Der Horazkommentar des Porphyrio im Rahmen der kaiserzeitlichen Schul- und Bildungstradition 9783110163896, 3110163896

In der 1968 gegrundeten Reihe erscheinen Monographien aus den Gebieten der Griechischen und Lateinischen Philologie sowi

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Der Horazkommentar des Porphyrio im Rahmen der kaiserzeitlichen Schul- und Bildungstradition
 9783110163896, 3110163896

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Der Horazkommentar des Pomponius Porphyrio
Der antike Grammatikunterricht
1. Ἀνάγνωσις: Die Rezitation
1.1. Ὑτόκρισις: Der effektvolle Vortrag
1.2. Προσῳδία: Die korrekte Aussprache
1.3. Διαστολή: Die “Interpunktion”
2. Διρϑωσις: Die Textkritik
2.1. Emendare
2.2. Distinguere
3. Ἐξήγησις: Die Texterklärung
3.1. Μετρικόν: Die metrischen Erläuterungen
3.2. Ἱστορικόν: Die sachlichen Erläuterungen und der Wissenshorizont des 3. Jh.s
3.3. Γλωσσηματίκόν: Die lexikalischen Erklärungen
3.4. Τεχνικόν: Die sprachlich-stilistische Analyse
4. Κρίσις ποιημάτων: Die Dichterkritik und ihre Kriterien
4.1. Res (Πράγματα)
4.2. Ordo (Τάξις)
4.3. Verba (Λέξις)
4.4. Negativkritik?
4.5. Porphyrios kritisches Vokabular und die Lehre von den tria genera dicendi
5. Autorenzitate bei Porphyrio: Similien, Vorbilder, Autoritäten und der literarische Zeitgeschmack
5.1. Horatium ex Horatio explanare
5.2. Die Autorenzitate bei Porphyrio: “Kanonische” Autoren des 3. Jh.s
6. Zusammenfassung
7. Abkürzungen und Literatur
8. Sachregister
9. Stellenregister (Auswahl)

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Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Winfried Bühler, Peter Herrmann und Otto Zwierlein

Band 55

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999

Der Horazkommentar des Porphyrio im Rahmen der kaiserzeitlichen Schul- und Bildungstradition von

Silke Diederich

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999

@) Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die DeutscheBibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Diederich, Silke: Der Horazkommentar des Porphyrio im Rahmen der kaiserzeitlichen Schul- und Bildungstradition / von Silke Diederich. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte ; Bd. 55) Zug!.: Bonn, Univ., Diss., 1998/99 ISBN 3-11-016389-6

© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

MATRI CARISSIMAE

Vorwort Diese Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner im Wintersemester 1998/99 in der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn eingereichten Dissertation. An erster Stelle danke ich meinem Lehrer Herrn Prof. Dr. Otto Zwierlein sehr herzlich für die Anregung zu diesem Thema, die Stipendiengutachten, die Betreuung, die Vermittlung des Kontaktes zum Verlag de Gruyter und für sein stetes Interesse, mit dem er diese Arbeit begleitet und gefördert hat. Ich schulde ihm Dank für viele wichtige Hinweise. Den Herausgebern der UaLG danke ich sehr für die Aufnahme in die Reihe und speziell Herrn Prof. Dr. Winfried Bühler für seine konstruktiven Anregungen. Herr Prof. Dr. Heinz Neitzel hat die Mühe des Korreferates übernommen. Mein herzlicher Dank gilt auch der Gerda Henkel Stiftung in Düsseldorf und dem Bochumer Graduiertenkolleg "Der Kommentar in Antike und Mittelalter" für ihre großzügige materielle und ideelle Förderung. Hartmut Gastens hat in bewährter und kompetenter Weise das Computer-Layout gestaltet. Für geduldiges Korrekturlesen danke ich den Kommilitonen Dr. Alexander Arweiler, Jutta Esser, Stephanie Jäger und Tanja Schelzius. Herrn Prof. Dr. Wolfram Ax möchte ich danken für seine stetige Bereitschaft zu Rat und Hilfe und für seine wertvollen Hinweise zu Fragen der antiken Grammatiktheorie. Bonn, im April 1999

Silke Diederich

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII 1 1 2

Einleitung . .. . . . . . . .. . .. . . . .. . .. . . Der Horazkommentar des Pomponius Porphyrio Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der antike Grammatikunterricht . . . . . . . . .

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1. 'Av&-yvwau;: Die Rezitation . . . . . . . . . . . . . 1. 1. · Y 1r0Kpiatc;:Der effektvolle Vortrag . . . 1.2. Ilpoa'f)Öia: Die korrekte Aussprache . . . . 1.3. ÄmaroM: Die "Interpunktion" . . . . . . .

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2. AioptJwatc;:Die Textkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. E,nendare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Distinguere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. 'E~~-y77atc;:Die Texterklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. MHptKov: Die metrischen Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . 3.2. · foroptKov: Die sachlichen Erläuterungen und der Wissenshorizont des 3. Jh.s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. r">-.waa71µanK011: Die lexikalischen Erklärungen . . . . . . . . . . 3.4. TEXlltKov:Die sprachlich-stilistische Analyse . . . . . . . . . . . . 3.4.1. Synonymik und Etymologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4,1.1. Synonymik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.2. Etymologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2. Die Lehre von den partes orationis . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.1. De nomine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.2. De pronomine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.3. De verbo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.4. De participio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.5. De adverbio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.6. De coniunctione . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.7. De praepositione . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3. Die Lehre von den vitia et virtutes orationis . . . . . . . . 3.4.3.1. Die vitia orationis: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 .4. 3 .1. 1. Barbarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.1.2. Solözismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.2. Die virtutes orationis: . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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X

Inhaltsverzeichnis 3.4.3.2.1. Metaplasmus . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.2.2. Grammatische Wortfiguren . . . . Exkurs: Die Kriterien der latinitas in der sprachlichen 3.4.3.2.3. Rhetorische Wortfiguren . . . . . . 3.4.3.2.4. Sinnfiguren . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.2.5. Tropen . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .. . . . .. . . Analyse . . . .. . .. . . . . .. . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

173 175 194 204 215 230

4. Kpiui~ 1roi71µarwv:Die Dichterkritik und ihre Kriterien . . . . . . . . 4.1. Res (Ilpa-yµcmx) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Dramatische Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2. Ethos und Pathos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3. Lebensnähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4. Moraldidaxe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5. Doctrina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Ordo (Ta~i~) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Verba (Ae~i~) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Die Stilqualitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Negativkritik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Porphyrios kritisches Vokabular und die Lehre von den tria genera dicendi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Autorenzitate bei Porphyrio: Similien, Vorbilder, Autoritäten und der literarische Zeitgeschmack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 .1. Horatium ex Horatio explanare . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Die Autorenzitate bei Porphyrio: "Kanonische" Autoren des 3. Jh.s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1. Literarische Vorbilder und Nachahmer des Horaz ..... 5.2.2. Die Autoritäten Porphyrios und ihre Geltungsbereiche

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6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 7. Abkürzungen und Literatur

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

8. Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 9. Stellenregister (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374

