. 6 f., 29 f., 36, 37 u. ö. jede Relevanz der politischen Realität f ü r das V e r fassungsrecht, freilich i n ebenso souveräner wie offensichtlicher Nichtbeachtung des erreichten Standes der juristischen Methoden- u n d Erkenntnistheorie. Eine Auseinandersetzung m i t solchen Positionen w i r d heute m i t unter schon schlichtweg abgelehnt, s. ζ. B. die Parallele bei K.-U. Meyn, DVB1. 1984, 400 ff. 871 Vgl. P.Häberle, Verfassungslehre (Fn. 1), S. 73 ff.; s. ausf. B.-O.Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 35), pass.; zu i h m P.Häberle, N J W 1984, 598. 872 s. R.Smend (1928), i n : ders., Abhandlungen (Fn. 27), S. 119 (187 ff.); H. Heller, Staatslehre (Fn. 27), S. 249 ff.; zum „wirklichkeitswissenschaftlichen Ansatz" Hellers jetzt W. Fiedler, J Z 1984, 201 (207; 208 f.). 878 So programmatisch M. Oldiges, Bundesregierung (Fn. 43), S. V f., 22 ff., 27 ff., der m i t der Verfassungswirklichkeit auch die realen VerfassungsrechtsProbleme ausgeklammert hat. 874 ζ. Β. T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 24. Aufl. 1982, S. 4 f., 31, erwähnen n u r die vorkonstitutionellen Ministerpräsidentenkonferenzen. Darf m a n die i m m e r h i n 2655 Lehrbuchseiten von K. Stern zum Staatsorganisationsrecht des Bundes (Bd. 1 u n d 2) zum repräsentativen Maßstab nehmen, dann erfährt man i m m e r h i n auf einer halben Zeile von der Existenz von „Empfehlungen der Konferenz der Ministerpräsidenten", s. Staatsrecht I (Fn. 55), S. 749; allerdings mag diese Frage als Grundzug des Staatsrechts der Länder i m projektierten Bd. 5 behandelt werden. 875 So H.-J.Melder, Das Parlament v. 5.5.1984, S. 20; s. aber oben bei Fn. 290 ff. 870

3. Z u r Zweckmäßigkeit der Untersuchung des Informalen

151

(b) Ein zweiter Einwand könnte den Verlust des binären Schematismus von Recht und Politik beklagen, wie sie dem fallentscheidungsbezogenen richterlichen Denken entgegenkommen mag. Doch wirken nicht gerade jene verfassungsrechtlichen Deduktionen besonders „akademisch", die allein mit der Dichotomie von Recht und Politik arbeiten und deshalb (primär) politische Streitigkeiten rechtlich zu Streitigkeiten um sanktionsloses Recht erklären müssen 877 ? Verfassungstheorie überschreitet zudem gerade die Entscheidungsperspektive des Ja/Nein, legal/illegal, Entweder/Oder der Verfassungsrechtsdogmatik. Als Theorie (auch) über Recht (Meta-Ebene) haben sich ihre Theoreme zunächst nicht an den Entscheidungsbedürfnissen der Praxis, sondern an den Sachgegebenheiten des Erklärungsobjekts zu orientieren 878 . Überdies kommt die hier angesprochene nicht-rechtliche Bindung sowohl den Bestrebungen einer Verregelung des Verfassungslebens 879 als auch den immer wieder betonten Warnungen vor der Verrechtlichung des Politischen entgegen: Der Bereich des Politischen w i r d gerade i n seiner Eigengesetzlichkeit anerkannt. (c) K r i t i k kann zuletzt der Zweckmäßigkeit einer übergreifenden, selbständigen Kategorie der „informalen Verfassungsregel" gelten. Werden hier zu viele, heterogene Erscheinungen unter einen theoretischen Bezugspunkt zusammengepreßt — zumal dann, wenn die Scheidelinie zum (Gewohnheits-)„Recht" nach wie vor unscharf ist und ungeschriebene Rechtsregeln vom Begriff der informalen Verfassungsregel umfaßt werden 880 ? W i r d der rechtsquellentheoretische Differenzierungsreichtum der Literatur zugunsten eines unklaren Oberbegriffs eingeebnet? W i r d das „Informale" nicht geradezu „aufgewertet"?

876 So aus jüngerer Zeit E. Benda, AöR 109 (1984), 7, u n d jetzt vor allem der vorzügliche Grundansatz von H. ff. v. Arnim, Staatslehre (Fn. 152), S. 1 ff., 5 ff., der aber leider wichtige Problembereiche w i e z.B. die Bundesstaatsproblematik ausklammert (vgl. S. 12 f.). 877 s. z.B. E. Schmidt-Jortzig, Geschlossenheit (Fn. 458), S.7, 25, 40 f. 878 Vgl. ff. Vorländer, Konsens (Fn. 1), S. 52 ff. 879 Eine möglichst f r ü h einsetzende Rechtskontrolle ist kein unbedingtes Postulat rechtsstaatlichen Denkens, s. W. Kewenig, AöR 90 (1965), 184. 880 s. auch oben Fn. 29. — Sieht man i n Rechtssätzen des öffentlichen Rechts die „Begründung u n d verbindliche Maßbestimmung f ü r die Ausübung öffentlicher Gewalt u n d die Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten" (E.-W. Böckenförde, Organisationsgewalt [Fn. 137], S. 74), werden viele informale Verfassungsregeln zu rechtlichen umgruppiert, von der Organisationsmaßnahme des Kabinetts bis zur Organisation von Ministerkonferenzen, ohne daß eine solche Problem Verschiebung ersichtlichen Gewinn f ü r Fragen der Justiziabilität oder der Abgrenzung Recht/Nicht-Recht erbrächte; der Preis sind verfassungsrechtliche Folgeprobleme m i t wirklichkeitsfernen Forderungen (vgl. ebd. S. 278 ff. betr. die Veröffentlichung von Organisationsregelungen).

152

I V . Gefahren u n d Einwände

Jede Begriffsbildung ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Für die Verfassungsrechtswissenschaft als (auch) praktische Wissenschaft ist einerseits die Justiziabilität von Rechtsfragen ein wesentlicher Unterschied zu nicht justiziablen Rechtsfragen, andererseits die prozedurale Bindung der Politik an verbindliche Regeln ein wesentlicher Unterschied zu individuell beliebigen politischen Handlungen und Meinungsäußerungen. Die Bindungen der Verfassungsorgane durch informale Regeln haben nach dem Ergebnis der Bestandsaufnahme ein solches Gewicht, daß sie für eine wirklichkeitsgerechte Verfassungstheorie und Verfassungsrechtsdogmatik nicht einfach mangels verfassungsgerichtlicher Justiziabilität i n den Vorhof der Verfassungsrechtswissenschaft abgestellt werden dürfen: auch sie strukturieren i m Detail den Prozeß der Verfassungsentwicklung. Die bloße Dichotomie Recht oder Politik ist schlicht zu abrupt und wirklichkeitsfremd: Zwischen beiden existiert eine „Pufferzone" informaler Verregelung. Informale Verfassungsregeln sind Objektivation einer offenen Gesellschaft unmittelbarer und mittelbarer Verfassungsinterpreten 881 : Sie ergänzen und wirken so mittelbar über solche Objektivationen auch auf das Verfassungsrecht und seine Interpretation zurück. Sie interpretieren zudem unmittelbar, wo informale Regeln als ungeschriebene (Gewohnheits-)Rechtsregeln Verfassungsrecht ohne verfassungsrichterliche Kontrolle konkretisieren. Diese Eigenarten konstituieren ein selbständiges Erkenntnisinteresse und rechtfertigen eine i h m entsprechende begriffliche Zweckschöpfung.

881 Vgl, p. Häberle,

(zuletzt:) Verfassungslehre (Fn. 1), S. 23 ff.

V. Ausblick: Die „Grünen" als Beispiel — Krise oder Bewährungsprobe des informalen Verfassungsstaates? Die Bundespartei der „Grünen" hat durch den Einzug i n den 10. Deutschen Bundestag eine i n drei Jahrzehnten gewachsene Parteienlandschaft erheblich verändert. I m Blick auf vermutliche Gefahren dieser Veränderungen wurde schnell die verfassungsrechtliche Diskussion belebt — nicht nur durch Überlegungen von Politikern über Parteizulassungsbeschränkungen 882 , sondern auch durch verfassungsrechtliche Versuche. Der Parteicharakter der Grünen wurde (methodisch: i m Wege einer Materialisierung des verfassungsrechtlichen Begriffs der politischen Partei i. S. von A r t . 21 GG) bezweifelt 883 , die Waffe einer Prüfung der Verfassungstreue „grüner" Beamter zu schärfen versucht 884 , die Grünen wegen ihrer Befürwortung des imperativen Mandats für verfassungswidrig gehalten 885 . Solchen Zweifeln entspricht „umgekehrt" die Prognose H. Ridders, derzufolge das BVerfG als Ausdruck einer „permanenten Allparteienkoalition" und das Parteisystem als sein Substrat durch relevante Wahlerfolge „neuer" Parteien zusammenbrechen werde 888 . Solche Überlegungen verfehlen — ganz unabhängig von ihrer immanenten verfassungsrechtlichen Problematik oder Zweifelhaftigkeit 8 8 7 — das spezifische Verhältnis von informalem Verfassungsstaat und Verfassungsrecht. Recht wird, i n tiefem Mißtrauen gegen die Kraft der Verfassungskultur des GG, zu früh i n den Bereich politischer und infor882 So Ministerpräsident F.-J. Strauß, nach FR v. 28.10.1982, S. 1; k r i t . ζ. B. T. Ellwein, Regierungssystem (Fn. 699), S. 206. 883 O. Kimminich, D Ö V 1983, 217 (223 ff.); G.-C. v. Unruh, J A 1983, 353 (355, Fn. 8); R.Scholz, Krise (Fn. 478), S. 26 ff. u. ö., zu verfahrensrechtlichen K o n sequenzen S. 42 f.; s.a. K.Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 468: „,linken K a dergruppen' am ehesten vergleichbar". 884 R. Stober, ZRP 1983, 215. 885 F. Rottmann, Der Staat 23 (1984), 288 (291 f.); s.a. H.Lenz, FR v. 27.7. 1984, S. 10. 886 s. H.Ridder, DuR 11 (1983), 3 (8); s.a. B. Schünemann, FS f. U. K l u g I, 1983, S. 169 (174). 887 K r i t . zur Materialisierung des Parteibegriffs D. Grimm, D Ö V 1983, 538 (5401); R. Stober, ZRP 1983, 210; O.Finke, DuR 11 (1983), 411 ff.; U.K.Preuß, i n : A K - G G I I (Fn. 52), A r t . 21 I, I I I / R d n . 34; F. Rottmann, Der Staat 23 (1984), 290ff.; gegen die These der „Verfassungsfeindlichkeit": F.Hase, ZRP 1984, 86 ff.; f ü r Verfassungsmäßigkeit des Rotationsprinzips K.-H. Hohm/T. Rautenberg, N J W 1984, 1657 ff.

