Der Hybrid: Das 19. Jahrhundert und die Idee der Genossenschaft 3515131817, 9783515131810

Was erzählt uns das 19. Jahrhundert? Was machten die Gedanken der frühen Genossenschafterinnen und Genossenschafter aus?

153 80 990KB

German Pages 124 [126] Year 2022

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Der Hybrid: Das 19. Jahrhundert und die Idee der Genossenschaft
 3515131817, 9783515131810

Table of contents :
Inhalt
I. Was zu tun ist
II. Der Rahmen
III. Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis
IV. Ringen um Glaube und Gemeinwohl
V. Wider die Revolution
VI. (Trans-)Nationale Leidenschaft
VII. Deutscher Sonderweg
VIII. 21.0
Quellen- und Literaturverzeichnis
Register
Kleines Buch, großer Dank

Citation preview

Markus Raasch

Der Hybrid Das 19. Jahrhundert und die Idee der Genossenschaft

Geschichte Franz Steiner Verlag Franz Steiner Verlag

Der Hybrid Das 19. Jahrhundert und die Idee der Genossenschaft Markus Raasch Herausgegeben vom Institut für Bank- und Finanzgeschichte e.V.

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Layout, Satz und Herstellung durch den Verlag Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13181-0 (Print) ISBN 978-3-515-13183-4 (E-Book)

Inhalt I

Was zu tun ist

7

II

Der Rahmen

15

III

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

21

IV

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

41

V

Wider die Revolution

57

VI

(Trans-)Nationale Leidenschaft

71

VII

Deutscher Sonderweg

87

VIII 21.0

103

Quellen- und Literaturverzeichnis

111

Register

119

Kleines Buch, großer Dank

123

I Was zu tun ist Die Welt ist aus den Angeln gehoben Klarheit, Ordnung und Sicherheit scheinen verloren, zukünftige Entwicklungen offener denn je zu sein Die Spannungen, denen sich das menschliche Miteinander ausgesetzt sieht, nehmen sich demgemäß gewaltig aus Vor kurzem noch kaum für möglich gehaltene technisch-medizinische Errungenschaften, ein prinzipiell fortwährendes Wirtschaftswachstum, ein ebenso weitreichender wie vielgestaltiger Prozess der Medialisierung und die überall spürbaren Auswirkungen einer grundsätzlich nicht zu steuernden Globalisierung verändern das Leben in nie gedachter Weise Die Bevölkerungszahlen explodieren ebenso wie die Wissensbestände, das Verkehrswesen und die Kommunikationsmöglichkeiten erleben eine Revolution Eine gewaltige Beschleunigungswelle breitet sich aus Raum- und Zeitwahrnehmung denaturalisieren, exponentiell prägen sich vernetzte Wirklichkeiten aus Leistungs- und Effizienzdenken obwalten, der Mensch wird in zunehmendem Maße nach seiner Marktverfügbarkeit bewertet Zugleich werden Überforderungen häufiger (kommuniziert), und psychische Krankheiten bilden ein Massenphänomen Die Produktivität der Wirtschaft wächst ebenso rasant wie das Pro-Kopf-Einkommen Die Ernährungslage ist so gut, das Wohlstandsniveau so hoch wie nie Fleisch-, Alkohol- und Kaffeeverbrauch vervielfachen sich ebenso wie das Mietniveau Die Umweltbelastungen werden immer offensichtlicher und zugleich leben mehr Menschen denn je „dank der gewaltigen Fortschritte der Wissenschaft und Technik, der Erfindungen und Entdeckungen und des ungeheuren Aufschwungs der Industrie und des Handels, den sie im Gefolge gehabt haben“, in auskömmlichen Verhältnissen „Die Menge und Mannigfaltigkeit der Kulturgüter und Kulturgenüsse ist auf eine Höhe gebracht worden, von der man sich in früheren Jahrhunderten nichts träumen ließ “1 Die Lebenserwartung steigt als Folge deutlich und kontinuierlich Zugleich sind große regionale, soziale und geschlechtsbezogene Unterschiede zu bedenken; in nie gekanntem Ausmaß gibt es Armut und Minderprivilegiertheit Die öffentlichen Ausgaben, vor allem für Wohlfahrtsangelegenheiten, erreichen genauso Rekordstände wie die zu großen

1

Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Die Darlehenskassen-Vereine, 8 Aufl , Neuwied 1966, S  13

8

Was zu tun ist

Teilen armutsbedingte Massenmigration Technisierung und neue Medien lassen den aufklärerischen Freiheitsgeist sich Bahn brechen und verschaffen dem Glauben an Selbstbestimmung immer mehr Durchschlagskraft Freiheit von Bevormundung – auf politischer, wirtschaftlicher und persönlicher Ebene – ist das Gebot der Stunde Mehr Menschen als je zuvor haben den Mut und die Möglichkeiten, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, Überkommenes in Frage zu stellen und Individualität zu leben Deswegen floriert Fortschrittsoptimismus, ebenso wie Zukunftsangst grassiert So groß die Hoffnungen auf weitere qualitative Verbesserungen von Konsumgütern, von Wohlstand und Mobilität ausfallen, so eklatant sind die Sorgen wegen der zunehmenden Überforderung natürlicher Lebensgrundlagen sowie der abnehmenden Bedeutung traditioneller Institutionen, Rollenbilder und Lebensweisen Die einen huldigen dem Zeitgeist, die anderen sehen ihn „auf falscher Fährte“ und wollen ihm „eine andere Richtung geben“ 2 Das Reden von der Krise erlebt Hochkonjunktur, Modernisierungsängste verbinden sich mit Xenophobie, Rassismus und Antisemitismus Der Nationalismus ist der politische Stempel der Zeit Er ist modern und antimodern, nährt Gewalt, Revolten und Kriege und veranlasst seine Gegner und Unterstützer zu verschärften Kontroll-, Zensur- und Repressionsmaßnahmen In besonderer Weise ambivalent gestaltet sich die Wahrnehmung der Wirtschaftsordnung, in deren Zentrum mehr denn je der freie Markt, d h das individuelle Vorteilsstreben, steht: Dem reüssierenden Gedanken der Effektivität steht die Aussonderung der Arbeitsunfähigen gegenüber Einerseits erobert sich das Prinzip des Freihandels eine beherrschende Stellung, andererseits gibt es hartnäckige Bestrebungen, dieses zu revidieren Der unaufhaltsame Siegeszug des Kapitalismus lässt in allen Lebensbereichen materialistisches Denken herrschen Das Anspruchsdenken ist enorm, der Konsumgeist regiert, Gier und Dekadenz sind weit verbreitet, so dass „weithin eine wilde Jagd nach Mehrerwerb und Mehrbesitz“ herrscht 3 Allerdings blüht auch der Unmut über solche Entwicklungen Fortwährend wird die wachsende Schere zwischen Arm und Reich moniert: Muß es nicht das Gefühl jedes denkenden Menschen verletzen, wenn er die colossalen Reichtümer betrachtet, die unser industrielles Zeitalter zu schaffen im Stande war, und zugleich sieht, daß gerade Diejenigen, durch deren angestrengte Arbeit alle diese Schätze hervorgezaubert werden, den allergeringsten Genuß davon erhalten? Ist es nicht empörend, wenn man diese fleißig thätige, stets vorwärtsstrebende Gesellschaft sieht und dabei eine nie geahnte Ansammlung von Reichthümern in den Händen einiger Weniger bemerkt 4

2 3 4

Raiffeisen, Darlehenskassen-Vereine, 8 Aufl , S  13 Ebenda Eduard Pfeiffer, Ueber Genossenschaftswesen Was ist der Arbeiterstand in der heutigen Gesellschaft? Und was kann er werden?, Leipzig 1863, S  6

Was zu tun ist

9

Immer mehr Menschen fühlen sich allein gelassen und haben Angst vor der Zukunft Sie beklagen unzureichenden Schutz ob der wirtschaftlichen Verhältnisse und sind sich sicher: „Je mehr die volkswirthschaftliche Entwicklung unserer Staaten vorwärtsschreitet, je vollständiger und je energischer die Quellen unseres Daseins ausgebeutet werden, desto greller treten die fundamentalen Missstände unserer socialen Einrichtungen in die Augen“ 5 Insbesondere die große Macht des Geldes ist vielen ein Dorn im Auge: Man kann wohl sagen, daß das Sprichwort: ‚Geld regiert die Welt‘ sich in der heutigen Zeit auf das glänzendste bewahrheitet Neben den politischen Mächten bilden sich weltregierende Geldmächte, welche sich unermeßliche Schätze sammeln und deshalb einen unbegrenzten Einfluß ausüben Dieser Einfluß ist es, welcher […] nicht allein das gute Bestehen der Gesellschaft, sondern auch der Staaten […] bedroht 6

Ärger und Wut über die Modernisierung sind dementsprechend erheblich, bisweilen gewalttätig, die Versuche, den Kapitalismus einzudämmen, Legion Wie im digitalen Zeitalter verwandelte sich auch im 19 Jahrhundert die Welt, die Ähnlichkeiten zu den Herausforderungen der Gegenwart springen ins Auge Angesichts dessen erscheint eine Geschichte der modernen Genossenschaftsidee, die ebenso Produkt wie Motor dieses Wandels war, umso dringender Ihr Erfolgsweg ins 21 Jahrhundert mutet mithin beeindruckend an Da sind zunächst die Zahlen: Als Otto von Bismarck im Jahre 1862 preußischer Ministerpräsident wurde, gab es auf deutschem Boden etwa 500 Genossenschaften In Europa waren es einige tausend, die meisten davon in Großbritannien 7 Im Jahre 1927 vereinten etwa 52 000 Genossenschaften rund zehn Millionen Deutsche Kurz darauf zählte der Internationale Genossenschaftsbund (IGB) erstmals über 100 000 Mitglieder, wobei diesem viele landwirtschaftliche und gewerbliche Genossenschaftsorganisationen Europas gar nicht angehörten 8 Im Jahr 2018 waren weltweit über eine Milliarde Menschen in einer Genossenschaft zusammengeschlossen In der Europäischen Union existierten etwa 300 000 Genossenschaften mit über 140 Millionen Mitgliedern In Deutschland besaß statistisch jeder 16 Bürger eine Aktie, aber jeder vierte war Genossenschaftsmitglied; die deutschen Genossenschaften boten über 700 000 Menschen einen Arbeitsplatz In Indien gehörten etwa 239 Millionen Menschen einer Genossenschaft an, in den USA war ein Viertel der Bevölkerung Genossenschaftsmitglied, in Japan eine von drei Familien In Dänemark hielten Konsumgenossenschaften über ein Drittel des Marktes, in Kuwait

5 6 7 8

Pfeiffer, Ueber Genossenschaftswesen, S  6 Raiffeisen, Darlehenskassen-Vereine, 8 Aufl , S  109 Eduard Pfeiffer, Die Consumvereine, ihr Wesen und Wirken Nebst einer praktischen Anleitung zu deren Gründung und Einrichtung, Stuttgart 1865, S  2 Erwin Hasselmann, Die Rochdaler Grundsätze im Wandel der Zeit, Frankfurt am Main 1968, S  25

10

Was zu tun ist

lag der Anteil bei knapp 80 Prozent In Japan waren neun von zehn Landwirten in einer Genossenschaft organisiert Kaffeegenossenschaften vermarkteten etwa 34 Prozent des kolumbianischen Kaffees In Brasilien zeichneten Genossenschaften für 72 Prozent der nationalen Weizen-, 43 Prozent der Soja-, 39 Prozent der Milch- und 38 Prozent der Baumwollproduktion verantwortlich Genossenschaften schufen weltweit mehr als 100 Millionen Arbeitsplätze, ein Fünftel mehr als multinationale Großunternehmen 9  Schon 2016 war die Genossenschaftsidee in die Liste des „Immateriellen Weltkulturerbes“ der UNESCO aufgenommen worden Jenseits der Zahlen fällt die enorme Anschlussfähigkeit des Genossenschaftsgedankens auf Er scheint überall Anhänger zu finden, wurde von Herrschenden vereinnahmt und gleichwohl immer wieder als Korrektiv gesellschaftlicher Missstände angeführt Schauen wir nur auf Deutschland nach 1933: Im „Dritten Reich“ galt es geradezu als „das größte geschichtliche Verdienst des Führers und Reichskanzlers“, dass er die „unserem Volke innerlich verhaftete Gefolgschaftsidee durch die nationalsozialistische Bewegung in die Tat, in die Wirklichkeit umsetzte“ 10 Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erschienen die Männer um den Volksbankgründer Hermann Schulze-Delitzsch – so betonte es etwa Theodor Heuss – dessen ungeachtet als die ideale Verkörperung eines Bürgertums, das der nationalsozialistischen Gewalt- und Vernichtungsideologie entgegenstand und von „Kraft, Mut, Selbstlosigkeit, Gemeinsinn, Weltoffenheit“ getragen war 11 Kaum anders begründete eine Schrift aus dem Jahre 1952 die Auseinandersetzung mit dem frühen Genossenschaftstheoretiker Viktor Aimé Huber, der u a die Idee der Wohnungsbaugenossenschaft maßgeblich auf deutschem Boden verbreitet hatte: Huber bilde einen Kontrapunkt zum „chaotische[n] Gesicht“ der Gegenwart Während „die vernichtenden Fluten zweier Weltkriege […] vieles begraben“ hätten, „was den Menschen einst groß und herrlich dünkte“, repräsentiere Huber eine mit dem Herzen denkende Person, die „das Glück seines Daseins im Glück seiner Mitmenschen sah “12 In den 1950er-Jahren, als das deutsche „Wirtschaftswunder“ auf breiter Front Wirkung entfaltete, wurde gerne die soziale Ausgleichsfunktion der Genossenschaften hochgehalten Demzufolge waren die Genossenschaften bedeutend – erstens als konkretes Hilfsinstrument für Kriegsversehrte, Flüchtlinge und Vertriebene, zweitens „als Preiskorrektiv und vor allem als Wettbewerbsstabilisator“ in einer von großen Konzernen geprägten Marktwirtschaft sowie drittens als Orientierung in einer mehr denn je durch innere Spannungen gekennzeichneten Gesellschaft 13 Darüber hinaus diente etwa die Erinnerung an Eduard Pfeiffer – „die erste große geistige

9 10 11 12 13

https://www genossenschaften de/genossenschaften-weltweit [01 07 2018] Der Führer, in: Deutsche Landwirtschaftliche Genossenschafts-Zeitung 8 (1939) Theodor Heuss, Schulze-Delitzsch Leistung und Vermächtnis, Tübingen 1956, S  36 Helmut Faust, Viktor Aimé Huber, Ein Bahnbrecher der Genossenschaftsidee, Hamburg 1952, S  7 Hans Jürgen Seraphim, Die geistigen Grundlagen der Konsumgenossenschaften von Heute, Hamburg 1957, S  10 f u  17

Was zu tun ist

11

Führerpersönlichkeit in der deutschen Konsumgenossenschaftsgeschichte“14 – dazu, eine verstärkte Demokratisierung der Wirtschaft einzufordern: Die Konsumgenossenschaft hat sich als ein gangbarer Weg zur demokratischen Mitbestimmung und Gleichberechtigung in der Wirtschaft für den Verbraucher erwiesen Aber es ist bisher nur eine Elite der Verbraucherschaft, die sich aktiv aufbauend für eine verbrauchereigene Wirtschaft einsetzt Es kommt jetzt darauf an, breite Verbraucherschichten aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken und ihnen bewußt zu machen, was der Verbraucher in der Wirtschaft bedeuten kann, wenn er nur will 15

Systemgrenzen scheint die Genossenschaftsidee nicht zu kennen So war in Ostdeutschland die Demokratisierung der Wirtschaft scheinbare Realität und der herrschende Sozialismus betrachtete die Genossenschaft als eine seiner wesentlichen Stützen Als etwa Walter Ulbricht 1960 in einer Regierungserklärung den „Sieg der Genossenschaftsbewegung“ verkündete, machte er deutlich: Tausende Bauern, die in der Vergangenheit die Widersprüche zwischen ihrem Leben als Einzelbauern und den gesellschaftlichen Interessen spürten und sich deshalb nicht aktiv am gesellschaftlichen Aufbau beteiligten, werden jetzt, nachdem die Widersprüche gelöst sind, zu bewussten Bauern des Sozialismus 16

In Westdeutschland teilten zumal seit Ende der 1960er-Jahre nicht wenige den Traum von der besseren, weil antikapitalistischen Gesellschaft, die mit Hilfe der Genossenschaften geschaffen werden sollte Viele Menschen verbanden ihr Engagement wider autoritäre Strukturen und Konsumideologie mit gemeinwirtschaftlichen, um die Genossenschaft kreisenden Utopien Zugleich waren die Genossenschaften aber auch eng mit marktwirtschaftlichen und antikommunistischen Überzeugungen verbunden Friedrich Wilhelm Raiffeisen etwa, dessen Modell der ländlichen Kreditgenossenschaft weltweit adaptiert wurde, firmierte in Teilen von Wirtschaft und Politik als Musterbeispiel des Verantwortungsethikers: Sein realitätsbezogener Pragmatismus stelle das wesentlich erfolgreichere Gegenbild zur unheilbringenden „Heils- und Erlösungsmagie“ des Kommunismus dar Er stehe für Leitprinzipien wie (Selbst-)Verantwortung, Freiheit, Wettbewerb und Demokratie und könne daher als ein wichtiger Vorkämpfer der sozialen Marktwirtschaft angesehen werden 17 Nach dem (vorläufigen) Ende des Ost-West-Konflikts änderte sich an der Diversität der Genossenschaftsdeutungen kaum etwas Noch am Beginn des 21 Jahrhunderts 14 15 16 17

Erwin Hasselmann, Eduard Pfeiffer und seine Bedeutung für die deutsche Konsumgenossenschaftsbewegung, Hamburg 1954, S  5 Ebenda, S 13 Walter Ulbricht 1960, zit nach http://www deutschlandfunkkultur de/vor-50-jahren-ulbrichtsoffensive 984 de html?dram:article_id=153428 [01 07 2018] Geleitwort Helmhold Schneider, in: Walter Koch, Der Genossenschaftsgedanke F W Raiffeisens, Paderborn/Würzburg 1991, S  7–10

12

Was zu tun ist

sollen die Genossenschaften für die einen die moderne (Industrie-)Gesellschaft retten18 und für die anderen deren Ende exekutieren Gerade jüngere Darstellungen sehen Genossenschaftspioniere wie Wilhelm Haas, der als „Heros der genossenschaftlichen Arbeit“19 gilt und u a für die Entstehung des Reichsverbandes der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften verantwortlich zeichnete, bevorzugt als Antipoden eines „unseligen Systems, […] in dem Rendite alles, Menschlichkeit und Nachhaltigkeit nichts zählen“ 20 Populäre Darstellungen zu Genossenschaftsbanken beschreiben eine von „Börsencrashs und Spekulationsblasen, Staatspleiten und Finanzkrisen, Hedgefonds und Karawanenkapitalismus“ gekennzeichnete Welt der Unordnung, in der das System der Volks- und Raiffeisenbanken augenscheinlich eine Art Leuchtturm bildet Sie seien „ein glänzendes Beispiel dafür, wie Geld im Sinne der Allgemeinheit zum Guten der Menschen eingesetzt werden kann “21 Die steigenden Geschäftskurven der Volks- und Raiffeisenbanken nach Ausbruch der Finanzkrise im Jahre 2009 dienen in diesem Zusammenhang als schlagendes Argument Die Genossenschaft korrigiert vermeintlich die Fehlentwicklungen des Kapitalismus, und ausgewiesene Kenner ihrer Geschichte überschreiben ihre Biografien demgemäß mit sprechenden Titeln wie „ein Mann bezwingt die Not“22 oder „Bankier der Barmherzigkeit“23 Raiffeisen wird z B gefeiert als „ein große[r], eigenwillige[r] und gütige[r] Mann, der sich wie ein Denkmal der Integrität über die Wirren einer brutalen, nur auf den Profit bedachten Weltwirtschaft erhob“ 24 Die politischen Kontexte der Deutungen sind dabei wiederum durchaus verschieden Bundespräsident Christian Wulf beispielsweise stellte in einer Rede zum Internationalen Jahr der Genossenschaften im Jahr 2012 heraus, dass „ein moderner Staat […] ohne die Eigeninitiative von Bürgern und Unternehmern nicht existieren“ könne 25 Anlässlich des Raiffeisen-Jahres 2018 – es galt an seinen 200 Geburtstag zu erinnern – beklagte der Vorsitzende der Raiffeisen-Gesellschaft, dass „die Umverteiler in unserer Gesellschaft dominieren“ Die frühen Genossenschafter hätten gemahnt: „Um überhaupt ‚Wohltaten‘ verteilen zu können, müsse erst einmal etwas

18 19 20 21 22 23 24 25

Koch, Genossenschaftsgedanke, S 316 Rudolf Maxeiner, Der Dritte im Bund der Genossenschaftsgründer Zum 150 Geburtstag von Wilhelm Haas, in: Genossenschaftsforum 1989, S  438–443, hier S  440 Uwe Birnstein/Georg Schwikart, Friedrich Wilhelm Raiffeisen  – Hermann Schulze-Delitzsch Genossenschaftlich gegen die Not, Berlin 2014, S  6 f Ebenda, S 6 f Franz Braumann, Ein Mann bezwingt die Not Friedrich Wilhelm Raiffeisen: Ein Lebensroman, Wiesbaden 2017 Michael Klein, Bankier der Barmherzigkeit Friedrich Wilhelm Raiffeisen: Das Leben des Genossenschaftsgründers in Texten und Bildern, 3 Aufl , Neukirchen 1999 Braumann, Ein Mann, S  257 Grußwort von Bundespräsident Christian Wulff für das Internationale Jahr der Genossenschaften 2012, in: Genossenschaftshistorisches Informationszentrum (GIZ), A-Varia-26

Was zu tun ist

13

erwirtschaftet werden “26 Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer sprach demgegenüber davon, dass die Genossenschaften „ein Zukunftsmodell“ seien, „um Probleme und Aufgaben in unserer Gesellschaft solidarisch und gerecht zu bewältigen“ 27 Der große Erfolg der Genossenschaftsidee und die markante Vielfältigkeit ihrer Ausdeutungen stellen den Historiker vor eine ebenso wichtige wie reizvolle Aufgabe, die sich in folgende Fragen fassen lässt: Was erzählt uns das 19 Jahrhundert? Was haben die diversen Zuschreibungen mit den Gedanken der frühen Genossenschafter zu tun? Was machte diese Gedanken aus? Wie standen sie zu den großen Ideenkonzepten ihrer Zeit? Was waren ihre wesentlichen Inhalte, worauf zielten sie? Was sollte warum und gegen wen erreicht werden? Wie aktuell ist sodann das, was vor knapp zwei Jahrhunderten gedacht und in die Praxis umgesetzt wurde? Was haben die frühen Genossenschafter den Menschen des 21 Jahrhunderts zu sagen, die von der fortschreitenden (digitalen) Globalisierung ebenso profitieren wie sie an ihr leiden? Was teilen sie einer postmodernen Welt mit, „in der alles möglich und fast nicht gewiss ist“28? Dieses Buch unternimmt den Versuch, hier Antworten zu finden Die dafür zur Verfügung stehende Literatur ist mehr als reichhaltig, denn die Genossenschaftsgeschichte hat eine kaum zu übersehende Zahl an Überblicks- und Einzelstudien hervorgebracht Im Mittelpunkt stehen freilich für gewöhnlich Fragen der Organisation, die immaterielle Ebene spielt lediglich eine untergeordnete Rolle Selbst unter den Überschriften „Gedanke“ oder „Idee“ geht es oft primär um Ursprünge, Rückschläge und Ausbauten der genossenschaftlichen Organisation Das Interesse gilt dem Wer, Wann, Wo und Wie (viele), weniger dem Woher und Wohin, dem Wofür und Wogegen Darüber hinaus fällt auf, dass die verschiedenen Formen der Genossenschaften – ob nun Kredit-, Konsum-, Bau-, Wohn- oder Produktionsgenossenschaften  – selten im Zusammenhang betrachtet werden Nur vereinzelt ist versucht worden, die Gedanken von frühen Genossenschaftern – seien es Haas, Huber, Pfeiffer, Raiffeisen, Schulze-Delitzsch oder die Rochdale Society of Equitable Pioneers, die im Dezember 1844 von Handwerkern und Webern in der Nähe von Manchester gegründet worden war und gemeinhin als wegweisendes Modell der Konsumgenossenschaft firmiert – übergreifend historisch zu kontextualisieren und zu ordnen In diese Lücke soll im Folgenden gestoßen werden Ich möchte eine spezielle Geschichte des 19 Jahrhunderts erzählen und zeigen, wie sich die Genossenschaftsidee in Nähe und Abgrenzung zu seinen großen ideologischen Kräften entwickelte Das besondere Interesse gilt dabei ihrem überzeitlichen Kern und dessen Sinnstiftungs-

26 27 28

http://www faz net/aktuell/wirtschaft/friedrich-wilhelm-raiffeisen-hat-die-genossenschaften-vorangebracht-15486215 html [01 07 2018] https://raiffeisen2018 de/raiffeisen-jahr-2018/aktuelles/festakt [01 07 2018] Václav Havel, 1992, zit nach Andreas Rödder, 21 0 Eine kurze Geschichte der Gegenwart, 4 Aufl , München 2016, S  11

14

Was zu tun ist

angeboten für unsere Gegenwart Konsequenterweise sollen Fragen der Organisation nicht ausgeblendet werden, jedoch nur insofern eine Rolle spielen, als sie dem besseren Verständnis der Ideen (und ihrem Wandel) dienlich sind Das 20 Jahrhundert soll lediglich insoweit berücksichtigt werden, als seine Geschichte hilft, (Dis-)Kontinuitäten aufzuzeigen und damit die Gedanken der frühen Genossenschafter klarer zu profilieren Es gilt also, die Genossenschaftsidee als Sonde zu verwenden und der historischen Forschung zu folgen, die das 19 Jahrhundert, insbesondere seine zweite Hälfte, als wichtigen Referenzraum unserer Gegenwart betrachtet 29 Dazu wird gezielt das originale Wort der frühen Genossenschafter aus ihren Schriften, Reden, Briefen und Zeitungsartikeln herangezogen Das heuristische Konstrukt „frühe Genossenschafter“ meint dabei die unterschiedlichen GenossenschaftsvordenkerInnen, -praktikerInnen und -wissenschaftlerInnen des 19 Jahrhunderts Wo nötig, habe ich Archivrecherchen durchgeführt Damit der Gegenstand fassbarer wird, fungiert die deutsche Entwicklung als Brennglas Umso deutlicher sollen jedoch auch deren internationale Kontexte hervortreten Ein solcher Zugriff hat vornehmlich praktische Gründe, keinesfalls ist er wertend zu verstehen Die moderne Genossenschaftsidee ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf deutschem Boden „erfunden“ worden, sie ist ein transnationales Phänomen, das in Abhängigkeit von äußeren Verhältnissen bestimmten geistig-ideologischen Zusammenhängen entsprang Diese gilt es deutlich zu machen – nicht mehr und nicht weniger Die Jagd nach dem Ei der modernen Genossenschaftsorganisation muss anderen überlassen bleiben Die Erkenntnisgrenzen dieses Buches liegen auf der Hand Die Frage nach der Aktualität von Ideenkonzepten, die mehr als 150 Jahre alt sind, ist eine sehr schwierige Kein Historiker kann und sollte Handlungsanweisungen für die Gegenwart oder gar die Zukunft geben Ob man aus der Geschichte lernen kann, ist sehr fraglich Grundlage dieses Buchs ist aber die Überzeugung, dass durch den analytischen Blick auf die Vergangenheit Sensibilitäten in der Gegenwart geschärft werden können Er hilft, eigenes Handeln besser verstehen, einordnen, abgrenzen zu können, er vermag Strukturprobleme, Handlungsstrategien, vielleicht Lösungsoptionen aufzuzeigen, er stellt Orientierungswissen bereit In diesem Sinne sollen die Gedankenwelten der frühen Genossenschafter in Augenschein genommen werden und das 19 Jahrhundert auf seine Orientierungsfunktion für unsere Gegenwart abgeklopft werden Das wesentliche formale Prinzip ist dabei, die Darstellung auf knappem Raum möglichst anschaulich zu füllen So sollen die Genossenschaftspioniere auch oft selbst zu Wort kommen Zugleich sind die Anmerkungen aus Gründen der Lesbarkeit auf das Nötigste zu beschränken

29

Rödder, 21 0, S  15

II Der Rahmen Im 19 Jahrhundert entstand eine neue Welt Die Ideen der Aufklärung untergruben die alten europäischen Gesellschaften, die auf statischer Ordnung und Ungleichheit gründeten Adel und Kirche verloren mehr oder weniger allmählich ihre Vorrechte, unter der Fahne des Liberalismus wurden sowohl Verfassungen und Parlamente als auch Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit geschaffen Flur- und Zunftzwang gehörten ebenso der Vergangenheit an wie die Allmende, d h im Besitz einer Dorfgemeinschaft befindliches Grundeigentum Sogenannte bürgerliche Werte, die sich u a auf die Vorstellungen von Erziehung, Bildung, Ehe und Geschlechterrollen bezogen, begannen die Gesellschaft zu prägen Die Schulpflicht setzte sich durch, in Massen wurden die Menschen alphabetisiert Vor allem der medizinische Fortschritt und hygienische Verbesserungen ließen die Bevölkerungszahlen deutlich ansteigen Lebten z B in den deutschen Staaten im Jahre 1816 rund 25 Millionen Menschen, so waren es 1865 schon 40 Millionen und 1905 über 60 Millionen Der Ruf nach Freiheit, nach Abschaffung von illegitimer Herrschaft und Selbstbestimmung, beförderte wie nie zuvor revolutionäres Ethos und zugleich Vorstellungen, die nach nationalen Gemeinschaften unterschieden Viele Menschen begannen die Gründung eines einheitlichen Nationalstaates als zukunftsweisend zu betrachten Dies ließ indes auch ein Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien und Feindbildern blühen: Im Namen des Nationalismus fanden Aufstände und Kriege statt, und er übersteigerte sich im Imperialismus, zu dessen zentralen Erscheinungen die systematische Ausbeutung von Kolonien vornehmlich in Afrika und im Pazifikraum, eine zunehmend aggressivere, nicht auf Machtsicherung, sondern auf Machtausbau ausgerichtete Bündnispolitik sowie ein eklatantes Wettrüsten gehörten Das 19 Jahrhundert war eine Epoche intensivster Urbanisierung, nie da gewesener Mobilität und Kommunikationsverdichtung: In Großbritannien lebten beispielsweise schon 1851 mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land 1 Während im 18 Jahrhundert bei den allermeisten Europäern Geburts- und Sterbeort identisch waren, wohnte im Deutschen Reich um 1900 die Hälfte der Bevölkerung nicht mehr an ihrem Ge-

1

Rainer Liedtke, Die Industrielle Revolution, Köln u a  2012, S  42

16

Der Rahmen

burtsort 2 Die Länge der Telegraphenleitungen auf deutschem Boden stieg zwischen 1850 und 1900 von knapp 3 600 auf 425 000 Kilometer 3 Das 19 Jahrhundert brachte die letzten territorialen Entdeckungen und die Herausbildung einer professionellen Staatsbürokratie, ferner die Dampfschifffahrt, die Eisenbahn, den Generator, die Glühbirne, das Telegramm, das Telefon, das Auto, die Straßenbahn, den Kunstdünger, das Warenhaus, das Restaurant, den Wolkenkratzer, das Patentamt, die Fotografie, den Film, die soziale Gruppe der „Angestellten“ sowie die Massenpresse hervor Einschneidend war der Aufschwung der Wissenschaften, namentlich die Institutionalisierung der Natur-, aber auch der Geistes- und Sozialwissenschaften Im Zusammenspiel sorgten Wissenschaft, Literatur und Kunst dafür, dass es bis dahin nie eine Zeit gegeben hatte, die sich so sehr mit sich selbst beschäftigte Das Wohlstandsniveau stieg grundsätzlich stark, wobei in der ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts die Versorgungsmöglichkeiten der Bevölkerungsentwicklung deutlich hinterherhinkten und Missernten, wie in den 1840er-Jahren, zu erheblichen Preissteigerungen und dramatischen Hungerkrisen führten Der in den deutschen Staaten ab Mitte des Jahrhunderts einsetzende industrielle „Take-Off “ sollte dieses Problem perspektivisch weitgehend lösen Die Preis- und Versorgungssituation blieb aber zunächst misslich Schwierigkeiten, die vor allem den Alltag in den Städten und industriellen Zentren prägten, stellten die eklatante Wohnungsnot und die unzureichende Qualität von Lebensmitteln dar Die rasante Urbanisierung verschaffte Lebensmittelpanschern eine große Konjunktur Gips wurde dem Mehl beigefügt, gemahlener Kaffee mit Sand und Milch mit Wasser gestreckt, Pfeffer mit Staub und Hülsen verfälscht, alter Fisch unter Zuhilfenahme von Rindsblut für frisch verkauft, Nudeln bekamen ihre gelbe Farbe durch Urin Die Wohnverhältnisse gestalteten sich „nicht weniger schlecht als die der Ernährung, viele Häuser verwahrlost, die Fenster häufig entzwei, die Höfe schmutzig “4 Oft waren „zwei oder gar drei Familien in dem gleichen Raume zusammengedrängt“, in dem nicht selten auch „eine Anzahl von Schlafgängern“ ihre Unterkunft hatten In den Mietskasernen, wo sich solche Wohnstätten befanden, hausten „oft 20 bis 30 und noch mehr Familien unter einem Dache“ 5 Die hohen Emigrationszahlen bezeugen die schwierige Lage der Menschen So wanderten allein zwischen 1850 und 1859 1,1 Millionen Deutsche vor allem in die USA aus Zugleich entstanden neue große Herausforderungen Mit der Industrialisierung, als deren Leitsektoren zunächst Baumwolle, Kohle und Eisen, später Stahl, Chemie und Elektrizität fungierten, zementierten sich das kapitalistische Wirtschaftssystem und

2 3 4 5

Christoph Nonn, Das 19 und 20 Jahrhundert, Paderborn u a  2007, S  201 Hubert Kiesewetter, Industrielle Revolution in Deutschland Regionen als Wachstumsmotoren, Stuttgart 2004, S  245 u  247 Robert Schloesser, Holyoakes Geschichte der Rochdaler Pioniere, Köln 1928, S  38 Eduard Pfeiffer, Eigenes Heim und billige Wohnungen Ein Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage, 2 Aufl , Stuttgart 1896, S  4

Der Rahmen

17

zugleich die europäische Vorherrschaft in der Welt Qualifikation, Wettbewerb und Gewinn bildeten nunmehr die Grundlagen des wirtschaftlichen Lebens Seine Kennzeichen waren: Dominanz der Lohnarbeit, intensivere Arbeitsteilung, eine trotz grundsätzlich steigender Realeinkommen markante Schere zwischen Arm und Reich, eine weit reichende Belastung der Umwelt, eine steigende Arbeitsmigration und ein eminenter Leistungsdruck Insbesondere das in Heimarbeit tätige Handwerk sah sich gegenüber der industriellen Fertigung einer schwierigen Konkurrenzsituation ausgesetzt Die Fabrik veränderte menschliches Dasein in einschneidender Weise, und das anfänglich mit ihr verbundene Elend – körperlich schwere und einförmige Arbeit, kaum regulierte und häufig gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen, unzureichende Unterbringung, Ernährung und Güterversorgung, schwierige hygienische Verhältnisse, Epidemien und Seuchen, Kinderarbeit und Verwahrlosungserscheinungen – avancierte zum prägenden politischen Thema der Zeit Die „Soziale Frage“ begründete sowohl die Entstehung des modernen Sozialstaates, für den Deutschland vor allem mit seinen Gesetzen zu Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung das Vorbild darstellte, als auch den Aufstieg radikalsozialistischer, d h auf totale gesellschaftliche Umwälzung abzielender Vorstellungen Die allmähliche Entstehung einer starken Arbeiterbewegung mit ihren Gewerkschaften, ihren Sport-, Kultur- und Bildungsvereinen sowie den zusehends erfolgreicheren sozialdemokratischen „Umsturzpartei[en]“6 bedeutete demgemäß für die bestehende Ordnung eine der potentiell größten Gefahren Ein Übriges tat die Globalisierung Während das Handelsvolumen weltweit stetig wuchs, globalisierten sich Konsum und Preise Maßeinheiten erfuhren nationale und internationale Vereinheitlichung  1875 wurde das metrische System, 1884 die Weltzeit eingeführt, seit etwa 1870 diente der Goldstandard als währungspolitische Leiteinheit Zugleich wurden Konjunkturbewegungen überall spürbar, d h „die industrielle Produktion [rang] mit atemloser Hast im Wettbewerb auf dem Weltmarkt“ 7 Profiteur der sich globalisierenden Wirtschaft war an erster Stelle Europa: Der Handarbeiter Indiens, dessen Bedarf an Kleidung und Nahrung fast Nichts ist, sieht die bei ihm gepflanzte rohe Baumwolle nach England verpacken und das dort gesponnene und gewobene Product wieder zurückkommen, und zwar so billig, daß das Resultat seiner Anstrengung doch noch theurer zu stehen kommt, obgleich er sich mit einem Arbeitslohne von kaum mehr als einem Silbergroschen begnügt 8

Die Landwirtschaft, in der bis Ende des 19 Jahrhunderts selbst in Deutschland die Mehrzahl der Beschäftigten tätig war, nahm prinzipiell einen großen Aufschwung, wobei Westeuropa nur einen geringfügigen Anteil an der gewaltigen Ausdehnung 6 7 8

Raiffeisen-Worte Auszüge aus den Schriften, Reden und Briefen F W Raiffeisens, 2 Aufl , Neuwied 1922, S  70 Raiffeisen, Darlehenskassen-Vereine, 8 Aufl , S  13 Pfeiffer, Ueber Genossenschaftswesen, S  15

18

Der Rahmen

der Anbaufläche hatte und die dortigen Bauern unter enormen Konkurrenzdruck gerieten Erfolge bei Ernteerträgen und Produktivität verlangten Offenheit gegenüber einer rationalisierten und technisierten Wirtschaftsweise, die jedoch Mut und Kapital zur Voraussetzung hatte Maschinen waren teuer, Hilfsprodukte wie Futter- oder Düngemittel nicht immer leicht zu beziehen Hinzu kam der je nach Region abrupte oder allmähliche Wegfall der grundherrlichen Agrarverfassung Er befreite die Bauern von ihrer rechtlichen Minderwertigkeit, ihren Pflichten und Abgaben gegenüber den Gutsherren Sie wurden erstmals zu selbständigen Unternehmern – mit allen damit verbundenen Risiken Zudem waren im Regelfall Kompensationen in Form von Landabtretungen oder Ablösezahlungen zu entrichten, die insbesondere kleinere Höfe finanziell enorm belasteten und ihre Marktposition deutlich schwächten Ihr wirtschaftliches Überforderungspotential war entsprechend groß, der soziale Abstieg oft kaum mehr aufzuhalten Gleiches galt für kleine und mittlere Handwerker, die nach Fortfall des Zunftzwangs „zur äußersten Freiheit des Individuums gelangt“ waren9 und in der Folge unter großem ökonomischem Druck standen Kleinbetriebe mit örtlichem Absatzgebiet hatten mit entfernt gelegenen Großbetrieben zu konkurrieren, die ihre Waren durch Händler verkaufen ließen Der Wandel der Konsum-, Kommunikationsund Konkurrenzverhältnisse machte den Handwerker als technischen Arbeiter, tätig für eine Anzahl ihm persönlich nahestehender Familien, zum Anachronismus Stattdessen wurde der Verkauf fertiger Waren immer wichtiger, so dass Stoffe eingekauft, Lager gehalten und mit Vorräten spekuliert werden musste Dafür war neben einer kaufmännischen Bildung vor allem auch Kapital nötig In der Folge verschuldeten sich viele Bauern und Handwerker und gerieten in bestimmten Regionen an skrupellose Geldverleiher, sogenannte Wucherer, die bis zu 80 Prozent Zinsen pro Jahr verlangten und ihre Lage noch weiter verschlechterten Landflucht und anschließende Verproletarisierung von Bauern, Landarbeitern und Handwerkern beschrieben in der Folge gängige Phänomene Das dringend benötigte Kapital konnten Bauern oder Handwerker lediglich in begrenztem Maße von Privatbanken erhalten, da diese keine Erfahrung mit der Bonitätseinschätzung kleinerer Betriebe besaßen und die entsprechenden Geschäfte scheuten Der insbesondere in der zweiten Jahrhunderthälfte wachsende Markt an Aktienkreditbanken orientierte sich stark an den Bedürfnissen der Industrie und des Auslandsgeschäftes Die Sparkassen, im deutschen Kaiserreich immerhin die wichtigste Säule der Kreditwirtschaft, konnten ebenfalls nur bedingt helfen Ihre Anlageschwerpunkte bildeten Hypotheken auf ländliche und städtische Grundstücke, Staatsanleihen und Kommunalkredite Hier setzten die Genossenschaften an So lässt sich sagen, dass die moderne Genossenschaftsidee in einer Zeit fundamentalen Wandels voller Brüche, Ungleichzeitigkei-

9

Raiffeisen, Darlehenskassen-Vereine, 8 Aufl , S  109

Der Rahmen

19

ten und Mehrdeutigkeiten entstanden und groß geworden ist Die Veränderungen betrafen alle Bereiche des Daseins, das in nie geahnter Weise und mit großen regionalen Unterschieden schneller, urbaner, technisierter, internationaler und kapitalistischer wurde Verunsicherung hatte viele Menschen ergriffen, das Bedürfnis nach Orientierung war groß Ankerpunkte für die Genossenschaften lieferten konkrete menschliche Nöte wie eine unzureichende Wohnungs-, Versorgungs- und Arbeitsplatzsituation vor allem im städtischen Raum und in den Industriegebieten sowie die schwierige wirtschaftliche Lage von Bauern und Handwerkern, die aus einer neuen Konkurrenzsituation durch den Wegfall alter Bindungssysteme und die Marktansprüche einer im internationalen Wettbewerb stehenden (Industrie-)Gesellschaft resultierten

III Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis Die vormoderne Ordnung war bereits vor der Französischen Revolution ins Wanken geraten Maßgeblich verantwortlich zeichneten dafür neue, im Zeichen der Aufklärung entstandene Ideen Der Glaube an die Vernunft und der Mut, eigenständig wider überkommene Autoritäten zu denken, ließen Protagonisten der Aufklärung wie John Locke oder Voltaire den Absolutismus für illegitim erklären Montesquieu beschrieb die Teilung staatlicher Gewalt, Adam Smith wandte sich gegen staatlichen Interventionismus und Protektionismus in Wirtschaftsangelegenheiten Immanuel Kant forderte den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“1 Bürgerliche Schriftsteller wie Gotthold Ephraim Lessing oder Christian Fürchtegott Gellert karikierten und konterkarierten die Vormachtstellung von Adel und Kirche Aufklärungsphilosophen stellten die Perfektibilität des vernunftbegabten Menschen, also die Möglichkeit seiner Selbstvervollkommnung, heraus und erhoben ihn damit zum Träger der Geschichte Als deren Triebkraft betrachteten sie konsequenterweise nicht länger die göttliche Vorsehung, sondern das Prinzip des Fortschritts In seinem Namen wurden Zuversicht und Anspruch der aufgeklärten Menschheit zum Ausdruck gebracht, die beste aller ihr gemäßen Welten zu schaffen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, einer der für das 19 Jahrhundert prägendsten Philosophen, grenzte sich zwar von dieser Deutung ab, da er den Menschen ausschließlich von Interessen und Leidenschaften getrieben sah In seiner Vorstellung sorgte allerdings ein von Vernunft geleiteter „Weltgeist“ dafür, dass sich die menschlichen Verhältnisse fortwährend zum Besseren veränderten Es gab immer mehr Menschen, vor allem sogenannte Bürgerliche wie z B Kaufleute, Handwerker, Beamte, Künstler oder Schriftsteller, welche die Ideen der Aufklärer in praktische Forderungen übersetzten und zur Verfestigung eines spezifischen Fortschrittskonzeptes beitrugen Dieses wurde weniger geschichtsphilosophisch als zivilisatorisch verstanden und war politisch bald eng mit dem Liberalismus verbunden

1

Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berliner Monatsschrift, Dezember 1784