Einleitung Der Horavwmmentardes PomponiusPorphyrio Porphyrio wurde in der modernen Horazforschung bislang vor allem von den Kommentatoren als Hilfsmittel für die Erklärung des Horaztextes herangezogen und von den Herausgebern für die Textkonstitution genutzt. Sporadisch wurde er auch als historische Quelle konsultiert für Fragen, die nicht unmittelbar Horaz betrafen, etwa für literaturgeschichtliche Probleme 1 oder für die Sekundärüberlieferung anderer Dichter2. Doch das Interesse am Porphyriokommentar um seiner selbst willen war bislang geringer. Es konzentrierte sich vornehmlich auf Überlieferung und Textkritik, die in zahlreichen Arbeiten behandelt wurde, besonders zur Zeit der kurz aufeinanderfolgenden Ausgaben von Meyer, Hauthai und Holder. Daneben finden sich einige Versuche zur zeitlichen und lokalen Einordnung des Kommentators, einerseits durch Heranziehen anderer Quellen, andererseits durch Gewinnung von Hinweisen aus dem Scholiencorpus selbst mittels Sprachanalyse oder aus Anhaltspunkten sachlicher Art (s. u.). Einen weiteren Forschungsschwerpunkt bildet das Verhältnis zu Ps.-Acro 3 . Darüber hinaus existieren nur wenige Untersuchungen zu linguistischen oder sachlichen Einzelfragen 4 . McCauley untersuchte anhand einiger Stichproben die Zuverlässigkeit der Angaben, namentlich der prosopographischen, und gibt eine Übersicht der Porphyrio betreffenden Philologenurteile seit dem 15. Jh (S. 9-16). Bislang nicht erfolgt ist eine systematische Analyse dieses Kommentars vor dem bildungs- und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund, wie sie bereits für die Aristophanesscholien von Rutherford, für Priscian von Glück, für die Lucanscholien von Bachmann, für Origenes von Neuschäfer und für Donat von Jakobi vorgenommen worden ist. Diese Lücke überrascht um so mehr, als es sich bei unserem Kommentar (abgesehen vom reinen Sachkommentar des Asconius zu Cicero) um das mit Abstand älteste überlieferte Scholiencorpus in lateinischer Sprache handelt, das uns einen einmaligen Einblick in das Schul- und Bildungswesen des 3. Jahrhunderts bieten kann.

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Z.B. Alfonsi: Note a Lucilio; Classen: Satire, the Elusive Genre. Z.B. Ferrara: Un'edizione di Lucilio diversa della nostra, Mazzoni: At non effugies meos iambos (Catullo, LIV). S. besonders die relativ neue Arbeit Noskes; weitere Literatur s. d. Zur Qualität diverser Sachangaben s. vor allem Petschenig 1873, S. 8ff., Vrba 1897, S. 30ff. Zu Fragen der sprachlichen Analyse bei Porphyrio s. besonders die Arbeiten Mastellones.

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Einleitung

Schon Keller hatte erkannt, daß unser Kommentar mehr darstellt als nur ein besonders interessantes Dokument der antiken Horazrezeption: "Gerade darin besteht ... der vorzüglichste Werth Porphyrions, darin dass er uns mehr als jede andere Schrift des Alterthums einen Einblick eröffnet in die Art und Weise, wie in den Rhetorschulen der römischen Kaiserzeit die Interpretation der bedeutendsten classischen Autoren - und es bildete dies bekanntlich einen Haupttheil des Unterrichts - ... gehandhabt wurde. "5 Der Versuch nachzuzeichnen, wie dieser Unterricht im Detail beschaffen war, welches seine Ziele, Inhalte und methodischen Grundlagen waren und mit welchen - von unseren oft so verschiedenen - wissenschaftlichen Kategoriensystemen er operiert, ist Gegenstand dieser Untersuchung6 . Dabei soll auch, soweit dies im Rahmen dieser Arbeit möglich ist, jeweils eine Einordnung in den Traditionszusammenhang versucht werden. Wir erhalten dabei einen detaillierten Eindruck von der Arbeitsweise der Schulphilologie dieser Zeit aber auch von dem durchschnittlichen Bildungshorizont der römischen Führungsschicht, deren Mitglieder diese Schule durchlaufen mußten, und somit vom geistigen Horizont des dritten Jahrhunderts, also einer Epoche, die in dieser Hinsicht bislang kaum erschlossen ist. Dabei ergeben sich Problemfelder linguistischer, rhetorischer, poetologischer, in geringem Maße auch fachwissenschaflicher Art (im Rahmen der Vermittlung von Realienwissen), zu denen die Erfordernisse der didaktischen Umsetzung und nicht zuletzt die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen (z.B. Schlüsselqualifikation für die Ämterlaufbahn, Vorbereitung auf das Deklamationswesen, Vermittlung von Werthaltungen und schichtenspezifischen Codes) die Rahmenbedingungen schaffen7 . Doch zunächst einige Informationen über den Kommentar und seinen Verfasser:

Entstehung An biographischen Daten des Porphyrio hat sich seit Helms RE-Artikel nichts Neues ergeben; deshalb möge ein knapper Überblick genügen:

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Keller 1864-67, S. 498f. Der Kommentar richtete sich an Schüler, die ihn entweder selbst als Nachschlagewerk einsahen oder vom Lehrer vorgetragen hörten (s. Uhl, Servius als Sprachlehrer, S. 14f., weitere Literatur s. d.). Der Anspruch, diesen Komplex von Einflüssen lückenlos darzustellen, würde allerdings nicht nur den Rahmen dieser Arbeit sprengen, sondern wäre auch aufgrund der mangelhaften Quellenlage ein unmögliches Unterfangen.

Einleitung

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Den Terminus post quem der Abfassung des Kommentars markieren Zitate bei Porphyrio aus Q. Terentius Scaurus (Sat. 2,5,92) 8 und Sueton (epist. 2,1), beide aus dem 2. Jh. Der Terminus ante quem ergibt sich aus des Julius Romanus bei Charisius 9 , einem Exzerpt aus dem Liber a.1.popµ,wv der ein verschollenes Interpretament zu Epist. 1,3 ,31 zitiert 10 . Julius Romanus wirkte wohl im 3. Jh. 11 . Wir können also den Kommentator mit Keller (Symbola Bonn. S. 49f.), Teuffel, Wessner 1893 und Landgraf 1896 wohl in die erste Hälfte des 3. Jahrhunderts datieren. Rückschlüsse auf eine spätere Abfassungszeit, die sich auf Sprachuntersuchungen gründen, verbieten sich schon deshalb, weil die sprachliche Form dieses Gebrauchstextes durch Redaktoren des 5. Jh.s und durch Schreiber sehr wahrscheinlich verfälscht worden ist 12 . Anhaltspunkte aus den sachlichen Erläuterungen lassen allenfalls den Schluß zu, daß sich das Christentum noch nicht durchgesetzt hat 13 .