154

V. Ausblick: Die „ G r ü n e n " als Beispiel

maier (Verfassungs-)Fragen vorverlagert und dadurch normativ eher geschwächt. Die „Grünen" als verfassungsstaatliches Problem sind (ζ. Z.) vielmehr ein Problem des informalen Verfassungsstaates 888 . Dessen Regeln formulieren den Test für die Integrationsfähigkeit der Grünen als Partei und Fraktion und damit zugleich für ihre (Un-)Fähigkeit, i n parlamentarische Verantwortlichkeiten hineinzuwachsen, über bloß spektakuläre Demonstrationen hinaus; umgekehrt stehen die informalen Verfassungsregeln vor ihrer Bewährung als zentrale Integrationskräfte des grundgesetzlichen Verfassungsstaats. Denn zahlreiche informale Verfassungsregeln, namentlich parlamentarische Konventionalregeln, leben von einem einverständlichen, fragilen Konsens 889 ; sie setzen eine „loyale Opposition" voraus 890 . Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die „Grünen" gründen (letztlich) i n der Furcht, die „Grünen" als Sprachrohr kompromißunfähiger außerparlamentarischer Basisbewegungen würden durch ihren emphatischen Wahrheitanspruch als „Opposition aus Prinzip" den parlamentarischen Grundkonsens in zentralen politischen und verfassungsverfahrensrechtlichen Fragen zerstören 891 . Damit w i r d vernachlässigt, daß Verfassungsorgane oder „der Parlamentarismus" (unter verfassungsstaatlichen Normalbedingungen) nicht einseitig „instrumentalisierbar" sind, sondern in ihren Anforderungen „integrativ" zurückwirken. Auch die Grünen als alternative Gegenkultur 8 9 2 lassen sich nur analytisch als „große System alternative" stilisieren 893 , i m praktischen öffentlichen Prozeß der Verfassung wirken sie auf die anderen Parteien 894 , so wie sie selber verändert werden 8 9 5 . Als Beispiel sei die For888

s. a. R. Scholz, Krise (Fn. 478), S. 6; F. Hase, ZRP 1984, 93. Dies w i r d allenthalben betont, vgl. z. B. G. Loewenberg, Parlamentarismus (Fn. 52), z.B. S. 253, 263; R.Kabel, F G f. W. Blischke, 1982, S. 43. 890 s. zu dieser Begriffsprägung, i m Gegensatz zur „Opposition aus P r i n zip": O. Kirchheimer (1966), i n : ders., Politische Herrschaft, 1967, S. 58 ff. 891 Vgl. etwa K.Kluxen, Geschichte u n d Problematik des Parlamentarismus, 1983, S. 268; O.Finke, DuR 11 (1983), 419; H. Oberreuter, F A Z v. 5.1.1984, S. 5; F.K.Fromme, F A Z v. 19.7.1984, S. 10 (betr. Steuergeheimnis i n parlamentarischen Untersuchungsausschüssen) ; K . Stern, Staatsrecht I (Fn. 55), S. 468, sieht die etablierten Parteien „nach 1932/33 . . . vor einer neuerlichen Bewährungsprobe" ; zsfssd. die konzise P h i l i p p i k a des Staatssekretärs H. Lenz (SPD) bei Beginn der „Duldungsverhandlungen" zwischen SPD u n d Grünen i n Hessen, abgedruckt i n FR v. 27. 7.1984, S. 10, u n d v. 28. 7.1984, S. 14. 892 s. a. P. Häberle, Verfassungslehre (Fn. 1), S. 75 f. 893 So H. Oberreuter, F A Z v. 5.1.1984, S. 5. 894 D a r i n sieht O. Kimminich, D Ö V 1983, 226, die größte Gefahr. — s. aber die Forderung von Bundesjustizminister H. A. Engelhard bei den 14. B i t b u r ger Gesprächen, die Politiker müßten Themen der alternativen P o l i t i k aufgreifen, die staatlichen Organe „sensibler auf den Pulsschlag der Zeit reagieren", Bull. 1984, 50 ff. (55). 895 So könnte die flexible A m t s f ü h r u n g von Bundestagspräsident R. Barzel „nicht unerheblich zur Differenzierung innerhalb der Grünen, zu ihrer u n 889

Krise oder Bewährungsprobe des informalen Verfassungsstaates?

155

derung der Grünen i m Hessischen Landtag nach ihrem Wahlerfolg 1982 genannt, den Landtagspräsidenten i m jährlichen Turnus von jeder Fraktion (angefangen bei der kleinsten) stellen zu lassen 898 — 1983/84 war realistischerweise davon nicht mehr die Rede. So führen auch nicht schon „alternatives" Denken und sein Wahrheitsanspruch als solche 897 , sondern auch die Reaktionen darauf, also beide zusammen i n ihrem Wechselbezug, zu Freund-Feind-Dichotomien i m Verfassungsleben und damit zur Schwächung der gesellschaftlichen und politischen Integration, oder auch umgekehrt, zur Stärkung des Verfassungsstaats in Krisenzeiten: Es geht u m Krise oder Bewährung des informalen Verfassungsstaats. Die Situation in diesen Monaten (bis Sommer 1984) ist empirisch v o n wechselseitigen

Ausgrenzungs-

und Integrationsbemühungen

seitens

der „Grünen"-Politiker einerseits und der drei etablierten Parteien andererseits, bei diesen freilich m i t unterschiedlicher Gewichtung, gekennzeichnet 898 . Die Erscheinungsformen der eigenen Ausgrenzungsbestrebungen durch die Grünen selber durch Selbststilisierung zur Fundamentalopposition sind bekannt 8 9 9 . Zu nennen ist die anfänglich von einigen Abgeordneten beanspruchte Entscheidungsautonomie betr. die Geheimhaltungsvorschriften 900 , wie sie i n Niedersachsen i n der Veröffentlichung eines als „Verschlußsache" vertraulich zu behandelnden Rundschreibens des Wissenschaftsministeriums (betr. gefährdete Anlagen i n Krisenzeiten) 901 empirisch anschaulich wurde; man denke ferner an die Distanz zu feierlichen, inter-fraktionellen Staatsakten (ζ. B. die Nichtteilnahme an der Feier i m Bundestag zum 17. Juni 1984); wichtiger: die Nähe zu illegalen gewaltsamen außerparlamentarischen Aktivitäten 9 0 2 ; i m Parlament die ζ. T. den politischen Gegner verletzende verbale Schärfe u. a. Diesen Tendenzen korrespondieren Ausgrenzungserscheinungen von Seiten der etablierten Parteien 903 , namentlich der derzeitigen Regieterschiedlich starken M i t w i r k u n g an der Parlamentsarbeit beigetragen" haben, so H. Herles, F A Z v. 10. 4.1984, S. 3. 89β F A Z v. 19.11.1982, S. 4; weitere Forderungen u.a.: Beschränkung der Landtagspräsidentenbefugnisse; Öffentlichkeit der Präsidiums- u n d A u s schußsitzungen; Abschaffung des „Fraktionsbegriffs". 897 So H. Oberreuter, F A Z v. 5.1.1984, S. 5. 898 s. auch F. Hase, ZRP 1984, 87. 899 Z u einer positiven Einordnung ihres Selbstverständnisses s. J. Hub er, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 2/1983, S. 33 ff. 900 s. R. Scholz, Krise (Fn. 478), S. 16 m. w. N w . »οι F A Z v. 2. 4.1983, S. 3. 902 Z u r gleichsinnigen K r i t i k der „Grünen" bei gewalttätigen Auseinandersetzungen an der Polizei s. ζ. B. F A Z v. 17. 4.1984, S. 2. 903 Sie finden i n Verfahren vor dem B V e r f G ihren Niederschlag, vgl. Der Spiegel Nr. 18/1984, S. 66 ff.

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V. Ausblick: Die „ G r ü n e n " als Beispiel

rungskoalition, ohne daß hier gegeneinander abgewogen werden soll: Man denke an den Ausschluß der Grünen vom Parlamentspräsidium 904 , von der Parlamentarischen Kontrollkommission zur Kontrolle der Nachrichtendienste und des entsprechenden Haushalts-Unterausschusses 905 , die Absagen bzw. Verbote durch das Bundesministerium für Verteidigung für Bundeswehrangehörige, mit bestimmten Vertretern der sog. Friedensbewegung auf Podiumsdiskussionen aufzutreten 906 u. a. m. Die je nach politischer Auffassung in allen „Lagern" befürchteten oder erhofften Integrationserscheinungen sind etwa: die Einbeziehung einer grundsätzlich angemessenen Zahl von Vertretern der Grünen in den (meisten 907 ) parlamentarischen Gremien 9 0 8 ; die A r t und Weise der Aufnahme von parlamentarischen „Duldungsverhandlungen" i n Hessen und ihren verschiedenen^Schrittén von der haushaltsrechtlichen Übergangsregelung i m Dezember 1983, der Verabschiedung des Haushalts 1983 am 25. 1.1984 909 bis hin zur Vereinbarung einer begrenzten Kooperation m i t der Wiederwahl von Ministerpräsident H. Börner (SPD) 910 ; die interfraktionelle Gemeinsamkeit i m Bundestag nicht nur i m Ältestenrat 911 , sondern auch ζ. B. bei der 35. Änderung des GG; die „realpolitische" Mehrheit der „Basis" in Hessen für eine grundsätzliche Zusammenarbeit mit der SPD 9 1 2 , oder die verschiedenen Denkprozesse i m Zusammenhang m i t dem Rotationsprinzip 913 . Auch an der Bundes904 Vgl. aber oben Fn. 52; zur Parallele i n Baden-Württemberg s. H.-P. Biege, ZParl 15 (1984), 254 (264). 905 v g l oben bei Fn. 471. — Z u den Parallelen auf Länderebene am Bsp. Baden-Württembergs s. B. Hauser, F A Z v. 24. 4.1984, S. 12. 908 M i t General a. D. M d B G. Bastian sei eine direkte Konfrontation unzum u t b a r (zit. nach FR v. 19.1.1984, S. 1); das gleiche M o t i v dürfte zum Diskussionsverbot m i t Oberstleutnant a. D. A. Mechtersheimer i n der Loccumer Akademie geführt haben (vgl. FR v. 31.12.1983, S. 1). 907 Anderes g i l t f ü r das 5köpfige sog. G-10-Gremium betr. die Kontrolle der Einschränkung des Post- u n d Telefongeheimnisses, i n dem die SPD, anders als die C D U der FDP, den „Grünen" keinen Platz abgab, s. F A Z v. 7. 5.1983, S. 1. «os F ü r Hessen s. F A Z v. 25.11.1982, S. 1. 909 F A Z v. 26.1.1984, S. 1. 910 F A Z v. 8.6.1984, S. 1; zur Vertrauenserklärung nach der Kabinettsbildung F A Z v. 5. 7. 1984, S. 1. 911 s. den Erfahrungsbericht der (neuen) parlamentarischen Grünen-Geschäftsführerin C. Nickels, Der Spiegel Nr. 17/1984, S. 26 (27). 912 s. F A Z v. 16.1. 1984, S. 1 u n d 10, u n d erneut v. 21. 5.1984, S. 1. 913 Z u denken ist weniger an den (wohl untypischen) Fraktionsaustritt von M d B G. Bastian als an die w o h l wachsenden innerparteilichen Zweifel am Rotationsprinzip, s. ζ. B. F A Z v. 3. 3.1984, S. 4; zur „verbindlichen" Absage der „Grünen" an eine „Rotation" i m Münchener Stadtrat, s. F A Z v. 23. 3.1984, S. 2; zur Auseinandersetzung u m den (Nicht-)Rücktritt der Abgeordneten P.Kelly (z.B. F A Z v. 10.7.1984, S. 2, u n d v. 11.7.1984, S.4; Der Spiegel Nr. 28/1984, S. 23 f.; allg. G.Bannas, F A Z v. 21.7.1984, S. 8) kritisch selbst FR

Krise oder Bewährungsprobe des informalen Verfassungsstaates?