22

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

Der Terminus tauchte zuerst in Spanien auf: Los Liberales, ‚die Freiheitlichen‘, waren die Verfechter der Verfassung von 1812, welche die absolute Monarchie einschränkte, adelige Privilegien abschaffte und Kirchenbesitz enteignete Damit war die Blaupause für liberale Politik geschaffen Sie zielte im Namen des Fortschritts auf Freiheit von adliger, kirchlicher und staatlicher Bevormundung, kämpfte gegen persönliche Vorrechte, Steuerprivilegien und Sondergerichtsbarkeiten, plädierte für Gleichheit vor dem Gesetz, Kontrolle der Herrschenden und Gewaltenteilung, Schutz der Bürger vor äußerer Willkür sowie Trennung von Staat und Kirche Elementar war das Prinzip der Selbstverantwortung Auf wirtschaftlichem Feld bedeutete dies Abwehr von staatlichen Eingriffen, Abschaffung von Zünften sowie Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit Umverteilung und Gleichmacherei wurden abgelehnt; mit der vorbehaltlosen Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts hatten nicht wenige Liberale, die oft Unternehmer oder Angehörige des Wirtschaftsbürgertums waren, große Schwierigkeiten Dies betraf zum einen die Geschlechterfrage Denn in seiner Mehrheit interessierte den Liberalismus die Gleichstellung der Frau nur wenig Zum anderen setzte er zu großen Teilen auf Entwicklung und wollte soziale Unterschiede keineswegs gewaltsam aufheben Vielmehr sollten diese nicht mehr durch Geburt, sondern lediglich durch Leistung bedingt sein Nicht Stand und Herkunft hatten wunschgemäß Bedeutung, sondern Einsatz, Fleiß und Kompetenz Die Veränderungen sollten sich allmählich und von unten nach oben vollziehen Als eigentlicher politischer Ort galt dem Liberalismus die Gemeinde Von ihr ausgehend sollte die politische Zielvorstellung in Angriff genommen werden: eine von Arbeit, Wissen und Wohlstand getragene klassenlose Gesellschaft geistig und materiell mündiger Bürger Je weiter sich die Verwirklichung dieser Utopie in die Zukunft verschob, desto inhomogener wurde der politische Liberalismus Die zusehends gravierenden Meinungsverschiedenheiten über notwendige Adaptionen der liberalen Lehre – etwa in Sachen Wahlrechtsfrage, Einsatz von Gewalt, staatlicher Eingriffe in den Wirtschaftskreislauf oder Rolle des Nationalstaates – führten zu diversen Abspaltungen und einer deutlichen Schwächung der Gesamtbewegung Die lebensweltlichen Rückwirkungen des liberalen Fortschrittsgedankens waren jedoch weitreichend und kaum zu revidieren Überall dort, wo Männer demokratische Rechte erhielten, konnten z B Frauen ihre rechtliche und soziale Benachteiligung anprangern Als fundamental kann der Aufstieg des Bildungsgedankens gelten Die Erziehung der Vormoderne war traditionell stark von Standesrücksichten beeinflusst gewesen Sie hatte darauf abgezielt, dass die Spielregeln der Feudalgesellschaft erlernt werden Formale Bildung, also der regelmäßige Besuch von Schulen und Hochschulen, spielte eine untergeordnete Rolle, wohingegen z B adelige Familien großen Wert darauf legten, dass im häuslichen Unterricht, auf Ritterakademien oder Pagerien höfische Umgangsformen, d h Konversation, Tanz, gutes Benehmen etc , eingeübt und somit die Voraussetzungen zur Teilhabe am elitären Gesellschaftsleben gelegt wurden Um die Familien- und Besitzkontinuität zu wahren, mussten Kinder ihre individuellen Begehrlichkeiten familiären Erfordernissen

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

23

unterwerfen, und Erziehung sollte sie darauf vorbereiten Das 19 Jahrhundert huldigte aber dem bürgerlichen Bildungsbegriff Bildung wurde als Reifeprozess, Chance der Selbstvervollkommnung, Möglichkeit des Aufstiegs und elementare Voraussetzung einer aufgeklärten Gesellschaft begriffen Um Standesvorteile auszugleichen, wurde daher ihre Formalisierung, z B mit der flächendeckenden Einführung des Abiturs oder der Systematisierung von Lehrplänen, immer weiter vorangetrieben Erziehung wurde weniger funktional als ideell begriffen Sie sollte den Menschen besser machen und vornehmlich normative Brücken in die Erwachsenenwelt bereitstellen Entsprechend boomte der Markt für Erziehungsratgeber, Kinderliteratur und Spielzeug, die Pädagogik stieg zur Leitwissenschaft auf, die Kindermedizin und später auch die Kinderpsychologie nahmen einen gewaltigen Aufschwung Familienbeziehungen sollten stärker von Intimität und Emotionalität getragen werden, Diskurse über die Legimitation von Gewalt gegen Kinder, insbesondere in Sachen Kinderarbeit, Züchtigung und sexueller Missbrauch, griffen erstmals Raum, konnten allerdings im sozialen Alltag nur begrenzt Wirksamkeit entfalten Obschon bürgerliche Produkte, entfalteten das neue Verständnis von Erziehung und der moderne Bildungsbegriff nicht zuletzt in der Arbeiterschaft, die unter Standesnachteilen in erster Linie zu leiden hatte und sich vom gesellschaftlichen Fortschritt besonders viel versprach, eine enorme Wirkung In dieser liberalen Prägung, die sich auch die großen sozialistischen Theoretiker zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen nahmen, erreichte der Fortschrittsbegriff im 19 Jahrhundert eine Popularität wie nie zuvor und danach Er wurde zum Spiegel, in dem sich die Zivilisation der Moderne deutete Sie sah die deutlich identifizierbaren und sich im Leben eines jeden auswirkenden Fortschritte auf technischem und wissenschaftlichem Gebiet – seit 1851 auf Weltausstellungen breitenwirksam zur Schau gestellt Sie sah die ständigen Produktionssteigerungen einer sich zusehends industrialisierenden Wirtschaft Sie hoffte darauf, dass es auch in Kunst, Literatur oder in der Musik, ja auch im sittlich-moralischen Verhalten trotz aller Rückschläge stetig aufwärts ging Beispielhaft stellte der Philosoph William Whewell hinsichtlich der Bedeutung der ersten Weltausstellung fest: „Ganz bestimmt ist dieser mächtige Gedanke eines Fortschritts im Leben der Nationen kein leerer Traum “2 Zukunft wurde weitgehend als die fortgeschrittene Gegenwart gesehen, und der Fortschrittsbegriff spielte dementsprechend für das politische Feld eine bestimmende Rolle Zeitschriften und Broschüren beriefen sich im Titel auf ihn, zunächst in den romanischen Ländern benannten sich Parteien nach ihm; die ersten waren wohl 1820 die Progressistas, ein Flügel der spanischen Liberalen  1861 wurde die Deutsche Fortschrittspartei ins Leben gerufen Während der Revolution von 1848 existierte in Paris ein Ministère du Progrès Seit 1889 verwies die brasilianische Fahne auf das Selbstverständnis der neuen Republik: ordem e progresso (Ordnung und Fortschritt)

2

Zit nach https://www zeit de/1987/15/die-krankheit-der-vernunft/komplettansicht [01 07 2018]

24

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

Kritik an der Fortschrittsgläubigkeit wurde immer wieder geäußert, und sie nahm zu, desto klarer sich die Vorstellung vom sittlichen Fortschritt der Menschheit als Chimäre erwies Hatte schon Jean-Jacques Rousseau moniert, dass der politisch-moralische dem technischen Fortschritt weit hinterherhinke, so sah beispielsweise Friedrich Nietzsche in der Geschichte lediglich die Wiederkehr des Ewig-Gleichen; ihre Höhepunkte glaubte er ausschließlich in den „großen Menschen“ verkörpert Massive soziale Kritik am wissenschaftlich-technischen Fortschritt gab es seit Beginn der Moderne Sie wurde wesentlich von der Arbeiterschaft getragen, die in besonderer Weise unter den negativen Folgen des sich aufschwingenden Kapitalismus zu leiden hatte In exemplarischer Weise empörte sich der Schneidergeselle Wilhelm Weitling im Jahre 1842, dass zwar „eine Erfindung die andere“ jage, aber zu viele vom Fortschritt nicht profitierten: Arme, traurige Generation! Welch’ ein Durcheinander! Welche Unordnung! Und trotzdem, welch’ bedeutender Fortschritt in Erfindungen, Künsten und Wissenschaften; aber die Anwendung derselben zum Wohle Aller, die Verwaltung des gesellschaftlichen Lebens, davon verstehen sie nichts und wollen nichts verstehen 3

Der Sozialismus setzte hier an und formulierte eine vehemente Kritik bürgerlich-liberaler Vorstellungen, übernahm aber die positive Idee des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, indem er sie auf eine postrevolutionäre Gesellschaft anwandte Ehe die Fortschrittskepsis an der Wende zum 20 Jahrhundert mit der Lebensreform- oder der Wandelvogelbewegung erstmals konkret bürgerliche Lebenswelten erreichte, waren es daher vor allem der politische Konservatismus und Teile der Kirchen, insbesondere der katholischen Kirche, die das aufklärerische Fortschrittskonzept mit großem Argwohn betrachteten und sich dem liberalen Zeitgeist entgegenstellen wollten Papst Pius IX wirkte in dieser Hinsicht als eine Art Vorkämpfer, indem er etwa 1864 in seinem Syllabus errorum 80 Irrtümer der Gegenwart benannte, darunter den Indifferentismus, den Liberalismus, den Sozialismus sowie übergreifend die Loslösung der Vernunft von Gott im aufgeklärten Staat Den Liberalismus und seine vielfältigen Auswirkungen betrachteten die christlich-konservativen Kräfte vor allem als Zerstörer der überkommenen Ordnung Aus ihrer Sicht war er „das Kind der wilden Ehe des Unglaubens mit dem Aufruhr“4, das „auf den Organismus der christlich-socialen Weltordnung, dessen Grundlagen das Gewissen und dessen Sonne die Autorität sei, […] wie der Salpeter auf das Gemäuer einer alten Burg“ gewirkt habe Überkommene Wahrheiten würden relativiert, Sitte und Tradition verunglimpft und für obsolet erklärt, man verkünde eine abstrakte Rechtsgleichheit, desavouiere mit der Kirche die wichtigste sozi3 4

Welches ist das beste Prinzip?, in: Die junge Generation 3 (1842), S  36 Burghard von Schorlemer-Alst, Der katholische Adel Westfalens Gedanken über Gegenwart und Zukunft desselben(1866), in: Archivamt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Münster (LVWLM), Archiv Herringhausen C 323

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

25

ale Ordnungsinstanz und lasse im Wirtschaftsleben allein die „Geldmacht“ regieren 5 Mitnichten stellten sich die konservativen Kräfte in Politik und Kirche grundsätzlich gegen die Moderne, sie wollten aber als Stützpfosten gegen Werterelativierung und Nivellierungstendenzen agieren und die neue Zeit in ihrem Sinne gestalten Vor diesem Hintergrund war es das Besondere der Genossenschaften, dass sie Produkte wie Motoren sowohl im liberalen Denken wurzelnder Fortschrittsgläubigkeit als auch deren massiver Kritik waren Dies soll im Folgenden anhand von sechs Punkten veranschaulicht werden: 1

Die Genossenschaften waren personell eng mit der liberalen Bewegung in all ihren Schattierungen verbunden Ein Teil der ersten Genossenschaftsführer war während der Revolution von 1848/49 im gemäßigt liberalen, ja sogar im radikal-demokratischen Lager aktiv gewesen Beispiele für vormalige Radikale sind etwa der Eilenburger Arzt Anton Bernhardi, der Kaufmann Alwin Sörgel aus Eisleben oder der Erfurter Kaufmann und Journalist Goswin Krackrügge Der aus einer berühmten bildungsbürgerlichen Familie stammende Victor Aimé Huber, später Professor u a für Geschichte und abendländische Literatur, hatte in der Schweiz eine reformpädagogische Schulbildung erhalten, kämpfte Anfang der 1820er-Jahre für die Sache der radikalliberalen Exaltados in Spanien und verfasste als freischaffender Journalist Kampfschriften gegen den Deutschen Bund Eduard Pfeiffer, Sohn eines Hofbankdirektors und selbst erfolgreicher Bankier, der u a die Württembergische Vereinsbank mitbegründete, war 1866 wesentlich an der Schaffung der Nationalliberalen Partei beteiligt Schon drei Jahre zuvor hatte er sich zuversichtlich gezeigt, dass „Europa seine politische Umgestaltung im demokratischen Sinne vollenden wird“ 6 Der Professorensohn Wilhelm Haas zog 1881 als Abgeordneter der Nationalliberalen Partei in die zweite Kammer des hessischen Landtages ein, 1898 wurde er für sie in den Reichstag gewählt, dem er bis 1912 angehörte Das bekannteste Beispiel für den linken politischen Liberalismus liefert wohl Hermann Schulze-Delitzsch, der schon bald nach seinem Tod als „Vorkämpfer deutscher Freiheit“ stilisiert wurde 7 Immerhin hielt er bereits 1848 unmittelbar nach Ausbruch der Revolution Reden, die er mit einem Hoch auf den „konstitutionellen König“ beendete 8 Schulze wurde Abgeordneter der preußischen Nationalversammlung, wo er nicht nur im Ausschuss für Handwer-

5

Protokoll über die 17 Generalversammlung des Vereins katholischer Edelleute, u a Beiträge Schorlemer-Alst und Galen, Referat Pfetten, 9 März 1879, in: LVWLM, Archiv Herringhausen C 172 Pfeiffer, Ueber Genossenschaftswesen, S  32 So der Reihentitel der Publikation: Hermann Schulze-Delitzsch, Der Notstand der arbeitenden Klassen Das Genossenschaftswesen, München 1910 Chronik von Delitzsch, S   165, zit nach Rita Aldenhoff, Schulze-Delitzsch Ein Beitrag zur Geschichte des Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung, Baden-Baden 1984, S  36

6 7 8

26

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

ker- und Arbeiterfragen saß, sondern auch gegen das Gottesgnadentum zu Felde zog  1858 zeichnete Schulze-Delitzsch maßgeblich für die Einberufung des ersten Volkswirtschaftlichen Kongresses verantwortlich, der sich für Freihandel und Deregulierung stark machte, 1861 gehörte er zu den Mitbegründern der Deutschen Fortschrittspartei Stets war Schulze-Delitzsch ein emphatischer Verfechter der Parlamentsrechte Er machte sich für die Immunität der Abgeordneten stark und als beispielsweise der preußische König im November 1848 die Nationalversammlung mit Gewalt von Berlin nach Brandenburg verlegen wollte, unterstützte er den Aufruf seiner Abgeordnetenkollegen, dem Staat durch eine Verweigerung der Steuerzahlungen seinen Protest auszudrücken Eine entschiedene Frontstellung bezog er gegenüber der preußischen Regierung im Verfassungskonflikt der 1860er-Jahre, als diese eine große Heeresreform ohne den Landtag durchsetzte und nachträglich dafür Billigung verlangte Im Abgeordnetenhaus appellierte er seinerzeit eindringlich: „Vereinigen Sie sich mit uns bei der Verweigerung der zur Reorganisation des Heeres von der Regierung geforderten Mittel, weil es der einzige verfassungsmäßige Weg ist “9 Wiederholt lehnte Schulze-Delitzsch einen Militärhaushalt ab, der über eine Legislaturperiode hinaus gelten sollte Denn der Reichstag dürfe nicht über die Zeit hinaus Bestimmungen treffen, für die den Abgeordneten ihr Mandat erteilt worden sei Gegen die Majorität seiner eigenen Parteikollegen hat er sogar immer wieder die Ersetzung des preußischen Dreiklassenwahlrechts durch ein allgemeines, gleiches und geheimes Männerwahlrecht gefordert  – nicht aus taktischen Gründen, sondern aus prinzipieller Überzeugung 10 2

Konservative Kräfte spielten in der Genossenschaftsbewegung eine große Rolle. Insbesondere Geistliche und strenggläubige Christen, die sich ausdrücklich gegen den angeblich liberalen Zeitgeist stellen wollten, waren von einiger Bedeutung Friedrich Wilhelm Raiffeisen beispielsweise formulierte programmatisch: „Was wird man durch die sogenannte moderne Aufklärung erreichen? Nichts anderes, als daß man dem Volke den einzigen Trost, den es jetzt noch hat: den Glauben raubt und Genußsucht und Begehrlichkeit in ihm erzeugt, welche niemals befriedigt werden können “11 In etlichen europäischen Ländern – sei es die Schweiz, Italien oder England – fungierten als erste und überzeugteste Vorkämpfer der genossenschaftlichen Methode Geistliche wie Johann Traber, Don Luigi Cerutti,

9

Gegen die Armee-Reorganisation Rede vom 28 Mai 1861, in: Friedrich Thorwart (Hg ), Hermann Schulze-Delitzschs Schriften und Reden, Berlin 1911, Bd  1–4, S  27–46, hier S  45 Besonders eindrucksvoll: Für das allgemeine Wahlrecht Rede in der 12 Sitzung des Abgeordnetenhauses am 3 November 1869, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd  4, S  489–495 Raiffeisen an den Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, 10 Dezember 1880, in: Walter Koch (Hg ), F W Raiffeisen Statuten, Dokumente und Schriftwechsel mit den Behörden 1846–1888, Dachau 1996, S  361

10 11

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

27

John Maurice oder Charles Kingsley In Deutschland spielte etwa Pfarrer Johann Adam Groh eine besondere Rolle, der die erste hessische landwirtschaftliche Konsumgenossenschaft ins Leben rief und erster Vizepräsident des Verbandes der hessischen landwirtschaftlichen Konsumvereine war Der in seiner Jugendzeit radikalliberalem Gedankengut anhängende Victor Aimé Huber trat mit 29 Jahren in die reformierte Kirche ein und betonte fortan, dass er „von der gepriesenen Unabhängigkeit […] nichts [halte], sondern von der rechten Abhängigkeit […] von Gott“ 12 Er erkannte das Freiheitsbedürfnis der Menschen an, machte aber immer wieder deutlich, dass es keine Freiheit ohne Ordnung gebe Und diese Ordnung war für ihn gottgegeben und auf die Monarchie zugeschnitten Der vormalige linke Spanienkämpfer trat Anfang der 1840er-Jahre als einer der ersten für die Gründung einer konservativen Partei ein und schuf 1845 mit Janus, Jahrbücher für deutsche Gesinnung, Bildung und Tat die erste konservative Zeitschrift auf deutschem Boden Als ein glühender Anhänger der Monarchie lehnte er das Prinzip der Volkssouveränität vehement ab, denn: „Die Republik ist in der That nur die Wahrheit der doktrinairen Lüge“ 13 Auch Raiffeisen war ein ausgesprochen konservativer und frommer Mensch Sowohl in Briefen an seine Familie als auch in der Öffentlichkeit sprach er von Unterhaltungen mit Gott und paraphrasierte Predigtinhalte, sein laut Testament „innigster Wunsch“ war „eine echt christlich-evangelische Erziehung“ seiner Kinder, seine letzte Botschaft an diese der Appell „Seid fromm, bekämpfet und überwindet die Sünde“ 14 Konsequenterweise gründeten zahlreiche Pfarrer im Namen von Raiffeisen Genossenschaften und/oder engagierten sich in ihnen federführend  1897 waren z B in Bayern von 1 001 namentlich bekannten Vereinsvorstehern 196 Geistliche, unter den 1 264 Aufsichtsratsvorsitzenden befanden sich 305 Geistliche 15 Allein Pfarrer Willibald Kaiser rief knapp 100 Darlehenskassenvereine ins Leben und initiierte die Schaffung eines bayerischen Genossenschaftsverbandes 3

Die frühen Genossenschafter hielten mit Verve den Bildungsgedanken hoch Nicht zufällig präsidierte Schulze-Delitzsch der 1871 geschaffenen Gesellschaft zur Ver-

12

Victor Aimé Huber, Sociale Fragen I: Das Genossenschaftswesen und die ländlichen Tagelöhner, Nordhausen 1863, S  18 Viktor Aimé Huber, 1848, zit nach Sabine Hindelang, Konservativismus und soziale Frage Viktor Aimé Hubers Beitrag zum sozialkonservativen Denken im 19 Jahrhundert, Frankfurt a M  1983, S  48 Testament aus dem Jahre 1863, in: Walter Koch, F W Raiffeisen, Dokumente und Briefe, Bd  2, Wien 1988, S  92 u  93 Zit nach Ludwig Hüttl, Pfarrer C Willibald Kaiser (1853–1935) – der „bayerische Raiffeisen“, in: Historischer Verein bayerischer Genossenschaften (Hg ), Gründer und Gründungen Beiträge und ausgewählte Dokumente zur Genossenschaftsbewegung, München 2006, S  78–141, hier S  104

13 14 15

28

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

breitung von Volksbildung, die mit der Schaffung von Volksbüchereien, Leseräumen, Vortragskursen etc „eine maßgebliche Organisation des freien Bildungsbetriebes“ bildete 16 Nicht von ungefähr war auch Pfeiffer dort Mitglied, der zudem seinem Konsumverein den Namen Consum- und Ersparnisverein des Arbeiterbildungsvereins in Stuttgart gab Die führenden Genossenschafter gingen im Sinne des aufklärerischen Fortschrittskonzeptes davon aus, dass Bildung fundamental sei für die Besserung gesellschaftlicher Verhältnisse: die Frage der Möglichkeit voller Lebensentfaltung und Betätigung für alle – sie fällt mit der Kulturfrage zusammen Nur in der aufsteigenden Zivilisation, dem stetigen Fortschritt der Menschheit in Bildung und Gesittung, […] gehen wir ihrer allmählichen Lösung entgegen 17

Entsprechend waren die Genossenschafter sich sicher: „Die Hauptsache wird sein, auf die Jugend zu wirken“ 18 Eine bessere individuelle Ausbildung der Menschen zöge „die Hebung ihrer socialen Stellung von selbst nach sich“ 19 Raiffeisen forderte z B einen fundierten Elementar-Schulunterricht sowie landwirtschaftliche und gewerbliche Fortbildungsschulen für nicht mehr schulpflichtige Jugendliche Seine Genossenschaftsorganisation sah eine eigene Kasse für Jugenderziehung vor Huber forderte jenseits des Regelschulsystems die Einrichtung von Volksbildungsanstalten und gründete im Kleinen selbst eine Lehrlingsschule, die von einem Fortbildungsverein getragen wurde Schulze-Delitzsch argumentierte noch umfassender Er wollte (revolutionäre) Gesetze gegen alle Formen häuslicher Gewalt und maß neben „sorgsamerer Erziehung und Schulunterricht“ vor allem auch dem Vereinswesen eine wichtige emanzipierende Bildungsfunktion bei Deshalb rief er zur gruppenmäßigen Organisation in Handwerker-, Gewerbetreibenden-, Arbeiter- oder Bildungsvereinen auf Sie alle machten aus seiner Sicht den einzelnen Arbeiter klüger und besser, gerade weil sie Lebensbereiche berührten, „in welche der Staat mit seinen äußerlichen Machtmitteln nicht reicht“ 20 Der von Schulze-Delitzsch 1864 ins Leben gerufene Allgemeine Verband der auf Selbsthilfe beruhenden Deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften gewährte in diesem Sinne u a regelmäßig Schülerstipendien und half bei der Gründung

16 17 18 19 20

Heuss, Schulze-Delitzsch, S  26 Die politische, soziale und sittliche Bedeutung des Krieges Rede, gehalten am 2 September 1870 im Berliner Arbeiterverein, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd  4, S  664–672, hier S  666 Friedrich Wilhelm Raiffeisen, zit nach Birnstein/Schwikart, Raiffeisen – Schulze-Delitzsch, S  63 Hermann Schulze-Delitzsch, Die sociale Frage Aus zwei Vorlesungen am 18 März und 2 April 1869 in Berlin und Cöln, Berlin 1869, S  14 Hermann Schulze-Delitzsch, Die Stellung der höheren Gesellschaftsklassen zur sozialen Frage (1880), in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd  2, S  507–516, hier S  507 f

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

29

von Volksbibliotheken 21 Der Arzt William King, der als einer der Wegbereiter der englischen Genossenschaftsbewegung gelten muss, hatte bereits 1825 eine „Arbeiter-Fortbildungsschule“ ins Leben gerufen Er war mithin überzeugt: „Sobald die arbeitenden Klassen genügend gebildet sind, um sich zu Genossenschaften zu vereinigen, wird keine Macht der Welt sie davon abhalten können, es zu tun“ 22 Die Rochdale Society forderte daher von ihren Mitgliedern ausdrücklich: „Wendet Euere freie Zeit auf das sorgfältigste zu Eurer persönlichen Fortbildung an, wozu euch unsere Bibliothek und Lesezimmer die Mittel bieten “23 Zehn Prozent ihres jährlichen Reingewinns führte die Society für Bildungs- und Erziehungsaufgaben ab, 1850 errichtete sie eine Fortbildungsschule für Jugendliche und Erwachsene, der man 1878 wissenschaftliche Institute angliederte Der Stuttgarter Konsumverein von Pfeiffer gab sogar ein Achtel der jährlichen Überschüsse für Bildungszwecke aus – ebenso viel, wie den Reserven überwiesen wurde 4

Die Genossenschaften waren nach liberal-fortschrittlichen Prinzipien organisiert und verbanden dabei auf innovative Weise den Freiheits- und den Solidargedanken. Selbstverständlich: Schon immer haben sich Menschen jenseits von familiären Bindungen zur Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse zusammengeschlossen „Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der Assoziation“ 24 Vereinigungen von Handwerkern soll es schon vor tausenden von Jahren im altägyptischen Reich, in Babylon und in China gegeben haben Im antiken Griechenland existierten beispielsweise kultzentrierte Vereine (Begräbnisvereine) sowie anlassbezogene Versicherungs- und Kreditvereinigungen Die römischen Kollegien vereinten Handwerker und Kaufleute, aber auch Veteranen und Beamte Ähnlich wie in Griechenland besaßen Kultverbände eine besondere Relevanz Im Althochdeutschen war der ‚genoz‘ der am gemeinsamen Weidebesitz Beteiligte, die Viehhaltung eine Angelegenheit der ‚ginozcaf ‘ Das Mittelalter kannte für einige wenige Regionen sogenannte Marktgenossenschaften, in denen sich Bauern zusammentaten und ihren Besitz gemeinsam verwalteten Es gab Weide-, Wasser- und Waldkooperationen Die russische Dorfgemeinschaft, die Mir (russisch ‚мир‘) oder Obschtschina (‚община‘), teilte den gemeinschaftlich genutzten Grund und Boden periodisch unter ihren Mitgliedern um Vorformen des Artels (‚артель‘), also ein kooperativer Zusammenschluss zur Verfolgung eines gemeinsamen wirtschaftlichen Zieles, waren keine Seltenheit Darüber hinaus verteilten

21

Die Leistungen der Genossenschaften für Volksbildung, in: Blätter für das Genossenschaftswesen, 4 Juni 1880 William King, zit nach Koch, Der Genossenschaftsgedanke, S  53 f Zit nach Henry Faucherre, Umrisse einer genossenschaftlichen Ideengeschichte, I Teil, Basel 1925, S  45 Richard Sigmund Schultze, Die Selbsthülfe, ihre Entwicklung und Erfolge in den Genossenschaften, Greifswald 1867, S  5

22 23 24

30

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

Schöffengenossenschaften die mit der Rechtspflege verbundenen Aufgaben, erhoben Gebühren und leiteten die Bußen weiter Es existierten Bergwerk- oder Schifffahrtsvereinigungen In den europäischen Städten bestimmten Zünfte und Gilden das Leben, also Zusammenschlüsse von Berufsgruppen, die Rohstofflieferungen, Beschäftigungszahlen, Löhne, Preise und Absatzmengen regelten und sich durch Schwur zu gegenseitiger Hilfe bei äußeren Bedrohungen sowie zur Unterstützung bei Krankheiten, Sterbefällen und Verarmung verpflichteten Jedoch: Die einschlägigen Zusammenschlüsse der Vormoderne waren oft a bloße Vereine, die nicht primär wirtschaftliche Ziele verfolgten, sondern die Aufrechterhaltung ihres Vereinslebens zu finanzieren suchten (z B kultische Handlungen, Feiern, Bau von Vereinslokalen etc ) b obrigkeitlich kontrolliert und/oder von Zwang getragen Die Einzelnen konnten zumeist nicht entscheiden, ob sie einer Genossenschaft beitreten wollen oder nicht oder ob sie gleichzeitig mehreren Genossenschaften angehören möchten Gewerbemonopol und Gewerbepflicht, außerdem ein ganzheitlicher, auf das gesamte Leben der Mitglieder ausgerichteter Anspruch waren häufig genossenschaftliche Kennzeichen c Kurzzeitprojekte Diejenigen wirtschaftlichen Organisationen, deren Solidarität tatsächlich auf Gleichheit, Freiwilligkeit und Offenheit fußte, hatten für gewöhnlich keine lange Lebenszeit Das sich im 19 Jahrhundert herausbildende Muster der modernen Genossenschaft sah anders aus Sie war in erster Linie ein Wirtschaftsunternehmen Zwar adaptierte sie überkommene Prinzipien wie Selbstverantwortung, Gleichheit und Exklusivität, ihre Solidarität basierte aber zugleich in fundamentaler Weise auf Freiwilligkeit, Offenheit, Subsidiarität und Leistung Menschen schlossen sich aus freiem Willen und ökonomischen Gründen zu einer gemeinsam verantworteten Organisation zusammen Diese stellte im Regelfall nicht mehr ein multifunktionales Sozialgebilde dar, das alle Bereiche des menschlichen Daseins von Familie und Wohnen über Arbeit und Produktion bis hin zu politischem Handeln prägte, sondern prinzipiell eine Vereinigung zu wirtschaftlichen Zwecken, die jederzeit verlassen werden konnte Eine Zwangsmitgliedschaft widersprach dem genossenschaftlichen Prinzip in eklatanter Weise, und in Sachen Leistungsethos waren sich die frühen Genossenschafter ebenfalls einig: „Ohne gehörige Selbstzucht und Selbstbeherrschung kann es keiner auf einen dauerhaft grünen Zweig bringen “25 Äußere Hilfen lehnten sie grundsätzlich ab Dies betraf karitative Unterstützung ebenso wie staatliche Subventionen Jede unnötige Einmischung in wirtschaftliche Abläufe wurde energisch zurückgewiesen Der Staat sollte abseitsstehen und in erster Linie eine Kontrollfunktion ausüben Denn „das äußere Loos

25

Raiffeisen-Worte, S  35

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

31

des Menschen“ könne „niemals nach der gleichen Schablone für Alle, niemals nach einem bestimmten allgemeinen Durchschnitt äußerlich geregelt […] werden“ Jeder müsse sich „nach seiner Eigenart, je nach den Umständen, in denen er sich befindet“, entfalten dürfen Entscheidend sei ausschließlich „das Maß seiner Tüchtigkeit, seines Wollens und Könnens“ 26 Mit Blick auf Fremdhilfe machten Genossenschafter unmissverständlich klar: „Das Zuwarten, das Ausschauen nach dem sozialen Heiland hilft zu nichts, die Gesellschaft muß sich selbst dieser Heiland werden“ 27 Freiheit und Selbstverantwortlichkeit betrachteten sie als fundamental, weil – so meinten sie: „Nimmt man den Menschen die Sorge um die Existenz, so nimmt man ihnen zugleich die beste Freude, die Freude am eigenen Schaffen und an dessen Früchten; überhebt man sie der Verantwortlichkeit dafür, so beraubt man sie zugleich der Freiheit “ Das Schlechte gehöre eben zur Freiheit des Menschen, genauso wie die Möglichkeit, dieses zu korrigieren Mit der Inanspruchnahme äußerer Hilfe würde demnach die Büchse der Pandora geöffnet Die frühen Genossenschafter rechneten wegen der fehlenden Anreize mit sinkender wirtschaftlicher Produktivität, nachlassender Arbeitslust und sozialen Problemen Sodann sei eine gewaltige Verbürokratisierung die Folge, da ein umfassendes staatliches Kontrollsystem mit einem Heer von Beamten eingerichtet werden müsse Diese „(Sozialstaats-)Tyrannei bis in den Topf auf dem Herde, bis in das innere Heiligthum der Familie und des Hauses“ wollten Genossenschafter wie Schulze-Delitzsch mit aller Macht verhindern 28 So wichtig allerdings die Prinzipien von Selbstverantwortung und Wettbewerb genommen wurden, so klar waren sie auch mit dem marktökonomischen Einsatz des Gemeinschaftsgedankens verbunden Ohne Wohl der Gruppe kein Wohl des Einzelnen Das genossenschaftliche Wirtschaftsunternehmen bildete „ein Unternehmen höherer geschäftlicher Ordnung“, das auf dem einfachen Prinzip gründete: „Wo die Kraft des Einzelnen nicht ausreicht, tritt die Gesamtheit der Schicksalsverbundenen ein, um durch gemeinsame Bestätigung das zu erreichen, was dem Einzelnen zu gewinnen nach Lage der Dinge versagt bleiben muß“ 29 Anders als bei Aktiengesellschaften war nicht Geldvermehrung das primäre Ziel, sondern „den Erwerb und die Wirtschaft der Mitglieder zu fördern“ 30 Kapital sollte kein Selbstzweck sein, sondern Mittel zum Zweck Konsumgenossenschaft beispielsweise bedeutete, dass Konsumenten zu einem Verein zusam26 27 28 29 30

Schulze-Delitzsch, Die sociale Frage, S  17 Hermann Schulze-Delitzsch, zit nach Gerhard Albrecht, Schulze-Delitzschs Leben und Werk, in: Deutscher Genossenschaftsverband (Hg ), Schulze-Delitzsch 1808–1958 Festschrift zur 150 Wiederkehr seines Geburtstages, Wiesbaden 1959, S  13–84, hier S  45 Schulze-Delitzsch, Die sociale Frage, S  20 Karl Korthaus, Zeitbilder aus der Geschichte des deutschen Genossenschaftswesens, Berlin 1927, S  3 Korthaus, Zeitbilder, S  4 f

32

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

mentreten, „um durch gemeinsame Beauftragte und später auch besoldete Angestellte gemeinschaftlich einkaufen und produzieren zu lassen, was sonst der Einzelne [ungleich teurer] vom Händler oder Handwerker kaufte“ Der besseren Kontrolle wegen galt das Prinzip der Barzahlung Der gemeinschaftlich erzielte Gewinn fiel direkt an die Mitglieder  – aber nicht nach der Größe ihrer Kapitalanlage wie bei Aktiengesellschaften, sondern „nach Maßgabe der Mengen, die sie vom Verein beziehen“: „Je mehr man vom Konsumverein kauft, um so mehr erspart man, entweder durch bessere Waren und billigere Preise“ oder aber durch eine Rückvergütung am Jahresende,31 eine „Dividende im Verhältnis zum Einkauf “32 Die gewinnrationale Devise musste also lauten: Teilen „Statt egoistisch andere auszuschließen, ist hier der einzelne veranlaßt, sie teilnehmen zu lassen zu seinem eigenen Vorteil, ja ihnen den ganzen schon erreichten Vorteil in den Schoß zu werfen, damit der eigene Vorteil noch größer wird “33 Zusätzlichen Ansporn lieferte der Umstand, dass die Konsumgenossenschaft auch Spargenossenschaft war Die Mitglieder ließen ihre Rückvergütungen zum großen Teil als Geschäftsguthaben in der Genossenschaft weiterarbeiten; sie wurden verzinst und konnten leicht abgehoben werden Darüber hinaus war die Genossenschaft im Einklang mit liberalen Vorstellungen eine Personengesellschaft, in der die Mitglieder mit Hilfe der öffentlich tagenden Generalversammlung, dem obersten Willensorgan der Genossenschaften, die Richtlinien ihres Handelns inklusive der Wahl des Vorstandes selbst bestimmten Dabei hatte jeder – ob arm, ob reich – grundsätzlich bei Abstimmungen nur eine Stimme Wie schon bei vormodernen Vereinigungen galten für alle die gleichen Mitgliederrechte und -pflichten Die eigene Genossenschaft wurde anderen möglichen Wirtschaftspartnern vorgezogen Anders als in der Vormoderne sollte freilich eine Genossenschaft nur diejenigen wirtschaftlichen Funktionen übernehmen und für ihre Mitglieder ausüben, welche die Mitglieder allein nicht besser ausführen konnten Jedes Mitglied übernahm eine Haftungsmitverantwortung, sollte die Genossenschaft in Konkurs gehen Zugleich konnten nur Mitglieder ihre Leistungsangebote in Anspruch nehmen Mitglieder und Kunden hatten prinzipiell identisch zu sein, zudem waren alle Funktionäre ebenfalls Mitglieder, so dass „der Vorstand […] die Geschäfte nicht im Auftrage anonymer Kapitalisten [führte], sondern kraft Auftrages der Gesamtheit der Mitglieder “34 Die Mitgliederselektion war entsprechend streng Es galt der Grundsatz, dass „durch

31 32 33 34

Robert Wilbrandt, Die Bedeutung der Konsumgenossenschaften Vortrag auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß zu Hamburg, Pfingsten 1913 gehalten, Göttingen 1913, S  3 Sidney Webb, Die britische Genossenschaftsbewegung, Leipzig 1893, S 61 Wilbrandt, Die Bedeutung, S 3 Korthaus, Zeitbilder, S  5

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

33

eine Anzahl unfähiger Einzelner nie eine fähige Gesamtheit gebildet wird“ 35 Charakterlich labile oder zur Verschwendung neigende Personen sollten nicht in die Vereine aufgenommen, und selbst Angehörigen der Genossenschaften konnte etwa die Kreditgewährung verwehrt werden, wenn ihnen ein nicht einwandfreier Lebenswandel nachzuweisen war: Wenn jemand zu leichtsinnigem Schuldenmachen neigt, nicht haushälterisch ist, das Geld zu unnützen Ausgaben oder gar zur Frönung einer Leidenschaft verwendet, so darf ihm vom Vereine kein Geld dargeliehen werden, selbst wenn er den besten Bürgen stellen oder in sonstiger Weise die größte Sicherheit bieten könnte 36

Frauen konnten vielen Genossenschaften ohne Probleme beitreten Der Rochdale Society beispielsweise gehörten sowohl verheiratete als auch alleinstehende Frauen an, und ein Mann konnte „die auf den Namen der Frau bei der Genossenschaft stehenden Ersparnisse nicht ohne schriftliche Einwilligung der Frau abheben “ Etliche Genossenschaften ließen aber lediglich Männer zu Bisweilen konnte „ein weiblicher Familienvorstand […] wohl Mitglied werden, hat[te] aber keine Stimme“ in der Generalversammlung 37 Für Raiffeisen-Vereine galt dies noch nach dem Ersten Weltkrieg 38 Überhaupt war die rechtliche Stellung der deutschen Frauen eher schwach Das Gesetz sprach ihnen weder die freie Berufswahl noch die Verfügbarkeit über ihren Körper, ihr Vermögen oder ihren Verdienst zu Ein Eintritt in eine Genossenschaft war dementsprechend von der Zustimmung des Ehemannes abhängig, und in den Genossenschaften wurden Frauen zumeist nicht ernst genommen und stattdessen mit einem alltäglichen Sexismus konfrontiert Gerne schwadronierten die frühen Genossenschafter davon, dass Frauen „im Allgemeinen sehr die Geheimniskrämerei liebten“ und daher beispielsweise den Konsumvereinen „mit ihrer organisirten Controle“ fernblieben Bisweilen wurde ihre vermeintliche Distanz zu den Genossenschaften dadurch erklärt, dass sie „nicht viel außer schlechten Romanen“ läsen 39 Raiffeisen rechtfertigte ihre minderen Rechte „durch die Stellung der Frauen überhaupt, insbesondere aber dadurch, daß es sich hier um Geschäfte handelt, welche den Frauen fremd sind und außerhalb ihrer Sphäre liegen“ 40 Emmy Freundlich, eine der führenden österreichischen Konsumgenossenschafterinnen in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts, klagte noch 35 36 37 38 39 40

Hermann Schulze-Delitzsch, Capital zu einem deutschen Arbeiterkatechismus Sechs Vorträge vor dem Berliner Arbeiterverein, Leipzig 1863, S  124 Friedrich Wilhelm Raiffeisen, zit nach Birnstein/Schwikart, Raiffeisen – Schulze-Delitzsch, S  78 George Jacob Holyoake, Geschichte der Rochdaler Pioniere, Köln 1928, S  113 Carl Willibald Kaiser, Der praktische Raiffeisenmann Zwiegespräch über die landwirtschaftlichen Darlehenskassen-Vereine nach dem System Raiffeisen, 6 Aufl , Regensburg 1906, S  35 Die Frauen und die Consumvereine, in: Blätter für das Genossenschaftswesen 31 (1866) Zit nach Arnd Kluge, Frauen und Genossenschaften in Deutschland Von der Mitte des 19 Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Marburg 1992, S  24

34

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

in den 1920er-Jahren darüber, wie „beschämend“ es sei, „wenn wir sehen, wieviel […] noch fehlt, um uns das volle Bürgerecht innerhalb der Genossenschaftsbewegung zu geben “41 In etlichen Ländern existierten vor 1914 genossenschaftliche Frauengilden oder Frauenkommissionen „Von größerer Bedeutung waren diese Organisationen aber außer in Großbritannien“ nicht gewesen 42 Die seit 1883 bestehende englische Gilde, die nach 1918 über 1 000 Ortsgruppen und etwa 52 000 Mitglieder vereinte, agierte weitgehend unabhängig von der Gesamtbewegung Sie sollte „alle Interessen vertreten, welche die Frauen haben, auch die als Mutter und als Hausfrauen“, und dabei „ihre gesellschaftlichen Rechte und Pflichten neu gestalten“ Genossenschaftskongressen legte sie immer wieder Resolutionen vor, „die den Willen der Frauen zum Ausdruck bringen“ Außerdem verfügte sie über ein eigenes, sehr erfolgreiches Bildungswesen 43 5

Die Genossenschafter entwickelten ein positiv dialektisches Verhältnis zum Fortschritt. Sie glaubten an ihn – sie sahen seine Schwächen – sie wollten seine Schwächen bekämpfen, damit er sich zum Vorteil aller, nicht zuletzt auch der Minderprivilegierten, voll entfalten konnte Die Genossenschaften sollten den Zeitgeist in ihrem Sinne beeinflussen, das kapitalistische Wirtschaftssystem besser machen und auf diese Weise zur Einhegung sozialer Probleme beitragen Bezeichnenderweise hieß die Fachzeitschrift des Verbandes Hessischer Landwirtschaftlicher Kreditgenossenschaften Fortschritt Auf der einen Seite betrachteten die Genossenschafter ihre Gegenwart als die bestmögliche Für Eduard Pfeiffer beispielsweise stand außer Frage, „daß im großen Ganzen die staatliche Gesellschaft großartigen Gewinn aus den neuen Zuständen gezogen hat “44 Die vorindustriellen Zeiten als Vergleichsmaßstab heranziehend, stellte Raiffeisen klar: „Wir wollen uns die guten alten Zeiten nicht zurückwünschen Unsere Zeit ist ebenso gut, ja besser “45 Schulze-Delitzsch sprach vom „grossartigen Fortschritte der neuern Industrie“ 46 Auf der anderen Seite war der Unmut über die Begleiterscheinungen liberaler Entwicklungen, über die sozialen Probleme, die der Wegfall von Grundherrschaft, Zunftzwang und Niederlassungsbeschränkungen nach sich gezogen hatte, groß Die Fürsprecher der Genossenschaften stießen sich am schrankenlosen Manchesterkapitalismus und empörten sich über eine ungefilterte Ideologie des Ichs Für sie stand außer Frage, „daß der jetzige Zustand der arbeitenden Classen und ihr Verhältnis zu den soge-

41

Die Frau in der Genossenschaftsbewegung Mit dem Berichte von der 1 Internationalen Frauenkonferenz in Basel 1921, Gera 1921, S  6 Robert Schloesser, Die Frauenfrage in der Genossenschaftsbewegung, Düsseldorf 1922, S  36 Die Frau in der Genossenschaftsbewegung, S  10 Pfeiffer, Ueber Genossenschaftswesen, S  33 Zit nach Birnstein/Schwikart, Raiffeisen – Schulze-Delitzsch, S  63 Schulze-Delitzsch, Der Notstand, S  23

42 43 44 45 46

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

35

nannten besitzenden Classen eine schreiende Anklage gegen die Einrichtungen unseres Jahrhunderts bilden“ 47 Er genüge selbst „den bescheidensten Ansprüchen christlicher Civilisation […] nicht 48 Von daher war die Zukunftsangst der Genossenschafter gewaltig „Wie vulkanische Materie im Innern des Erdkörpers“, so gärte es aus ihrer Sicht „in den Tiefen der Gesellschaft“ 49 Ungeschminkt sprachen sie vom „völligen sozialen Schiffbruch in nicht ferner Zukunft […], wo im Kampfe um das nackte Leben der Bruder den Bruder von der rettenden Planke stößt, nur um sich selbst davon zu bringen “50 Vor diesem Hintergrund wollte die Genossenschaftsbewegung dem Fortschritt Genüge tun, indem sie ihn kanalisierte Die Genossenschaften sollten keinen Ersatz für das private Unternehmertum darstellen Ihnen war zugedacht, „den Arbeitern die Konkurrenz dem Kapital gegenüber erst möglich“ zu machen 51 Der Zusammenschluss in Genossenschaften sollte die weniger begünstigten Gruppen der Gesellschaft stärker machen und ihnen den Aufstieg zu Selbständigkeit und Wohlstand ermöglichen Als einfaches Handlungsprinzip galt: „was dem einzelnen nicht möglich ist, kann aber durch vereinte Kräfte erreicht werden “ Denn die Ursache aller Übel wurde – wie es Huber ausdrückte – „in dem Zustande eines Theils von atomistischer Isolirung“ gesehen 52 Aufgabe der Genossenschaften war es, den Einzelnen aus diesem Zustand holen, soweit ihm „die Freiheit der Isolirung verderblich geworden oder zu werden droht “53 Die Genossenschaft war damit nicht gegen den Individualitätsgedanken gerichtet, vielmehr sollte sie ihm zur vollen Entfaltung verhelfen und eine Brücke in den Kapitalismus bilden „Die Fundamente des wirtschaftlichen wie des Kulturlebens, die individuelle Freiheit und das Privateigentum“ würden „von den Genossenschaften nicht bloß respektiert, sondern dadurch erst recht gefestigt, dass sie bemüht sind, dieselben immer größeren Bevölkerungskreisen zugänglich zu machen“ 54 Ihre Fürsprecher sahen die Genossenschaft als ein Instrument zur Befreiung von den Zwängen, die aus der Abschaffung von Feudalsystem und Gewerbefreiheit resultierten und den Einzelnen daran hinderten, „sich selbst und der Gesellschaft das zu werden, was sie nach ihrer natürlichen Bestimmung sein sollen “ Die Genossenschaften hatten also Handwerker, Händler, Bauern oder Arbeiter aus ihrer minderprivilegierten Isolation im modernen Kapitalismus zu holen Kreditgenossenschaften sollten sie mit 47 48 49 50 51 52 53 54