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Terentius Scaurus verfaßte einen Horaz-Kommentar zumindest zur Ars: Charisius p. 263,9ff.; 272,25ff. B. Char. KGL I 220,27ff. = 285, lOff. B. Sarcte pro integre. sarcire enim est integrumfacere. Hinc 'sarta tecta uti sint' opera publica [... ] locantur, et ut Porphyrio ex Verrio et Pesto. 'In auguralibus' inquit 'libris ita est, sane sarcteque audire videre'. S. Wessner 1893, S. 186. S. Wessner, Jahresbericht CXIII 1902, S. 205-209. S. Wessner S. 160f. - Petschenig 1879 (S. 801-3) wollte Porphyrio etwa zeitgleich mit den Verfassern der Kaisergeschichte Spartianus, Capitolinus und Lampridius (S. 805) ansetzen. Auch C. F. Vrba (Melemata Porphyrionea, Wien 1885) und Sittl 1882, S. 89 wollen ihn mit Meyer (krit. Ausgabe, praef. p. VI) ins 4. Jh. datieren. Vrba führt dazu vor allem lexikalische Gründe an, Sittl beruft sich darauf, daß er statt des Acl oft quod-Sätze verwende, häufig sogar mit dem Infinitiv, was unter den Grammatikern erst wieder bei Macrobius auftrete. Gegen die Spätdatierung wendet sich Wessner (Quaestiones Porphyrioneae, Diss. Leipzig 1893 und Jahrbuch für Phil. CLI 1895, 422). Wessner weist z.B. nach, daß es sich bei vielen der von Vrba zusammengetragenen "spätlateinischen" Wörtern um grammatische Termini handelt, die nur mangels überlieferter Quellen nicht früher nachweisbar sind (S. 159ff.). Wessner, 1893, S. 156 hält außerdem Sittl zu den quod-Sätzen Belege aus den Afrikanern Tertullian und Cyprian entgegen. (Beispiele für vulgärlateinisches Sprachgut sind gesammelt bei Petschenig 1879, Vrba 1897, S. 32ff.) - Archaisierende Wendungen wie thensaurus, lagyna u. a. und Zitate alter Autoren, wie Ennius, Lucilius u. a. weisen Porphyrio als Anhänger Frontos aus (weitere Beispiele bei 0. Keller 1864-7, S. 497, die z. T. allerdings vom Text der Holder-Ausgabe abweichen!). Carm. 1,5, 12-13: Videmus autem hodieque pingere in tabulis quosdam casus, quos in mari passi sint, atque in fanis marinorum deorum ponere; Carm. 3,8, 1, Carm. 1,36,12, weitere Stellen bei Suringar, Historia, S. 16ff. (der allerdings an deren Aussagekraft zweifelt) und bei Schweikert 1864, S. 39ff. - Wertlos sind die Argumente ex silentio: daß z.B. die Partherkönige noch nicht den Sassaniden erlegen

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Einleitung

Als Herkunftsland des Kommentators wurde Africa angenommen, einerseits aus sprachlichen Gründen 14, andererseits wegen seiner guten Sachkenntnisse über diese Provinz 15, die aber, wie die Analyse der Sachangaben des Historikon zeigen wird, über Handbuchwissen nicht hinausgehen. Aus Porphyrios gründlichen Informationen über römische Lokalitäten hat man außerdem zu voreilig - auf einen Aufenthalt in der Hauptstadt geschlossen 16 . Beide Hypothesen sind äußerst unsicher; aber immerhin kann man mit Keller feststellen, daß Porphyrio sich als Römer fühlte 17. Einen Hinweis auf weitere Aktivitäten unseres Scholiasten, nämlich auf die Abfassung eines Lucankommentars, sieht Usener 18 in einem PorphyrioZitat aus den Commenta Lucani 19. Es existieren zwar keine weiteren Zeug-

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seien, zählt nicht angesichts der geringen Kenntnisse, die Porphyrio über nichtrömische Völker besitzt; ebenso wenig relevant ist die Beobachtung Kellers, daß zu Epod. 5,100; 17,58 und Sat. 1,8 die Ringmauer Aurelians noch nicht erwähnt ist (Keller, Symb. Phil. Bonn. S. 491f. [s. auch Helm RE, Sp. 2413], widerlegt von Jordan, Hermes 8, 1874, S. 89, der bemerkt, daß auch Servius die neuen Namen noch nicht verwendet); denn es ist typisch für die Gelehrsamkeit eines Scholiasten, seine Realienkenntnisse aus Handbüchern und literarischen Quellen zu beziehen, auch wenn dieses Wissen längst überholt ist, wie wir bei der Untersuchung der Realienangaben im Historikon sehen werden. Keller 1864-67, S. 496 führt als Argumente die Verwendung des Griechischen (die allerdings für Kommentatoren allgemein nicht untypisch ist) und lexikalische Übereinstimmungen mit Apuleius an. Landgraf 1896, S. 552ff. zählt außerdem grammatisch-stilistische Eigenarten auf, sowie S. 563ff. weitere lexikalische Besonderheiten; s. auch Sittl S. 89f. Dagegen argumentiert Vrba 1885 und 1897, S. 37f., dem sich Helm Sp. 2414 anschließt. Z.B. die Angaben zu Epod. 2,53; Carm. 1,2,39; Carm. 2,6,3, s. 0. Keller 186467, S. 494f., Landgraf 1896, S. 551f. Z.B. Carm. 4,12,18; Sat. 2,3,36; weitere Beispiele bei Keller 1864-67, S. 493, Petschenig 1876, S. 728. Für einen Romaufenthalt Porphyrios plädiert auch Schweikert 1864, S. 42f. Dagegen läßt sich einwenden, daß die Kenntnisse über Rom ebensogut aus einer Kommentarquelle oder aus einem Handbuch, wie etwa dem Werk De regionibus urbis Romae, das Sextus Rufus Festus zugeschrieben wird (s. Gräfenhan IV, S. 435), stammen können. Dies werde, so Keller (1864-7, S. 493), spürbar in Äußerungen wie: Carm. 3,6,9 bis autem Panhos retulisse de nobis victoriam dixit ... ; Carm. 3,6,17 per nuptias inquinatas vult ostendere nos ex ipsa culpa progeneratos ... (weitere Beisp. s. d. Anm. 18). Kl. Schriften II, Leipzig 1913, S. 5. Cod. Bern. 370 Commenta Lucani I 214 Usener: Puniceus Rubicon J Porfurion 'puniceum' interpretatus est quasi feniceum (proprer rubras aquas), quem ad modum ipurJpa.v rJa.">-.cxu,mv dicimus rubrum mare. Usener räumt ein, daß sich dieses Zitat auch auf ein verlorenes Interpretament zu Hor. Carm. 4, 10,4 beziehen könnte; dies erscheint aber eher unwahrscheinlich, da die Anführung der i:pu,Jp~ rJ6t">-.cxuucx als Parallele an der betreffenden Horazstelle nicht paßt.

Einleitung

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nisse, die dies bestätigen könnten, aber Porphyrios Vorliebe für diesen Dichter ist daraus ersichtlich, daß er ihn, ganz untypisch für seine Zeit (s. u. Kap. Auctores), immerhin zweimal zitiert.