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Präsidentenwahl nahmen die „Grünen" — trotz Erwägungen, gar nicht teilzunehmen 914 — durch Nominierung der eigenen, parteilosen Kandidatin Luise Rinser Anteil 9 1 5 . Jenseits von derzeit wenig zuverlässigen (verfassungs-)politischen Bewertungen und Prognosen solcher Prozesse 918 w i r d i n diesen Vorgängen anschaulich, wie i m Vorfeld des formellen Verfassungsrechts die informalen Verfassungsregeln wirken. Was hier, speziell auf der Ebene von Proporzregeln, Parteivereinbarungen und parlamentarischer Kooperation, als positive oder negative Integration gegenübergestellt worden ist, ist Ausdruck einer instabilen Phase i n der interparteilichen Interaktionsgeschichte zur Ausbildung von gegenseitigem Vertrauen. Solches muß erst i n einem Austauschprozeß von „ t r i a l and error" getestet werden 9 1 7 und sich relativ dauerhaft bewähren, ehe integrative Vertrauens- und Loyalitätsbeziehungen entstehen 918 . Freilich w i r d dieser Prozeß, abgesehen von den bestenfalls inkonsistenten Inhalten grüner Politik, auch dadurch erschwert, daß die „basisdemokratische" Abhängigkeit der politischen Führer der „Grünen" deren Verhandlungsspielraum einschränkt und Abmachungen regelmäßig nur unter Vorbehalt, d. h. relativ unverbindlich getroffen und dann auch bei scheinbarer Endgültigkeit oft immer wieder erneut i n Frage gestellt werden 9 1 9 — gerade solches erschwert Vertrauen(sbildung) 920 ! Zusätzlich verhindert das Rotationsprinzip personelle und damit auch sachliche Kontinuität und Zuverlässigkeit 921 . Zudem gibt es sicher auch sachlich unübersteigbare Grenzen 922 . v. 10.7.1984, S. 3: „ W a h n einer jungen Partei, ständig bei A d a m und Eva beginnen zu wollen" ; s. a. oben bei Fn. 480. 914 F A Z v. 9. 5. 1984, S. 12. eis F A Z v. 17. 5.1984, S. 3. 916 s. als insoweit w o h l verfrühte Analysen W. Steff ani u n d H. Oberreuter, Aus P o l i t i k und Zeitgeschichte, Β 2/1983, S. 3 ff. bzw. 19 ff. 917 I m m e r wieder w i r d von „Mißtrauen" i n hessischen SPD-Gruppierungen berichtet, s. ζ. B. F A Z v. 10. 4.1984, S. 5. 918 s. o. bei Fn. 686 u n d K . F. Röhl, FS f. H. Schelsky, 1978, S. 452 ff., 470 ff.; J. Köndgen, Selbstbindung (Fn. 669), S. 243 m. w. N w . 919 s. zum Abrücken bzw. erneuten Aufgreifen von „abgehakten" Themen der Grünen i n Hessen bezgl. schon getroffener Vereinbarungen bzw. immer wieder neuer Forderungen: F A Z v. 14.3.1984, S. 4 („Hessens SPD, vertragstreu bis zum letzten"); v. 15. 3.1984, S. 2; v. 9. 5.1984, S. 3; v. 16. 5.1984, S. 12; s. zum jeweils erneuten Entgegenkommen der SPD: F A Z v. 12.4.1984, S. 1; v. 16.5.1984, S. 4; s. auch die Begründung seines Verzichts auf ein Ministeramt von Finanzminister a. D. H. Reitz (SPD), F A Z v. 5. 6.1984, S. 5. 920 s. zu den Gefahren der Basisdemokratie der „Grünen" f ü r ihre Handlungsfähigkeit H. Fofift, PVS 25 (1984), 98 ff., 110 u. ö. 921 So das ehemalige G r ü n e n - M d L W.-D. Hasenclever, i n : C. Graf v. Krockow (Hg.), Brauchen w i r ein neues Parteiensystem?, 1983, S. 146 (154). 922 So liegt es i n der L o g i k der Gemeinsamkeit der großen politischen Parteien i n Berliner Angelegenheiten (vgl. ζ. B. oben bei Fn. 268), daß M e h r -

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V. Ausblick: Die „ G r ü n e n " als Beispiel

Die Personengebundenheit von Vertrauen läßt auch die soziale Zusammensetzung der Grünen-Abgeordneten problematisch erscheinen. Sie weist sie als „typische Protestpartei" jenes neuen Mittelstandes der Angestellten und Beamten i m unproduktiven Dienstleistungsbereich aus, der materiellen Zielen und Werten der Industriegesellschaft weniger verpflichtet ist 9 2 3 , erst recht, soweit sie sich als postmaterialistische Avantgarde einer Subkultur verstehen sollten 924 . I h r i m Vergleich zum übrigen Bundestag sozialstrukturell deutlich jüngeres, durch die APOGeneration geformtes Profil erschwert jene informale Kooperation, die aus gemeinsamen (auch: nicht-politischen) Lebens- und Arbeitserfahrungen und -horizonten gespeist wird. Ob sie unmöglich ist, ist damit keineswegs gesagt: Die i n Lernprozessen begründeten Fraktionierungsprozesse innerhalb der „Grünen" 9 2 5 scheinen eher i n die Gegenrichtung zu weisen92®. Es sind Regeln des informalen Verfassungsstaates, die Richtung und Erfolg solcher Bemühungen zwischen Integration und Fundamentalopposition 927 zuerst erkennen lassen und zugleich als Katalysatoren solcher Prozesse wirken. Es erscheint deshalb verfassungsstaatlich angemessener, statt durch vorschnelle, w e i l die Verfassung aller gefährdende verfassungsrechtliche Ausgrenzungen die „Grünen" i n ihrer ganzen Ambivalenz 9 2 8 als neue Qualität des Bundestages durch — soweit möglich — geduldige prozedurale Zusammenarbeit bei unverändert klarer Sachkonfrontation (einschließlich von Kompromißfindungen i m Einzelheitsverhältnisse im Berliner Abgeordnetenhaus mit der Alternativen Liste als „Zünglein an der Waage" zu einer formellen oder informellen Großen Koalition führen; vgl. auch zu einschlägigen Spekulationen: H. Haibach, FAZ v. 7. 7.1984, S. 12. 928 So H.Fogt, Z P a r l 14 (1983), 517; sehr k r i t . K.Kluxen, Geschichte (Fn. 9 2 4 S. 267 ff.; H. Lenz, FR v. 27. 7.1984, S. 10. 891), s. dazu auch P. Häberle, Verfassungslehre (Fn. 1), S. 75 f. (m. Fn. 169). 925 s. speziell dazu J. Busche, F A Z v. 30.1.1984, S. 1; F A Z v. 3. 3.1984, S. 4. 926 Ob die „ G r ü n e n " davon parteipolitisch profitieren (oder eher nicht), ist kein verfassungstheoretisches K r i t e r i u m . 927 Besonders deutlich hat der Grünen-Abgeordnete J. Fischer die A m b i v a lenz seiner Partei zwischen (in seinen Worten:) Machtfaktor u n d Störfaktor herausgestellt, s. Der Spiegel Nr. 9/1984, S. 81 ff. Einerseits S. 87: „ E i n E i n stieg i n die neudeutsche .Gemeinsamkeit der Demokraten 4 ist für die Grünen unmöglich. Sie müßten dafür m i t dem Radikalismus der sozialen Bewegungen definitiv brechen u n d wären erledigt"; andererseits S. 90: „Die G r u n d tendenz läuft auf Parlamentarisierung, Bündnis u n d Kompromiß. Wer dies aufhalten w i l l , der k a n n die Partei n u r noch kaputtmachen . . . " Diese Thesen lassen sich ohne logischen Widerspruch n u r als grundsätzliches Einverständnis i n den prozeduralen (und n u r insoweit, nicht i m übrigen, i n h a l t lichen) Basiskonsens des Verfassungsstaates interpretieren. 928 Vgl. R. Scholz, Krise (Fn. 478), S. 17 ff. u. ö., der diese Ambivalenz als bloß „taktischen K o m p r o m i ß " (S. 20) ansieht (und damit die W i r k k r a f t des — informalen — Verfassungsstaates vernachlässigt); s. auch ausf. (deskriptiv) D. Wenz, F A Z v. 24. 3.1984, Beilage.

Krise oder Bewährungsprobe des informalen Verfassungsstaates?

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fall) auf der Ebene des informalen Verfassungslebens anzuerkennen und einzubinden 920 . Gewiß kann sich i m Ergebnis — bedauerlicherweise oder nicht — die Breite des Verfassungskonsenses der i m Bundestag vertretenen Parteien verkleinern, könnten die Annäherungen der „großen" Parteien i n den 50er und 60er Jahren einer anderen Struktur der Parteienlandschaft weichen; solches wäre letztlich Konsequenz der Parteipluralisierung durch die Wählerschaft als Ausdruck eines Wertewandels i n Industriegesellschaften 930 . Langfristig würde der Verfassungsstaat eher gestärkt, kurz- und mittelfristig würde der Grundwerte- und Verfahrenskonsens über die Funktionseliten hinaus deutlicher konturiert. Denn gerade wenn und weil der Dissens größer werden sollte, bedarf es erst recht einer klaren Bestimmung der (unumstrittenen) Gemeinsamkeiten. Gerade weil die „Grünen" ein spezifisch deutscher, international möglicherweise einmaliger 9 3 1 politischparlamentarischer Ausdruck eines konfliktträchtigen Wertewandlungsprozesses und sozio-kulturellen Risses durch die Gesellschaft mit zwei Teilgesellschaften sind 9 8 2 , ist eine krisenhafte Selbsterneuerung der Gesellschaft am ehesten durch eine Integration der gesellschaftlichen Ungleichzeitigkeit 983 auf der Ebene des informalen verfassungsstaatlichen Kooperationsprozesses möglich 984 , freilich auf der Basis der verfassungsrechtlichen Konsensbedingungen des verfaßten Pluralismus 9 3 5 . Diese verfassungsstaatliche Daueraufgabe darf nicht vernachlässigt werden: Die informalen Verfassungsregeln gelten nicht einem Vor- oder Nebenspielfeld neben dem Verfassungsrecht — sie bilden das zweite, funktional (fast) ebenso wichtige Standbein des Verfassungsstaates.

929 s. D.Göldner, FS f. O. Bachof, 1984, S. 26 f.: „Verfassungsgemeinschaft" als „Kontrastgemeinschaft", freilich sprachlich unglücklich (nach F. Tönnies) u n d sachlich zu eng (Grundrechte allein reichen als verbindende Gemeinsamkeit kaum); vgl. auch F A Z v. 7.7.1984, S. 1. 980 Z u r Analyse der Wählerschaft der Grünen, die den Besonderheiten der Grünen-Abgeordneten korrespondiert, s. H. Fogt/P. Uttitz, Z P a r l 15 (1984), 210 ff. 931 s. E. Noelle-Neumann, F A Z v. 24. 7.1984, S. 9. 932 s. B. Guggenberger, F A Z v. 30.10.1982, Beilage; H. v. Recum, Aus Polit i k u n d Zeitgeschichte, Β 25/1984, S. 3 (5, 7 f. u. ö.). 983 Vgl. i. S. einer Pflicht zur D i a l e k t i k aus der Ungleichzeitigkeit (am Bsp. der Jugend) E. Bloch, Erbschaft dieser Zeit, 1962, S. 104 ff. 984 s. a. H. Vorländer, Verfassung (Fn. 1), S. 382 f. 985 Z u ihnen P. Häberle, i n : ders., Verfassung (Fn. 1), S. 141 ff.