Pfeiffer, Über Genossenschaftswesen, S  6 Huber, Sociale Fragen I, S  4 Schulze-Delitzsch, Der Notstand, S  9 Hermann Schulze-Delitzsch, Assoziationsbuch für deutsche Handwerker und Arbeiter, Leipzig 1853, S  3 f Hermann Schulze-Delitzsch, zit nach Albrecht, Schulze-Delitzschs Leben, S  47 Zit nach Hindelang, Konservativismus, S  203 f Ebenda, S  211 f Hermann Schulze-Delitzsch, zit nach Birnstein/Schwikart, Raiffeisen – Schulze-Delitzsch, S  36

36

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

billigen Krediten versorgen, Wohngenossenschaften günstigen und angenehmen Wohnraum, Konsumgenossenschaften erschwingliche Lebensmittel und Brennstoffe zur Verfügung stellen, Produktivgenossenschaften die Arbeiter selbst zu Unternehmern machen Übergreifende Absicht all dieser Maßnahmen war: Pflege der individuellen Entwicklung, leiblicher, intellectueller und sittlicher Tüchtigkeit der Einzelnen, Verbreitung von Einsicht und Thatkraft unter allen Schichten der Bevölkerung, Erweckung der schlummernden Kräfte, besonders in den gedrückten Klassen, um Antrieb wie Befähigung bei ihnen zu stärken, die Hebung ihres Looses in selbsteigene Hände zu nehmen 55

Nie ging es um Gleichheit für alle Sinnbildlich wandte sich z B Huber in seinen wohngenossenschaftlichen Überlegungen gegen Massenquartiere, gemeinsame Speiseräume oder Zentralküchen in Genossenschaftssiedlungen; die Abgeschlossenheit jedes Hauswesens war ihm besonders wichtig Die Genossenschaften wollten vornehmlich gleiche Bedingungen im sozioökonomischen Wettbewerb, sie wollten „die Möglichkeit voller Lebensentfaltung und Lebensbethätigung für Alle“:56 Es ging darum, das kapitalistische Wirtschaftssystem zu ergänzen, um mehr Menschen am Fortschritt teilhaben zu lassen Genossenschaftswesen und „Bauernbefreiung“, Genossenschaftswesen und Gewerbefreiheit  – dies gehörte zusammen Die Lösung der sozialen Frage bestand in organisierter Selbsthilfe Menschen sollten, soweit ihre Lage durch Veränderungen der Wirtschaftsbedingungen gefährdet war, unter Ausnutzung der in ihnen selbst wohnenden Kräfte und durch Ausgleich von Wettbewerbsnachteilen dazu befähigt werden, sich selbst zu behaupten 6

Die frühen Genossenschafter beschrieben unterschiedliche Alternativen zum herrschenden kapitalistischen System, vereint waren sie aber in ihrem Glauben an die Praxis und der konsequenten Ablehnung jeder revolutionären Umwälzung Vielen Genossenschaftern war es wichtig, den Menschen in einer Zeit des beschleunigten Umbruchs wieder Sicherheit durch die Orientierung an christlich-konservativen Werten zu geben Sie meinten einen allgemeinen Unmut über den Zeitgeist und ein großes „Bedürfnis nach organischer, nach korporativer Gliederung „festgestellt zu haben“57 Diesem wollten sie mit ihren Organisationen Genüge tun Ihr Credo war der überkonfessionelle Kampf „wider Gottlosigkeit und Umsturz“58, sie strebten nach (Wieder-)Herstellung gesellschaftlicher Ordnung Bei anderen

55 56 57

Schulze-Delitzsch, Die sociale Frage, S  16 Ebenda, S 15 Burghard von Schorlemer-Alst, Der katholische Adel Westfalens Gedanken über Gegenwart und Zukunft desselben, 1866, in: LVWLM, Archiv Herringhausen C 323 Ernst Ludwig von Gerlach, Kaiser und Papst, Berlin 1872, S  8 f

58

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

37

Genossenschaftern war demgegenüber die freiheitliche Grundierung unverkennbar Sie betrachteten die mit dem Fortschritt verbundenen Gefahren als „Wehen der Übergangsperiode“, während sie zugleich keinen Zweifel hegten, dass die sie auslösende wirtschaftliche Entwicklung bereits „die entscheidende Wendung zum Besseren“ enthalte 59 Dabei betonten sie, dass über die Genossenschaften „die wahre Versöhnung zwischen Arbeit und Kapital, die gerechte Verteilung der Früchte der Produktion zwischen beiden angebahnt“ werden sollte 60 Es ging darum, Gewalt und Klassenkampf zu verhindern und eine dienende Wirtschaft zu etablieren Es sollte eine bürgerliche Gesellschaft mit einem möglichst breiten und für Minderprivilegierte offenen Mittelstand entstehen, in der eine gesunde Verbindung von Individualismus und Gemeinschaft bestand Manche Genossenschaftsvordenker argumentierten stark demokratietheoretisch Gemäß dem klassisch liberalen Verständnis von Gesellschaft, das von unten nach oben dachte, verstanden sie die Erziehung in und durch Genossenschaften als Ausgangsstufe eines Systems allgemeiner Selbstregierung und Selbstverwaltung So strebten sie gerade deshalb die größtmögliche Beteiligung aller Mitglieder an den Beschlüssen der Genossenschaft an, weil sie diese als eine Art „Schule der Selbstverwaltung für Gemeinde und Staat“ betrachteten 61 Hier trafen sich ein Schulze-Delitzsch und britische Genossenschaftsvorstellungen, die davon ausgingen: Ehe wir aber eine vollkommen entwickelte Demokratie haben können, muß die gesamte Nation jene moralischen Eigenschaften besitzen, welche die Genossenschafter in den Stand gesetzt haben, die demokratische Selbstregierung in einen Teil des Gewerbes, des Handels und der Finanzen einzuführen […] Während sie ihr Gebiet bis an die äußersten Grenzen vervollständigen und ausdehnen, sollten die Genossenschafter mit aller Energie ihre Methoden und Erfahrungen in die Verwaltung des Kirchspiels, der Stadt, der Grafschaft und des Staates einführen 62

Andere Genossenschafter, vor allem im Umfeld der deutschen Konsumgenossenschaften, gaben sich materialistischer Sie wollten die Macht des Geldes dauerhaft brechen: Sobald die Arbeit zur Cooperation geschritten ist, hat das Capital ihr gegenüber seine Macht verloren, und bleibt sie nicht mehr der Unterthan dieses unbarmherzigen Herrschers, sondern umgekehrt wird sie es sein, die das Capital in ihren Dienst nimmt 63 59 60 61 62 63

Hermann Schulze-Delitzsch, zit nach Albrecht, Schulze-Delitzschs Leben, S  57 Schulze-Delitzsch, Der Notstand, S 60 Die Genossenschaft ist der Friede, 1873, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd  1, S  585–587 Webb, Die britische Genossenschaftsbewegung, S  209 Pfeiffer, Ueber Genossenschaftswesen, S  72

38

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

Eng damit verbunden war die Emanzipation der Arbeiterklasse, der „nicht nur volle Gleichberechtigung, sondern in Wahrheit auch gleiche Stellung mit den übrigen Theilen der Bevölkerung“ eingeräumt werden sollte 64 Zielvorstellung war eine Welt, in der „das Verhältniß der Menschen zu einander ein ganz anderes geworden ist“: Man weiß nichts mehr von einer Bevölkerung, die in zwei sich feindlich gegenüberstehende Classen getheilt ist Die Besitzenden und die Besitzlosen sind nicht mehr schroff voneinander getrennt, und die Gesellschaft nicht mehr gespalten in Ausbeuter und Ausgebeutete 65

Die Genossenschaften sollten also die Gesellschaft als Ganzes gerechter gestalten und der Wirtschaft ein anderes Antlitz geben Pfeiffer beispielsweise zielte in erster Linie auf die Arbeiterschaft, wollte aber die „gesellschaftliche Gleichstellung aller Menschen“66 und daher auch andere Bevölkerungsschichten in den Konsumgenossenschaften organisiert sehen: „Warum sollte in der That nicht jeder einer solchen Association beitreten, durch die er sich seine sämmtlichen Lebensbedürfnisse um 15–20 Proc billiger verschaffen kann, als bisher, und dabei sicher ist, stets nur die beste und reinste Ware zu erhalten?“ In volkswirtschaftlicher Hinsicht sah er den großen Vorteil, „daß die Distribution der Güter durch möglichst wenig Hände bewerkstelligt wird“ und daher kostengünstig sei 67 Außerdem könne im großen Stil eingespart werden, weil „alle Reclamen, die Marktschreierei, so vieles, was auf bloßes Blendwerk berechnet ist,“ wegfallen 68 Einig waren sich alle Genossenschafter darin, dass sie ein Langzeitprojekt betrieben und die praktische Arbeit stets wichtiger war als alle Theorie Sie wussten um die Unmöglichkeit, „mit einem Schlage alles Bestehende umzuwerfen, ganz neue Verhältnisse zu schaffen“ 69 Gerne räumten sie ein, dass „die wohltätige Wirkung der Vereine nur eine allmähliche sein kann“70 und ihre Konzepte stets an der Lebenspraxis der Menschen zu orientieren waren So verwundert es nicht, dass sich mit der Zeit oft mehrere Genossenschaftsformen vereinten und sich beispielsweise die Konsumgenossenschaften eigene Lagerräume, eine Bäckerei oder eine Fleischerei beschafften und die Spargelder ihrer Mitglieder u a zum Bau genossenschaftlicher Wohnungen nutzten 71 Auch die Raiffeisen-Organisationen waren weit mehr als bloße Kreditvereine für die Landwirtschaft Sie ent64 65 66 67 68 69 70 71

Pfeiffer, Ueber Genossenschaftswesen, S  191 Ebenda, S  192 Pfeiffer, Consumvereine, S  63 Pfeiffer, Ueber Genossenschaftswesen, S  155 Ebenda, S  156 Ebenda, S  70 Raiffeisen, Darlehenskassen-Vereine, 8 Aufl , S  26 Franz Staudinger, Die Konsumgenossenschaft, Leipzig 1908, S  20

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

39

wickelten sich „im Laufe der Zeit, durch die Bedürfnisse des Lebens gezwungen, zu allgemeineren Wirtschaftsgenossenschaften […], welche die Beschaffung beinahe sämmtlicher landwirtschaftlichen Betriebsmittel sowie auch den Verkauf von Wirthschaftserzeugnissen in die Hand“ nahmen “72 Darüber hinaus sahen die allermeisten Genossenschafter in ihren Organisationen kein Allheilmittel, sondern ein an praktischen Nöten orientiertes Alternativangebot Sicherlich träumten einige Konsumgenossenschafter von einer Umwandlung des Kapitalismus in ein gemeinwirtschaftliches System, das allein auf dem Genossenschaftsprinzip gründete Es waren aber vornehmlich die Gedankengebäude einzelner Intellektueller, in denen es kein privates Vermögen, keine wirtschaftliche Konkurrenz mehr gab und „nicht mehr die Krupps im Westen und die junkerlichen Gutsherrschaften im Osten [herrschen], sondern die vereinigten Konsumenten selber, also die Gesamtheit “73 Stattdessen warnte etwa Wilhelm Haas am Beginn des 20 Jahrhunderts eindrücklich: „Die Erfolge des Genossenschaftswesens dürfen keinen blinden ‚Genossenschaftsenthusiasmus‘ zeitigen, der da glaubt, es sei alles auf genossenschaftlichem Wege durchzusetzen und das Genossenschaftswesen müsse zum allgemeinen Volksbeglückungsmittel werden “74 Schulze-Delitzsch erkannte spätestens in den 1860er-Jahren, dass Genossenschaften nicht ausreichten, um die sozialen Konflikte der Zeit zu lösen Gerade deshalb forderte er zum großen Unmut nationalliberaler Sozialpolitik die uneingeschränkte Koalitionsfreiheit oder die rechtliche Aufwertung der Gewerkvereine – also einer Gewerkschaft, die sich auf wirtschaftsliberaler Grundlage um einen fairen Interessensaustausch zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bemühte Selbst Pfeiffer, der durchaus nach einer genossenschaftlichen Wirtschaftsordnung strebte, sah nicht „in den Genossenschaften allein das Allheil der sozialen Gesundung und Umgestaltung“ Die Konsumvereine waren ihm ein Mittel, „allerdings das vorzüglichste und grundlegendste Mittel“ 75 Kaum anders argumentierte nach dem Ersten Weltkrieg die österreichische Sozialdemokratin Emmy Freundlich: „Die gemeinwirtschaftliche Anstalt ist die notwendige Ergänzung der anderen demokratischen Wirtschaftsformen “76 Resümierend lässt sich also sagen, dass die Genossenschaftsidee Zwittercharakter besaß und gerade deshalb enormes Integrationspotential bot Sie war eng mit dem 72 73 74 75 76

Martin Faßbender, Anleitung zur Geschäfts- und Buchführung der Spar- und Darlehenskassen-Vereine (nach Raiffeisen’s System der Neuwieder Organisation), 7 Aufl , Neuwied 1896, Vorwort Wilbrandt, Die Bedeutung, S  10 Wilhelm Haas, zit nach Rudolf Maxeiner, Vertrauen in die eigene Kraft Wilhelm Haas: Sein Leben und Wirken, Wiesbaden 1976, S  95 Karl Bittel, Eduard Pfeiffer und die deutsche Konsumgenossenschaftsbewegung, München/Leipzig 1915, S  75 Emmy Freundlich, Wege zur Gemeinwirtschaft, Jena 1928, S  12

40

Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis

aufklärerischen Fortschrittsglauben und dem Liberalismus verbunden Liberale aller Richtungen drückten der Bewegung ihren Stempel auf Sie zielten auf Demokratisierung und eine klassenlose Gesellschaft und gaben sich dabei mal mehr, mal weniger entschieden Zugleich ist der Genossenschaftsgedanke aus konservativer Fortschrittskritik entstanden Er wurde maßgeblich von gläubigen Christen getragen, die einem ausgeprägten Ordnungsdenken anhingen und die Moderne nicht verdammten, aber im konservativen Sinn gestalten wollten Beide Gruppen einte ihr Eintreten für die Bildungsidee und die Ablehnung einer sozialen Revolution Prinzipiell bekannten sich sowohl Liberale als auch Konservative zu einem Organisationskonzept, das in neuartig gewinnrationaler Weise Solidarität auf den liberalen Prinzipien von Selbstverantwortung, Gleichheit, Freiwilligkeit, Offenheit, Subsidiarität und Leistung aufbaute Es zielte auf Chancengerechtigkeit und Teilhabe aller am Fortschritt Die Verpflichtung galt dabei dem Grundsatz: Theoretische Überlegungen sind wichtig, praktische Erfahrungen wichtiger

IV Ringen um Glaube und Gemeinwohl Am Anfang war die Genossenschaft Die Urgemeinde, die sich nach der Kreuzigung Christi in Jerusalem gegründet hatte, lebte laut Bibel in Gütergemeinschaft Die Feier des Abendmahls war nicht nur mit Lebensmittelspenden für bedürftige Mitglieder verbunden, sondern es galt auch das Prinzip der Solidarhaftung Jeder stand für jeden ein, arme Christen wurden aus dem Gemeinschaftsbesitz versorgt Wer Besitz und Vermögen nicht vollständig der Gemeinde überantwortete, wurde aus dieser ausgeschlossen Dieses Ideal der bedingungslosen Solidargemeinschaft, das die Erwartung an das endzeitliche Gottesvolk vorwegnehmen sollte, hat in der Geschichte des Christentums vielfältig nachgewirkt, etwa in Mönchsorden und Klostergemeinschaften Was hat diese christliche Perspektive auf die Schaffung von Gemeinwohl aber noch mit dem 19 Jahrhundert und der modernen Genossenschaftsidee zu tun? Die Säkularisierung, namentlich „die Entchristlichung“1 der Gesellschaft, schritt im 19 Jahrhundert deutlich voran Die Kirchen verloren gegenüber dem Staat massiv an Einfluss, wovon beispielsweise die Durchsetzung von Zivilehe und staatlicher Schulaufsicht zeugen Insbesondere im Bildungsbürgertum und in der Arbeiterschaft büßten beide christliche Konfessionen deutlich an Anziehungskraft ein Besonders stark war der Aderlass für die evangelischen Kirchen In Deutschland verloren sie im letzten Drittel des Jahrhunderts deutlich über 15 000 Mitglieder pro Jahr; vier von fünf Evangelischen gingen nicht mehr in die Kirche 2 „Die große Masse, welche den Glauben an die Ewigkeit verloren, der Religion und allem, was heilig ist, abgesagt hat“, wuchs dramatisch 3 Während aber die Zahl der Taufscheinchristen und bekennenden Atheisten stieg und sich liberale Theologen in verschiedenen europäischen Ländern für die strikte Trennung der Kirche vom Staat, einen hohen Laienanteil in kirchlichen Selbstverwaltungsgremien und die kirchliche Wiederverheiratung von Geschiedenen einsetzten, reüssierten in den Kirchen konservative Kräfte Sie konnten sich auf ein 1 2 3

Raiffeisen, Darlehenskassen-Vereine, 8 Aufl , S  32 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd  3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, 2 Aufl , München 2006, S  1178 f Raiffeisen-Worte, S  21

42

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

starkes Bedürfnis nach spiritueller Sinnsuche in unübersichtlichen Zeiten stützen Dies zeigte sich im Fall der katholischen Kirche im Aufschwung des Ultramontanismus (von „ultra montes“ = jenseits der Berge), d h einer strikten Orientierung an den Weisungen der päpstlichen Kurie, sowie einer prosperierenden Volksfrömmigkeit Wall- und Pilgerfahrten, Dorfumzüge und Heiligenfeste erfuhren einen enormen Zulauf Überall schossen katholische Vereine aus dem Boden Eine mit der Expansion der katholischen Volksfrömmigkeit vergleichbare Entwicklung hat es in den evangelischen Kirchen, in denen der König als Summepiskopus die oberste Gewalt innehatte und die deshalb eine besondere Staatsnähe aufwiesen, nicht gegeben Gleichwohl fanden sogenannte „Erweckungsbewegungen“ regen Zulauf, die in der Tradition der pietistischen Frömmigkeit die persönliche „Herzensbekehrung“ der Glaubenden fördern wollten und gegen den vermeintlich rational-liberalen Zeitgeist aufbegehrten Der Neupietismus war eine vielfältig gegliederte, internationale Bewegung, die für die Gründung zahlreicher Verlage, Zeitschriften, Bibelanstalten und Sozietäten verantwortlich war Sie zeigte große Aktivität bei der Missionierung im nicht-christlichen Ausland und versuchte in Europa u a durch Großveranstaltungen im Freien, Zelt- und Straßenmissionen sowie eine aktive Jugendarbeit einer religiösen Renaissance Vorschub zu leisten Die Spannungen zwischen den beiden Konfessionen waren groß In besonderer Weise galt dies für den Deutschen Bund und noch mehr für das spätere Deutsche Kaiserreich, wo etwa 63 Prozent der Bevölkerung der evangelischen, etwa 35 Prozent der katholischen Konfession angehörten Zum einen grassierte ein ausgeprägter Nationalprotestantismus, der mit der Gründung des deutschen Kaiserreichs „das heilige evangelische Reich deutscher Nation“ geschaffen sah 4 Zum anderen förderte die deutsche Einheit die Abschottungstendenz der katholischen Sozialmilieus, die mit ihren Bräuchen und Festen, ihren Vereinen und Zeitungen, der starken Position von Geistlichen und lokalen Adeligen einen eigenen Kosmos bildeten Insbesondere in ländlichen Gegenden wurden Kontakte zu Evangelischen gemieden, gemischtkonfessionelle Ehen bildeten eine Seltenheit Darüber hinaus paarte sich der Konflikt zwischen säkularem Staat und kirchlichem Autoritätsanspruch nach 1870/71 mit den Ängsten der Regierenden vor der neu gegründeten Zentrumspartei, die als Repräsentanz des politischen Katholizismus vermeintlich international operierte und wegen ihrer sozialen Zusammensetzung zugleich als erste Volkspartei betrachtet werden konnte Im sogenannten „Kulturkampf “ eskalierte er Die einschlägige Gesetzgebung wurde zusehends rigider In Preußen beispielsweise unterstellte der Staat alle öffentlichen und privaten Erziehungsanstalten seiner Aufsicht, kirchliche Angelegenheiten sollten an einem könig4

Adolf Stoecker, zit nach: Hans-Georg Aschoff, Protestantismus und Staat im 19 und 20 Jahrhundert, in: Günther Rüther (Hg ), Geschichte der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Bewegungen in Deutschland Grundlagen, Unterrichtsmodelle, Quellen und Arbeitshilfen für die politische Bildung Teil 1, Bonn 1984, S  57–92, hier S  67

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

43

lichen Gerichtshof verhandelt werden Geistliche durften sich öffentlich nicht mehr politisch äußern Ihre Ausbildung wurde staatlich kontrolliert, kirchliche Publikationen sollten dem Staat vorab vorgelegt, Konvikte und „Knabenseminare“ abgeschafft werden Der sowohl für die Erziehung junger Katholiken als auch für die Missionierungsarbeit so bedeutsame Jesuitenorden wurde verboten Wenn solche Gesetze nicht befolgt wurden, konnte der preußische Staat das Vermögen einer Pfarrei beschlagnahmen; die Sitze der Widerstand leistenden Bischöfe wurden für vakant erklärt Wer dennoch nicht nachgab, wurde gefangen gesetzt, ein staatlicher Kommissär konnte die Verwaltung des Bistums übernehmen Schließlich stellte der Staat sämtliche Zahlungen an die katholische Kirche ein, alle Orden – mit Ausnahme der krankenpflegerischen – sollten aufgelöst werden So hart die staatlichen Maßnahmen ausfielen, so ausgeprägt war das Resistenzverhalten der katholischen Bevölkerung Die Bischöfe gaben sich derart widerspenstig, dass 1876 in Preußen kein einziger Bischofssitz mehr besetzt war  1880 waren dort mehr als tausend katholische Pfarreien vakant Die Katholikinnen und Katholiken zeigten auf breiter Front zivilen Ungehorsam: Es wurden Spenden für verfolgte Priester gesammelt oder Verstecke angeboten Es fanden geheime Messen ohne Glockengeläut statt, verurteilte Geistliche wurden demonstrativ bis zum Gefängnistor begleitet Bei öffentlichen Auktionen ersteigerten Gemeindemitglieder verpfändetes Mobiliar von Geistlichen und gaben es postwendend an diese zurück Nicht zuletzt machte die katholische Bevölkerung das Zentrum zur stärksten Fraktion im Reichstag Die Regierenden hatten anzuerkennen, dass die Kulturkampfgesetzgebung revidiert werden musste Vor dieser Kulisse stand die Genossenschaftsidee in exemplarischer Weise für das in-between, für das markante Spannungsverhältnis von Säkularisierung und religiösem Aufschwung Gemäß liberal-fortschrittlichen Vorstellungen war bei vielen Genossenschaftern das Bemühen groß, sich von der Religion zu distanzieren Schulze-Delitzsch oder Wilhelm Haas beispielsweise wollten von „alle[n] theologischen Nebengedanken“ nichts wissen 5 Ein Genossenschaftskongress in London hatte schon 1832 den Beschluss gefasst, „daß die Genossenschafter als solche nicht mit irgendwelchen religiösen, antireligiösen oder politischen Anschauungen zu identifizieren sind“ 6 In der Folge verpflichtete sich etwa die Rochdale Society ausdrücklich zu weltanschaulicher Neutralität Sie fragte „erstens nicht nach dem […] religiösen Bekenntnis der Mitgliedscandidaten“ und zweitens ließ sie „in den Beschlüssen oder deren Ausführung“ nichts zu, „was […] eine Bevorzugung des einen oder anderen religiösen Bekenntnisses […] sein könnte “7 George Jacob Holyoake, einer der wichtigsten Propagandisten der Roch5 6 7

Hermann Schulze-Delitzsch, Sociale Rechte und Pflichten Vortrag, gehalten am 14 Februar 1866 in Berlin, Berlin 1866, S  10 Schloesser, Holyoakes Geschichte, S  79 Ebenda, S 272

44

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

daler Pioniere und u a Gründer der wegweisenden Zeitschrift The Co-Operator, war sogar der letzte Engländer, der wegen des Meinungsdelikts Atheismus eine Gefängnisstrafe verbüßen musste Das Gemeinwohl spielte für die Überlegungen säkularer Genossenschafter eine große Rolle Immer wieder betonten sie die Pflicht, sich für seine Sache stark zu machen Dies ergab sich aus ihrer liberal-aufklärerischen Weltsicht und stand in Wechselwirkung mit der Förderung des Einzelnen Schulze-Delitzsch etwa stellte heraus: Das Einzelleben […] mit seiner Besonderheit im Wollen und Können […] und das Gesellschaftsleben […] mit seiner Ordnung der Gesamtbeziehungen aller zueinander – sie bedingen einander, sind aufeinander angewiesen, keines kann ohne das andere irgend zur Entfaltung gelangen 8

Gemeinschaft hatte aus liberaler Sicht folglich in dem Sinne einen Nutzen, dass sie „die Bedingungen für die individuelle Entwicklung der Einzelnen bot“: Sie ermöglichte prinzipiell „Theilung und Combination“ von Arbeit und damit dem Individuum, „zur vollständigen Befriedigung [seiner] physischen und geistigen Bedürfnisse zu gelangen“ Je besser sich das Individuum entfalten könne, desto günstiger wirke sich dies auf den allgemeinen Wohlstand aus Von diesem profitierten wiederum die Einzelnen Empfingen sie doch aus den intellektuellen und materiellen Errungenschaften einer Zeit das Rüstzeug für ihr individuelles Schaffen Das säkular-liberale Gemeinwohlverständnis war also utilitaristisch: Es ging davon aus, dass es ökonomische Missstände gab, welche die Freiheit des Individuums beschnitten und daher u a mit Hilfe der Genossenschaften beseitigt werden mussten Mit ihrem Einsatz taten die Genossenschaften der Chancengleichheit und damit dem Gemeinwohl Genüge War die Freiheit der Einzelnen wiederhergestellt, war ihre Aufgabe erledigt und sie konnten z B in Aktiengesellschaften umgewandelt werden Die christliche Botschaft verwendeten säkular-liberale Genossenschafter entsprechend ebenso funktionalistisch wie selektiv Sie sollte helfen, wirtschaftsliberale Überzeugungen zu fundieren Selbstverständlich attestierte z B Schulze-Delitzsch den Genossenschaften einen höheren Zweck, mit ihnen wollte er die Welt besser machen Sie sollten eben in der Weise zur Lösung der sozialen Frage beitragen, als jedem Menschen Teilhabe am Fortschritt ermöglicht werde Dies sah er als zutiefst christlich an Denn in der Vorstellung, dass allen alles gleich zugänglich sein sollte, erkannte er die zentrale Botschaft des christlichen Glaubens Vom „Kirchenthum“ distanzierte er sich „Gerade die christliche Kirche“ sei es gewesen, „die im Laufe der Zeit durch weltliche Macht und Reichthum von ihrer ursprünglichen Sendung abgelenkt, sich in Unterdrückung jenes christlichen Urgedankens am eifrigsten zeigte “ Dem Klerus attestierte er Kastendenken, den Kern des Christentums, den Erlöserglauben, lehnte er ab Er

8

Hermann Schulze-Delitzsch, zit nach Albrecht, Schulze-Delitzschs Leben, S  46

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

45

forderte die Menschen auf, nicht zu einem Messias aufzuschauen, „der da kommen soll, die Geschichte der Menschheit zu vollenden“ Stattdessen sollten sie sich „selbst erlösen“ und die Dinge eigenverantwortlich zum Besseren führen 9 Es nimmt daher nicht wunder, dass sich etliche Genossenschafter im „Kulturkampf “ nicht nur klar an der Seite des Staates positionierten, sondern sich dabei auch kaum weniger ideologisch als katholische Fundamentalisten gaben Während jene den finalen Kampf zwischen „christliche[r] Cultur […] und Barbarei“,10 zwischen der Kirche und den „Mächte[n] der Finsterniß“11 propagierten, forderte etwa Schulze-Delitzsch eine „rücksichtslose Bekämpfung des Ultramontanismus“12 Er berief sich dabei auf die germanische Göttersage: Die Kampfhelden, die gefallen, sitzen in Odins Saale, trinken den Met, den die Walküren ihnen kredenzen in mächtigen Hörnern, und warten des großen Weltkampfes, der da kommen soll, um sich aufzuraffen und in den Kampf zu ziehen

So sollte mit „Helden des Geistes“ wie Luther oder Lessing gegen „die Mächte der Finsternis“ gekämpft werden Versammelt sah Schulze-Delitzsch diese „im vatikanischen Rom“,13 die „geistige Knechtung der Menschheit durch die römische Priesterherrschaft“ betrachtete er als eine ihrer größten Geißeln 14 Die Kulturkampfgesetzgebung fand konsequenterweise bei ihm große Zustimmung Schulze-Delitzsch selbst sprach vor dem Reichstag für das Verbot des Jesuitenordens, wobei ihm die Regierungsvorlage nicht hart genug erschien 15 Zwei Winzergenossenschaften im Ahrtal, die sich 1873 vor dem Hintergrund des „Kulturkampfes“ weigerten, seine Blätter für Genossenschaftswesen als Verbandsorgan zu behalten, sanktionierte Schulze-Delitzsch

9 10 11 12 13 14 15

Das liberum veto in der Politik und im Genossenschaftswesen Tischrede, gehalten auf dem Verbandstage der schlesischen Kreditgenossenschaften in Neiße am 19 Mai 1869, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd  1, S  573–575, hier S  575 Friedrich von Praschma, in: Verhandlungen der Generalversammlung der katholischen Vereine/ der Katholiken Deutschlands 1848 bis 1890, hier 1876, S  66 Edmund von Radziwill, Die kirchliche Autorität und das moderne Bewusstsein, Breslau 1872, S  394 u  508 Brief an Unbekannt vom 31 Oktober 1872, zit nach Aldenhoff, Schulze-Delitzsch, S  233 Die Mitarbeit an den geistigen Kämpfen der Gegenwart Rede, gehalten am Festmahle des Genossenschaftstages zu Breslau, 17 August 1872, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd  4, S  767–769, hier S  768 Deutschland und Frankreich nach dem Friedensschluß Vortrag, gehalten in der Gemeinnützigen Gesellschaft zu Leipzig, 8 Januar 1874, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd   4, S   773–780, hier S  779 Das Gesetz gegen die Jesuiten von 1872 Rede in der Sitzung des Deutschen Reichstages 14 Juni 1872, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd  4, S  760–763, hier S  763

46

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

demgemäß streng Er sprach von einer „wirkliche[n] Kriegserklärung des Ultramontanismus“ und setzte ihren Ausschluss durch 16 Dies war die eine Seite So eng die Genossenschaftsidee allerdings mit einem säkularen Liberalismus verbunden war, so bedeutsam war auch das Leitbild, das von christlich-konservativen Überzeugungstätern gezeichnet wurde Es setzte sich eine der Vormoderne entstammende Traditionslinie fort Denn zwei wichtige Ahnen der Genossenschaftsidee sind einem freikirchlichem Umfeld, namentlich den Quäkern zuzuordnen: Der Holländer Peter Cornelius Plockhoy propagierte 1659 in seiner Schrift „Vorschlag eines Weges, die Armen dieser und anderer Nationen glücklich zu machen“ den freiwilligen Zusammenschluss von Mennonitenfamilien in Wohn-, Arbeits- und Konsumgemeinschaften  1696 veröffentliche der Engländer John Bellers das Konzept der „Colledges of Industry“, die als Verbund von Produktiv- und Konsumgenossenschaften innerhalb sich selbst erhaltender Siedlungen gedacht waren Auch gehörten etwa 40 Prozent der ersten Rochdaler Pioniere einer örtlichen methodistisch-unitarischen Gemeinde an17, der führende Quäker Rochdales „war der stets bereitwillige und tatkräftige Verteidiger der Genossenschaftssache im Parlament“18 Genossenschaftsgründern des 19 Jahrhunderts wie William King, Thomas Hughes, Edward Vansittart Neale oder John Ludlow war die christliche Ausrichtung ihrer Organisation fundamental wichtig Sie betrachteten das Prinzip der gemeinsamen Selbsthilfe als Verwirklichung christlicher Nächstenliebe und wollten „im höchsten Grade der Religion und Moralität“ […] dienen“ 19 In Deutschland fühlte sich z B Huber ausdrücklich der inneren Mission verpflichtet, wobei er darunter im pietistischen Sinne „alle solche Maaßregeln und Anstalten [verstand], die zur Förderung der allgemeinen Wohlfahrt des Volks und besonders zur Hebung der untern Klassen beitragen können“ 20 Innere Mission und Genossenschaft gehörten aus seiner Sicht untrennbar zusammen:

16 17 18 19

20

Der Ausschluss der Winzervereine Mayschoß und Walporzheim aus dem Allgemeinen Genossenschaftsverbande und die ultramontane Presse, 1873, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd   1, S  590–596, hier S  590 Markus Elsässer, Die Rochdaler Pioniere Religiöse Einflüsse in ihrer Bedeutung für die Entstehung der Rochdaler Pioniergenossenschaft von 1844, Berlin 1982, S  88 Holyoake, Geschichte, S  287 William King, zit nach Helmut Faust, Ethik in der Genossenschaft, in: Gerhard Weisser (Hg ), Genossenschaften und Genossenschaftsforschung Strukturelle und ablaufanalytische, historische und systematische Aspekte der Genossenschaften des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts: Festschrift zum 65 Geburtstag von Georg Draheim, 2 Aufl , Göttingen 1971, S  21–41, hier S  24 Viktor Aimé Huber, Sociale Fragen III: Die innere Mission, Nordhausen 1864, S  23

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

47

die innere Mission ohne Assoziation […] krankt an einem falschen Spiritualismus; ihr fehlt das materielle Substrat, sie steht in der Luft und ackert im Flugsande Der Assoziation ohne innere Mission fehlt das Salz, der Geist, der sie allein vor sittlicher Fäulnis bewahren kann 21

Raiffeisen stand ebenfalls dem Pietismus nahe und befand sich als solcher in der Tradition des elsässischen Pfarrers Johann Friedrich Oberlin ( Jean-Frédéric Oberlin), der nicht nur als einer der Väter des Kindergartens gelten kann, sondern bereits am Ende des 18 Jahrhunderts eine Darlehenskasse ins Leben gerufen hatte Die Bezüge zur pietistischen Rettungshausbewegung, die z B mit den Namen Amalie von Sieverking, Gustav Werner, Johann Hinrich Wichern oder Friedrich von Bodelschwingh verbunden ist, lagen auf der Hand Als Leitspruch für seine Genossenschaften nannte Raiffeisen das Jesuswort „Habt ihr die Hungrigen gespeist, die Durstigen getränket, die Kranken und Gefangenen besucht? Was ihr getan habt einem dieser meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan “22 Anders als die Säkular-Liberalen stellten ihre christlich geprägten Aktivisten heraus, dass Genossenschaften lediglich in zweiter Linie ökonomische Ziele verfolgten An erster Stelle stand die Erziehung zu besseren, weil gottgefälligeren Menschen Das Genossenschaftsprojekt sollte auf materiellen Aufschwung, aber mehr noch auf den sittlich-moralischen Wandel der Gesellschaft abheben Das Bestreben galt einer Reform des kapitalistischen Systems im Sinne des christlichen Menschenbildes: Laut christlicher Vorstellung war der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen und damit eine Person, d h Individuum, Du- und Wir-Wesen, einmalig und zugleich kraft seiner Gottähnlichkeit als Partner Gottes zum Einsatz für den Nächsten und zur Verantwortung für die Welt berufen Als seinen zentralen Wesenszug sahen gläubige Christen also das Zusammenkommen von Individualität und Sozialtrieb, weshalb der Mensch die Freiheit zur Selbstbestimmung besaß und zugleich zu deren vollständiger Entwicklung die Gemeinschaft benötigte Die Sorge um das Gemeinwohl musste daher als wesentliche Aufgabe des Christenmenschen angesehen werden Christlich-konservative Genossenschafter glaubten, dass alle Menschen „als Kinder eines himmlischen Vaters […] eine große Familie“ bildeten Von daher war es ihnen Pflicht, „nicht allein für sich und die eigenen Angehörigen zu sorgen, sondern auch der Nebenmenschen zu gedenken“ 23 Wer nicht solidarisch handelte, verriet den Menschen als Person und damit Gottes Gebot Aber umgekehrt galt auch: Wer Gott vernachlässigte, attackierte die personale Würde des Menschen und schädigte das Gemeinschaftsleben

21 22 23

Zit nach Faust, Huber, S  44 f Raiffeisen-Worte, S  11 Raiffeisen, Gedanken, in: Koch, Statuten, Dokumente und Schriftwechsel mit den Behörden, S  79

48

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

Gemeinwohl wurde grundsätzlich ähnlich wie bei den Säkular-Liberalen verstanden als „Inbegriff alles dessen, was an Voraussetzungen, Vorbedingungen oder Veranstaltungen in einem Gemeinwesen verwirklicht sein muß“, damit die Einzelnen uneingeschränkt frei sein konnten 24 Genau wie die Säkular-Liberalen hielten die Christlich-Konservativen das Subsidiaritätsprinzip hoch: Keineswegs musste das Handeln unmittelbar an den Erfordernissen des Gemeinwohls ausgerichtet werden, denn seiner Sache „ist im allgemeinen dann am besten gedient, wenn [die Menschen] ihre eigenen Interessen in Selbstbestimmung und Eigenkraft wahrzunehmen vermögen, ohne die Interessen anderer Gesellschaftsglieder zu schädigen “25 Erst wo dies nicht gewährleistet war, bedurfte es der äußeren Hilfe Zu den Ähnlichkeiten mit den Gemeinwohlvorstellungen der Säkular-Liberalen kam aber der entscheidende Unterschied: Die Christlich-Konservativen dachten stets von Gott aus Für sie konnte es kein Gemeinwohl ohne eine gottgefällige Haltung geben Wer sich glaubhaft für Andere einsetzte, musste sich auch für den christlichen Glauben und seine Wertvorstellungen stark machen Auch war die freie Selbstentfaltung des Einzelnen kein Selbstzweck, sondern Verpflichtung, Gottes Gebot zu folgen Und das Subsidiaritätsprinzip stellte primär kein sinnvolles wirtschaftliches Instrument dar, sondern ein gottgegebenes Prinzip Denn Christlich-Konservative verstanden die Gesellschaft als Organismus Der Mensch lebte für sie in Gruppen  – in Familien, in Betrieben, in Kommunen, in Ländern, im Staat Diese Organe des Gesellschaftskörpers hätten ihre verschiedene, aber gleichermaßen wichtige Aufgabe Alle hätten zum einen für das Wohl der ihnen angeschlossenen Menschen und zum anderen für das der jeweils kleineren Gesellschaftseinheiten zu sorgen Wenn eines sich nicht mehr aus eigener Kraft helfen konnte, hatte das übergeordnet verantwortliche Organ ihm beizustehen Auf diese Weise sei das Wohl des gesamten Gesellschaftskörpers garantiert Wenn ein Organ seiner Aufgabe nicht nachkam, brach folglich aus christlich-konservativer Sicht der ganze Organismus zusammen Die Verpflichtung aller Organe, einschließlich des Staates, hatte dabei Gott als ihrem Schöpfer und Rechtsspender zu gelten Denn: „In Gott und Christus ist Einheit, Ordnung und organischer Lebensgedanke grundgelegt, ohne Christus aber ist Zerfall, Unordnung, Auseinanderstreben “26 Die Problemanalyse der christlich-konservativen Genossenschafter unterschied sich folglich grundlegend von jener der säkular-liberalen: Da die Einzelnen und das Ganze nach ihrer Auffassung nicht getrennt werden können, begriffen sie gesellschaftliche Fehlentwicklungen als „Aufhäufung und Zusammenballung vieler personaler Sün-

24 25 26

Oswald von Nell-Breuning/Hermann Sacher, Wörterbuch der Politik Heft 1: Zur christlichen Gesellschaftslehre, Freiburg i B  1954, S  55 Johannes Messner, Das Naturrecht, 1969, zit nach Martin Beihofer, Die katholische Soziallehre und die modernen Genossenschaften, Konstanz 1962, S  54 Ludwig Lenhart, Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler, Kevelaer 1937, S  52

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

49

den“ 27 Schuldenprobleme, Wucherhandel etc waren in Konsequenz „nur die äußeren Symptome“, die tiefere Ursache der sozialen Missstände sahen Christlich-Konservative in der fortschreitenden Säkularisierung Sie nähre Konsum- und Luxusdenken und lasse den Geist der Selbstsucht über das Gemeinwohlstreben triumphieren Die Menschen seien zu bequemlich, träge und vergnügungssüchtig geworden, Genuss bedeute ihnen mehr als Arbeit, sie dächten zu viel an „unnütze Hausgeräte“ und „Kleiderflitter“ Sie sparten zu wenig, sie zeigten sich zu oft misstrauisch, neidisch und unzufrieden Sie kümmerten sich zu sehr um sich selbst und zu wenig um ihre Mitmenschen Sie seien zu stark von Gott abgefallen und hätten „dem gefährlichsten Feinde“ die Tür geöffnet: „dem in uns befindlichen, bis zu einem gewissen Grade berechtigten, aber so leicht in Selbstsucht ausartenden Egoismus“ Die Selbstsucht sei der Grund, weshalb der zahlreichste, wichtigste und faktisch mächtigste Theil der Gesellschaft, die Arbeiterklasse leider vielfach und als Mittel zum Zwecke, als Maschinen benutzt, daß die Menschenwürde in ihr nicht mehr geachtet, […] daß sie immer mehr von der übrigen Gesellschaft losgerissen, daß sie immer mehr isoliert […], daß in ihr gegen die besitzende Klasse eine Erbitterung, ja Haß und Feindschaft erzeugt werde 28

Die Botschaft der christlich-konservativen Genossenschafter war also klar: Erst wenn die Selbstsucht besiegt werde, wenn die Menschen sich wieder an Gott und seinen Geboten orientieren, könne die Welt wieder gesunden Angesichts einer solchen Sicht auf die großen sozioökonomischen Herausforderungen der Zeit überrascht es wenig, dass sich unter den christlich-konservativen Genossenschaftsvordenkern auch katholische Sozialpolitiker wie etwa der spätere Reichskanzler Georg von Hertling oder Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler befanden Es erscheint nur konsequent, dass sich die Zentrumspartei und vor allem besonders glaubenstreue Adelige immer wieder für den genossenschaftlichen Gedanken stark machten Hatte z B Bischof Ketteler schon 1873 die Förderung „genossenschaftlich[er] Verbindungen zum Zweck einer Reorganisation des Arbeiter- und Handwerkerstandes“ gefordert,29 so brachte am 19 März 1877 sein Neffe, der oldenburgische Zentrumsabgeordnete Ferdinand von Galen, einen berühmt gewordenen sozialpolitischen Antrag auf „Wiederanerkennung der Prinzipien des Christenthums auf wirtschaftlichem Gebiet“ in den Reichstag ein, der u a forderte, Handwerker und Fabrikarbeiter sollten sich zu Genossenschaften zusammenschließen Besonders auch die differenzierte Haltung zur staatlichen Sozialpolitik verband die Vorkämpfer des Genossenschaftswesens und der katholischen Soziallehre Prinzipiell sahen sie staatlichen Interventionismus genauso kritisch wie die Säkular-Liberalen: „Von oben herab 27 28 29

Anton Rauscher (Hg ), Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin 2008, S  12 f Denkschrift Raiffeisen, in: Koch, Statuten, Dokumente und Schriftwechsel, S  191 Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Die Katholiken im Deutschen Reiche Entwurf zu einem politischen Programm, Mainz 1873, S  79 ff

50

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

läßt sich hier nichts curiren Wer bauen will, muß von unten anfangen “30 Die Christlich-Konservativen verabsolutierten diese Haltung jedoch nicht Handlungsleitend war für sie eben die Überzeugung, dass die soziale Frage vor allem „auch eine Seelenfrage“ war Bischof Ketteler etwa hatte 1848 „Die großen sozialen Fragen der Gegenwart“ klar beschrieben, die sozialen Verwerfungen allerdings im Wesentlichen auf eine weitgehende Abkehr der modernen Gesellschaften vom Christentum zurückgeführt: Nicht in der äußeren Not liegt unser soziales Elend, sondern in der inneren Gesinnung […] Ich fürchte nicht die sozialen Übel, denn ich weiß, daß […] die Lehre, das Leben und die Gnade Christi stark genug ist, um […] alle Thränen bis in das letzte Kämmerlein hinein zu trocknen, ich fürchte nur die Gottlosigkeit, die Ungläubigkeit, die Unchristlichkeit 31

Der Linderung sozialer Probleme sollten einstweilen karitative Maßnahmen, insbesondere im Rahmen kirchlicher Vereinsarbeit – Sammlung von Kleidung und Nahrung, Einrichtung von Unterstützungskassen, Bau von Kinderheimen und Bibliotheken, Betrieb von Suppenküchen und Abendschulen –, dienlich sein Bald schienen die Belastungen des Arbeiterstandes jedoch zu groß und gemäß dem Subsidiaritätsgedanken sahen katholische Soziallehre und Genossenschaftstheorie den Staatskörper in der Fürsorgepflicht für seine bedrängten Glieder (Sozial-)Politische Maßnahmen schienen notwendig und sinnvoll, jedoch durfte das Materielle den ethisch-sittlichen Aspekt nicht überragen Entsprechend betonten christlich-konservative Genossenschafter, dass der Staat als natürlicher Hüter des Gemeinwohls da leitend und ausgleichend einzugreifen hatte, wo das Recht des Einzelnen auf ein Leben in Freiheit, Würde und Gesundheit gefährdet war 32 Jeder sollte sich aber bewusst sein, dass eine materielle Besserstellung der Minderprivilegierten allein nicht ausreichte: alle nur denkbaren wirthschaftlichen und politischen Maßregeln würden eine dauernde und fundamentale Änderung der thatsächlichen socialen Misere nicht zu bewirken vermögen, wenn sie nicht begleitet werden von einer moralischen Hebung der Bevölkerung in allen Klassen 33

Es war klar: „Die Gottlosigkeit des Capitals […] muß gebrochen werden Sie ist ein Verbrechen am Arbeiterstande und eine Entwürdigung desselben“ Aber nicht minder dringend erschien: „die Gottlosigkeit der Arbeiter muß vermieden werden “34

30 31 32 33 34

Pfeiffer, Ueber das Genossenschaftswesen, S  41 Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Die großen socialen Fragen der Gegenwart Sechs Predigten gehalten im hohen Dom zu Mainz, Mainz 1849, S  34 Georg von Hertling, Naturrecht und Socialpolitik, Köln 1893, S  254 Gruben, 1883, zit nach: Heinz Wilfried, Franz Joseph Freiherr von Gruben Ein Beitrag zur politischen Geschichte des deutschen Katholizismus, Würzburg 1953, S  67 Ketteler auf der Liebfrauenheide, 25 Juli 1869, zit nach: Karl Brehmer, Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877) Arbeiterbischof und Sozialethiker: Auf den Spuren einer zeitlosen Modernität, Regensburg 2009, S  121

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

51

In Anbetracht dessen sahen die christlich-konservativen Genossenschafter „nur ein Mittel, die sozialen und besonders auch die wirtschaftlichen Zustände zu bessern, nämlich die christlichen Prinzipien (selbstredend ohne Rücksicht auf Konfession) in freien Genossenschaften zur Geltung zu bringen“ 35 Das Genossenschaftswesen sollte Bauern, Handwerkern und allen Notleidenden helfen, ihre Entfremdung zu überwinden und über die Entwicklung von Gemeinsinn ihre Selbstbestimmung (zurück-)zu erhalten Es sollte der Selbstsucht entgegenarbeiten und „in einfacher praktischer Weise Selbstverleugnung und Nächstenliebe zur Richtschnur für das öffentliche Leben […] machen“ 36 Was hieß dies alles in der Praxis? Wo lagen die konkreten Unterschiede zwischen der Arbeit der christlich-konservativen und der säkular-liberalen Genossenschafter? Nun, im Ganzen fielen die organisationspraktischen Differenzen gering aus Einige wenige Punkte erscheinen aber bedeutsam, so dass mit Vorsicht durchaus von einem liberalen-säkularen bzw einem christlich-konservativen Genossenschaftsmodell gesprochen werden kann Letzteres wies folgende Spezifika auf: 1

2

35 36 37 38 39

Der Missionsdrang war unverkennbar So wollte Huber beispielsweise mit den von ihm beschriebenen Wohnassoziationen vor allem eines erreichen: die „Gründung und Sicherung des christlichen Familienlebens im Proletariat“ 37 Er wollte dort harte Sitten, Ehegesetze und die Kirchenzucht wieder zur Anwendung bringen Allgemein wurde die Vermittlung von christlichem Gedankengut großgeschrieben So sollte in den Generalversammlungen durch Vorträge und Besprechungen immer wieder auf die sittlich-moralische Aufgabe der Genossenschaften hingewiesen werden Die Verpflichtung galt einem gleichsam aristokratischen Vorbildprinzip: „Das gute Beispiel und der gute Geist“ sollten von oben kommen 38 Während die Säkular-Liberalen die Selbstorganisation der Bedürftigen propagierten, wollte z B Raiffeisen unbedingt alle „Gewerbsgenossen, vom reichsten Gutsbesitzer bis hin zum ärmsten Arbeiter“ in der Genossenschaft zusammenschließen Einerseits hatten die Wohlhabenden wirtschaftliche Solidität zu gewährleisten und beispielsweise die ungewöhnlich langen Kreditfristen bei den Raffeisen-Vereinen abzusichern Andererseits sollten sie mit ihrem Vermögen genauso solidarisch haften, um so „durch Wirt und Beispiel auf die bedürftigeren Mitglieder ein[zu] wirken und in denselben das rechte Streben [zu] erwecken, sich durch eigene Kraft emporzuarbeiten“ 39 Raiffeisen-Worte, S  29 Denkschrift Raiffeisen, in: Koch, Statuten, Statuten, Dokumente und Schriftwechsel, S  213 Zit nach Eike Baumann, Der Konvertit Victor Aimé Huber (1800–1869) Geschichte eines Christen und Sozialreformers im Spannungsfeld von Revolution und Reaktion, Leipzig 2009, S  280 Raiffeisen, Darlehenskassen-Vereine, 8 Aufl , S  58 Ebenda, S  15

52 3.