Quellenkommentare Bei unserem Scholiencorpus handelt es sich nicht um einen VariorumKommentar, in dem einfach unterschiedliche Interpretationen zu einer Stelle aus den verschiedenen Kommentarvorlagen aneinandergereiht werden; zwar werden manchmal mehrere Deutungsalternativen kommentarlos angeführt (meist sind dann auch wirklich beide Möglichkeiten akzeptabel), oft aber nimmt Porphyrio Stellung20 , zuweilen in polemischem Ton 21 . An Quellenkommentaren werden namentlich angeführt: Helenius Acro22 , Terentius Scaurus zu Sat. 2,5,92, ein gewisser Claranus 23 und Qui de personis Horatianis scripserunt (Sat. 1,3,21 und 90-91 u. a.). Alle diese Werke sind verschollen. Meist werden die Quellen überhaupt nicht erwähnt oder nach Grammatikerbrauch als quidam, alii, nonulli, sunt qui u. ä. zitiert. Daher ist kaum zu unterscheiden, in welchem Umfang Porphyrio diese (und möglicherweise noch andere) Kommentare ausgeschrieben hat (s. auch u. S. 10).

Überlieferung Unser Kommentar war ursprünglich in Form von Randscholien angelegt, wie die Erklärung zu Sat. 1,9,52 zeigt, wo Porphyrio auf Markierungen im Horaztext zur Kennzeichnung von Sprecherwechseln hinweist24 . "Die Randscholien hatten höchst wahrscheinlich keine Lemmata, sondern waren durch Zeichen mit dem betreffenden Texte in Verbindung gesetzt. Die Glossen hatten natürlich nicht einmal diese. Da der, welcher die Scholien vom Texte trennte, diese Zeichen selbstverständlich nicht beibehalten konnte, so suchte er die

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Z.B. Carm. 1,12,34; Sat. 1,2,25; 1,2,129; Epist. 1,18,10-11, s. Schweikert 1864, S. 32f., weitere Beispiele dort Anm. 74. Carm. 1,7,32 QUIDAM stulte ab itinere ,iterare, verbum fictum putant ... , Epod. 9,11-12 QUI NON INTEUEGUNT, putant ... , weitere Beispiele bei Suringar, Historia, S. 35ff. Zu Sat. 1,8,25 Memini me legere apud Helen,i,um ,A,cronem Saganam nomine fuisse Horati temporibus Pompei sagam senatoris .... Zu Sat. 2,3,83 Anticyra oppidum et insula hoc nomine, sicut Claranus testatur, in qua elleborum plurimum nascitur. Ne necesse sit frequenter ostendere, quis quae verba habeat aut unde incipiat loqui, hoc observandum est deinceps ut supra, ut, ubi duo puncta interposita sunt, alteram personam loqui intellegas.

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Einleitung

Lemmata zu ergänzen. Das fiel freilich nicht geschickt aus. So kommt es, dass die Lemmata bald ganz fehlen bald sehr wenig oder gar nicht zum folgenden Scholion passen. "25 Vollmers (S. 317ff.) Hypothese, daß die Mavortius-Edition des Horaztextes, fußend auf einer Ausgabe des Probus, in Verbindung mit den Porphyrioscholien in die Karolingerzeit gelangt und von dort aus der Stammvater aller überlieferten Codices geworden sei, wurde schon bald angezweifelt26 , und neuere Untersuchungen, wie Brink, Ars, S. 41f. pass. und Tarrant, S. 185, akzeptieren diese Hypothese mit Recht nicht mehr. Als wahrscheinlich kann jedoch gelten, daß ein im Codex Bernensis 36327 erwähntes Exemplar des Porphyrio zur Karolingerzeit in Lorsch unter Auslassungen und Zusätzen kopiert wurde und uns in den Abschriften des Vaticanus 3314 (Holders Leithandschrift) und Monacensis lat. 181 vorliegt28 . Von den späteren Handschriften aus dem 15. und 16. Jh. geht der Parisinus 7988 auf denselben Archetypus zurück wie M und V, die übrigen stammen wohl von einem Manuskript ab, das Henoch von Ascoli 1455 von Deutschland nach Rom brachte; darunter sind die besten der Wolfenbutelanus Gudianus Lat. 85 (15. Jh.)29 und, nach der Einschätzung von Hunter Jones (S. 39) noch besser, der Chisianus H. VII. 229 aus demselben Jahrhundert. Zusätzlich zu den in Holders Ausgabe und bei Helm angeführten Testimonien weist Villa, S. 12, auf ein Fragment im Cod. Parisinus lat. 7900 A, f. 52v (Mailand, Ende 9. Jh.) hin30 , und Reeve31 auf Zitate bei Heiric von Auxerre, B.L. Harl. 2735, ff. 9r, 43r, 85v, die aber, soweit aus den eingesehenen Kopien zu erkennen ist, nichts wesentlich Neues bringen32, ebensowenig

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W. Meyer 1870, S. 13, s. auch Wessner, S. 161. Solche Widersprüche zwischen Lemma und Erklärung treten auf z.B. bei Sat. 1,2,105-6: tollere im Lemma (nur Codex P bietet tangere) tangere im Text; Epod. 5,15.16 inplicata im Lemma, inligata im Text, weitere Stellen zusammengestellt bei Schweikert, 1915, S. 22ff. Z.B. von Kroll D.L.Z. 1906, S. 1053, Wessner 1908, S. 175 und Lenchantin. Zu Verg. ecl. 9,35, s. Testimonium Nr. 4 in Holders Ausgabe, S. 592f. S. Vollmer, S. 313, Lehmann, S. 203. S. Helm, RE Sp. 2416. Zur Textgeschichte s. ausführlich Hunter Jones, S. 8-25. Villa (S. 12) schließt aus dem oben erwähnten Fragment im Cod. Parisinus lat. 7900 A, f. 52v (Mailand, Ende 9. Jh.), daß die Mailänder Schule vielleicht nicht nur die Lorscher Porphyriohandschrift kannte, sondern auch Versuche unternahm, die beiden Horazscholien-Corpora des Porphyrio und Ps.-Acro in einer Horazhandschrift zu vereinigen. Rez. zu Zetzel, Latin Textual Criticism, S. 91. Abgesehen vielleicht vom letztgenannten 85v, wo man eventuell eine vollständigere Interpretation zu Carm. 2, 1,37-38 findet: Nenia lugubre carmen est, quod in mortuos canitur. -Scholien ergänzt worden sei) bestehen offenbar aus einer älteren Schicht aus dem 5. (Erwähnung des Priscian-Lehrers Theotiscus als Zeitgenosse in Sat. 1,5,97) und einer jüngeren aus dem 7. Jh. oder später (Erwähnung Isidors in Carm. 3,29,4) 46. Ab Carm. 4,3 verselbständigen sich die einzelnen Scholien und nehmen die Form eines Variorum-Kommentars mit vielen Doppelscholien an. Daraus, daß einige Scholien gelehrte Zitate aus älteren republikanischen Schriftstellern, wie Ennius und Caecilius, bieten, schließt man, daß diese auf einen Horazkommentator aus dem 2. Jh. zurückgehen (aus einer Zeit also, als diese Autoren besonders gefragt waren), hinter dem man Helenius Acro vermutet, der möglicherweise einen Horazkommentar verfaßt hat47, den auch Porphyrio zitiert (s. o. Kap. "Quellen"). Ansonsten wird in r-Scholien häufig Porphyrio ausgeschrieben. - Die dritte Scholiengruppe 4>stammt aus dem Mittelalter und lehnt sich eng an Porphyrio an48. Eine Hauptquelle der pseudacronischen Scholienmassen bildet also Porphyrio49. Wessner hat daher den Versuch unternommen, einige der verlorengegangenen Porphyrio-Interpretamente aus Ps.-Acro zu ergänzen, unter der Voraussetzung, daß den Kompilatoren noch ein vollständigerer und reinerer Porphyrio-Text vorgelegen habe 50 . Für diese Hypothese spricht z. B eine Stelle aus einem Scholion des 9. Jh.s zu Terenz haut. pro!. 36 (s. S. 599 Holder), wo Porphyrio für eine Einteilung der Komödie in sechs Untergruppen