VI. Zusammenfassung in Thesen I. I m Verfassungsstaat ergänzen — ähnlich wie auch in einfachgesetzlich geregelten Sachbereichen — ungeschriebene, nicht-rechtliche (d. h. informale) Organisations- und Verfahrensregeln die verfassungsrechtlich festgelegte Organisation des politischen Gemeinwesens. Solche „informalen Verfassungsregeln" wirken als kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen, die als entscheidungsbedeutsame Gebote, zweioder mehrseitig bindende Absprachen oder einseitig selbstbindende Verhaltensansprüche i m unmittelbaren Zusammenhang m i t verfassungsrechtlichen Normen stehen und diese als Hilfsregeln ergänzen. Über den (Teil-)Bereich der Verfassungskonventionalregeln (ζ. B. das „Recht" der stärksten Fraktion zur Benennung des Bundestagspräsidenten) hinaus strukturieren sie die Verfassungskultur i m Rahmen des Grundgesetzes als ungeschriebene Verhaltensregeln für die führenden Amtsträger (der obersten Staatsorgane, politischen Parteien und vergleichbaren öffentlichkeitswirksamen Einflußgruppen), deren Beachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten Verfassungslebens betrachtet wird. II. 1. Nicht-rechtliche Proporzregeln gibt es selbst i m Bundestag jenseits des geschriebenen Geschäftsordnungsrechts bei der Verteilung parlamentarischer Einflußchancen für die Fraktionen (ζ. B. bei der Verteilung der Gesamtredezeiten). I m Bereich der Regierung und Verwaltung werden ζ. T. nicht nur politische Beamte (ζ. B. in den Spitzenpositionen des Bundesamtes für Verfassungsschutz), sondern ζ. T. auch nicht-politische Beamte unter Berücksichtigung eines Parteienproporzes promoviert. Für die Dritte Gewalt hat sich der Parteienproporz für die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts stark, für die Wahl der übrigen Bundesrichter und die Gerichtspräsidenten der Gerichtshöfe des Bundes schwächer formalisiert. Selbst i n nichtstaatlichen Bereichen lassen sich Parteienproporzregeln nachweisen. — Neben diesen sind i n Regierung und Verwaltung, Justiz und nichtstaatlichen Bereichen weiter pluralistische Proporzregeln vor allem nach den Kriterien Konfession, Ge-

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schlecht, regionale Herkunft und gesellschaftliche Gruppenzugehörigkeit wirksam. 2. Als Regeln der informalen Zusammenarbeit sind verbindliche politische Absprachen zwischen den politischen Parteien (ζ. B. Koalitionsvereinbarungen), aber auch Regeln der Befugnisausübung i m Verhältnis von Verfassungsorganen untereinander (als nicht-rechtliche VorFormen des rechtlichen Gebots der Verfassungsorgantreue) sowie Organisationsregeln innerhalb von Verfassungsorganen zu nennen, besonders die vielfältigen Formen der parlamentarischen Kooperation (ζ. B. durch interfraktionelle Absprachen). Doch auch auf gemeindeutscher Ebene lassen sich i m Rahmen des kooperativen Föderalismus vielfältige Formen informaler Zusammenarbeit zwischen den Ländern (ζ. B. die Ministerpräsidentenkonferenz) und von Bund und Ländern nachweisen. Der Bereich der Außenpolitik und das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, besonders Wirtschaft und Verbänden, bilden ergiebige Felder informaler Zusammenarbeit. 3. Der Gewaltenteilungsgedanke als Zentralstück aller Regeln der Herrschaftsbalancierung w i r d personal durch eine wechselhafte, unstete Herausbildung informaler Inkompatibilitäten ergänzt, die sich wegen ihrer Nähe zu Moral und Anstand m i t Fragen des politischen Stils überschneiden, vom Verbot (ζ. B.) bestimmter Beraterverträge für MdB über die Maßstäbe für den Rücktritt von Ministern oder die besonderen, partei-politischen Neutralitätspflichten bestimmter Amtsinhaber (ζ. B. von Bundesverfassungsrichtern) bis h i n zu Regeln persönlicher Selbstbeschränkung bei der Amtsführung i m Rahmen rechtlicher Kompetenzen. — Daneben bilden sich informale Gewaltenteilungsregeln institutioneller A r t (ζ. B. das Oppositionsbenennungsrecht für den Haushaltsausschußvorsitz) und partei- bzw. koalitionspolitischer A r t (ζ. B. das „Kreuzstichverfahren" bei der Verwendung parlamentarischer Staatssekretäre) bis h i n zu Regeln amtsspezifischer Selbstbeschränkung bei der Amtsführung i m Rahmen rechtlicher Kompetenzen (Fragen des „seif restraints"). 4. Informale Verfassungsregeln leben charakteristischerweise davon, daß Vereinbarungen eingehalten bzw. Verhaltensmaßstäbe kontinuierlich praktiziert werden. Voraussetzung ist ein Mindestmaß an Tauschgerechtigkeit durch zufriedenstellende Kompromisse und Formen des Ausgleichs, wie sie vor allem durch Einstimmigkeit angezeigt wird. Zugleich entwickeln solche Regeln eine gewisse (nichtrechtliche) Formalisierung, wie sie beispielhaft i n der Herausbildung (relativ) regelmäßig tagender parakonstitutioneller Entscheidungsgremien (ζ. B. verfassungsorganübergreifender Koalitionsgespräche) deutlich wird. Die charakteristische Öffentlichkeitsdistanz informaler Verfassungsregeln ermög11 Schulze-Fielitz

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licht jenes gegenseitige Vertrauen der Funktionselite, von dem die Wirksamkeit der Konsensfindung i m K o n f l i k t wesentlich abhängt.

III. 1. Informale Verfassungsregeln sind zweckmäßige, wenn nicht notwendige Ergänzungen der prozeduralen Regeln der Entscheidungsfindung des Staatsorganisationsrechts und stabilisieren informal die Verfassung als Verfahrensordnung, indem sie die Vorformung des politischen Willens aller Verfassungsorgane organisieren. 2. I h r nicht-rechtlicher Charakter verleiht informalen Verfassungsregeln spezifische Eigenschaften, zunächst einmal eine der politischen Praxis angemessene Flexibilität und Elastizität: Statt juristischer Rigidität können sie leichter, d. h. ohne förmliche Verfahren durchbrochen oder revidiert werden, statt der gerichtlichen Kontrollen w i r k t die Öffentlichkeit als Kontrollinstanz, und doch können sie praktisch „wie Recht" wirken. Die Leichtigkeit von Regelmodifizierungen macht informale Verfassungsregeln zu frühzeitigen Indikatoren für Machtverschiebungen und Veränderungen i n der Verfassungskultur; gleichzeitig bilden sie ein Feld der Erprobung für neue Regeln und sind „Einbruchsteilen" für die praktische Umsetzimg ethisch-moralischer Vorstellungen i m Verfassungsleben. 3. Der sachlich-normative Schwerpunkt informaler Verfassungsregeln verweist auf einen engen Zusammenhang m i t der Dynamik des Parteienstaats, insofern jene die i n A r t . 21 GG verfassungsrechtlich eher generalklauselartig „anerkannte" M i t Wirkungsbefugnis der Parteien steuern. Sie ergänzen den Grundsatz der Gewaltenteilung (vor allem durch Inkompatibilitäten und Kooperation) gerade dort, wo die Entwicklung zum parlamentarischen Regierungssystem das traditionelle Schema der Dreiteilung der Gewalten insuffizient erscheinen läßt; und sie erweitern (vor allem durch die Proporzregeln) den Gedanken der Gewaltenbalancierung i n der „Verfassung des Pluralismus" (Peter Häberle) über den engeren staatsorganisatorischen Bereich hinaus. I n formale Verfassungsregeln sind Problemlösungsversuche für solche realen Verfassungsentwicklungsprobleme, denen die dichotomisierte Systematik der klassisch-liberalen Staatsrechtsdogmatik und ihre Begrifflichkeit kaum beikommen können. 4. Informale Verfassungsregeln haben ihren Geltungsgrund darin, daß sie Ausdruck eines gemeinsamen (prozeduralen) Grundkonsenses sind. Sie w i r k e n als Förderbausteine des Verfassungskonsenses, indem sie auf eine kollektive Willensbildung unter Berücksichtigung aller

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wesentlichen Gesichtspunkte und auf eine Mäßigung der Staatsgewalt durch Kompromißfindung zielen. Ihre (auch historisch bewährte) Integrationskraft namentlich gegenüber starken Minderheiten (ζ. B. der Sozialdemokratie) ist Ausdruck der immer wieder neuen informalen Aktualisierung der grundgesetzlichen Verfassung als „Vertrag". Die Gründe des freiwilligen Sich-Vertragens lassen sich i m Gedanken der (generalisierten) Reziprozität als (vermutlich) anthropologischer Konstante finden; die stets durch zeitliche, sachliche und personale Asymmetrie gefährdete Austauschgerechtigkeit der informalen Reziprozitätsbeziehungen i m Verfassungsstaat w i r d durch die Regeln des Verfassungsrechts als Schranke gesichert. 5. Der juristisch-dogmatische Charakter der einzelnen informalen Verfassungsregeln läßt sich nur je spezifisch bestimmen. Als Gemeinsamkeit hinter ihrer sachlichen und kategorialen Vielfalt fällt angesichts gemeinsamer Entstehungsvoraussetzungen die Nähe zum Gewohnheitsrecht auf, auch wenn man informalen Verfassungsregeln nur ausnahmsweise Rechtscharakter bescheinigen kann. Allenfalls formulieren sie „werdendes" Recht: Bei langer Bewährung können manche (Verf assungs-)Recht werden. 6. Der mangelnde Rechtscharakter verhindert zwar eine unmittelbare Justiziabilität; informale Verfassungsregeln bestimmen aber mittelbar auch die verfassungsrechtliche Grenzziehung bezüglich jeweils funktional ähnlicher Rechtsregeln mit. I m übrigen sensibilisieren sie oft erst für verfassungsrechtliche Probleme.

IV. 1. Informale Verfassungsregeln tendieren dazu, geschriebenes Verfassungsrecht zu umgehen. Vor allem drohen sie, zweifelhafte Entscheidungen einer ausreichenden öffentlichen Kontrolle kompetenzgerechter Amtsausübung zu entziehen, Verantwortungs- und Kompetenzzuweisungen zu verlagern und zu unterlaufen, das Verfassungsverfahrensrecht zugunsten bloß ritueller Vollzugsakte von informalen Entscheidungen (ζ. B. der Parteiführungsgremien) abzuwerten, die Regeln der Gewaltenteilung informal zu überspielen und den Einfluß der politischen Parteien (verfassungs-)grenzenlos auszuweiten. 2. Die Eigendynamik informaler Prozesse neigt zur Ausdehnung (ζ. B. des Parteienproporzes), andererseits zu möglicherweise übermäßig mobilitäts-, innovations- und initiativfeindlicher Mehrheitskonkordanz (z.B. bei Einstimmigkeitsregeln gemeindeutscher Konferenzen); darin kann aber kein grundsätzlicher Einwand gesehen werden. 11*

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3. Ohne Berücksichtigung der informalen Verfassungsregeln, deren kategoriale Zweckmäßigkeit für eine wirklichkeitswissenschaftliche Analyse deutlich werden sollte, bleibt die Verfassungslehre i n erheblichem Ausmaß wirklichkeitsfremd. V. Die Herausforderung der „Parteienlandschaft" der Bundesrepublik durch den Einzug der „Grünen" i n den 10. Deutschen Bundestag ist primär ein Test für die Tragfähigkeit der Regeln des informalen Verfassungsstaats. Die bisherigen Erfahrungen zeigen sowohl auf Seiten der „alten" Bundestagsparteien als auch auf Seiten der „Grünen" ein ambivalentes wechselseitiges Verhältnis, das informale Verfassungsregeln mitunter jeweils (final) instrumentalisieren w i l l . Dennoch scheint sich ein modus vivendi anzubahnen, durch den die informalen Verfassungsregel η — möglicherweise geringfügig modifiziert — reziprok sich bewähren und i n ihrer Kraft als zweites Standbein des Verfassungsstaates neben dem Grundgesetz bestätigt werden könnten.

Personenregister Achterberg, Ν. 24, 30, 53, 56, 69, 71, 75, 106, 123 f., 129 Adenauer, K . 35, 46, 64 f., 94, 112 Adomeit, K . 149 Albrecht, E. 35 v. Alemann, U. 69 A l t , F. 138 Amstutz, P. 91, 112 Andersen, U. 42, 67 Andropov, J. W. 65 Apel, H. 55 A r n d t , C. 32 v. A r n i m , Η . H. 25, 28, 38 f., 41, 70, 78, 85, 132, 135 ff., 142 ff., 148, 151 Arnold, K . 29 Bachof, O. 125 Badura, P. 14, 39, 73, 111 Bagehot, W. 134 Bahr, E. 65 Bangemann, M. 138 Bannas, G. 142, 156 Baring, Α. 65 Barnard, C. I. 12 Barzel, R. 64, 93, 112 f., 154 Bastian, G. 156 Baumann, R. 60 Benda, E. 35, 79, 81, 115, 146, 151 Benz, Α. 13 Berg, W. 26, 144 Berglar, C. 79 Bermbach, U. 46 f., 85 Bernzen, U. 24 Bettermann, K . - A . 144 v. Beyme, K . 38 f., 94 Bieber, R. 66 Biedenkopf, Κ . H. 64, 95 Biege, H.-P. 156 B i l l i n g , W. 31 f., 36, 95 v. Bismarck, Κ . 34, 48 Blachstein, P. 136 Blankenagel, A. 120 Blankenburg, E. 14 Blau, P. Β . 13 Bleckmann, Α . 59, 66 Bleek, U. 54, 135 Blischke, W. 53 Bloch, E. 159 Blötz, D. 26

B l ü m , Ν . 94 Blumenwitz, D. 47, 66 Böckenförde, E.-W. 37 f., 51 f., 68, 94, 96, 116, 119, 149, 151 Boehnisch, P. 34 Bohret, C. 19 Böhringer, A . 61 Börner, H. 81, 97 f., 156 Bohne, E. 13 Borell, R. 90, 141 Borgs-Maciejewski, H. 129 Bothe, M . 62 Brandt, E. 73 Brandt, W. 35, 64, 93, 97, 112 f. v. Brauchitsch, E. 82 Breitbach, M. 80 f. Breuer, R. 14 Brohm, W. 14, 42, 51 Broichhausen, K . 71 Bryde, B.-O. 18 f., 30, 36, 38, 52, 54, 90, 95, 123, 125 ff., 146, 150 Büchler-Tschudin, V. 111 Bücker, J. 82 Bullinger, M . 102 Burhenne, W. E. 57, 60, 89 Burke, E. 38 Burmeister, J. 14 Busch, J.-D. 50 Busche, J. 158 Buser, W. 43 v. Campenhausen, A . 67 Carbonnier, J. 12 Carstens, K . 68,112 f. Däubler, W. 14 Dammholz, A . R. S. 54 Delbrück, J. 50, 131 Dexheimer, W. 53 f. Dittmann, A . 40, 45, 70, 104 Dittmann, T. 115 Dodenhoff, W. J. 109 Doehring, K . 14 Dollinger, W. 35 Dolzer, R. 50, 85 Donnepp, I. 78 Dopatka, F.-W. 50 Dürig, G. 44 Dyson, Κ . 26 ff., 144

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Personenregister

Echternach, J. 60 Eckert, G. 42 Ehmke, H. 108 Ehrenberg, H. 51 Eichenberger, K . 99 Ellwein, T. 44, 122, 136, 153 Engelen-Kefer, U. 39 Engelhard, H. A . 138, 154 Engelmann, K . 19 Eppler, E. 34 Erhard, B. 31, 138 Ernst, W. 44 Eschenburg, T. 21, 25 f., 35, 39, 70, 77, 83, 114, 145 f. Esser, J. 105, 125 Esters, H. 82 Etzioni, A. 12 Fastenrath, U. 66 Fehrenbach, G. 34 Feldmann, W. 65 Fertsch-Röver, D. 34 Feuchte, P. 44, 58 ff., 62 Fiedler, W. 113, 150 Finke, O. 153 f. Fischer, J. 132, 158 Fischer-Menshausen, H. 62, 90 Fogt, H. 39, 85, 116, 136, 157 ff. Forsthoff, E. 130, 135 Franke, H. 38 Friauf, Κ . H. 46, 132, 139 Friedensburg, F. 112 Friedman, L . M. 20 Friesenhahn, E. 50 Fromm, G. 40 Fromme, F. K . 26, 30 ff., 35, 38, 50, 52, 56, 59, 61, 77, 79 f., 83, 86 f., 122, 135, 137, 139, 146, 154 Fuchs, A . 37 Gaa, L. 75 Garth, Β . 14 Geiger, W. 31 Geißler, H. 71 v. Geldern, W. 38 Gennrich, C. 83, 93 Genscher, H.-D. 26, 97, 113 Genzer, W. E. 70 f. Gerontas, A . 85 Gilles, P. 30, 79 Glastetter, W. 42 Glotz, P. 82, 115 Göldner, D. 115, 159 Gotthold, J. 13, 68 Gouldner, A . W. 88, 118, 120 f. Grawert, R. 57, 61 f. Greifeid, A. 83 Gries, E. 81

G r i m m , D. 21, 30, 34, 45, 63, 68, 82, 85, 107, 109, 136, 138 ff., 143 f., 148, 153 v. d. Groeben, K . 52 Grottian, P. 26 f. Grundmann, K . 138 Guggenberger, B. 159 Gussek, L. 131 Gusy, C. 115, 149 f. Haase, L. 82 Habermas, J. 120 Häberle, P. 11, 20, 36, 38, 44 ff., 62 f., 72, 75 f., 85, 96, 99 f., 107 f., 110 f., 115 f., 118, 126 f., 130 f., 135, 141 f., 146, 150, 152, 154, 158 f. Haferkamp, W. 64 Haibach, H. 148, 158 Hamm-Brücher, H. 37, 45, 53 Hare, T. 16, 91 Hase, F. 79 f., 84, 153 ff. Hasenclever, W.-D. 157 Hatschek, J. 54 Haungs, P. 105 Hauser, B. 156 Hauser, E. 64 Haverkate, G. 15 Heilmann, H. 84 Heinemann, G. 35 Heinze, C. 108 Heinze, R. G. 69 Hellenbroich, H. 26 Heller, H. 15, 113, 150 Hemmrich, U. 78 Henke, W. 149 Henn, W. 74, 76 Hennis, W. 17, 70, 111 Henrich, F.-W. 13 Henschel, J. F. 36, 80 Henseler, P. 85 Heptner, Β . E. 97 Herles, H. 25, 51, 54, 57, 67, 95, 129, 155 Herzog, D. 39, 97, 105, 112, 114, 117, 148 Herzog, R. 17, 32, 36, 47, 49, 79, 87, 139 Hess, A . 38 Hesse, J. J. 63 Hesse, K . 36, 46, 50, 62 f., 85, 106, 108, 125, 130, 141, 147 Heun, W. 17, 78, 114 f., 131 Heuss, T. 112 H i l f , M. 66 Hillermeier, Κ . 35 Hirsch, H . - K . 72 f. Hirsch, M . 79 Hömig, D. 62 Hopf li, G. F. 112 Hoffie, K . 81 Hoffmann-Lange, U. 34, 113 f. Hoffmann-Riem, W. 14 f., 69, 88, 146 Hoffmeyer, C. 121

Personenregister Hofmann, H. 114, 148 Hohm, K . - H . 84, 132, 153 Hollerbach, Α. 36 d'Hondt, V. 16, 91 f., I l l Hort, P. 67, 77, 82 Hotz, Β . 112 Huber, Η . 110, 125 f. Huber, J. 155 Hucke, J. 13 Hürland, A . 56 Hufen, F. 19 Ipsen, K . 32 Isensee, J. 12, 27, 39, 86, 142 ff. Ismayr, W. 23, 46, 53 Jäger, W. 148 Jakobs, M . C. 66 Jann, W. 19, 41 Jarass, H. D. 40, 97, 106, 137, 141 Jekewitz, J. 51, 56 Jesse, E. 112, 117 Jobs, F. 32 Jöhr, W. A. 111, 117 Jülich, C. 59, 63, 101 Jung, D. 47, 84, 132 Junkers, Μ . T. 19 Kaack, H. 37 f., 43 Kabel, R. 53 f., 87, 97 f., 154 Kafka, G. E. 46, 93, 114 Kaiser, Jakob 112 Kaiser, J. H. 68 Kaiser, K . 65 Kaltefleiter, W. 114 Katzenstein, D. 36 Kehrhahn, J. 57, 60, 89 Keller, B. 67 K e l l y , P. 156 Kemper, G.-H. 62 Kewenig, W. 33, 46, 63, 100 f., 103, 132, 138, 140, 143, 151 Kiesinger, K . G. 93 Kießling, G. 88 K i l i a n , M. 44 f. K i m m i n i c h , O. 153 f. K i n k e l , K . 26 Kirchheimer, O. 154 Kirchner, H. 11 Kisker, G. 57, 59, 62, 82 K l a t t , H. 48, 60 ff., 89, 136, 147 K l e i n , E. 28, 50, 85, 115 Klein, Franz 62 K l e i n , Friedrich 128 K l e i n , H a r a l d 121 K l e i n , Η . H. 38, 51 f., 136, 139 K l e i n , R. 24 Kleinert, D. 80

Kloepfer, M. 62,111 K l u x e n , K . 154, 158 Knöpfle, F. 144, 149 Knoke, T. 58 f. K n o r r , H. 93 Koch, W. 26 Kölble, J. 59 Köndgen, J. 118 ff., 157 König, J. 76 Köpke, H. 58 Kohl, H. 34, 48, 64, 97, 112 Kohrs, E. 101 Kommers, D. P. 36, 95 Konrad, H.-J. 66 Kralewski, W. 57, 93, 117 Kramer, E. A . 121 Krause Ρ 72 Kriele, M . 26, 50, 71, 86, 98,113, 123 Kröger, K . 30 f., 52, 73, 78, 93, 95, 101, 135, 137 Krölls, A . 95 Kronenwett, E. 19 Krüger, H. 19, 70, 107, 123, 150 Kruis, K . 43, 113 K r u p p , H.-J. 42 Küchenhoff, E. 49, 128 K ü h n , H. 34, 87, 89 f. Kühne, J.-D. 56 Kunze, R. 57 ff., 137 Laaser, A. 59, 63 Laband, P. 149 Lackner, K . 56 Laforet, W. 128 Graf Lambsdorff, O. 20, 76 f., 94 Lange, U. 106 Langenbucher, W. R. 82, 121, 148 Langner, M. 82 Larenz, K . 86 Laubinger, H.-W. 13 Laufer, H. 60, 63 Lauff, W. 55 Leber, G. 35 Lehmbruch, G. 19, 59, 97, 108, 112, 114 ff., 119, 148 f. Leibholz, G. 80, 85, 105, 126 Leisner, W. 136 Lenz, C. O. 64 Lenz, H. 61, 153 f., 158 Leonhardt, R. W. 44 Lepper, M. 52 Lerche, P. 40, 57, 63, 68, 89, 115, 117, 134, 137 f., 141 Ley, R. 62, 146 Liesegang, H. C. F. 47, 49, 75, 128 Linder, W. 112 L i n k , C. 40 L i n k , W. 64 Lippert, M. R. 19

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Personenregister

Lipphardt, H.-R. 23 Löbe, P. 112 Löffler, S. 37 Loewenberg, G. 23, 53 f., 142, 154 Loewenstein, K . 18 Lohmar, U. 34 Lübbe(-Wolff), G. 117 Lücke, J. 138 L u h m a n n , N. 12 f., 16, 87, 91, 97, 114, 120 f. Maassen, L. 44 Mahle, W. A. 121, 148 Maier, H. 147 Maihof er, W. 34 f. Majonica, E. 94 v. Mangoldt, H. 128 Mann, G. 28 Marcie, R. 46, 93, 112, 116, 138 Martens, W. 135 M a r t i n , A . 136 Matthäus-Maier, I. 72 Maunz, T. 31, 46, 61, 81, 150 Mauss, M . 118 Mayntz, R. 12, 144 Mechtersheimer, A . 156 Meessen, K . M. 23, 72, 124 Meinhold, H. 44 Melder, H.-J. 37, 150 Mengel, H.-J. 59, 123, 125, 139 Mertens, D. 84 Mertes, A . 35 Mester-Grüner, M. 145 Meyer, H. 38, 47, 107 Meyer, W. 32 Meyer-Abich, K . 13, 41, 43 Meyn, K . - U . 18 f., 47, 49, 71, 82, 101, 118, 123 ff., 128, 150 M i l i n s k i , J. 129 Möllemann, J. W. 45, 65, 76, 97, 113 Moeser, E. 65, 147 Mössner, J.-M. 86 Mohr, B. 60 Moore, B. 118, 121 Morkel, A . 19, 70 Morlok, M. 39, 75 M ü l l e r , E.-P. 72 Müller-Rommel, F. 12, 41 v. Münch, I. 84 Narjes, K . - H . 64 Narr, W.-D. 42 Neil, E. L. 14, 84 Neubauer, F. 43 Nickels, C. 156 Niclauß, K . 112, 142 Niemayer, H. 16, 91 Niemeyer, G. 37, 146

Niethammer-Vonberg, C. 79 Noelle-Neumann, E. 159 Oberndörfer, D. 48 Oberreuter, H. 154 f., 157 Offczor, G. 122 Offe, C. 69, 95 Oldiges, M. 20, 149 f. Oppermann, T. 19, 38, 71, 124 Ossenbühl, F. 106 Pahlke, A . 40 Papier, H.-J. 14 Partsch, K . J. 65, 70 f., 123 Pelny, St. 26 Pernice, I. 38, 66 Pestalozza, C. 75, 80 f., 86 Pfaff, R. 108 Pfeiffer, A. 64 Podgórecki, Α. 20, 124 Podlech, Α. 146 Posser, D. 25 Preuß, U. K . 47, 144, 153 Prior, H. 52 v. Prümmer, K . 50 Püttner, G. 28, 144 Putnam, R. D. 97, 144 Quaritsch, H. 12, 77 Randelzhofer, A . 13 Rapp, A. 35 Rasch, E. 62 Rasehorn, T. 90 Rasner, W. 54 Ratzke, D. 25 Rau, J. 82, 96,101, 138, 144 Rautenberg, T. 84, 132, 153 Rawls, J. 117, 120 v. Recum, H. 159 Reichel, P. 19, 59 Reifenrath, R. 86, 122 Rein, H. 128 Reissert, B. 89, 147 Reißmüller, J. G. 48 Reiter, H. 33, 140 f. Reitz, H. 157 Remmers, W. 115 Rengeling, H.-W. 66 Renger, A . 35, 72 Reumann, K . 60 Rheker, G. 37 Rhode, A . 29 Ridder, H. 107, 153 Riedel, J. 74, 80 Riegel, M. 31 Rinck, H. J. 126

Personenregister Rinken, Α. 135 Rinser, L. 157 Risse, J. 39 Ritter, E.-H. 43, 63, 67 ff., 88, 90, 124, 139 Ritzel, H. G. 82 Röhl, K . F. 118 f., 121, 157 Röhrich, W. 105 Röttger, H.-E. 56 Rogowski, R. 14 Roll, H . - A . 54, 72, 89, 97, 102, 127 Ronellenfitsch, M . 41 Ronge, V. 51 f., 100 Roßnagel, A . 55 Rothaug, K . - H . 53 f., 89, 116, 123, 125, 127 ff. Rottmann, F. 153 Rottmann, J. 47, 107, 119, 129, 146 Rudolf, W. 138 Rudzio, W. 94 Rupp, H. G. 50, 72, 143, 146 Rupp, H. H. 33 Rupp-v. Brünneck, W. 37, 72 Sachs, M . 86 Säcker, H. 71 Saladin, P. 115 f. Sarchielli, U. 113 Sasse, C. 46 Schäfer, F. 23, 56, 116, 123, 127 Scharpf, F. W. 89, 141, 147 Schaumann, W. 127 Scheffler, E. 37 Schenke, W.-R. 46, 49 f., 67, 70, 85, 104, 128, 130 Schepers, H. 16, 91 f. Scherer, J. 17, 68 Scheuing, D. H. 74 Scheuner, U. 100, 103,110 f., 115 f., 130, 140 Schiller, K . 95 Schindler, D. 15 Schindler, P. 16, 23, 35, 37 f., 46, 56, 65, 73 91 93 Schiaich,' K . 38 f., 50, 78, 80, 85, 144 Schleyer, H . - M . 95 Schlichting, G. 131 Schlink, B. 53, 106, 109 Schmid, C. 54, 64, 112, 120 Schmid, G. 105, 112 f. Schmid, W. 118 f. Schmidhuber, P. 64 Schmidt, H. 34, 93 Schmidt, R. 15, 29, 43, 65, 139 Schmidt, Walter 23, 124, 138, 142 Schmidt, W. W. 69 Schmidt-Jortzig, E. 70, 81, 125, 151 Schmidt-Preuß, M . 68, 139 Schmitt, C. 72

Schmitt Glaeser, W. 33, 37, 63, 108 ff., 115, 141 Schmude, J. 97 Schnabel, F. 89, 147 Schnapp, F. E. 51 Schneider, Hans 11, 58 f., 102, 117, 128 f., 134, 146 Schneider, H.-P. 20, 23 f., 46, 49, 53 f., 63, 69, 73, 75, 82 f., 88, 91, 97, 125, 127, 139, 142, 147 Schneider, O. 14 Schoch, F. K . 74 Scholz, P. 101 Scholz, R. 84, 153 ff., 158 Schomerus, L. 40 Schott, C. 118 Schreckenberger, W. 57, 63, 89, 92, 136 f. Schreyer, E. 40 Schröder, H. 67 Schröder, L. 112 Schröder, M. 102, 116 Schüle, A . 46, 48, 131 Schueler, H. 73 Schünemann, B. 80, 86, 153 Schütte, W. 142 Schulte, M. 83, 142 Schulze-Fielitz, H. 51, 53, 86 Schumacher, K . 113 Schuppert, G. F. 28 f., 39 ff., 45, 67 f. Schwab-Felisch, H. 45 Schwarz-Schilling, C. 72, 75 Schwarze, J. 66 Schweitzer, C.-C. 64 f., 94 Seemann, K . 24, 27 f., 107, 144 Seibert, M.-J. 41 Seidel, H.-D. 68, 142 Seifert, J. 136 Seiter, H. 42 Sellmann, K . - A . 56 Sendler, H. 79 f. Setzer, H. 67, 144 Seuffert, W. 32, 131, 149 Simmel, G. 118 Simon, H e l m u t 31, 36, 79 Simon, H. A . 12 Sinemus, B. 69,107 f. Smend, R. 15, 132, 142, 150 Soell, H. 38 Späth, L. 75 Spittler, G. 14 Sprung, R. 138 Starck, C. 33 f., 40, 82, 138, 140, 143 Steffani, W. 157 Steiger, H. 46 f., 49, 54, 123, 128, 131 Steinberg, R. 28, 72 Steiner, J. 148 Steiner, U. 15, 35, 45, 142 Steinkemper, B. 26 f., 144

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Personenregister

Stern, 24, 28 f., 32, 34, 46, 49, 57 f., 71, 82, 88, 93, 101, 104, 107, 124 f., 127 f., 132, 140, 142, 150, 153 f. Sternberger, D. 46 f., 134, 137 Stettner, R. 13 Stober, R. 84, 142,153 Stock, M. 33 Stoiber, E. 71, 115 Stolleis, M . 67 Stoltenberg, G. 94 Strauß, F.-J. 51, 93, 113, 153 Strecker, C. 79 Strelitz, J. E. 32 Stützel, W. 42 Sturm, G. 69 f., 72, 145 Süllow, B. 42, 68, 96 Süsterhenn, A . 112 Szmula, V. 54, 83, 135 Teubner, E. 30, 32 Teubner, G. 69, 109 Thatcher, M. 64 Tönnies, F. 159 Tomuschat, C. 11, 65, 99, 125 ff. Trautmann, H. 25, 71, 105, 107 f., 143 f. Troeger 59 Troßmann, H. 24 f., 53 f., 57, 84, 123, 129 Tsatsos, D. 39, 69 ff., 74 f., 144 Tudyka, Κ . P. 65 Uhlitz, O. 123 Ule, C. H. 13 Ullmann, Α. A. 13 v. Unruh, G.-C. 153 Uttitz, P. 159 Verdross, A. 127 Versteyl, L . - A . 41, 53, 123, 129 Vieth, R. 13, 68 Vogel, H.-J. 27, 35, 81 Voigt, A . 125 Voigt, R. 15 Vonderbeck, H.-J. 23 Vorländer, H. 11, 21, 110, 151, 159 Voss, R. 78 Waffenschmidt, H. 43 Wahl, R. 146 Wagener, F. 14, 27, 39

Waigel, T. 93 Wallmann, W. 98 Wand, W. R. 53, 79 Wannagat, G. 33, 37 Wassermann, R. 30, 32, 38, 76, 79 f., 119, 143 Weber, H. 67 Weber, Maria 34 Weber, M a x 111 Weber, W. 108 v. Weizsäcker, R. 34, 35, 115, 139 f. Wember, V. 111 Wender, A . 12, 120 Weng, G. 94, 136 Wenz, D. 158 Werder, H. 112 Werle, R. 31 Wewer, G. 48 Wex, H. 64 Weygandt, G. 58 f. Wieland, J. 138 Wielinger, G. 18, 47, 97, 101, 116, 120 Wildenmann, R. 31 Wildhaber, L. 102, 112, 119 Wilhelm, W. 41, 83 Wilke, D. 13 W illk e, H. 43, 67, 109 Windhoff-Héritier, Α. 116, 141, 147 W ink ler , G. 108 W ink ler , H.-J. 73 Winter, G. 14, 69 Wipfelder, H.-J. 79 f. Wittrock, K . 28 Wörner, M. 88 Woike, U. 14 Wolfrum, R. 50, 131 Würtenberger, T. 71 v. d. Wyenbergh, W. 114 Zacher, H. F. 21 Zeh, W. 41, 63, 137 Zeidler, W. 31, 47, 146 Zierlein, K.-G. 53 Ziller, G. 71 Zimmer, G. 107 Zimmerling, W. 59 Zimmermann, F. 63, 78 Zinn, G. A. 58 Zippelius, R. 150 Zundel, R. 97 Zweigert, K . 48

Sachregister (Die kursiven Seitenzahlen verweisen auf den Anmerkungsapparat.) Abgeordnete(nmandat) 55, 70, 80 f., 84, 101, 129, 141 f., 153, 158 — Assistenten 72 f. — Verhaltensregeln 23 f., 71 f., 101 f. Ämterpatronage 20, 25, 27, 104 f., 114, 132 f., 142 ff. Alterspräsident 54, 70 Amnestie(gesetzentwurf) 48, 80, 85 f., 87 f., 97, 122, 140 Anhörungen (Hearings) 41, 94 A n s t a l t für K a b e l k o m m u n i k a t i o n 34 Arbeitsminister(ium) 27, 39 „Arnold-Schlüssel" 29, 121 Aufsichtsgremien 78, 82 Außenpolitik 26, 47, 55, 64 ff., 68, 85, 94, 103, 106, 114 Auswärtige K u l t u r p o l i t i k 44 f., 65, 113 Auswärtiges A m t 26, 51, 83 Beamte 12, 78, 136, 153, 158 — nicht-politische 27 f., 38 f., 61 — politische 25 f., 87 f., 107, 146 Befangenheit 74, 79 Beiräte s. Sachverständigengremien Beraterverträge 71 f., 124 Beratungsgremien s. P o l i t i k - B e r a t u n g Berliner Angelegenheiten 55, 67, 157 f. Beschlußfähigkeit s. Bundestag B u n d der Steuerzahler 42 Bund-Länder-Kooperation 51, 58, 63, 109, 115, 126 f., 137 Bundesamt f ü r Verfassungsschutz 26, 129 Bundesbank(präsidium) 28, 67 Bundeskanzler 57 ff., 64, 67, 70, 73, 93 ff., 131, 137 — Richtlinienkompetenz 52, 139 — Vertrauensfrage 131 — W a h l 46, 48, 128 Bundeskanzleramt 27 f., 51, 57 Bundeskriminalamt 27 Bundeskunsthalle 45 Bundesminister 60, 70, 78, 93 f., 137, 145

— — — —

I n k o m p a t i b i l i t ä t e n 70 ff., 109 Nebenberufsverbot 74 f., 109 Rücktrittsregeln 20, 73 ff., 104 f. Verhaltensregeln 81 ff. s. a. Ministerverantwortlichkeit Bundesnachrichtendienst 26, 83, 129 Bundespräsident 35, 48 f., 78, 126, 128, 139 f., 156 f. Bundesrat 23, 65, 70, 95, 126, 137 s. a. Vermittlungsausschuß Bundesratspräsident 52, 84 Bundesregierung 35, 51 f., 70, 83, 94, 126, 139, 150 — u n d B V e r f G 49 f. — u n d Länderministerpräsidenten 50 f., 58 f. — Kabinettssitzungen 52, 93 f. — u n d Opposition 23, 57, 82 f., 110 — u n d Parlament 65, 106 f. s. a. K o a l i t i o n ; Regierungswechsel Bundesstaat 108, 116, 131, 136, 141 — kompetitiver 63, 104, 115, 147 f. — Kooperation 57 ff., 100, 104, 115, 137, 147 s. a. Kooperativer Föderalismus Bundestag 72, 86 — Ältestenrat 54, 89, 96, 115 f., 135, 156 — Auflösung 131 f. — Beschlußfähigkeit 56 — u n d Bundesrat 70, 137 — Geschäftsordnung 54, 101 f., 116, 126 — Kooperation 53 ff., 106 f., 157 ff. — Organisation 55 — Regierungsfraktionen 23 f., 48 f., 56, 73, 83, 92 f., 106 f., 122, 155 f. — Wahlperiode 86, 131 — Zusammensetzung 38 f., 70 s. a. Abgeordnete(nmandat); Bundestags Verwaltung ; Opposition; Pariamentsbeschluß Bundestagsausschüsse 16, 39, 53, 70, 78, 91 — Auswärtiger Ausschuß 65, 94, 106 — Beratungen 55 f., 65, 94, 136 — Forschungsausschuß 72 — Geschäftsordnungsausschuß 82 f.

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Sachregister

— Haushaltsausschuß 65, 82 f., 92, 107, 156 — Innenausschuß 39, 56, 58, 122 — Vorsitzende 23 f., 53, 70, 82, 91, 107, 145 — Zusammensetzung 16, 53, 91, 156 Bundestagspräsident — A m t s f ü h r u n g 154 f. — Rügerecht 129 — W a h l 23, 54, 116, 120, 123 f. Bundestagspräsidium 23, 70, 72, 102, 156 Bundestagsverwaltung 28 Bundestreue 104 Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 53, 153 — u n d Bundesregierung 50 — Dreier-Ausschüsse 31 — u n d (partei-)politisches Engagement 78 f., 109 — Präsident 30, 36 — u n d Proporzregeln 30 ff., 35 ff., 90 — Rechtsprechung 125 f., 128 ff., 138, 152 B i n d u n g s w i r k u n g 50, 86 funktionell-rechtliche Grenzen 50, 85 Prognoseentscheidungen 85 — Richteramt 78 ff., 109 — Richterwahlen 30 ff., 80, 86 f., 90, 95, 135, 137, 139, 146 — Vertretungsregelung 32 Bundesversammlung 140 Bundesverwaltung —- ministerialfreie 28, 39 f. s. Ministerialbürokratie CDU 26, 71, 87, 113, 137, 138 C D U / C S U 23, 26 ff., 29 ff., 38, 42, 47, 60, 64, 83, 90, 92 f. CDU/CSU-regierte Bundesländer 95 clausula rebus sie stantibus 90, 101 CSU 26, 35, 44, 71, 83, 93, 119, 141 D G B (Gewerkschaften) 34, 39, 42 f., 64, 67 f., 84, 113 Distanz 80, 111, 113, 130, 137, 143, 155 Do u t des s. Tauschgerechtigkeit Einstimmigkeitsprinzip 89 f., 98 102 f., 110, 115, 139, 147 Elite 97, 105, 113 f., 117, 159 s. a. personale Ebene Enquete-Kommission 24 f., 41, 57, 72 Europa(rechts)ebene 37, 38, 64 ff., 103 Expertenkommissionen s. Sachverständigengremien

Fachministerkonferenzen 59 f., 62, 84 — der Innenminister 60 — der Finanzminister 60 — der K u l t u s m i n i s t e r 59 — der Wirtschaftsminister 60 — der Wohnungsbauminister 62 Familienminister(ium) 36 f. FDP 24, 26, 29 f., 32, 33, 47 f., 60, 80, 83, 87, 90, 92 f., 97, 131, 145 Finanzminister(ium) 83 Flurbereinigungsabkommen 62, 104 Föderalismus s. Bundesstaat; Kooperativer Föderalismus Formalisierung 47, 91 f. Formenmißbrauch 132 Fraktionsbenennungsrechte 23 f., 41, 53, 91, 129 Fraktionsgeschäftsführer 54, 97, 142 Fraktionsproporz 22 ff., 41, 82 f., 91, 156 f. Fraktionsvorsitzende 60, 67, 70, 93 f., 129 Frauen 37, 44 Freiheit 71, 84, 142, 147 Funktionentrennung s. Gewaltenteilung G-10-Gremium 24, 156 Gemeinwohlfunktion 73, 97, 110 f. — des Ministers 75 Gesamtdeutsche Beziehungen 65 f. Geschlechterproporz 36 f., 44 Gesellschaft 159 — offene 45, 131, 152 s. a. Staat u n d Gesellschaft Gesetzgebung(sverfahren) 54 f., 58, 62, 64 f., 67, 85 f., 103,116, 129 Gewaltenteilung 38, 69, 83, 106 ff., 110 f., 114, 117, 121, 137 f., 141 f., 147 Gewerkschaften s. D G B Gewohnheitsrecht 49, 66, 70, 99, 102, 106, 123 ff., 129, 151 f. „Großer Krisenstab" 94 f. Goethe-Institute 44 Grüne 24, 37, 55, 84 f , 91 f., 97, 103, 116, 121 f., 132, 136, 153 ff. Grundkonsens 65, 103, 110 ff., 115 f., 140, 154, 158 Grundrechte 40, 99, 115 f., 141, 159 Grundwerte 115, 158 f. „Haus der Geschichte" 45 Herrschaftsbalancierung s. Gewaltenteilung d'Hondtsches Höchstzahlverfahren 16, 22, 91 f., U l f .

Sachregister Industrielle Selbstbeschränkungsabkommen 68 I n e l i g i b i l i t ä t 38 Informale Verfassungsregeln — Ä q u i v a l e n t f ü r Recht 102 — Ausdehnungstendenz 136, 141, 144, 145 ff. — Begriff 15 ff. Zweckmäßigkeit 151 f. — Definition 20 — Elastizität 100 ff. — Empirie 21 ff. — Ergänzungsverhältnis zum V e r fassungsrecht 17 f., 100 ff., 105 — F l e x i b i l i t ä t 100 ff., 110, 122 — Formalisierungstrend 92, 121 — Funktionsbedingungen 86 ff., 120 ff. — Gebote 17 — Gefahren 134 ff., 145 ff. — Geltungsgründe 109 ff. — der Herrschaftsbalancierung 69 ff. — Informale Absprachen 17, 46, 54, 61 f., 68, 86 f., 124, 139 s. a. Interfraktionelle Vereinbarungen; Partei Vereinbarungen — u n d Justiziabilität 102, 130 ff. — auf Landesebene 24, 27 ff., 33 f., 36 f., 57, 651, 74 ff., 81 f., 84 f. — Leistungen (Funktionen) 100 ff., 109, 131 f., 144 f., 159 — Neutralität 79 — Notwendigkeit 17 f., 99, 128 — u n d Öffentlichkeit 135 f. — Prozeßcharakter 19, 70, 101 f., 129 — Rechtsstatus 123 ff., 128 ff. — Sanktionen 47, 101 f., 135 — Verbindlichkeit 17, 47, 49, 54, 56 f., 87, 101 f., 109 f., 128, 130, 152 — als Verfahrensregeln 12, 92 f., 99 f., 110 f. Informales Handeln — Allgemeines 11 ff. — Begriff 11 ff. — beim Gesetzes Vollzug 13 — nicht identisch m i t informellem Handeln 16 — u n d Verwaltungswissenschaften 12 f. I n k o m p a t i b i l i t ä t e n 111 — informale 69 ff., 106 — rechtliche 42, 69 f., 75 — wirtschaftliche 72 Innenminister(ium) 60, 68, 83, 95 Integration s. Verfassung Interessen 110, 121 — politische 88, 111 — private 72, 75 ff., 82, 95, 97

Interessenausgleich s. Tauschgerechtigkeit Interfraktionelle Gesetzesinitiativen 54 f., 95 Interfraktionelle Gremien 94,137 Interfraktionelle Vereinbarungen 23 f., 53, 56, 89, 96, 101, 115, 132, 155 f. Interministerielle Ausschüsse 52 Interparlamentarische Arbeitsgemeinschaft 57, 89 Justiziabilität 102, 123 ff., 127, 130 ff., 152 Justizministerium 50, 83, 95 Kabinettsausschüsse 51 Kirchen 36 Koalitionsausschuß 93, 135 Koalition(sregierung) 73, 83, 92 f., 128, 131, 137, 139 Koalitionsvereinbarungen 16, 19, 46 ff., 87, 92 f., 102, 106 f., 131 f., 135, 156 Kompetenzen 62, 72 — Selbstbeschränkung 80, 85 — Verschiebungen 94, 136 ff., 141,148 — Zuordnung der V i e l f a l t 46, 106 Kompromiß 88 ff., 98, 111, 116 ff., 122, 148, 154, 158 f. Konferenzen, gemeindeutsche 117 — Datenschutzbeauftragte 61 — Fraktionsvorsitzende 60 — Gerichtspräsidenten 61 — Landtagspräsidenten 60 f. — Rechnungshof Präsidenten 61 s. a. Fachministerkonferenzen; Ministerpräsidentenkonferenz Konfessionsproporz 35 f. K o n f l i k t 63, 65, 76, 93, 104, 110, 118, 159 Konkordanz(demokratie) 89, 112, 141, 148 Konkurrenzföderalismus s. Bundesstaat, kompetitiver Konsens 110, 126, 147 ff., 154 — i n eigener Sache 80, 85 — v o n Entscheidungsgremien 30, 44, 90, 97 f. s.a. Grundkonsens; Verfassungskonsens Kontinuität s. Verhaltenskontinuität Konventionen s. Verfassungskonventionalregeln Konzertierte A k t i o n 43, 67, 95 Kooperation i m Verfassungsstaat 46 ff., 66 ff., 106, 110, 117, 159 — bundesstaatliche 57 ff., 115, 147

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Sachregister

— einverständliche Praxis 62 — Grenzen 63 — inter-verfassungsorganschaftliche 48 ff., 126 — parlamentarische 53 ff., 106 f., 157 ff. Kooperativer Föderalismus 63, 131, 137, 147 Korporatismus 69, 109, 121 Kreßbronner Kreis 93 Kreuzstichverfahren 83, 138 f. K u l t u r 40, 44 f., 108, 113, 118, 154, 158 K u l t u r s t i f t u n g 45 Legitimation 117, 139 Listenverbindungen — von Koalitionsparteien 24, 92 Machtbalancierung 82 ff., 107 f., 147 s. a. Gewaltenteilung Mäßigung des Staates 111 Mandatsniederlegung 71 Massenmedien 42, 113, 115 s. a. Rundfunkanstalten Mehrheitsprinzipien 32, 48, 56, 80, 86, 89 ff., 94, 98, 115 f., 140, 148 s. a. Einstimmigkeitsprinzip Minderheiten(schutz) 19, 22, 111, 113 f., 116, 121, 122 Ministerbüro 27, 145 Ministerialbürokratie 105, 144 — u n d (Partei)politisierung 25 ff., 107, 143 ff. Ministerpräsidentenkonferenz 16, 44, 58 f., 84, 89, 102 f., 150 — Konferenz Norddeutschland 60 f. Ministerverantwortlichkeit 73 ff., 101, 138 f. s. a. Bundesminister Monopolkommission 41 Mustergesetzentwürfe 62 Nuklearrat 67, 95 Öffentlichkeit 18, 34, 47, 60, 73, 79, 82, 88, 97, 100 f., 135, 139, 154 — Verlust i n kleinen Gremien (Öffentlichkeitsdistanz) 80, 96 f., 134 ff. Opposition 24, 64, 82 f., 92, 103, 106 f., 110, 113, 131, 138, 147, 154 f., 158 — Oppositionsfraktionen 48, 56 Kontradiktionsrecht 24, 83 — Unterrichtungsprivileg des Oppositionsführers 57 Organisationssoziologie 12 f., 99 pacta sunt servanda 86 Pairing 56

Parakonstitutionelle Entscheidungsgremien 65, 92 ff., 117, 139, 147, 150 Parität 22, 25 s. a. Proporz Parlamentarische K o n t r o l l k o m m i s sion 24, 83 f., 91 f., 129 f., 156 Parlamentarische Staatssekretäre 38, 52, 83 Parlamentarisches Regierungssystem 83, 105, 107, 138, 154 Parlamentsbeschluß, schlichter 56, 57, 102 Parlamentsbrauch 18, 23 f., 56, 70, 82, 123, 127, 129 s. a. Verfassungspraxis Parteien, politische 43, 47, 55, 84 ff., 100, 105 ff., 153 — interne Kandidatenauswahl 39, 84 — I n k o m p a t i b i l i t ä t e n bei Parteiämtern 71, 76, 79 Parteienfinanzierung 42, 85, 88, 94 f., 103, 122, 132 Parteienproporz 25 ff., 41, 45, 64, 95, 104, 106 ff., 111 ff., 116, 134 — Berechnungsweisen 91 — Gefahren 142 ff., 146, 148 — nicht-staatlicher Bereich 19, 33 ff., 137 f., 143 — Rechtsprechung (Justiz) 30 ff., 134, 143, 145 — Regierung u n d V e r w a l t u n g 25 ff. s. a. „Arnold-Schlüssel"; Fraktionsproporz Parteienstaat 105 f., 112, 117, 140 f., 143, 153 ff. Parteilose 32 Parteinominierung 80, 87 — u n d Amtserwerb 139 ff., 145 Parteiprogramm 47, 71 Parteispendenaffäre 80, 97, 122 s. a. Amnestie(gesetzentwurf) Partei Vereinbarungen 48, 65, 96, 106, 109, 131, 156 f. s. a. Koalitionsvereinbarungen Parteivorsitzende 92, 94, 97 Partei Wechsel 71 Personale Ebene 64, 96 ff., 102, 105, 120 f. Planungsstäbe 27 Pluralismus 27, 40, 45, 107 f., 111, 114, 137, 144 f., 159 s. a. Proporzregeln political self restraint 85 Politik s. Recht u n d P o l i t i k P o l i t i k - B e r a t u n g 41, 67 ff., 95, 139 Politikverflechtung 137, 141 Politische Beamte s. Beamte

Sachregister Politische E t h i k 47, 70, 74, 76, 97, 122 ff. s. a. Politische K u l t u r ; Verfassungsethik Politische K u l t u r 18 f., 76 f., 124 s. a. Verfassungskultur Politische M o r a l s. Politische E t h i k Politische Parteien s. Parteien Politische Sittlichkeit s. Politische K u l t u r ; Politische Ethik Politischer S t i l 19, 49, 70, 73, 78, 80, 82, 86, 104, 124, 139, 155 Prästationspflicht s. Ministerverantwortlichkeit Presse- u n d Informationsamt der Bundesregierung 83 Profumo-Skandal 76 Proportional verfahren 16, 91 Proporzpatronage 25, 27, 132 f., 145 Proporzregeln 21 ff., 96, 107, 109 ff., 114, 157 — Altersproporz 39, 146 — Berufsproporz 31 — Funktionen 111 ff., 116 f., 121, 144 f. — Geschlechterproporz 36 f., 44 — Koalitionsproporz 83 — konfessionelle 35 f. — k u l t u r e l l e 45, 113 — pluralistische 28, 35 ff., 108, 113, 137 f. — rechtliche 22 — regional-föderative 31, 37 f., 116 s. a. Fraktionsproporz; Parteienproporz; Verbände Rangmaßzahlverfahren 16, 91 Rechnungshof Präsidenten 28, 61 Recht — ungeschriebenes 15 f., 102, 104, 109, 110, 127 Recht u n d P o l i t i k 15, 66, 85, 101, 105, 108, 123 ff., 151 f. Rechtsprechung (Justiz) 30 ff., 37, 145 — Gerichtspräsidenten 33, 61 — u n d P o l i t i k 108 f., 151, 153 ff. s. a. Bundesverfassungsgericht Redezeit i m Bundestag 83, 101, 142 — Rederecht 81, 101 — Gesamtredezeitverteilung 23, 53, 89 Regel — Begriff 16 f., 21, 87, 91 f., 100, 123 ff. Regelmäßigkeiten, faktische 16, 49, 77, 87, 124 ff., 130 f. Regierungswechsel 86, 103, 120 — Folgen nach 1982/83 27, 29, 30 f., 82, 87, 119, 145

Regierungszwang 81 Reziprozität 88, 118 ff. Richterwahlausschuß — für Bundesrichter 32, 119 — auf Länderebene 33 Rollenkonflikte 69, 80, 109 Rotationsprinzip 84 f., 132, 142, 156 f. Rücksichtnahme s. Verfassungsorgantreue Rundfunkanstalten 33 f., 82, 89, 96, 121, 135, 137 f., 140, 143 Sachverständigengremien 40 ff., 67 f., 84, 88, 108, 113, 139 Sachverständigenrat 41 f., 67, 84 Sanktion(slosigkeit) 84, 129, 135, 141 — politische 47, 71 f., 101 Schonfrist von 100 Tagen 51 Schweiz 36, 112, 114, 141 f. Selbstbeschränkung, funktionelle 80 ff., 85, 110, 138 Selbstbindung 88 Solidarität der Demokraten 26, 158 Sozialdemokratie s. SPD SPD 24, 26 f., 29 f., 32 ff., 42, 60, 64 f., 72, 76, 83, 88, 90 ff., 97, 101, 103, 113 f., 121 f., 137, 156 SPD-regierte Bundesländer 95 Staat u n d Gesellschaft 66 ff., 95, 108 f. Staat u n d Wirtschaft 66 ff., 74 f., 113 Staatsorganisationsrecht 51, 99 f., 107 f., 116 f., 141 Staatspraxis s. Verfassungspraxis Staatsrechtslehre s. Verfassungsrechtswissenschaft Staatsrechtslehrer 14, 31, 42 Symbolik 64, 112 f., 155 Tauschgerechtigkeit 88 ff., 118 ff. s. a. Reziprozität t r i a l and error 103, 149, 157 Überparteilichkeit 78 Übungen, tatsächliche s. Regelmäßigkeiten, faktische Universitäten 34 Verantwortung 47, 50, 52, 80, 117, 136, 154 — Mischverantwortung 137, 141 — Verlagerung 137, 139, 148 s. a. Ministerverantwortlichkeit Verbände 43, 66 ff., 71, 95, 100, 148 — Arbeitgeberverbände 42, 43, 67 — Verbändeproporz 39 Verbandspatronage 39, 143

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Sachregister

Vereinbarungstreue 86 ff., 90, 92, 97, 157 Verfassung 11, 101, 123, 149 f. — als Aufgabe 110, 116 f. — constitutio m i x t a 111 — Fortbildung 103 f., 109, 128 f., 150 — Integration 110 ff., 154 f., 157 ff. — K l a r h e i t 134 — normative K r a f t 134 — des Pluralismus 107 ff. — als Prozeß 103, 152, 154 — als Verfahrensordnung 47, 99 f., 117, 139 f. — als Vertrag 116 ff. Verfassungsänderungen 55, 86, 103, 122, 130, 150, 156 Verfassungsethik 18, 104 f., 124 Verfassungsgewohnheitsrecht s. Gewohnheitsrecht Verfassungsinterpretation 126, 130 f., 150, 152 Verfassungskonsens 110, 114, 123, 148 f., 159 s. a. Grundkonsens Verfassungskonventionalregeln 18 f., 24, 26, 49, 69 ff., 81 f., 98, 106, 113, 118, 120, 123 ff., 127, 128, 154 Verfassungskultur 19 f., 48, 71, 78, 124, 135, 155 Verfassungslehre s. Verfassungstheorie Verfassungsmoral s. Verfassungsethik Verfassungsorgantreue 49, 85, 104 Verfassungspolitik 21, 86 Verfassungspraxis 17, 46, 48, 52, 62, 82, 84, 95, 109, 128, 131, 145 f., 150 f. Verfassungsrecht 70, 84 f., 99 f., 105, 110, 122 ff., 134, 149 f., 152, 153, 157 ff. — als Schranke 47, 122 f., 130 f. — werdendes 124, 126 f. s. a. Recht Verfassungsrechtsdogmatik 16, 51, 86, 108 f., 124, 151 Verfassungsrechtswissenschaft 11, 71, 134, 136, 142, 149 ff. — u n d Politikwissenschaft 16 f., 21, 68 f., 149 Verfassungstheorie 16, 21, 108, 118, 120, 150 ff. Verfassungsumgehung 134 ff., 139 ff., 145

Verfassungsvergleichung 75, 80, 86, 99 Verhaltenserwartungen s. Regel Verhaltenskontinuität 87 f., 92, 157 Verkehrsminister(ium) 60 Vermittlungsausschuß 51, 84 — Vorsitzende 25 Verrechtlichung 14, 104, 128, 146, 151 Verschwiegenheitspflichten 65, 96, 129, 155 Verteidigungsminister(ium) 156 Verträge — verfassungsrechtliche 46, 53, 58 Vertrauen — i n BVerfG 80 — als Geschäftsgrundlage i m V e r fassungsleben 47, 87 f., 92, 97 f., 105, 114, 123 — i n Inhaber öffentlicher Ä m t e r 75 ff., 145, 158 — als Prozeß 119 ff., 157 Vertrauensmännergremium 129 Vertraulichkeit 80, 94, 96, 98, 135 f. Verwaltungsräte 68 — der Bundesbahn 39 — der Bundespost 40 — der Rundfunkanstalten 33 f., 40, 82, 87, 137 f. s. a. Aufsichtsgremien Verwaltungsrecht 13 f. Völkerrecht 55, 66, 107, 127 Vorsitzenden-Rotation 52, 58, 83 f., 117, 155 Wahlforschung 114 Wahlkampfabkommen 48 Wahlkreiseinteilung 54, 56 Wahlmännerausschuß 16, 30, 36, 80, 95, 137, 139 Wahlsystem 117 Wandel, sozialer 103, 148 Willensbildungsprozeß 38, 68, 90, 95, 99 f., 110, 139 f. Wirtschaftsminister(ium) 27, 67 f., 83 Wissenschaft 41, 43, 105, 108, 113 s. a. Sachverständigengremien Zusammenarbeit i m Verfassungsstaat s. Kooperation