4

5

40 41 42 43 44 45

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

Die Auswahl der Funktionäre unterlag den speziellen Kriterien eines christlichen Missionsvereins Mitarbeiter einer Genossenschaft sollten ausdrücklich nach „moralischen Fähigkeiten“ ausgesucht werden „Zuverlässigkeit des Charakters und gemeinnützige Gesinnung“ wurden als unerlässlich betrachtet, was bei Raiffeisen auch die Bereitschaft einschloss, weitgehend unentgeltlich zu arbeiten Ausdrücklich wollte er „glaubenstreue und sittlich ernste“ Mitarbeiter,40 die „nicht der Bezahlung halber, sondern aus Liebe zur Sache arbeiten, d h von einem Standpunkt der Selbstlosigkeit und der Nächstenliebe aus“ 41 Lehrer und insbesondere Pfarrer sollten explizit Teil der Geschäftsführung sein Die Genossenschaften sollten lokal verwurzelt sein und mit den Kirchen Hand in Hand arbeiten Gemäß den Vorstellungen von Raiffeisen hatte sich die Genossenschaftsorganisation an Pfarrstrukturen zu orientieren Eine Kreditgenossenschaft sollte prinzipiell nicht über die Grenzen eines Pfarrbezirks hinausgehen und nur da, wo eine Kirchengemeinde für sich zu klein war, sollten mehrere Pfarreien zu einem Vereinsbezirk verbunden werden Die kleinen Vereinsbezirke stellten aus Sicht von Raiffeisen sicher, dass alle Mitglieder „eine sehr genaue Kenntniß der persönlichen und Vermögensverhältnisse untereinander“ hätten Sie könnten „sich alle gemeinschaftlich in einem Lokale versammeln und somit alles dasjenige besprechen, was zur Hebung ihrer wirtschaftlichen Wohlfahrt nöthig ist “42 Die Genossenschaft hatte gleichsam „eine erweiterte Familie“ zu bilden Profitieren sollten sowohl Genossenschaft wie Pfarrgemeinde Die Pfarrei hatte der Genossenschaft und umgekehrt die Genossenschaft den Geistlichen dabei zu helfen, „die Türe zu den Herzen ihrer Pfarrkinder“ zu öffnen 43 Für die Geschäftstätigkeiten galten klare Grenzen: Sie wurden etwa „bei den Schulze’schen Vereinen meist bankmäßig und umfangreich, auch mit Nichtmitgliedern betrieben “ Raiffeisen aber wollte grundsätzlich keine Geschäfte durchführen, „mit welchen eine Gefahr verbunden sein könnte auf ihre Mitglieder“ 44 Denjenigen Mitgliedern, denen keine christliche Gesinnung zugesprochen wurde, die z B zu wenig in der Kirche gesehen wurden, verweigerten die Raiffeisen-Vereine die Kreditaufnahme 45

Faßbender, Raiffeisen in seinem Leben, S  31 Raiffeisen, 23 Oktober 1880, zit nach Heinrich Richter, Friedrich Wilhelm Raiffeisen und die Entwicklung der Genossenschaftsidee, München 1966, S  126 Die Zwangs-Credit-Genossenschaften und die freien Darlehenskassen-Vereine, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 8 (1879) Raiffeisen, Darlehenskassen-Vereine, 8 Aufl , S  37 Raiffeisen an den Oberpräsidenten zu Koblenz, 4 August 1886, in: Koch, Statuten, Dokumente und Schriftwechsel, S  319 Kaiser, Der praktische Raiffeisenmann, S  12

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

6

53

Die Gemeinnützigkeit der genossenschaftlichen Unternehmen wurde besonders herausgestellt Eine Dividende zahlten etwa die Raiffeisen-Vereine im Gegensatz zu der Kreditgenossenschaft Schulze-Delitzschs zunächst nicht aus Raiffeisen war der Ansicht, dass diese die Minderbemittelten „nur mit Neid erfüllen“, und „Spekulationssucht und Egoismus in die Vereine“ tragen würde 46 Das Vereinskapital war für ihn unteilbar und wurde eher als Allmende aufgefasst Sollten Gewinne anfallen, so wollte Raiffeisen sie „zur Hebung der Gesamtwohlfahrt der Bevölkerung einsetzen“, z B für Kindergärten, Fortbildungs-, also Berufsschulen, Krankenhäuser sowie Asyle für hilfsbedürftige und altersschwache Menschen 47 In der Tradition Raiffeisens sorgte etwa der bayerische Katholik, Zentrumsabgeordnete und Genossenschaftsfunktionär Georg Heim noch am Beginn des 20 Jahrhunderts dafür, dass in seiner Regensburger Organisation alle Überschüsse einem Reservefonds zugeführt wurden Aus diesem finanzierte er sodann landwirtschaftliche Haushaltungsschulen in Frauenklöstern, spezielle Winterschulen für die Landjugend und eine Hochschule für erwachsene Bauernsöhne Außerdem sorgte Heim dafür, dass Kinder mit Handicap orthopädisch behandelt werden konnten 48

Ohne Frage: Die großen Widerstände, denen die christlich-konservative Ausgestaltung der Genossenschaftsidee ausgesetzt war, dürfen nicht übersehen werden Es ist z B zu bedenken, dass der Missionsdrang Hubers im 19 Jahrhunderts kaum auf fruchtbaren Boden fiel Seiner Zeitschrift Janus gelang es z B nicht, eine große Leserschaft zu gewinnen   1846 erreichte sie mit 174 Abonnenten bei einer Gesamtauflage von 750 ihre höchste Absatzziffer 49 Darüber hinaus ist in Rechnung zu stellen, dass die wirtschaftliche Entwicklung und gesetzliche Vorgaben einige Revisionen am christlich begründeten Genossenschaftskonzept nötig machten In den 1860er-Jahren musste Raiffeisen konzedieren, dass Schulze-Delitzsch Recht gehabt hatte Ihm war klargeworden, dass bestimmte Genossenschaftsvereine „nur dann lebensfähig sind und bestehen können, wenn sie auf die unbedingte Selbsthilfe gegründet, d h nur aus solchen Personen gebildet sind, welche der Hilfe persönlich bedürfen“ 50 Außerdem musste Raiffeisen seine Musterstatuten aufgrund einer Weisung des Reichskanzleramtes dahingehend ändern, dass als zusätzliche Sicherung neben dem Reservefonds eine Kapitalbeteiligung der Mitglieder gegeben war Ferner stießen die missionarischen Züge der Genossenschaftsorganisation immer wieder auf Befremden Als Graf von Galen beispielsweise seinen sozialpolitischen Antrag 1877 im Reichstag vortrug und 46 47 48 49 50

Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Die Darlehenskassen-Vereine, 5 Aufl , Neuwied 1887, S  59 Raiffeisen, Darlehenskassen-Vereine, 5 Aufl , S  116 Alfred Wolfsteiner, Georg Heim Bauerngeneral und Genossenschaftler, Regensburg 2014 Eun-Sang Yu, Die Grundzüge der sozialen Gedankenwelt von Victor Aimé Huber Eine Untersuchung seiner theologischen und politischen Grundauffassungen, Berlin 1986, S  17 Promemoria F W Raiffeisens vom 9 Juli 1864 und die Auflösung des Heddesdorfer Wohltätigkeitsvereins, in: Koch, Statuten, Dokumente und Schriftwechsel, S  85

54

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

dabei immer wieder von Gott und vom Staatsorganismus sprach, rief er bezeichnenderweise bei der Mehrheit im Parlament nichts als Hohn und Spott hervor Ein Zentrumskollege sprach von „Perlen“, die „vor die Säue“ geworfen worden seien 51 Raffeisen verlor wegen seiner christlichen Rhetorik sogar wiederholt Unterstützer und wichtige Mitstreiter Das schwierige Verhältnis zu Wilhelm Haas resultierte z B wesentlich aus „der Überbetonung christlicher religiöser Motive“ 52 1879 büßte er mit Rudolf Weidenhammer einen hochrangigen Verbandsfunktionär ein, weil dieser der Auffassung war: Die Kreditgenossenschaften haben in erster Linie einen durchaus materiellen Charakter, und die stete Benutzung des Stichwortes ‚christliche Bruderliebe‘ kann in der öffentlichen Meinung nur dazu beitragen, daß man der Bestrebung andere Tendenzen unterlegt als die Entwicklung der Genossenschaften 53

Weidenhammer gründete in der Folge einen eigenen Verband der landwirtschaftlichen Kreditgenossenschaften im südlichen und westlichen Deutschland und stellte für diesen klar: „Wir legen Wert darauf, daß es bekannt werde, daß wir mit Herrn Raiffeisen in keiner Beziehung mehr stehen, nachdem er fortgesetzt und in erhöhtem Maße seinen Genossenschaften einen religiös-politischen Charakter zu geben versucht “54 Aber: Je größer offenkundig der Druck, desto lauter propagierten Männer wie Raiffeisen den christlichen Charakter ihrer Organisationen Mit zunehmender Verve warben sie für einen religiös begründeten Gegenentwurf zu liberalen Genossenschaftsüberlegungen, die das Gemeinwohlstreben weniger ideell als funktional betrachteten Unverrückbares Ziel war „die Reform unserer heutigen gesellschaftlichen Zustände auf dem Grunde eines lebendigen Christentums“, und die Genossenschaften dachten sie „sich als eine Etappe auf dem Wege zu diesem Ziel“ 55 Raiffeisens christliches Missionierungsstreben ging sogar so weit, dass er eine Gesellschaft Charitas gründen wollte, eine Art interkonfessionelle Ordensgemeinschaft inklusive Zölibat und Besitzlosigkeit mit der Aufgabe, sich der Krankenpflege auf dem Lande zu widmen und durch das beispielhaft christliche Leben ihrer Mitarbeiter vorbildhaft zu wirken 56 Er knüpfte damit an den französischen Politiker und Historiker Philippe Buchez an, der die erste fundierte Theorie der Arbeiterassoziation veröffentlicht hatte Denn auch dieser stellte sich seine 1832 gegründete Tischlergenossenschaft als Bruderorden vor, in dem auf persönlichen Besitz verzichtet wurde

51 52 53 54 55 56

Konstantin von Waldburg-Zeil an seine Frau, 23 April 1877, in: Neues Zeiler Archiv, Leutkirch, 723 Maxeiner, Der Dritte, S  441 Rudolf Weidenhammer an Friedrich Wilhelm Raiffeisen, 1 November 1879, in: Koch, Dokumente und Briefe, S  277 Rudolf Weidenhammer an Hermann Schulze-Delitzsch, 8 Januar 1881, zit nach Klein, Bankier, S  86 Brief von L Th Nagel an Martin Faßbender von 1895, in: Koch, Dokumente und Briefe, S  116 Faßbender, Raiffeisen in seinem Leben, S  214

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

55

Für den Erfolg der Genossenschaftsbewegung spielte das christliche-konservative Element in jedem Fall keine geringe Rolle Gerade weil es interkonfessionell ausgerichtet war, gewährleistete es die Mitnahme der Herrschenden, des Adels sowie tragender Kräfte in Katholizismus und Protestantismus Angesichts der unruhigen äußeren Verhältnisse war das Bedürfnis nach christlich-konservativer Sinnbildung gerade in ländlichen Gegenden groß und Männer wie Huber, Raiffeisen, Kaiser oder Heim waren in ihrem Idealismus glaubhafte, bei aller Kritik durchaus gern gesehene und anerkannte Ankläger gesellschaftlicher Fehlentwicklungen – auch jenseits des eigenen Lagers Im Fall von Huber hat wohl darüber hinaus der Umstand wesentlich geholfen, dass er Anfang der 1850er-Jahre mit dem politischen Konservativismus u a wegen dessen angeblicher Gleichgültigkeit auf sozialpolitischem Gebiet brach („Sie haben eigentlich mit wenig Ausnahmen kein Herz für das Volk“57) In der Folge galt er sowohl dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck als sozialpolitische Autorität und verfasste für die Regierung mehrfach Gutachten über die Genossenschafts- und Koalitionsgesetzgebung Er publizierte aber auch in katholischen Zeitschriften und im Arbeiterfreund, er war gern gesehener Gast beim Kolpingverein, auf den Kongressen deutscher Volkswirte und beim Vereinstag deutscher Arbeitervereine So lässt sich resümierend festhalten, dass die Genossenschaftsidee in einem spannungsgeladenen Klima von fortschreitender Säkularisierung und religiöser Erneuerung gedieh Auch innerhalb der Bewegung gab es auf die „Gretchenfrage“ höchst unterschiedliche Antworten Der eine Teil der frühen Genossenschafter wollte die Religion aus der genossenschaftlichen Arbeit heraushalten, der andere im christlichen Sinne missionieren Die einen sahen im Niedergang des Glaubens eine fortschrittliche Entwicklung, die anderen den wesentlichen Grund für die frappierenden gesellschaftlichen Missstände Die einen lehnten Staatshilfen für die Genossenschaftsbewegung kategorisch ab, die anderen rechtfertigten diese im Sinne eines organischen Staatsverständnisses als „ultima ratio“ Die Spannungen ließen Genossenschafter im „Kulturkampf “ gegensätzliche Positionen beziehen und belasteten die Organisationarbeit Dabei wollten beide Gruppierungen dem Gemeinwohl Genüge tun, weil sie glaubten, dass die Einzelnen zur freien Selbstentfaltung bisweilen der Gemeinschaft bedurften Für Säkular-Liberale war dies allerdings vor allem ein funktionaler Vorgang zur Besserung wirtschaftlicher Verhältnisse, für Christlich-Konservative ein gottgegebener Erziehungsauftrag, der eine glaubenstreue Haltung zur Voraussetzung hatte und immer auch auf diese abzielen musste Die Unterschiede in der organisatorischen Praxis waren nicht groß und minimierten sich noch einmal im Laufe der Zeit, Relevanz muss ihnen gleichwohl zugesprochen werden Für den Aufstieg der Genossenschaftsidee

57

Viktor Aimé Huber, 1850, zit nach Hindelang, Konservativismus, S  156

56

Ringen um Glaube und Gemeinwohl

hatte gerade das Miteinander beider Richtungen große Bedeutung – auch weil es die großen Konflikte der Zeit einfing und zu einem beträchtlichen Teil einhegte Insbesondere die Idee der interkonfessionellen Zusammenarbeit stand gegen die ideologischen Verhärtungen des 19 Jahrhunderts und war damit zukunftsweisend

V Wider die Revolution Wenig scheint naheliegender als die Verbindung von Genossenschaften und Sozialismus: Der sich um 1830 verbreitende Begriff des „Sozialismus“ stammte vom lateinischen socius (‚Genosse‘, ‚Gefährte‘) Bis zum Ersten Weltkrieg wurde er synonym mit Kommunismus verwendet, der sich von communitas (Gemeinschaft) ableitet Sozialisten betonten die Bedeutung des Kollektivs und sahen sich den Ideen von 1789 verpflichtet Unter dem Banner der Brüderlichkeit wandten sie sich gegen die überkommenen Machtstrukturen und die Isolierung des Einzelnen Ihr zentrales Anliegen war es, zunächst die durch den Untergang des Feudalstaates und das Voranschreiten der Industrialisierung entstandenen Ungerechtigkeiten zu beseitigen Darauf aufbauend galt ihre Verpflichtung dem „Neuaufbau der Gesellschaft“ 1 Der Frühsozialismus, der von einzelnen Individuen und kleinen Gruppen getragen wurde, lieferte der Genossenschaftsbewegung in dieser Hinsicht wegweisende Modelle – ungeachtet ihrer Kurzlebigkeit: In Frankreich träumte etwa der kaufmännische Angestellte Charles Fourier von hotelartigen Siedlungen (Phalanstère), in denen die Menschen gemeinschaftlich lebten und arbeiteten Viele Genossenschafter begeisterten sich für das Familistère in Guise, einen vom utopischen Sozialisten Jean-Baptiste André Godin 1860 erbauten Gebäudekomplex, der den Arbeitern seiner Fabrik eine Wohnmöglichkeit inklusive Schulgebäuden, Kinderkrippe, Badehaus und Theater in Arbeitsnähe bieten sollte Es erschien einem Mann wie Huber als „ein nicht genug anzuerkennendes Vorbild der Lösung einer der Hauptfragen der socialen Reform, der Wohnungsfrage“ 2 Von besonderer Bedeutung war Robert Owen, der sich aus einfachen Verhältnissen zum Leiter einer Baumwollspinnerei hochgearbeitet hatte und als der „eigentliche Vater des englischen Socialismus“ gilt Er wollte die Welt „ohne jede Neigung zur Gewaltthat und zur Verbindung mit der politischen Revolution“ mit vorbildhaftem Handeln zu einer besseren machen 3 So trat er entschieden für niedrigere Arbeitszeiten, die Abschaf1 2 3

Zit nach Helmut Faust, Geschichte der Genossenschaftsbewegung Ursprung und Weg der Genossenschaften im deutschen Sprachraum, Frankfurt a M  1965, S  119 Viktor Aimé Huber, Sociale Fragen IV: Die latente Association, Nordhausen 1866, S  28 Adolf Held, Zwei Bücher zur Socialen Geschichte Englands, Leipzig 1881, S  344

58

Wider die Revolution

fung von Kinderarbeit und Prügelstrafen sowie eine allgemeine Kranken-, Unfall- und Altersversicherung ein In der Baumwollfabrik New Lanark in Schottland, die bald Weltruhm erlangte, schuf er zwischen 1800 und 1825 einen entsprechenden Musterbetrieb Ferner gründete er Kleinkinderschulen, Pensionskassen, eine Börse, die wider den Zwischenhandelsgewinn einen bargeldlosen Warenaustausch auf Grundlage des Selbstkostenpreises ermöglichen sollte, und nicht zuletzt in den USA und Großbritannien genossenschaftliche Kommunen, in denen – so schrieb etwa Schulze-Delitzsch bewundernd – zunächst die Armen und unbeschäftigten Arbeiter Aufnahme finden“ sollten: Sie lebten wunschgemäß eigentumslos, in einem Klima „geistige[r] Freiheit und unbedingte[r] Toleranz“ in großen Gemeinschaftshäusern zusammen 4 Hatten nicht auch die nach 1850 massenhaft entstehenden Genossenschaften wesentliche Forderungen eines solchen Sozialismus aufgegriffen? Wollten sie nicht „den verderblichen Einfluß der wucherischen Geldmacht […] brechen“?5 Ging es ihnen nicht um den Schutz der Arbeiterschaft vor Ausbeutung und sozialer Not? War das Prinzip der Mitbestimmung nicht handlungsleitend? Galt das elementare Bestreben nicht dem Abbau von Bildungsprivilegien? Stellten sich die Genossenschaften nicht ausdrücklich gegen ein System der Profitmaximierung? Waren sie nicht dazu da, „um der Staatsmacht ihre Attribute, eines nach dem andern aus der Hand zu winden und in die eigenen Hände zu nehmen“?6 Galten die Haas- und Raiffeisen-Leute nicht zu Recht „als die landwirtschaftlichen Sozialdemokraten“?7 War Eduard Pfeiffer kein „kooperativer Sozialist“8? Die paradoxe Antwort lautet: Die frühsozialistischen Einflüsse waren für die moderne Genossenschaftsidee elementar wichtig und zugleich entstanden die Genossenschaften im Regelfall in direkter Gegnerschaft zum Sozialismus Ja, in Frankreich waren Genossenschaftswesen und Sozialismus durchaus eng verbunden Ja, es war der utopische Sozialist Etienne Cabet, der den Satz geprägt hatte: ‚Alle für einen und einer für alle‘ Ja, unter den ersten Rochdaler Pionieren befanden sich etliche von Owen geprägte Sozialisten Ja, Ferdinand Lassalle, der Hauptinitiator und Präsident der ersten sozialdemokratischen Parteiorganisation im deutschen Sprachraum, des 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), war wesentlich für die Popularisierung des Genossenschaftsgedankens verantwortlich Ja, Karl Marx lobte die Genossenschaften, weil in ihnen „der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit“ auf-

4 5 6 7 8

Schulze-Delitzsch, Sociale Rechte und Pflichten, S  361 Raiffeisen, Darlehenskassen-Vereine, 8 Aufl , S  110 f Hermann Schulze-Delitzsch, zit nach Wilhelm Kaltenborn, Schulze und die Arbeiterbewegung, in: Förderverein Hermann Schulze-Delitzsch (Hg ), Hermann Schulze-Delitzsch Weg, Werk, Wirkung, Neuwied 2008, S  212–243, hier S  215 Zit nach Maxeiner, Vertrauen, S  55 Bittel, Pfeiffer, S  31

Wider die Revolution

59

gehoben sei 9 Jedoch: Spätestens in den seit den 1860er-Jahren entstehenden sozialistischen Massenorganisationen sahen die wesentlichen Pioniere der europäischen und insbesondere der deutschen Genossenschaftsbewegung ihren wichtigsten Widerpart Es war kein Zufall, dass unter den Rochdalern weniger die Oweniten als die Chartisten bestimmend waren  – also eine politische Reformbewegung, die sich u a für die Zulassung von Gewerkschaften, die Erweiterung des Wahlrechts sowie praktische Arbeitserleichterungen einsetzte und deren Kampf Owen als sinnlose Kraftvergeudung bezeichnete Denn den meisten Genossenschaftern war nichts so zuwider wie die Revolution Sie lehnten einen radikal ganzheitlichen Anspruch ab und sie wollten das Sein nicht über das Denken stellen Sie hielten – wie etwa Charles Fourier – nicht viel von einer libertären Sexualmoral und einer Vorreiterrolle bei der Gleichstellung der Geschlechter Sie wollten nicht wie Robert Owen das Bargeld abschaffen Sie wollten mit ihren Genossenschaften nicht wie Karl Marx „das kapitalistische System verdrängen“ und „die nationale Produktion nach einem gemeinsamen Plan regeln“ 10 Sie glaubten an Eigenmächtigkeit und wehrten sich dagegen, „dass der Mensch nicht selbst verantwortlich sei, sondern durch die Verhältnisse, in denen er lebt, gut oder böse werde“ 11 Allenfalls der Göttinger Privatdozent, Jurist und Mediziner Theodor Schuster – 1831 einer der Protagonisten der Verfassungsbewegung im Königreich Hannover und als Exilant in Paris Mitbegründer des Bundes der Gerechten, der Keimzelle der späteren sozialistischen Parteien Europas – schloss an die französische Entwicklung an Er wollte vom Staat geförderte Produktivgenossenschaften, sogenannte Nationalwerkstätten, an die Stelle der Fabriken treten lassen und machte in diesem Zusammenhang auch klar, dass er der bestehenden Gesellschaftsordnung den Krieg erklärte: „Ihr wollt nichts wissen von der sozialen Reform, so beugt euch denn unter die soziale Revolution “12 Praxiswirksam sind die Gedanken Schusters jedoch nie geworden Die große Mehrheit der Genossenschafter wollten keine Verstaatlichung der Wirtschaft Ihr Anliegen war es, das Privateigentum zu schützen und nicht abzuschaffen Sie strebten nicht das Ende der Marktwirtschaft an, sondern ein Gegengewicht gegen marktbeherrschende Unternehmer Sie setzten auf gesunde Konkurrenz und keinen „Wetteifer, wer bei der geringsten Leistung am meisten genießen könnte “13 Ihr Ziel war Chancengleichheit und nicht die Gesellschaft der Gleichen Sie wollten das Kollektiv nicht über das Indi9 10 11 12 13

Karl Marx, Das Kapital Kritik der politischen Ökonomie, Bd III: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion, Berlin 1983, S  456 Karl Marx, Bürgerkrieg in Frankreich Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation vermehrt durch die beiden Adressen des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, Berlin, 1963, S  77 Schulze-Delitzsch, Sociale Rechte, S  348 Theodor Schuster, zit nach Heinz Schütte, Die Rolle der Genossenschaften bei der Industrialisierung, Hannover 1971, S  45 Pfeiffer, Ueber Genossenschaftswesen, S  67

60

Wider die Revolution

viduum stellen, sondern Selbstsucht bekämpfen und Individualität, die ihnen als „das Höchste und Edelste im ganzen Menschen“ 14 galt, durch Solidarität sichern und fördern Sie lehnten eine Herrschaft des Proletariats ab und waren bestrebt, „den kleinen Leuten die immer schwieriger werdende Stellung eines selbstständigen Unternehmers zu erhalten oder deren Erwerb zu ermöglichen “15 Die Genossenschafter glaubten nicht daran, dass eine andere Staatsform den Menschen besser macht Sie wollten den Kapitalismus nicht abschaffen, sondern den Sozialismus, den sie als höchst gefährlich ansahen, verhindern In der Folge standen sich in der deutschen Genossenschaftsbewegung zwei Phänomene gegenüber: 1.

Der Sozialismus mühte sich um einen Zugang zum Genossenschaftsgedanken, dem er sich im Sinne seiner materialistischen Grundüberzeugung aber erst nach Abschaffung des kapitalistischen Systems voll verschreiben konnte

Ferdinand Lassalle z B sah die Lösung der sozialen Frage in der Gründung von Produktivgenossenschaften – freilich solchen, die staatlich gefördert waren Die freie Genossenschaftsbewegung hatte für ihn lediglich den Wert, den praktischen Weg zu zeigen, auf welchem die Befreiung vor sich gehen kann, glänzende, praktische Beweise zur Beseitigung aller wirklichen oder vorgeschützten Zweifel über die praktische Ausführbarkeit zu liefern und es eben dadurch dem Staat zur gebieterischen Pflicht zu machen, seine stützende Hand diesem höchsten Kulturinteresse der Menschheit zu leihen 16

Von anderen Genossenschaftsformen, etwa den Konsumgenossenschaften, hielt er nicht viel, da eine wirkliche Besserstellung der Arbeiterschaft im Kapitalismus nicht möglich sei Hier traf er sich mit Karl Marx, der in den Genossenschaften lediglich „das erste Durchbrechen der alten Form“ sah Denn es sei ihnen eigen, „alle Mängel des bestehenden Systems [zu] reproduzieren und reproduzieren [zu] müssen“ 17 Das Genossenschaftssystem stellte für ihn eine Art „Vulgärsozialismus“ dar, der für die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft durchaus Wert besaß, eine wirkliche Bedeutung aber erst nach der proletarischen Revolution entfalten könne 18 Diese Ansicht 14 15 16 17 18

Pfeiffer, Ueber Genossenschaftswesen, S  53 Adolf Held, zit nach Die Socialdemokratie, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 3 (1879) Ferdinand Lassalle, zit nach Gert-Joachim Glaeßner, Arbeiterbewegung und Genossenschaft Entstehung und Entwicklung der Konsumgenossenschaften in Deutschland am Beispiel Berlins, Göttingen 1989, S  13 Marx, Das Kapital III, S  456 Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, 1875, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd  19, 4 Aufl , Berlin 1973, S  22

Wider die Revolution

61

prägte die Haltung der Arbeiterbewegung zur Genossenschaft Im Gothaer Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) von 1875 beispielsweise war der Blick ausschließlich auf Produktivgenossenschaften in Industrie und Landwirtschaft gerichtet, die „in solchem Umfang ins Leben“ gerufen werden sollten, „daß aus ihnen die sozialistische Organisation der Gesamtarbeit entsteht “19 Die prinzipielle Haltung der Sozialdemokratie gegenüber den Genossenschaften war eine ablehnende Der Berliner Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands (SPD) von 1892 etwa fasste den Beschluss: Im übrigen haben die Parteigenossen der Gründung von Genossenschaften entgegenzutreten und namentlich den Glauben zu bekämpfen, daß Genossenschaften imstande seien, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu beeinflussen, die Klassenlage der Arbeiter zu heben, den politischen und gewerkschaftlichen Klassenkampf der Arbeiter zu beseitigen oder auch nur zu mildern 20

Karl Kautsky, der führende Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie und der Zweiten Internationalen konzedierte gern, dass „früher oder später in jedem Lande die Genossenschaftsbewegung berufen“ sei, eine nicht unwichtige Rolle im „Emanzipationskampfe der Arbeiterklasse zu spielen“ Denn: „was ist denn das Bild, das wir uns von der sozialistischen Gesellschaft entwerfen, anderes als die einer ungeheuren Konsumgenossenschaft“ Klar war für Kautsky jedoch auch, dass über allem die Erziehung zum Sozialismus stand und die Genossenschaften lediglich in diesem Sinne von Bedeutung sein konnten Entsprechend abfällig äußerte er sich etwa zu den Konsumgenossenschaften – zu einem Zeitpunkt, als in diesen bereits 400 000 Menschen, in zunehmendem Maße auch SPD-nahe Industriearbeiter, organisiert waren: Durch den Consumverein entwickelt sich eine Interessengemeinschaft zwischen dem bürgerlichen und dem proletarischen Mitglied, gleichzeitig aber auch eine Spaltung des Proletariats in eine baarzahlende Elite und einen auf Pump lebenden Pöbel Der auf diese Weise erzeugte Gemeinsinn ist gerade nicht jener, dessen das kämpfende Proletariat bedarf 21

Erst relativ spät siegte der Pragmatismus über die revolutionäre Theorie Die Mitgliedschaft im „Konsum“ war immerhin genauso wie die (freie) Gewerkschaft, der Bildungs-, Sport-, Gesangs- oder Geselligkeitsverein zum festen Bestandteil sozialdemokratisch geprägter Lebenswelten geworden Zumal in den großen Industriestädten war der Arbeiteralltag fest mit ihm verbunden Eine wegweisende Rolle hatte dabei der 1898 vom SPD-Reichstagsabgeordneten und Gewerkschaftsführer Adolph von Elm initiierte Konsum-, Bau- und Sparverein Produktion gespielt, dem bald u a eine Fleischwaren19 20 21

Zit nach Glaeßner, Arbeiterbewegung, S  14 Zit nach Ulrich Kurzer, Nationalsozialismus und Konsumgenossenschaften Gleichschaltung, Sanierung und Teilliquidation zwischen 1933 und 1936, Pfaffenweiler 1997, S  28 Karl Kautsky, Consumvereine und Arbeiterbewegung, Wien 1897, S  13 ff

62

Wider die Revolution

fabrik, eine Mineralwasserfabrik mit Bierabfüllerei, eine chemisch-technische Fabrik, eine Möbel- und Sargfabrik, eine Ziegelei, eine Kaffeerösterei sowie mehrere Bäckereien, Mühlen und Molkereien angeschlossen waren. Nachdem einzelne Vorkämpfer wie Elm oder seine Lebensgefährtin Helma Steinbach immer wieder mit Emphase die besondere Bedeutung der Genossenschaftsbewegung für die praktische Emanzipation der Arbeiterschaft herausgestellt hatten („wirtschaftliche Macht [bedeutet] auch politische Macht“22), erkannte schließlich auch die Parteiführung die Realitäten 1910 auf dem SPD-Parteitag in Magdeburg an Fortan schrieb sie den Genossenschaften offiziell „eine wirksame Ergänzung des politischen und gewerkschaftlichen Kampfes für die Hebung der Arbeiterklasse“ zu Gerade das Eintreten für die Konsumvereine entspreche den Klasseninteressen des Proletariats 23 Vor allem die sogenannte revisionistische Richtung der Sozialdemokratie, die den Kapitalismus auf evolutionärem Weg über Sozialreformen und die Stärkung der eigenen Organisation zu überwinden suchte, machte sich für das Genossenschaftswesen als sinnvolle Ergänzung zu Partei und Gewerkschaften stark In erster Linie war es „die Erziehung zur freien Selbstregierung, die Einführung in eine demokratische Verwaltung des wirtschaftlichen Lebens“, für welche reformistische Sozialisten – im prinzipiellen Einklang mit Liberalen – die Genossenschaften als wichtig erachteten 24 Gemäß der Überzeugung, dass die SPD „zwar eine revolutionäre, aber keine Revolutionen machende Partei“25 sei, stellte etwa Eduard Bernstein heraus: Ob eine Gewerkschaft oder ein Arbeiterkonsumverein sozialistisch sind oder nicht, hängt nicht von ihrer Form, sondern von ihrem Wesen, von dem Geiste, der sie durchdringt Sie sind sicherlich niemals der Wald, aber sie sind die Bäume, die sehr nützliche Teile und wahre Zierden des Waldes abgeben können Unbildlich gesprochen, sie sind nicht der Sozialismus, aber sie tragen als Arbeiterorganisationen genug vom Element des Sozialismus in sich, um sich zu wertvollen und unerläßlichen Hebeln der sozialistischen Befreiung zu entwickeln 26

Die Partei- und Gewerkschaftsaktivistin Helma Steinbach formulierte dies spitzzüngiger: „Lange genug hat es gedauert, bis die Partei die dritte Waffe, die sie den um

22 23 24 25 26

Adolph von Elm, Genossenschaftsbewegung und Sozialdemokratie, in: Sozialistische Monatshefte 14–16 (1910), S  929–940, hier S  935 Zit nach Kuno Blundau, Nationalsozialismus und Genossenschaften, Hannover 1968, S  91 Adele Gerhard, Konsumgenossenschaft und Sozialdemokratie, Nürnberg 1895, S  21 Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, Kapitel 5, zit nach https://www marxists org/deutsch/archiv/ kautsky/1909/macht/5-weder htm [01 07 2018] Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Berlin 1969, S  189

Wider die Revolution

63

die Befreiung vom kapitalistischen Joch kämpfenden Massen in die Hand zu geben imstande ist, endlich zu Recht anerkannt hat “27 Allerdings: Angesichts deren zunehmender Nähe zur Mehrheitssozialdemokratie bekämpften radikale Sozialisten und namentlich die kommunistischen Parteien Europas die Genossenschaften umso energischer als Stützpunkte des „Reformismus“ Als die SPD nach 1918 zur tragenden Partei der ersten deutschen Demokratie aufstieg und ihre Achtung vor den Genossenschaften zu staatlichem Handeln erhob (1919 konnten die Genossenschaften z B zum ersten Mal einen Vertreter in den Zentralausschuss der Reichsbank entsenden), blühte der Vorwurf des „Sozialfaschismus“: „In den Händen der Sozialdemokraten“ – so meinte Clara Zetkin – waren die Genossenschaften „Hochburgen einer die Arbeiterinteressen verratenden Sozialpolitik“ geworden 28 Da aber, wo die kommunistische Umwälzung gelang, war die Wertschätzung der Genossenschaft und insbesondere ihres politischen Kontrollpotentials – in Weiterführung der Überlegungen von Karl Marx – enorm Lenin beispielsweise sprach 1923 davon, dass die alten Genossenschafter „die wesentliche, grundlegende Bedeutung des politischen Kampfes der Arbeiterklasse zum Sturz der Ausbeuterherrschaft nicht“ verstanden hätten Da jedoch „dieser Sturz […] jetzt […] Tatsache geworden“ sei, werde „vieles von dem, was an den Träumereien der alten Genossenschafter phantastisch, sogar romantisch, ja abgeschmackt war, zur ungeschminkten Wirklichkeit “ Er war sich sicher: Unter der Voraussetzung des maximalen genossenschaftlichen Zusammenschlusses der Bevölkerung erreicht jener Sozialismus, der früher berechtigten Spott, mitleidiges Lächeln, geringschätziges Verhalten seitens derjenigen hervorrief, die mit Recht von der Notwendigkeit des Klassenkampfes, des Kampfes um die politische Macht usw überzeugt waren, von selbst das Ziel

„Ein System zivilisierter Genossenschafter bei gesellschaftlichem Eigentum an den Produktionsmitteln, beim Klassensieg des Proletariats über die Bourgeoisie“  – das machte für ihn „das System des Sozialismus“ aus Es ging einfach darum, die Genossenschaften abhängig zu machen, ihnen „eine Reihe von ökonomischen, finanziellen und Bankprivilegien“ zukommen und Alternativwege praktisch unbegehbar werden zu lassen 29 Der Solidaritätsgedanke sollte von seinen liberalen und christlich-konservativen Vorstellungen entkernt und im Sinne der sozialistischen Ideologie umcodiert werden Die Fundamente der modernen Genossenschaftsidee  – Freiwilligkeit, Offenheit, Subsidiarität, Leistung – mussten für obsolet erklärt, der in der Vormoderne

27 28 29

Helma Steinbach, Partei und Genossenschaft im internationalen Sozialismus, in: Sozialistische Monatshefte 14–16 (1910), S  1368–1371, hier S  1368 Clara Zetkin, Frau und Genossenschaft, Berlin 1926, S  4 Wladimir I Lenin, Über das Genossenschaftswesen, 4 Januar 1923, zit nach http://www mlwerke de/le/le33/le33_453 htm [01 07 2018]

64

Wider die Revolution

gängige ganzheitliche Anspruch gemäß den Interessen einer kommunistischen Diktatur reaktiviert werden Clara Zetkin beschrieb dies prägnant: „Die Genossenschaften müssen […] den politischen Machtkampf des Proletariats unterstützen und selbst Kampforganisationen gegen den Kapitalismus sein “30 Exemplarisch zeigt sich eine entsprechende Praxis etwa an Ostdeutschland nach 1945: Die gewerblichen Genossenschaften agierten in der DDR noch am eigenständigsten Ihr Musterstatut sah aber seit 1970 ausdrücklich vor, dass sie „auf die Lösung der mit dem Volkswirtschaftsplan gestellten Aufgaben aktiv Einfluss zu nehmen“ hatten 31 Zudem wurden sie offiziell der Aufsicht der örtlichen Kreistage bzw der Stadtverordnetenversammlungen unterstellt Die Konsumgenossenschaften wurden schon vor 1949 bei der staatlich reglementierten Lebensmittelverteilung gegenüber dem privaten Einzelhandel bevorzugt Viele Waren gab es nur in den Konsumverteilungsstellen Diese Bevorzugung wurde schrittweise ausgebaut, während die SED zugleich ihre Bemühungen verstärkte, die Genossenschaften politisch zu kontrollieren und in eine kommunistische Massenorganisation umzuformen Unliebsame Funktionäre wurden als „dem Sozialdemokratismus verfallene“ oder „Sektierer“ verleumdet und mit Gefängnisstrafen bedroht Gleichzeitig wurde eine Kampagne über die „neue Rolle der Konsumgenossenschaften“ begonnen, die eine völlige Unterordnung der Genossenschaft unter die Ziele des Staatsapparates forderte Auf der Gründungsversammlung des Verbandes Deutscher Konsumgenossenschaften (VDK) erklärte dessen Präsident im Jahre 1949 schließlich: „Die Konsumgenossenschaften sind ein integrierter Bestandteil des neuen fortschrittlichen Staatsapparates Ihre Interessen, Aufgaben und Ziele sind in nationaler, gesellschaftlicher und sozialer Hinsicht identisch mit der gesamten Politik der DDR-Regierung “32 So gründete der Konsumgüterhandel der DDR bald auf zwei Säulen: In den Städten dominierten die staatlichen Einzelhandelsgeschäfte der 1948 gegründeten Handelsorganisation (HO), vor allem auf dem Land unterhielten die Konsumgenossenschaften ein zentrales System von Produktionsbetrieben, Kaufhallen und Gaststätten und zeichneten auch für Schulspeisungen verantwortlich Bereits 1950 kontrollierten HO und Konsumgenossenschaften knapp 50 Prozent des Einzelhandels Anfang der 1980er-Jahre erreichten Privatbetriebe nur noch einen Anteil am Handel von knapp 11,5 Prozent, während die Konsumgenossenschaften mit ihren zirka 4,5 Millionen Mitgliedern eine der größten Massenorganisationen der DDR darstellten Noch einschneidender gestaltete sich die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft Zum einen wurden die landwirtschaftlichen Raiffeisengenossenschaften, die nicht mehr nach ihrer wirtschaftlichen Spezialisierung, sondern nach dem Territori30 31 32