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Noske, S. 281, der in seiner Untersuchung weitere, von Botschuyver edierte, Scholien untersucht. - Einen neueren Überblick über die Forschungsgeschichte bietet Noske, S. 3-13. S. Wessner 1912, Sp. 2842. So die in den pseudacronischen Scholien dem Kommentar vorangestellet Horazvita (S. 3 Kiessling): Commentatiin eum sunt Porphyrion,Modestus et HeleniusAcron; Acron omnibus melius. S. Wessner, Sp. 2843 Graffunder S. 129 hält jedoch dagegen, daß die Übereinstimmungen ebenso gut auf eine gemeinsame Quelle zurückführbar seinen. Wessner 1893 führt S. 186 folgende Stellen an, in denen Porphyrio aus Ps.-Acro, Rezension r ergänzt werden könne: Sat. 1,10,83 (so auch Kiessling, De Personis Hor. S. 6.); Sat. 2,6,20; 2,6,79; 2,6,93; 2,7,24; 2,8,78; Epist. 1,1,93; 1,2,l; 1,7,6; 1,7,24; 1,7,66; Ars 232; 233; 288; 380. W. Meyer 1870, S. 15 bezweifelt jedoch, daß diesen Scholiasten ein besserer Porphyrio-Text zugrunde gelegen habe und erklärt Abweichungen als Änderungen oder Emendationsversuche der Schreiber.

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zitiert wird, die im Porphyrio-Corpus fehlt, aber bei Ps.-Acro Ars 288 erscheint.51 Eine weitere wichtige Quelle der pseudacronischen Scholien könnte der auch von Porphyrio zitierte Helenius Acro gewesen sein52. Kiessling 1880 vermutet, daß der Kommentar des Helenius Acro sich hinter den von Porphyrio erwähnten qui de personis Horatianisscripseruntverberge und besonders Angaben zu den horazischen Personen enthalten habe und daß viele der prosopographischen Angaben bei Porphyrio und Ps.-Acro aus dieser Quelle stammen (s. u. S. 66f.), was aber keineswegs als bewiesen gelten kann. Graffunder hat es unternommen, Interpretamente zusammenzustellen, an denen Porphyrio gegen eine offenbare gemeinsame Quelle mit den pseudacronischen Scholien Stellung nimmt, hinter der er Helenius Acron vermutet. Was die Kriterien zur Trennung des früheren vom späterem Material, und speziell die Identifikation echter acronischer Erklärungen, betrifft, ist jedenfalls große Vorsicht geboten. Äußerliche Kriterien, wie Sprache und Stil, sind unsicher, da man bei Gebrauchstexten stets mit einer mehr oder minder starken und nicht immer konsequent durchgehaltenen stilistischen Überfremdung durch die verschiedenen Schreiber rechnen muß. Innerliche Kriterien, wie die Qualität der einzelnen Aussagen, können nur begrenzt einen Anhaltspunkt bieten: Lediglich historische Angaben oder Autorenzitate, die einen Terminus post quem markieren 53, bieten eindeutige Hinweise. Einen ungefähren Anhaltspunkt könnte der Nachweis bestimmter geistiger Strömungen, wie etwa des Neuplatonismus oder des Christentums, bieten. Ferner läßt sich am Niveau und der Ausführlichkeit der sprachlichen Erläuterungen bis zu einem gewissen Grade ablesen, wie weit sich der Sprachstand der Kommentarbenutzer bereits von demjenigen des erklärten Textes entfernt hat54. Doch einfach von einer Dekadenztheorie auszugehen und gute Erklärungen einer frühen Zeit, schlechte dagegen einer späteren Epoche zuzuschlagen (wie es in den älteren Untersuchungen immer wieder versucht wird), verbietet sich schon allein mit Blick auf die hohe Qualität des relativ spät verfaßten Terenzkommentars des Donat,

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S. McCauley, S. 9. Keller in der Praefatio zu Bd. II seiner Ausgabe S. IX vermutet vor allem in A viele Exzerpte aus Helenius Acro, mit Hinweis auf die Wertschätzung, die in der o. a. praefatio dieser Handschrift geäußert wird (Acron omnibus melius). Aber aus dieser Bemerkung geht m. E. nicht zweifelsfrei hervor, daß der Verfasser von A den Kommentar des Helenius Acro wirklich benutzt hat; bei der Zitierweise spätantiker Grammatiker ist es durchaus denkbar, das er seine Information wie auch die Zitate aus zweiter Hand bezieht. Z.B. die Erwähnung der Hunni in Af'bV, s. Wessner 1912, Sp. 2842. S. dazu vor allem Uhls Untersuchung zur sprachlichen Analyse bei Servius.

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abgesehen davon, daß aus früheren Zeiten wohl auch zu wenig überliefert ist, um eine wirklich tragfähige Vergleichsgrundlage zu bieten55 . Da das Kommentarwerk des Porphyrio trotz allem ein einigermaßen geschlossenes Ganzes darstellt 56 , vermittelt er uns ein recht gutes Bild der Horazkommentierung und des römischen Grammatikunterrichts der Zeit vor der großen Reichskrise.

Der antike Gramma.tikunterricht Die Schüler der wohlhabenden Schichten57 besuchten den Grammatikunterricht nach dem elementaren Lese- und Schreibunterricht beim Ludimagister, also im Alter von etwa elf bis 15 Jahren (oder auch länger}58 , bevor sie in die Rhetorikschule überwechselten. Er stellte im 3. Jh. für viele die einzige Form der Schulbildung und Wissensvermittlung dar (s. u. S. 44f.), woraus sich ein prägender Einfluß auf die Denkweise der Schüler ergab. Protagoras verfolgte in der Dichtererklärung, die er als den wichtigsten Teil der Bildung erachtete, im Unterricht völlig andere Ziele als die üblichen auf die Charakterbildung ausgerichteten (s. Platon, Prot. 325ef.): "Da kam es auf Kritikan (aUPLE Pm & Tl; opi'Jw~ 1rf1rOL7/TCH KaL& µ~), auf Analyse (hiamai'Jm OLEAEi:v) und auf genaue Erklärung, so daß man über jede Frage Rede und Antwort stehen konnte (tpwrwµEvov M-yov ooiwm)" 59. Dies setzte eingehende Kenntnisse auf sprachlich-grammatischem Gebiet voraus, mit dem sich die Sophisten auch entsprechend beschäftigten. Dadurch sind sie die Begründer des 'grammatischen' Unterrichts im späteren Sinn geworden, der im Sprachunterricht, der recte loquendiscientia, und der Dichterlektüre, der poetarum enar-

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Nicht zwingend ist Graffunders (S. 140-2) Versuch, aus einer sachlichen Ähnlichkeit zwischen pseudacronischen Erklärungen und einem Helenius-Acro-Zitat bei Charisius auf eine direkte Benutzung zu schließen (der Scholiast hätte auch aus Charisius, dessen Quelle Julius Romanus oder irgendeiner anderen Zwischenstufe schöpfen können), s. auch Langenhorst, S. 19. Vollmer (S. 313) überschätzt bei weitem den Grad der Verstümmelung (dabei erklärt er, wie schon Wessner 1908, S. 178 und Schweikert 1915, S. 2 bemerken, eine Lesart Porphyrios immer dann zu einer späteren Interpolation, wenn sie seine spätestens seit Brink ad acta gelegte - Hypothese von den klar getrennten Handschriftengruppen der Horazüberlieferung zu sprengen droht). Schweikert 1915 schließt sich Vollmer jedoch an und spricht sogar von "Ps.-Porphyrion". Nur einer Minderheit war diese Ausbildung zugänglich: Die Analphabetenrate lag im 3. Jh. bei ca. 70% (s. Kalivoda, Sp. 1134); zu den sozialgeschichtlichen Hintergründen des Grammatikunterrichts s. Kaster. Guardians. S. Marrou, Geschichte S. 390. Kühnert 1961, S. 44.

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ratio, bestand. Diese Zweiteilung wurde in späterer Zeit allgemein verbindlich60. Dabei tritt der sprachtheoretische Teil im Laufe der Zeit immer mehr in den Vordergrund 61 , und auch in der Dichterexegese dringt die linguistische Komponente bereits in der Zeit zwischen Dionysios Thrax und Quintilian immer weiter vor 62 . Im Jahre 159 v. Chr. soll der Pergamener Krates v. Mailos die grammatica in Rom eingeführt haben63 (Lektüreunterricht wurde allerdings schon seit Livius Andronicus betrieben 64). Doch mit dem Ansatz des Krates und der anderen Pergamener, die mit ihrem deduktiven Verfahren der Dichterinterpretation versuchten, dem Dichtertext das Weltbild der Stoa überzustülpen, konkurrierten in Rom erfolgreich die Alexandriner mit ihrem empirisch-induktiven Verfahren anhand von sprachlichen Beobachtungen65. In beiden Schulen bildeten sich verschiedene Systeme der Einteilung der einzelnen Bestandteile der Dichterexegese heraus. Dasjenige, das sich - wohl aufgrund seiner sachlichen Angemessenheit im Verbund mit seiner formalen Symmetrie66 - zumindest im römischen Bereich durchzusetzen vermochte67 ,

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S. Quint. inst. 1,4,2; diese Zweiteilung hatte wohl Varro in Rom eingeführt, s. Varro ap. Mar. Victorin. KGL VI 4,4 (frg. 234 Fun.): scribere, legere ( = Quintilians loquendi scientia), intellegere, probare ( = poetarum enarratio; s. dazu Usener, Lehrgebäude, S. 601 = Kl. Sehr. S. 279f.), s. auch Kühnert 1961, S. 45. Ähnlich auch bei den späteren Grammatikern, z.B. Explan. in Don. KGL IV 486,15, Diom. KGL I 426,13ff. usw. (Grammatikerdefinitionen sind zusammengestellt bei Froehde, S. 23ff.). Quint. inst. 1,9,l verwendet die Begriffe methodice und historice, Diom. KGL I 426, 15f. exegetice und horistice, vgl. Mar. Victorin. KGL VI 3, 15. (s. Glück, S. 23, Barwick, Palaemon, S. 221). Dies ist auch erkennbar an den Definitionen: Cassiod. inst. 2,1,l (p. 94 Mynors) grammatica . . . est peritia pulchre loquendi ex poetis illustribus auctoribusque collecta. Isid. orig. 1,2,l grammatica, id est loquendi peritia; Id. 1,5,l u. a. (s. Glück, S. 23). S. Colson, 1914, S. 44. So behauptet jedenfalls Sueton de gramm. 2. Zu den Anfängen der lateinischen Grammatik s. Della Corte 1981. S. dazu Siebenbom, S. 129-35. Zur Bedeutung der Vierzahl im antiken System der Philologie, die uns noch des öfteren begegnen wird, s. Usener, Lehrgebäude und Ax: Quadripertita ratio, in: Taylor, S. 33ff. Z.B. gegenüber der Sechsteilung des Aristarchschülers Dionysios Thrax 5,4 in a11&-y11waii;El'Tpiß11i; KOITOI7rpOU'!)ÖLOII', E~T/'YT/Uti;' KOITOIroiii; El'U'lr-.17t?oü~ a11&1rru~1~) diesem Sinne fand sie Verwendung bei den Fachschriftstellern zur Begriffsdefinition653, in der Rhetorik und Jurisprudenz als Bestandteil der Beweisführung654, besonders aber in der Grammatik als Instrument der Dichter-

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Eine Häufung von rhetorischen Termini in den Episteln konnten wir bereits bei der rhetorischen Analyse feststellen und werden wir auch bei der Untersuchung der rhetorischen Figuren und Tropen immer wieder bemerken. Quint. inst. 10, 1,8 Nobis autem copia cum iudicio paranda est ... ld autem consequimur optima legendo atque audiendo; non enim solum nomina ipsa rerum cognoscemus hac cura, sed quod quoque loco sit aptissimum. Schol. Dion. Thr. 303,6 Hilgard. Ähnlich S. 14f. u. a. Vgl. Cic. nat. deor. 3,63 vocabulorum, cur quidque ita appellatum sit, causas explicare, Isidor orig. 1,29, 1 etymologia est origo vocabulorum, cum vis verbi vel nominis per interpretationem colligitur. Von Quint. inst. l ,6,28f. wird sie der Stilfigur der dejinitio zugewiesen. Eine Sammlung antiker Definitionen findet man bei Schröter 1960, S. 25-45. Zur Problematik üblicher moderner Wiedergaben dieser Definitionen mit "Lehre von der wahren Bedeutung der Wörter" u. ä. s. C.-P. Herbermann: Antike Etymologie, in: Schmitter, S. 357f. (eine ebenso knappe wie instruktive Einführung in die antike Etymologie). S. Klinck, S. 8 Z.B. Cic. top. 35; Cic. acad. 1,32., s. Klinck, S. 8.