Zetkin, Frau und Genossenschaft, S  3 Zit nach http://genossenschaftsgeschichte info/genossenschaften-in-der-ddr-ueberblick-751 [01 07 2018] Zit nach Glaeßner, Arbeiterbewegung, S  105

Wider die Revolution

65

alprinzip aufgebaut waren, schon 1950 mit den von der SED gesteuerten Vereinigungen der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) zu einer staatlich gelenkten Massenorganisation zusammengeschlossen Zum anderen war der Genossenschaftsgedanke in der Landwirtschaft ein zentrales Instrument, um einem Grundanliegen des Kommunismus Genüge zu tun: der Vergesellschaftung der Produktionsmittel Seit den 1950er-Jahren forcierte die SED mit Hilfe eines massiven Werbefeldzuges und diverser Repressionsmaßnahmen die Schaffung landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LPG) Der Grundgedanke war einfach, hatte aber nur wenig mit der Genossenschaftsidee des 19 Jahrhunderts zu tun: Es gab eine gemeinschaftliche Besitzverwaltung von Maschinen oder des Gesamtbetriebes Das Land, das der Bauer einbrachte, gehörte ihm zwar rechtlich weiterhin, doch er räumte der LPG dessen Nutzung ein Der Staat reglementierte die Höhe der Einkünfte, zog einen großen Teil des Gewinns ab und verpflichtete die Genossenschaften, sich überproportional an der Verbesserung der dörflichen Infrastruktur zu beteiligen Ein kleiner Teil der Hauswirtschaft durfte privat betrieben werden, und der Staat gewährte verhältnismäßig hohe Jahresprämien Zudem gab es Hilfen für den Eigenheimbau oder ein Studium, LPG-Bauern wurden bevorzugt mit seltenen Konsumgütern, etwa Waschmaschinen, Kühlschränken, Motorrädern oder PKW beliefert, besondere Unterstützung erfuhren die LPG-eigenen Kinderbetreuungsangebote Das Musterstatut sah vor, dass eine Mitgliederversammlung über den Vorstand und wichtige Angelegenheiten der LPG entschied, realiter wurde der Vorsitzende aber oft per SED-Parteiauftrag von außerhalb eingesetzt Das Prinzip der Freiwilligkeit bestand nur auf dem Papier So gerne sich viele Kleinbauern, speziell mit wenig ertragreichen Böden, den neuen Gemeinschaften anschlossen, so darf nicht übersehen werden, dass die SED-Pressekampagnen gegen beitrittsunwillige Bauern startete Es gab Benachteiligungen bei der Maschinenausleihe und staatliche Unterstützungsleistungen wurden gestrichen LPG-Bauern wurden von Gerichten besser behandelt, Verhaftungen von Verweigerern waren keine Seltenheit Der Austritt aus einer LPG oder die Aufnahme einer Beschäftigung außerhalb der LPG war theoretisch möglich, aber von der Zustimmung der Mitgliederversammlung abhängig und politisch unerwünscht Bevor das Ziel der vollständigen Kollektivierung 1960 erreicht war, schickten die Kreis- und Bezirksleitungen Agitationstrupps in die Dörfer, um den Eintritt der letzten nicht beitrittswilligen Bauern in Produktionsgenossenschaften zu erzwingen Im sogenannten sozialistischen Frühling traten von März bis Mai 1960 mehr als 498 000 Bauern den LPG bei So bestanden in der DDR nun 19 345 LPG mit 945 020 Mitgliedern, die 84,4 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche bewirtschafteten 33 33

Arnd Bauerkämper, Kontinuität und Auflösung der bürgerlichen Rechtsordnung Landwirtschaftliches Bodeneigentum in Ost- und Westdeutschland, in: Hannes Siegrist/David Sugarman (Hg ), Eigentum im internationalen Vergleich (18 –20 Jahrhundert), Göttingen 1999, S   109–134, hier S  127

66 2

Wider die Revolution

Der Antisozialismus war gleichsam Teil genossenschaftlicher Identität

In Großbritannien gelang im 19 Jahrhundert eine recht weitgehende Verbindung von Sozialismus und Liberalismus, weil radikale Positionen durch die frühzeitige Gewährung von Vereins- und Koalitionsfreiheit sowie durch relativ weitgehende Arbeiterschutzgesetze kaum Resonanz finden konnten Die „Entwickelung zu einer wirtschaftlichen Demokratie“ war in der Folge charakteristisch „für die Geschichte der britischen Arbeiterklasse“ und der spezifisch englische Sozialismus ein Sozialismus, „der sich stillschweigend […] in der ganzen Fülle wohlthätiger Gesetzgebung verkörpert hat, welche das Individuum in den Dienst und unter den Schutz des Staates zwingt“ 34 Eine eigene Arbeiterpartei blieb bis Ende des Jahrhunderts entbehrlich, die Genossenschaften mussten im Sozialismus kein Feindbild sehen In den deutschen Staaten sah dies anders aus Die Entwicklungen des 20 Jahrhunderts vermochten die frühen deutschen Genossenschafter kaum zu erahnen, aber ihren Gegner hatten sie klar und mit teilweise prophetischer Genauigkeit im Visier Kaum einer hegte Zweifel, dass die Genossenschaft „durch sozialdemokratischen Klassenkampf “ lediglich gestört werde, denn: „sie ist der Gegensatz zu ihm“ 35 Eduard Pfeiffer war sich beispielsweise sicher, dass die Sozialisten „das Kind mit dem Bade ausschütten wollen Um den Leiden einzelner Classen abzuhelfen, würden sie die ganze Menschheit in’s Elend stürzen Um der Unterdrückung Einzelner entgegenzuwirken, scheu[t]en sie es nicht, eine Tyrannisierung der Gesammtheit herbeizuführen “ Ein sozialistischer Staat war aus Pfeiffers Sicht wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig, er missachte die menschliche Natur und vor allem neige er zur Diktatur: „Gesetzt nun aber, die allgemeine Gleichheit wäre trotz aller Hindernisse durchgesetzt, so wird es immer Einzelne geben, die lieber diese Gleichheit nicht hätten, sie müssten in dem communistischen Staate dann unterdrückt werden“ 36 Kaum mehr hielt Schulze-Delitzsch von sozialistischen Träumereien Für ihn war klar, dass die fortschreitende sozialistische Agitation „unsere politische und wirtschaftliche Entwicklung auf gefährliche Art bedrohe“ 37 Deshalb wollte er mit aller Macht „dem Sozialismus mit seinen Staat und Gesellschaft verderbenden Prinzipien entgegen[ ]treten“ 38 Aus Sorge vor der sozialistischen Bewegung unterstützte Schulze-Delitzsch beispielsweise die 1868 ins Leben gerufenen Hirsch-Dunkerschen Gewerkvereine Für das Prinzip der Koalitionsfreiheit setzte er sich vornehmlich deshalb ein, weil nur „auf dem Boden der vollen Freiheit und Gleichberechtigung für alle Klassen der Gesellschaft […] der Kampf

34 35 36 37 38

Webb, Die britische Genossenschaftsbewegung, S XI u  14 Wilbrandt, Die Bedeutung, S  16 Pfeiffer, Ueber Genossenschaftswesen, S  67 Zit nach Albrecht, Schulze-Delitzschs Leben, S  33 Ebenda, S  36

Wider die Revolution

67

gegen die sozialistische Gleichmacherei […] seinen Auftrag finde“ 39 In persönlicher Auseinandersetzung mit Ferdinand Lassalle, der ihm insbesondere den mangelhaften Nutzen seiner Ideen für die Industriearbeiterschaft vorwarf und den Todeskampf der Kleinbetriebe durch sie unnötig verlängert sah, bezog er klar Position: Während Lassalle die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber äußeren Verhältnissen betonte und den einzelnen Arbeiter im Kapitalismus zur bloßen Ware verkommen sah, stellte Schulze-Delitzsch ungeachtet von nicht zu leugnenden Abhängigkeiten die Macht des Individuums heraus: Der Mensch ist einmal so geartet, dass sich seine volle Leistungsfähigkeit nur da entwickelt, wo man ihn ganz auf eigene Kraft verweist Ihm mit Subventionen zu Hilfe zu kommen, ihn an die Vorstellung zu gewöhnen, er könne sich ja doch nicht selbst helfen, […] heißt: Ihm alle Selbstachtung, jeden Sporn zu tüchtigem Tun nehmen, das stumpft Intelligenz und Tatkraft, lähmt das Vertrauen auf sich selbst und überliefert ihn völlig der Trägheit und dem Leichtsinn 40

Gerade der Fortschritt in der kulturellen Entwicklung führte laut Schulze-Delitzsch zur Freiheit von sozialen Gegebenheiten, und wo die Kraft des Einzelnen nicht ausreiche, könne er durch freiwilligen Zusammenschluss mit in gleicher Lage Befindlichen dazu befähigt werden Besonders hielt er den Gedanken der eigenverantwortlichen Produktivgenossenschaften hoch  – wohl wissend, dass sich kaum solche gegründet hatten Nach Auffassung von Lassalle schuf das Engagement von Schulze-Delitzsch vor allem Bremssteine Er glaubte, dass die Selbstermächtigung der Arbeiter nur auf politischem Wege – mittels einer eigenständigen Arbeiterpartei und der Einführung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts – gelingen könne Schulze-Delitzsch erachtete demgegenüber den „Staat in den Händen der Arbeiter“ als ebenso bedrohlich wie „die Arbeiter in den Händen des Staates“ 41 Eine besonders leidenschaftliche Abwehrhaltung nahmen die Genossenschafter ein, die einen christlich-konservativen Standpunkt vertraten Aus ihrer Perspektive galt der Sozialismus als die Leitidee einer revolutionären Gegenordnung und deshalb mit aller Macht zu bekämpfende Bedrohung Sie war „diametrale[r] Gegner“ – so hat es etwa Burghard von Schorlemer-Alst formuliert, langjähriger Vorsitzender des westfälischen Bauernvereins und erster Präsident der westfälischen Genossenschaften 42 Den Sozialismus deuteten die christlich geprägten Genossenschafter als fortgeschrittensten Teil der liberalen Bewegung und damit als gefährlichste Erscheinung der Moderne So wie Bischof Ketteler den Sozialismus als „widerspenstigen Sohn“ des Liberalismus

39 40 41 42

Zit nach Albrecht, Schulze-Delitzschs Leben, S  70 Zit nach Birnstein/Schwikart, Raiffeisen – Schulze-Delitzsch, S  38 Das sozialpolitische Testament von Schulze-Delitzsch, zit nach Aldenhoff, Schulze-Delitzsch, S  237 Burghard von Schorlemer-Alst, in: Stenografische Berichte, Reichstag, 18 Oktober 1878

68

Wider die Revolution

betrachtete,43 so sah etwa Schorlemer-Alst in ihm „die Vollendung der jetzigen Entwicklungsperiode“44: „Das doktrinäre Antichristentum des modernen Liberalismus“ war vermeintlich im Sozialismus „Fleisch und Bein“ geworden Damit wühlte dieser aus Sicht christlich-konservativer Genossenschafter die Gesellschaft auf, er schuf Unordnung und verhinderte, dass sich der Einzelne dem Herkommen gemäß einen Platz auswählt, „an welchem er nach einem im Voraus angelegten Plan […] Wirksamkeit entfalten kann“ 45 Die Lehren der Sozialisten seien gefährlich, weil sie die elementaren Grundlagen eines vermeintlich gesunden Gesellschaftslebens angriffen: Den Glauben an den persönlichen Gott, die sittliche Verantwortlichkeit des Menschen, den höheren Ursprung des Rechts, […] den Glauben an einen höheren Ursprung der in Familie und Staat, in Obrigkeit und Unterthanen sich gliedernden Gesellschaftsordnung 46

Insbesondere die Abschaffung des Privateigentums verletze den Schöpfungsplan, insbesondere das Gebot „Du sollst nicht stehlen“, durch das „Gott selbst […] die Rechtlichkeit des Privateigenthums betätigt und es zu einem Bestandteil seiner Weltordnung gemacht“ habe 47 In Konsequenz war der Sozialismus für christlich-konservative Genossenschafter gänzlich unfähig zur Lösung des zentralen Gegenwartproblems: der sozialen Frage Wer zur Behebung sozialer Missstände allein auf eine materialistische Lösung setzte und politische Systeme umstürzen wolle, musste ihrer Ansicht nach zwangsläufig scheitern Denn, „wenn das Materielle den letzten Grund für die Erklärung der Welt“ sei, so gebe „es auch kein höheres Princip im Menschenleben“ 48 Ohne Verpflichtung des Individuums auf überkommene, sittliche Werte war aus christlich-konservativer Perspektive eine Gesellschaft nicht überlebensfähig Der Sozialismus bedeute aber gerade die Ablehnung dieses Fundamentalprinzips: dass der Mensch mehr als ist als die äußeren Verhältnisse, in denen er lebt Der Sozialismus wolle nicht wahrhaben, dass die gottgegebene Idee des Menschen Vorbedingung seines Daseins ist, und versuche fatalerweise die revolutionäre Veränderung der äußeren Verhältnisse über die Verantwortung des Einzelnen zu setzen Die Abschaffung der natürlichen, gottgewollten Ordnung konnte folglich aus christlich-konservativer Perspektive nur „ein ganz entsetzliches Unheil, eine gewaltige Zerrüttung unserer europäischen Verhältnisse und unserer ganzen Kultur“ bringen 49 Im Landwirtschaftlichen Genossenschaftsblatt, dem

43 44 45 46 47 48 49

Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Liberalismus, Socialismus und Christenthum, Mainz 1871, S  7 Burghard von Schorlemer-Alst, in: Stenografische Berichte, Reichstag, 18 Oktober 1878 Sigmund von Pfetten-Arnbach an Maximilian von Soden-Fraunhofen, 28 Dezember 1886, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Familienarchiv Soden-Fraunhofen 656 Georg von Hertling, in: Stenografische Berichte, Reichstag, 12 Oktober 1878 Die Socialdemokratie in Bildern, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 3 (1891) Hertling, Naturrecht, S  11 Clemens von Heereman-Zuydtwyck, in: Stenografische Berichte, Reichstag, 4 Mai 1880

Wider die Revolution

69

wichtigsten Publikationsorgan der deutschen Raiffeisenbewegung, war in beispielhafter Weise zu lesen: Was der Sozialismus bringen würde, das wäre der Kampf, der blutige Kampf Aller gegen Alle Völlige Unterjochung und Ausbeutung der Schwachen durch den Stärkeren, ohne Trost und ohne Hoffnung, ohne daß es ein Mittel gäbe, sich dem Joche und der Unterdrückung zu entziehen Zum Ebenbilde der Thiere, deren letztes Ziel die Befriedigung der niederen Triebe ist, würde die arme verblendete Menschheit heruntersinken 50

Umso wichtiger erschien die Aufgabe der Genossenschaften: Da diese „dem heutigen Zeitgeiste“ entgegenstehen und den Gemeinwohlgedanken hochhalten, betrachteten sie Christlich-Konservative als besten Schutz gegen jene „materialistischen Irrlehren, nach welchen es keinen Gott und kein ewiges Leben gibt, und der Mensch nichts weiter als ein vergängliches Naturproduct ist“ 51 Viel besser, „als dies Gesetz und Gewaltmaßregeln vermögen“, seien die Genossenschaften in der Lage, dem im Wahlvolk zusehends erfolgreicheren Sozialismus die Stirn zu bieten 52 In diesem Sinne schien klar: „Das freie Genossenschaftswesen gilt jetzt allgemein als der beste Schutz gegen communistische und socialistische Umtriebe“,53 als der erfolgversprechendste Weg, das „rote Gespenst“ zu vertreiben54 Letztlich, so lässt sich resümieren, beschrieb das Verhältnis von Genossenschaft und Sozialismus also die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘: Sie war aus ihm und gegen ihn entstanden, wider ihn und mit ihm gewachsen Die Frühsozialisten lieferten wichtige Ideen und zugleich etliche Abgrenzungsmöglichkeiten, die Marxisten das zentrale Feindbild Die Mehrheitssozialdemokratie wuchs allmählich in die Genossenschaftsbewegung hinein und wurde zu einer ihrer mächtigen Stützen, der real existierende Sozialismus entkernte und nutzte sie als Herrschaftsinstrument So gab wohl schon Victor Aimé Huber die treffendste Beschreibung der Beziehung von Genossenschaft und Sozialismus: Die Genossenschaft „ist die berechtigte Wahrheit des Socialismus, und dieser die Carrikatur“ der Genossenschaft 55

50 51 52 53 54 55

Ueber Sozialismus und Darlehenskassen-Vereine, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 1 (1892) Raiffeisen-Worte, S  76 u  69 Raiffeisen an den Fürsten zu Wied, 27 Januar 1877, in: Koch, Dokumente und Briefe, S  203 Adolf Held, zit nach Die Socialdemokratie, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt, 3 (1879) Protest gegen das Verbot des internationalen Kooperativ-(Genossenschafts-)kongresses in Paris seitens der kaiserlichen Regierung, 1867, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd  1, S  580–585, hier S  583 Viktor Aimé Huber, Über Assoziationen mit besonderer Beziehung auf England, Berlin 1851, S  4

VI (Trans-)Nationale Leidenschaft Das 19 Jahrhundert war kein Zeitalter der Nationalstaaten, noch um 1900 zeigte die Weltkarte eine klare Dominanz der Imperien Indes kann es als Epoche des Nationalismus und der zunehmenden Bildung von Nationalstaaten gelten Das Reden von der Nation war wie der Liberalismus ein Kind der Aufklärung Der Ruf nach Freiheit, nach Abschaffung von illegitimer Herrschaft und Selbstbestimmung förderte ein Denken, das nach nationalen Gemeinschaften unterschied Die Menschen begannen sich als ‚Völker‘ zu betrachten Ein lediglich auf dem dynastischen Prinzip beruhender Herrschaftsverband wurde ebenso als Zeichen des Mittelalters angesehen wie territoriale Zersplitterung, die Gründung eines einheitlichen Nationalstaates demgegenüber als modern und fortschrittlich Nicht alle anti-imperialen Widerstände hatten einen eigenen Nationalstaat vor Augen, dessen Attraktivität wuchs jedoch rasant Entsprechend blühte das Bemühen, nationale Traditionen zu konstruieren, das Eigene und das Fremde zu ‚erdenken‘, im Sinne von Selbst- und Feindbildern zu handeln Vor allem die Vorstellung vom eigenen als dem ‚auserwählten Volk‘ und die Sakralisierung des ‚Vaterlandes‘ bezeugten die Entstehung einer Art Ersatzreligion Erstmals praktische Relevanz sollte dieser Nationalismus – als Bezeichnung für eine Ideologie, die in der Nation die höchsten Werte verkörpert sieht – in der Amerikanischen Revolution von 1776 und in der Französischen Revolution von 1789 erfahren Mit ihnen hatte sich eine Sicht durchgesetzt, die ‚Volk‘, Staat und Nation gleichsetzte und das 19 Jahrhundert in einem konfliktreichen Spannungsverhältnis mit seinem geistigen ‚Bruder‘, dem Liberalismus, wesentlich prägen sollte Die politischen Weichen für Europa stellte der Wiener Kongress Nach dem Ende Napoleons und fast 23 Jahren Krieg sahen sich die europäischen Staatsmänner 1814/15 in Wien vor die schwierige Aufgabe gestellt, eine stabile Friedensordnung zu zimmern Ein Lösungsmittel war die weitgehende Wiederherstellung der politischen Machtverhältnisse vor der Französischen Revolution Um revolutionäre Umbrüche zu verhindern, sollte wieder ein politisches Gleichgewicht zwischen den Großmächten Europas herrschen Die alten Dynastien wurden als die einzig legitimen betrachtet und deshalb wieder gestärkt Dazu gehörte auch, dass die Staatsmänner in Wien die europäische Landkarte neuzeichneten Frankreich erhielt wieder seine Grenzen von 1791, Öster-

72

(Trans-)Nationale Leidenschaft

reich erweiterte sein Territorium in Norditalien, Preußen bekam zusätzlich u a die Rheinprovinzen zugesprochen Polen wurde erneut unter Österreich, Preußen und Russland geteilt Die Beschlüsse des Wiener Kongresses waren somit einschneidend, wegweisend und sie enthielten erhebliches Konfliktpotential, da sie die vereinigten Kräfte von Liberalismus und Nationalismus befeuerten Im Jahre 1830 gelang in deren Sinne die erste, aber letztlich auch einzige erfolgreiche Revolution gegen die Wiener Friedensordnung: Eine breite gesellschaftliche Koalition, die von Liberalen bis zu national gesinnten Katholiken reichte, sorgte für die Abspaltung Belgiens vom Königreich der Vereinigten Niederlande Das neue Königreich Belgien erhielt eine Verfassung, die liberalen Grundsätzen huldigte und freiheitliche Grundrechte festschrieb Auch das Königreich Polen versuchte sich im Jahre 1830 von der russischen Fremdherrschaft zu befreien Vor allem Soldaten, meist junge Offiziere, und Intellektuelle bildeten eine vorläufige Regierung und erklärten den Zaren als Herrscher Polens für abgesetzt Anders als in Belgien gelang es den Revolutionären jedoch nicht, aus ihrem Aufstand eine nationale Bewegung zu machen Zudem unterstützten andere europäische Mächte die Erhebung nicht So musste die Revolte scheitern Indes war der polnische Wunsch nach Freiheit damit keineswegs erloschen Immer wieder musste sich das russische Zarenreich in der Folgezeit mit polnischen Partisanen herumschlagen, und 9 000 polnische Männer und Frauen, darunter vor allem Soldaten, Intellektuelle und Politiker gingen zur Fortsetzung ihres Kampfes ins Ausland, u a in die deutschen Staaten, wo polnische Fahnen z B beim Hambacher Fest im Jahre 1832 zu sehen waren Der Unmut in den deutschen Staaten über die Wiener Ordnung wuchs beträchtlich, als 1819 die Karlsbader Beschlüsse eine rigide Pressezensur verhängten und die Schaffung einer Art Bundespolizei zur Bekämpfung liberaler und national gesinnter Kräfte, insbesondere an Universitäten, festsetzten Der mächtigste deutsche Herrscher, der preußische König, hielt aber wenig von den Forderungen nach liberalen Reformen, der Erarbeitung einer Verfassung und der Gründung eines deutschen Nationalstaates Nachdem die deutschen Staaten in den 1840er-Jahren noch durch Missernten und eine schwere Wirtschaftskrise gebeutelt worden waren, kam es schließlich im März 1848 überall zu Erhebungen Menschen aller Volksschichten riefen nach freiheitlichen Reformen, nach Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, und sie forderten die deutsche Einheit Allerorten herrschte Ausnahmestimmung, war die schwarz-rot-goldene Fahne als Zeichen für Einheit und Freiheit zu sehen Zunächst gaben die Fürsten den Forderungen der Menschen nach und machten Zugeständnisse Doch auch diese Revolution sollte scheitern Aus dem Ausland gab es fast keine Unterstützung, und es kam zu Konflikten innerhalb der Revolutionsbewegung Etlichen der Revolutionsunterstützer gingen die Veränderungen nicht schnell genug Sie wollten einen umfassenden Wandel und waren für diesen auch bereit, Gewalt anzuwenden Die meisten Revolutionsbefürworter zeigten sich demgegenüber mit dem Erreichten zufrieden, hofften auf die Arbeit der neuen Regierungen und wollten keine radikalen Veränderungen So zerbrach die Revolutionsbewegung Ihre Träger bekämpften sich gegenseitig, und

(Trans-)Nationale Leidenschaft

73

die alten Kräfte erstarkten Es blieben schließlich einige soziale Reformen, beispielsweise hatte der Adel fast keine Vorrechte mehr Aber ein geeintes Deutschland, das nach freiheitlichen Gesichtspunkten organisiert war, gab es nicht Auch die deutsche Revolution war gescheitert und damit ein im 18 Jahrhundert geborener Traum: Dass das Streben nach Einheit und das Streben nach Freiheit natürlicherweise zusammengehören, Nationalismus und Liberalismus gleichsam zwei Seiten einer Medaille seien Mit der Ausnahme Belgiens war keinem europäischen Revolutionsversuch der ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts Erfolg beschieden, und in der Folge setzte sich eine nüchterne Betrachtung von politischem Wandel durch Die Zeit der Träumereien war vorbei In besonderer Weise galt dies für die deutschen Staaten, wo an erster Stelle der seit 1862 amtierende preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck aus der Geschichte „lernen“ sollte Er vollführte eine „weiße“, also konservative Revolution von oben, er handelte jedoch taktisch und abwartend und nach drei erfolgreichen Kriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich aus einer Position der Stärke Er trickste und manipulierte, etwa, wenn er die „Emser Depesche“ zur Provokation Frankreichs instrumentalisierte Aus machiavellistischem Gespür schonte er bisweilen seine Gegner, z B behandelte er Österreich und die mit ihm verbündeten süddeutschen Staaten nach 1866 sehr maßvoll, während Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt am Main rücksichtslos an Preußen angeschlossen wurden Und vor allem wusste er die Mehrheit der liberalen Kräfte für sich zu vereinnahmen und damit gleichsam konservativ zu bändigen, als er ihnen nicht nur die Schaffung eines einheitlichen Deutschlands, sondern auch ein nach allgemeinem Männerwahlrecht zusammengestelltes Parlament, die Schaffung einer starken Judikative sowie eine wirtschaftsliberale Politik in Aussicht stellte Die Gründung des deutschen Kaiserreiches im Jahre 1871 steht somit exemplarisch dafür, dass die politischen Entwicklungen des 19 Jahrhunderts zwar aus den im 18 Jahrhundert entstandenen Utopien resultierten, aber nicht unbedingt in ihrem Sinne Realitäten schufen Nationalisierung und kriegerische Auseinandersetzungen gehörten folglich fest zusammen Kriege hatten die italienische oder die deutsche Einheit ermöglicht, Militär und Krieg waren in der Folge stark positiv konnotiert, Nationalismus und Militarismus hatten eine symbiotische Beziehung Im deutschen Kaiserreich beispielsweise gab es am Ende des 19 Jahrhunderts gleichsam in jeder Ortschaft einen Kriegerverein, der sich vornehmlich dem Gedenken an die sogenannten Einigungskriege verschrieben hatte Seine mit Konzerten, Umzügen und Bällen zelebrierten Stiftungsfeste markierten Hochereignisse, an der die Bevölkerung regen Anteil nahm Auch die wesentlich von den Kriegervereinen getragenen Sedanfeiern, die an den deutschen Sieg über Frankreich erinnerten, entwickelten sich „zu einem großartigen Vaterlands- und Volksfeste“ 1 Beliebtes Ausflugsziel waren nationalistische Ikonen wie das Kyffhäuser-

1

Archiv im Rheinkreis Neuss, Chronik der Schule zu Nettesheim-Butzheim, 2 September 1895

74

(Trans-)Nationale Leidenschaft

denkmal im thüringischen Kyffhäusergebirge, das Wilhelm I als legitimen Nachfolger Friedrich Barbarossas feierte und besondere Bedeutung als jährlicher Treffpunkt des Kyffhäuserbundes, des Dachverbandes der deutschen Kriegervereine, gewann Den vielleicht wichtigsten Katalysator von Nationalismus und Militarismus stellten die Schulen dar Im Geschichtsunterricht der Volksschule etwa lag ein besonderer Schwerpunkt auf den siegreichen Schlachten der preußischen Armee Im Deutschunterricht hatten Achtjährige zu rezitieren: „Ein Herr soll jeder Deutsche sein/ und jeder Feind – sein Knecht!“ Erstklässler sollten Buchstaben über marschierende Soldaten lernen und über marschierende Gänse, Hühner etc in die Heimatkunde eingeführt werden Junge Volksschüler sangen militarisierte Volkslieder wie z B zur Melodie von ‚Kommt ein Vogel geflogen‘: „Wenn ich groß bin, / wenn ich groß bin, / dann werd‘ ich General mit dem Helme auf dem Kopfe, / mit dem Säbel von Stahl“ 2 Bildeten Nationalisierung, damit zusammenhängende kriegerische Auseinandersetzungen und ein frappierender Militarismus wesentliche Signaturen des 19 Jahrhunderts, so sollten jedoch die Gegenbewegungen nicht außer Acht gelassen werden Eine durchaus große Bedeutung kam den zahlreichen nichtstaatlichen politischen Internationalismen der Zeit zu Dazu gehörten beispielsweise die von Karl Marx 1864 persönlich gegründete Erste Internationale und die 1889 in Paris geschaffene, viel umfassendere und stabilere Zweite Internationale der Arbeiterbewegung und ihrer sozialistischen Parteien Auch an das transnationale Netzwerk der Frauenbewegung wäre zu denken Der 1888 in Washington D C gegründete International Council of Women, dem als Dachverband nationaler Frauenorganisationen bald mehrere Millionen Frauen angehörten, war dafür der markanteste Ausdruck Das Engagement zur Abschaffung von Sklavenhandel und Sklaverei war ebenso international ausgerichtet wie der Humanitarismus, der z B in der Gründung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes im Jahre 1864 nachhaltig wirksam wurde Der Pazifismus, der über eine lange Tradition im europäischen, indischen oder chinesischen Denken verfügte, nahm im 19 Jahrhundert einen durchaus beachtlichen Aufschwung Zwischen 1815 und 1850 wurden als Reaktion auf die Napoleonischen Eroberungszüge und den Amerikanisch-Britischen Krieg erste nationale Friedensgesellschaften wie z B die American Peace Society oder die Société de la morale chrétienne ins Leben gerufen wurden Erste internationale Friedenskongresse fanden in den 1840er-Jahren statt Berühmtheit erlangte insbesondere der Pariser Kongress von 1849, weil Victor Hugo dort die Bildung einer Staatenföderation, d h die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“, ventilierte Insbesondere in Anbetracht der verheerenden Auswirkungen des Krimkrieges verstärkten sich dann in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Bemühungen  1867 tagte in Genf die erste Internationale Friedens- und Freiheitsliga, mehrere ähnliche Treffen begrenzten Umfangs folg2

Zit nach Markus Raasch, Erziehung im Ausnahmezustand Eine vergleichende Perspektive auf beide Weltkriege, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 22/1 (2018), S  91–142, hier S  98

(Trans-)Nationale Leidenschaft

75

ten  1889 traten in Paris 310 Aktivisten zum ersten Weltfriedenskongress zusammen, dem bis 1913 insgesamt 23 weitere Kongresse folgten Diese internationale Friedensbewegung, die vornehmlich ein europäisches Projekt mit nordamerikanischen Ausläufern war, trugen auf dem Höhepunkt ihrer Bedeutung weltweit einige zehntausend Menschen Vor diesem Hintergrund waren die Genossenschaften zweifelsohne Agenten der nationalen Idee Nicht zufällig freuten sich beispielsweise deutsche Konsumgenossenschafter über die zunehmenden Mitgliedschaften von Sozialdemokraten auch deshalb, weil die Genossenschaften „die nationale Bedeutung eines Heilmittels gegen vaterlandslose Gesinnung“ hätten 3 Die frühen deutschen Genossenschafter waren in ihrer klaren Mehrheit überzeugte Nationalisten Kaum einer zweifelte an der Höherwertigkeit deutscher Kultur im Allgemeinen und der historischen Sendung Preußens im Besonderen Als junger Mann schrieb etwa Raiffeisen in bezeichnender Weise in ein Gästebuch: „Deutsch zu denken, deutsch zu handeln / Stets den graden Weg zu wandeln / ist des deutschen Mannes Pflicht / Bester, laß uns diese üben, / Nur das Deutsche laß uns lieben, / Es ist gut das Fremde nicht “4 Als preußisch-deutscher Nationalist lehnte Schulze-Delitzsch die polnischen Einigungsbestrebungen aufs schärfste ab Die früheren polnischen Landesteile sollten  – wegen ihrer fortgeschrittenen Germanisierung – unbedingt bei Preußen bleiben Die Preußen säßen hier immerhin „kraft der Macht höherer Kultur“ 5 1861 beklagte Schulze-Delitzsch in einer Wahlrede die Zersplitterung Deutschlands und sprach zugleich davon, dass „der Genius unseres Volkes dafür gesorgt“ habe, dass „sich der gesunde Kern einer neuen, wahrhaft nationalen Macht bildete: Preußen“ Pointiert führte er aus: „Jede große Wendung, jeder Glanzpunkt seiner Geschichte, sehnt sich nach einer jener gewaltigen Gestalten des Hauses Hohenzollern, die den Stolz unseres Volkes ausmachen“ 6 Die persönlichen Bindungen der Genossenschafter zu den Herrschenden gestalteten sich durchaus eng Der hessische Großherzog protegierte beispielsweise die Arbeit von Wilhelm Haas Der preußische König Friedrich Wilhelm IV war Victor Aimé Huber sehr gewogen Ohne seine finanzielle Hilfe hätte er z B nicht seine Zeitschrift Janus herausgeben können Zu Raiffeisens wichtigsten Unterstützern gehörte der Fürst zu Wied, dem er u a eine persönliche Würdigung durch den Kaiser zu verdanken hatte In einem Schreiben des preußischen Ministeriums für Landwirtschaft, Domänen und Forsten vom 22 August 1882 hieß es: Seine Majestät, welcher durch den Fürsten zu Wied über die segensreiche Wirksamkeit der Darlehenskassen-Vereine ausführlicher Bericht erstattet worden ist, [haben] zu befeh-

3 4 5 6

Wilbrandt, Die Bedeutung, S  17 Friedrich Wilhelm Raiffeisen, zit nach Klein, Bankier, S  20 Das Nationalitätsprinzip, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd  1, S  577 Zit nach Birnstein/Schwikart, Raiffeisen – Schulze-Delitzsch, S  84 f

76

(Trans-)Nationale Leidenschaft

len geruht, dass die Verdienste des Gründers und Anwaltes der Darlehenskassen-Vereine und ihres Verbandes, des Bürgermeisters Raiffeisen, ausdrücklich in Allerhöchst Ihrem Auftrage Anerkennung finden sollen 7

Garniert wurde die Anerkennung mit 20 000 Mark und zwei Jahre später mit der Verleihung des Roten Adlerordens 4 Klasse Raiffeisen war sehr stolz auf die vom Kaiser erwiesenen Ehren, hielt es aber für gut, „wenn dies Ereignis nicht veröffentlicht würde, da es auf gewissen Seiten nur Neid hervorrufen und wieder Anlaß zu allerlei Unannehmlichkeiten geben könnte “8 Das Landwirtschaftliche Genossenschaftsblatt publizierte dessen ungeachtet eine Eloge in Liedform auf den deutschen Kaiser; als Melodie sollte das ‚Heil Dir im Siegerkranz‘ dienen: Der Schwachen Schirm und Schutz Und der Bedrängten Trutz, Stets hilfsbereit Trage der Gnade Pfand, Die Kron’ aus Gottes Hand Für’s deutsche Vaterland Glanzvoll allzeit! Erschall, o Festgesang Wie lauter Glockenklang! Dem Kaiser Glück! Weiche, Du kühne Aar Mit der Getreuen Schaar In Stürmen und Gefahr Nimmer zurück! Um deinen Thron erblüh’n Die Söhne stark und kühn Den Vätern gleich Schirme, o treuer Gott, Starker Herr Zebaoth, Ferner in aller Noth Kaiser und Reich!9

Der Glaube an die Ausnahmestellung des eigenen Volkes prägte auch die Vorstellungen vom Genossenschaftswesen, das gerne in germanischer Tradition als typisch deut-

7 8 9

Zit nach Birnstein/Schwikart, Raiffeisen – Schulze-Delitzsch, S 84 f Zit nach Willy Krebs, Friedrich Wilhelm Raiffeisen Ein Kapitel bäuerlicher Selbsthilfe, 3 Aufl , Neuwied 1955, S  136 Raiffeisens Kaiserlied, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 10 (1891)

(Trans-)Nationale Leidenschaft

77

sche Organisationsform gesehen wurde Der Verfasser der ersten deutschen Genossenschaftsgeschichte schrieb: Keinem anderen Volke in dem Zuge nach Universalität und in der Fähigkeit zu staatlicher Organisation nachstehend, die meisten an Liebe der Freiheit übertreffend, haben die Germanen eine Gabe vor allen Völkern voraus, durch welche sie der Freiheitsidee einen besonderen Gehalt und der Einheitsidee eine feste Grundlage verliehen haben, – die Gabe der Genossenschaftsbildung […] Und jene Kraft, welche die Germanen vom Beginn der Geschichte an auszeichnete, und aus allen verhängnisvollen Wechseln siegreich wieder hervorging, die schöpferische Associationskraft, lebt und wirkt mehr als in irgend einem Volk im deutschen Volk von heute 10

Gerne griffen Genossenschafter in ihren Reden dieses nationalistische Pathos auf und stellten heraus: „Kein anderer menschlicher Gedanke ist für die ursprüngliche Entfaltung des deutschen Geistes wesentlicher gewesen als der Genossenschaftsgedanke, in keiner anderen Erscheinung hat sich das deutsche Wesen kernhafter dargestellt als im Genossenschaftswesen “11 Auch jenseits der deutschen Grenzen bestand freilich ein enger Zusammenhang zwischen Genossenschaften und – häufig Nation-building begründendem – Nationalismus Dies galt etwa für Finnland, das seit 1808 als Großfürstentum unter der Herrschaft des russischen Zaren stand, und vor allem für die Nationalbewegungen in der Habsburger-Monarchie Hier wurden Genossenschaften gezielt zur Förderung der „nationalen Sache“ genutzt Die Lage der Tschechen war beispielsweise u a deshalb prekär, weil die existierenden Banken Vereinen und Privatpersonen, die der tschechischen Nationalität angehörten, keinen oder lediglich sehr beschränkt Kredit gaben Die wachsende Zahl von Kreditgenossenschaften änderte dies und damit war den nach Autonomie strebenden Völkern des Habsburger-Reiches sowohl ein wirtschaftliches als auch ein politisches Kampfmittel an die Hand gegeben worden Die tschechischen Kreditvereine nutzten z B einen Großteil der erzielten Gewinne – zum einen, um sich endlich Zugang zu Kredit und Finanzdienstleistungen zu schaffen, zum anderen zur gezielten Förderung der tschechischen Volksbildung 12 Bezeichnenderweise gab es 1868 in der gesamten Donaumonarchie 418 Vorschuss- und Kreditvereine, von denen 295 tschechisch waren Es existierten 237 Konsumvereine, davon 148 tschechische 13 Schon seit 1865 bestand ein Verband für böhmisch-mährische Genossenschaften der Tschechen in Prag Schulze-Delitzsch und seine Gefolgsleute zeigten sich bald empört 10 11 12 13

Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Berlin 1873, S  3 f Kurt Albert Gerlach, Die Frau und das Genossenschaftswesen, Jena 1918, S  20 Hans-H Münkner, Schulze-Delitzschs internationale Ausstrahlung, in: Förderverein Hermann Schulze-Delitzsch, Schulze-Delitzsch, S  314–343, hier S  325 f Hans Hofinger, Gewerbliche Genossenschaften in der Donaumonarchie, in: Historischer Verein bayerischer Genossenschaften e V (Hg ), Die Anfänge der modernen Genossenschaftsbewegung in Bayern, Österreich und Südtirol, München 1998, S  176–203, hier S  186

78

(Trans-)Nationale Leidenschaft

und empfanden es „als eine beschämende Tatsache, dass durch tschechische Rührigkeit und deutsche Versäumnis die Ausführung echt deutscher Gedanken durch die Tschechen zur Schwächung der Stellung der Deutschen in Österreich führt“ 14 Gleichwohl oder gerade deswegen erfolgte nach tschechischem Vorbild an verschiedenen Stellen die Gründung nicht-deutscher Verbände: 1874 für galizische Genossenschaften in Lemberg, 1890 für slowenische Genossenschaften in Cilli und 1895 für italienische Genossenschaften in Triest Und auch im Baltikum entwickelten sich Genossenschaften zum Rückgrat der national-emanzipatorischen Bewegung Allerdings: Die Bedeutung der Genossenschaften als Motoren der nationalen Idee muss auch relativiert werden Das Denken der deutschen Genossenschafter beispielsweise wurde nicht durch den Nationalismus dominiert Der christlich-konservative Flügel, vor allem deren Katholiken, hatte eine enge Bindung an die Habsburgermonarchie, die Annexion von Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt durch Preußen im Jahre 1867 war vielen ein Dorn im Auge Der bayerische Genossenschaftsfürsprecher Franz Freiherr von Gruben brachte dies auf den Punkt: Wir leben in einer Zeit, wo die faktischen Autoritäten zugleich mit den autoritativen Principien umgestoßen sind Keine legitime Herrschergewalt wird mehr anerkannt, über die Frage der Entthronung der Monarchen geht man hinweg mit einer Gleichgültigkeit, als handele es sich um den Wechsel der Mode 15

Der Weg ins Deutsche Reich war dementsprechend für etliche Genossenschafter durchaus weit; vornehmlich Verantwortungsethik ließ sie die neuen Realitäten anerkennen, die – wie Bischof Ketteler es ausdrückte – „wir nicht geschaffen haben, die wir aber auch nicht ändern können “16 Bei den liberalen Kräften der Genossenschaftsbewegung sah dies zweifelsohne für gewöhnlich anders aus, doch auch viele von ihnen bekannten sich nicht vorbehaltlos zur deutschen Nation Sicherlich hatte z B Schulze-Delitzsch vorgehabt, der späteren Fortschrittspartei den Namen „Nationale Partei“ zu geben Er hob damit jedoch vor allem auf den innenpolitischen Kampf in allen deutschen Einzelstaaten gegen die einer deutschen Einigung jeweils entgegenstehenden Dynastien und für ‚konstitutionelle‘ Zustände ab 17 Auch in der polnischen Frage hielt Schulze-Delitzsch durchaus das nationale Selbstbestimmungsrecht hoch So bekämpfte er aufs schärfste die preußisch-russischen Absprachen zur Niederwerfung des polnischen Aufstandes zu Beginn des Jahres 1863 und forderte ein selbständiges Polen auf Kosten der russischen Gebiete 18 Ähnlich polenfreundlich hatte sich Huber 14 15 16 17 18

Zit nach Hofinger, Gewerbliche Genossenschaften, S  186 f Gruben, 19 März 1870, zit nach: Heinz Wilfried Sitta, Franz Joseph Freiherr von Gruben Ein Beitrag zur politischen Geschichte des deutschen Katholizismus, Würzburg 1953, S  64 Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Deutschland nach dem Kriege von 1866, 4 Auflage, Mainz 1867, S  68 f Aldenhoff, Schulze-Delitzsch, S  136 f Ebenda, S  124

(Trans-)Nationale Leidenschaft

79

nach dem gescheiterten Aufstandsversuch gegen die russische Fremdherrschaft geäußert 19 1867 verließ Schulze-Delitzsch mit Groll den Deutschen Nationalverein, der sich für die Schaffung eines liberal geprägten, kleindeutschen Staates stark gemacht hatte So sehr er auf der besonderen Rolle Preußens in der Geschichte insistierte, so wenig wollte er gerade nach dem bahnbrechenden Sieg gegen Österreich im Jahre 1866 auf freiheitliche Reformen verzichten Stets betonte er, dass „die Nationalität nicht der letzte Endzweck des Daseins, sondern nur Mittel zum Zweck“ sei: „die Nationalität muß sich einer höheren Einheit unterordnen, der Humanität!“ In Konsequenz wollte er „den einzelnen Nationen ihre Berechtigung nur zuerkennen, insoweit sie in die Gesamtentwicklung der Menschheit fördernd eingreifen, etwas sind und leisten, was dem Ganzen, was der gesamten Kulturentwicklung zustatten kommt “20 Überdies hatten die frühen Genossenschafter nicht nur ein durchaus komplexes Verhältnis zur Nation, sie verstanden ihr Projekt in gewisser Hinsicht auch als transnational So prägte der internationale Austausch die Genossenschaftsbewegung von Anfang an Die Genossenschaftspioniere waren regelmäßig im Ausland, vor allem in England und Frankreich Mit großem Einsatz besorgten sie sich Informationen aus erster Hand über den Stand der Arbeiterfrage und einschlägige Genossenschaftsprojekte Immer wieder besuchten sie internationale Kongresse und Tagungen Gerade wegen seiner Auslandserfahrungen war Huber wohl derjenige, der „als erster in Deutschland auf die Genossenschaft […] aufmerksam“ machte 21 Für intensive transnationale Zusammenarbeit im Genossenschaftswesen stand auch Wilhelm Haas Er war immerhin maßgeblich an der Errichtung des Internationalen Bundes der landwirtschaftlichen Genossenschaften im Jahre 1907 beteiligt, durch den „die in den einzelnen Ländern in den vielen genossenschaftlichen Betrieben gesammelten Erfahrungen gegenseitig ausgetauscht und nutzbar gemacht […] werden“ sollten 22 Schon 1911 gehörten dem Bund elf Länder an: Deutschland, Österreich, Schweiz, Italien, Dänemark, Niederlande, Ungarn, Serbien, Frankreich und Schweden Japan hatte sich zur Aufnahme gemeldet Darüber hinaus wurde 1895 in London der Internationale Genossenschaftsbund (IGB) gegründet, der sich vor allem an den Prinzipien der Rochdaler Pioniere orientierte und im Jahr 2018 über 200 nationale Genossenschaftsverbände aus allen Bereichen der Wirtschaft mit rund 900 000 Millionen Einzelmitglieder vertrat Des Weiteren gilt es zu bedenken, dass die Genossenschafter ihre Arbeit auch als Mittel internationaler Friedenspolitik betrachteten – ohne indes ihr ausgeprägtes nationales Machtstaatsdenken zu überwinden und Krieg als legitimes Mittel der Politik in Frage zu stellen Die christlich-konservativen Genossenschafter argumentierten dabei vornehmlich auf einer ideellen Ebene Ihre Vorstellung einer internationalen Frie19 20 21 22