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3. EEHrHEIE

exegese und -emendation wie als Kriterium der latinitas655, und zwar in Orthographie, Prosodie und Fragen der Phonemfolge656 - jedoch nicht in der Flexion657 -, sowie als Kriterium der Wortwahl. Aller Kritik ungeachtet658 blieb die Etymologie ein wichtiger Bestandteil antiker Gelehrsamkeit und "eine der Lieblingsbeschäftigungen der gebildeten Römer", weshalb sie auch Eingang in die Schule fand659 . Kein Wunder also, daß Porphyrio auf eine große Anzahl von etymologischen Handbüchern rekurrieren konnte: Die wichtigsten Autoren waren Aelius Stilo, Aurelius Opilius (ca. 90 v. Chr., häufig zitiert von Varro und Festus), Stilos Schüler Varro (LL Buch 2-4 Theorie, 5-7 praktische Beispiele), Tiro, Nigidius Figulus, Gavius Bassus, in augusteischer Zeit: Verrius Flaccus (Hauptquelle des Festus), Valgius Rufus, zur Zeit des Tiberius: Fronto, Favorinus, Sulpicius Apollinaris und sein Schüler Gellius, wohl noch nicht Nonius Buch I (ca. 2.-4. Jahrhundert); überliefert sind davon nur Varro, Festus und Nonius. Die antike Etymologie unterlag bekanntlich anderen Kriterien als die moderne, die mit Lautverschiebungen, festen Wortbildungsregeln und der Annahme einer indoeuropäischen Ursprache arbeitet; aufgrund des Fehlens einer solchen methodischen Basis sind die antiken Etymologien für uns "more important as cultural artifacts than as products of Janguage science, for they help explain what educated Romans were thinking about their own language when they composed poetry or history" 660 . Dementsprechend soll zunächst versucht werden, die Etymologien Porphyrios von ihren eigenen Voraussetzungen her, im Rahmen der antiken Lehre, zu verstehen (die hier natürlich nur andeutungsweise skizziert werden kann), ehe wir ihre Funktion bei der Textexegese ermitteln, nach ihren antiken Parallelen und Quellen suchen und sie an den modernen Deutungsversuchen messen. Die Diskussion auf philosophischer Ebene, die in enger Verbindung mit der Frage nach dem Ursprung der Sprache steht, findet sich literarisch erstmals in Platons Kratylos überliefert. Der Platonschüler Herakleides Pontikos war wohl der Verfasser der ersten selbständigen etymologischen Schrift. Die Entwicklung zu einer systematischen Wissenschaft jedoch geht wohl hauptsächlich

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Quint. inst. 1,6,30 nonnumquametiambarbaraab emendatisconaturdiscernere(s. Siebenborn, S. 140). Z.B. Caper ap. Char. 81,20 (s. Barwick, Palaemon, S. 208f.). S. Siebenborn, S. 144. Kritiker waren vor allem Platon (Cratylos 384B), Cicero (nat. deor.), Sextus Empiricus (Adv. math. I 241ff.), Quintilian (inst. l,6,32ff.) und Augustinus (dial. c. 6), selbst Varro (LL 7,2) gestand ihre Grenzen ein (s. dazu die Darstellung bei Amsler, S. 3lff.). Gräfenhan IV, S. 210. D. J. Taylor: Roman Language Science, in: Schmitter 1991, S. 337.

3.4. TEXNIKON: Die sprachlich-stilistische Analyse

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auf die Stoiker zurück 661 , wohl angeregt von den Sophisten662 . Dabei griffen die Stoiker aus Platons Kratylos die Hypothese auf, daß die Wörter den Dingen wesensmäßig (..71AiT1Jt;Kai Xpv11,1r1roc;0 ErwLKOt;110AOLKitw,oioPTm TOii 'lrOL7IT71II tJv11TLKi;, XP7ll1CX/J,EPOII p~µ.aTL. S. Holtz, s. 149. Quint. inst. 1,5,35 per genusfacit soloecismum (quorum neutrum quidem reprehendo, cum sit utriusque Vergilius auctor ... ). Da solche Endungen rein formell nach äußerlichen Gesichtspunkten betrachtet wurden, verwechselte man in Junkturen wie fides deum den Genitiv mit einem Akkusativ und stufte ihn folgerichtig als Solözismus ein: Quint. inst. 1,6, 18 (Quidam) "centum milia nummum" et ".fidem deum" ostendant duplices quoque soloecismos esse, quando et casum mutant et numerum, vgl. Nonius 794 L. Accusativus numeri singularis pro genitivo plurali (s. Gräfenhan IV, S. 161, Anm. 49). S. z.B. Sacerd. VI 451,25 metaplasmus velfigura est dictio aliter composita quam debet metri vel decoris causa (weitere Stellen gesammelt von W. 0. Neumann, S. 5-7). So Usener, Lehrgebäude, S. 630 = KI. Sehr. 302.

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3. EEHrHEIE

Barbarismen bzw. Metaplasmen der Schreibung (adiectione, detractione, invnutatione, transmutatione)und der Aussprache (divisione oder otmpfof.t, conplexione, adspiratione, sono) mit 14 oder mehr Unterarten 935; letztere Phänomene haben wir bereits im Kapitel Prosodie betrachtet. Bei Porphyrio erscheinen explizit weder der Begriff Metaplasmus noch Barbarismus. Gleichwohl sind hier zu nennen: Carm. 1,36,8 Puertia,m, pro pueritia per syncopen dixit936 . Nach der antiken Einteilung ist auch die Erscheinung simplex pro composito (Aphaeresis)937 ein metaplasmusper detractionem:Carm. 1,35,4 VERTEREpro eo, quod est convertereet mutare,positum est; Sat. 1,3,6-7. Etwas hilflos versucht er das richtige Präfix in Epist. 2,2,96 zu ergänzen: Quid ,d,e [s]sepraefe,nat ,, vel quid, tol[l]eret, vel quid adferat938. Sat. 1,3, 117, kürzer Sat. 1, 10, 16, Epist. 2,2,101, Carm. 1,29,14-16 u.a. Den umgekehrten Fall kommentiert er in Carm. 2,6,14-15 DECEDUNTergo avr{ rov [e contrario]cedunt:compositumpro simpliciest, [id est cedunt/39. In Epod. 16,59.60 zum Genitiv Ulixei (statt üblichem Ulixis oder Ulixl) schwankt er zwischen der Annahme einer metrisch begründeten diaeresis,d. h. eines Metaplasmus, der dann vorliegt, cum una syllaba in duas dividitur940 ,