Baumann, Huber, S  226 Das Nationalitätsprinzip, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd  1, S  577 Faust, Huber, S  8 Zit nach Maxeiner, Vertrauen, S  114

80

(Trans-)Nationale Leidenschaft

densordnung beruhte auf der Kooperation christlicher Nationen, Nicht-Christen wurden als minderwertig und/oder gefährlich erachtet Huber beispielsweise glaubte an den „gerechten Krieg“ und sah einen gewaltsamen Kampf für die nationale Sache als gerechtfertigt an Gleiches gelte, wenn das christliche Europa gegen das „Heidentum“ verteidigt werden musss Krieg wider einen „heidnischen“ Staat wie das Osmanische Reich käme der Bestrafung eines Verbrechers gleich: Es ist ein bestialischer Riese, der als halb feudaler Leichnam, halb noch in epileptischen Krämpfen und Opiumrausch um sich rasend, über dem schönsten Theil des östlichen Europas hingeworfen liegt Ein solches Unthier hat keinen Anspruch auf Ebenbürtigkeit mit christlichen Staaten 23

Freilich verurteilte Huber sowohl Eroberungsfeldzüge und gewaltsame Kolonisation wie auch den im Sklavenhandel manifest werdenden Rassismus Er nannte einen weißen Sklavenhändler einen „weißen Kain“ und einen schwarzen Sklaven einen „schwarzen Bruder Abel“24 Sein Wille und Ziel waren die europäische Einheit und die internationale Völkerverständigung – auf christlich-konservativer Grundlage: Und so hält der konservative Standpunkt allerdings die allgemeine Aufgabe, das Ziel der internationalen Politik fest: Die Gestaltung eines allmählich alle Weltteile umfassenden europäischen Völker- und Staatslebens, Völker- und Staatsrechts auf den Grundlagen und zu den Zwecken christlich-monarchischer Bildung 25

Zur Schaffung der europäischen Einheit stellte sich Huber einen europäischen Kongress vor, auf dem die europäischen Nationalstaaten vertreten sein würden Dieser Kongress sollte zur Lösung der gemeinsamen Probleme der christlich-monarchischen Staaten Europas sowie zur Verminderung der Kriegsgefahr beitragen Den Genossenschaften maß er in diesem Zusammenhang eine wichtige flankierende Aufgabe zu Von ihrer grenzüberschreitenden Kraft war er fest überzeugt Gleiches galt für Raiffeisen, der von einer globalen christlich geprägten Genossenschaftsorganisation träumte, d h einer „weiße[n] Internationale, welche sich zur Aufgabe setzt, dem Staate den Mittelstand zu erhalten als Bollwerk gegen das Treiben des Großkapitals einer- und des Sozialismus andererseits“ Raiffeisens Sohn forderte entsprechend nachdrücklich: „Möge sich diese weiße Internationale immer mehr ausbreiten, nicht nur bei uns in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern “26 Konkretere Züge nahm das Engagement von Liberalen wie Schulze-Delitzsch an Er hegte beispielsweise Sympathien für den 1867 in Genf einberufenen Gründungskongress der Liga für Frieden und Freiheit, welche die Schaffung der Vereinigten Staa23 24 25 26

Huber, zit nach Yu, Huber, S  187 Ebenda Yu, Huber, S  189 f Aus den Vereinen und Verbänden, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 6 (1891)

(Trans-)Nationale Leidenschaft

81

ten von Europa (auch der Titel ihrer Zeitschrift) anstrebte In einem Schreiben an den Gründungskongress artikulierte Schulze-Delitzsch deutlich seine Ängste vor der unheilvollen Verbindung von Nationalismus und Krieg: Soweit ist indessen der nationale Geist bei uns erstarkt, dass wir die Einmischung des Auslandes in unsere inneren Angelegenheiten unter keiner Bedingung dulden Eine entsetzliche Geschichte Jahrhunderte langer Zerrissenheit, Ohnmacht und Schmach liegt mahnend vor unseren Blicken Seit den furchtbaren Religionskämpfen des 16 und 17 Jahrhunderts bis zu den blutigen Feldzügen des ersten Kaiserreichs sind fast alle großen europäischen Kriege in unsern Grenzen und auf unsere Kosten ausgefochten worden und haben unser Vaterland zur Wüste gemacht 27

Die Genossenschaften sah er als friedensstiftendes Modell – einerseits weil sie überparteilichen Charakter besäßen und „Bekenner der verschiedensten Ansichten in politischer wie in religiöser Beziehung“ vereinten“ 28 Andererseits glaubte er, dass sie den Fortschritt in richtige Bahnen lenken, den Arbeitern helfen und Wohlstand, Wissen und Erkenntnismöglichkeiten substantiell verbreitern würden Und hätten „sich die arbeitenden Klassen untereinander über die Einheit ihrer Interessen […] verständigt, so [sei] der allgemeine energische Protest gegen den Krieg in allen zivilisierten Staaten die notwendige Folge davon“: Je mehr Wohlstand und Bildung sich unter den Massen verbreitern, desto weniger werden diese geneigt sein, Gut und Blut, die mühsam Güter an Besitz und Gesittung in Kämpfen auf das Spiel zu setzen, wo Mittel und Zwecke ihrem eigenen Gedeihen und Emporkommen schnurstracks zuwider laufen […] Nicht also Feinde, sondern Stützen staatlicher Ordnung sind die Genossenschaften, nicht den Krieg, den Frieden bringen sie der Gesellschaft!29

Allerdings lehnte Schulze-Delitzsch eine Einladung zum Gründungskongress der Liga für Frieden und Freiheit ab  – mit Verweis auf das vermeintlich aggressive französische Verhalten Außerdem besaß seine Friedensliebe klare Grenzen: Schon 1861 – drei Jahre vor Ausbruch des deutsch-dänischen Krieges – veranlasste er einen Aufruf, in dem zu Spenden für das preußische Marineministerium aufgerufen wurde Mit dem Geld sollten Dampfkanonenboote zum Schutz der deutschen Nord- und Ostseeküste finanziert werden Dies erschien ihm angesichts eines möglichen Krieges mit Dänemark besonders sinnvoll 30 Gleichsam selbstverständlich trat er später dafür ein, in den 27 28 29 30

Schulze-Delitzsch, zit nach Birnstein/Schwikart, Raiffeisen – Schulze-Delitzsch, S  44 Der Ausschluß der Winzervereine Mayschoß und Walporzheim aus dem Allgemeinen Genossenschaftsverbande und die ultramontane Presse, 1873, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd  1, S  590– 596, hier S  595 Zit nach Birnstein/Schwikart, Raiffeisen – Schulze-Delitzsch, S  45 Aufruf an die deutschen Genossenschaften zu Beiträgen für die deutsche Flotte, 1861, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd  1, S  552–555, hier S  552

82

(Trans-)Nationale Leidenschaft

Schleswig-Holstein-Konflikt mit deutschen Truppen einzugreifen und „die Selbsthilfe eines edlen Volksstammes zu unterstützen“ Denn der Frieden ist ein köstliches Gut für den fleißigen Bürger und Landmann […] Aber das ist die schlechteste Art, den Frieden zu wahren, wenn man zeigt, daß man den Krieg, auch den gerechtesten, fürchtet und lieber jede Vergewaltigung, jeden Raub des Feindes über sich ergehen läßt 31

Den Krieg mit Frankreich 1870/71 begrüßte Schulze-Delitzsch vorbehaltlos, ebenso stimmte er für die Kriegskredite: Denn darüber soll sich niemand täuschen: daß mit der nationalen Existenz unseres Volkes zugleich unser aller Privatexistenz in wesentlichen Beziehungen bedroht ist; daß in der Vergewaltigung der politischen Selbstständigkeit des Vaterlandes durch den äußeren Feind die selbstständige Ordnung unserer inneren Institutionen, die Gestaltung unserer wirthschaftlichen und humanen Zustände nach unserer eigenen freien Entschließung angetastet und somit auch alles dasjenige vielfach gekreuzt wird, was gerade Sie zu Ihrem Emporkommen mit eigener Initiative in die Hände genommen haben Deshalb muß der Krieg geführt werden als ein Volkskrieg mit der vollen Wucht der gesamten Volkskraft bis zum völligen Austrag der Sache 32

Scharf wies Schulze-Delitzsch den Aufruf der internationalen Friedens- und Freiheitsliga vom 5 September 1870 zurück, der die neue französische Republik zum öffentlichen Verzicht auf deutsche Gebiete und Deutschland zum Niederlegen der Waffen aufforderte Er war der festen Überzeugung, dass Deutschland gegen einen Aggressor für höhere Ideale kämpfte Überdies ging er davon aus, dass der Sieg über Frankreich Deutschland einen kontinuierlichen Kulturfortschritt ermögliche, der schließlich auch die Arbeiterfrage lösen werde Vehement wandte er sich gegen eine Einmischung ausländischer Mächte auf den Friedensschluss Allein „die Interessen der deutschen Nation“ sollten ausschlaggebend sein 33 Dass die Genossenschafter zwischen Nationalismus und transnationalem Denken schwankten und sich diese sogar wechselseitig bedingten, zeigt sich nicht zuletzt an der Art, wie in Deutschland bis ins 21 Jahrhundert über den weltweiten Erfolg der Kreditgenossenschaften geredet wurde Hier mischten sich stets internationales Solidaritäts- und nationales Überlegenheitsgefühl Die deutschen Genossenschafter waren stolz, wenn das Ausland von ihnen lernen wollte, und wurden nicht müde, ihre großen Erfolge bei der Internationalisierung des Genossenschaftsgedankens zu illustrieren: Raiffeisen sprach gerne darüber, dass bei ihm regelmäßig ausländische Besucher zu 31 32 33

Für Schleswig-Holstein, 1863, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd  1, S  555–557, hier S  555 u  556 Die politische, soziale und sittliche Bedeutung des Krieges Rede, gehalten am 2 September 1870 im Berliner Arbeiterverein, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd  4, S  664–672, hier S  664 f Ebenda, S  665 f

(Trans-)Nationale Leidenschaft

83

Gast waren: „Herren aus Wien, eine Abordnung aus Frankreich, schwedische Hochschullehrer…“ 34 Mit großer Genugtuung blickte er auf die zahlreichen ausländischen Übersetzungen seines Darlehenskassen-Buches und nicht zuletzt die wachsende Zahl von Raiffeisengründungen jenseits der deutschen Grenzen Auf den Vereinstagen der ländlichen Genossenschaften oder im Landwirtschaftlichen Genossenschaftsblatt wurde stets betont, dass man auf „internationalem Boden“ stehe 35 „Mit edlem Stolze und freudiger Genugthuung“ folgten Berichte über ausländische Genossenschaftsgründungen36 – ob nun in Österreich, der Schweiz, Frankreich, England, Dänemark, Deutsch-Südwestafrika oder Indien Das Landwirtschaftliche Genossenschaftsblatt frohlockte schon in den 1880er-Jahren, dass „heute die genossenschaftliche Bewegung nach dem deutschen Muster eine vollständig internationale geworden“ sei 37 Auch Schulze-Delitzsch stellte mit Stolz in Wahlreden heraus: „Schulze-Delitzsch ist eine Firma, die in sämtlichen Kulturländern Europas ihre Geltung hat “38 Bis heute ist jede Darstellung der Genossenschaften auch eine Darstellung ihrer internationalen Erfolgsgeschichte, werden gerne Länder und Zahlen aufgezählt, mischt sich das Internationale mit deutschem Sendungsbewusstsein Es wird z B hervorgehoben, dass • das österreichische Genossenschaftsgesetz von 1873 in wesentlichen Teilen dem Beispiel des preußischen Genossenschaftsgesetzes von 1867 folgte, das in allen wichtigen Punkten dem Entwurf von Schulze-Delitzsch entsprach • die erste Raiffeisenkasse auf dem Gebiet des heutigen Österreich im Jahr 1886 in Mühldorf bei Spitz in Niederösterreich gegründet wurde und es nach der Jahrhundertwende bereits 1 000 solcher Einrichtungen gab, die zugleich die Ausgangsbasis für den Aufbau von Waren- und Verwertungsgenossenschaften bildeten • die erste Raiffeisenkasse in der Schweiz 1899 am Bichelsee entstand und sich ihr Quantum bis in die 1960er-Jahre auf über 1 100 und damit einen Anteil von knapp 70 Prozent an der Gesamtzahl der Schweizer Banken erhöhte • bereits 1851 in Ungarn die erste Darlehenskasse für Handwerker nach den Prinzipien von Schulze-Delitzsch ins Leben gerufen wurde und 1870 auf polnischem Boden Genossenschaften sowohl nach dem Modell von Schulze-Delitzsch als auch von Raiffeisen entstanden, dass es in Slowenien seit 1872 zu ersten Genossenschaftsgründungen kam und in Bulgarien ab 1890 Spar- und Darlehenskas34 35 36 37 38

Braumann, Ein Mann, S  257 Protokoll des Vereinstages ländlicher Genossenschaften am 6 Juli 1892 zu München, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt, 8/9 (1892) Protokoll des Vereinstages ländlicher Genossenschaften, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 7 (1889) Die Raiffeisen’schen Darlehenskassen im Auslande, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt  3 (1886) Wahlrede, gehalten am 21 Oktober 1881 zu Wiesbaden, in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd   4, S  840–861, hier S  840

84







• •





39 40 41

(Trans-)Nationale Leidenschaft

sen nach Raiffeisen’schem Muster, seit 1903 Volksbanken nach dem Vorbild von Schulze-Delitzsch entstanden in Italien die Schulze’schen Ideen von Luigi Luzatti verbreitet wurden, der 1864/65 zusammen mit Francesco Vigano die erste Kreditgenossenschaft nach dessen System ins Leben rief, die erste Darlehenskasse „im Anschluß an die Raiffeisen’schen Originalstatuten“39 1883 zu Loreggia in der Nähe von Padua gründete und Italien 1915 bereits knapp 3 000 solcher Kassen zählte Schulze-Delitzsch in Frankreich intensiv rezipiert wurde („Weicht so wenig wie möglich von dem durch Deutschland gesetzten Beispiel ab, verlasst nicht den von Schulze-Delitzsch beschriebenen Weg“40), aber in Relation wenig Nachahmer fand, und Louis Durand, ein Anwalt aus Lyon, ab 1890 die Gründung von Durand-Raiffeisenkassen betrieb, deren Zahl am Vorabend des Ersten Weltkrieges auf über 1 700 angewachsen war es in Schweden Landwirtschaftskassen Raiffeisen’scher Art seit 1915 gab und 1930 183 von ihnen sowie fünf Zentralkassen mit 14 000 Mitgliedern existierten, in Lettland 1917 236 Kreditgenossenschaften nach dem Muster Schulze-Delitzschs mit 112 000 Mitgliedern und in Russland vor dem Ersten Weltkrieg wohl rund 12 000 Raiffeisen-Genossenschaften sowie etwa 6 500 Volkskreditinstitute nach Schulze-Delitz’schem Muster bestanden41 1899 in Japan ein Genossenschaftsgesetz nach dem Modell Schulze-Delitzschs verabschiedet wurde und die Zahl der Genossenschaften dort bereits 1914 bei 11 160, 1920 bei 20 000 Genossenschaften lag das 1904 in Indien nach deutschem Vorbild erlassene Genossenschaftsgesetz 1946 von der britischen Kolonialverwaltung zum Modellgesetz für alle unter englischer Verwaltung stehenden Gebiete in Asien, Afrika und der Karibik gemacht wurde und in den 1950er-Jahren die besondere Genossenschaftsverordnung im frankophonen Afrika beeinflusste, die 1955 das bis dahin geltende französische Genossenschaftsrecht ablöste bereits gegen Ende des 19 Jahrhunderts landwirtschaftliche Kreditgenossenschaften in Argentinien gegründet wurden und zu Beginn des 20 Jahrhunderts deutsche Einwanderer die Raiffeisen-Kreditgenossenschaft im Süden von Brasilien heimisch machten es Raiffeisen-Denkmale in Wien oder Prag gab, in Siebenbürgen oder in Utrecht Raiffeisen-Häuser standen, in Japan die Verehrung so groß war, dass der dortige Genossenschaftsverlag eine deutsche Raiffeisenbiografie ins Japanische übersetzen ließ, und dass Xue Xianzhou, der Vater der ersten chinesischen GenossenDie Raiffeisen’schen Darlehenskassen im Auslande, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt  6 (1886) Zit nach Münkner, Schulze-Delitzschs internationale Ausstrahlung, S  323 Anselm Hillmann, Jüdisches Genossenschaftswesen in Russland, Berlin 1911, S  45

(Trans-)Nationale Leidenschaft



85

schaftsbewegung, sich während seines Studiums in Berlin von Schulze-Delitzsch und Raiffeisen inspirieren ließ der Welt-Raiffeisentag, der im Juni 1968 in Frankfurt am Main stattfand, 5 000 Teilnehmer aus einundsiebzig Ländern vereinte und die Internationale Raiffeisen-Union schuf, die das Erbe des Genossenschaftsgründers pflegen möchte, zu diesem Zeitpunkt „die Zahl der Mitglieder der nach dem ‚System Raiffeisen‘ arbeitenden Genossenschaften […] in der ganzen Welt auf mindestens 80 Millionen geschätzt“ wurde 42

Bezeichnenderweise sprachen viele, u a Bundespräsident Heinrich Lübke  – seines Zeichens ehemaliger Generalanwalt des Deutschen Raiffeisenverbands – im Kontext des Welt-Raiffeisentags davon, dass Genossenschaften „einer der besten Exportartikel“ Deutschlands aller Zeiten seien 43 Andere Festredner scheuten sich nicht, „Raiffeisens Genossenschaftsidee als wertvolle Entwicklungshilfe Deutschlands“ zu bezeichnen 44 Und als die Vereinten Nationen 2012 ein Internationales Jahr der Genossenschaften ausriefen, beeilte sich Bundespräsident Christian Wulf herauszustellen, dass dies „auch ein besonderes Jahr für die Bundesrepublik Deutschland“ sei, denn – so meinte er – „die weltweite Genossenschaftsbewegung wurde maßgeblich von der in Deutschland entwickelten Genossenschaftsidee beeinflusst “45 So lässt sich resümieren, dass die Genossenschaftsidee für ein spannungsvolles ‚Sowohl-Als-Auch‘ steht In Deutschland wurde sie von überzeugten, mit den Herrschenden vernetzten Nationalisten verbreitet und nationalistisch begründet In etlichen europäischen Ländern beförderte sie separatistischen Nationalismus Zugleich hatte sie viele Fürsprecher, die dem Nationalismus keine Priorität beimaßen, andere Loyalitäten oder Werte als wichtiger erachteten Der Genossenschaftsgedanke lebte vom internationalen Austausch und wurde – mit unterschiedlichen politischen Ausdeutungen – als Mittel internationaler Friedenspolitik betrachtet Es gab auch Berührungspunkte zur Friedensbewegung, allerdings zweifelte keiner der frühen Genossenschafter an der Legitimität von nationaler Machtstaatspolitik und Krieg Das Zweideutige in der Haltung zur eigenen Nation zeigt sich im Reden über die internationalen Erfolge der Kreditgenossenschaften

42 43 44 45

Pressemitteilung, Welt-Raiffeisentag 1968, in: GIZ, A-DRV-Kom2012-16-I Raiffeisen heute, in: GIZ, A-DRV-Kom2012-16-II; Heinrich Lübke, Moralische Verpflichtung und wirtschaftliche Vernunft, in: GIZ, A-DRV-Kom2012-16-I Rede Rolf Scheuten, Raiffeisen – gestern, heute und morgen, in: GIZ, A-DRV-Kom2012-16-II Grußwort von Bundespräsident Christian Wulff für das Internationale Jahr der Genossenschaften 2012, in: GIZ, A-Varia 26

VII Deutscher Sonderweg Wie war Hitler möglich? Über keine andere Frage hat die Geschichtswissenschaft in den letzten 70 Jahren wohl intensiver nachgedacht Das 19 Jahrhundert ist dabei immer wieder ins Blickfeld geraten – sei es als Negativfolie oder als Vorgeschichte Die wirkungsmächtigste Erklärungsfigur für den Aufstieg des Nationalsozialismus bildete lange Zeit ein angeblicher deutscher Sonderweg: Die Deutschen hätten anders als Engländer, Franzosen und Amerikaner keine liberale Revolution zustande gebracht und auch kein kraftvolles Bürgertum als Träger eines demokratischen Emanzipationsdrangs hervorgebracht Spätestens nach der Reichsgründung von 1871 seien sie vom Normalweg in Richtung „Westen“ abgekommen Ein unheilvolles Bündnis von moderner Großindustrie und konservativen Kräften in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft habe die schwachen freiheitlich-demokratischen Traditionen unterdrückt und das Land sich an autoritär-diktatorische Herrschaft gewöhnen lassen Ein struktureller Antisemitismus habe in diesem Zusammenhang eine nicht unwesentliche Rolle gespielt und stehe für die verhängnisvollste Kontinuität zwischen dem 19 Jahrhundert und dem „Dritten Reich“ Die kritische Reflexion solcher Traditionslinien hat die Genossenschaftsgeschichte fast völlig vernachlässigt Die Unterschiede zwischen dem Genossenschaftsgedanken des 19 Jahrhunderts und der NS-Ideologie könnten prinzipiell kaum größer sein Wird das schwierige Verhältnis des Sozialismus zur Genossenschaft außen vorgelassen, stehen auf der einen Seite eine säkular-liberale sowie eine christlich-konservative Lesart Beide messen jedem Individuum einen unveräußerlich hohen Wert bei, beide denken das Gemeinwohl vom Einzelnen her, beide sehen sich den Prinzipien von Wettbewerb und Subsidiarität verpflichtet, beide sprechen in der Folge dem Staat eine untergeordnete Bedeutung zu Erstere erklärt den mündigen, selbstverantwortlichen Bürger zum Fliehpunkt, letztere gründet auf einem organischen Verständnis von Welt, das Gott als Rechtsspender und den gesamten Gesellschaftskörper durchdringende Instanz betrachtet Auf der anderen Seite verwirft der Nationalsozialismus sowohl den Glauben an das Individuum als auch die Rückbindung staatlicher Verantwortlichkeit an ein höheres Wesen Zweifelsohne kannte das „Dritte Reich“ keine einheitliche, verbindliche Weltanschauung Bestimmte Ideologeme, die auf Hitlers Ausführungen in

88

Deutscher Sonderweg

Mein Kampf gründeten, galten aber als handlungsleitend Dazu gehörte an erster Stelle die Unterscheidung von angeblich „wertvollem“ und „minderwertigem“ Leben Denn das herrschende Weltbild war sozial-biologisch, unterschied Menschen und Völker nach ihrer angeblich „rassischen“ Herkunft und „Wertigkeit“ und leitete daraus einen unterschiedlichen Anspruch auf Lebensrecht ab („Was nicht gute Rasse ist auf dieser Welt, ist Spreu“1) ‚Arier‘ und ‚Jude‘ wurden in diesem Sinne als größtmögliche Gegensätze betrachtet Das entsprechende Geschichtsbild war zum einen bellizistisch Der Krieg der „Rassen“ um Lebensraum, namentlich des vermeintlichen Kulturträgers ‚Arier‘ und des Kulturzerstörers ‚Jude‘, wurde als überzeitliche Konstituente des Daseins aufgefasst Zum anderen zeigte das nationalsozialistische Verständnis von Geschichte starke endzeitliche Züge Hitler glaubte an „die große, letzte Revolution“2 und dass in seiner Gegenwart der Endkampf der „Rassen“ bevorstehe Daher sah er es als zentrale Aufgabe an, einen Staat zu schaffen, der diesen Endkampf in seinem Sinne erfolgreich führt Dieser sollte alles vermeintlich „rassisch Minderwertige“ ausmerzen und eine „reinrassige, erbbiologisch gesunde Volksgemeinschaft“ hervorbringen Er hatte auf Auslese durch Leistung und gemäß dem Führerprinzip auf bedingungslosem Gehorsam zu gründen Entsprechend wichtig war dem NS-Regime eine einschlägige Erziehung der Jugend Sie sollte total, antiindividualistisch und vor allem der „Rassenauslese“ dienlich sein, wie es Adolf Hitler herausstellte: „Die gesamte Erziehungsarbeit des völkischen Staates muß ihre Krönung darin finden, daß sie den Rassesinn und das Rassegefühl instinkt- und verstandesmäßig in Herz und Gehirn der ihr anvertrauten Jugend hineinbaut “3 Einen zentralen Platz im nationalsozialistischen Denken nahm vor diesem Hintergrund die „Volksgemeinschaft“ ein Dabei ist zu bedenken, dass der definitorisch kaum fassbare Begriff der „Volksgemeinschaft“ nicht seine Erfindung ist 4 Dessen Wurzeln reichen weit in das 19 Jahrhundert zurück, bereits während des Ersten Weltkrieges und besonders in den 1920er-Jahren stieg er zu einer beliebten politischen Denkfigur auf Verschiedenste Parteien und Bevölkerungsgruppen verbanden mit ihm die höchst unterschiedlich ausgestaltete Zielvorstellung einer national verfassten Gesellschaft, in der Gemeinschaftsinteressen höher zu bewerten sind als jene des Individuums Ein derart geeintes Volk sollte zu höchsten kulturellen Leistungen befähigt sein und im sozialdarwinistisch gedachten Überlebenskampf über bessere Chancen verfügen In einem solch übergreifenden Verständnis war der Volksgemeinschaftsgedanke trotz unterschiedlicher, ja teilweise gegensätzlicher politischer Konnotationen selbst für Li1 2 3 4

Adolf Hitler, Mein Kampf, Buch 1, Kapitel 11, 313, zit nach Christian Hartmann u a (Hg ), Hitler, Mein Kampf Eine kritische Edition, Bd  1 u  2, München/Berlin 2016 Ebenda, Kapitel 11, 346 Adolf Hitler, Mein Kampf, Buch 2, Kapitel 2, 64 Zur Geschichte des Begriffs z B : Peter Schyga, Über die Volksgemeinschaft der Deutschen Begriff und historische Wirklichkeit jenseits historiographischer Gegenwartsmoden, Baden-Baden 2015, S  38–60

Deutscher Sonderweg

89

berale wie Theodor Heuss und Friedrich Meinecke oder Sozialdemokraten wie Hermann Heller und Friedrich Ebert anschlussfähig Darüber hinaus ist zu bedenken, dass auch im internationalen Kontext, etwa in den USA oder in Skandinavien, politische Konzepte der Vergemeinschaftung florierten 5 Gleichwohl steht außer Frage, dass die Idee der „Volksgemeinschaft“ „die höchste Stelle im nationalsozialistischen Wertesystem“ einnahm 6 Alle Versuche des NS-Regimes, die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen, gründeten in entscheidender Weise auf ihrem rassistisch verbrämten Konzept der „Volksgemeinschaft“ Sie sollte mithin alle gesellschaftlichen Gegensätze aufheben und die „Volksgenossen“ in einer solidarischen Opfergemeinschaft zusammenführen Entsprechend fungierte sie als Oberbegriff eines umfänglichen Sozialprogramms, das mit dem Bekenntnis zu Wettbewerb und Leistungsgerechtigkeit warb, aber alle „Nicht-Arier“ von vornherein ausschloss Nonkonforme Verhaltensweisen wurden als „gemeinschaftsschädlich“ sanktioniert und auf diese Weise die Vernichtungspläne des NS-Regimes entscheidend vorangetrieben Gemeinschaft im nationalsozialistischen Sinne war also klassenübergreifend, leistungsorientiert und immer „rassisch“ bestimmt, Individualität wurde in völligem Gegensatz zu den Genossenschaftskonzepten des 19 Jahrhunderts als gemeinschaftsfremd und damit als gefährlich erachtet Gemeinwohl war nicht länger auf die Einzelperson, sondern auf das „rassisch“ gedachte Kollektiv zurückzuführen, Selbsthilfe nicht mehr individuelle Entscheidung, sich gemeinschaftlich zu verhalten und zu organisieren, sondern Aufgabe der Individualität zugunsten der „Volksgemeinschaft“ Die Variabilität der Volksgemeinschaftsideologie lieferte dann jedoch auch die Brücken zur Genossenschaftsbewegung Der Nationalismus bildete ein wichtiges Einfallstor Der Glaube an die historische Sendung des deutschen Volkes verband Zumal der Weg vom Raiffeisen-Vertrauten Adolf Wuttig, der die polnischen und russischen Arbeitsmigranten seiner Zeit als „Sklaven“ und „Todfeinde des Deutschtums“ bezeichnete7, zur völkischen Ideologie des Nationalsozialismus war kurz Außerdem konnte auf die überkommene historische Deutung rekurriert werden, nach der das Genossenschaftswesen „selber eine typisch germanische Wirtschafts- bzw Gemeinschafts- oder Lebensform ist “8 Schon 1931 war zu lesen, dass Nationalsozialismus und Genossenschaftswesen „wesensgleiche Begriffe“ darstellten Denn beide seien „bestrebt und be-

5 6 7 8

Thomas Etzemüller, Total, aber nicht totalitär Die schwedische „Volksgemeinschaft“, in: Frank Bajohr/Michael Wildt (Hg ), Volksgemeinschaft Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a M  2009, S  41–59 Zit nach Manfred Gailus/Armin Nolzen, Einleitung Viele konkurrierende Gläubigkeiten – aber eine ‚Volksgemeinschaft‘?, in: dies (Hg ), Zerstrittene ‚Volksgemeinschaft‘ Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011, S  7–33, hier S  18 Adolf Wuttig, Friedrich Wilhelm Raiffeisen und die nach ihm genannten ländlichen Darlehenskassen-Vereine, 3 Aufl , Neuwied 1895, S  12 f Ernst Seer, Das Genossenschaftswesen in dem ständischen Aufbau des nationalsozialistischen Staates, Stettin 1933, S  6

90

Deutscher Sonderweg

rufen, in echt deutschem Sinne dem ganzen Volk zu helfen, es aus der jetzigen traurigen Zeit hinauszuführen in eine bessere Zukunft “ Eine wesentliche Verbindung lieferte das Gemeinwohlstreben, das – seiner liberal-fortschrittlichen bzw christlich-konservativen Grundierung entkleidet – einen dankbaren Begriffshorizont lieferte In diesem Zusammenhang konnte die NSDAP auch die Fortschrittskritik christlich-konservativer Genossenschafter instrumentalisieren So wurde die Schulze-Delitz’sche Tradition als anachronistisches Überbleibsel „einer individualistisch-kapitalistischen Wirtschaft und liberalistischen Zeitepoche“ diffamiert,9 stattdessen auf die Parallelen zu den Forderungen eines Huber oder Raiffeisen verwiesen: „Brechung der Geld- und Zinsknechtschaft, rücksichtslose Bekämpfung des Wucher- und Schiebertums waren immer der Genossenschafter Feldgeschrei“ 10 Auf diese Weise vermochte die NSDAP konservative Hoffnungen zu nähren, die auf die Etablierung einer ständisch-kooperativen Gesellschaftsordnung setzten Sehr entgegen kam der Akzeptanz des Führerprinzips, dass die gläubigen Christen unter den Genossenschaftern entweder an die Höchstverantwortung eines Fürsten gewöhnt waren oder aber entsprechend ihrem organischen Weltbild keine Staatsform bevorzugten, sondern ausschließlich auf deren Verantwortung gegenüber Gott Wert legten Vor allem aber baute der Zusammenhang von Volkswillen, Autoritätsgläubigkeit und Gemeinwohl eine Brücke Denn der „starke, von dem Vertrauen des Volkes der Genossen getragene Führer“ sollte sich nach nationalsozialistischen Vorstellungen „in allen seinen Handlungen als verantwortlicher Diener der Gemeinschaft“ fühlen“ 11 Liberale ließen sich überdies durch die nationalsozialistische Leistungsideologie binden, die scheinbar den bürgerlichen Wettbewerbsgedanken in die Gegenwart überführte und endlich jenseits aller sozialen Klassen argumentierte Leicht fiel es dem NS-Regime ferner, den genossenschaftlichen Kampf gegen die Selbstsucht zum Kampf gegen Individualität umzudeuten So sprachen sie den Genossenschaften eine wichtige Aufgabe bei der Herausbildung der „Volksgemeinschaft“ zu: Fassen wir Wesen und Aufgabe der Genossenschaften im nationalsozialistischen Staate (abschließend) zusammen, so liegt ihre größte und letzte Aufgabe in der Erziehung unseres Volkes und jedes Einzelnen zur völkischen Wirtschafts-Gesinnung, – zu jener Wirtschaftsform und zu jenem Wirtschafts-Ethos, in der der Einzelne, das ‚Ich‘, die Wirtschaft nicht als Selbstzweck betrachtet […], sondern in der der Mensch sich und seine Wirtschaft den großen Aufgaben von Volk und Staat dienend einordnet 12

Eine eminente Anknüpfung an die Genossenschaftsbewegung lieferte dem Nationalsozialismus schließlich auch die Judenfeindschaft Seine Propagandisten betonten 9 10 11 12

Völkischer Beobachter, Beiblatt zur 74 Süddeutschen Ausgabe, 15 März 1933 Eugen Schach, Nationalsozialismus und Genossenschaftswesen, München/Berlin 1931, S  3 f Reinold Hetzer, Erneuerung des deutschen Genossenschaftswesens, Berlin 1934, S  25 Seer, Das Genossenschaftswesen, S  31

Deutscher Sonderweg

91

etwa, dass die Genossenschaften aus dem Bestreben heraus entstanden seien, „den kleinen Landwirt vom Viehwucher, den Bauern aus den Krallen des zinswucherischen, aussaugenden jüdischen Händlers zu befreien“ 13 Der Archivleiter beim Reichsbauernführer schrieb in seiner Raiffeisen-Biografie von 1943 gerade mit Blick auf den Kampf gegen „diesen jüdischen Wucher“: „[I]n Wirklichkeit ist alle Genossenschaftsarbeit ja nichts anderes als angewandter Nationalsozialismus […] In ihr ist der nationalsozialistische Grundgedanke: Wirtschaft ist Dienst am Volke! In die Tat umgesetzt “14 Die Tradition genossenschaftlicher Judenfeindschaft war dabei zweifelsohne evident, sie muss aber auch als Produkt einer tendenziösen Geschichtsbetrachtung gesehen werden: Fest steht, dass das 19 Jahrhundert das realisierte, was die Aufklärung erstmals auf breiter Front gefordert hatte: Die Emanzipation der Juden Im Laufe des 19 Jahrhunderts erreichte die jüdische Bevölkerung die völlige rechtliche Gleichberechtigung, sämtliche vormoderne Stigmatisierungen bei der Wohnort-, Heirats- und Berufswahl fielen weg Die knapp 600 000 Jüdinnen und Juden in Deutschland waren in hohem Maße akkulturiert Für viele von ihnen stand unzweifelhaft fest: „Wir fühlten uns als Deutsche und unterschieden uns nur dadurch von unseren christlichen Kameraden und Gespielen, dass wir in die Synagoge, sie in die Kirche gingen “15 Der Anteil konfessionsverschiedener Ehen stieg stetig Das Quantum jüdisch-christlicher Ehen lag z B in Paris bei immerhin 15 Prozent, in Hamburg noch höher Die jüdische Bevölkerung leisteten einen enormen, weit überdurchschnittlichen Beitrag zur Expansion von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur Ihr Anteil unter der Studierenden- und höheren Schülerschaft lag deutlich über ihrem Anteil an der Bevölkerung In der Politik, in der Medizin, im Rechtswesen, im Journalismus, in der Literatur, im Theater und in den Künsten waren sie zahlreich vertraten Besondere Zeichen der fortschreitenden jüdischen Integration waren die Abschwächung orthodox-religiöser Bindungen, was sich auch in der Übernahme christlicher Bräuche wie z B der Feier des Weihnachtsfests zeigte, und die Gründung entsprechender Vereine, wie dem 1893 ins Leben gerufenen Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens Letzterer besaß immerhin bald einige zehntausend Mitglieder, wobei sein Daseinszweck darin bestand, die deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens ohne Unterschied der religiösen und politischen Richtung zu sammeln, um sie in der tatkräftigen Wahrung ihrer staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung sowie in der unbeirrten Pflege deutscher Gesinnung zu bestärken 16

13 14 15 16

Schach, Nationalsozialismus, S  3 f Willy Krebs, zit nach Wilhelm Kaltenborn, Schein und Wirklichkeit Genossenschaften und Genossenschaftsverbände: Eine kritische Auseinandersetzung, Berlin 2014, S  79 Joseph Levy, zit nach Ursula Blömer/Detlef Garz (Hg ), „Wir Kinder hatten ein herrliches Leben […]“ Jüdische Kindheit und Jugend im Kaiserreich 1871–1918, Oldenburg 2000, S  27 Zit nach Volker Dahm, Das jüdische Buch im Dritten Reich, 2 Aufl , München 1993, S  206

92

Deutscher Sonderweg

Schließlich bezeugen 100 000 Juden, die für Deutschland im Ersten Weltkrieg kämpften, und 12 000 Juden, die dort ihr Leben ließen, wie weit die Verbindung von Judentum und deutscher Nation ging Allerdings sind auch die klaren Grenzen der Akkulturation zu sehen In Deutschland konnten Juden in zwei wichtigen Bereichen, dem höheren Dienst in Staat und Militär, keine Karriere machen Hier bestanden auf informeller Ebene Beschränkungen fort, so dass es z B bis zum Ersten Weltkrieg keinen einzigen jüdischen Berufsoffizier gab Überhaupt brachte das 19 Jahrhundert nicht nur den Abschluss der Judenemanzipation, sondern auch eine neue Dimension der Judenfeindschaft Der klassische kirchliche Antijudaismus florierte, desto stärker der Staat, desto stärker auch jüdische Politiker den Einfluss der Kirche, beispielsweise durch das Verbot des Jesuitenordens, zu beschränken versuchten In Wechselseitigkeit dazu blühte die überkommene ökonomisch begründete Judenfeindschaft, insbesondere ab Mitte der 1870er-Jahre, als die aus Russland geflohenen sogenannten Ostjuden in der aufziehenden Wirtschaftskrise („Gründerkrise“) als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen wurden Nicht zuletzt entstand eine völlig neue Form der Judenfeindschaft: Der moderne Antisemitismus, der um drei Motive kreiste Zum ersten strebte er eine Revision der Judenemanzipation an Zum Zweiten betrachtete er „die Juden“ als Agenten der kapitalistischen Moderne Exemplarisch meinte der Historiker Heinrich von Treitschke: Unbestreitbar hat das Semitenthum an dem Lug und Trug, an der frechen Gier des Gründer-Unwesens einen großen Antheil, eine schweren Mitschuld an jenem schnöden Materialismus unserer Tage, der jede Arbeit nur noch als Geschäft betrachtet und die alte gemüthliche Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes zu ersticken droht 17

Zum Dritten huldigte der Antisemitismus einem rassischen Biologismus, wie er in Schriften von Wilhelm Marr, Paul de Lagarde, Edouard Drumont, Julius Langbehn oder dem Wahldeutschen Houston Stewart Chamberlain, dem Schwiegersohn Richard Wagners, proklamiert wurde Sie redeten einem primitiven Vulgärdarwinismus das Wort, proklamierten die angeblich genetisch bedingte Minderwertigkeit der jüdischen Bevölkerung und ihre gewaltsame Aussonderung Paul de Lagarde schrieb im Jahre 1887 den berüchtigten Satz: „Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet “18 Ende der 1870er-Jahre entstand in Deutschland eine markante antisemitische Bewegung, deren wichtigster Träger die 1878 ins Leben gerufene Christlich-Soziale Partei darstellte Ihr Gründer war der Berliner Hofpredi-

17 18

Heinrich von Treitschke, Die Juden sind unser Unglück, 15 November 1879, zit nach http:// germanhistorydocs ghi-dc org/pdf/deu/411_Treitschke_Juden%20sind%20Unglueck_112 pdf [01 07 2018] Paul de Lagarde, zit nach Georg Stötzel/Martin Wengeler, Kontroverse Begriffe Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/New York 1995, S  364

Deutscher Sonderweg

93

ger Adolf Stoecker, der sich 1880 nicht scheute, im Preußischen Abgeordnetenhaus zur Großoffensive zu blasen: „Wir bieten den Juden den Kampf an bis zum völligen Siege und wollen nicht eher ruhen, als sie hier in Berlin von dem hohen Postament, auf das sie sich gestellt haben, heruntergestürzt sind in den Staub, wohin sie gehören “19 Hintergrund waren die Debatten über die sogenannte Antisemitenpetition, also die Forderung bekannter Berliner Judenfeinde nach radikaler Begrenzung der jüdischen Einwanderung sowie weitgehender Entfernung von Jüdinnen und Juden aus dem gesamten Staatsdienst, vor allem aus dem Lehrberuf Weitere offen antisemitische Parteien gründeten sich 1889 (Deutschsoziale Partei) und 1893 (Deutsche Reformpartei, zuvor Antisemitische Volkspartei) Publizistische Massenwirksamkeit erreichte der Antisemitismus überdies durch Organisationen und Verbände wie den Alldeutschen Verband, den Verein deutscher Studenten und den Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband. Die „einflußreichste und zugleich geschichtsmächtigste antisemitische Organisation im Kaiserreich“20 war der 1893 ins Leben gerufene Bund der Landwirte Es ist aber zu bedenken, dass es in Deutschland auch starke Kräfte gegen Judenfeindlichkeit gab Wiederholt sind antisemitische Äußerungen durch Reichsleitung und Kaiser zurückgewiesen worden  1880 erschien der Kronprinz während der Auseinandersetzungen um die „Antisemitenpetition“ demonstrativ in der Uniform eines preußischen Feldmarschalls beim Gottesdienst in der Berliner Synagoge Am Vorabend der ersten Debatte im preußischen Parlament besuchte das Kronprinzenpaar ein Konzert in der Wiesbadener Synagoge  1885 musste Stoecker seine Stelle als Hofprediger aufgeben, weil er in einem Beleidigungsprozesse gegen einen jüdischen Zeitungsredakteur schuldig gesprochen worden war Eine nicht unbeträchtliche Agitation entwickelte der 1891 ins Leben gerufene Verein zur Abwehr des Antisemitismus Sein Mitbegründer, der Historiker Theodor Mommsen, war sich sicher: „Der Antisemitismus ist die Gesinnung der Canaille Er ist eine schauerliche Epidemie Man kann ihn weder erklären noch teilen Man muss geduldig warten, bis sich das Gift von selber austobt und seine Kraft verliert “21 Darüber hinaus ist in Rechnung zu stellen, dass judenfeindliche Parteien im Reichstag niemals Fraktionsstärke zu erreichen vermochten Ihre Mandatszahl blieb stets einstellig, und sie erreichten nie mehr als vier Prozent der Stimmen Ihr regionales Einzugsfeld beschränkte sich auf Land- und Kleinstädte im oberhessischen Raum sowie auf einige Industrieregionen im Königreich Sachsen 22 Judenfeindschaft und Genossenschaftswesen gehörten in diesem Kontext weder integral zusammen noch bildeten sie ein Gegensatzpaar Die Genossenschaften standen 19 20 21 22

Adolf Stoecker, in: Stenografische Berichte der Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses, 22 November 1880 Egmont Zechlin/Hans Joachim Bieber, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969, S  44 Zit nach Hermann Bahr, Antisemitismus Ein internationales Interview, Berlin 1894, S  27 https://www bundestag de/blob/190454/782a532c7e19aa9cd5119e62ca77a260/wahlen_kaiserreichdata pdf [01 07 2018]

94

Deutscher Sonderweg

selbstverständlich der jüdischen Bevölkerung offen, was gerne in öffentlichen Stellungnahmen betont wurde Bezeichnenderweise war eine der ersten Kreditgenossenschaften des 19 Jahrhunderts der „Vorschußverein zur Unterstützung bedürftiger Handelsbeflissener“ in Hamburg, den jüdische Männer ins Leben gerufen hatten 23 Auch Eduard Pfeiffer war Jude – sein Vater gilt als einer der ersten Juden, die in Stuttgart das Wohnrecht erhalten hatten Von 1868 bis 1876 gehörte er als erster jüdischer Bürger der Zweiten Kammer des württembergischen Landtags an, was bis dahin gesetzlich verboten war Schulze-Delitzsch oder die Publikationsorgane seiner Bewegung sprachen nie negativ über Juden Auch das Landwirtschaftliche Genossenschaftsblatt äußerte sich wenig zu Juden Es finden sich sogar Artikel, die ein ausschließlich ressentimentgeladenes Verhalten der bäuerlichen Bevölkerung gegenüber jüdischen Kaufleuten problematisieren 24 Allerdings waren judenfeindliche Tendenzen unbestreitbar, insbesondere in den ländlichen Genossenschaften, die eng mit dem eminenten Antisemitismus agrarischer Kreise in Verbindung standen Dieser mochte im Bund deutscher Landwirte besonders ausgeprägt sein, da dieser der jüdischen Bevölkerung die Mitgliedschaft verwehrte, sich vehement für deren rechtliche Sonderstellung einsetzte und in sozialdarwinistischer Diktion die Unvereinbarkeit von deutscher Landwirtschaft und Judentum behauptete: „So liegt es wirklich in der Natur der Sache, daß Landwirtschaft und Judentum sich bekämpfen müssen, auf Tod und Leben, bis der eine Teil leblos, oder wenigstens machtlos am Boden liegt “25 Aber die Traditionslinie war lang und ließ auch die Genossenschaften nicht unberührt Martin Faßbender, enger Mitarbeiter und erster Biograf von Raiffeisen, arbeitete z B zeitweise eng mit Otto Böckel zusammen, der als einer der umtriebigsten Antisemiten seiner Zeit galt und die Antisemitische Volkspartei gegründet hatte 26 Rudolf Weidenhammer trat 1879 auch deswegen als Vizeanwalt des Raiffeisenverbandes zurück, weil er „die gegenwärtige Zeitrichtung der Judenhetze“ bedauerte Er fürchtete, „daß schließlich der Geist eines Stöcker sich in [Raiffeisens] Reihen ergießen wird“ 27 Raiffeisen betonte zwar im Hinblick auf die Debatten um die „Antisemitenpetition“ wiederholt, dass er „den […] extremen Agitationen in Berlin“ fernstehe Gleichwohl gestand er zu, dass es Kräfte in seiner Organisation gab, die einen antisemitischen Kurs einschlagen wollen 28 Zu nennen wäre etwa

23 24 25

26 27 28

Richter, Raiffeisen, S  73 Verschiedenes, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 11 (1884) Zit nach Hans-Jürgen Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservativismus im wilhelminischen Reich (1893–1914) Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, Hannover 1966, S  130 Rüdiger Mack, Otto Böckel und die antisemitische Bauernbewegung in Hessen 1887–1914, in: Christine Heinemann (Bearb ), Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben, Wiesbaden 1983, S  377–410, hier, S  390 f Rudolf Weidenhammer an Raiffeisen, 1 November 1879, in: Koch, Dokumente und Briefe, S  277 Raiffeisen an Rudolf Weidenhammer, 22 November 1879, in: Ebenda, S  280

Deutscher Sonderweg

95

der Zentrumsabgeordnete Franz Freiherr von Gruben, der sich im Reichstag und auf Katholikentagen als glühender Verfechter der Genossenschaftsidee gerierte Er verband gerne Geschichte und Heilsgeschichte und ging davon aus, dass die „Arier“ als Nachfahren Japhets zur Herrschaft über die christusverleugnenden Nachfahren des älteren Bruders Sems, die „Semiten“, bestimmt waren 29 Georg Freiherr von Hertling instrumentalisierte seine Judenfeindschaft gerne als Mittel der „Kontermodernisierung“, als Medium im Kampf wider den angeblich liberalen Zeitgeist So lehnte er etwa die Evolutionstheorie als „materialistisch“ ab und verunglimpfte sie als „Werk jüdischer Denker“ 30 Gustav Baist, evangelischer Pfarrer und Gründer vieler Raiffeisenvereine in Franken, schimpfte bitterlich über zahllose bedrängte Gemeinden, „in denen fast alles Vieh den Juden gehört und bei ihnen geborgt ist“ 31 Adolf Wuttig, u a Aufsichtsrat der Landwirtschaftlichen Central-Darlehenskasse für Deutschland, sprach mit Blick auf den sogenannten Wucherhandel von „eine(r) schweren Krankheit des Volkskörpers“ und beschrieb die „teuflische Raffiniertheit“, mit der „lediglich jüdische Wucherer ihre Opfer […] umgarnen“ 32 Der Präsident der westfälischen Genossenschaften Burghard von Schorlemer-Alst betonte Anfang der 1890er-Jahre im preußischen Herrenhaus ausdrücklich, dass er sein „ganzes Leben lang, die vielen Ausschreitungen, die die Juden sich im geschäftlichen Verkehr, im Handel und auch sonst zu Schulden kommen lassen, aufs Energischste bekämpft habe“ 33 In der jüdischen Bevölkerung sah er „die Pest des Landes“ 34 Auch Raiffeisens Judenfeindschaft ist nicht zu leugnen Zweifelsohne erklärte er die sozialen Missstände seiner Zeit nur untergeordnet mit der Judenfrage Denn erstens gab es aus seiner Sicht „nicht wenige Juden, welche so ehrlich, so rechtlich und so reell in Handel und Wandel sind, dass sich viele Christen daran ein Beispiel nehmen könnten“ Und zweitens seien „nicht wenige Christen vorhanden, welche im Übervorteilen ihrer Nebenmenschen den wucherischen Juden keineswegs nachstehen “35 Raiffeisen lehnte Gewalt jeder Art strikt ab, er wandte sich gegen „unfruchtbare[s] und verwerfliche[s] Raisonieren und Hetzen“, sehr wichtig war ihm: „Es darf den Juden kein Haar gekrümmt werden “ Er wollte die Judenemanzipation nicht formal revidieren Jüdinnen und Juden betrachtete er als „unsere Mitbürger“, die „als solche geachtet

29 30 31 32 33 34 35

Franz von Gruben, zit nach Sitta, Gruben, S  80 Georg von Hertling, zit nach Olaf Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus im deutschen Kaiserreich, Göttingen 1997, S  77 Gustav Baist, Rettet den Deutschen Bauern und Handwerker Ein Wort aus Selbsterfahrung über Raiffeisens Darlehenskassenvereine, 3 Aufl , Neuendettelsau, ca  1893, S  7 Wuttig, Raiffeisen, S  7, 13 Burghard von Schorlemer-Alst, zit nach Uwe Mazura, Zentrumspartei und Judenfrage 1870/71– 1933 Verfassungsstaat und Minderheitenschutz, Mainz 1994, S  82 Festschrift Burghard von Schorlemer-Alst, S  246, in: LVWLM, Archiv Herringhausen C 220 Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Die Darlehnskassen-Vereine, 6 Aufl , Neuwied 1923, S  135

96

Deutscher Sonderweg

und freundlich behandelt werden“ müssen 36 Allerdings besaß die vormoderne Judendiskriminierung für ihn „auch ihre Gründe“ Aus seiner Sicht ließen sich „unzählige Thatsachen, wodurch die Handlungsweise sehr vieler Juden als eine niederträchtige gebrandmarkt wird, […] leicht nachweisen “ Die Vorbehalte waren dabei zunächst religiöser Art Raiffeisen hielt das Judentum in seinen alttestamentarischen Bezügen und seiner Talmudorientierung für eine minderwertige Religion Juden, „die die Grundsätze einer reinen Moral eingesogen haben“, mussten aus seiner Sicht „auch mit den Fratzen des Judenthums ganz brechen“ 37 Eine Fundamentalverbindung bestand zwischen Raiffeisens Judenbild und seinen Vorbehalten gegenüber dem Wirtschaftsliberalismus „Die Juden“ dachte sich Raiffeisen als Motoren des kapitalistischen Systems und Subjekte seiner Fehlentwicklungen Wuchertum und Judentum setzte er in eins – womit er ein altes, seit dem Mittelalter verbreitetes judenfeindliches Stereotyp aufgriff, das Opfer (die vielfach diskriminierten und in ihrer großen Mehrheit in Armut lebenden Juden) und Täter (die kirchliche und weltliche Obrigkeit, welche der jüdischen Bevölkerung Sondersteuern auferlegte, die Ausübung der meisten Berufe untersagte, sie zum Geldhandel nötigte und meist selbst den Zinssatz festlegte) in ihr Gegenteil verkehrte Zudem ignorierte Raiffeisen zwei Tatsachen: Erstens wurde das Geschäft des Geldverleihs im 19 Jahrhundert in großem Maße von Christen verantwortet, und zweitens zogen verschuldete Bauern private Geldgeber auch wegen der niedrigeren, sofort zu zahlenden Hypothekengebühren (trotz der höheren Zinsen) vor In einer Denkschrift zur Situation der Genossenschaften in Oberschlesien schrieb Raiffeisen im Jahre 1880 an den preußischen Landwirtschaftsminister: „Jude und Wucherer ist fast identisch geworden “ Im Geldhandel tätige Christen sah er vornehmlich „von Juden verführt“ Für ihn waren es also in erster Linie Juden, „welche den Wohlstand der christlichen Bevölkerung immer mehr untergraben und sich theils durch Spekulation, theils geradezu durch Betrug und List, in den Besitz der Geldmacht setzen “ Häufig verwendete er Ja-aber-Argumentationsmuster, die vor allem seine Aversion gegenüber der jüdischen Bevölkerung offenbar werden ließen Gerne gestand Raiffeisen zu, dass es „ohne Zweifel […] schöne und edele Chraktere unter den Juden [gebe], ja solche, welche manchen Christen zum Vorbilde dienen könnten “ Jedoch war für ihn klar, dass „nicht mit Unrecht zur Bezeichnung der Handlungsweise eines Christen, welcher einen Mitbürger übervortheilt, die Redensart sich gebildet“ habe: „Der Mensch ist wie ein Jude “ Auch die Grenze zum Antisemitismus, verstanden als rassisch begründete Judenfeindschaft, riss Raiffeisen Denn er weigerte sich, die rechtliche Situation der Vormoderne als Erklärungsgrund für die Nähe jüdischer Bevölkerungsteile zum Geldhandel anzuerkennen Er war der Überzeugung, „daß die Juden vielmehr über all im Großen und Ganzen so sind und die Neigung zum Wucher im Nationalcharakter liegt“ „Die 36 37

Unser Neujahrswunsch, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 1 (1883) Walter Koch, Raiffeisen-Dokumente Bd  4: Das landwirtschaftliche Genossenschaftsblatt 1879– 1888 T  3 C: Die Protokolle zum Verbandstag der ländlichen Genossenschaften, Dachau 1992, S  11

Deutscher Sonderweg

97

Juden“ waren für Raiffeisen faul, unfähig zu körperlicher Arbeit, unwillig zur Ableistung der Militärpflicht Außerdem hing er dem zentralen Mythos des modernen Antisemitismus an: der Wahnidee von einer jüdischen Weltverschwörung Er glaubte, dass angeblich „rassisch minderwertige“ Juden „allmählig die Weltherrschaft“ erlangen 38 Im Einklang mit den bekannten Antisemiten seiner Zeit diffamierte er etwa die 1860 in Paris gegründete Alliance Israélite Universelle, eine jüdische Selbsthilfeorganisation, welche die Rechtsstellung und das kulturelle Niveau in den einzelnen Staaten, u a durch die Einrichtung von jüdischen Schulen, heben wollte, als „Goldene Internationale“ Er sah sie ebenso wie die „Rote Internationale“ als „zersetzend und zerstörend auf die Gesamtverhältnisse“ an 39 Gerne lobte Raiffeisen in diesem Zusammenhang das Alhambra-Edikt von 1492, das die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Spanien festschrieb Denn „durch die Entdeckung Amerikas wurde Spanien die erste europäische Weltmacht“, und „das Gold Amerikas wäre alles in jüdische Hände geflossen, schon damals hätte sich eine goldene Internationale gebildet, aus deren Fesseln Europa sich nicht mehr hätte befreien können“ Es sei also eine „wundersame Fügung der Vorsehung“ gewesen, dass „damals die Welt vor der Judenherrschaft bewahrt blieb “40 „Die Juden“ bildeten für Raiffeisen „gleichsam eine große internationale Vereinigung und eine ungeheure Geldmacht, welche im Großen und im Kleinen immer gefährlicher zu werden droht “41 „Die Juden“ besäßen das Geld und hätten „sich noch eines großen Theils der Presse bemächtigt“, um „diese zur Entchristlichung und Entsittlichung des Volkes in der frivolsten Weise“ nutzbar zu machen „Um sich zu bereichern“, betrieben „die Juden“ angeblich den „Ruin der Gesellschaft“ Die deutsche Nationalität sprach er ihnen ab Die Judenemanzipation sollte zwar nicht rückgängig gemacht werden, aber „eine sofortige Einschränkung der Einwanderung von Juden“ hielt er „unter den obwaltenden Verhältnissen [für] dringend geboten“ Raiffeisen glaubte, dass sich die jüdische Bevölkerung „gleichsam von dem Schweiße und der Arbeit der Christen ernähren“ 42 Er sprach vom „Aussaugen der Christen“ bzw vom „Blutsaugergeschäft“ der Juden43 und setzte sie „Krebsgeschwüre[n]“ gleich, „welche ja auch am menschlichen Körper sich befinden, [jedoch] nur zur Zerrüttung des Organismus und zur Absorption der Kräfte dienen “ Die Entstehung der Raiffeisen’schen Darlehenskassen-Vereine stand folglich in direktem Zusammenhang mit Judenfeindschaft Raiffeisen selbst betonte: „Diesem Umstande ganz allein, nämlich der Reaction gegen das wucherische Treiben der Juden, haben die Darlehenskassen-Vereine ihr Entstehen zu verdanken“

38 39 40 41 42 43

Raiffeisen an den Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, 10 Dezember 1880, in: Koch, Statuten, Dokumente und Schriftwechsel, S  351 ff Koch, Raiffeisen-Dokumente Bd  4, S  11 Die Juden in Spanien, zit nach Wilhelm Kaltenborn, Raiffeisen Anfang und Ende, Norderstedt 2018, S  98 Unser Neujahrswunsch, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 1 (1883) Raiffeisen an den Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, 10 Dezember 1880 Raiffeisen, Darlehenskassen-Vereine, 7 Aufl , S  140 f

98

Deutscher Sonderweg

Zusammen mit den Behörden sollten die Genossenschaften den Juden den Geldhandel entreißen und so „den Krebsschaden […] beseitigen“ 44 Solche Brücken zwischen der Genossenschaftsbewegung und dem Nationalsozialismus wurden teilweise geflissentlich, teilweise notgedrungen, teilweise früher, teilweise später beschritten In Genossenschaftskreisen war der Aufstieg des Nationalsozialismus durchaus kritisch beäugt wurden Die einschlägige Presse erwähnte die NSDAP allenfalls am Rande Ohne eine bestimmende Position zu erreichen, hatten aber führende Genossenschafter schon vor der Hitler’schen Machtübernahme die geistige Nähe zum Nationalsozialismus herausgestellt Der Verbandsdirektor des Edeka-Verbandes betonte im September 1932, dass die jüdischen Warenhäuser schuld am Niedergang des Mittelstandes seien 45 Der geschäftsführende Vorstand des Kölner Konsum-Verbandes bezeugte 1932 große Sympathie für die Formel „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ Außerdem verwies er darauf, dass sich der Nationalsozialismus „auch gegen die Juden“ richte und „daß im deutschen Genossenschaftswesen sozusagen keine Juden waren“ Er glaubte daher, dass das Genossenschaftswesen […] durch das Programm des Nationalsozialismus einen neuen Verbündeten bekommen“ habe 46 Karl Korthaus, lange Jahre Direktor und Anwalt des 1901 gegründeten Hauptverbandes der deutschen gewerblichen Kreditgenossenschaften, hatte sich wiederholt kritisch gegenüber der Weimarer Republik geäußert Er sprach von der höheren „Neigung zur Verantwortungslosigkeit“47 und „den lähmenden Eigenschaften eines kranken Volksempfindens“48 Korthaus war ein Anhänger der Dolchstoßlegende wie des Volksgemeinschaftsgedankens und meinte, dass es vor allem „die zerstörende Kraft der Zwietracht“ gewesen sei, die den „Wohlstand unseres Vaterlandes vernichtet hat“ 49 1932 bekundete er die Überzeugung: „der Parteiengeist und der Parteienstaat müssen überwunden werden, so restlos und schnell wie nur irgend möglich “50 Nach 1933 passten sich die Genossenschaften schnell an, die ideelle Angleichung fiel nur noch bedingt schwer Exemplarisch erscheint der Aufruf des Mitteilungsblattes Die Konsumgenossenschaft aus dem 1933, der ein „Bekenntnis zur Treue und Tat“ abgab:

44 45 46 47 48 49 50

Raiffeisen an den Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, 10 Dezember 1880 Hermann-Josef ten Haaf, Kreditgenossenschaften im „Dritten Reich“ Bankwirtschaftliche Selbsthilfe und demokratische Selbstverwaltung in der Diktatur, 2 Aufl , Ostfildern 2013, S  486 Robert Schloesser/Walter Breuer, Nationalsozialismus und Konsumgenossenschaftswesen, 2  Auf , Köln 1932, S  8 f Zit nach Marcel Boldorf, Karl Korthaus (1859–1933), in: Institut für bankhistorische Forschung (Hg ), Sozialreformer, Modernisierer, Bankmanager Biografische Skizzen aus der Geschichte des Kreditgenossenschaftswesens, München 2016, S  151–170, hier S  163 Karl Korthaus, Der Deutsche Genossenschaftsverband, sein Werden, seine Aufgaben und Erfolge, Berlin 1921, S  8 Ebenda, S 25 Zit nach ten Haaf, Kreditgenossenschaften, S  79

Deutscher Sonderweg

99

‚Gemeinnutz vor Eigennutz‘ ist das alte Bekenntnis zur Genossenschaftsidee, ist Sinn und Zweck genossenschaftlichen Strebens ‚Gemeinnutz vor Eigennutz‘ ist auch das Wirtschaftsziel der Gegenwart Die Konsumgenossenschaften wollen und müssen ein lebenswichtiges Glied dieser neuen, auf nationaler und sozialistischer Grundlage aufgebauten Wirtschaft sein 51

Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass das NS-Regime vornehmlich an zwei Stellschrauben ansetzte: Zum einen war es bestrebt, die stark von christlichen-konservativen Kräften geprägten landwirtschaftlichen Genossenschaften „gleichzuschalten“ So wurden diese zügig dem für die gesamte Agrarwirtschaft zuständigen Reichsnährstand eingegliedert, der konsequent nach dem Führerprinzip aufgebaut war Selbstverwaltung gab es nun nicht mehr Die Rechte des Reichsbauernführers gingen so weit, dass er jedem Genossenschaftsvorstand die Einberufung einer Generalversammlung über ein von ihm verlangtes Anliegen oktroyieren konnte Über Beauftragte vermochte er außerdem selbst Generalversammlungen einzuberufen Die formale Handhabe, den Einfluss von Geistlichen zu beschränken, gab z B eine Statutenänderung bei den Raiffeisenvereinen, nach der in den Gremien der landwirtschaftlichen Genossenschafter lediglich Bauern vertreten sein durften  1934 hatten die ländlichen Kreditgenossenschaften überdies den „Arierparagraphen“ in ihre Satzungen aufzunehmen Zum anderen widmete sich die NSDAP, namentlich der nationalsozialistische „Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand“ (nach 1933 umbenannt in „NS-Hago“), dem Kampf wider die „knallroten“52 Konsumvereine Denn – so schrieb es der Völkische Beobachter im August 1933 – die Konsumvereine seien schon vor dem Kriege und erst recht nach der ‚Revolution‘ fast ausschließlich im Kielwasser der roten Gewerkschaften und der offiziellen Sozialdemokratie entstanden und bildeten in den Händen […] dieser unserer Feinde stets eine mächtige Waffe gegen die nationalsozialistische Staats- und Wirtschaftsauffassung 53

Nach der Machtübernahme begann eine entsprechende Welle des Terrors mit zahlreichen Überfällen und Anschlägen auf Verkaufsstellen sowie Verhaftungen; die Verbände und ihre medialen Plattformen wurden „gleichgeschaltet“ 1935 erließ das NS-Regime das „Gesetz über die Verbrauchergenossenschaften“, das die Liquidierung aller wirtschaftlich nicht rentablen Genossenschaften vorsah, ferner die Auflösung aller für das Funktionieren der Konsumgenossenschaften so wichtigen Spareinrichtungen so-

51 52 53

Bekenntnis zur Treue und Tat!, zit nach Glaeßner, Arbeiterbewegung, S  100 Zit nach Jan-Frederik Korf, Von der Konsumgenossenschaftsbewegung zum Gemeinschaftswerk der Deutschen Arbeitsfront Zwischen Gleichschaltung, Widerstand und Anpassung an die Diktatur, Hamburg 2008, S  12, S  49 Ebenda, S  49

100

Deutscher Sonderweg

wie eine Genehmigungspflicht für Neugründungen Schließlich bestimmte die „Verordnung zur Anpassung der verbrauchergenossenschaftlichen Einrichtungen an die kriegswirtschaftlichen Verhältnisse“ vom 18 Februar 1941 eine vollkommene Eingliederung der Konsumgenossenschaften, mit ihrem Vermögen und ihren Produktionsstätten, in die Deutsche Arbeitsfront (DAF) Das Gros der Genossenschaften blieb dessen ungeachtet im „Dritten Reich“ unangetastet und selbst in den Konsumvereinen die demokratische Struktur erhalten, etliche Posten wurden neu besetzt, aber die meisten Funktionäre arbeiteten weiterhin auf ihren angestammten Posten; offizielle Parteibeauftragte konnten (brauchten) wenig Wirkung (zu) entfalten Immerhin wurde die Warenverteilungsfunktion der Konsumgenossenschaften unter kriegspolitischen Gesichtspunkten als wichtig eingestuft, die Summe der bei ihnen angelegten Spargelder war enorm In allen Genossenschaftsbereichen wurden Mustersatzungen wenig abgeändert, die Stellung der Generalversammlung blieb grundsätzlich unangetastet, die Spielräume der Vorstände fielen durchaus groß aus, das ideologische Wollen erreichte gegenüber ökonomischen Gesichtspunkten selten eine Vorrangstellung, ja in adaptierter Form kam es letzteren sogar entgegen: Im propagierten Selbstbild der Genossenschaften hatten sich ‚lediglich‘ die Rahmenbedingungen verändert, die Prinzipien waren gleichgeblieben Vor 1933 erschien beispielsweise dem Direktor des Reichsverbandes der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften „die genossenschaftliche Selbsthilfe notwendig für den Mittelstand im Abwehrkampfe gegen eine ungeordnete, ichsüchtige Umwelt“ Die Genossenschaften hätten sich dafür eingesetzt, „den Hof, die Werkstatt, die Eigenwirtschaft als Lebensgrundlage der mit dem Heimatboden verbundenen ordentlichen dörflichen Familien gegen bodenfremde Mächte zu erhalten“ Somit sei „in ihrem Kreis dem dem deutschen Menschen rassegemäßen Blut- und Bodengedanken Genüge geleistet“ worden Nach 1933 seien demgegenüber die ländlichen Genossenschaften „durch das gesunde nationalsozialistische Landrecht aus dem Zwang zur Abwehr befreit und in den Aufbau eingegliedert“ Keineswegs wolle aber „der nationalsozialistische Aufbau […] auf das mannhafte Grundprinzip der Selbsthilfe“ verzichten Solange der rassistische Volksgemeinschaftsgedanke gewahrt bleibe, sollte vielmehr die „Ausgestaltung der Eigenwirtschaft […] der schöpferischen Kraft der Einzelpersönlichkeit bewusst vorbehalten“ bleiben „Genossenschaftliche Selbsthilfe in der neuen Ordnung“ bedeute „selbst mithelfen“: „Selbst mithelfen als Glied der Sippe, den Boden der Familie zu erhalten Selbst mithelfen als Glied des Volkes, die Erträgnisse des Bodens und die Kraft des Blutes dem Gesamtvolk nutzbar zu machen “54 So waren sich die Genossenschafter „als Nationalsozialisten jederzeit bewußt“, „daß wir mit unserer

54

Der genossenschaftliche Selbsthilfegedanke in der neuen Ordnung, in: Deutsche landwirtschaftliche Genossenschafts-Zeitung 23 (1940)

Deutscher Sonderweg

101

Arbeit und Pflichterfüllung ein Glied in der Kette einer großen Gemeinschaft sind“ 55 Hitler wollte man „nur eines geben“: „unsere bedingungslose Liebe, unser gläubiges Vertrauen und unseren stahlharten Willen zum, wenn es sein muß, letzten Einsatz“ 56 Zweifelsohne verloren die Genossenschaften während der NS-Zeit, vor allem unter Angestellten und Beamten, in nicht unbeträchtlichem Maße an Mitgliedern Ihre Beteiligung an der Entrechtung und Enteignung von Jüdinnen und Juden war weniger ausgeprägt als in anderen Unternehmen, etwa im Bankensektor Ihre Bedeutung war aber gerade wegen der relativen Handlungsfreiheit enorm Die Kreditgenossenschaften konnten beispielsweise ihre Marktanteile im Vergleich zu den Sparkassen und den Berliner Großbanken deutlich ausbauen, mit Abstand erzielten sie den höchsten Einlagenzuwachs Als Vermittler von Reichsanleihen und Reichsschatzwechseln war ihr Zentralinstitut ein großer Profiteur der nationalsozialistischen Aufrüstungspolitik, das sich auch eine gewichtige Position in der Ernährungswirtschaft eroberte Vor allem in Polen war es überdies zwischen 1939 und 1945 durch die Förderung kleiner und mittelständischer Betriebe an der „Germanisierungspolitik“ des Nationalsozialismus beteiligt, zu deren Kontext gigantische Umsiedlungen, Zwangsadaptionen und massenhafte Morde gehörten Die ländlichen Genossenschaften erwiesen sich außerdem „als wertvolle Einrichtungen bei der Durchführung der nationalsozialistischen Agrargesetzgebung“ Namentlich „für die mittel- und langfristige Kredithergabe an Erbhöfe“ zeigten sich die landwirtschaftlichen Kreditgenossenschaften – in diesem Fall trotz wirtschaftlicher Vorbehalte – letztlich „als willig und fähig“ 57 Erbhöfe sollten laut Gesetz höchstens 125 Hektar groß sein Der Erbhofeigentümer wurde per Gesetz als Bauer, alle anderen als Landwirte bezeichnet Bauer konnte nur sein, „wer deutschen oder stammesgleichen Blutes [war] Deutschen oder stammesgleichen Blutes [war] nicht, wer unter seinen Vorfahren väterlicher- oder mütterlicherseits jüdisches oder farbiges Blut hat“ 58 Zur Frage der Kontinuität zwischen dem 19 Jahrhundert und dem Nationalsozialismus kann resümierend gesagt werden, dass sich NS-Ideologie und Genossenschaftsgedanke grundsätzlich widersprachen Die durch „Rassereinheit“ gekennzeichnete „Volksgemeinschaft“ hatte mit einer Solidarität, die auf liberal-fortschrittlichen oder christlich-konservativen Prinzipien gründete, eigentlich nichts zu tun Gleichwohl waren manche Brückenschläge leicht möglich, etwa über den Nationalismus, das Gemeinwohlstreben, den Leistungsgedanken, dem Kampf gegen die „Selbstsucht“ und nicht 55 56 57 58

Rückzugblasen, das haben wir nicht gelernt!, in: Deutsche landwirtschaftliche Genossenschafts-Zeitung 1 (1939) Der Führer, in: Deutsche landwirtschaftliche Genossenschafts-Zeitung 8 (1939) Der genossenschaftliche Selbsthilfegedanke in der neuen Ordnung, in: Deutsche landwirtschaftliche Genossenschafts-Zeitung 23 (1940) Reicherbhofgesetz vom 29 September 1933, zit nach http://www verfassungen de/de/de33-45/ reichserbhof33 htm [01 07 2018]

102

Deutscher Sonderweg

zuletzt die Judenfeindschaft Wieder offenbart sich ein spannungsvolles Amalgam: Es gab Juden unter den frühen Genossenschaftern, eine weitgehende Distanz gegenüber Radautönen, aber auch einen unverkennbaren Antisemitismus, der etwa in der landwirtschaftlichen Genossenschaftsorganisation von Anfang an einen integralen Bestandteil bildete Daran konnte die NSDAP anknüpfen Nach 1933 fielen vor allem die Konsumgenossenschaften dem nationalsozialistischen Terror anheim, die Organisationsstrukturen blieben aber insgesamt weitgehend in Takt Die ideellen Schnittmengen wurden stark geredet, die Bereitschaft zum Mittun war groß, die Profite fielen ordentlich aus Der Anteil der Verweigerer erscheint trotz bekannter Persönlichkeiten wie Andreas Hermes, dem vormaligen Präsidenten des Reichsverbandes der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften, der 1945 wegen seiner Kontakte zum Widerstand zum Tod verurteilt wurde, verschwindend gering Die Genossenschaften nahmen folglich in ihrem (Nicht-)Handeln keine Sonderstellung im „Dritten Reich“ ein

VIII 21 0 Was bleibt nach all dem? Wie aktuell ist nun das 19 Jahrhundert? Welche Gegenwartsrelevanz besitzen die frühen Genossenschafter? Inwiefern können sie dem 21 Jahrhundert – im Positiven wie im Negativen – Orientierung geben? Zweifelsohne haben sich die Zeiten geändert Zunächst ist zu bedenken, dass bestimmte Kennzeichen der Gegenwart mit der verwandelten Welt der frühen Genossenschafter wenig zu tun haben Politische Macht kreist nicht mehr um Europa, sie ist anders, vor allem breiter verteilt Der digitale Mensch denkt nicht in kausal-genetischer Logik, sondern in Netzwerken Kommunikation außerhalb digitaler Medien gilt als Anachronismus Digitalisierung und Internet haben die globale Wirtschafts- und Arbeitswelt revolutioniert, neue Dimensionen von Kapitaltransaktionen eröffnet und die Finanzmärkte ins Zentrum des kapitalistischen Systems gerückt Zugleich beförderten sie den Siegeszug einer Shareholder-Value-Ideologie, die weite gesellschaftliche Bereiche der Funktionslogik und den Mechanismen des Marktes unterwirft Ferner zeichnet sich ein globales Umweltbewusstsein ab, das sich mit den Auswirkungen eines anthropogenen Klimawandels auseinanderzusetzen hat und die Umstellung auf regenerative Energien zu forcieren versucht Einschneidend sind schließlich kulturelle Veränderungen Hart er- und bekämpftes Leitmodell ist die Offenheit der Lebensformen, welche die Abschaffung von Minderheitendiskriminierung und insbesondere die Gleichberechtigung der Geschlechter zur unmittelbaren Voraussetzung hat Wurden allein in Westdeutschland zwischen 1950 und 1965 etwa 45 000 Männer wegen „Homosexualität“ verurteilt, durften deutsche Frauen bis 1977 lediglich dann berufstätig sein, wenn dies der Ehemann erlaubte, so wird den Menschen in Sachen Sexualität, Partnerschaft, Familie, Arbeit oder Freizeit im 21 Jahrhundert zumindest völlige Wahlfreiheit zugesprochen Darüber hinaus ist in Rechnung zu stellen, dass die Genossenschaften längst nicht mehr das sind, was sie waren Dies bezieht sich zunächst auf rechtliche Aspekte, etwa die Option von Mehrstimmrechten bei Zusammenschlüssen von Genossenschaften (Zentralgenossenschaften), der Verzicht auf durchgängige Gewinnverteilung nach Köpfen, die Möglichkeit, anstelle der General- eine Vertreterversammlung einzuberufen oder die Zwangsmitgliedschaft in Prüfungsverbänden Sodann haben sich Orga-

104

21 0

nisation und Selbstverständnis gewandelt Am eindrücklichsten zeigte sich dies zum einen bei den Konsumgenossenschaften, die nach 1945 zunehmend unter Wettbewerbsdruck gerieten, eine Fusionierungswelle erlebten und in den 1980er-Jahren gerade wegen ihrer Nähe zu bestimmten Parteien und Gewerkschaften im Mittelpunkt großer Wirtschaftsskandale in Frankreich, Argentinien, Finnland oder Deutschland standen Sie verloren weltweit dramatisch an Mitgliedern und Einfluss Zum anderen können die für Deutschland so wichtigen Kreditgenossenschaften als Beispiel dienen Seit Jahrzehnten erleben sie eine „unverkennbare Kommerzialisierung, Ökonomisierung und Rationalisierung“ 1 Der Beitritt zu einer Genossenschaft erfolgte zusehends weniger aus ideellen Motiven, sondern primär aus rationalen, nüchternen Erwägungen Die Genossenschaften wurden immer größer, ihre Bankgeschäfte immer umfänglicher Die gestiegene Renditeorientierung im Allgemeinen und die Zunahme langfristiger gewerblicher Mittel- und Großkredite erforderte aus Konkurrenzgründen die Ausweitung des Nicht-Mitglieder-Geschäftes, einen größeren Geschäftsbetrieb und die Einstellung von externen Fachkräften als Geschäftsführer oder Betriebsleiter Die enge Bindung zwischen Mitgliedern und Vorstand ging verloren Zentrale Raiffeisen-Prinzipien wie die Beschränkung der Geschäftstätigkeit auf einen eng begrenzten Bezirk, die unbeschränkte Haftpflicht, die ehrenamtliche Tätigkeit der Verwaltungsorgane oder die Nichtausschüttung einer Dividende fielen häufig faktisch weg Der Unterschied zwischen Genossenschaft und Kapitalgesellschaft wurde immer geringer Schließlich haben die einst identitätsbestimmenden christlichen Werte jede Leitfunktion eingebüßt Das 19 Jahrhundert scheint also weit entfernt, und es gibt gute Argumente dafür, den Genossenschaftspionieren keine Bedeutung für die Jetzt-Zeit zuzusprechen Die Formel ‚Vergangenheit ist Vergangenheit, und Gegenwart ist Gegenwart‘ hat im Falle von Rochdale Society, Huber, Schulze-Delitzsch, Raiffeisen, Pfeiffer, Haas etc alle Berechtigung Wer eingedenk dessen nach Orientierungswissen fragt, das Entstehung und Aufstieg der modernen Genossenschaften bereitstellen, könnte aber auch gerade am Beginn des 21 Jahrhunderts fündig werden Vielleicht vermag die moderne Genossenschaftsidee in gewisser Hinsicht auch die Bedürfnisse der postmodernen Gesellschaft zu befriedigen, gerade weil sie deren Diversitäten, Ambivalenzen und innere Spannungen spiegelt und produktiv wendet Vier abschließende Thesen mögen dies erhellen:

1

Richter, Raiffeisen, S  178

21 0

1.

105

Die Genossenschaft orientiert sich in zeitloser Weise an der Komplexität menschlicher Bedürfnisse.

Statt großer ideologischer Entwürfe schufen die frühen Genossenschafter erfolgreiche Geschichten, die scheinbar Ungleiches integrierten und am Beginn des 21 Jahrhunderts besondere Attraktivität besitzen könnten: a) Es gibt keine Selbstentfaltung ohne Leistung und keine Leistung ohne Selbstentfaltung b) Solidarisches Handeln schafft größere Freiheit c) Du kannst materialistischen Begehrlichkeiten frönen und zugleich Idealist sein d) Dein Streben nach Individualität kann das Wohl einer Gruppe und somit indirekt auch das allgemeine Wohl fördern Die Genossenschaften beschwören folglich keinen dritten Weg, sie beschreiten ihn aber praktisch Sie bekennen sich zur kapitalistischen Ordnung und vertrauen dem Markt mehr als dem Staat Zugleich bedeutet ihnen Wirtschaft mehr als Kapital Ihr Bestreben ist es, die kapitalistische Ordnung zu stärken – durch Ausrichtung am Menschen Die Stellung der Einzelnen in der kapitalistischen Ordnung soll durch solidarisches Handeln gehoben und auf diese Weise die Gesellschaft im Allgemeinen verbessert werden Dabei stehen die Genossenschaften für den Dreiklang von Selbstorientierung, Leistungsdenken und Selbsttranszendierung Es geht ihnen um den ökonomischen Vorteil der Einzelperson Dieser wird erreicht durch Solidarität, die auf Gleichheit und innerer Demokratie, freilich auch auf Selbstverantwortung, Pflichterfüllung und Wettbewerbsdenken gründet Der in der Gruppe gewonnene Vorteil soll wiederum den Einzelnen und letztlich auch der Steigerung des Gemeinwohls, das alle frühen Genossenschafter im Blick hatten, zu Gute kommen Immerhin ermöglichen die Genossenschaften „wirtschaftliche und andere Aktivitäten, die sonst unterbleiben würden “2 Sie dienen der (wirtschaftlichen) Selbstbestimmung, wo diese sonst nicht gegeben ist, und leisten so – ob aus (links-) liberaler oder aus konservativer Perspektive – subsidiär ihren Beitrag zum allgemeinen Wohl Entsteht kein ökonomischer Vorteil, dann hat die Genossenschaft versagt Fördert sie nicht das Wohl ihrer Mitglieder, verrät sie ihren Zweck Verliert sie die Gesamtgesellschaft aus dem Blick, handelt sie wider ihre geistige Grundlage „Wohl“ wird dabei ebenso materiell wie ideell verstanden, zur ökonomischen Sicherheit kommt die praktisch gelebte Überzeugung, dass diese wesentlich von soft facts, u a von Wissen und Bildungsförderung, abhängig ist Die Änderung des deutschen Genossenschaftsgesetzes im Jahre 2006, die in Angleichung an Kapitalgesellschaften u a erstmals investierende Mitglieder vorsieht, Sacheinlagen zulässt, einen Aufsichtsrat für fakultativ erklärt und den nur aus einer Person bestehenden Vorstand billigt, vermag an der Attraktivität dieses komplexen, den Menschen und seine Begehrlichkeiten in den Mittelpunkt stellenden Angebots kaum etwas zu ändern Das 19 Jahrhundert zeigt, dass 2

Theresia Theurl, Genossenschaften Irrtümer, Missverständnisse, Mythen, in: Johann Brazda u a (Hg ), Perspektiven für die Genossenschaftsidee Festschrift zum 65 Geburtstag von Verbandsanwalt Prof Dr Hans Hofinger, Bremen 2015, S  305–313, hier S  310

106

21 0

dieses umso anziehender in Zeiten erscheint, in denen Versprechen und Realität als extrem unterschiedlich wahrgenommen werden und wirtschaftliche Macht besonders eklatant erscheint Je deutlicher das Gefühl der „Unfreiheit im Mantel einer scheinbaren Freiheit“3 vorherrscht, je stärker ökonomisches Effizienzdenken die Gesellschaft bestimmt, je mehr der Mensch nach seiner funktionalen Brauchbarkeit beurteilt wird, desto größer ist die Sehnsucht nach dem Anderen: Nach Lebenswelten, in denen der homo oeconomicus ebenso sein Dasein bestreiten darf wie der „Gutmensch“, und Humankapital wertgeschätzt, jedoch nicht zum ideologischen Leitwert erhoben wird Die Genossenschaften könnten diese Sehnsucht befriedigen Sie gewähren die Möglichkeit, unterschiedliche Bedürfnisse auszuleben, fortschrittlich, kapitalistisch und humanistisch zu handeln Die genossenschaftliche Neugründungswelle in Deutschland nach der Gesetzesreform 2006 dürfte wesentlich in diesem Zusammenhang zu sehen sein Es fällt mithin auf, dass diese stark auf Gebieten außerhalb der traditionellen Genossenschaftssektoren wie Banken, Landwirtschaft oder Wohnungswirtschaft stattfindet Die mit Abstand meisten Neugründungen gab es im Bereich der Energiegenossenschaften Hierzu zählen Unternehmen, die sich mit der Erzeugung regenerativer Energien beschäftigen wie Fotovoltaikgenossenschaften, Bioenergiegenossenschaften oder genossenschaftliche Windkraftanlagen, aber auch Nahwärmenetze oder Bioenergiedörfer 4 2.

Die Genossenschaft ist ein Kulturhybrid und schafft Sinn in einer postideologischen Gesellschaft

Die Genossenschaft ist zwischen Fortschrittsglauben und Fortschrittsskepsis entstanden, sie ist kapitalistisch und antikapitalistisch Ihre Bindungen an den utopischen Frühsozialismus sind ebenso eindeutig wie eine klare Gegnerschaft gegenüber materialistischen Weltdeutungen Sie ist Kind des Liberalismus und wurde zugleich vom christlichen Konservativismus und später von einer gemäßigten Sozialdemokratie getragen Sie ist säkular, zutiefst religiös und von Anfang an überkonfessionell Sie ist eng mit der nationalen Idee verbunden und zugleich transnational ausgerichtet „Alle großen geistigen Strömungen des 19 Jahrhunderts haben in ihr ihren Niederschlag gefunden “5 Ihr politisch-ideologisches Anknüpfungspotential nimmt sich derart enorm aus, dass sich auch die totalitären Systeme des 20 Jahrhunderts gerne ihrer bedienten und von ihnen dienen ließen Die frühen Genossenschafter standen

3 4 5

Erwin Hasselmann, Die genossenschaftliche Selbsthilfe der Verbraucher Werden und Wesen der deutschen Konsumgenossenschaftsbewegung, Hamburg 1957, S  5 Stappel, Neugründungen Michael Stappel Neugründungen von Genossenschaften in Deutschland nach der Reform des Genossenschaftsgesetzes, in: Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen 66/2 (2016), S 61–78 Hasselmann, Rochdaler Grundsätze, S  142

21 0

107

aber für eine prinzipielle Absage an den „Hunger nach Ganzheit“ (Peter Gay), den die vielgestaltigen Krisenerscheinungen der Moderne mit sich brachten und der das 20 Jahrhundert wesentlich prägte Unserer Gegenwart, die durch „das Entschwinden des 20 Jahrhunderts“ gekennzeichnet ist,6 kommt dies sehr entgegen Im Gegensatz zu vormodernen Modellen wollten die Genossenschaften des 19 Jahrhunderts nicht das Leben ihrer Mitglieder bestimmen, sondern ihnen in einem seiner Teilbereiche Unterstützung zuteilwerden lassen Ausdrücklich galten die Prinzipien von Freiwilligkeit, Subsidiarität und Offenheit Die Einzelnen sollten schlechterdings Gelegenheit bekommen, ihre eigene „Synthese von Freiheit und Bindung“ zu bilden 7 Eine revolutionäre Umgestaltung der bestehenden Ordnung wurde abgelehnt – zumindest diesen eigentlich gegen sie gerichteten Grundsatz hatten die Ganzheitsutopien Nationalsozialismus und Kommunismus genau verstanden und nach ihrer Machtübernahme für eigene Zwecke instrumentalisiert Die frühen Genossenschafter wollten nichts umstürzen und sahen ihre Organisationen vornehmlich als eine andere Möglichkeit innerhalb des herrschenden Wirtschaftssystems Schulze-Delitzsch oder Raiffeisen hatten nicht vor, die Privatbanken oder die Sparkassen abzuschaffen Die Rochdaler Pioniere wollten zunächst einmal einen besseren Handel, Huber sah die Genossenschaften vornehmlich als Ergänzung des Wohnungsmarktes Der Zugang zu den Genossenschaften war offen, der Austritt jederzeit möglich, zur Freiwilligkeit gehörte auch das Recht der Abwahl Nicht zuletzt wussten die frühen Genossenschafter, dass die Form lediglich untergeordnete Bedeutung besaß, dass hehre Absichten und die Schaffung bestimmter Strukturen nicht ausreichten Es erwies sich aus ihrer Sicht als eine „von der Erfahrung sehr schnell widerlegte, besten Falls sehr naive Illusion“8, dass allein das Prinzip Genossenschaft die Welt besser mache Es musste unbedingt auch mit Leben gefüllt werden Die Genossenschaften traten als an der Lebenspraxis der Menschen orientierte Bedürfnisprojekte in Erscheinung, sie wollten da helfen, wo Bedarf bestand, Alternativlosigkeit lag ihnen fern Sie standen stets zwischen Platon und Aristoteles: Einerseits waren sie von einer starken Idee getragen, andererseits war dieser die besondere Bedeutung von praktischer Erfahrung und Alltagsvernunft von Anfang an bewusst Wer also lebensnahe Alternativen leben möchte, ohne diese zu verabsolutieren und mit dem Recht, sich jederzeit von ihnen zu verabschieden, könnte in den Genossenschaften eine wichtige Anlaufstelle finden Neue Bedürfnisprojekte gibt es am Beginn des 21 Jahrhunderts immerhin einige: Die Genossenschaft könnte das Netzwerk darstellen, das Selbstständigen oder Nebenberuflern Größen-, Kosten- und Synergievorteile verschafft, ohne dass diese unternehmerische Unabhängigkeit verlieren Dies gilt prinzipiell für jeden Bereich des Wirtschaftslebens, von der IT-Branche 6 7 8

Rödder, 21 0, S  387 Hans-Jürgen Seraphim, Vom Wesen der Genossenschaften und ihre steuerliche Behandlung, Neuwied 1951, S  35, zit nach GIZ, A-Varia-25 Huber, Sociale Fragen III, S  108 f

108

21 0

über die Zeitungsindustrie bis zu Bio-Winzern, insbesondere aber auch für das soziale Feld, auf dem staatliche Versorgung aufgrund des demografischen Wandels und diverser Spardiktate zusehends weniger ausreicht Genossenschaften, die Lehr- und Lernmaterial für Schulen bereitstellen, zeugen ebenso davon wie Genossenschaften von und für Menschen mit Einschränkungen Ferner sind Nachbarschafts- und Familiengenossenschaften zu nennen, die sich um die gemeinsame Bereitstellung sozialer Dienstleistungen wie Unterstützung bei Behördengängen, Haushaltshilfe, Pflege oder Pflegeausbildung kümmern, oder genossenschaftliche Mehrgenerationenhäuser, in denen sich Mitglieder unterschiedlicher Generationen gegenseitig bei Kinder- und Altenbetreuung, Hausaufgabenhilfe oder Haushaltsleistungen unterstützen Etliche Beispiele demonstrieren auch, dass genossenschaftliche Frauenunternehmen der Geschlechtergerechtigkeit dienlich sein können Exemplarisch betonte die Geschäftsführerin der 1989 gegründeten Berliner Genossenschaft WeiberWirtschaft in diesem Zusammenhang: „Wir wollen etwas in der Gesellschaft verändern, damit Frauen ernster genommen werden und nicht zwanzig Prozent weniger verdienen als Kerle “9 Ob nun im Einklang mit, unabhängig von oder gegen politische Inklusionswünsche – dieses emanzipatorische Potential der Genossenschaft könnten auch andere gesellschaftliche Gruppen nutzen 3.