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S. Quint. inst. 1,5,6ff. Jeweils etwas anders Comin. apud Char. KGL I 265 (349, 18 B.); Donat. IV 392 (653,Sff. H.); Serv. in Donat. IV 444,12ff. (s. W. 0. Neumann, S. 29), Diom. KGL I 451,32f., s. dazu Usener, Lehrgebäude, S. 628ff. = KI. Sehr. 300ff. Char. 350f. B. stuft genau diesen Fall unter die Barbarismen ein, allerdings nachdem er in 350,2f. eingeräumt hat, daß diese bei den Dichtern Metaplasmen genannt werden. Serv. rechnet sie allerdings zu den Tropen: Verg. Aen. 1,203 (timorem mittite statt omittite) tropus aphaeresis, Serv. Aen. 1,59, kürzer Donat Andr. 142 u. a. (s. W. 0. Neumann, S. 80). In den Artes grammaticae wird diese Erscheinung als Metaplasmus per detractionem klassifiziert: Char. 366,24ff. B., Diom. I 441,20; Prob. IV 263,7; Don. KGL IV 396,8; Pomp. V 297,6 u. a. "Was da jeder Teil zu ertragen hat und auf sich nimmt" (K.-H. ad loc.). Zur Tilgung der ganzen Passage compositum - cedunt, die Holder mit Petschenig vornimmt, besteht m. E. kein Anlaß. Vielmehr reicht Paulys Eingriff (1876, S. 12), der ab est tilgt. Bei e contrario würde es sich dann um eine Glosse handeln, einen ungeschickten Übersetzungsversuch zu chri roü, vieleicht aus der Feder desselben [id est qui vultu docti sintJ Schreibers, der u. a. auch bei Sat. 1,10,21 ot/,tµOLr'Jeic; am Werk war; ebenfalls eine Glosse wäre der Zusatz id est cedunt. Denkbar ist auch ein Textausfall, wie ihn Zwierlein beispielhalber erwägt: DECEDUNT ergo ci.vn' rov· ,cedunt, ut, e contrario ..11 foriv ... rpcx-y1.pöicx TE rnt Kwµ.1.pöicx, ~ öicoi' a1rcx-y-yEAicxr; cxuroii roii 1roi11roii... ~ ö' cxv oi' ixµiporfowv h TE ri] rwv 1'1rwv1roi~aH. (Vgl. Aristot. Poet. 1448a 19ff., zum Verhältnis der aristotelischen zur platonischen Einteilungs. Dahlmann, 1953, S. 64ff.); vgl. den Tractatus Coislinianus CGF I, 50 Kaibel (s. Kayser S. 6ff.), Schol. Dion. Thr. 450,3 H. (s. Dahlmann 1953, S. 69ff., Volkmann, S. 536). Zu einer Zweiteilung in OLTJ'YT//J.CXTLKov und öpcxµcxnKovvereinfacht wohl durch Theophrast (s. dazu Dahlmann 1953, S. 148 = S. 69). Z. B. unterscheidet Diom. KGL I 482 tria poematos genera, nämlich activum vel imitativum, quod Graeci dramaticon vel mimeticon, aut enarrativum vel enuntiativum, quod Graeci exegeticon vel epangelticon dicunt, aut commune vel mixtum, quod Graeci Koiv6v vel µiKr6v appellant, vgl. Serv. ecl. 3, l. Porphyrio verwendet drei der gängigen Begriffe: außer dramatico charactere noch Sat. 1,2,129-130 u. 1,4,34 imitatitivo charactere und Sat. 1,4,14-15 Mimetico charactere. Quint. inst. 6,2,8ff. Zur Begriffsschwankung von ~rJor; im Bereich der Poetik und Rhetorik als milder Form des Pathos bzw. als im Gegensatz zum Pathos dauernder Eigenschafts. im übrigen W. G. Rutherford, S. 138ff. und Volkmann, S. 273. Die Entwicklung des Begriffes "Ethos" mit seiner von jeher schillernden Bedeutung ist dargestellt bei Gill und ausführlich bei Wisse (seit Aristoteles) und für den griechischen Bereich seit Korax mit Ausblicken auf das Weiterleben im lateinischen bei Süss. Bei Aristoteteles kommt der Begriff lt. Wisse (S. 31f.) stets in dieser Bedeutung vor.

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4. Kpiau; 1roir,µ&rw11: Die Dichterkritik

vorübergehende Affekte bezeichnet, wie Zorn und Schmerz, die dargestellt und dadurch beim Hörer/Leser geweckt werden sollen 1273 . Andererseits kann Ethos die milde und maßvolle Darstellung von Sentiments bedeuten, die in der Rhetorik vor allem im genus mediumden Charakter des Redners empfiehlt und den Hörer einnimmt und sanft überredet; in der Dichtung ist dies das Feld der Komödie, im Gegensatz zum Pathos, der heftigen Leidenschaft, die dem genus grande und der Tragödie zugehört 1274 . (Daß diese beide Konzeptionen leicht durcheinander gehen konnten, ist verständlich 1275).

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S. Aristot. Rhet. 2,3f. 1356 alff., Cic. orat. 128 duae res sunt enim quae bene tractatae ab oratore admirabilem eloquentiam faciant. quorum alterum est, quod Graeci rjiJm3v vocant, ad naturas et ad mores et ad omnem vitae consuetudinem accommodatum; alterum, quod idem 'll'01iJ71nK6v nominant, quo perturbantur animi et concitantur, in quo uno regnat oratio. lllud superius come iucundum ad benevolentiam conciliandam paratum ... und noch lul. Vict. rhet. 22 p. 439,32 ethos et pathos prae oculis habendum. Ethos autem est habitus quidam mentis et morum perpetuus tenor, ut iracundus, avarus, pius, rusticus, vel Lenis vel timidus ... vel senex vel adulescens et cetera (vgl. auch Gell. 1,2,4), s. ThLL V2 922,60ff., wo übrigens ethicus im rhetorischen Sinne (den Charakter treffend darstellend) nicht von ethicus im philosophischen Sinne (ethisch, moralisch) unterschieden wird. S. z. B. Quint. inst. 12,10,62; Martianus Capella 5,473 fides ... fit ... conciliando, docendo, permovendo. illa prior ethica, sequens apodictica, tertia pathetica nominatur. (Vgl. Fortun. rhet. 1,10, p. 88,22), vgl. Grube, S. 291f., Kroll 1919. Daher rührt die Unterscheidung zwischen ~iJ01ro,i01L ~iJLKOIL, 1raiJ71nKaiund µiKmi, bzw. allocutiones morales, passionales, mixtae in den rhetorischen Proymnasmata, z. B. bei Prise. 9 KGL III 438,lOff., Herrn. prog. 9 p. 21 R.), s. Lausberg, § 1131, vgl. Kroll 1919. Dieser zweiten Konzeption schließt sich auch Quint. inst. 6,2,12ff. an, wobei er in 6,2, 13 und 18 eine moralische Bedeutung mit ins Spiel bringt: denique -,jiJor;omne bonum et comem virum poscit. quas virtutes cum etiam in litigatore debeat orator ... adprobare, utique ipse aut habeat aut habere credatur. Dabei setzt er sich in 6,2, 17 von dem andersartigen Gebrauch in scholis im Sinne von "Charakterzeichnung" ab: quibus plerumque rusticos superstitiosos avaros timidos secundum condicionem positionum effingimus. Zur Begriffsunsicherheit bei Quintilian als Resultat eines Mißverständnisses von Aristoteles' Rhetorik s. Süss, S. 155ff. Z. B. Emporius De Ethopoeia, Halm S. 561 Adfectus etenim inesse omnibus orationibus debet, cuius prima hie exercitatio datur. Denique a nonnullis haec materia ethopoeia nominatur, quod ethos, id est adfectum dicentis effingat ... (S. 562). Aliter enim orationem vel incipit vel exequitur iratus, aliter timens, aliter gaudens ... (soweit nach der zweiten Bedeutung, doch die nun folgenden Beispiele weisen auf die erste Bedeutung:) aliter senex, aliter iuvenis ... Sit igitur alacris laetantis oratio, tumens vani . . . meretriculae mollis et blanda, matronae seria, senum gravis, temeraria pueri (in einem ähnlich weitgefaßten Sinne offenbar auch in den griechischen Scholien, s. die Beispiele bei Kroll 1919). S. 562 ... Est sane praeter ethos et pathopoeia, qua imitamur adfectum non naturalem, sed incidentem. . . . , cum ideo hoc sit pathetica nomine nuncupata, quod accidens alter affectus naturalem illum morem saepe subvertat . . . , cum is qui loquitur a suo loquendi

4.1. Res (Ilpoqrµam)

245

Porphyrio gebraucht moraliter, die Widergabe des griechischen iv ij,YH 1276, in der zweiten Bedeutung, wie Quintilian, und nicht in der bzw. ~'1tKw