Die Genossenschaft reduziert Komplexität und schafft Heimat.

Die Genossenschaften sind als Anker in einer „Welt der Gärung“10 gedacht worden Sie sollten dem „Absolutismus der Wirklichkeit“11 entgegenstehen, der Übersichtlichkeit angesichts zusehends komplexer werdender (Wirtschafts-)Verhältnisse dienen und letzthin „in einer Welt, in der nichts sicher scheint“, „’n kleines bisschen Sicherheit“ geben12 Die Einzelnen sollten nicht nur „die Möglichkeit voller Lebensentfaltung und Lebensbethätigung“ erhalten, sondern vor allem wieder das Gefühl haben, dazuzugehören, dem System nicht ausgeliefert zu sein, sondern an ihm teilzuhaben Die Genossenschaften sollten die Welt kleiner machen – völlig unabhängig davon, ob sie sieben oder 17 000 Mitglieder hatten Gerade in ihrer regionalen Verankerung waren die Genossenschaften als eine Art Komplementärstück zur Globalisierung des (Wirtschafts-)Lebens konzipiert Damals wie heute gemahnen sie folglich nicht zu vergessen: „all business is local“13 – in einer globalisierten Welt hat alles auf alles Einfluss, aber immer noch und mehr denn je werden ökonomische wie sozio-kulturelle Prozesse in

9 10 11 12 13

Zit nach Barbara Bollwahn, Frauengenossenschaften – Genossenschaftsfrauen, Berlin 2008, S  18 Korthaus, Der Deutsche Genossenschaftsverband, S  4 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 6 Aufl , Frankfurt a M  2001, S  9 So heißt es im 2009 publizierten Song „Irgendwas bleibt“ der Band „Silbermond“ Zit nach Hartmut Berghoff, Moderne Unternehmensgeschichte Eine themen- und theorieorientierte Einführung, Paderborn u a  2004, S  235

21 0

109

wesentlicher Weise vor Ort bestimmt Ist nicht die Region der Ort, „wo man Gerüche und Farben und Geschmack inniger erlebt, Tonfälle und soziale Codes besser versteht, […] wo man sich einmischen will, und wo man zugleich seine Ruhe sucht, wo man Verantwortung übernimmt, […] und wo man denjenigen kennt, an den man Verantwortung delegiert?“ Je mehr die einen von der Krise des Nationalstaates und die anderen von seiner neuen Blüte sprechen, so klarer könnte deutlich werden, dass lokale und regionale Bezüge die „Herzwurzel der Identität“14 ausmachen und die Volksbank oder die landwirtschaftliche Genossenschaft vor Ort keine unwesentliche Rolle bei der Konstruktion von „Heimat“ spielen Die bis heute große Übereinstimmung von Mitgliedern und Kunden ist dabei ebenso von Bedeutung wie das ja immer noch gültige Demokratieprinzip, das der Macht von Großaktionären entgegensteht Im Fall der Genossenschaftsbanken ist auch zu bedenken, dass sie zwar ihre Rentabilität verlieren, nicht jedoch von einer externen Bank übernommen werden können Zugleich birgt die jüngere Gesetzgebung einige Potentiale Denn durch die kodifizierte Erweiterung des genossenschaftlichen Förderzwecks auf soziale und kulturelle Belange ihrer Mitglieder vermögen neuere Erscheinungen wie genossenschaftliche Dorfläden, Musikschulen, Programmkinos, Kindergärten oder Schwimmbäder Bindungen dort zu erhalten oder zu schaffen, wo überkommene Strukturen nicht gehalten werden können oder wollen In diesem Sinne bieten Genossenschaften „eine Perspektive“15 und jenseits aller Weltkulturerbelisten könnten die Entscheiderinnen und Entscheider unserer Zeit daher auch an die komplexitätsreduzierende Funktion der Genossenschaften denken, wenn sie fordern: „Politik muss auch eine Idee formulieren Eine Heimatidee Eine Identitätsidee “16 4.

Die Genossenschaft hat ihre Geschichte.

Die moderne Genossenschaftsidee existiert seit knapp zwei Jahrhunderten Sie hat erstaunliche Anpassungsleistungen an veränderte äußere Verhältnisse und zugleich verheerende Fehlentwicklungen erlebt Sie ist eng mit dem liberalen Glauben an das Gute verbunden Sie verlangt eine freiheitlich-demokratische Struktur und gründet zugleich wesentlich auf dem christlichen Menschenbild, das den Einzelnen maximale Würde und dem Gemeinwohl höchste Bedeutung zuspricht Genossenschaft bedeutet Freiheit und will sozialen Frieden Indes sind die Genossenschaften auch im Umfeld von Judenfeindschaft und modernem Antisemitismus entstanden Den genossen-

14 15 16

Robert Menasse, Heimat ist die schönste Utopie Reden (wir) über Europa, Berlin 2014, S  80 Hans Hofinger/Renate Hinteregger, Genossenschaften Eine Perspektive für Kommunen (Recht & Finanzen für Gemeinden 3, 2007) Robert Habeck, zit nach Mensch, deine Heimat ist die Erde, in: Frankfurter Rundschau, 5 Oktober 2017 [http://www fr de/politik/steinmeier-rede-mensch-deine-heimat-ist-die-erde-a-1362708 (01 07 2018)]

110

21 0

schaftlichen Gedanken machen Prinzipien aus, die Anknüpfungspunkte nicht nur an die Solidarvorstellungen von real existierendem Sozialismus, sondern auch des Nationalsozialismus boten Während die kommunistische Diktatur die Grundsätze von Freiwilligkeit und Offenheit praktisch außer Kraft setzte und die Genossenschaften zu einer Säule ihres Herrschaftssystems machte, konnte das NS-Regime neben Terrormaßnahmen vor allem auf ideologische Brücken setzen und einen Großteil vorhandener Strukturen übernehmen Die überkommene Judenfeindschaft bot ebenso Anschluss wie die nationalistische Tradition, das Leistungsdenken oder die Kapitalismuskritik Relativ leicht ließen sich die Kämpfer gegen die Selbstsucht für den zerstörerischen Kampf gegen Individualität und „Rassereinheit“ einspannen, blieb das soziale Inklusionsprogramm des Nationalsozialismus, das mörderische Exklusion bedingte, unhinterfragt Nach 1945 waren die Bemühungen um Aufarbeitung gering, diejenigen um Selbstentlastung ebenso groß wie die personellen Kontinuitäten Bis heute findet sich in der Unmenge an genossenschaftshistorischer Literatur keine Studie, die sich systematisch dem Umgang mit der NS-Vergangenheit zuwendet Stattdessen befördern einschlägige Darstellungen die Vorstellung, dass „obwohl die Genossenschaften im Dritten Reich eifrig umworben wurden, die „gegensätzlichen Auffassungen sie davor bewahrt [haben], um vermeintlicher Vorteile willen ihre Seele zu verkaufen “17 Zugleich aber spielten die Genossenschaften eine wichtige Rolle bei der Etablierung einer stabilen Demokratie – ihre späteren Skandale konnten dieser keinen Abbruch tun Bis in die Gegenwart stützt die Genossenschaftsidee die Herrschaft von Autokraten, während sie zugleich in Demokratien eine besondere Verbreitung findet und insbesondere für die wirtschaftliche Stärke Europas spezielle Bedeutung besitzt Ist es vorstellbar, dass genossenschaftliche Organisation das deutsche Schulsystem, dessen Realität an etlichen Stellen „kaputte Heizungen, Asbest, keine Lehrer, kein Geld“18 bedeutet, besser machen würde? Ist es vorstellbar, dass die verstärkte Gründung von Genossenschaften der Stabilität afrikanischer Wirtschaftssysteme dienlich ist und Fluchten nach Europa unwahrscheinlicher macht? Ist es vorstellbar, dass die Europäische Union sich als Genossenschaft neu erfindet – inklusive Demokratieprinzip, Solidarhaftung und Reservefonds? Der Blick des Historikers zeigt in erster Linie: Die Geschichte kennt „keine erkennbare übergeordnete Richtung, weder in den Verfall, noch in eine bessere Welt “19 Sie ermahnt zur Offenheit gegenüber dem unabdingbaren Wandel, führt aber auch jeder Gegenwart vor Augen, was Sinn und was keinen Sinn schafft

17 18 19

Rudolf Maxeiner u a , Raiffeisen Der Mann, die Idee und das Werk, Neuwied 1988, S  96 Voll verpennt, in: Süddeutsche Zeitung, 27 Mai 2018 Rödder, 21 0, S  390

Quellen- und Literaturverzeichnis

I. Unveröffentlichte Quellen Archivamt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Münster (LVWLM), Archiv Herringhausen Archiv im Rheinkreis Neuss Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Familienarchiv Soden-Fraunhofen Genossenschaftshistorisches Informationszentrum (GIZ) Neues Zeiler Archiv, Leutkirch

II. Veröffentlichte Quellen und Literatur Albrecht, Gerhard, Schulze-Delitzschs Leben und Werk, in: Deutscher Genossenschaftsverband, Schulze-Delitzsch, S  13–84 Aldenhoff, Rita, Schulze-Delitzsch Ein Beitrag zur Geschichte des Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung Baden-Baden 1984 Aschoff, Hans-Georg, Protestantismus und Staat im 19 und 20 Jahrhundert, in: Rüther, Geschichte, S  57–92 Bahr, Hermann, Antisemitismus Ein internationales Interview Berlin 1894 Baist, Gustav, Rettet den Deutschen Bauern und Handwerker Ein Wort aus Selbsterfahrung über Raiffeisens Darlehenskassenvereine  3 Aufl , Neuendettelsau, ca  1893 Bajohr, Frank / Wildt, Michael (Hrsg ), Volksgemeinschaft Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus Frankfurt a M  2009 Bauerkämper, Arnd, Kontinuität und Auflösung der bürgerlichen Rechtsordnung Landwirtschaftliches Bodeneigentum in Ost- und Westdeutschland, in: Siegrist / Sugarman, Eigentum, S  109–134 Baumann, Eike, Der Konvertit Victor Aimé Huber (1800–1869) Geschichte eines Christen und Sozialreformers im Spannungsfeld von Revolution und Reaktion Leipzig 2009 Beihofer, Martin, Die katholische Soziallehre und die modernen Genossenschaften Konstanz 1962

112

Quellen- und Literaturverzeichnis

Berghoff, Hartmut, Moderne Unternehmensgeschichte Eine themen- und theorieorientierte Einführung Paderborn u a  2004 Bernstein, Eduard, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie Berlin 1969 Birnstein, Uwe / Schwikart, Georg, Friedrich Wilhelm Raiffeisen – Hermann Schulze-Delitzsch Genossenschaftlich gegen die Not Berlin 2014 Bittel, Karl, Eduard Pfeiffer und die deutsche Konsumgenossenschaftsbewegung, München/ Leipzig 1915 Blaschke, Olaf, Katholizismus und Antisemitismus im deutschen Kaiserreich Göttingen 1997 Blömer, Ursula / Garz, Detlef (Hrsg ), „Wir Kinder hatten ein herrliches Leben […]“ Jüdische Kindheit und Jugend im Kaiserreich 1871–1918 Oldenburg 2000 Blumenberg, Hans, Arbeit am Mythos  6 Aufl , Frankfurt a M  2001 Blundau, Kuno, Nationalsozialismus und Genossenschaften Hannover 1968 Boldorf, Marcel, Karl Korthaus (1859–1933), in: Institut für bankhistorische Forschung, Sozialreformer, S  151–170 Bollwahn, Barbara, Frauengenossenschaften – Genossenschaftsfrauen Berlin 2008 Braumann, Franz, Ein Mann bezwingt die Not Friedrich Wilhelm Raiffeisen: Ein Lebensroman Wiesbaden 2017 Brazda, Johann u a (Hrsg ), Perspektiven für die Genossenschaftsidee Festschrift zum 65 Geburtstag von Verbandsanwalt Prof Dr Hans Hofinger Bremen 2015 Brehmer, Karl, Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877) Arbeiterbischof und Sozialethiker: Auf den Spuren einer zeitlosen Modernität Regensburg 2009 Dahm, Volker, Das jüdische Buch im Dritten Reich  2 Aufl , München 1993 Deutscher Genossenschaftsverband (Hrsg ), Schulze-Delitzsch 1808–1958 Festschrift zur 150 Wiederkehr seines Geburtstages Wiesbaden 1959 Elm, Adolph von, Genossenschaftsbewegung und Sozialdemokratie, in: Sozialistische Monatshefte 14–16 (1910), S  929–940 Elsässer, Markus, Die Rochdaler Pioniere Religiöse Einflüsse in ihrer Bedeutung für die Entstehung der Rochdaler Pioniergenossenschaft von 1844 Berlin 1982 Etzemüller, Thomas, Total, aber nicht totalitär Die schwedische „Volksgemeinschaft“, in: Bajohr / Wildt, Volksgemeinschaft, S  41–59 Faßbender, Martin, Anleitung zur Geschäfts- und Buchführung der Spar- und DarlehenskassenVereine (nach Raiffeisen’s System der Neuwieder Organisation) 7 Aufl , Neuwied 1896 Faßbender, Martin, F W Raiffeisen in seinem Leben Denken und Wirken im Zusammenhange mit der Gesamtentwicklung des neuzeitlichen Genossenschaftswesens in Deutschland Berlin 1902 Faucherre, Henry, Umrisse einer genossenschaftlichen Ideengeschichte, I Teil Basel 1925 Faust, Helmut, Viktor Aimé Huber, Ein Bahnbrecher der Genossenschaftsidee Hamburg 1952 Faust, Helmut, Geschichte der Genossenschaftsbewegung Ursprung und Weg der Genossenschaften im deutschen Sprachraum Frankfurt a M  1965 Faust, Helmut, Ethik in der Genossenschaft, in: Weisser, Genossenschaften, S  21–41 Förderverein Hermann Schulze-Delitzsch (Hrsg ), Hermann Schulze-Delitzsch Weg, Werk, Wirkung Neuwied 2008 Freundlich, Emmy, Die Frau in der Genossenschaftsbewegung Mit dem Berichte von der 1 Internationalen Frauenkonferenz in Basel 1921 Gera 1921 Freundlich, Emmy, Wege zur Gemeinwirtschaft Jena 1928

Quellen- und Literaturverzeichnis

113

Gailus, Manfred / Nolzen, Armin (Hrsg ), Zerstrittene ‚Volksgemeinschaft‘ Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus Göttingen 2011 Gailus, Manfred / Nolzen, Armin, Einleitung Viele konkurrierende Gläubigkeiten – aber eine ‚Volksgemeinschaft‘?, in: Gailus / Nolzen, ‚Volksgemeinschaft‘, S  7–33 Gerhard, Adele, Konsumgenossenschaft und Sozialdemokratie Nürnberg 1895 Gerlach, Ernst Ludwig von, Kaiser und Papst Berlin 1872 Gerlach, Kurt Albert, Die Frau und das Genossenschaftswesen Jena 1918 Gierke, Otto von, Das deutsche Genossenschaftsrecht Berlin 1873 Glaeßner, Gert-Joachim, Arbeiterbewegung und Genossenschaft Entstehung und Entwicklung der Konsumgenossenschaften in Deutschland am Beispiel Berlins Göttingen 1989 Hartmann, Christian u a (Hrsg ), Hitler, Mein Kampf Eine kritische Edition, Bd  1 u  2 München/Berlin 2016 Hasselmann, Erwin, Eduard Pfeiffer und seine Bedeutung für die deutsche Konsumgenossenschaftsbewegung Hamburg 1954 Hasselmann, Erwin, Die genossenschaftliche Selbsthilfe der Verbraucher Werden und Wesen der deutschen Konsumgenossenschaftsbewegung Hamburg 1957 Hasselmann, Erwin, Die Rochdaler Grundsätze im Wandel der Zeit Frankfurt am Main 1968 Heckmann-Janz, Kirsten, Vor 50 Jahren: Ulbrichts Offensive Visionen von Sozialismus und Wohlstand auf dem V Parteitag der SED 1958 Beitrag vom 16 07 2008 Abrufbar unter: http:// www deutschlandfunkkultur de/vor-50-jahren-ulbrichts-offensive 984 de html?dram:article_ id=153428 [01 07 2018] Heinemann, Christine (Bearb ), Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben Wiesbaden 1983 Held, Adolf, Zwei Bücher zur Socialen Geschichte Englands Leipzig 1881 Hermann, Schulze-Delitzsch, Assoziationsbuch für deutsche Handwerker und Arbeiter Leipzig 1853 Hermann, Schulze-Delitzsch, Die Stellung der höheren Gesellschaftsklassen zur sozialen Frage (1880), in: Thorwart, Schulze-Delitzsch, Bd  2, S  507–516 Hertling, Georg von, Naturrecht und Socialpolitik Köln 1893 Hetzer, Reinold, Erneuerung des deutschen Genossenschaftswesens Berlin 1934 Heuss, Theodor, Schulze-Delitzsch Leistung und Vermächtnis Tübingen 1956 Hindelang, Sabine, Konservativismus und soziale Frage Viktor Aimé Hubers Beitrag zum sozialkonservativen Denken im 19 Jahrhundert Frankfurt a M  1983 Historischer Verein bayerischer Genossenschaften e V (Hrsg ), Die Anfänge der modernen Genossenschaftsbewegung in Bayern, Österreich und Südtirol München 1998 Historischer Verein bayerischer Genossenschaften (Hrsg ), Gründer und Gründungen Beiträge und ausgewählte Dokumente zur Genossenschaftsbewegung München 2006 Hofinger, Hans, Gewerbliche Genossenschaften in der Donaumonarchie, in: Historischer Verein bayerischer Genossenschaften e V , Anfänge, S  176–203 Hofinger, Hans / Hinteregger, Renate, Genossenschaften Eine Perspektive für Kommunen Recht & Finanzen für Gemeinden 3 (2007) Holyoake, George Jacob, Geschichte der Rochdaler Pioniere Köln 1928 Huber, Viktor Aimé, Über Assoziationen mit besonderer Beziehung auf England Berlin 1851 Huber, Victor Aimé, Sociale Fragen I: Das Genossenschaftswesen und die ländlichen Tagelöhner Nordhausen 1863 Huber, Viktor Aimé, Sociale Fragen III: Die innere Mission Nordhausen 1864 Huber, Viktor Aimé, Sociale Fragen IV: Die latente Association Nordhausen 1866

114

Quellen- und Literaturverzeichnis

Hüttl, Ludwig, Pfarrer C Willibald Kaiser (1853–1935) – der „bayerische Raiffeisen“, in: Historischer Verein bayerischer Genossenschaften, Gründer, S  78–141 Institut für bankhistorische Forschung (Hrsg ), Sozialreformer, Modernisierer, Bankmanager Biografische Skizzen aus der Geschichte des Kreditgenossenschaftswesens München 2016 Kaiser, Carl Willibald, Der praktische Raiffeisenmann Zwiegespräch über die landwirtschaftlichen Darlehenskassen-Vereine nach dem System Raiffeisen  6 Aufl , Regensburg 1906 Kaltenborn, Wilhelm, Raiffeisen Anfang und Ende Norderstedt 2018 Kaltenborn, Wilhelm, Schein und Wirklichkeit Genossenschaften und Genossenschaftsverbände: Eine kritische Auseinandersetzung Berlin 2014 Kant, Immanuel, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berliner Monatsschrift, Dezember 1784 Kautsky, Karl, Consumvereine und Arbeiterbewegung Wien 1897 Kautsky, Karl, Der Weg zur Macht Abrufbar unter: https://www marxists org/deutsch/archiv/ kautsky/1909/macht/5-weder htm [01 07 2018] Ketteler, Wilhelm Emmanuel von, Die großen socialen Fragen der Gegenwart Sechs Predigten gehalten im hohen Dom zu Mainz Mainz 1849 Ketteler, Wilhelm Emmanuel von, Deutschland nach dem Kriege von 1866 4 Auflage, Mainz 1867 Ketteler, Wilhelm Emmanuel von, Die Katholiken im Deutschen Reiche Entwurf zu einem politischen Programm Mainz 1873 Ketteler, Wilhelm Emmanuel von, Liberalismus, Socialismus und Christenthum Mainz 1871 Kiesewetter, Hubert, Industrielle Revolution in Deutschland Regionen als Wachstumsmotoren Stuttgart 2004 Klein, Michael, Bankier der Barmherzigkeit Friedrich Wilhelm Raiffeisen: Das Leben des Genossenschaftsgründers in Texten und Bildern  3 Aufl , Neukirchen 1999 Kluge, Arnd, Frauen und Genossenschaften in Deutschland Von der Mitte des 19 Jahrhunderts bis zur Gegenwart Marburg 1992 Koch, Walter, F W Raiffeisen, Dokumente und Briefe Bd 2, Wien 1988 Koch, Walter, Der Genossenschaftsgedanke F W Raiffeisens Paderborn/Würzburg 1991 Koch, Walter, Raiffeisen-Dokumente Bd  4: Das landwirtschaftliche Genossenschaftsblatt 1879– 1888 T  3 C: Die Protokolle zum Verbandstag der ländlichen Genossenschaften Dachau 1992 Koch, Walter (Hrsg ), F W Raiffeisen Statuten, Dokumente und Schriftwechsel mit den Behörden 1846–1888 Dachau 1996 Korf, Jan-Frederik, Von der Konsumgenossenschaftsbewegung zum Gemeinschaftswerk der Deutschen Arbeitsfront Zwischen Gleichschaltung, Widerstand und Anpassung an die Diktatur Hamburg 2008 Korthaus, Karl, Der Deutsche Genossenschaftsverband, sein Werden, seine Aufgaben und Erfolge Berlin 1921 Korthaus, Karl, Zeitbilder aus der Geschichte des deutschen Genossenschaftswesens Berlin 1927 Krebs, Willy, Friedrich Wilhelm Raiffeisen Ein Kapitel bäuerlicher Selbsthilfe  3 Aufl , Neuwied 1955 Kurzer, Ulrich, Nationalsozialismus und Konsumgenossenschaften Gleichschaltung, Sanierung und Teilliquidation zwischen 1933 und 1936 Pfaffenweiler 1997 Lenhart, Ludwig, Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler Kevelaer 1937 Lenin, Wladimir I , Über das Genossenschaftswesen, 4 Januar 1923 Abrufbar unter: http://www mlwerke de/le/le33/le33_453 htm [01 07 2018] Liedtke, Rainer, Die Industrielle Revolution Köln u a  2012

Quellen- und Literaturverzeichnis

115

Mack, Rüdiger, Otto Böckel und die antisemitische Bauernbewegung in Hessen 1887–1914, in: Heinemann, Neunhundert Jahre, S  377–410 Marx, Karl, Bürgerkrieg in Frankreich Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation vermehrt durch die beiden Adressen des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg Berlin 1963 Marx, Karl, Kritik des Gothaer Programms, 1875, in: Marx / Engels, Werke, S  22 Marx, Karl, Das Kapital Kritik der politischen Ökonomie, Bd III: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion Berlin 1983 Marx, Karl / Engels, Friedrich, Werke, Bd  19, 4 Aufl , Berlin 1973 Maxeiner, Rudolf u a , Raiffeisen Der Mann, die Idee und das Werk Neuwied 1988 Maxeiner, Rudolf, Der Dritte im Bund der Genossenschaftsgründer Zum 150 Geburtstag von Wilhelm Haas, in: Genossenschaftsforum 1989, S  438–443 Maxeiner, Rudolf, Vertrauen in die eigene Kraft Wilhelm Haas: Sein Leben und Wirken Wiesbaden 1976 Mazura, Uwe, Zentrumspartei und Judenfrage 1870/71–1933 Verfassungsstaat und Minderheitenschutz Mainz 1994 Menasse, Robert, Heimat ist die schönste Utopie Reden (wir) über Europa Berlin 2014 Messner, Johannes, Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik Berlin 1969 Münkner, Hans-H , Schulze-Delitzschs internationale Ausstrahlung, in: Förderverein Hermann Schulze-Delitzsch, Schulze-Delitzsch, S  314–343 Nell-Breuning, Oswald von / Sacher, Hermann, Wörterbuch der Politik Heft 1: Zur christlichen Gesellschaftslehre Freiburg i B  1954 Nonn, Christoph, Das 19 und 20 Jahrhundert Paderborn u a  2007 [o V ], Welches ist das beste Prinzip?, in: Die junge Generation 3 (1842) [o V ], Die Frauen und die Consumvereine, in: Blätter für das Genossenschaftswesen 31 (1866) [o V ], Die Socialdemokratie, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 3 (1879) [o V ], Die Socialdemokratie, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt, 3 (1879) [o V ], Die Zwangs-Credit-Genossenschaften und die freien Darlehenskassen-Vereine, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 8 (1879) [o V ], Die Leistungen der Genossenschaften für Volksbildung, in: Blätter für das Genossenschaftswesen, 4 Juni 1880 [o V ], Unser Neujahrswunsch, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 1 (1883) [o V ], Verschiedenes, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 11 (1884) [o V ], Die Raiffeisen’schen Darlehenskassen im Auslande, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 6 (1886) [o V ], Protokoll des Vereinstages ländlicher Genossenschaften, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 7 (1889) [o V ], Aus den Vereinen und Verbänden, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 6 (1891) [o V ], Die Socialdemokratie in Bildern, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 3 (1891) [o V ], Raiffeisens Kaiserlied, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 10 (1891) [o V ], Protokoll des Vereinstages ländlicher Genossenschaften am 6 Juli 1892 zu München, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt, 8/9 (1892) [o V ], Ueber Sozialismus und Darlehenskassen-Vereine, in: Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt 1 (1892) [o V ] Der Führer, in: Deutsche Landwirtschaftliche Genossenschafts-Zeitung 8 (1939)

116

Quellen- und Literaturverzeichnis

[o V ], Rückzugblasen, das haben wir nicht gelernt!, in: Deutsche landwirtschaftliche Genossenschafts-Zeitung 1 (1939) [o V ], Der genossenschaftliche Selbsthilfegedanke in der neuen Ordnung, in: Deutsche landwirtschaftliche Genossenschafts-Zeitung 23 (1940) Pfeiffer, Eduard, Ueber Genossenschaftswesen Was ist der Arbeiterstand in der heutigen Gesellschaft? Und was kann er werden? Leipzig 1863 Pfeiffer, Eduard, Eigenes Heim und billige Wohnungen Ein Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage  2 Aufl , Stuttgart 1896 Puhle, Hans-Jürgen, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservativismus im wilhelminischen Reich (1893–1914) Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei Hannover 1966 Raasch, Markus, Erziehung im Ausnahmezustand Eine vergleichende Perspektive auf beide Weltkriege, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 22/1 (2018), S  91–142 Radziwill, Edmund von, Die kirchliche Autorität und das moderne Bewusstsein Breslau 1872 Raiffeisen, Friedrich Wilhelm, Die Darlehenskassen-Vereine  5 Aufl , Neuwied 1887 Raiffeisen, Friedrich Willhelm, Raiffeisen-Worte Auszüge aus den Schriften, Reden und Briefen F W Raiffeisens  2 Aufl , Neuwied 1922 Raiffeisen, Friedrich Wilhelm, Die Darlehnskassen-Vereine  6 Aufl , Neuwied 1923 Raiffeisen, Friedrich Wilhelm, Die Darlehenskassen-Vereine 7 Aufl , Neuwied 1951 Raiffeisen, Friedrich Wilhelm, Die Darlehenskassen-Vereine  8 Aufl , Neuwied 1966 Rauscher, Anton (Hrsg ), Handbuch der Katholischen Soziallehre Berlin 2008 Richter, Heinrich, Friedrich Wilhelm Raiffeisen und die Entwicklung der Genossenschaftsidee München 1966 Rödder, Andreas, 21 0 Eine kurze Geschichte der Gegenwart  4 Aufl , München 2016 Rüther, Günther (Hrsg ), Geschichte der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Bewegungen in Deutschland Grundlagen, Unterrichtsmodelle, Quellen und Arbeitshilfen für die politische Bildung Teil 1 Bonn 1984 Schach, Eugen, Nationalsozialismus und Genossenschaftswesen München/Berlin 1931 Schloesser, Robert, Die Frauenfrage in der Genossenschaftsbewegung Düsseldorf 1922 Schloesser, Robert, Holyoakes Geschichte der Rochdaler Pioniere Köln 1928, S  38 Schloesser, Robert / Breuer, Walter, Nationalsozialismus und Konsumgenossenschaftswesen 2  Aufl , Köln 1932 Schultze, Richard Sigmund, Die Selbsthülfe, ihre Entwicklung und Erfolge in den Genossenschaften Greifswald 1867 Schulze-Delitzsch, Hermann, Capital zu einem deutschen Arbeiterkatechismus Sechs Vorträge vor dem Berliner Arbeiterverein Leipzig 1863 Schulze-Delitzsch, Hermann, Sociale Rechte und Pflichten Vortrag, gehalten am 14 Februar 1866 in Berlin Berlin 1866 Schulze-Delitzsch, Hermann, Die sociale Frage Aus zwei Vorlesungen am 18 März und 2 April 1869 in Berlin und Cöln Berlin 1869 Schulze-Delitzsch, Hermann, Der Notstand der arbeitenden Klassen Das Genossenschaftswesen München 1910 Schütte, Heinz, Die Rolle der Genossenschaften bei der Industrialisierung Hannover 1971 Schyga, Peter, Über die Volksgemeinschaft der Deutschen Begriff und historische Wirklichkeit jenseits historiographischer Gegenwartsmoden Baden-Baden 2015 Seer, Ernst, Das Genossenschaftswesen in dem ständischen Aufbau des nationalsozialistischen Staates Stettin 1933

Quellen- und Literaturverzeichnis

117

Seraphim, Hans-Jürgen, Vom Wesen der Genossenschaften und ihre steuerliche Behandlung Neuwied 1951 Seraphim, Hans Jürgen, Die geistigen Grundlagen der Konsumgenossenschaften von Heute Hamburg 1957 Siegrist, Hannes / Sugarman, David (Hrsg ), Eigentum im internationalen Vergleich (18 –20 Jahrhundert) Göttingen 1999 Sitta, Heinz Wilfried, Franz Joseph Freiherr von Gruben Ein Beitrag zur politischen Geschichte des deutschen Katholizismus Würzburg 1953 Stappel, Michael, Neugründungen von Genossenschaften in Deutschland nach der Reform des Genossenschaftsgesetzes, in: Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen 66/2 (2016), S 61–78 Staudinger, Franz, Die Konsumgenossenschaft Leipzig 1908, S  20 Steinbach, Helma, Partei und Genossenschaft im internationalen Sozialismus, in: Sozialistische Monatshefte 14–16 (1910), S  1368–1371 Stötzel, Georg / Wengeler, Martin, Kontroverse Begriffe Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland Berlin/New York 1995 ten Haaf, Hermann-Josef, Kreditgenossenschaften im „Dritten Reich“ Bankwirtschaftliche Selbsthilfe und demokratische Selbstverwaltung in der Diktatur  2 Aufl , Ostfildern 2013 Theurl, Theresia, Genossenschaften Irrtümer, Missverständnisse, Mythen, in: Brazda u a , Perspektiven, S  305–313 Thorwart, Friedrich (Hrsg ), Hermann Schulze-Delitzschs Schriften und Reden  4 Bde, Berlin 1911 Treitschke, Heinrich von, Die Juden sind unser Unglück, 15 November 1879 Abrufbar unter: http://germanhistorydocs ghi-dc org/pdf/deu/411_Treitschke_Juden%20sind%20Unglueck_ 112 pdf [01 07 2018] Webb, Sidney, Die britische Genossenschaftsbewegung Leipzig 1893 Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd  3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914 2 Aufl , München 2006 Weisser, Gerhard (Hrsg ), Genossenschaften und Genossenschaftsforschung Strukturelle und ablaufanalytische, historische und systematische Aspekte der Genossenschaften des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts: Festschrift zum 65 Geburtstag von Georg Draheim  2 Aufl , Göttingen 1971 Wilbrandt, Robert, Die Bedeutung der Konsumgenossenschaften Vortrag auf dem Evangelischsozialen Kongreß zu Hamburg Göttingen 1913 Wilfried, Heinz, Franz Joseph Freiherr von Gruben Ein Beitrag zur politischen Geschichte des deutschen Katholizismus Würzburg 1953 Wilhelm Kaltenborn, Schulze und die Arbeiterbewegung, in: Förderverein Hermann SchulzeDelitzsch, Schulze-Delitzsch, S  212–243 Wolfsteiner, Alfred, Georg Heim Bauerngeneral und Genossenschaftler Regensburg 2014 Wuttig, Adolf, Friedrich Wilhelm Raiffeisen und die nach ihm genannten ländlichen Darlehenskassen-Vereine  3 Aufl , Neuwied 1895 Yu, Eun-Sang, Die Grundzüge der sozialen Gedankenwelt von Victor Aimé Huber Eine Untersuchung seiner theologischen und politischen Grundauffassungen Berlin 1986 Zechlin, Egmont / Bieber, Hans Joachim, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg Göttingen 1969 Zetkin, Clara, Frau und Genossenschaft Berlin 1926

Register Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein (ADAV) 58 Allgemeiner Verband der auf Selbsthilfe beruhenden Deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften 28 (Bad) Ems 73 Afrika 30, 83 Ahrtal 45 Alldeutscher Verband 93 Alliance Israélite Universelle 97 American Peace Society 74 Amerika 97 Argentinien 84, 104 Asien 84 Babylon 29 Baist, Gustav 95 Baltikum 78 Barbarossa, Friedrich (Friedrich I ) 74 Bayern 27 Belgien 72 f Bellers, John 46 Berlin 26, 85, 93 f Bernhardi, Anton 25 Bernstein, Eduard 62 Bichelsee 83 Bismarck, Otto von 9, 55, 73 Böckel, Otto 94 Bodelschwingh, Friedrich von 47 Brandenburg 26 Brasilien 10, 84 Buchez, Philippe 54 Bund der Landwirte 93 Cabet, Etienne 58 Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 91 Cerutti, Don Luigi 26

Chamberlain, Houston Stewart 92 China 29 Consum- und Ersparnisverein des Arbeiterbildungsvereins 26 Dänemark 9, 73, 79, 81, 83 Deutsche Arbeitsfront (DAF) 100 Deutsche Demokratische Republik (DDR) 64 f Deutsche Fortschrittspartei 23, 26 Deutsche Reformpartei, vorher Antisemitische Volkspartei 93 Deutscher Bund 25, 42 Deutsches Reich 18, 42 Deutschland 9 f , 17, 27, 41, 46, 54, 73, 75, 79 f , 82, 84 f , 91–95, 104, 106 Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband 93 Deutschsoziale Partei 93 Deutsch-Südwestafrika 83 Dreyer, Malu 13 Drumont, Edouard 92 Durand, Louis 84 Ebert, Friedrich 89 Edeka-Verband 98 Eisleben 25 Elm, Adolph von 61 f England 17, 26, 79, 83 Europa 9, 17, 25, 42, 59, 63, 71, 74, 80, 83, 97, 103, 110 Europäische Union 9, 110 Exaltados 25 Faßbender, Martin 54, 94 Finnland 77, 104 Fourier, Charles 57, 59 Franken 95 Frankfurt am Main 73, 78, 85

120

Register

Frankreich 57 f , 71 ff , 79, 82 ff , 104 Freundlich, Emmy 33, 39 Friedrich I , siehe Barbarossa Galen, Ferdinand von 49, 53 Gay, Peter 107 Gellert, Christian Fürchtegott 21 Genf 74, 80 Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung 27 f Godin, Jean-Baptiste André 57 Griechenland 29 Groh, Johann Adam 27 Großbritannien 9, 17, 34, 58, 66 Gruben, Franz von 78, 95 Guise 57 Haas, Wilhelm 12 f , 25, 39, 43, 54, 75, 79, 104 Hamburg 91, 94 Handelsorganisation 64 Hannover 59, 73, 78 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 21 Heim, Georg 53, 55 Heller, Hermann 89 Hermes, Andreas 102 Hertling, Georg von 49, 95 Heuss, Theodor 10, 89 Hitler, Adolf 87 f , 98, 101 Holyoake, George Jacob 43 Huber, Viktor Aimé 10, 13, 25, 27 f , 35 f , 46, 51, 53, 55, 57, 69, 75, 78 ff , 90, 104, 107 Hughes, Thomas 46 Indien 9, 17, 83 f International Council of Women 74 Internationales Komitee des Roten Kreuzes 74 Internationaler Genossenschaftsbund (IGB) 9, 79 Italien 26, 79, 84 Japan 9 f , 79, 84 Japhet 95 Jerusalem 41 Kaiser, Willibald 27, 55 Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand (nach 1933 umbenannt in „NSHago“) 99 Kant, Immanuel 22 Karibik 84 Kautsky, Karl 61

Ketteler, Wilhelm Emmanuel von 49 f , 67, 78 King, William 29, 46 Kingsley, Charles 27 Korthaus, Karl 98 Krackrügge, Goswin 25 Kuwait 9 Lagarde, Paul de 92 Langbehn, Julius 92 Lassalle, Ferdinand 58, 60, 67 Lemberg 78 Lenin, Wladimir Iljitsch 63 Lessing, Gotthold Ephraim 21, 45 Lettland 84 Locke, John 21 London 43, 79 Loreggia 84 Lübke, Heinrich 85 Ludlow, John 46 Luther, Martin 45 Luzatti, Luigi 84 Magdeburg 62 Manchester 13 Marr, Wilhelm 92 Marx, Karl 58 ff , 63, 74 Maurice, John 27 Meinecke, Friedrich 89 Ministère du Progrès 23 Mommsen, Theodor 93 Montesquieu (Charles-Louis de Secondat) 21 Mühldorf bei Spitz 83 Napoleon Bonaparte (Napoleon I ) 71, 74 Nassau 73, 78 Nationalliberale Partei 25 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 90, 98 f , 102 New Lanark 58 Niederlande 72, 79 Nietzsche, Friedrich 24 NS-Hago, siehe Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand Oberlin, Johann Friedrich 47 Oberschlesien 96 Odin 45 Osmanisches Reich 80 Österreich 72 f , 78 f , 83 Owen, Robert 57 ff Padua 84

Register

Paris 23, 59, 74 f , 91, 97 Pfeiffer, Eduard 10, 13, 25, 28 f , 34, 38 f , 58, 66, 94, 104 Pius IX 24 Plockhoy, Peter Cornelius 46 Polen 72, 78, 101 Prag 77, 84 Preußen 42 f , 72 f , 75, 78 f Preußisches Marineministerium 81 Preußisches Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten 26, 75, 97 f Progressistas 23 Raiffeisen, Friedrich Wilhelm 11 ff , 26 ff , 33 f , 38, 47, 51–55, 58, 75 f , 80, 82–85, 89 ff , 94–98, 104, 107 Reichsnährstand 99 Rochdale Society of Equitable Pioneers 13, 29, 33, 43, 46, 58 f , 79, 104, 107 Rom 45 Rousseau, Jean-Jacques 24 Russland 72, 84, 92 Sachsen 93 Schorlemer-Alst, Burghard von 67 f , 95 Schottland 58 Schulze-Delitzsch, Hermann 10, 13, 25–28,31, 34, 37, 39, 43 ff , 53, 58, 66 f , 75, 77–85, 94, 104, 107 Schuster, Theodor 59 Schweden 79, 84 Schweiz 25 f , 79, 83 Sem 95 Serbien 79 Sieverking, Amalie von 47 Skandinavien 89 Smith, Adam 21 Societé de la morale chrétienne 74 Sörgel, Alwin 25 Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands (SPD) 61 ff Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) 61 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) 64 f

121

Spanien 22, 25, 27, 97 Steinbach, Helma 62 Stoecker, Adolf 42, 93 Stuttgart 94 Traber, Johann 26 Treitschke, Heinrich von 92 Ulbricht, Walter 11 UNESCO 10 Ungarn 79, 83 USA 9, 16, 58, 89 Utrecht 84 Vansittart Neale, Edward 46 Verband der hessischen landwirtschaftlichen Konsumvereine 27 Verband Deutscher Konsumgenossenschaften (VDK) 64 Verband Hessischer Landwirtschaftlicher Kreditgenossenschaften 34 Verband der landwirtschaftlichen Kreditgenossenschaften im südlichen und westlichen Deutschland 54 Verein deutscher Studenten 93 Vigano, Francesco 84 Voltaire, François-Marie Arouet 21 Wagner, Richard 92 Washington D C 74 WeiberWirtschaft 108 Weidenhammer, Rudolf 54, 94 Weitling, Wilhelm 24 Werner, Gustav 47 Whewell, William 23 Wichern, Johann Hinrich 47 Wied, Fürst(en) zu 69, 75 Wien 71 f , 83 f Wiesbaden 93 Wilhelm I 74 Wulf, Christian 12, 85 Württembergische Vereinsbank 25 Wuttig, Adolf 89, 95 Xianzhou, Xue 84 Zetkin, Clara 63 f

Kleines Buch, großer Dank Dieses Büchlein ist Produkt eines von der DZ-Bank-Stiftung geförderten Projektes, das am Arbeitsbereich Neueste Geschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz durchgeführt worden ist Es ist im Jahr 2018 unter schwierigen äußeren Bedingungen verfasst worden und daher könnte das Bedürfnis Dank zu sagen kaum dringlicher sein: Mein besonderer Dank gilt meinem damaligen Chef Prof Dr Andreas Rödder, der das Projekt nicht nur ermöglicht, sondern mit seiner Expertise auch immer wieder unterstützt und vorangebracht hat Dass er mir den Rücken gestärkt hat, als es dringend nötig war, werde ich ihm nie vergessen Ich bedanke mich bei Martin Roth von der DZ Bank, der die Entstehung des Manuskriptes mit großer Anteilnahme begleitet hat Die Anforderungen an das Buch waren nicht leicht: Es sollte eine innovative Perspektive bieten, wissenschaftlich fundiert und dabei kurz und „lesbar“ sein Umso dankbarer bin ich meinen tollen Kollegen, Dr Verena von Wiczlinski und PD Dr Bernhard Dietz, für die kritische Lektüre Dem Institut für Bank- und Finanzgeschichte e V schulde ich Dank für die unkomplizierte Formatierung und Herausgabe meines Textes Widmen möchte ich das Büchlein den Beschäftigten der Mainzer Kinderklinik Sie sind die Besten!

Mainz, drei Jahre später

Markus Raasch

Was erzählt uns das 19. Jahrhundert? Was machten die Gedanken der frühen Genossenschafterinnen und Genossenschafter aus? Wie standen sie zu den großen Ideenkonzepten ihrer Zeit? Wie hielten sie es mit dem Fortschritt, der Religion, dem Sozialismus, dem (Inter-)Nationalismus oder dem Antisemitismus? Wie aktuell ist das, was vor 200 Jahren erdacht und in die Praxis umgesetzt worden ist? Was haben die frühen Genossenschafterinnen und Genossenschafter den Menschen des 21. Jahrhunderts zu sagen? Markus Raasch bietet eine spezielle Geschichte

ISBN 978-3-515-13181-0

9 783515 131810

des 19. Jahrhunderts, in der Genossenschaftsgrößen wie Friedrich Wilhelm Raiffeisen oder Hermann SchulzeDelitzsch ebenso auftauchen wie andere, weit weniger bekannte Männer und Frauen. Durch die Betrachtung ihrer Ideen und Prägewirkungen erhellt Raasch den ebenso problematischen wie zukunftsträchtigen Hybridcharakter der frühen Genossenschaften – und macht auf diese Weise deutlich, dass der Blick auf die Vergangenheit tatsächlich bei der Bewältigung gegenwärtiger Herausforderungen und Krisen helfen könnte.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag