Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs und seine Bedeutung im Strafverfahren [1 ed.] 9783428435067, 9783428035069

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Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs und seine Bedeutung im Strafverfahren [1 ed.]
 9783428435067, 9783428035069

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HINRIeH RöPING

Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs und seine Bedeutung im Strafverfahren

Strafrechtliche Abhandlungen· Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser ord. Profe8sor der Rechte an der Universität Hamburg

In Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 26

Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs und seine Bedeutung im Strafverfahren

Von

Prof. Dr. Hinrieh Rüping

DUNCKER & HUMBLOT/BERLIN

In die Reihe aufgenommen als Habilitationsschrift Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Alle Rechte vorbehalten

© 1976 Duncker & Humblot, Berlin 41

Gedruckt 1976 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 03506 2

Vorwort Die Arbeit hat der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen 1973 und 1974 als Habilitationsschrift vorgelegen. Rechtsprechung und Literatur sind bis Ende 1974, vereinzelt auch noch später, nachgetragen; die weitreichenden Änderungen durch die Strafverfahrensreform konnten noch punktuell berücksichtigt werden. Das Thema geht auf eine Anregung meines akademischen Lehrers Herrn Professor Hans Welzel zurück. Mannigfache Hinweise zum Historischen verdanke ich den Herren Professoren Knut Wolfgang Nörr, Karl Kroeschell und Friedrich Schaffstein. Besonderen Dank schulde ich Herrn Professor Hans-Ludwig Schreiber für seine Anteilnahme an der Arbeit und seine fördernde Kritik. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für den Druckkostenzuschuß, Herrn Professor Eberhard Schmidhäuser für die Aufnahme in die Reihe der Strafrechtlichen Abhandlungen. Hinrich Rüping

Inhaltsverzeichnis Einleitung

11

1 Die geschichtliche Entwicldung des Grundsatzes .......................

12

11 Die Grundlegung der Lehre im römisch-kanonischen Prozeß . . . . . . . . 13 111 Das römische Recht... . ... ... ..... .... ... ..... . ... .. . .... ... .. 13 112 Die Fortbildung der Lehre im kanonischen Recht. . . . . . . . . . . . . .. 15 1121 Nichtigkeitsbeschwerde und "exceptio nullitatis" ......... 15 1122 Das Gehör als Bestandteil des "ordo iudiciarius" und des "officium iudicis" ........................................ 16 1123 Das Gehör in den Gesetzessammlungen des 12. und 13. Jahr-

hunderts

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

1124 Die theoretische Grundlegung im 16. Jahrhundert. ... . .... 1125 Das Gehör im Notorietätsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1126 Das Gehör in der Praxis .................................

18 19 21

12 Die deutsch rechtliche Tradition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 121 Die Bedeutung der Formel des Sachsenspiegels .. . . . . . . . . . . . . . . 122 Das beiderseitige Gehör in Urteilsformeln und als richterliche

22 23

Pflicht

......................................................

24

Verfahren ...................................................

25

13 Das beiderseitige Gehör in Rechtsregeln und Sprichwörtern ........

29

14 Das Gehör im Zivilprozeß bis zur RZPO ........................... 141 Die Wirkung der Rezeption in Theorie und Gesetzgebung. . . . . . . 142 Die Reichsgesetzgebung ....................................... 1421 Der Reichskammergerichtsprozeß ........................ 1422 Der Reichshofratsprozeß ................................. 1423 Der Reichsabschied von 1654 und die Zweiteilung der Nich-

31 31 33

123 Das Gehör im Handhaftverfahren und den daraus abgeleiteten

tigkeitsgründe ..........................................

33 35 36

143 Die Herausarbeitung des Gehörs als Prinzip in der Theorie des 18. Jahrhunderts .................. '" ..................... " ., 144 Die Gründung des Gehörs auf die Natur der Sache in der Theorie des 19. Jahrhunderts......... . . . ... ....... ....... ... ... .. .... 145 Das Gehör in der Gesetzgebung der Länder ............. '" .. .. 146 Das Gehör in der RZPO ......................................

40

15 Das Gehör im Strafprozeß bis zur RStPO .......................... 151 Der Strafprozeß als Anklageprozeß ...........................

49 49

38

42 48

Inhaltsverzeichnis

8

152 Der gemeinrechtliche Inquisitionsprozeß .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1521 Das Gehör in der Gesetzgebung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1522 Die Lehre von der Verteidigung bei Benedict Carpzov .... 1523 Einzelheiten des Gehörs in der gemeinrechtlichen Lehre . .. 1524 Die Hexenprozesse ...................................... 1525 Das Gehör in den Programmen der Aufklärung ......... 1526 Die späte gemeinrechtliche Lehre im 19. Jahrhundert... ... 153 Der reformierte Strafprozeß .................................. 154 Das Gehör in der Gesetzgebung der Länder ................... 1541 Ausdrückliche Regelungen des Gehörs ................... 1542 Die Sicherung des Gehörs über die Nichtigkeitsbeschwerde . 1543 Der Beitrag der Theorie in weiteren Ländern ............ 155 Das Gehör in der RStPO ......................................

51 52 54 57 60 63 63 65 69 69 77 80 82

16 Das Gehör a"ls Verjassungsnorm .. . .. . . . ..... . .... .. .... . . .. . . .. ...

85

161 Die Verfassungsbewegung und die kontinentale Rechtsphilosophie ....................................................... 162 Anstöße zur verfassungsrechtlichen Positivierung des Gehörs . .. 163 Die Entwicklung nach 1945 bis zum Bonner Grundgesetz .......

85 90 96

17 Ergebnis .........................................................

98

2 Wesen und Begründung des rechtlichen Gehörs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 101 21 Grundlagen des Gehörs im geltenden Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 101

211 Die Begründung des Gehörs in fremden Rechtsordnungen ...... 101 212 Das Gehör als allgemeiner Rechtsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 106 22 Begründung des Gehörs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 112

221 222 223 224 225

Begründung aus Prozeßmaximen und Einzelnormen ........... Begründung aus dem Gleichheitssatz .......................... Begründung aus der Justizgewährung ......................... Begründung aus der Sachgerechtigkeit ........................ Begründung aus dem Gedanken einer Legitimation durch Verfahren ....................................................... 226 Begründung aus den Prinzipien des Rechtsstaats und der Menschenwürde .................................................. 2261 Der Rechtsstaatsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2262 Die Grundlegung in der Würde des Menschen. . . . . . . . . . . ..

112 113 114 117 120 122 123 124

23 Ergebnis ......................................................... 134

3 Die Bedeutung des Gehörs im Strafverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 136 31 Inhaberschaft und Ausübung des Anspruchs auf rechtliches Gehör .. 137

311 Die Anspruchsberechtigung ................................... 312 Die Ausübung des Anspruchs ................................. 3121 Die Grundrechtsmündigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3122 Das Gehör für den Geisteskranken .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

137 138 138 139

Inhaltsverzeichnis

9

3123 Die Vennittlung eines Anwalts .......................... 139 3124 Die Zuziehung eines Dolmetschers ....................... 142 313 Staatsanwaltschaft und rechtliches Gehör ...................... 142 32 Inhalt und Schranken des Gehörs . ... , .............. , .. , .......... 144

321 Die Gelegenheit, Gehör zu erlangen .......................... 322 Der Zeitpunkt des Gehörs ..................................... 3221 Der Zeitpunkt der Gehörgewährung ................. , .... 3222 Frist und Vertagung .............................. , ...... 3223 Die Rechtzeitigkeit des Gehörs ........................... 323 Die inhaltliche Reichweite des Gehörs ......................... 3231 Das Recht zur Antragstellung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3232 Das Gehör zu offenkundigen Tatsachen .................. 3233 Das Gehör zu Rechtsfragen .............................. 3234 Das Rechtsgespräch ..................................... 324 Inhaltliche Schranken des Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3241 Gehör und Vernehmung ................................. 3242 Die Erheblichkeit des Vorbringens ....................... 3243 Einschränkungen zu Gunsten des Betroffenen ............ 3244 Einschränkungen aus Belangen der Strafvollstreckung .... 3245 Einschränkungen aus Gründen der Sitzungspolizei ........

144 147 147 148 149 152 152 153 154 156 158 159 162 163 165 166

33 Pf/,ichten des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 168

331 Das Recht auf Orientierung ................................... 3311 Öffentliche Zustellung und Ersatzzustellung .............. 3312 Spezielle Mitteilungspflichten ............................ 3313 Die Mitteilung der Namen von "V-Leuten" ............... 332 Das Recht auf Äußerung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 333 Die Berücksichtigung der Stellungnahme ...................... 3331 Physische Aufnahmefähigkeit und Aufmerksamkeit . . . . . .. 3332 Begründung und Bescheidung ........................... , 334 Die Fürsorgepflicht des Gerichts und Schranken in der Ausübung seines Ennessens .............................................

169 169 171 174 177 178 179 180 182

34 Das Gehör im Rechtsmittelvertahren .............................. 184

341 Die Verletzung des Gehörs als Revisionsgrund ................. 184 342 Die Urteilsnichtigkeit ........................................ 191 343 Das Gehör in übergeleiteten Verfahren .. " .. , ... , ............. 194 35 Ergebnis

197

Ausblick: Das Gehör in der Reform des Strafverfahrensrechts .. . . . . . . . . .. 200 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 204 Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 227

Abkürzungsverzeichnis B.

E EuGH GO

H.

HRG HSt. IGH JRA KKGO MGH MRK

N.

OAG OAGO OGSt OGZ ORG PeinlGO PO pr. Qu. RDStH Resp. RHR RHRO RKG RKGO St. StGH StIGH UGO v

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Buch Entwurf Europäischer Gerichtshof Gerichtsordnung Heft Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Hauptstück Internationaler Gerichtshof Jüngster Reichsabschied Konzept der Kammergerichtsordnung Monumenta Germaniae Historica Menschenrechtskonvention Note Oberappellationsgericht Oberappellationsgerichtsordnung Entscheidungen des Obersten Gerichts der DDR in Strafsachen Entscheidungen des Obersten Gerichts der DDR in Zivilsachen Oberstes Rückerstattungsgericht Peinliche Gerichtsordnung Prozeßordnung principium (Anfang) Quaestio Reichsdienststrafhof Respondent (einer Dissertation) Reichshofrat Reichshofratsordnung Reichskammergericht Reichskammergerichtsordnung Stück Staatsgerich tshof Ständiger Internationaler Gerichtshof Untergerichtsordnung verso (Rückseite) Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern

Im übrigen wird verwiesen auf Hildebert Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 2. Auf!. Berlin 1968.

Einleitung "Jedermann hat vor Gericht Anspruch auf rechtliches Gehör." Mit dieser Bestimmung des Art. 103 Abs. 1 GG ist das Gehör zum ersten Mal als Prinzip in einer deutschen Bundesverfassung niedergelegt. An hervorragender Stelle wird damit seine Geltung im gegenwärtigen deutschen Recht zum Ausdruck gebracht. Die vorliegende Arbeit befaßt sich in drei aufeinander bezogenen Teilen mit dem Prinzip des Gehörs und versucht, seine Funktion im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens zu klären. Das Gesetz kennt keine Legaldefinition des rechtlichen Gehörs. Auch der Verfassungsgeber hat an die langwährende Tradition des Grundsatzes angeknüpft. Deshalb vermag gerade eine geschichtliche Betrachtung wesentliche Aufschlüsse über den Gehalt der Maxime zu geben. Trotz des Umfanges der bisherigen Diskussion, die wie in kaum einem zweiten Gebiet des Prozeßrechts die Grenzen des überschaubaren gesprengt hat, fehlt eine zusammenhängende Darstellung der geschichtlichen Entwicklung. Mit ihr befaßt sich der 1. Teil. Dabei geht es nicht um vereinzelte Belege für die Verwirklichung der Maxime, sondern um den Nachweis der Einflüsse, die für die Herausarbeitung des Prinzips bestimmend geworden sind. So universal wie seine Verwirklichung in der Geschichte ist auch die Bedeutung des Gehörs für das gegenwärtige Rechtsdenken, in dem es den Rang eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes einnimmt. Der 2. Teil geht der Geltung der Maxime unter dem Gesichtspunkt ihrer materialen Begründung in fremden Rechten und im übernationalen Recht nach. Er würdigt dann die hauptsächlichen Kriterien, die für eine Begründung herangezogen werden, und versucht von einem anthropologischen Ansatz aus eine eigene Grundlegung. Der 3. Teil will den Gehalt des Prinzips verdeutlichen, das durch die Zurückführung auf den Grundwert der Selbstbehauptung nur an einer Leitidee orientiert und zunächst noch unbestimmt ist. Das geschieht an Hand der Bedeutung der Maxime im Strafverfahren. Der Widerstreit zwischen dem staatlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung und dem Interesse des Angeklagten, durch die Beteiligung am Verfahren dessen Ergebnis beeinflussen zu können, ermöglicht es, die Reichweite des Prinzips zu klären und es gleichzeitig von anderen Prozeßgrundsätzen abzugrenzen. Aus der Untersuchung im Rahmen eines konkreten Verfahrens lassen sich die wesentlichen Elemente des rechtlichen Gehörs entwickeln, womit auch die verfassungsrechtliche Gewährleistung konkretisiert werden kann.

1 Die geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes Bei der Darstellung der geschichtlichen Entwicklung kann es sich nicht darum handeln, zweitausend Jahre Prozeßgeschichte nachzuzeichnen. Die Weite des Zeitraumes erfordert eine wesentliche Beschränkung: sie liegt darin, daß nur auf die Einflüsse abgestellt wird, die für die Ausbildung des Gehörs als Prinzip wirksam geworden sind. Die Betrachtung eines bestimmten historischen Prozesses als Ganzes ist Aufgabe von Einzeldarstellungen. Auch müssen die zahlreichen historischen Querverbindungen zugunsten der Orientierung an vertikalen Entwicklungslinien zurücktreten. Um die Bedeutung des Gehörs als Grundsatz zu zeigen, kann es auf der anderen Seite nicht sein Bewenden mit der Darstellung der Rechtslehre haben. Die Heranziehung der gesetzgeberischen und gerichtlichen Praxis, soweit möglich, soll die praktische Bedeutung des Grundsatzes erhellen. Jedoch können die angeführten Quellen nur zur beispielhaften Veranschaulichung dienen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Sie ließen sich ergänzen durch weitere Belege, ohne daß sich daraus ein anderes Bild der Gesamtentwicklung ergäbe. Unter "rechtlichem Gehör" soll dabei zunächst die einem Prozeßbetroffenen gewährte Möglichkeit verstanden werden, durch Äußerungen aller Art auf eine gerichtliche Entscheidung Einfluß zu nehmen. Eine solch allgemeine Bestimmung verfolgt den Zweck, die unterschiedlichen historischen Erscheinungsformen unter einem gemeinsamen Aspekt erfassen zu können; sie muß daher zunächst noch unscharf sein. Sie enthält folgende Einschränkungen: Als Berechtigter ist nur der von einem Prozeß Betroffene genannt. Es geht demnach nur um die als "materielle Defension" bezeichnete Äußerungsmöglichkeit dessen, der eigene Rechte im Prozeß geltend macht. Als bloße Modalität der Gehörgewährung, die unabhängig von der Entwicklung des Prinzips bleibt, erweist sich demgegenüber die Befugnis, sich auch durch einen Anwalt zu äußern. Diese "formelle Defension" scheidet aus der Untersuchung aus. Weiter wird bei der Art und Weise des Gehörs nicht nach der Äußerungsform, ob schriftlich oder mündlich, und nach dem Verfahrensabschnitt unterschieden, zum Beispiel nach Äußerung oder Gegenäußerung, Anträgen, Vorbringen im Beweisverfahren oder bloß vorbereitenden Akten, wie Informationen des Gerichts, die die notwendige Kenntnis des Verfahrensstoffs vermitteln. Immer handelt es sich nur um die Gelegenheit zur Äußerung. Ein Kontumazialverfahren, bei dem der ordnungsgemäß Geladene die Möglichkeit zur Äußerung nicht wahrnimmt, beläßt ihm die

11 Die Grundlegung der Lehre im römisch-kanonischen Prozeß

13

Möglichkeit der Einflußnahme, anders ein eigentliches Abwesenheitsverfahren, wenn man darunter die aus besonderen Gründen ausgeschlossene Gelegenheit zur Stellungnahme versteht. Zur abkürzenden Darstellung der Erscheinungsformen wird im folgenden vom Gehör allgemein gesprochen, wenn es um die grundsätzliche Stellung des Gerichtsunterworfenen geht und ihm, ohne Bezug auf einen Prozeßgegner, eine Äußerungsmöglichkeit zukommt. Dagegen bezieht der Begriff des beiderseitigen Gehörs die in einem Rechtsstreit vorausgesetzten beiden Parteien ein; sein Gehalt liegt in der gleichmäßigen Gewährung des Gehörs an beide Seiten. Wird einem Streitteil die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben, um jeweils auf Vorbringen des anderen entgegnen zu können, ist das Gehör wechselseitig. 11 Die Grundlegung der Lehre im römisch-kanonischen Prozeß Die für das kontinentale Rechtsdenken entscheidende Entwicklung des Gehörs als Grundsatz setzt an mit seiner Verwirklichung im römischen Recht und der systematischen Erfassung der Maxime in der Kanonistik.

111 Das römische Recht Frühformen des Prozesses mit starrer Bindung an magische Spruchformen bleiben außer Betracht, da das Gehör nach unserem Verständnis die freie Äußerung im Dienste der eigenen Interessen impliziert. In der Zeit des Formular- und des Kognitionsverfahrens ist der strenge Wortformalismus überwunden. Das auch für das griechische Rechtsdenken nachweisbare beiderseitige Gehör! ergibt sich aus der notwendigen Mitwirkung des Beklagten im Prozeß. Sie ermöglicht es ihm im Verfahren "in iure" und "apud iudicem" , das ihm Günstige vorzubringen; ein Verfahren ohne mündliche Verhandlung und damit ohne Gelegenheit zur Verteidigung nimmt dem Urteil seine Wirkung (sententia nulla) , ohne daß es einer besonderen Anfechtung bedarf2 • Im Strafprozeß ist die Formlosigkeit des ursprünglichen Kognitionsverfahrens vor dem 1 Seit Solon Bestandteil des Richtereides (Büchmann S. 588, Vargha S. 20 m. N. 1), weiter Phokylides, Aischylos (Eumeniden, 3. Episode), Euripides, Aristophanes (Körte S. 296), Demosthenes; vgl. Walder S. 66, weiter Justus Hermann Lipsius, Das Attische Recht und Rechtsverfahren, Bd. 3 Leipzig 1915, S.918. 2 Kaser S. 190, 275, 289, 394, der offenbar auch schon für die Zeit des Legisaktionenverfahrens das Gehör verwirklicht sieht (S. 9, 84); zur notwendigen Anwesenheit bei der Parteien Heinrich Apelt, Die Urteilsnichtigkeit im römischen Prozeß, o. O. 1937, S. 71 ff., zum Nullitätsprinzip im römischen Recht Gilles S. 204. Zum Grundsatz des beiderseitigen Gehörs vgl. auch Erwin Seidl, Rechtsgeschichte Ägyptens als römischer Provinz, Sankt Augustin 1973, S. 110 f.

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1 Die geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes

Magistrat, das ein inquisitorisches Verhör kennt, unter anderem dadurch eingeschränkt, daß dem Angeklagten die Verteidigung nicht gänzlich versagt werden darf, bis dann gegen Ende der Republik die Anklageform des bürgerlichen Prozesses übernommen wird3• Der Schlußverhandlung, in der beide Parteien anwesend sein müssen, geht ein öffentlicher Aufruf (citatio), später eine Ladung voran; im Mittelpunkt stehen Anklage- und Verteidigungsrede, wobei letztere in der Zeitdauer begünstigt ist 4• Das Corpus Iuris spiegelt die Tradition wider. Neben den Sätzen des Codex, der Richter müsse vor einer Entscheidung beiden Parteien in gleicher Weise Gelegenheit zum Vorbringen geben, und ein gegen einen Abwesenden ohne Verteidigungsmöglichkeit ergangenes Urteil sei wirkungslos 5 , ist für die weitere Entwicklung vor allem die in den Digesten als Satz des Marcian (2. Jh.) überlieferte Stelle tragend geworden. Hiernach fordert die "aequitas" die Anwesenheit und damit das Gehör für eine Partei: "et hoc iure utimur, ne absentes damnentur, neque enim inaudita causa quemquam damnari aequitatis ratio patitur"6. Die zugespitzte materiale Begründung, die das Prinzip des Gehörs nicht nur auf die formale Gleichheit der Parteien zurückführt, erweckt Bedenken gegen die Echtheit der Stelle. Andererseits ist jedoch der Einfluß der Stoa zu berücksichtigen7 • Die "aequitas" bezeichnet bei Cicero ein Prinzip der Rechtsanwendung, das den Gleichheitsgedanken der Aristotelischen Epikie verselbständigt hat. Bei den Klassikern drückt die "naturalis aequitas" das Bewußtsein der aus der unveränderlichen Natur jeder Sache abgeleiteten objektiv vernünftigen Ordnung, der "lex naturae", aus. Die Natur der Dinge offenbart zwar auch bei Marcian das "ius naturale" ; er setzt dies jedoch 3 Mommsen S. 340 ff., 149, zum Verhör Walder S. 30, zur Entwicklung des Strafprozesses Vargha S. 40, 47, 53, 63 f. 4 Geib S. 128, 135; 302, 318, 325; 593, 600. Versuche, diese Grundsätze zu umgehen, sind immer wieder in den Christenverfolgungen unternommen worden, so rügt Tertullian (2. Jh.) die ungleiche Behandlung und das Abschneiden der Verteidigung (bei Carl Becker, Tertullian, Apologeticum, München 1952, S.58). 5 C. 3. 1. 9, 7. 57. 5, zur Gleichheit der Parteien 12. 19. 12. 4, zur Wirkungslosigkeit 7.43.3,7.43.7, auch D. 48. 8.1. 3. 6 D. 48. 17. 1. pr.; ähnlich Seneca, Medea 2, 2, 199; zum Gehör als Prinzip vgI. auch den römischen Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus (4. Jh. n. Chr.): "Reum non audire, latrocinium est, non iudicium" (nach Vargha S.281). 7 Dazu Rene Voggensperger, Der Begriff des "Ius naturale" im Römischen Recht, Diss. Basel (Basler Studien zur Rechtswissenschaft H. 32), Basel 1952, S. 72, 89, 94 m. N. 22, 95, 99, 137, wenn auch die aequitas zu weitgehend als Billigkeit verstanden wird (S. 93); die Echtheit der Stelle bestreiten dagegen Hans Niedermeyer, über antike Protokoll-Literatur, Diss. Göttingen 1918, S. 78, Pringsheim in SZRom Bd. 42 S. 646 Note, im Ansatz auch abI. Hans-Jürgen Kalpers, Natura und ius naturale in der Jurisprudenz der römischen Klassiker, Diss. Münster 1952, S. 112, 246.

11 Die Grundlegung der Lehre im römisch-kanonischen Prozeß

15

nicht mit der "lex naturae" gleich, sondern gibt letzterer unter stoischem Einfluß den umfassenden Sinn eines Gesetzes für das Universums. Die "aequitas" meint daher zur Zeit des Marcian die übereinstimmung einer Norm mit dem Weltgesetz. Erst später erlangt der Begriff die Bedeutung einer korrigierenden Billigkeit (equity), in welchem Sinn auch das 18. und 19. Jahrhundert die Billigkeit als Grundlage des Gehörs verstehenD.

112 Die Fortbildung der Lehre im kanonischen Recht Die Kanonistik hat einen entscheidenden Fortschritt in der Entwicklung des Gehörs gebracht, indem sie sein Fehlen als Nichtigkeitsgrund des Urteils herausarbeitete und damit die Zeit seiner systematischen Behandlung eröffnete. 1121 Nichtigkeitsbeschwerde und "exceptio nullitatis" Vorangegangen war die Verbindung deutschrechtlicher und römischrechtlicher Elemente in der italienischen Statutarpraxis seit der Mitte des 12. Jahrhunderts. Sie griff die Unterscheidung des römischen Rechts zwischen nichtigen Urteilen, die keine Rechtswirkung äußerten, und ungerechten auf und übernahm vom deutschen Recht den Gedanken der Formalkraft des Urteils, der gemäß es zur Vernichtung eines Urteils eines gesonderten Angriffs bedurfte. Aus dieser Verbindung entwickelte sich im 12. Jahrhundert das selbständige Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde10• Sie hat in ihrem hier interessierenden materiellrechtlichen 8 Voigt S. 275, 277, 320, der jedoch nicht genügend deutlich erst späteres Ideengut unterscheidet, zu Cicero Beil. 1 S. 537 f., zu Gaius und Paulus S. 271, 278, 281; dagegen hält Devilla in Scritti di diritto e di economia in onore di Flaminio Mancaleoni (Studi Sassaresi Serie 11 Bd. 16), Sassari 1938, S. 125 ff. (142) die Wendung aequitas naturalis für nachklassisch. Allgemein zur Bedeutung der aequitas Wolfgang Waldstein, Vorpositive Ordnungselemente im römischen Recht (Salzburger Universitätsreden H. 19), Salzburg/München 1967, S. 18; zu der entsprechenden Auffassung der Postglossatoren Eugen Wohlhaupter, Aequitas canonica (Görres-Gesellschaft, Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft H. 56), Paderborn 1931, S. 89 f.; die naturalis aequitas findet sich auch bei Johannes Teutonicus in der Glosse zu Dist. 1 c. 7 des Decretum Gratiani (Ausg. Antwerpen 1573 Sp. 4). 9 Vgl. CarPzov, Peinl. Sächsischer Proceß (Ausg. 1725) Tit. 8 pr., Tit. 13 Art. 3 Nr. 1 (S. 111, 213), Oldekop, Tractatus (1664) Tract. 2 Decas 2 Qu. 9 (S. 231), Observationes (1698) Tit. 1 Observ. 10 Nr. 15 (S. 39), Roding (1710) B. 1 Tit. 33 §§ 12 f. (S. 408), Pistorius (1716 ff.) Cent. 5 Nr. 45 (S. 348 Nr. 2), Reinmann (1721), Kap. 1 § 9 (S. 7), Schneyder (1723) Class. 1 Tit. 16 Nr. 5 (S. 153), Mevius Bd. 1 Tl. 1 Decis. 204 N. 1 (S. 77), Ahorner von Ahornrain (1812) S. 64, 71; vgl. bereits das Eigen-Landrecht der Siebenbürger Sachsen (1583) B. 1 Tit. 2 § 1, Tit. 10 § 1 (S. 6, 37). Unzutreffend ist daher die übersetzung der "aequitas" bei Marcian mit "Billigkeit" durch Rudolf Düll, Corpus Iuris, 2. Aufl. München 1960, S. 235. 10 Skedl S. 6, Kohler S. 131, zum Verhältnis von Appellation und Nichtigkeitsbeschwerde Antonio Padoa Schioppa, Richerche sull' appello nel diritto intermedio, Bd. 2 Mailand 1970, S. 44 ff.

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1 Die geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes

Teil: dem fehlenden Gehör als Nichtigkeitsgrund und damit der Gewährung des Gehörs als Wirksamkeitsvoraussetzung des Urteils, die Entwicklung der Maxime bis zu den Reichsjustizgesetzen getragen. Prinzipiell mußten damit, wie materiellrechtliche Fehler im Wege der Appellation, auch alle Nichtigkeitsgründe durch ein besonderes Rechtsmittel geltend gemacht werden. Jedoch konnte sich der römisch-rechtliche Begriff der Nichtigkeit insoweit durchsetzen, als das Fehlen bestimmter, für jede Entscheidung notwendiger Merkmale bereits die formelle Rechtskraft ausschloß und zur "exceptio nullitatis" berechtigte. Zu diesen Erfordernissen gehörte auch die vorherige Ladung einer Partei (citatio)l1. Bereits hier ist die besondere Bedeutung, die der "citatio" und dem durch sie vermittelten Gehör als Nichtigkeitsgrund zukommen sollte, angelegt. 1122 Das Gehör als Bestandteil des "ordo iudiciarius" und des "officium iudicis" Die Kanonisten des 13. Jahrhunderts knüpfen an diesen Stand der Nichtigkeitslehre bei den Glossatoren und Postglossatoren an12 • Tancred, Hostiensis und Durantis erfassen das unterschiedliche Gewicht der Nichtigkeitsgründe mit der Unterscheidung eines "ordo iuris" und eines "ordo iudiciarius" oder "substantialis". Letzterer betrifft die in jedem Verfahren zu beachtenden Substantialien, ist der Disposition der Parteien und des Richters entzogen und bewirkt bei einem Verstoß die Nichtigkeit des Urteils. Zu ihm zählt auch die "citatio"13. Neben dieser selbständigen Gewährleistung erscheint das Gehör in der traditionellen Formel, die die Auseinandersetzung mit dem Parteivorbringen und weitergehend dessen Ergänzung als Kriterium richterlicher Tätigkeit ansieht l4 • Als inhaltliche Richtschnur für die Lehre vom 11 So in den Mailänder Statuten (bei Skedl S. 106 N. 11), zur exceptio nullitatis Skedl S. 104, 110 f. 12 Skedl S. 113 ff., 120; vgl. Baldus, Perutilis ac vere aurea practica iuris, Tit. De citationibus et dilationibus Nr. 1 (Ausg. Leiden 1534 BI. 9 v) und Ricardus Anglicus, Tit. Quando sententia concipi vel formari debeat (S. 45). 13 Tancred Tl. 2 Tit. 7 § 1, Tl. 4 Tit. 1 § 4, Tit. 2 § 5 (S. 151, 271, 280), Hostiensis B. 2 Tit. De sententia § Qualiter proferri debeat (Sp. 610), Durantis B. 2 Prooemium Nr. 1 (S. 3), B. 3 Part. 1 De accusatione § 1 Qualiter Nr. 32 (S. 8); nach dem Apparatus ad Liber Extra 2. 27. 1 (bei Skedl S. 138) wurzelt der eine ordo im öffentlichen, der andere im privaten Recht. Auf die Substantialien-Lehre weisen bereits Bulgarus, Azo, Bartolus, Baldus (vgl. Skedl S. 113, 169), zu Aristotelischen Einflüssen Coing in SZRom Bd. 69 S. 24 ff. (32). 14 Anse1m, Collectio canonum B. 3 Kap. 13 u. 28 (bei Friedrich Thaner, Anselmi Episcopi Lucensis collectio canonum, Bd. 1 Innsbruck 1906, S. 124, 130) nach Pseudo-Eleutherius, V. (bei Paul Hinschius, Decretales Pseudo-Isidorianae, Leipzig 1863, S. 126), Ordo Iudiciarius des Codex Bambergensis, Tit. De iudiciis et iudicibus (hrsg. v. von Schulte, Sitzungsberichte d. Kaiserl. Ak. d.

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"officium iudicis" begegnet dabei die "aequitas" wieder l5 • Für diese Erscheinungsform des Gehörs ist wesentlich nicht das Interesse des einzelnen, eine Entscheidung durch Vortrag des ihm Günstigen beeinflussen zu können, sondern die Überzeugung, daß eine gerechte Entscheidung auf dem Abwägen des Für und Wider beruht und als Mittel dazu der beiderseitige Vortrag zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen ist. Bezeichnenderweise geht es hier um das beiderseitige Gehör, ein Ansatz, der weniger das Gehör als die richterliche Pflicht zur Unparteilichkeit trägt. Der Gedanke der instrumentalen Funktion des Gehörs für eine erschöpfende Sachaufklärung hat vor allem in Prozeßordnungen Eingang gefunden l6 und im weiteren Ausbau der Nichtigkeitslehre zu dem selbständigen Nichtigkeitsgrund des Fehlens der "causae cognitio" geführt l7 •

1123 Das Gehör in den Gesetzessammlungen des 12. und 13. Jahrhunderts Im Dekret Gratians und in den Dekretalen ist das Gehör, dem Charakter der Gesetzessammlungen entsprechend, nicht zusammenhängend, jedoch grundlegend für die theoretische Behandlung der Folgezeit dargestellt worden. Das Dekret sieht die Anwesenheit der Partei im Verfahren, dem römisch-kanonischen Anklageprozeß, nicht nur als eine Forderung des menschlichen, sondern auch des im göttlichen Recht geoffenbarten natürlichen Rechts anIS. Ein Verstoß führt, ebenso wie in den Dekretalen, zur Nichtigkeit, die wegen der Formalkraft des Urteils Wiss., Phil-Hist. K!. Bd. 70, Wien 1872, S. 316), Ricardus Anglicus, Tit. De sententiis (S. 42), Tancred, Ein!. (S. 89); Nörr S. 8, 11 und in Studia Gratiana XI (1967) S. 331 f. 15 Dazu Norbert Horn, Aequitas in den Lehren des Baldus (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte Bd. 11), Köln/Graz 1968, S. 135. 16 Vgl. die GO des Bistums Speyer von 1466 § 2, weiter die Form des Endurteils im Ordo Iudiciorum Spirensis § 83, das Gehör als "substantiale" des Prozesses in der GO von 1479 §§ 61 - 63 (bei Riedner S. 73, 44, 119) und die formelhafte Wendung "allegacionibus parcium diligenter auditis" in einem Urteil der Mainzer Stuhlrichter von 1240 (bei Kroeschell Tl. 2 S. 26 unter e); die Offizialatsordnung des Bistums Münster von 1573 Tit. 2 §§ 5 - 7 verpflichtet den Offizial ausdrücklich zum geduldigen Anhören (bei Schwarz in Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde Bd. 74 Abt. 1 Anl. II S.170). 17 Altimarus Rubrica 13 Qu. 314 Nr. 1, 3, 9 (S. 731 f.), hergeleitet aus Joh. 7, 51; deutlich wird diese Funktion des Gehörs auch in der Unterteilung bei Franz von Toledo sowie beiläufig bei Humery in ihren Gutachten zur Mainzer Stiftsfehde (bei Erler S. 96, 38; s. u. S. 21). 18 Dekr. Grat. C. 3 Qu. 9 c. 13, ohne diese Begründung auch in C. 3 Qu. 9 c. 2 u. 4; zur Gründung des natürlichen Rechts im göttlichen Dekr. Dist.l pr., im einzelnen Rudolf Weigand, Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten, München 1967, S. 134 f. Vgl. bereits im Decretum Burchards von Worms (um 1010) Tit. 16 c. 13 u. 14 (bei Kroeschell Tl. 1 S. 128). 2 Rüping

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besonders geltend zu machen isV 9 • Von großer Bedeutung wurden die Clementinen: die Clementina Pastoralis bestimmt ausdrücklich bei unwirksamer Zitation Nichtigkeit des Urteils 20 , und die Clementina Saepe fordert auch für ein summarisches Verfahren "simpliciter et de plano, ac sine strepitu et figura iudicii" gehörige Verteidigung und Zitation21 . Das Entscheidende liegt hier in der positiven Aufzählung dieser Elemente eines rechtlichen Verfahrens, wobei die Beziehungen zwischen Defension und Zitation noch herauszuarbeiten sind. 1124 Die theoretische Grundlegung im 16. Jahrhundert

Die naturrechtliche Begründung des Gehörs und seine damit verbundene Geltung als Prinzip bleibt die Leistung der Kanonistik der folgenden Zeit. Vantius hat mit seinem "Tractatus de nullitatibus" (1552), in dem er die bisher zerstreute Materie systematisch ordnete, die Nichtigkeitslehre eigentlich begründet und ihre Fortbildung maßgebend geprägt. Er präzisiert die Auffassung von den beiden "ordines" dahin, daß der "ordo iuris" (ordo de iustitia) die positivrechtlichen Förmlichkeiten, der "ordo substantialis" (ordo de substantia) die Essentialien des Prozesses enthält22 . Die Begründung der Zitation reicht jedoch über ihre Zugehörigkeit zu den Essentialien hinaus: die in ihr enthaltene Möglichkeit, sich verteidigen zu können (defensio), entspringt dem göttlichen Recht, was aus Gen. 3, 9 gefolgert wird, dem natürlichen Recht als dessen Offenbarung und der "aequitas"23. Diese Geltungsgründe geben der Zitation ihren einzigartigen Rang und lassen sie als universale Regel erscheinen, die sich gegenüber jeder irdischen Norm durchsetzt, auch auf die obsiegende Partei Anwendung findet und selbst für den Fall gilt, daß der Teufel vor Gericht erschiene 24 • 18 Dekr. Grat. C. 3 Qu. 9 c. 2, Liber Extra 1. 33. 8, 1. 38. 2, 2. 27. 10, 24, allgemein 2. 12. 1: "nec nos contra inauditam partem aliquid possumus diffinire" (Gregor 1.); zur sonst eintretenden Bindung an ein auch unter Verstoß gegen den prozessualen ordo ergangenes Urteil Dekr. Grat. C. 11 Qu. 3 c. 72 VI. Pars. 20 Clem. 2. 11. 2. 21 Clem. 5. 11. 2; zur Bedeutung des prozessualen ordo auch Liber Extra 2.27.19,24. 22 Tit. 12 De nullitate ex defectu citationis Nr. 6, Tit. 13 De nullitate ex defectu processus Nr. 9, 15 (S. 439, 520, 522). 23 Tit. 12 Nr. 4, 8 (S. 439 f.), zu Gen. 3, 9 (vor der Vertreibung aus dem Paradies "rief [Gott] Adam und sprach zu ihm: Wo bist du?") Nr. 7 (S. 439); Gen. 18, 21, wonach Gott vor dem Untergang Sodoms hinab fahren und sehen will, läßt sich dagegen zwangloser im Sinne einer der Entscheidung vorangehenden "causae cognitio" interpretieren, so auch Dekr. Grat. C. 2 Qu. 1 c. 20. 24 Tit. 12 Nr. 2, 3, 9, 10 (S. 438, 440, 441); entgegen Kohler S. 132 f. wird die naturrechtliche Begründung, der gegenüber die ordo-Lehre zurücktritt, entscheidend.

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Scaccia und Altimarus übernehmen die Lehre im wesentlichen25 • Allgemein wird in der Kanonistik die Zitation wegen des naturrechtlichen Elements der "defensio" als generelle Regel und ihre Verletzung als gravierender Nichtigkeitsgrund angesehen 26. Dabei verdrängt die naturrechtliche Begründung allmählich die ältere Essentialien-Lehre. Die Zweiteilung der Nullitätsgründe kehrt wieder in der Unterscheidung des Mangels: so kann ein Verstoß gegen die unverzichtbaren Grundlagen jedes Verfahrens und damit gegen das Gehör nicht geheilt werden (defectus insanabilis)27.

1125 Das Gehör im Notorietätsverfahren Trotz seiner unangezweifelten Bedeutung gilt auch das Gehör nicht absolut. Das zeigt sich in der Auseinandersetzung mit Verfahren und Delikten, bei denen die Schuld des Täters offenbar ist. Die Notorietätslehre setzt bei dem Dekret Gratians an. Dieser sah von einem ordentlichen Verfahren mit seinen bestimmten Förmlichkeiten ab, wenn fortgesetzt die Ordnung verletzt wurde und die Schuld des Täters offen lag (delictum manifestum)28. Während hier an eine Offenkundigkeit gedacht ist, die sich mit sinnlich faßbaren Spuren der Tat in der Außenwelt manifestiert, beziehen die Dekretalen den Ausschluß des "ordo iudiciarius" auf das geistige Phäno25 Scaccia Qu. 19 Rem. 1 Concl. 2 Nr. 19, 21 (S. 460 f.); Altimarus zur Begründung Rubrica 12 Qu. 270 Nr. 9, 14, Qu. 271 Nr. 55 (S. 404, 419), zur Behandlung als allgemeines Prinzip Qu. 270 Nr. 52 f., 69, 73, 81 ff., 151, 154, Qu. 271 Nr. 19, Qu. 292 (S. 407 ff., 410, 414, 416 f., 571 ff.). 26 Vestrius B. 3 Kap. 2 Nr. 7 (BI. 45 v) und Gravatius Anm. ebd. Nr. 22 u. B. 5 Nr. 8 (BI. 51 v, 102), Maranta Tl. 4 Distinctio 16 Nr. 10, Tl. 6 De citatione Nr.3 (S. 220,305), Ridolphinus Tl. 1 Kap. 2 Nr. 110 f. (S. 17), die Gründung auf den "ordo judi-::iarius" (Tl. 3 Kap. 1 Nr. 11 u. 17 [So 4]) tritt demgegenüber zurück; den t":~ergang kennzeichnet Nikolaus de Tudeschis (Abbatis Panormitani Commentaria Tertiae Partis in Secundum Decretalium Librum, Leiden 1586, Tit. De sententia et re iudicata Kap. 19 Nr. 1 [BI. 72]), der den ordo iuris auf das ius naturale gründet. 27 Vestrius B. 5 Kap. 13 Nr. 2, B. 7 Kap. 1 Nr. 6 (BI. 116 v, 180 v), Ridolphinus Tl. 1 Kap. 2 Nr.112 (S. 17), Tl. 2 Kap. 15 Nr. 106 (S. 163); wohl zuerst deutlich für die citatio Johannes Staphileus, Tractatus de commissionibus et litteris iustitiae Nr. 21 (in: Secunda edictio tractatus de gratiis expectativis, Venedig 1549, BI. 109), angelegt schon bei Vantius, Tit. 14 Qualiter sententiae et processus, qui dicuntur nulli, defendi, seu reparari possint Nr. 125 (S. 678). Abw. zur Beurteilung der kanonistischen Entwicklung Hinschius Bd. 6 Abt. 1 S. 132 N.7. 28 Dekr. Grat. C. 2 Qu. 1 c. 20 V. Pars unter Berufung auf 1. Kor. 5, 3 ("Ich zwar ... habe schon als gegenwärtig beschlossen über den, der solches also getan hat"), ebenso Liber Extra 2. 28. 5. 1, vgl. auch Thomas von Aquin, Summa 2. 2. Qu. 67 Art. 2, 3 unter Bezug auf 1. Tim. 5, 24 ("Etlicher Menschen Sünden sind offenbar, daß man sie vorhin richten kann"); dieser Fall des delictum manifestum wird bei Rolandus, Rufinus und Stephan von Tournay als notorium bezeichnet, vgl. Jacobi in SZKan Bd. 34 S. 319; zum Begriff Ghisalberti S. 419, weiter Erler S. 22.

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men der Allgemeinkundigkeit, d. h. auf Delikte, deren tatsächliche Evidenz keine Ausflüchte zuläßt29 • Die Lehre übernimmt die Formel für das "delictum notorium", hält aber daran fest, daß der Angeklagte geladen und mit seiner Verteidigung gehört wird 30 • Sie gibt damit im grundsätzlichen Widerstreit zwischen dem Interesse der Gesamtheit an wirksamer Strafverfolgung und dem Interesse des einzelnen, weitgehend an der Entscheidungsbildung beteiligt zu werden, letzterem den Vorzug. Feste Konturen hat die Lehre darüber hinaus nicht gewinnen können. Einigkeit besteht nur über den Ausschluß des Gehörs, wenn der Angeklagte ersichtlich keine Verteidigungsgründe vorbringen kann31 • Diese Ausnahme erweist sich als nur scheinbar, wenn man von der instrumentalen Funktion des Gehörs im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung ausgeht: es bedarf nicht der Mitwirkung des Betroffenen zur Wahrheitsermittlung, wenn die Wahrheit schon aus anderen Erkenntnisquellen offenbar ist. Die Gefahr liegt in der Delegation der Entscheidung über die offenbare Aussichtslosigkeit. Eine rein naturrechtliche Begründung des Gehörs wie später in der Aufklärung kann diese Einschränkung nicht enthalten, da sie der Mitwirkung des Betroffenen unabhängig von dem Nutzen für die Klärung des Streitstoffes einen Eigenwert zubilligt. In weiteren Einzelfällen bleibt die Lehre uneinheitlich; sie neigt dazu, bei schwereren Delikten, die aber nicht näher bestimmt werden, eine Verteidigung auszuschließen32 • Die Praxis ist nur zu leicht der darin liegenden Gefahr des Mißbrauchs erlegen. 29 Liber Extra 5. 40. 24 (Innocenz IH.), 2. 21. 3, 2. 24. 21. Die zunächst sehr weitgehende Stelle 1. 6. 23: " ... iuxta canonicas sanctiones excessus notorius examinatione non indiget" wird verständlich, wenn man unter Angleichung an 2. 21. 3. "examinatio" nicht als "causae cognitio", sondern als Beweis interpretiert, dazu Ghisalberti S. 438. Zur Begriffsverschiebung des Notorischen Hinschius Bd. 5 S. 359 N. 1. 30 Durantis B. 3 Partic. 1 De notoriis criminibus § 1 Scias Nr. 8, § 8 Iam Nr. 3, 6 f. (S. 42, 47), Tancred Tl. 2 Tit. 7 §§ 1, 3 (S. 152, 154), Ghisalberti S. 447 f., zum Begriff des notorium Hostiensis B. 3 Tit. De cohabitione c1ericorum et mulierum § Quid sit notorium Nr. 6 (Sp. 684); die Bedeutung der Thesen für die Praxis zeigt etwa die bei Riedner S. 193 abgedruckte öffentliche Appellation von 1296. Wenn Hinschius Bd. 5 S. 359 m. N. 3 die Beibehaltung der citatio nur aus der Prozeßkonstruktion erklären will, die das notorium als Ausschluß der Beweisbedürftigkeit versteht, wird er dem vollen Gehalt der citatio und ihrer Bedeutung für das Gehör nicht gerecht. 31 Maranta Tl. 6 De citatione Nr. 37 (S. 310), Vantius Tit. 12 Nr. 20 (S. 445), der das notorium auf diesen Fall begrenzt, Altimarus Rubrica 12 Qu. 293 Nr. 37 (S. 587); vgl. auch Thomas von Aquin, Summa 2. 2. Qu. 67 Art. 2, 3. 32 Einzelfälle bei Maranta Tl. 6 De citatione Nr. 14 ff. (S. 307 f.), ihm folgend Gravatius bei Vestrius Anm. B. 6 Kap. 2 Nr. 30 ff., weiter B. 5 Kap. 11 Nr. 4 (BI. 161 ff., 113 v); widersprüchlich Altimarus Rubrica 12 Qu. 271 Nr. 30 und ebd. Nr. 58, Qu. 293 Nr. 47, Qu. 270 Nr. 69 (S. 417, 419, 538, 409); Maranta a.a.O. Nr. 16 (S. 308) und Altimarus Rubrica 12 Qu. 293 Nr. 31 (S. 586) nehmen auch den Fall aus, daß der nicht Geladene obsiegt.

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In dieser Gestalt: mit der Gründung auf das natürliche und göttliche Recht, der Folge unheilbarer Nichtigkeit und dem Einfallstor für eine mißbräuchliche Ausschließung auf dem Wege über das Notorietätsverfahren, hat die Lehre vom Gehör Eingang in das gemeine Recht gefunden. 1126 Das Gehör in der Praxis Der in der Lehre auftretende Zwiespalt zwischen der theoretischen Anerkennung des Gehörs in Form der Notwendigkeit der Zitation und dem Versuch, für bestimmte Fälle dem Verfahrensergebnis den Vorrang gegenüber der Form zu geben, zeigt sich ebenfalls in der kirchlichen Praxis. In der Rechtsprechung der Rota steht fest, daß der Mangel der Zitation zur Nichtigkeit des Urteils führt 33 • Die kuriale Gesetzgebung legt der Zitation besondere Bedeutung bei: gemäß den Konstitutionen Pius IV. von 1561 und 1562 und Pauls V. von 1611 kann ein Prozeß nur bei Mängeln "ex defectu jurisdictionis, citationis vel mandati" an die Signatur gelangen, eine Zusammenstellung, die im italienischen Statutarrecht und in der Lehre wiederkehrt34 • Die praktische Bedeutung des Gehörs zeigt sich vor allem in Prozessen um die Rechtmäßigkeit der Amtsenthebung von Klerikern, denen vorher kein Gehör gewährt war. Gerade daß es immer wieder zu solchen Prozessen kam, beweist, wie nahe die Gefahr des Mißbrauchs lag. Bereits in den Synoden von Ephesus (431) und Chalcedon (451) herrschte übereinstimmung, der Betroffene müsse sich vorher zu der Anklage äußern können35 • Obwohl sich auch die Päpste dazu im Grundsatz bekannten, setzten sie die Regel für Einzelfälle außer Kraft. Gregor VII. leitete daraus im 11. Jahrhundert das Vorrecht her, auch einen Abwesenden seines Amtes entheben zu können 36 • Diese Befugnis war neben dem Problem der Gehorsamspflicht des Klerikers die zentrale Frage der Mainzer Stiftsfehde, als Pius 11. 1461 den Erzbischof Diether von Isenburg ohne vorheriges Verfahren und Gehör absetzte. Die für den Erzbischof sprechenden Rechtsgutachten berufen sich darauf, die Zitation sei wegen der in ihr liegenden "defensio" natürlichen und göttlichen Rechts und beanspruche allgemeine Geltung. Die Ausnahme, daß der Angeklagte keine Verteidigung hätte vorbringen 33 Decisiones 29 Nr. 4 (1604), 81 (1584), 185 Nr. 1 (1594), 310 Nr. 1 (1601) bei Farinacius S. 12, 36, 100, 183. 34 Große-Wietfeld S. 221 N. 4, 222 m. N. 3; vgl. die Statuten von Gubbio aus dem Jahre 1624 (bei Kohler S. 134), aus der Lehre Vantius Tit. 14 Nr. 125 (S. 678) und Ridolphinus Tl. 1 Kap. 13 Nr. 348 (S. 150); zum geltenden kanonischen Recht s. u. S. 101. 35 Verhandlungen bei Mansi Bd. 4 Sp. 1326 f., Bd. 7 Sp. 206, 267. 36 Dictatus Papae Nr. 5, Hofmann, Dictatus Papae S. 135, 137 m. N. 12, 14; zur Praxis der Kurie Hinschius Bd. 5 S. 359 N. 4, 5.

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können und demnach ohne Ladung hätte verurteilt werden dürfen, sei nicht gegeben37 • Die Gegenseite versucht, bereits den naturrechtlichen Ansatz durch den Hinweis auf die allgemein anerkannten Einschränkungen zu Fall zu bringen, die eine universale und daher naturrechtliche Geltung ausschlössen38• Dabei handelt es sich jedoch um eine reine Zweckargumentation, die den Sinn der naturrechtlichen Begründung bewußt mißversteht. Die rechtliche Argumentation des Papstes, der seine Maßnahmen 1462 in einer Denkschrift zu rechtfertigen sucht, belegt anschaulich, wie das Verfahren mit Hilfe des Notorietätsbegriffs aller Garantien für den Betroffenen entkleidet werden soll: Wenn der allein der Wahrheit verpflichtete Papst die Gewalt hat zu entscheiden, ob der Angeklagte etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen vermochte und Prozeßformen hintansetzen kann, wenn die Wahrheit bereits offenbar ist39 , verkörpert das in reiner Form den Machtanspruch des Inquirenten im Inquisitionsverfahren, dem es unter Mißachtung der Form ausschließlich auf das vermeintlich höherrangige Ergebnis des Verfahrens ankommt.

12 Die deutschrechtliche Tradition Bevor auf die Rezeption des römisch-kanonischen Prozesses einzugehen, ist, soll die deutschrechtliche Tradition des Gehörs dargestellt werden. Die anfängliche Entwicklung des deutschen Rechts, dessen Inhalt nur durch Rückschlüsse gewonnen werden könnte, scheidet dabei aus der Betrachtung aus. Abgesehen von dem Wortformalismus bot das Prinzip der Formalkraft des Urteils zunächst keinen Anlaß, zwischen materiell ungerechten Urteilen und solchen zu unterscheiden, die wegen Verstößen im vorangegangenen Verfahren eine Vollstreckung hinderten. Den einzigen Ansatz für das Gehör als allgemeine Regel bildet vorerst die Konzeption des Verfahrens als Anklageprozeß: die notwendige Mitwirkung des Beklagten sichert diesem auch die Gelegenheit, zu Wort zu kommen. Erst die im Mittelalter beginnenden Rechtsaufzeichnungen und die Rechtsfindung der Schöppenstühle aus dieser Zeit erlauben im einzelnen belegbare Aussagen über die Geltung des Gehörs im deutschrechtlichen Verfahren. 37 Gutachten Humerys (bei Erler S. 35, 37 f., 39, 41 f.), des Mainzer Anonymus (ebd. S. 67) und Franz' von Toledo (ebd. S. 88, 90 f., 94; seine Stellungnahme zur Notwendigkeit der Ladung beim notorium ist entgegen Erler S. 20 widersprüchlich, wie ein Vergleich der Stelle auf S. 93 mit denen auf S. 101 und 115 zeigt). 38 Gutachten Johanns von Bachenstein (bei Erler S. 161, 224 f.); damit wird entgegen Erler S. 143 der auch naturrechtlich begründete Ausgangspunkt, das Gehör sei erforderlich (vgl. Gutachten bei Erler S. 153 oben), hinfällig. 39 Text bei Erler Anh. S. 298 f.; die politischen Erwägungen sind angesprochen auf S. 299. Auch die Argumentation aus der Bibel operiert damit, der Bestrafung von Aufruhr und allgemeiner Verderbnis sei keine Zitation vorhergegangen (S. 303, vgl. 1. Mose 6, 6 f., 2. Mose 32, 29, 4. Mose 17, 6).

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121 Die Bedeutung der Formel des Sachsenspiegels Auch der Sachsenspiegel steht in der Tradition des aus dem Anklageprinzip abgeleiteten beiderseitigen Gehörs. In sachlicher Übereinstimmung mit der kanonistischen Lehre vom "officium iudicis"4o deuten die einschlägigen Bestimmungen im Land- und Lehnrecht, der Richter solle das Urteil zwischen Rede und Gegenrede erfragen4 !, mehr auf die erstrebte Unparteilichkeit der Rechtsfindung als auf eine selbständige Befugnis der Parteien, zu Worte zu kommen 42 . Die Formel des Sachsenspiegels und ihre Zielsetzung, durch das beiderseitige Gehör ein gerechtes Urteil zu ermöglichen, kehren in der zur Hamburger Stadtrechtsfamilie gehörenden Rechten 43 und weiteren Aufzeichnungen namentlich des 14. Jahrhunderts wieder". Der systematische Zusammenhang der Bestimmungen weist deutlich auf die Unparteilichkeit, wenn meistens der unmittelbar folgende Rechtssatz den Richter verpflichtet, nicht einer Partei mehr zu ihrem Recht zu verhelfen als der anderen. Der Beleg aus dem Sachsenspiegel darf daher nicht überinterpretiert und nicht als die s. oben S. 16 f. Landrecht B. 1 Art. 62 § 7 (bei Eckhardt S. 118), Lehnrecht Art. 67 § 7 (bei Eckhardt S. 94), übereinstimmend mit der lateinischen Urform II/43 b (bei Eckhardt, Auctor vetus S. 80); die Glosse Art. 10 (bei A. v. Daniels und Fr. v. Gruben, Das sächsische Weichbildrecht [Rechtsdenkmäler des deutschen Mittelalters Tl. 1], Bd. 1 Berlin 1858, Sp. 232) ist unergiebig. Zur Formulierung vgl. schon Lex Salica Art. 92 § 1 (bei Eckhardt, Lex Saliea [MGH Leges Sekt. 1 Bd. 4 Tl. 2], Hannover 1969, S. 160): " ... eum [raeemburgiae] causas inter duus discusserint" . 42 Der Gedanke, jede Rede berechtige zur Gegenrede, begegnet selbständig z. B. in der Rezension des Iglauer Stadtrechts aus dem 14. Jh. (bei Tomaschek S. 357), ähnlich, für einen Einzelfall, im Landrecht des Königs Magnus Hakonarson aus dem 13. Jh. 1. 9. 2 (bei Rudolf Meißner, Landrecht des Königs Magnus Hakonarson, Weimar 1941, S. 29); das beiderseitige Gehör erscheint z. B. ausdrücklich im Kemptener Stadtbuch (1358) S. 6 (bei Peter Beck, Das Stadtbuch der Stadt Kempten von 1358, Diss. Kiel 1973, Anh. S. VI f.). 43 Hamburger Stadtrechte von 1270 St. 9 Art. 25 S. 1, 1292 St. 2 Art. 1 Abs. 1 S. 1, 1497 St. 2 Art. 2Abs. 1 (bei J. M. Lappenberg, Die ältesten Stadt-, Schiffund Landrechte Hamburgs, Hamburg 1845, S. 59, 102, 194), Stade (1279) St. 6 Art. 22 (bei Gustav Korl!~n, Norddeutsche Stadtrechte, Das Stader Stadtrecht vom Jahre 1279, Lund/Kopenhagen 1950, S. 94), Bremer Stadtrechte von 1303/08 B. 4 Art. 101, 1428 B. 4 Art. 2, 1433 B. 4 Art. 29 (bei Eckhardt, Die mittelalterlichen Rechtsquellen der Stadt Bremen, Bremen 1931, S. 103, 172, 232), Buxtehude (1328) (dazu Lappenberg a.a.O. Einl. S. LXXIX), Rigaer Statuten (13. Jh.) Art. 127 S. 1 (bei Friedrich Esaias von Pufendorf, Observationes Bd. 3 Appendix Nr. 4 S. 264). 44 Magdeburg-Breslauer Schöffenrecht B. 2 Tl. 1 Kap. 17 (bei Laband S. 18, zur Herkunft Einl. S. XXXIV), Goslarer Bergrecht Art. 1 (bei Karl Frölich, Goslarer Bergrechtsquellen des früheren Mittelalters, Gießen 1953, S. 39), Livländischer Sachsenspiegel, sämtlich aus dem 14. Jh., B. 1 Art. 55 § 1 (übernommen in das mittlere livländische Ritterrecht Kap. 110 und in das Systematische Ritterrecht B. 2 Kap. 35 aus dem 15. Jh.; bei v. Bunge, Rechtsbücher S. 111, Konkordanztafeln II u. IV, Einl. S. 46, 52), angedeutet auch im Prager Rechtsbuch (1310) Nr. 19 (bei Rössler S. 107) und im Ofener Stadtrecht (15. Jh.) Art. 367 (bei Mollay S. 180). 40

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königliche Vorschrift für das Gehör im deutschen Recht angesehen werden. Dies um so weniger, als der nah verwandte Schwabenspiegel die inhaltliche Wendung "zwischen Rede und Gegenrede" zu einer formalen zeitlichen Aufzählung "nach Klage und Antwort" abschwächt 45 •

122 Das beiderseitige Gehör in Urteilsformeln und als richterliche Pflicht Auch in der Praxis hat sich nur die abgeschwächte zeitliche Form durchgesetzt. In den Urteilsformeln und Schöffensprüchen des 14. bis 16. Jahrhunderts spielt die Ausdrucksweise des Sachsenspiegels kaum mehr eine Rolle46 • Die Gesetzgebung, namentlich des 16. Jahrhunderts47 , und die Lehre48 verwenden ebenfalls nur den Gedanken, der Urteils45 § 119 b (bei Lassberg S. 209); zu weitgehend daher Planck, Lehrb. S. 245 und Das Deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter, Bd. 1 Braunschweig 1879, S. 250. Das auf dem Sachsenspiegel aufbauende Görlitzer Rechtsbuch aus dem 14. Jh. übernimmt nur den Gedanken, bei Nichtübereinstimmung der bei den Parteierklärungen werde das Recht erfragt (1I/43, bei Eckhardt, Auctor vetus

S.81).

46 Beispielhaft Iglauer Urteile aus dem 14. Jh. (bei Tomaschek etwa Nr. 130, 245,247,329,338, lateinisch Nr. 287, 297), bayerische Gerichtsbriefe (bei Andreas

Buchner, Das öffentliche Gerichtsverfahren in bürgerlichen und peinlichen Rechtsvorfallenheiten, Erlangen 1825, Anh. Nr. 335 u. 378) und Leipziger Schöffen sprüche (bei Kisch Nr. 402 u. 404) aus dem 15. Jh., Lübecker Ratsurteile (bei Wilhelm Ebel, Lübecker Ratsurteile, Bd. 4 Göttingen/Berlin/Frankfurt 1967, Nr. 252, 254, 521) und Urteile des pfälzischen Hofgerichts um 1500 (bei Klaus Bender, Die Hofgerichtsordnung Kurfürst Philipps [1476 - 15081 für die Pfalzgrafschaft bei Rhein, Diss. Mainz 1967, S. 49), GO des Landgerichts Hirschberg (1518) § 37 (bei Heinrich Otto Müller, Das "kaiserliche Landgericht der ehemaligen Grafschaft Hirschberg" [Deutschrechtliche Beiträge Bd. 7 H. 31, Heidelberg 1911, S. 355; vgl. weiter die Landrichterbriefe von 1448 auf S. 268), Urteile des Niedergerichts Detwang aus dem 16. Jh. (bei Rudolf Kraemer, Das Niedergericht Detwang, Diss. Würzburg 1972, S. 164). An den Sachsenspiegel erinnern dagegen der Bericht über die Vorinstanz des Oberhofes Iglau (bei Tomaschek Nr. 263 S. 162), ein Lübecker Ratsurteil von 1505 (bei Ebel a.a.O., Bd. 2 1956, Nr. 208) und Urteils formeln des Frankfurter Oberhofes aus dem 16. Jh. (bei Helmut Mertz, Der Frankfurter Oberhof, Diss. Frankfurt 1954, Anh. Nr. 20 u. 23). 47 UGO Trier (1539) BI. 27 u. 43 v, Hamburger Stadtrecht (1603) Tl. 1 Tit. 35 Art. 1 (Der Stadt Hamburgk Gerichtsordnung vnd Statuta, Hamburg 1605, S. 115), Schwäbisch-Wörther Reformation aus dem 16. Jh. (bei Max Mayer, Das Zivilprozeßrecht der Reichsstadt Schwäbisch-Wörth (Donauwörth) im 16. Jh., Diss. Erlangen 1914, S. 95), UGO Zweibrücken (1657) Art. 60 u. 77. Von beiderseitigem Vorbringen sprechen der Rechtssatz Nr. 34 zum Münchener Stadtrecht aus dem 13./14. Jh. (bei Franz Auer, Das Stadtrecht von München, München 1840, S. 277), das Dithmarscher Landrecht (1567) Art. 4 § 2 (Dithmarsisches Land-Recht, Glückstadt 1667, S. 9), das Solmser Landrecht (1571) Tl. 1 Tit. 39, das Nordstrander Landrecht (1572) Tl. 1 Art. 6 (bei Kurt Boysen, Das Nordstrander Landrecht von 1572 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins Bd. 54), Neumünster 1967, S. 138) und die UGO Sponheim (1578) Art. 60. 48 Tengler Tl. 2 Tit. Forma der urtailen, Termineus Kap. 227 Nr. 2 (S. 664), weiter das Formulare procuratorum des livländischen Prokurators Dionysius

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fällung müßten Klage und Antwort vorangehen. Wenn dem Richter zur Pflicht gemacht wird, das Vorbringen der Parteien anzuhören, gilt das immer für beide Seiten49 • Die Pflicht zur Gewährung beiderseitigen Gehörs als Bestandteil des Richtereides50 leitet über zu einer Interpretation als Bedingung einer geordneten staatlichen Rechtspflege, wie in Lauterbecks Regentenbuch (1561)51 und im Politischen Testament des Großen Kurfürsten (1667)52. Im Zuge dieser Auffassung verblaßt der Charakter des Gehörs als eines Rechts des vom Prozeß Betroffenen zugunsten eines Gebots politischer Klugheit und Zweckmäßigkeit. 123 Das Gehör im Handhaftverfahren und den daraus abgeleiteten Verfahren

Das Handhaftverfahren gegen den bei der Tat beobachteten oder gestellten Täter betrifft, in einer gewissen Parallele zum Notorietätsverfahren des kanonischen Rechts, die Stellung des Gehörs als Prinzip. Der unmittelbare Eindruck, den die Ergreifung des Täters auf frischer Tat und die Tatspuren verschaffen, führt zur unwiderleglichen überzeugung von der Schuld. Das Recht gestattet die Tötung ursprünglich als Fall der erlaubten Selbsthilfe, später, wenn sich eine allgemeine Friedensordnung durchzusetzen beginnt, als bloße Strafvollstreckung an einem durch die Tat friedlos Gewordenen 53 • Daß es um das Gehör als Fabri (1533) B. 1 Art. 8, B. 2 Art. 14 (bei Bunge, Rechtsbücher S. 190, 218), zur Bedeutung der Ladung B. 1 Art. 24 (ebd. S. 194). 49 Bayerische Landgebote von 1489 und 1491 (bei M. v. Freyberg, über das altdeutsche öffentliche Gerichts-Verfahren, Landshut 1824, S. 230, 256), UGO Sponheim (1578) Art. 2, Eigen-Landrecht der Siebenbürger Sachsen (1583) B. 1 Tit. 1 § 8 (S. 5), Revidierte Rigaische Statuten (1673) B. 2 Kap. 1 § 5 (bei Schwartz S. 771), Hessische UGO (1732) B. 1 Tit. 6 § 37 und Sportelnordnung von 1656 (bei Kopp S. 42, 43 N. 0); Tengler Tl. 1 Tit. Von tuglichait der Richter, Termineus Kap. 1 Nr. 4 (S. 4), Emerich von Rosbach, Praxis civilis Tit. 4 Nr. 34 (S. 43); deutlich Der Kayserlichen Freyen und des Heiligen Römischen Reichs-Stadt Lübeck Statuta, Stadt-Recht, und Ordnungen, Lübeck 1728, B. 5 Tit. 1 Art. 1: "Wo Recht gehalten, Klag und Antwort gehöret wird, da sollen sich die Richter unpartheylich erzeigen" (S. 141). 50 GO des Domkapitels Augsburg (1539) Art. 2, Nesselwanger Marktbuch von 1584 (bei Alfred Wolff, Gerichtsverfassung und Prozess im Hochstift Augsburg in der Rezeptionszeit, in: Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg Bd.4 [1912 -1915] S. 329, 227), Eid des Landrichters der Baar aus dem 17. Jh. (bei Gert Leiber, Das Landgericht der Baar [Veröffentlichungen aus dem Fürstlich Fürstenbergischen Archiv H. 18], Allensbach 1964, S. 433), RHRO (1654) Tit. 1 § 15 (bei Fr. K. Moser S. 299), UGO Zweibrücken (1657) Art. 2 (S. 3), Ulmer GO (1683) Tit. 3 Anh. (S. 7). 51 B. 5 Kap. 3 (BI. 307 v) mit Beispielen aus der Historie; aus Gen. 3, 9 wird dagegen folgerichtig das Prinzip abgeleitet, niemanden ungehört zu verurteilen. 52 Text bei Eb. Schmidt, Kammergericht und Rechtsstaat, Berlin 1968, S. 18.

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Grundsatz geht, zeigen fränkische Kapitularien54 aus der Zeit um 600, die bei einer nicht handhaften Tat vorheriges Gehör des Täters fordern 55 • Als das Tötungsrecht durch die Befugnis abgelöst war, den auf frischer Tat Ergriffenen gebunden vor Gericht zu bringen, war ihm nach den Volksrechten und dem Sachsenspiegel die Verteidigung durch die Versagung des Reinigungseides abgeschnitten, wenn der Kläger mit 7 oder 11 Eideshelfern die Handhaftigkei t beweisen konnte 56 • Dieses Verfahren wurde fortgebildet in der Übersiebnung der "schädlichen Leute" im Mittelalter. Als sich das Bedürfnis herausstellte, herumziehende Berufsverbrecher und Vagabunden, die sich den beschränkten territorialen Gewalten leicht entziehen konnten, irgendwie "unschädlich" zu machen, ließ man statt des förmlichen überführungsbeweises einen formlosen Schädlichkeitsbeweis genügen. Bei diesem Richten auf Leumund handelt es sich um ein eigentliches Abwesenheitsverfahren: wenn 7 Zeugen57 übereinstimmend die Schädlichkeit bekundeten, war die Bescholtenheit in Abwesenheit festgestellt und der Reinigungseid ausgeschlossen58• Charakteristisch in all diesen Fällen ist der Ausschluß des 53 So noch § 16 der um 1065 entstandenen Jura Teutonicorum im suburbio pragensi (bei Rössler S. 189) und das gebietsweise bis 1900 geltende Jütische Low (1241) B. 2 Art. 87 S. 1 (bei Klaus von See, Das jütische Recht, Weimar 1960, S. 104). Zur Selbsthilfe in der Frühzeit Heinz Wulff, Notwehr, Friedlosigkeit und handhafte Tat in den Rechtsquellen des Mittelalters, Diss. Münster 1951, S. 61 und Werkmüller in HRG Lfrg. 8 (1971) Sp. 1966 f. 54 Die von Benedictus Levita im 9. Jh. herausgegebenen "Kapitularien" (B. 5 - 7 der Capitularium Karoli Magni et Ludovici Pii libri VII, bei Stephan Baluz, Capitularia Regum Franeorum, 2. Aufl. hrsg. v. Petrus de Chiniac, Bd. 1 Paris 1780, Sp. 700 ff.), nach denen ein in Abwesenheit gefälltes Urteil nichtig ist, sind bloße Kompilationen aus dem kanonischen Recht (so entsprechen B. 6 cap. 363 u. B. 7 cap. 219, ähnlich B. 5 cap. 311 u. B. 7 cap. 204 [Sp. 984 f., 1071, 888, 1068] dem Dekr. Grat. C. 3 Qu. 9 c. 2, s. dazu oben S. 18 N. 19); vgl. Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen, Abt. 1 Leipzig 1860, S. 235, 239. 55 Chlotachar II. Praeceptio (584 - 628) Kap. 3 u. Edictum (614) Kap. 22 (Text in MGH, Leges Sekt. 2, Capitularia Regum Francorum Bd. 1, hrsg. v. Boretius, Hannover 1883, S. 18, 23). 56 Werkmüller in HRG Lfrg. 8 Sp. 1969; vgl. Sachsenspiegel Landrecht B. 1 Art. 15 § 2 (bei Eckhardt S. 82), Königsfrieden Heinrichs VII. für Sachsen (1223) Art. 19, Hallischer Schöffenbrief für Neumarkt (1235) Art. 9 (bei Kroeschell Tl. 1 S. 290, 259). 57 Ursprünglich 6 Eideshelfer und der Kläger (als 7.). 58 Angewandt z. B. im Brandstifterbrief Friedrichs I. (1186) Art. 13 (bei Kar! Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2. Aufl. Tübingen 1913, S. 26) und im Tübinger Stadtrecht von 1388 (bei Reinhold Rau und Jürgen Sydow, Die Tübinger Stadtrechte von 1388 und 1493, Tübingen 1964, S. 3); Werkmüller in HRG Lfrg. 8 Sp. 1972, Otto von Zallinger, Das Verfahren gegen die landschädlichen Leute in Süddeutschland, Innsbruck 1895, S. 25, 30, 59, 69, 126, 156, zum Leumundsverfahren S. 211 ff., 219, zur Entwicklung Vargha S. 128 f., Kroeschell Tl. 2 S. 207 f., Eb. Schmidt, Einf. S. 83. Die Novae Constitutiones Friedrichs II. (1231) B. 1 Tit. 53 wollen das Gehör in diesen Fällen nicht ganz ausschließen (Text bei Jean-Louis-Alphonse Huillard-Breholles und H. de Albertis de

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Gegenbeweises; die im deutschen Notorietätsverfahren liegende Beschränkung des Gehörs bezieht sich nur auf das Beweisverfahren, während der kanonistische Begriff früher ansetzt und eine gar nicht beweisbedürftige Tat annimmt 59 • Eine besondere Ausprägung hat das Verfahren auf handhafte Tat bei den westfälischen Vemgerichten gefunden. Ihre Zuständigkeit erstreckte sich ursprünglich auf die typisch handhaften Taten, verlagerte sich jedoch bis zur Zeit ihrer größten Wirksamkeit um 1440 immer mehr auf Zivilklagen60 , da sie mit ihren über das ganze Reich verteilten Schöffen oft als einzige die Macht hatten, einem Kläger zu seinem Recht zu verhelfen. Wenn drei - als Freischöffen bezeichnete - Mitglieder der Veme zusammen waren, konnten sie einen auf frischer Tat Ergriffenen sofort hängen und das Urteil an einem in heimlicher Acht Verfemten unmittelbar vollstrecken61 • Die noch im 19. Jahrhundert herrschende romantisierende Auffassung, welche den Gerichten ein durch die Heimlichkeit gedecktes Greuelverfahren unterstellte62 , ist heute überwunden. Aber auch die Kritik der gelehrten Zeitgenossen, die das jede Verteidigung ausschließende Vollstreckungsverfahren der Freischöffen als barbarisch und als einen VerLuynes, Historia diplomatica Friderici Secundi, Bd. 4 Tl. 1 Paris 1854, S. 194), zu Einschränkungen der Verteidigung bei Majestätsverbrechen in der sizilischen Praxis des 12. u. 13. Jhs. s. dagegen Christoph Ulrich Schminck, Crimen laesae maiestatis (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N. F. Bd. 14), Aalen 1970, S. 60, 105. 59 Loening, Der Reinigungseid bei Ungerichtsklagen im Deutschen Mittelalter, in: Festgabe für J. G. Bluntschli, Heidelberg 1880, S. 240, Erler S. 21, Eb. Schmidt, Einf. S. 40, zum kanonistischen Begriff Nörr S.43, s. oben S. 19 f. Aus den Quellen wird das nicht immer deutlich, so wenn nach dem Prager Statutarrecht (1331) Nr. 34 (bei Rössler S. 25) die übersiebnung eines Mörders dazu führt, daß "er sich des enschuldigen muge oder geweren muge mit cheinem recht" oder wenn böhmische Urkunden von 1213 den Handhafttäter dem unterlegenen Angeklagten gleichstellen (bei Hans Hirsch, Die hohe Gerichtsbarkeit im deutschen Mittelalter, 2. Aufl. Graz/Köln 1958, S. 106 N. 2). 60 Ruprechtsche Fragen (von König Ruprecht 1408 mehreren Freigrafen vorgelegte Fragen) § 31 Nota, Wertheimer Handschrift (15. Jh.), Dortmunder Kapitel (1430), Arnsberger Reformation von 1437 (bei Lindner S. 220, 287, 473, weiter S. 534, 537, 562); Veit S. 11. Mit den außerhalb Westfalens vorkommenden, als Vem- oder Femgerichten bezeichneten Landfriedensgerichten besteht kein Zusammenhang (vgl. Gerhard Francke, Das Ober lau sitz er Femgericht, Diss. Leipzig 1937, S. 43 m. N. 6). 61 Ruprechtsche Fragen §§ 29 b - 30, Responsio, Wertheimer Handschrift (bei Lindner S. 220, 287), Verfemungsbrief von 1459 (bei Usener Nr. 59 S. 207); zur "Heimlichkeit" nicht im Sinne eines Verfahrensprinzips Wigand S. 321 f. 62 V gl. Meister (1764) HSt. 1 § 15 (S. 19); die Auffassung einer besonderen "Heimlichkeit" ist noch bei C. Ph. Kopp, Verfassung (1794) ungebrochen (vgl. S. 211). Sie wird auch durch die Dichtung weitergetragen, vgl. in Goethes 1773 entstandenem Götz von Berlichingen die bezeichnende Beschreibung der Szene im 5. Akt "In einem finstern engen Gewölbe. Die Richter des heimlichen Gerichts"; noch Kleist verwendet 1807/08 in der Gerichtssitzung der Veme im Käthchen von Heilbronn (1. Akt 1. Auftritt) die traditionellen Attribute.

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stoß gegen göttliches und natürliches Recht brandmarkten63 , ist nur insoweit berechtigt, als sie Mißbräuchen des überlieferten Handhaftverfahrens galt. Sie konnten sich daraus ergeben, daß nicht nur der ferngebliebene Beklagte übersiebnet wurde, sondern das Zeugnis der Freischöffen auch dann für eine Verfemung genügte, wenn sich der auf frischer Tat Ergriffene der sofortigen Vollstreckung entziehen konnte und dies durch das bloße übereinstimmende Zeugnis festgestellt wurde 64 • Die zunehmenden Klagen über Willkür und Ungerechtigkeit veranlaßten die Freistühle 1437 zur Arnsberger Reformation. Sie verpflichtete die Freigrafen ausdrücklich, auch einen Unwissenden, d. h. Nicht-Freischöffen, vor Gericht zu laden 65 • Ob ein solches Verfahren und damit das Gehör auch schon vorher rechtlich geboten war, ist nach den Quellen zweifelhaft. Vermutlich vor der Arnsberger Reformation ist eine Bestimmung entstanden, die die Vorladung eines Unwissenden im Gegensatz zu der eines Freischöffen für nicht notwendig häW 6 • Auf der anderen Seite ist auch für die Zeit vor 1437 die Ladung Unwissender nachweisbar 67 • Die fragliche Bestimmung steht vermutlich für einen zeitweiligen Mißbrauch, der durch die Arnsberger Reformation beseitigt wurde 68 • 63 So der Inquisitor Johann Klenkok im 14. Jh. (bei Lindner S. 602), der Theologe Johann von Frankfurt in dem "Contra scabinos occulti judicii, Feymeros appellatos, tractatus" aus dem 15. Jh. (bei Goebel S. 118), der Verfasser der "Informatio ex Speculo Saxonum" im 15. Jh. (bei Homeyer S. 649), Aeneas Sylvius (bei Fleischer S. 475 N. r zu § 5; anders sein Verhalten als Papst in der Mainzer Stiftsfehde, s. oben s. 21 !), der Theologe Heinrich von Seldenhorn (bei Simon Friedrich Hahn S. 659); gegen die "Barbari Judices" noch Johann Philipp Datt, Volumen rerum Germanicarum novum sive de pace imperii publica libri V, Ulm 1698, B. 4 Kap. 2 Nr. 147 (S. 738), der auch Goethe (vgl. die vorige Note) beeinfiußte. 64 Wächter S. 208, 225 f. 65 Simon Friedrich Hahn S. 629; die Ladung von Schöffen bestimmten schon ausdrücklich die Ruprechtschen Fragen § 22 b, Responsio (bei Lindner S. 217 f.). 66 Der Anhang beginnt mit § 34 der bei Heinrich Christi an Freiherr von Senckenberg, Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Frankfurt 1747, Tl. 1 S. 109 abgedruckten Ruprechtschen Fragen; dazu Lindner

S.261. 67

Ausdrücklich ein Ladungsbrief an sämtliche Einwohner Frankfurts von

1410 (bei Usener Nr. 38 S. 170), inzident aus der Ungültigkeits erklärung einer Ladung von 1413 (ebd. Nr. 21 S. 147), in dieselbe Richtung deutet ein Urteil des Soester Freistuhls von 1435 (bei Nikolaus Kindlinger, Münsterische Beiträge

zur Geschichte Deutschlandes hauptsächlich Westfalens, Bd. 3 Abt. 2 Münster 1793, Nr. 200 Lit. B S. 584); Hahn S. 647, Homeyer S. 650, Wächter S. 165 ff., anders Wigand S. 319, 322. Allgemein gehen von einer Ladung aus David Chytraeus (16. Jh., bei C. Ph. Kopp, Verfassung S. 53), Heinrich Turk, Fasti Carolini (in: Johann Georg Leuckfeld, Rerum Germanicarum tres selecti scriptores, Frankfurt 1707, S. 25 unter VI), Senckenberg, Epistola de Judiciis Westphalicis Kap. 17 § 1 (bei Goebel S. 152). Fleischers Lösungsversuch (§ 42 S. 501; seine Autorschaft folgt aus dem Bezug auf den Praeses, vgl. N. g zu § 32 S. 493), nur bei Delikten mit geringeren Strafen sei keine Ladung nötig gewesen, läßt sich nicht belegen; die Unterteilung in ein akkusatorisches Verfahren mit Ladung und ein inquisitorisches ohne (C. Ph. Kopp, Verfassung S. 203, 211, 214) ist nicht haltbar.

13 Das beiderseitige Gehör in Rechtsregeln und Sprichwörtern

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Damit ist nur belegt, wie die Aufweichung des ursprünglich streng begrenzten Handhaftverfahrens in Willkür ausartete, ohne daß sich für die grundsätzliche Gestaltung des Verfahrens Besonderheiten ergeben hätten. Für die Folgezeit ist die Notwendigkeit der Ladung allgemein anerkannt und die Einhaltung der vorgeschriebenen Form dadurch gesichert, daß sonst das Urteil aufgehoben werden kann69 • 13 Das beiderseitige Gehör in Rechtsregeln und Sprichwörtern Wie fest der Grundsatz des Gehörs im Rechtsbewußtsein verankert ist, zeigen zahlreiche, namentlich in den Sammlungen des 16. Jahrhunderts lateinisch und deutsch überlieferte Sprichwörter. Immer geht es um das beiderseitige Gehör als Bedingung einer gerechten Entscheidung70 • Am gängigsten ist die lateinische Form "Audiatur et altera pars" geworden. Sie wird in der juristischen Theorie wohl zuerst bei Abraham Saur im 16. Jahrhundert verwendeFl, obwohl selbst kein eigentlicher Satz der Rechtslehre, sondern eine eingelebte Rechtsregel und in der Formulierung möglicherweise in Anlehnung an Augustins Satz entstanden: "Audi partem alteram72 ." 68 Homeyer S. 649; ein Beispiel für die Ladung Unwissender nach 1437, aus dem Jahre 1474, bei Usener Nr. 34 S. 165. 6G z. B. 1459 zu Gunsten der Stadt Basel (bei Carl Wilhelm Scherer, Die westfälischen Femgerichte und die Eidgenossenschaft, Aarau 1941, S. 38). Die Nichtigkeitsklage war nur dann das geeignete Mittel, wenn sich das neue Verfahren nach Reichsrecht richtete (vg!. Veit S. 107 f., 110), zu allgemein Senckenberg, Epistola Kap. 18 § 2 (bei Goebel S. 159), C. Ph. Kopp, Verfassung S. 254, Scherer a.a.O. S. 49; über die Verletzung des Gehörs beschwerte sich z. B. auch die Stadt Danzig in einem Vemgerichtsprozeß von 1450 (bei Johannes Voigt, Die Westphälischen Femgerichte in Beziehung auf Preussen, Königsberg 1836, S.124). 70 Sprichwörtliche Ausprägungen des Gehörs allgemein, wie in der Form "Wer nicht rechtmäßig gehört ist, wird nicht rechtmäßig verdammt" (Körte S. 488 Nr. 6786, Karl Simrock, Die deutschen Sprichwörter, Frankfurt 1846, Nr. 4945) sind vereinzelt geblieben. Gewohnheitsrechtlich verwurzelt erscheint das Gehör bereits 1521 bei Ulrich von Hutten: "So hindert ungedult, / Daß man mich nit / Nach altem sit / Zu ghör hat kummen laßen" (Ain new lied herr Vlrichs von Hutten, in: Deutsche Dichtungen, hrsg. v. Balke [Deutsche National-Litteratur, hrsg. v. Kürschner, Bd. 17 Abt. 2], Stuttgart o. J. [um 1890], S. 269 f.). 71 Peinlicher Processz, Ausg. Frankfurt 1580, Praeparatio ad processum (S. 1), dann auch 1613 bei Johann Emerich von Rosbach, Practica Criminalis, 1. Auf!., Tit. 1 Kap. 3 Nr. 2 (S. 36). 72 Augustin, De duabus animabus contra Manichaeos liber unus Kap. 14 Sekt. 22 (in: Patrologiae cursus completus, hrsg. v. Migne, Bd. 42 Paris 1845, Sp. 110), Büchmann S. 588, sinngemäße lateinische Entsprechungen bei Walther Tl. 2 Nr. 13150, Tl. 3 Nr. 16026a, 17787, Tl. 4 Nr. 24779, Tl. 5 Nr. 29962b; Schultz in MDR 1959 S. 175 nimmt ohne Begründung eine Herleitung aus der Formulierung bei Seneca (dazu oben S. 14 N. 6) an. Auch im englischen und französisischen Recht ist die Wendung "audi partem alteram" üblich, vgl. Marshall S. 5, Letourneur S. 400 ff.

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Von den zahlreichen deutschen Entsprechungen, die nicht nur als übernahme lateinischer Vorbilder, sondern auch als Beleg für die eigene Tradition anzusehen sind, ist der Satz am bekanntesten geworden: "Eines Mannes Rede ist eine halbe Rede, man soll die Part verhören beede 73 ." Wenn man diesen Gedanken in die Form faßt, die Rede eines Mannes genüge nicht, läßt er auch eine Deutung im Sinne der legalen Beweistheorie zu, derzufolge erst aus zweier Zeugen Mund die Wahrheit kund wird. Sie findet sich jedoch kaum für das deutsche Recht7 4 • Die hier geltende Interpretation im Sinne des beiderseitigen Gehörs tendiert zu seiner bloß mittelbaren Bedeutung im Prozeß der Sachverhaltsermittlung. Die plastische Ausprägung in der Form, ein Richter müsse zwei gleiche Ohren haben75 , zeigt, daß im Rechtsbewußtsein nicht das Gehör als Recht des einzelnen, sondern als Voraussetzung einer unparteiischen, nicht übereilten und damit gerechten Entscheidung lebendig geblieben ist7 6 • Dasselbe gilt bei übernahme der Regel in die Gesetzgebung 77 • 73 Franck BI. 190 v, ebenso 1585 Michael Neander (bei Friedrich Latendorf, Michael Neanders deutsche Sprichwörter, Schwerin 1864, S. 9), Johann Sartor, Adagiorum chiliades tres, Leiden 1656, Chilias 3 Cent. 2 Nr. 28 (S. 524) nennt als lateinische Entsprechung auch "Alteram partem audite". Weitere Formen bei Julius Hubert Hillebrand, Deutsche Rechtssprichwörter, Zürich 1858, Nr. 313, 323, 358, Wander Bd. 2 Sp. 779 Nr. 70, Bd. 3 Sp. 406 Nr. 996, 997, Sp. 407 Nr. 1013, Sp. 1185 Nr. 6, Sp. 1673 Nr. 57, Graf und Dietherr Nr. 267 - 270. Nachweise über die Verwendung als Inschrift bei Ursula Lederle, Gerechtigkeitsdarstellungen in deutschen und niederländischen Rathäusern, Diss. Heidelberg 1937, S. 78, für England Vargha S. 286 N. 1 a. E. VgI. auch die Darstellung der Gerechtigkeit bei Johann Amos Comenius, Orbis sensualium pictus, 2. Auf!. Nürnberg 1659, in: Opera omnia, hrsg. v. Jaromir Cervenka, Bd. 17 Prag 1970, S. 53 ff. (217). 74 Nachweise in dieser Bedeutung bei Pistorius Cent. 8 Nr. 70 (S. 768) und Albrecht Foth, Gelehrtes römisch-kanonisches Recht in deutschen Rechtssprichwörtern, Diss. Tübingen 1971, S. 147; zur Abgrenzung vom beiderseitigen Gehör Johann Friedrich Eisenhart, Grundsätze der deutschen Rechte in Sprüchwörtern, hrsg. v. Ernst Ludwig August Eisenhart, Leipzig 1792, S. 515. Im Sinne der legalen Beweistheorie deuten Jan Eric Almquist, Domareregler fran den yngre landslagens tid, 2. Auf!. Uppsala/Stockholm 1951, S. 27 N. fund Gerhard Schmidt, Die Richterregeln des Olavus Petri, Göttingen 1966, S. 263 f. die Regel 16 Nr. 8 "Effter ens mandz taal skaI ingen dömas", während Ake Hassler, Den nya rättegangsbalken, Tl. 1 Lund 1947, S. 31 die Stelle als Ausdruck des kontradiktorischen Prinzips und des "Audiatur et altera pars" in Anspruch nimmt; ebenso für das geltende finnische Recht Tauno Ellilä, Die wichtigsten Grundlagen des finnischen Zivilprozess rechts (Annales Academic:e Scientiarum Fennicc:e Sero B Bd. 169,2), Helsinki 1971, S. 13 m. N. l. 75 Körte S. 365 Nr. 5070, Wander Bd. 3 Sp. 1673 Nr. 54. Graf und Dietherr S. 435 stellen zutreffend auf das formale Prinzip der Gleichheit der Parteirechte ab. 76 VgI. Agricola Nr. 198 (BI. 76; der Hinweis auf den Satz des kaiserlichen Rechts "Defensio est de iure naturali" wirkt nur angehängt), Franck BI. 191, Christoph Lehman, Florilegium Politicum, o. O. 1630, Nr. 29 unter "Antwort" (S. 36), Pistorius Cent. 5 Nr. 45 (S. 348 Nr. 2), A. Chaisemartin, Proverbes et maximes du droit germanique, Paris 1891, S. 458. 77 So erscheint im Ofener Stadtrecht aus dem 15. Jh. der Satz des Prologs Art. 2 (bei Mollay S. 36): "Aines mannes redt ist ein schone halbe redt. Man

14 Das Gehör im Zivilprozeß bis zur RZPO

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14 Das Gehör im ZiviIprozeß bis zur RZPO

141 Die Wirkung der Rezeption in Theorie und Gesetzgebung Die weitere Entwicklung des Gehörs ist nach Zivil- und Strafprozeß, die getrennte Wege gehen, gesondert darzustellen. Für den Zivilprozeß kommen als Quellen zunächst die theoretischen Darstellungen namentlich des 16. Jahrhunderts in Betracht. Die Rezeption hat äußerlich ihren Niederschlag gefunden in der Behandlung des Stoffes, die sich von der mehr zufälligen Anordnung eines Formularbuches löst und zu einer deduktiven Erfassung drängt, inhaltlich in der Anhäufung von Zitaten aus dem römisch-kanonischen Recht 78. So ist Tenglers Laienspiegel von 1509 im wesentlichen eine Aneinanderreihung von Zitaten, vor allem aus dem "Speculum Iuris" des Durantis. Er stellt den vermutlich frühesten Beleg für die nähere Umschreibung des Gehörs durch das Adjektiv "rechtlich" dar. Wenn eine Partei "rechtlich gehört" werden so1l79, kann damit wegen der unterschiedlichen Bedeutung von "Recht" im Mittelniederdeutschen im Sinne von "Rechtsnorm" und "Rechtsgang"80 eine dem Recht entsprechende Gehörgewährung gemeint sein. Dafür spricht die kurz zuvor verwendete Formulierung, die Partei solle "im rechten gehört" werden. Näher liegt es, "Recht" im Sinne von Rechtsgang zu verstehen und mit "rechtlichem Gehör" das Gehör im gerichtlichen Verfahren, d. h. das gerichtliche Gehör, zu bezeichnen. Soweit sich die Theorie nicht speziell mit der Nichtigkeit befaßt, läßt sie als Spiegelbild der Nichtigkeitsgründe die positiven Erfordernisse des Zvilprozesses hervortreten. Auf das Gehör bezogen ist dies die Ladung (citatio, Fürgebot, Vorgebot)81. Sie wird, etwa bei König, Termineus und soll payde tayl verhörenn." nur als Bedingung für ein gerechtes Mittleramt des Richters. 78 Als Beispiel aus dem 15. Jh. der Proeessus Iudicii des Johann Urbach (Auerbach), zur citatio Kap. 8, zum beiderseitigen Gehör in der Urteilsform Kap. 40 (in der Ausgabe von Theodor Muther, Halle 1873, S. 28, 235); als Autor galt zunächst Nieolaus de Tudeschis (Panormitanus, t 1445), vgl. Stintzing / Landsberg Abt. 1 S. 32. 79 Layen Spiegel Tl. 1 Tit. Von antwurtern; die Randzitate aus Durantis in der Ausg. Straßburg 1550 (BI. 8 v) verweisen nur auf Einzelfragen (z. B. auf Speeulum Iuris B. 2 Partie. 1 De eompetentis iudicis aditione § 3 Viso (S. 49), B. 4 Partie. 2 De dolo et eontumacia § 2 Restat (S. 158) und sind für die Herkunft der Wendung "rechtlich hören" nicht aufschlußreich. 80 Vgl. Karl Schiller und August Lübben, Mittelniederdeutsches Wörterbuch, Bd. 3 Bremen 1877, S. 430 f., Hugelmann in SZKan Bd. 38 S. 33 ff. (40), Kroeschell in Festschrift für Hermann Heimpel, Bd. 3 Göttingen 1972, S. 498 ff. (510 f.). 81 Die spezielle Bedeutung der "Verbotung", die Peter Eigen, Die Verbotung in den Urteilen des Ingelheimer Oberhofes (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N. F. Bd. 6), Aalen 1966, S. 21 ff. annehmen will,

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1 Die geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes

von den Systematikern des Naturrechts bei Althusius, naturrechtlich begründet und als allgemeiner Grundsatz angesehen, dessen Fehlen zur Nichtigkeit führt 82 • Wenn die "citatio" daneben als "substantiale" und "fundamentum iudicii" bezeichnet wird, dient das nicht zur Begründung, sondern zur Zusammenfassung der jedes Verfahren konstituierenden Elemente, um so die Besonderheiten der außerordentlichen, insbesondere der summarischen Prozesse entwickeln zu können. In den Rechtsaufzeichnungen und der gerichtlichen Praxis des 14. bis 16. Jahrhunderts mischen sich bezüglich des Gehörs deutschrechtliche Einflüsse mit solchen des rezipierten Rechts. So erscheint in dem von Geczius von Orvieto Anfang des 14. Jahrhunderts verfaßten böhmischen Bergrecht einerseits die Formel, der Richter solle zwischen zwei Reden Recht fragen, andererseits führt das Fehlen der "citatio", damit der Grundlage des "ordo iudiciarius", zur Nichtigkeit83 • Das hierauf fußende Brünner Schöffenbuch aus dem 14. Jahrhundert bezieht die angeführte Formel für die richterliche Urteilsfindung auf das beiderseitige GehÖr 84 • Auch Leipziger Schöffensprüche aus dem Ende des 15. Jahrhunderts zeigen bereits den Einfluß der Rezeption, da sie nicht nur mit der traditionellen Urteilsformel arbeiten, sondern bei fehlender Vorladung und fehlendem Gehör auf Nichtigkeit erkennen85 • Darüber hinaus begegnen die Ladung als Substantiale des Prozesses und die fehlende Zitation als Nichtigkeitsgrund in zahlreichen Prozeßgesetzen des 15. und 16. Jahrhunderts 86 • gilt nur für die von ihm untersuchten Quellen; er sieht auch die nahe Verwandtschaft mit der Ladung (a.a.O. S. 9). 82 König Kap. 24 Nr. 1 - 3, Kap. 102 Nr. 15 (BI. 21, 21 v, 80 v), Termineus Praefatio (1. S.), Kap. 1 Nr. 35, Kap. 4 Nr. 1 - 6, Kap. 228 Nr. 4 (S. 10, 19, 668 f.), Althusius B. 3 De dicaeocritica Kap. 57 Nr. 21 u. 23 (S. 789), Ausnahmen Kap. 49 Nr. 8 u. 33 (S. 761, 764), zum summarischen Prozeß Kap. 54 Nr. 4 (S. 776); zur Nichtigkeit auch Rotschitz Tl. 1 Art. 1 Sekt. 12 Nr. 3 (BI. 6). Dagegen vertritt Hubert Giphanius, Tractatus duo de ordine judiciorum, Schleusingen 1628, Trakt. 1 Kap. 3 (S. 15) noch die reine ordo-Lehre. 83 Constitutiones Juris Metallici Wenceslai Ir. Regis Boemiae B. 4 Kap. 18, Kap. 1 f. (bei Peithner S. 391, 363); Rössler, Brünn EinI. S. 124 f. 84 Nr. 406 u. 420 (bei Rössler S. 187, 194 f.), die Schöffensatzung Nr. 200 (ebd. S. 394), spricht dagegen nur von einem Urteil nach Klage und Antwort, zur Notwendigkeit der Ladung Schöffensatzung Nr. 192 (ebd. S. 392); Entsprechendes gilt für das 1314 entstandene Stadtrecht von Znaim (ebd. S. 406). Zum Einfluß der Rezeption Emil Ott, Beiträge zur Receptions-Geschichte des römischcanonischen Processes in den Böhmischen Ländern, Leipzig 1879, S. 175. 85 Bei Kisch Nr. 22, 209, 210; zum Eindringen der Rezeption Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen, Abt. 2 Leipzig 1864, S. 69. VgI. auch ein Jahrhundert später Protokolle des Bremer Obergerichts von 1596 und 1599, die sich mit Nichtigkeitsbeschwerden wegen fehlender Zitation befassen (bei Achelis in Bremisches Jahrbuch Bd. 35 [1935] S. 180 ff. [214 f.D. 86 Wormser Stadtrechtsreformation (1498) B. 1 Tit. 1 u. 26, zur Urteilsformel TU. 14 u. 15, UGO Trier, (1539) BI. 7 v, ihr folgend UGO Sponheim (1578) Art. 12, Eigen-Landrecht der Siebenbürger Sachsen (1583) B. 1 Tit. 2 § I, Tit. 10 § 2

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142 Die Reichsgesetzgebung Die Entwicklung des Prozeßrechts im 16. und 17. Jahrhundert hat ihre entscheidenden Anstöße von der Reichsgesetzgebung bekommen. Sie ist niedergelegt in den Gerichtsordnungen für die beiden Reichsgerichte, das Reichskammergericht und den Reichshofrat, und in den Reichsabschieden, soweit sie sich mit der Rechtspflege befassen. 1421 Der Reichskammergerichtsprozeß Bereits für die Vorläufer des Reichskammergerichts, das mittelalterliche Hofgericht des Königs 87 und das seit 1450 an seine Stelle getretene königliche Kammergericht 88 , ist das in der deutschrechtlichen Tradition stehende beiderseitige Gehör nachweisbar. Mit den Ordnungen für das 1495 errichtete Reichskammergericht fand das gemeine Recht Eingang und beeinflußte damit mittelbar die Rechtspflege in den Territorien, die im Rechtsmittelverfahren mit der reichs rechtlichen Praxis in Berührung kam. Das Gehör ist einmal dadurch gesichert, daß bei seiner Verletzung die Nichtigkeitsbeschwerde an das Reichskammergericht erhoben werden kann 89 • Die Reichsgesetzgebung führt zwar die Nichtigkeitsgründe nicht einzeln auf, doch handelt es sich bei den Gründen, die der Partei in der (s. 6, 37), Prozeßreformation für Jülich, Kleve und Berg (1555) S. 66 und Lehnsordnung S. 142 (Van Gottes gnaden Vnser Wilhelms Hertzogen zu Gülich / Cleue vnd Berge ... Ordnung vnd Reformation des Gerichtlichen Proces, ... Dergleichen wie es an vnsern Manheusern in Lehensachen zu halten, Köln 1557), Olmützer GO (16. Jh.) Art. II, 1 (bei Fischel S. 6; zum Einfluß Königs Einl. S. 20), württ. Landrecht 1567 Tl. 1 (Des Fürstenthumbs Würtemberg gemein Landtrecht, o. O. 1567, S. 125), übernommen in das Landrecht von 1610 Tl. 1 Tit. 56 § 6 (bei Chr. H. Riecke, Der Hertzogthumbs Württemberg Ernewert Gemein Landtrecht, Stuttgart 1876, S. 104). Zur Bedeutung der Ladung auch Freiburger Stadtrecht (1520) Tract. 1 Tit. 1 (Nüwe Stattrechten vnd Statuten der loblichen Statt Fryburg im Pryßgow gelegen, Freiburg 1520, BI. 4). 87 Vgl. die Urteilsformeln und Anweisungen an delegierte Richter aus dem 12. bis 15. Jh. bei Franklin, Reichshofgericht Bd. 2 S. 198, 49 ff., 54, 56, 60 sowie das ebd. S. 229 f. wiedergegebene Urteil von 1310; weiter sind einschlägig die Rechtssprüche Nr. 305 u. 305 a aus dem 12. und 13. Jh. bei Franklin, Sententiae curiae regiae, Hannover 1870, S. 114, 115. 88 Vgl. die Urteile von 1455 bei Johann Heinrich Freiherr von Harpprecht (Autorschaft nach Holzmann/Bohatta Bd. 4 Nr. 3477), Staats-Archiv Des Kayserl. und des H. Röm. Reichs Cammer-Gerichts, Tl. 1 Ulm 1757, S. 180, 189, 199, weitere Urteilsformeln bei Kroeschell Tl. 2 S. 261, 263 und Franklin, Kammergericht S. 33 m. N. 135, zur Entscheidung über Nichtigkeitsbeschwerden ebd. S. 37 N. 156. Zur Entstehung des Gerichts Franklin, Reichshofgericht Bd. 1 S. 338, 341, 343 und Danz §§ 26 ff. (S. 33 ff.). 89 Gegen Urteile des RKG war eine Nichtigkeitsbeschwerde ausgeschlossen, doch konnte die an die Reichsvisitationskommission zu richtende Revision auch auf Nichtigkeitsgründe gestützt werden, vgl. RKGO 1555 Tl. 3 Tit. 53 § 1 (bei Bergmann S. 264), KKGO Tl. 3 Tit. 63 pr. (bei Zwirlein S. 588; das KKGO galt kraft Gewohnheitsrechts). 3 Rüping

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Hauptsache einen unwiederbringlichen Nachteil zufügen90 , um die unheilbaren Nullitäten des gemeinen Rechts. Treffend wird die Unheilbarkeit darin gesehen, daß der Fehler im Gegensatz zu einem Verstoß gegen äußere Formalitäten nicht durch bloße Nachholung beseitigt werden kann; ein Mangel, der sich auf die richterliche überzeugungsbildung auswirkt, führt vielmehr notwendig zur Aufhebung des Urteils und Erneuerung des Verfahrens. Dieser wichtige Ansatz ist in der Folgezeit nicht genügend beachtet worden und während der Herrschaft des Naturrechts in Vergessenheit geraten. Das Gehör ist weiter im Verfahren des Reichskammergerichts selbst verwirklicht. Seine Bedeutung kommt in der Unterscheidung von Zitations- und Mandatsprozeß zum Ausdruck. Ersterer setzt die Ladung des Gegners und dessen Gehör voraus und bildet die reguläre Verhandlungsform für das Verfahren in der Hauptsache, bei dem die Parteien im Audienztermin vor dem Senat zu Wort kommen; am Extrajudizialverfahren, das über die Zulassung der Klage entscheidet, ist dagegen nur der Kläger beteiligt91 • Im Mandatsverfahren ist das einer einstweiligen Verfügung vergleichbare "mandatum cum clausula justificatoria" die Regel, welches dem Gegner alle nachträglichen Einreden sichert, während ihm die Ausnahmeform des "mandatum sine clausula"92 rechtliche Einwendungen nimmt und ihn auf die Einrede der verfälschten Sachdarstellung durch den Kläger beschränkt93 • Das Prinzip des Mandatsverfahrens war jedoch aus politischen Erwägungen für bestimmte Arten von Klagen durchbrochen, was sich vor allem auf Klagen von Untertanen gegen ihre Obrigkeiten bezog. Im 16. Jahrhundert wurde der Erlaß von Mandaten, die Untertanen wegen der Entbindung von ihrem Eid gegen die Obrigkeit anstrengten, an erschwerte Voraussetzungen gebunden. Das führte 90 RKGO 1521 Tit. 21 § 1, 1523 Tit. 5 § 6, 1555 Tl. 3 Tit. 34 § 1, § 2 spricht von einer Nichtigkeit, die in 2. Instanz "nit ratificirt werden möcht" (Bergmann

S. 73, 95 f., 244).

91 Wiggenhorn S. 98 f., 103, zum beiderseitigen Gehör im Audienztermin Gönner, Entwurf Bd. 2 Abt. 1 S. 213; zum artikulierten Prozeß beim RKG Kroeschell Tl. 2 S. 257. Seit dem Reichsgutachten von 1775 entschied derselbe Senat über Vor- und Hauptverfahren (Text bei Karl Friedrich Brainl, Lehrsätze über die Pracktick der bei den höchsten Reichsgerichte, Wien 1776, Anh. 11 S. 349 f. unter 20). 92 Anlaß für die Beschneidung des Gehörs des Beklagten im Mandatsverfahren kann auch eine vorangegangene Versagung des Gehörs für den Kläger sein, "z. E. wann man einen ohnverhört oder ohndefendirt zum Schelmen machen wollte", so Moser, Reichshofrat Traktat 1 Kap. 2 § 2 (S. 51). 93 RKGO 1555 Tl. 2 Tit. 23 (bei Bergmann S. 194 f.), KKGO Tl. 2 Tit. 25 pr. u. § 1 (bei Zwirlein S. 372 f.); Mohl Tl. 1 S. 223 f., 230 f., zur Problematik Moser, Reichshofrat Traktat 1 Kap. 2 § 22 (S. 82). Nach der Statistik des Jahres 1805 ist dagegen das mandatum sine clausula die Regel (vgl. die übersicht Nr. 8 bei Joseph Anton Vahlkampf, Reichskammergerichtliche Miscellen, Bd. 2 Gießen/Wetzlar 1806, hinter S. 106).

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im Konzept der Kammergerichtsordnung von 1613 und im Reichsabschied von 1654 zu der Formulierung, bei Klagen gegen die Obrigkeit Mandate "nicht leichtlich" zu erkennen94 • Die dem Wortlaut und Sinn der Bestimmung durchaus entsprechende Praxis des Reichskammergerichts, in Ausnahmefällen Mandate zuzulassen, kam den Ständen nicht genügend entgegen. Der Visitationsschluß von 1769 setzte daher durch, bei jeder Klage sei vorher die Stellungnahme der beklagten Obrigkeit einzuholen95 . Dieses "Schreiben um Bericht" ist nicht nur als Information für das Gericht zu werten, sondern als Ausfluß der Befugnis, im Verfahren gehört zu werden. Wenn folgerichtig der Kläger einen Gegenbericht vorlegen kann, sofern die Klage auf Grund des Berichts nicht offensichtlich unbegründet erscheint96 , gilt der Sache nach der Zitationsprozeß. 1422 Der Reichshofratsprozeß Die Prinzipien des reichskammergerichtlichen Prozesses fanden auch ihren Niederschlag in den Verfahrensordnungen für den Reichshofrat, der sich aus einem kaiserlichen Rat zu einem Gericht mit konkurrierender Zuständigkeit entwickelt hatte. Die Reichshofratsordnung von 1617 kennt ebenfalls eine offene Audienz, in der beide Parteien mit ihrem Vorbringen gehört werden 97 und sieht das "mandatum sine c1ausula" als Ausnahme von dem Grundsatz des beiderseitigen Gehörs an9S • Die Bestimmung, der Reichshofrat sei bei aller Freiheit im Verfahren an die Substanz des Prozesses gebunden, "sonderlich da ein unwiederbringlich Präjudiz zu befahren"99, knüpft an die Essentialien-Lehre und an die Reichskammergerichtsordnungen an; sie kehrt wieder in der Reichshofratsordnung von 1654 100, die kraft Gewohnheitsrechts bis zum Ende des alten Reiches galt. g4 KKGO Tl. 2 Tit. 25 § 3 (bei Zwirlein S. 374), Reichsabschied von 1654 (JRA) § 105 (bei Obrecht S. 363); zur geschichtlichen Entwicklung Danz § 188 (S. 313 ff.), Weiße S. 8 ff.

95 Text bei Balemann (Autorschaft nach Holzmann / Bohatta Bd. 4 Nr. 10273) S. 53 unter 1, Mohl Tl. 1 S. 234, 250; die Kompetenz zu diesem Eingriff war nicht unbestritten (vgl. Moser, Justiz-Verfassung Tl. 2 S. 1026). Ein Beispiel für die frühere Praxis des RKG, aus dem Jahre 1660, bei Gambs, Comment. ad § 100 JRA (entspricht § 105; bei Obrecht S. 505); in der Wahlkapitulation von 1792 erscheint diese Bevorzugung deutlich als politisches Vorrecht (Art. 15 §§ 4 f., Art. 19 § 7). 96 Balemann S. 389, Danz § 191 (S. 320), Wiggenhorn S. 183; zur Deutung im Sinne des prozessualen Gehörs Weiße S. 7, undeutlich Wiggenhorn S. 182 ("Stellungnahme"), abw. Sellert S. 182. 97 Tit.4 (bei Lünig Bd. 3 Forts. 2 S. 52). 98 Tit. 2 (bei Lünig Bd. 3 Forts. 2 S. 44), ebenso die VO Karls VI. von 1714, "wie es hinfüro im Reichs-Hof-Rath zu halten" (ebd. Bd. 4 S. 1152 unter 10); zu dem dem Mandatsverfahren entsprechenden Reskriptsverfahren KleinheyerS.27. gg RHRO 1617 Tit. 2 (bei Lünig Bd. 3 Forts. 2 S. 44).

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In der Praxis des Reichshofrats spielte die Verletzung des Gehörs wiederholt eine Rolle, besonders in Fällen, in denen die Obrigkeit eine rasche Vollstreckung wollte und dem Betroffenen die Verteidigung abschnitt. Das Gericht setzte jedoch die Beachtung des Grundsatzes des Gehörs durch101 • 1423 Der Reichsabschied von 1654 und die Zweiteilung der Nichtigkeitsgründe Die Einlegungsfrist für die Nichtigkeitsbeschwerde betrug nach gemeinem Recht 30 Jahre und bot so leicht die Möglichkeit, Prozesse unter dem Vorwand von Nullitäten zu verschleppen und die Wirkung der Reichsgerichte ganz lahmzulegen. Die Reichstage versuchten den Mißbräuchen durch Verkürzung der Frist zu steuern. Die Frankfurter Reichsdeputation zur Verbesserung des Justizwesens von 1644 ersetzte die 30jährige Frist zunächst für alle Nullitätsgründe durch die zehntägige der Appellation 102 • Die überkommene Differenzierung der Nullitätsgründe nach ihrer Bedeutung für den Prozeß erwies sich jedoch als stärker. Das Gutachten der Kommission der Reichsstände und das Allgemeine Reichsgutachten von 1653 trennen daher zwischen Nullitäten, die aus der Verletzung von Formalien entstehen und den gleichen Rang wie Appellationsgründe haben, und Nullitäten, die zu einem unheilbaren Mangel aus der Person des Richters, der Parteien oder den Substantialien des Prozesses führen und innerhalb von 30 Jahren geltend gemacht werden können 103 • Der Beschluß des Fürstenrats von 1654 führt den Unterschied auf Nichtigkeiten positiven und natürlichen Rechts zurück104, während sich die endgültige Fassung in § 122 des sog. Jüngsten Reichsabschiedes von 1654 auf die Formulierung in den Gutachten von 1653 stütztl°5 • 100 Tit. 2 § 8 (bei Fr. K. Moser S. 310), § 1 bestimmt die Zuständigkeit für Nullitätsklagen (ebd. S. 304). Die gemeinsame Grundlage von RKG und RHR verkennen Selchow, Vorrede (5. S.) und Dietrich Landes, Achtverfahren vor dem Reichshofrat, Diss. Frankfurt 1964, S. 117, 120. 101 Vgl. die Reichshofratsschlüsse von 1739 und 1742 bei Moser, Justiz-Verfassung Tl. 1 B. 2 Kap. 35 § 10 (S. 1042, 1044) und das Minderheitsvotum bei Friedrich earl von Moser (Autorschaft nach Holzmann I Bohatta Bd. 4 Nr. 516), Sammlung von Reichs-Hof-Raths-Gutachten, Tl. 4 Frankfurt 1764, Nr. 6 S. 132 ff.; 1728 hielt der RHR die Entlassung eines Ministers, dem keine Verteidigung gestattet war, für ungesetzlich und 1784 ein Verfahren, in dem dem Angeklagten kein Verteidiger gewährt wurde, für nichtig (nach Hertz in Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung Bd. 69 r1961] S 331 ff. [348, 351 J). Zur Praxis des RHR Sellert S. 216 ff. 102 Gutachten unter 11 (bei Meiern B. 10 S. 202). 103 Gutachten der Kommission der Reichsstände zu Punkt 11 und Allgemeines Reichsgutachten unter 11 (bei Meiern B. 12 S. 419, 444). 104 Text bei Meiern B. 14 S. 653. 105 "Bey den jenigen Nullitäten aber I welche insanabilem defectum, auß der Person des Richters oder der Parthey I oder auß den substantialibus des pro-

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Diese Regelung hat zu einer Zweiteilung der Nullitäten geführt106 • Das Reichskammergericht bestätigte sie in einem Plenarentscheid von 1657 107 • Die Zweiteilung war auch für seine Zuständigkeit von erheblicher Bedeutung, weil die Lehre teilweise bei unheilbaren Nullitäten ein Eingreifen der Reichsinstanzen trotz Appellationsprivilegien der Reichsstände für zulässig hieW 08 • Da die bei Strafe unheilbarer Nichtigkeit zu beachtenden Prozeßsubstantialien auf die Lehre von den Essentialien verweisen, zu denen die Ladung und das Gehör zählen, wirkte sich das auch als Garantie für das Gehör im Verfahren vor den territorialen Instanzen aus, sofern die reichsrechtliche Regelung nicht bereits unmittelbar übernommen war109 • Noch Prozeßgesetze des 19. Jahrhunderts beruhen auf dem Jüngsten Reichsabschied llo . cessus nach sich führen / verbleibt es bey der Disposition der gemeinen Rechten" (bei Obrecht S. 371); die Interpretierung der letzten Gruppe als "Prozeßvoraussetzungen" bei Eugen Liedl, Gerichtsverfassung und Zivilprozeß der freien Reichsstadt Augsburg, Augsburg 1958, S. 142 ist unzutreffend. Zur Zivilprozeßreform des JRA Paul Maaß, Die Zivilprozeßreform des jüngsten Reichsabschiedes, Diss. Münster 1925, S. 20 ff. 106 Brückner § 8 (S. 10), Carl Leopold Goldschmidt, Abhandlungen aus dem deutschen gemeinen Civilproceße, Frankfurt 1818, S. 119; die Betrachtung des § 122 JRA als regelwidrige Ausnahme von § 121 geht an der Praxis vorbei, so aber die Entscheidung der Juristen-Fakultät Halle bei Ernst Ferdinand Klein, Merkwürdige Rechtssprüche der Hallischen Juristen-Facultät, Bd. 1 Berlin/ Stettin 1796, Nr. 39 S. 285 ff. (293 f.), Heinrich Ernst Bornemann, Beweis, daß der Unterschied zwischen heilbaren und unheilbaren Nullitäten dem jüngsten Reichs-Abschiede ganz fremd ist ... , Hannover 1807, S. 24 ff. und Ahorner von Ahornrain S. 61 ff. 107 Nach Roding B. 1 Tit. 19 § 46 (S. 280), Estor Tl. 1 Tit. 129 § 1080 c (S. 396 f.). 108 Ludolf Sekt. 1 § 14 Membrum 1 Nr. 7 (S. 143), Beck Kap. 2 § 4 (S. 24), Lenz (zu dem Pseudonym Neurode vgl. Holzmann / Bohatta, Deutsches Pseudonymen-Lexikon, Wien/Leipzig 1906, Nachdruck Hildesheim 1961, S. 195) Anm. 259 § 7 (S. 495), Cramer Tl. 3 §§ 1351, 1353 (S. 388), Häberlin S. 453; anders Roding B. 1 Tit. 19 §§ 47 ff. (S. 280), Helvicus Bernhard Jaup, Summa capita commentationis iuris publici germanici de privilegiorum de non appellando S. R. 1. statibus concessorum effectu, Gießen 1777, §§ 28, 30 f., 35 (S. 24 ff., 29), Friedrich Esaias von Pufendorf, Observationes Bd. 3 Observ. 102 S. 273 ff. Zu allgemein Oswald von Gschließer, Der Reichshofrat, Wien 1942, S. 36. 109 Hanauische GO (1657) Art. 26 (Neuverfaste Ordnung Wie es bey denen Hoch-Gräflichen Hanauischen Hoff-Stätt- und Land-Gerichten / ... zu halten, Hanau 1675), GO für das Marburger Samthofgericht der hessischen Landgrafen (1673) Tit. 8 § 3 (bei Christi an Gerhard Apell, Sammlung FürstlichHessischer Landes-Ordnungen und Ausschreiben, Tl. 3 Kassel 1777, Nr. 337 S. 21), Magdeburger PO von 1686 Kap. 44 § 1 u. von 1696, Ad cap. 44 § 1 S. 2 (bei Mylius, Corpus Constitutionum Magdeburgicarum Tl. 2 Nr. 1 S. 1 ff., Nr. 2 S. 99 ff.), hessische PO (1724) Tl. 1 Tit. 7 § 5 (bei Bopp S. 75), Regensburger PO (1741) Tit. 25 § 1, zum JRA Vorspruch, 3. S., Bremer GO (1751) Tl. 3 Tit. 5 § 2 (Abdruck der Gerichts-Ordnung der Kaiserl. freien Reichs-Stadt Bremen, 2. Aufl. Bremen 1790), Frankfurter VO (1788) § 19 (bei Johann Conradin Beyerbach, Sammlung der Verordnungen der Reichsstadt Frankfurt, Tl. 8 Frankfurt 1799, S. 1515); vgl. weiter Spangenberg Abt. 2, zu §§ 158, 159 (S. 258 unter 5), zur Geltung des gemeinen Rechts in Sachsen Schier S. 354 und in Nassau Christoph Flach, Erläuterungen zum Prozeßgesetze des Herzogthums Nassau vom 23. April 1822, Wiesbaden 1837, S. 132.

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143 Die Herausarbeitung des Gehörs als Prinzip in der Theorie des 18. Jahrhunderts Der Reichsabschied von 1654 hat seinen eigentlichen Zweck, die Nichtigkeitsbeschwerde möglichst einzuschränken, nicht erreichen können. Da er auf eine nähere Benennung der unheilbaren Nullitäten verzichtete, blieb die Ausarbeitung der Theorie vorbehalten. Ungeachtet der nicht einheitlichen Lehre begründeten die traditionellen Nichtigkeitsgründe unangefochten auch nach dem Jüngsten Reichsabschied unheilbare Nichtigkeit. Bei der Behandlung der "citatio" tritt dabei eine Entwicklung ein, die zur Verselbständigung des durch sie vermittelten Gehörs und zum Absinken der Ladung auf technische Zustellungs vorschriften führt. Zunächst knüpft die Theorie, veranlaßt durch die Ausdrucksweise des § 122 des Reichsabschiedes, an die Essentialien-Lehre an und betrachtet die fehlende "citatio" als Nichtigkeitsgrund. Diese Auffassung herrscht bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts 1l1 und findet ihren Niederschlag auch in der Praxis des Reichskammergerichts und bei den frühen Kamerali110 GO der freien Hansestadt Bremen (1820), Bremen 1820, § 537, Lübecker OAGO (zur Errichtung Horst Greb, Die Verfassung des OAG der vier freien Städte Deutschlands zu Lübeck, Diss. Göttingen 1967, S. 5 H.) von 1831 § 41 S. 2 (entsprechend § 174 Abs. 1 für den jeweiligen Direktorialsenat; Text in Sammlung der Lübeckischen Verordnungen Bd. 6 S. 72, 101), Bekanntmachung, betr. die Competenz des OAG und den Proceßgang in Strafsachen (1865) § 6 (Text ebd. Bd. 32 S. 76), GO für das Schleswig-Hoistein-Lauenburgische OAG in Kiel (1834) § 77 (nach Francke Tl. 2 § 157 S. 416 N. 14), Lübecker ZPO (1862) § 125 S. 2 (Sammlung der Lübeckischen Verordnungen Bd. 29 S. 38; vgl. auch Stein § 266 [So 339]), Provis. Bremer StPO (1863) § 612 Nr. 3 - 5, Hamburger Stpo (1869) § 254 Abs. 1 (Gesetzsammlung 1869 S. 119). 111 Hoepner (1644) Assertio 91 f. (S. 421), Emerich von Rosbach (1654), Praxis civilis Tit. 21 Nr. 9, Tit. 22 Nr. 42, Tit. 72 Nr. 20 (S. 125 f., 135, 422), Johannes Thomas Cludius, Dissertatio inauguralis de processu judiciario (1641) Concl. 17, 54, Heinrich Hahn, Dissertatio de processu forensi (1657) These 32 (beide bei Heinrich Hahn, Biga selectarum de processu judiciario dissertationum, Helmstedt 1665), Deckherr (1666) These 11 (S. 12) unter Bezug auf Vantius, Enoch Glaeser, Disputatio juridica inauguralis de nullitatibus sententiarum (Resp.: Clamer Saurman), Helmstedt 1666, These 29, Conrad Friedelieb, De processu judiciario civili et feudali Tractatio Synoptica (Resp.: Johannes Schultze), o. O. [Greifswald] 1673, Sekt. 1 §§ 9,35 (S. 8, 41), Gambs (1702), In Recessum Imperii Novissimum De Anno MDCLIV. Commentarius, 2. Aufl. Frankfurt 1702, Ad § 117 JRA (entspricht § 122; bei Obrecht S. 517), Ludovici (1. Aufl. 1707), CivilProceß Kap. 7 § 2 Ziff. 2, Kap. 33 § 2 (S. 92, 360), sein Schüler Knorre (1740) B. 1 HSt. 24 § 3, B. 3 HSt. 1 § 1 m. N. b (S. 333, 441 f.), Brückner (1711) §§ 20, 22 (S. 20 f., 22), Christi an Wildvogel, Dissertatio inauguralis juridica de modo inverso in processu civili et criminali vitando (Resp.: Daniel Jürisch), Jena 1717, Sekt. 1 Kap. 2 § 1, Kap. 3 § 1 (S. 5, 9), Johannes Andreas Meissel, Dissertatio inauguralis juridica de possessorio summarissimo, Erfurt 1731, § 19 (S. 12), Gravelius (1740) §§ 17, 18,24 (S. 33,47; seine Autorschaft folgt aus dem Bezug auf den Praeses [z. B. S. 33 N. k] und aus dessen Schreiben an den Respondenten [So 51 f.]), Lenz (1752) Anm. 259 § 3 (S. 494); vgl. weiter die von Selchow herausgegebene Handschrift aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts, Tit. 48, ad § 3 (Bd. 2 S. 586).

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sten 112 • Die naturrechtliche Grundlage des Gehörs in dem jedem Menschen zustehenden Verteidigungsrecht erklärt einmal die allgemeine Geltung des Grundsatzes. Einschränkungen ergeben sich nur aus der Prozeßökonomie und dem Notorietätsbegriff: So braucht die Partei nicht gehört zu werden, wenn ihr durch die Entscheidung kein Nachteil entsteht oder wenn sie offensichtlich keine Einwendungen vorbringen kann113 • Weiter drängt das naturrechtliche Element der "citatio", die "defensio"l14, dazu, sich aus der Verbindung mit der Ladung zu befreien und zu dem Grundsatz vorzustoßen, niemand dürfe ungehört verurteilt werden. Die naturrechtliche Betrachtungsweise stellt auf das Individuum ab und billigt ihm bestimmte Einzelrechte zu. Auch bei den Prozeßgarantien wird deren positive Benennung entscheidend, während der dogmatische Ansatz verblaßt, sie als Nichtigkeitsgründe zu erfassen. Die Lehre betont im 18. Jahrhundert1l5 zunächst gleichermaßen die Notwendigkeit des Gehörs und der Ladung1l6, bis - nach dem wohl ersten Ansatz im Jahre 1708117 - gegen Ende des Jahrhunderts das Gewicht 112 Vgl. das Votum des Referenten in einem Prozeß aus dem Jahre 1675, unter Bezug auf Bartolus und Vantius (bei Meichsner Decisio 28 S. 202 Nr. 60), Gaill B. 1 Observ. 75 Nr. 8 (S. 137). Aus der Praxis s. die Anmerkungen zu dem Rechtsstreit der Stadt Lindau bei Heyder S. 429 (Autorschaft nach Holzmann / Bohatta Bd. 1 Nr. 3591) unter Berufung auf Vantius und Gaill; als Beispiel für die Anfechtung auch einer kaiserlichen Acht s. die 1611 anonym in Braunschweig erschienene "Gegründete Außführung Worumb der Stadt Braunschweig das Recht nicht zuversagen / sondern ... die nichtige oder je vnrechtmeßige Acht stracks abzuthun / vnnd die Stadt / wie offt gebeten / nottdürfftig in alle wege zuhören" S. 14 ff., 22. 113 Gaill B. 1 Observ. 77 Nr. 9, Observ. 48 Nr. 2 (S. 139, 90), Gravelius § 20 (S. 36), Mynsinger Centuria 6 Observ. 6 Nr. 6 f., 14 f. (S. 427, 428), ihm folgend Selchow Bd. 1, zu Tit. 23 § 5 (S. 327), Samuel Stryk, Introductio ad praxin forensem, Wittenberg / Zerbst 1753, Kap. 4 § 7 (S. 46); zur Gründung auf die defensio Gasser §§ 16, 24 (S. 16, 23), Emerich von Rosbach, Praxis civilis Tit. 22 Nr. 40 f. (S. 134 f.). 114 Eine Verbindung mit der älteren Auffassung besteht, wenn die substantialia als Ausfluß des Naturrechts angesehen werden, so bei Kopp, Votum als Referent (zur Autorschaft Kopp, Ausführliche Nachricht B. 2 Tit. 12 § 250 N. a [So 214]) in: Leonhard Heinrich Ludwig Georg von Canngiesser, Collectio notabiliorum decisionum Supremi Tribunalis Appellationum Hasso-Cassellani, Bd. 1 Kassel 1768, Decisio 118 S. 496 Nr. 20. 115 Als frühe Beispiele aus der Praxis vgl. die Decisiones von 1653, 1654 und 1655 bei Mevius Bd. 1 Tl. 1 Decisio 112 m. N. 10, Tl. 2 Decisio 293 N. 6, Tl. 3 Decisio 112 (S. 44, 194, 267); die Gehörsverletzung erscheint als die gravierendste Nullität, vgl. Bd. 1 Tl. 1 Decisio 94 N. 3, Tl. 3 Decisio 112 N. 5 (S. 37, 267), Bd. 2 Tl. 7 Decisio 77 (S. 169). 118 Roding (1710) B. 1 Tit. 33 §§ 12 f. (S. 408), Schneyder (1723) Class. 1 Tit. 5 Nr. 44, 46, 74 (S. 51, 53), Tit. 16 Nr. 6, 7, 22, 24 (S. 153, 155), Ludolf (1741) Sekt. 1 § 14 Membrum 1 Nr. 7 (S. 143), Stein (1745) § 266 (S. 339), Schoepff (1748) Kap. 21 § 5 Ziff. 4 (S. 444), Cramer (1767) Tl. 3 § 1342 (S. 385), Claproth (1773), Entwurf HSt. 43 § 2 Ziff. 16 (S. 342). 117 Die 1708 unter SIevogt gehaltene Dissertation "De citationis requisitis et efficacia" bindet die Zitation an die Defension (S. 1), geht auf Einzelrechte der Verteidigung ein (S. 3 ff.) und behandelt Fragen der Zustellung (S. 9 ff.)

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eindeutig auf dem Gehör als eigenständigem Grundsatz liegt und die Ladung als bloßes Mittel zu seiner Verwirklichung in den Hintergrund getreten ist118 • Ebenso werden die Fälle, in denen ein "mandatum sine c1ausula" zulässig ist, zusammengefaßt als Ausnahmen von dem Prinzip des Gehörs, das den Kern der sonst notwendigen gerichtlichen Untersuchung bildet119 • Das naturrechtliche Denken hat sich auch über den dogmatischen Ansatz der Reichskammergerichtsordnungen zur Begründung der unheilbaren Nullitäten hinweggesetzt. Nur vereinzelt und erst später findet sich die Auffassung, wegen des Einflusses des Gehörs auf die richterliche überzeugungsbildung sei seine Verweigerung ein nicht mehr reparabler Verfahrensfehler l20 •

144 Die Gründung des Gehörs auf die Natur der Sache in der Theorie des 19. Jahrhunderts Die Theorie des 19. Jahrhunderts hat das rechtliche Gehör aus der Natur der Sache selbständig begründet und ist in Einzelheiten bis heute fruchtbar geblieben l21 • Äußerer Anlaß, auf das Wesen des bürgerlichen Prozesses abzustellen, war die Quellenlage für die germanistische Schule im Privatrecht: da die vorgefundenen Reichsgesetze und das Gewohnheitsrecht nicht ausreichten, um darauf ein System zu gründen, wird gegen Ende des 18. Jahrhunderts die "Natur" deutschrechtlicher Institute ergänzend herangezogen. Die Prozessualisten übernehmen diese Methode l22 , die es ihnen erlaubt, aus dem Zweck, den sie in die "Natur" gelegt haben, die gewünschten Folgen zwingend abzuleiten. und des Kontumazialverfahrens (S. 36 ff.), so daß sie mit ihren den Zivil- wie den Strafprozeß betreffenden Ausführungen die erste "Monographie" des rechtlichen Gehörs darstellen dürfte. 118 Jhering (1731) Vorrede (S. 11 unter 2), Kap. 2 § 1 (S. 31 f.), Estor (1756) Tl. 4 Tit. 1 § 4 Ziff. 2, Tit. 2 § 52 (S. 22, 34), weiter Tl. 1 Tit. 129 § 1080 d (S. 397), Sieber (1775) §§ 18, 515, 647 (S. 13, 335, 421), ferner Ernst Gottfried Schmidt, Theorie des ordentlichen Processes, Leipzig 1790, § 94 (S. 65), deutlich Herchenhahn (1793) S. 142: "Die Ladung ist eine Vorläuferin von der im Naturrechte gegründeten Vertheidigung", weiter Wilhelm Michael Schaffrath, Grund- oder Fundamental-Wissenschaft des gemeinen teutschen und sächsischen Civilund Criminal-Processes, Bd. 1 Leipzig 1839, S. 70, 72. m Moser, Reichshofrat Traktat 1 Kap. 1 § 6 (S. 11), Mohl Tl. 1 S. 224, Danz §§ 283, 285 (S. 488 ff.), Claproth, Entwurf HSt. 15 § 8, HSt. 46 § 1 (S. 142,416). 120 Mohl Tl. 2 S. 111, Ahorner von Ahornrain S. 64 ff., Röder S. 129; im Ansatz auch Gravelius § 6 (S. 8) und Selchow zu Tit. 48 § 3 (Bd. 2 S. 586), Cramer Tl. 3 §§ 1337 N. 1, 1339 (S. 384) leitet die Unheilbarkeit aus der Unveränderlichkeit des Naturrechts ab; zur Interpretation des JRA im Sinne der RKGO von 1555 C.J.A. Mittermaier, Der gemeine deutsche bürgerliche Prozeß, 3. Beitrag Bonn 1823, S. 97. G. M. Weber, über die Appellation in Criminal-Sachen, Würzburg/Bamberg 1805, § 33 (S. 67) verkennt die Bedeutung der Unheilbarkeit. 121 In der Gesetzgebung erscheint die Natur der Sache in § 109 S. 1 der GO des OAG für Braunschweig, Waldeck, Pyrmont und Lippe von 1835 (Gesetz- und Verordnungs-Sammlung f. Braunschweig Jg. 22 [1835] Tl. 2 S. 727).

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Das Wesen des bürgerlichen Prozesses, bei dem eine neutrale Instanz den Rechtsstreit zwischen zwei Parteien entscheidet, wird zunächst durch einen ausdrücklichen Rückgriff auf die Essentialien-Lehre bestimmt 123 • Diese Betrachtung führt dann allgemein dazu, die Gewährung des Gehörs für jede Partei als eine Forderung aus der Natur der Sache anzusehen 124 • Bei der Reflexion auf das Wesen richterlicher Entscheidungstätigkeit kommt dem Gehör kein Eigenwert zu, sondern nur instrumentale Funktion zur Ausmittlung einer gerecht abwägenden Entscheidung 125• Der dialektische Erkenntnisprozeß als Quelle des Gehörs gilt in jedem bürgerlichen Verfahren, wenn auch im summarischen Prozeß erst zu einem späteren Zeitpunkt126, und begründet die spezielle Ausgestaltung des wechselseitigen Gehörs, worin die völlige Gleichheit der Parteien zum Ausdruck kommt 127 • Das Gehör hat sich endgültig von seiner Bindung an die Ladung befreit; diese selbst bildet kein Essentiale, da dem Gehör auch Genüge getan werden kann, wenn die Partei ohne Ladung erscheint 128• Es ist 122 Als erster wohl Pütter, De nullitate theoria generalis (1759) § 11 (in den Opuscula Nr. 7 S. 296) und sein Schüler Peter Simon, De querela nullitatis et adpellationis coniunctione (ebd. Nr. 8 S. 302 ff.; seine Autorschaft folgt aus dem Bezug auf den Praeses Pütter in der Note zu § 25 [So 315]) §§ 1, 5, 25, 27, weiter Danz (1795) § 285 (S. 489 f.); vgl. Ralf Dreier, Zum Begriff der "Natur der Sache", Diss. Münster 1965, S. 37 ff., 40 ff., zum Privatrecht Heinrich Marx, Die juristische Methode der Rechtsfindung aus der Natur der Sache bei den Göttinger Germanisten Johann Stephan Pütter und Justus Friedrich Runde, Diss. Göttingen 1967, S. 58, im einzelnen S. 62 ff. u. 73 ff. 123 Klüpfel S. 100, 147, Gensler, Handbuch S. 35, Commentar S. 19, Röder S. 109 f., 122, Scheurlen S. 78 f., Brackenhöft S. 48, 66 ff., 70 ff.; weiter Wolfgang Heinrich Puchta, Der Dienst der deutschen Justizämter oder Einzelrichter, Tl. 2 Erlangen 1830, § 135 (S. 56 f.). 124 Hans Ernst von Globig, System der Gesetzgebung für das gerichtliche Verfahren, Leipzig 1809 (Autorschaft nach Holzmann / Bohatta Bd. 4 Nr. 4329), S. 19 Ziff. 11, Osterloh Bd. 1 S. 44, 47, 73, Bayer S. 13, 1093, Renaud S. 197 f., 578, Harscher von Almendingen arbeitet mit dem Kausalitätsgesetz (S. 264); gegen einen naturrechtlichen Ansatz Brackenhöft S. 73, Osterloh Bd. 1 S. 74. In der Praxis gehen die ältere Auffassung (z. B. in einer Entscheidung des Obergerichts Zürich von 1847 [bei Kaufmann S. 13 f.]) und die neuere (z. B. in einer Entscheidung von 1849 rebd. S. 22]) ineinander über. 125 Gensler, Handbuch S. 44 unter 7, Gesterding S. 131, Osterloh Bd. 1 S. 190, weiter S. 294, Strippelmann S. 1, 18, 437, zur Verbindung mit der Verhandlungsmaxime Herquet S. 58, Renaud S. 586, Wetzell S. 806. 126 Gönner, Handbuch S. 133, Gensler, Handbuch S. 60, Bayer S. 32, Renaud S. 198; Wetzell S. 523 spricht dagegen von einer "Ausnahme" bei Prozessen, die mit der Vollstreckung beginnen. 127 Gönner, Handbuch S. 132, Entwurf Bd. 2 Abt. 1 S. 212 u. Einl. S. 35, Gensler, Handbuch S. 40 unter 4, Harscher von Almendingen S. 274 unter 4, Scheurlen S. 81 unter 5, Bayer S. 31, Martin, Bürgerl. Process S. 139, Renaud S. 198. Streitig ist, ob sich das Gehör auch auf rechtliche Ausführungen bezieht (dafür Bayer S. 1094, dagegen Wetzell S. 523); Brackenhöft S. 71, 77 ff. verpflichtet den Richter auch zur Berücksichtigung des Gehörten.

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anerkannt, daß die bloße Gelegenheit zum Vorbringen ausreicht1 29 und daß die obsiegende Partei sich nicht auf die Verletzung des Gehörs berufen kann 130 • Wenn hier zur Begründung darauf abgestellt wird, die Möglichkeit zu eigenem Vorbringen erscheine überflüssig, da die Partei ohnehin nicht mehr hätte erreichen können, verläßt die Theorie ihren Ansatz: Sie argumentiert nicht mehr mit einer am "Wesen" des Prozesses orientierten Betrachtung, sondern stellt auf das individuelle Interesse des Betroffenen ab. Die Folge des unterlassenen Gehörs, die Nichtigkeit des Verfahrens, tritt bei einer Darstellung, die den Grundsatz positiv herausstellt, in den Hintergrund. Der Ausgangspunkt, daß in diesem Fall ein für das Verfahren konstitutives Element fehlt, führt teilweise dazu, in diesem Sinne von einem unheilbaren oder "Nichturteil" zu sprechen131 • Teilweise wird dagegen unter Rückgriff auf die Reichskammergerichtsordnungen die Unheilbarkeit nur in der notwendigen Erneuerung des Verfahrens gesehen, während ein in der Nichteinlegung des Rechtsmittels liegender Verzicht den Verstoß heilen soU 132 • 145 Das Gehör in der Gesetzgebung der Länder

In der Gesetzgebung der Länder, die hier nicht erschöpfend, sondern nur an Beispielen darzustellen ist, läßt sich ebenfalls eine Entwicklung aufzeigen, die zur Verselbständigung des Gehörs, seiner Anerkennung als Prinzip führt und damit wesentliche Vorarbeiten für die RZPO leistet133 • 128 Gensler, Handbuch S. 41, Brackenhöft S. 81, Martin, Bürgerl. Process S.139. 129 Gönner, Handbuch S. 164, Gensler, Handbuch S. 41, 67 u. Commentar S. 20, Röder S. 123 unter 5, Bayer S. 31, Renaud S. 198. 130 Gönner, Handbuch S. 154, Brackenhöft S. 94, Bayer S. 32, Martin, Bürgerl. Process S. 138, Renaud S. 589, Wetzell S. 523. Das OAG Jena begründet das 1841 (SeuffArch Bd. 22 Nr. 101 S. 145 f.) damit, es liege - unter Rückgriff auf die RKGO 1555 Tl. 3 Tit. 34 § 1 - kein "unwiederbringliches Unrecht" vor, s. auch oben S. 34. 131 Gensler, Handbuch S. 50 f. u. Commentar S. 20, Gesterding S. 132 N. 13, Scheurlen S. 82. 132 Gönner, Handbuch S. 140, 163 (zur Nichtigkeit auch Entwurf Bd. 1 B. 4 Kap. 3 § 12 Ziff. 7 [So 366] und zum Prinzip der Verteidigung ebd. B. 1 Kap. 5 § 4 [So 80 f.]), Brackenhöft S. 91 f., Wilhelm Endemann, Das Deutsche Civilprozeßrecht, Heidelberg 1868, S. 946 N. 9, wohl auch Röder, S. 116 f., weitergehend Karl Friedrich Reinhardt, Handbuch des gemeinen teutschen ordentlichen Processes, Tl. 2 Stuttgart 1824, S. 263, der allein auf die Vollstreckbarkeit des Urteils abstellt; gegen Gönner, Handbuch, Wetzell S. 798. Allgemein nehmen Nichtigkeit an Herquet S. 58, Osterloh Bd. 2 S. 243, Martin, Bürgerl. Process S. 120, Renaud S. 578. 133 Als Beispiel aus dem Schweizer Recht vgl. einerseits das Gesetzbuch über das gerichtliche Verfahren in Civil-Rechtssachen für die Stadt und Republik Bern von 1821 (hrsg. v. S. L. Schnell, Bern 1822), das als Nichtigkeitsgrund die fehlende Bekanntgabe des Urteilstermins kennt (327. Satzung), andererseits das Gesetzbuch über das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtssachen

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Der Rechtszustand um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ist dadurch gekennzeichnet, daß die das Gehör vermittelnde Vorladung, der Tradition entsprechend l34 , als ein wesentliches Stück des Prozesses angesehen wird und ihre Unterlassung Nichtigkeit bewirkt. Die hessische Verordnung von 1797 führt als eines der wenigen Gesetze die Essentialien einzeln auf und nennt Mängel der Ladung und den Ausschluß der Verteidigung des Beklagten als Nichtigkeitsgründe135 . Die sie bestätigende Verordnung von 1815 spricht nur noch allgemein von wesentlichen Mängeln des Prozesses 136, wozu die Rechtsprechung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts das rechtliche Gehör zähJt137. Das gemeine Recht mit seiner Formel, die Verletzung absolut wesentlicher Bestandteile des Prozesses führe zur Nichtigkeit, gilt in SchleswigHolstein 138 und Livland 139 ; es beeinflußt zum Beispiel die Braunschweigischen Gesetze von 1814 und 1850140 und die Gerichtsordnung für das gemeinschaftliche Oberappellationsgericht in Zerbst von 1817 141 . Die allgemeine Nichtigkeitsformel bleibt herrschend in Baden. Das Edikt von 1804 eröffnet einer nicht vorgeladenen oder nicht gehörten für den Kanton Bern (1847), das bei Verweigerung des rechtlichen Gehörs Nichtigkeit eintreten läßt (§ 363 Ziff. 2). 134 Vgl. zur Notwendigkeit der Ladung etwa UGO Zweibrücken (1657) Art. 12, Ulmer PO (1683) Tit. 38 Art. 2, Tit. 37 Art. 1, UGO des kurpfälzischen Landrechts (1700) Tit. 5 (bei Braun S. 32), Regensburger PO (1741) Tit. 3 § 1. 135 Art. 21, 3 (Text in der Sammlung Hoepfner des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt, Bd. 26 Justizsachen 1797 März 17); das beiderseitige Gehör regelt z. B. Art. 25 Abs. 1 der Laild- und StadtGO von 1818 (bei P. J. Floret, Motive zu dem Gesetzbuche für das Großherzogthum Hessen, über das Verfahren in bürgerlichen Rechtssachen, H. 1 Darmstadt/Gießen 1818, S. 83). 136 VO § 1 (Text in Sammlung der Verordnungen 1816 S. 8). 137 Vgl. Entscheidungen des hessischen OAG von 1849 und 1850 (bei Strippelmann S. 241 N. 94, S. 238 N. 86, weiter die Entscheidung von 1839 S. 245 N. 4); für Hessen-Kassel blieb grundlegend die Decisio 118 des OAG (vgl. Strippelmann, Das Ober-Appellationsgericht, Civil-Senat, zu Cassel, Kassel 1848, § 81 S. 300 N. 2; s. oben S. 39 N. 114). 138 Die Revidierte LandGO von 1636 zählte die Antwort zu den Substantialien (nach Schwartz S. 327); Schrader § 12, §§ 80, 84 zum summarischen Prozeß, § 34 zur Ableitung aus der Natur des Prozesses (S. 16,91,96,41), Francke Tl. 1 § 22 (S. 45 f.), zum Gehör in der 2. Instanz Tl. 2 § 117 (S. 295 f.). 139 Samson von Himmelstiern Tl. 1 § 109 m. N. a - c, §§ 5, 790 m. N. c (S. 41 f., 4, 289), Tl. 2 § 984 (S. 4) formuliert die Notwendigkeit des Gehörs aus Einzelbestimmungen des 17. Jahrhunderts. 140 VO 1814 § 2 Ziff. 1 Abs. 2, ZPO 1850 § 130 Ziff. 1, zum beiderseitigen Gehör §§ 181, 201 Abs. 2 (Gesetz- und Verordnungs-Sammlung Jg. 1 S. 34, Jg. 37 S. 99, 112, 117), weiter OAGO (s. oben S. 40 N. 121) § 62 (Sammlung Jg. 22 Tl. 2 S. 713); dagegen hatte nach Herquet S. 80 der E der OAGO von 1818 die Verletzung des Gehörs als speziellen Nichtigkeitsgrund aufgeführt. 141 § 21 Nr. 2, aus denselben Gründen war gemäß § 52 Nr. 1 die Nichtigkeitsbeschwerde gegen Urteile des OAG zugelassen; das OAG war zuständig für Schwarz burg -Rudolstadt, Schwarzburg-Sonders hausen, Anhal t-Bern burg, Anhalt-Dessau und Anhalt-Köthen.

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Partei die Nichtigkeitsbeschwerde l42 ; dagegen arbeiten die Zivilprozeßordnungen von 1831, 1851 und 1864 mit dem französischrechtlichen Begriff der wesentlichen Voraussetzungen der Rechtsbeständigkeit des Verfahrens und lassen eine Appellation ohne Rücksicht auf die Appellationssumme zu, wenn das Gericht eine die Prozeßgrundlage betreffende Einrede verworfen hat l43 • Die Gesetzgebung kann sich weitgehend auf die Vorarbeit der Theorie stützen. Für das mecklenburgische Recht1 44 bleibt die Lehre allein maßgebend, da die Oberappellationsgerichtsordnung von 1818 die Nullitätsbeschwerde ganz ausschließt1 45 • Sie sieht in übereinstimmung mit der allgemeinen Entwicklung ursprünglich die Ladung als Substantiale an, stellt jedoch später das Prinzip des rechtlichen Gehörs als legale Gelegenheit zur Verteidigung heraus l46 • Diese Entwicklung läßt sich auch für Sachsen, Bayern und Preußen verdeutlichen. Die Rechtsfortbildung in Sachsen 147 ist maßgeblich beeinflußt worden durch die mittelbar von der Kameralistik geprägte Prozeßordnung aus dem Jahre 1622. Sie räumt der Zitation als dem "ersten Fundamentalstück des processus" einen besonderen Platz ein l48 ; die Alten142 Edikt Ziff. 11, 8, zur naturrechtlichen Grundlage Ziff. I, 1 (bei Obermüller S. 89, 88); Drais S. 128. Auf die "gesunde Vernunft" berief sich bereits die Vorläufige VO von 1752, Einl. (nach Schwartz S. 377); die Rechtsbelehrung des Kurfürstlichen Geheimen Rats von 1806 (bei Obermüller S. 217) bezieht sich für die Substantialien des summarischen Prozesses auf die Clementina Saepe (s. oben S. 18). 143 ZPO 1831 § 1175 Nr. 2 (bei Zentner S. 75, zur Anwendung auf das Gehör Kommentar Anm. 111 1 [So 91]), ZPO 1851 § 1128 Nr. 2, ZPO 1864 § 1106 Nr. 3 (bei Stempf S. 269, amtliche Begründung ebd. S. 270). Rechtsprechung bei R. von Freydorf, Prozeß-Ordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für das Großherzogthum Baden, Allgemeiner Tl. Heidelberg 1867, S. 321 (Entscheidungen des badischen Oberhofgerichts von 1856 und des Hofgerichts Mannbeim von 1860). 144 Zum naturrechtlich begründeten Gehör gemäß dem dem Zivilprozeß nachgebildeten Revers von 1572 s. unten S. 53 N. 193; zum Gehör im summarischen Prozeß vgl. die Renovirte Vor-Pommersche Hof GO von 1672 Tit. 2 § 12 (nach Schwartz S. 302). 145 § 39 (bei Raabe Bd. 2 S. 232); § 36 Abs. 7 der PublikationsVO (ebd. S. 223) bindet das OAG in übergeleiteten Prozessen auch bezüglich des dem Gegner zu gestattenden Gehörs an die beim RKG geltenden Vorschriften und beweist damit mittelbar die Geltung des Prinzips im Reichskammergerichtsprozeß. 146 Einerseits Mehlen §§ 187, 413 (S. 236, 596), andererseits Kamptz, Vorrede zur 1. Ausg. S. 8 u. §§ 32 ff. (S. 96 ff.), Trotsche § 88 (S. 486). 147 Einzelfälle des rechtlichen Gehörs bereits in einem herzoglichen Reskript von 1595 (bei Johann Christi an Maeler, Geschichte und Verfassung der Rechtspflege und Prozeßform in bürgerlichen Sachen bey den alten Deutschen und Sachsen, Leipzig 1790, Anh. Nr. 17 S. 408 f.), weiter in der Landtags-Proposition von 1787 (bei Schweitzer § 10 S. 28 N. 35). 148 PO 1622 (sog. "alte sächsische PO") Tit. 4 § 1 (bei Schier S. 65), zum Einfluß Mynsingers SchI etter Einl. S. 15; die PO von 1724 (sog. "erneuerte PO") ad Tit. 38 § 1 (bei Schier S. 353) behandelt die fehlende Ladung als Nichtig-

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burgische Prozeßordnung von 1743 und ihr folgend die Gothaische von 1776 lassen bei fehlender Ladung die gemeinrechtliche Anfechtungsfrist eingreifen 149 • Demgemäß betrachtet auch die Theorie, angefangen bei Carpzov (1657)150 über Martin (1710)151, Ziegler (1710)152 und Hermann (1733)153 bis Schaumburg (1781)154 die Zitation als ein Substantiale für die spätere richterliche Entscheidung. Erst die Zivilprozeßlehre des 19. Jahrhunderts stellt das rechtliche Gehör als selbständigen Grundsatz dar 155 • Derselbe Umschwung zeigt sich an der Behandlung des "Codex juris bavarici judiciarii" von 1753. Das Gesetz bestimmt, bei Vermeidung unheilbarer Nullität müsse der Beklagte gehört und dazu vor Gericht geladen werden, ein ohne Ladung ergangenes Urteil erwachse nicht in Rechtskraft und ein das Gehör ausschließendes "mandatum sine clausula" sei nur ausnahmsweise zulässig l56 . In Kreittmayrs Kommentierung (1778) stehen die Zitation und das Gehör in gleichem Rang nebeneinander l57 • keitsgrund. Zur Bedeutung der bei den Gesetze Carl Wilhelm Ernst Heimbach, Lehrbuch des particulären Privatrechts, Jena 1848, § 57 N. 2 (S. 87). 149 Altenburgische PO Tl. 1 Kap. 34 § 1, Gothaische PO Tl. 1 Kap. 34 § 1, zum Einfluß der ersteren Vorspruch (2. S. ); zur Interpretation Johann Bernhard Christoph Eichmann, Etwas über die Nichtigkeitsquerel wider Sentenzen in Sachsen, in: Rechtliche Bemerkungen und Ausführungen, Bayreuth 1803, S. 256, 258. 150 Processus juris in foro Saxonico Tit. 7 Art. 1 Nr. 5 u. 9, Tit. 19 Art. 3 Nr. 2, Tit. 23 Art. 1 Nr. 26 (S. 211, 674, 756), unter starker Betonung der bloßen Bedeutung des Gehörs für die Wahrheitsfindung Tit. 7 Art. 1 Nr. 7, Tit. 23 Art. 1 Nr. 25 (S. 211, 756). 151 Commentarius forensis zu Tit. 4 § 1 der PO von 1622, Nr. 6 ff. (Bd. 1 S. 195 f.) und zu Tit. 38, Nr. 3 u. 21 (Bd. 2 S. 140, 142). 152 Introductio ad processum fori Saxonici (in der Ausg. des Kommentars) Kap. 3 § 1 (S. 10), zur bloß mittelbaren Bedeutung des Gehörs ebd. und Kommentar, Notae ad Tit. 4 der PO von 1622 (S. 21) unter Bezug auf Johannes Ronchegallus, Tractatus de duobus reis constituendis, Marburg 1622, Lex Quarta Nr. 21 (S. 437). 153 B. 1 Sekt. 1 Kap. 18 § 12, Sekt. 2 Kap. 1 § 5 (S. 292, 395), zur mittelbaren Bedeutung des Gehörs Vorbericht §§ 27, 80, 82 (S. 5, 14). 154 Tl. 4 Exercitatio 3 Kap. 1 §§ 5, 15, Kap. 2 § 25 unter Bezug auf die PO von 1724 (S. 1270, 1275, 1346), zur mittelbaren Bedeutung des Gehörs ebd. Kap. 1 § 1 (S. 1265). 155 Schweitzer § 10 (S. 28) unter Einfluß von Martins Bürgerl. Process (Vorrede S. 7), ihm folgend (Vorrede S. 11) Kori § 2 (S. 4), der das Gehör im Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerde selbst aus der Natur der Sache folgert (§ 185 rS. 323]), bei den folgend (Vorrede S. 14) Heimbach §§ 14 f. (S. 38 f.), zur Rechtsprechung des OAG Jena ebd. § 14 S. 38 N. 1. 156 Kap. 5 § 1: "Der Beklagte soll ... gehört, und zu dem Ende bei Gericht vorgeladen werden", Kap. 16 § 2, Kap. 5 § 7, vgl. dazu die Entscheidung des OAG München von 1840 in Seufferts Blättern für Rechtsanwendung Bd. 5 (1840) S. 207 und Seuffert ebd. Bd. 4 (1839) S. 33 ff. Zur bayerischen Reformgesetzgebung und zur Verwirklichung des rechtlichen Gehörs Werner Hartig, Die Reform der prozeßleitenden Grundsätze im bayerischen Zivilprozeßrecht (Erkenntnisverfahren) von der Zeit Kreittmayrs bis zum Ende der Partikulargesetzgebung, Diss. Bonn 1968, S. 13 ff., 68 ff.

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1 Die geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes

Dagegen wird im 19. Jahrhundert die Möglichkeit vollständiger Rechtsverteidigung, die beiden Parteien rechtliches Gehör gewährt, als ein Hauptgrundsatz des Gesetzes bezeichnet1 58 ; das die Einzelnormen tragende Prinzip selbst erscheint bei seiner Verletzung als Nichtigkeitsgrund159• Die Gesetzgebung folgt dieser Tendenz in dem ZPO-Entwurf von 1825, der sich auf Gönners Gesetzesentwurf von 1815 stützt. Der bayerische Entwurf hat, soweit ersichtlich, als einziger Versuch der Gesetzgebung 160 sowohl das rechtliche Gehör als Verfahrensgrundsatz und Recht der Partei im "allgemeinen Teil" geregelt als auch seine Verletzung zum Nachteil der unterliegenden Partei ausdrücklich als Nichtigkeitsgrund qualifiziert1 6l . In der ZPO von 1869 wird die Bestimmung, eine Partei müsse auf neues Vorbringen des Gegners erwidern können, zur Grundlage des Gehörs, dessen Verletzung jedoch nur unter dem allgemeinen Gesichtspunkt des Verstoßes gegen eine prozessuale Rechtsregel zur Nichtigkeitsbeschwerde berechtigt 162 • In Preußen kennt die Allgemeine Gerichtsordnung von 1793 die Verletzung der für jedes Verfahren notwendigen Ladung als Nichtigkeitsgrund 16s , während die Verordnung von 1833 ausdrücklich das fehlende Gehör des Rechtsmittelklägers im Vorverfahren als Verletzung einer wesentlichen Prozeßvorschrift bezeichnet1 64 • Die Literatur des 19. Jahr157 Kap. 5 § 7, Kap. 16 § 2 (S. 217, 545), dagegen erscheint in Kap. 5 § 1 (S. 210) das Prinzip "Audiatur et altera pars" und wird naturrechtlich begründet; Autorschaft Kreittmayrs nach Holzmann / Bohatta Bd. 1 Nr. 2049. 158 Mündler Vorrede (2. S.) u. §§ 8,14,847 (S. 3, 5, 222). 159 Seuffert Bd. 1 Kap. 3 § 2 C (S. 322), Bd. 4 Kap. 16 § 2 I (S. 217), Joseph v. Stürzer, Theoretisch praktische Bemerkungen zum dermaligen bayerischen Civilgerichts-Verfahren, hrsg. v. Karl Gutschneider, München 1838, S. 381,

826 f.

160 Dagegen als Beispiel des ausländischen Rechts ebenso der Züricher ZPOEntwurf (1844) §§ 92, 520, die ZPO (1866) §§ 63, 257 Abs. 6 (bei Kaufmann S. 12, 27) sowie das Gesetz betreffend die zürcherische Rechtspflege (1874) §§ 285 Abs. 1, 704 Nr. 6. Zur Gerichtspraxis Hermann Rudolf Balsiger, Kassation und Kassationsgericht im Kanton Zürich, Diss. Zürich 1903, S. 127 ff. 161 § 200 Abs. 1: "Jede Partei hat unbedingten Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs", Abs. 2: "Kraft desselben hat sie das Recht, von dem Gerichte zu verlangen, daß ihr die vollständige Rechtsvertheidigung innerhalb der in diesem Gesetzbuche bestimmten Grenzen möglich gemacht werde", § 1026 Abs. 1 Nr. 4: Verfahren oder Urteil sind nichtig, "wenn dem unterliegenden Theile das rechtliche Gehör nicht gewährt worden ist"; zum Gönnerschen Entwurf als Vorlage Vorrede S. 5, zu Gönner s. oben S. 41 N. 127, S. 42 N. 132. 162 Art. 158 (bei Wernz Abt. 1 S. 168), 788 Nr. 7 (ebd. Abt. 2 S. 652 und Wernz Anm. 19 [So 6571), zum Gang der Verhandlung Art. 506 Abs. 1 (ebd. Abt. 1 S. 482). Im einzelnen zum Gehör Wernz Anm. 2 u. 3 zu Art. 158 (Abt. 1 S. 168 f.), Gottfried Schmitt, Der bayerische Civilprocess, Bd. 1 Bamberg 1870, S. 474 f., zur Verbindung mit der Verhandlungsmaxime Marquard Adolph Barth, Commentar zur neuen Civilprozeßordnung für das Königreich Bayern, Bd. 1 Nördlingen 1869, S. 405 f. 163 AGO i. d. F. v. 1815 Einl. § 67, Tl. 1 Tit. 16 § 2 Nr. 6, zu den summarischen Prozessen Tl. 1 Tit. 25 §§ 4, 45, Tit. 26 § 4.

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hunderts nimmt diese Regelung als Ansatz für das selbständige Prinzip des rechtlichen Gehörs l65 , wobei sich die Betonung als Parteirecht1 66 aus der Überwindung der Inquisitionsmaxime im Zivilprozeß im Jahre 1846 erklärt. In Württemberg, Hannover und Oldenburg sind die alte Auffassung der Ladung als Essentiale und die neue des verselbständigten Gehörs unterschiedliche Verbindungen eingegangen. Das württembergische Vierte Edikt von 1818 enthält einerseits neben Einzelfällen des Gehörs den Grundsatz, der Beklagte müsse über jede Forderung gehört werden, und knüpft andererseits bezüglich der Nichtigkeitsklage an die Regelung der Landrechte aus dem 16. und 17. Jahrhundert und die Erfassung der Ladung als Essentiale an 167 • Die Theorie arbeitet das - auch auf Rechtsausführungen bezogene - Gehör als Prinzip heraus, jedoch beschränkt auf eine Entscheidung zum Nachteil der Partei 16B • Diesem Stand entspricht die ZPO von 1868, die sich auf den Hannoverschen Entwurf einer allgemeinen ZPO für die deutschen Bundesstaaten von 1866 stützt. Sie kehrt das ursprüngliche Verhältnis zwischen der Ladung und dem durch sie vermittelten Gehör um, indem sie die Nichtigkeitsklage bei Entziehung des rechtlichen Gehörs gewährt und als dessen Anwendungsfall die nicht ordnungsgemäße Ladung erwähnt l69 • 184 VO § 5 Nr. 1 i. V. m. § 4 Nr. 2, zur Heilbarkeit § 6 (Text in PrGS 1833 S. 302 ff.), zu § 5 Deklaration von 1839 Art. 3 Nr. 1 u. Ausführungsinstruktion von 1839 Nr. 12 (PrGS 1839 S. 127, 137 f.), weitergeführt im E 1860 § 3 Abs. 1 Nr. 4 u. im Revidierten E 1860 § 4 Abs. 1 Nr. 9 (Justiz-Ministerial-Blatt für die Preussische Gesetzgebung und Rechtspflege 1860 S. 183, 438); aus der Rechtsprechung vgl. die Entscheidungen des Obertribunals in Bd. 11 S. 486 ff. (489) und im Schlesischen Archiv für die praktische Rechtswissenschaft Bd. 5 (1843) S. 393 ff. (Leits. 3 u. S. 398). 165 Koch § 362 (S. 692 f.), deutlich Benedikt Franz Leo Waldeck, Die Nichtigkeitsbeschwerde als das alleinige Rechtsmittel höchster Instanz, Berlin 1861, S. 81, weiter August Wilhelm Heffter, Civil-Proceß oder das gerichtliche Verfahren bei bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten im Gebiete des Allg. Landrechts für die Preußischen Staaten, Berlin 1856, § 62 (S. 75). 166 Buddee S. 4, 30, 39. 167 Edikt §§ 36 Abs. 1, 159 Abs. 1, Einzelfälle der wechselseitigen Rechtsverteidigung in §§ 15 Nr. 2 c, 65 Abs. 1, 78 Nr. 7, zur Gehörgewährung als Richterpflicht § 64 Abs. 1 (bei Berner S. 17,86, 11, 33, 41, 32); zu den Landrechten s. oben S. 33 N. 86. 168 Berner Anm. zu § 87 des Edikts (S. 244 f.), zu Redltsausführungen Anm. zu §§ 121 - 124 (S. 265); zum Prinzip des wechselseitigen Gehörs C. Schütz, Der würtembergische Civil-Proceß, Tübingen 1834, S. 232. Das Obertribunal Stuttgart beruft sich 1859 (SeuffArch Bd. 13 Nr. 199 S. 280) für die Nichtigkeit des Urteils bei fehlendem Gehör für den Unterlegenen unmittelbar auf C. 7.43.3, s. oben S. 14 N. 5. 169 ZPO Art. 733 Nr. 8 (Die Neue Justizgesetzgebung Bd. 2 Abt. 1 S. 149), zum Einfluß des Entwurfs der Bundeskommission (Hannoverscher Entwurf § 609 Nr. 9 u. 10) vgl. den Bericht der Kommission der Abgeordnetenkammer (Die Neue Justizgesetzgebung Bd. 2 Abt. 2 S. 380 unter 111).

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Im Hannoverschen Bereich erscheint nach der Celler Kanzleiordnung von 1656 die Ladung als Essentiale jedes Prozesses 17O , während zu Beginn des 19. Jahrhunderts das fehlende Gehör in der Lehre als selbständiger Nichtigkeitsgrund angesehen wird l7l . Die Untergerichtsordnung von 1827 gewährt wie das württembergische Edikt die Nichtigkeitsklage, wenn dem Unterlegenen das rechtliche Gehör versagt wurde172, während die ZPO von 1850 weniger deutlich von der Möglichkeit der Verteidigung gegen die Anträge des Gegners spricht1 73 • Das von der Hannoverschen ZPO beeinflußte Oldenburgische Gesetz von 1858 verfügt bei fehlender Ladung die Nichtigkeit des Rechtsstreits gegenüber der Partei und eröffnet die Nichtigkeitsbeschwerde bei gesetzwidriger Entziehung des Gehörs, das von den Motiven als "prozessualisches Grundrecht" bezeichnet wird174 •

146 Das Gehör in der RZPO Theorie und Gesetzgebung haben die Grundlage geschaffen, auf der die selbstverständliche Geltung des Gehörs auch in der RZPO von 1877 beruht. Nur ist sie nicht in einer ausdrücklichen Bestimmung greifbar und wird nicht mehr rechts technisch als Nichtigkeitsgrund erfaßt. Der Entwurf für den Norddeutschen Bund von 1870 bedient sich noch des Rechtsmittels der Nichtigkeitsbeschwerde, bestimmt aber die Voraussetzungen nach französischem Vorbild nur allgemein mit der Verletzung eines Gesetzes 175 • Im ZPO-Entwurf von 1872 tritt an seine Stelle die als beschränkte Berufung verstandene Revision 176 • Die "Nichtigkeitsklage" 170 Art. 14, dagegen nach Art. 42 nicht als Nullitätsgrund mit gemeinrechtlicher Frist (Text bei Hoffmann S. 16, 43), anders hier die Celler Hof GO von 1685 Tl. 2 Tit. 34 § 1 (ebd. S. 415). 171 von Bülow § 205 (S. 109), eigenartigerweise als Mangel in der Person der Parteien (im Sinne der Kategorien des JRA) bezeichnet, Oesterley Tl. 1 § 17 (S. 84, 85 unter 5, 86 m. N. 25), Tl. 2 § 261 (S. 388); die OAGO von 1713 selbst (Text bei Theodor Hagemann, Die Ordnung des Königlichen Ober-ApellationsGerichts zu Celle, Hannover 1819) ist nicht ergiebig. 172 UGO § 158 Abs. 1 (bei Spangenberg Abt. 2 S. 251, der als Beispiel die fehlende Vorladung erwähnt [So 2601). 173 ZPO § 431 Nr. 11, für die bloß mittelbare Bedeutung des Gehörs sprechen § 100 und die den Zusammenhang mit der Mündlichkeit betonenden Motive (bei Leonhardt S. 5); die Regelung ist übernommen in § 102 Abs. 1 Nr. 11 des Lippischen Gesetzes von 1859 (Gesetz-Sammlung für das Fürstenthum Lippe Bd.4 [1858 - 1860] S. 249). 174 Art. 139 Buchst. b, 266 Ziff. 8 (bei Becker S. 102, 186), Motive ebd. S. 8 unter 3; ebenso der Entwurf einer Civilproceßordnung für das Herzogthum Oldenburg (1856) Art. 119 Nr. 2, 191 Nr. 9 (vorh. im Staatsarchiv Oldenburg, Bestand 31, XIII-30-55). Das Herzoglich-Oldenburgische Proceß-Reglement (1824) § 23 Abs. 4 hatte dagegen nur allgemein von den wesentlichen Bestandteilen des Prozesses gesprochen. 175 Entwurf § 808 Abs. 1.

15 Das Gehör im Strafprozeß bis zur RStPO

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innerhalb der Regelung der Wiederaufnahme hat mit dem gemeinrechtlichen Institut nur den Namen gemein 177 , während die Restitutionsgründe des falschen Zeugnisses und falscher Urkunden auf eine eigene Tradition als Nichtigkeitsgründe zurückgehen 178 •

15 Das Gehör im Strafprozeß bis zur RStPO Eine selbständige Entwicklungslinie des Gehörs im Strafverfahren setzt an mit der allmählichen Umwandlung vom Anklage- zum Inquisitionsprozeß. 151 Der Strafprozeß als Anklageprozeß Soweit sich das Strafverfahren als Anklageprozeß mit zwei Parteien darstellt, bestimmt sich die Geltung des Gehörs nach den für den Zivilprozeß gültigen Grundsätzen. Es handelt sich demnach um das beiderseitige Gehör, wie die Verwendung der Formel des Sachsenspiegels 179 und ausdrückliche Regelungen zeigen180. Der Gedanke setzt sich fort im fiskalischen Prozeß, sofern er in Analogie zum bürgerlichrechtlichen Verfah176 Entwurf § 479, dazu Begründung des Entwurfs einer Deutschen Civilprozeßordnung und des Einführungsgesetzes, Berlin 1872, zu §§ 477 - 496 (S.403). 177 Unrichtig Begründung des E 1874 zu §§ 517 - 530 und allgemeine Begründung § 14 (bei Hahn S. 378, 141), Eduard Siebenhaar, Kommentar zur Deutschen Civilprozeßordnung, Leipzig 1877, S. 524, otto Fischer, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeß- und Konkursrechts, Berlin 1918, S. 234. 178 Vgl. C. 7. 58. 1 - 4, bei Placentin ein Anwendungsfall der exceptio nullitatis (bei Skedl S. 115, s. oben S. 16), Tengler Tl. 2 Tit. Von nichtigen urtailen, aus der Gesetzgebung Ordnung des Oberhofgerichts zu Leipzig von 1488 (bei Karl Gottlob Günther, Das Privilegium de non appellando, Dresden/Leipzig 1788, Beil. 5 S. 105), Lippische Hof GO (1593) Tl. 2 Tit. 43 § 2 (Text in LandesVerordnungen der Grafschaft Lippe, Bd. 1 Lemgo 1779, s. 266), GO des Hofgerichts Jena (1653) Kap. 36 (Des Fürstlichen Sächsischen gemeinen HoffGerichts zu Jehna Erneuerte und verbesserte Ordnung / Im Jahr Christi MDCLIII, Jena o. J.), Calenbergische Kanzleiordnung (1664) Tit. 32 § 1 (bei Hoffmann S. 151), Verbesserte Magdeburger PO (1696) Ad cap. 44 § 1 S. 2 (bei Mylius, Corp. Const. Magd. Tl. 2 Nr. 2 S. 99 ff.), PO für Schwarzburg-Rudolstadt (1704) Tl. 3 Tit. 2 § 3 (in: Proceß-Ordnung für das Fürstenthum SchwarzburgRudolstadt, Rudolstadt 1825, S. 82), Mühlhauser PO (1730) Tl. 1 Tit. 33 § 1, preußische AGO (1793 i. d. F. v. 1815) Tl. 1 Tit. 16 § 2 Nr. 1. m Iglauer Schöffenspruch (um 1400; bei Tomaschek Nr. 336), Lindauer Urteilsbriefe (um 1500; bei Heyder Anh. Nr. 141 - 143 [So 818, 820, 823]), Urteil eines schwäbischen Halsgerichts (1548, bei Kroeschell Tl. 2 S. 276), brandenburgische HalsGO (1582) Art. 230 (bei J. S. Fr. v. Boehmer, Meditationes Anh. S. 161), Würzburger Zentbuch (16. Jh.; bei Knapp S. 50), Urteile des Blutgerichts der Herrschaft Burkheim a. K. (17. Jh.; bei Leiser Anh. 5 a u. b S. 249, 250), Emerich von Rosbach, Practica criminalis Tit. 7 Kap. 1 Nr. 11 (S. 734), Heidelberger Ratsprotokoll von 1711 (bei Braun S. 65 N. 12). 180 Brünner Schöffenbuch (14. Jh.) Nr. 385 (bei Rössler S. 176), württ. 3. Landesordnung von 1521 (bei Gehring S. 174), Lüneburger Hof GO von 1564 (bei Esaias Pufendorf, Introductio Anh. S. 294, zur Urteils formel S. 295; 1732 hat das nur noch theoretische Bedeutung: Introductio Kap. 2 § 7 [So 9]).

4 Rüping

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ren als Parteiprozeß aufgefaßt wird 181 , wie in Saurs Darstellung für das hessische Recht im 16. Jahrhundert1 82 und noch vereinzelt im 17. und 18. Jahrhundert l83 • Entsprechendes gilt für die Theorie. Die Rezeption vermittelt die Lehre der italienischen Kriminalisten des 16. Jahrhunderts. Da hier der Strafprozeß noch Anklageprozeß ist und nur bei bestimmten schwereren Delikten inquisitorisch verfahren wird, ist das Gehör in Analogie zum bürgerlichrechtlichen Prozeß durch die naturrechtlich begründete Zitation l84 gewährleistet, die in jedem Verfahren, auch bei einem notorischen Delikt, vorliegen muß185. In der deutschen Theorie erscheint der Anklage181 Zum "Strafprozeß unter fiskalischer Beteiligung" und zum "fiskalischen Strafprozeß" als bloßen Abarten des Inquisitionsprozesses, z. B. in Preußen, vgl. Eb. Schmidt, Fiskalat und Strafprozeß, München/Berlin 1921, S. 103 - 105 (zum hessischen Recht dagegen S. 30). Dasselbe gilt für Kurköln noch im 18. Jh. (vgl. das bei Schoeneseiffen S. 68 angeführte Urteil des Bonner Hofrats von 1761). Zum Unterschied zwischen einem Fiskal und einem (privaten) Ankläger Reinmann Kap. 1 § 3 N. e (S. 5); zu Ansätzen eines öffentlichen Anklägers in Vorderösterreich im 16. Jh. Leiser S. 188. 182 Vgl. im Peinlichen Processz die Formeln des Endurteils, Actus Sextus (S. 79, 80, 81) und in der Praeparatio ad processum das bezeichnende Abstellen auf das Audiatur et altera pars (S. 1, s. auch oben S. 29). Erst 1775 wurde in Hessen der als Parteiprozeß verstandene fiskalische Prozeß zu Gunsten des Inquisitionsprozesses abgeschafft (dazu Fritz Amrhein, Die Entwicklung des hessischen Strafprozeßrechts im 18. und 19. Jh., Diss. Würzburg 1955, S. 84). 183 Urteile des Landgerichts Pernau von 1686 sowie Art. 25 der LandgerichtsOrdonnanz von 1632 (bei W. v. Bock, Zur Geschichte des Kriminalprocesses in Livland, Dorpat 1845, S. 81, 82, 15), württ. Kriminalordnung (1732) § 15 (bei Johann Ernst Pistorius, Commentatio juridica de processu criminali tarn inquisitorio quam accusatorio, Tübingen 1764, Anh. S. 190 f.), Gothaische PO (1776) Tl. 3 Kap. 8 § 4, Hermann B. 2 Kap. 4 § 129 (S. 830), zu Resten des Akkusationsprozesses in Sachsen gegen Ende des 18. Jhs. Zach. Richter, Institutiones §§ 60, 75 (S. 19, 23).

184 Aus der Gesetzgebung so die Ungarische Goldene Bulle von 1222 (bei Robert von Keller, Freiheitsgarantien für Person und Eigentum im Mittelalter (Deutschrechtliche Beiträge Bd. 14 H. 1), Heidelberg 1933, S. 200). 185 Hippolytus de Marsiliis §§ Constante Nr. 92, Secunda quaestio Nr. 8, 43, 70, 77, Ultima quaestio Nr. 20, Aggredior Nr. 133 (S. 60, 343, 358, 367, 368, 486,555), Bossius Tit. De inquisitione Nr. 17, Quomodo procedatur in crimine notorio Nr. 4, De nullitate adversus sententiam Nr. 6, zu Einschränkungen im Notorietätsverfahren De indiciis et considerationibus ante torturam Nr. 76 (BI. 25, 62 v, 328 v, 101 v), Clarus § Fin. Qu. 3 Nr. 3, Qu. 9 Nr. 7, Qu. 31 Nr. 1, Qu. 49 Nr. 13 f. (S. 75, 89, 132, 183), dazu Ernst v. Moeller, Julius Clarus aus Alessandria (Strafr. Abh. H. 136), Breslau 1911, S. 148 ff., Farinacius B. 1 Qu. 21 Nr. 11, 69 f., 133, Qu. 39 Nr. 41, zu Einschränkungen der Verteidigung Nr. 102 f. (S. 299, 305, 312, 624, 631 f.). Vgl. schon Albertus Gandinus, Tractatus de maleficiis (um 1300), Kap. De citationibus pr., zum Prinzip der defensio Quid sit agendum reD presente § 4, De defensionibus a reis faciendis § 16, De homicidiariis § 4, De multis questionibus maleficiorum ... § 13, zum notorium De presumptionibus et indiciis indubitatis § 6, Quomodo de maleficio cognoscitur § 4 (bei Hermann Kantorowicz, Albertus Gandinus und das Strafrecht der Scholastik, Bd. 2 BerliniLeipzig 1926, S. 105, 153, 184 f., 280, 407 f., 96, 101) und Johannes Petrus de Ferrariis (15. Jh.), Practica eximia atque omnium aliarum praestantissima, Ausg. Frankfurt 1581, Tit. Quo petitur haereditas ex testamento, § Contradictionibus, et exceptionibus Nr. 2 (S, 477).

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prozeß noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts als der reguläre Prozeß; die Ausnahmeform des Inquisitionsprozesses folgt den Regeln des summarischen bürgerlichrechtlichen Verfahrens 186 •

152 Der gemeinrechtliche Inquisitionsprozeß Die Anknüpfung an den bürgerlichrechtlichen Prozeß mit seinen weitreichenden Verteidigungsmöglichkeiten bedeutet wegen der praktischen Geltung des Inquisitionsprozesses allerdings nicht mehr als eine literarische Reminiszenz ohne Auswirkung auf das Verfahren. Da sich Anklageund Inquisitionsprozeß nur durch die Einleitung des Verfahrens unterscheiden, besteht sachlich kein großer Abstand zu dem in der Gesetzgebung und Theorie herrschenden gemeinrechtlichen Inquisitionsprozeß. Für die Behandlung des Gehörs werden dabei zwei gegenläufige Ansätze wirksam. Einmal hat die Lehre schon frühzeitig erkannt, daß die Stellung eines Inquisiten nicht mit der eines Beklagten verglichen werden kann. Bis der im späteren Absolutismus wurzelnde staatliche Machtwille auch den allgemeinen Strafprozeß beherrscht, legt es die Anwendung des Inquisitionsprozesses gerade bei gravierenden Delikten nahe, in diesen schwerwiegenden Fällen die Stellung des Betroffenen besonders zu sichern, wenn auch nur als Rechtsrefiexe von Geboten an den Richter. Da das freiwillige Erscheinen des Angeklagten auf Grund einer Ladung im Inquisitionsprozeß keine Rolle spielt, scheidet die "citatio" als dogmatischer Anknüpfungspunkt für das Gehör aus. Dasselbe gilt für das formale Prinzip der Gleichheit in der Gehörgewährung, da dem Inquisiten nur der Richter-, Ankläger- und Verteidigerfunktion vereinigende Inquirent gegenübersteht. Die Entwicklung drängt daher, begünstigt durch das naturrechtliche Denken, zur Herausarbeitung des Gehörs als materialen Prinzips. Zunächst soll dieser für die Ausbildung des rechtlichen Gehörs entscheidende Beitrag gezeigt werden. Auf der anderen Seite hat der Inquisitionsprozeß in bestimmten Erscheinungsformen ungeachtet der theoretischen Fundierung des Verteidigungsrechts zur völligen Rechtlosigkeit des Inquisiten geführt. Die Konzentration aller Befugnisse in der Hand des Richters bot bei gravierenden Tatbeständen, wie Hexerei, Zauberei und Majestätsdelikten, die Handhabe, den Prozeß jeder schützenden Form zu entkleiden und alles 186 Emerich von Rosbach, Practica criminalis (1658) Tit. 1 Kap. 7 Nr. 2, Kap. 12 Nr. 6 (S. 197, 228), Matthaeus B. 48 Tit. 20 Kap. 1 Nr. 1 ff. (S. 865 f.), zum beiderseitigen Vorbringen ebd. Tit. 17 Kap. 1 Nr. 1, 3 (S. 729), weiter Damhouder (zuerst 1556) Kap. 8 Nr. 6 (S. 11) und Reusner (1602) Bd. 3 Consilium 2 Nr. 104 (S. 28). Aus der Praxis das Heidelberger Ratsprotokoll von 1711 bei Braun S. 65 N. 12, dazu S. 64; s. auch oben S. 49 N. 179.

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dem gewünschten Ergebnis: der Ausrottung gemeingefährlicher Verbrecher, zu opfern. Darauf wird am Schluß im einzelnen einzugehen sein. 1521 Das Gehör in der Gesetzgebung Die Karolina bestimmt im Anschluß an die Bambergensis in Art. 47, der Gefangene solle vor der Tortur an die Ausführung seiner Unschuld erinnert werden, und in Art. 155, auch ein in die Acht Erklärter sei bei seiner Gefangennahme mit seinen Ausführungen zuzulassen 187 • Sie deutet damit die für den Inquisitionsprozeß kennzeichnende Auffassung an, der Richter sei aus dem Gedanken der Fürsorgepflicht positiv zur Gehörgewährung verpflichtet. Die Konzeption eines Prozesses, die durch Konzentrierung der Prozeßherrschaft in der Person des Richters die materielle Wahrheit ermitteln will, setzt bei seiner Stellung an und nicht bei der des Angeklagten, für den sich Gebote an den Richter nur als Rechtsreflexe auswirken. Auch Art. 91 der Karolina zeigt die überwindung des Anklageprozesses: wenn der Widerruf des Geständnisses am endlichen Rechtstag die Vollstreckung hindert, ist das Vorbringen des Inquisiten zwar noch von gewisser Bedeutung, ohne daß aber das Urteil als Ergebnis einer kontradiktorischen Verhandlung angesehen werden könnte lg8 • Nur folgerichtig sprechen spätere Prozeßordnungen einem Widerruf jede Wirkung ab 189 • Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 verrät den Einfluß des Inquisitionsprozesses, wenn sie die Nullitätsklage in Strafsachen für die praktisch bedeutsamen Fälle l90 eröffnet, daß "unerfordert und unverhört / und also nichtiglich / oder sonst wider natürliche Vernunfft und 187 Text bei Kohler und Scheel. Vgl. Bambergensis Art. 58, 180 (Text bei Kohler und Scheel); ähnlich bereits die Wormser Reformation (1498) B. 6 Tl. 2 Tit. 7. 188 Art. 91 der Karolina entsprechen die Altenburgische PO (1743) Tl. 3 Kap. 11 § 11 und die Gothaische (1776) Tl. 3 Kap. 11 § 8, die die bloße Zeremonie deutlich werden lassen (§ 8 bzw. § 5 a.a.O.), so auch für die Zwickauer Reformation Johann Peter Vogel, Der strafprozessuale Teil der Zwickauer Stadtrechtsreformation von 1539/1569 als Ausfluß des Rezeptionsgeistes, Diss. Heidelberg 1960, S. 60 und für die Steiermärkische PeinlGO (1574) Fritz Byloff, Das Verbrechen der Zauberei (crimen magiae), Graz 1902, S. 216, 217 N. 16 gegen Vargha S. 205 f.; Eb. Schmidt, Einf. S. 130 und Inquisitionsprozess S. 133 ff., 149, 150. 189 So schon Art. 107 der Bambergensis; brandenburgische HalsGO (1582) Art. 108 (bei J. S. Fr. v. Boehmer, Meditationes Anh. S. 123 f.), übernommen in die PeinlGO von 1720 Art. 18 (Neue Ordnung / Des Durchläuchtigsten Fürsten und Herrn / Herrn Wilhelm Friederich / Marggrafens zu Brandenburg ... Wie es in Criminal- und Peinl. Sachen ... gehalten werden solle, Onolzbach 1720), Mühlhauser PO (1730) Tl. 2 Tit. 13 § 5, sächsisches Mandat von 1810 (bei Pfotenhauer Nr. 65 S. 259). 190 So mit Recht Kleinheyer S. 14 (für den RHR); dagegen wird Wieacker, 250 Jahre Celler Obergericht, Göttingen 1962, S. 10 der praktischen Bedeutung nicht gerecht.

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Billigkeit" verfahren wurde191 • Die sichtbar gewordenen neuen Strömungen geben einerseits Anlaß, eine Mitwirkung des Betroffenen wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die Lösung des Interessenkonflikts im Strafprozeß zu statuieren, andererseits geschieht das in einer Form, die sich vom Gehör als Mitwirkungsrecht abwendet und zum inquisitorischen Verhör tendiert. Die Strafprozeßgesetzgebung der Länder im 16. und 17. Jahrhundert folgt den Grundsätzen der Karolina, die durch ihre weitgehende übernahme die Geltung eines wirklichen Reichsgesetzes erlangte 192 • In den Gesetzen des 17. und 18. Jahrhunderts finden sich zahlreiche Belege für die Notwendigkeit des Gehörs und der Defension. Das praktische Bedürfnis, die Stellung des Inquisiten zu sichern, führt ebenso wie der Ansatz in der Strafprozeßtheorie dazu, das Gehör als Prinzip zu formulieren 193 • Aus der Territorialgesetzgebung erkennen die Hofgerichtsordnung 191 RKGO 1555 Tl. 2 Tit. 28 § 5 (bei Lünig Bd. 1 S. 224, der irrig "unerhört" gibt), KKGO Tl. 2 Tit. 31 § 14 (bei Zwirlein S. 395, hier "unverhöret"); übernommen in der Wismarer Tribunalordnung (1657) Tl. 2 Tit. 1 § 14 (Der Königlichen Mayestät und Reiche Schweden Hohen Tribunals Ordnung, o. O. 1657, S. 77, zum Gehör der Parteien vgl. auch Tl. 2 Tit. 36 § 1 [So 163]). Aus der Praxis Kaspar Klock, Liber singularis relationum pro adsessoratu habitarum, 2. Aufl. Nürnberg 1680, Relatio 125 (Votum des Referenten von 1595) Nr. 42 - 53 (S. 805 - 807); Cramer Tl. 3 § 1342 unter 5 (S. 385), Häberlin S. 451, für den RHR Moser Traktat 1 Kap. 2 § 31 (S. 93). Ernst Gerhard Trowitz, Der Einfluß der Aufklärungsphilosophie auf das Strafprozeßrecht in Preußen bis zur Criminalordnung von 1805, Diss. Hamburg 1954, S. 139 f. verkennt die gemeinrechtliche Tradition bezüglich der Spezifiizierung der Nichtigkeitsgründe, zu allgemein auch Eb. Schmidt, Einf. S. 205. 192 Eb. Schmidt, Einf. S. 142 f. Als Beispiele HalsGO Hohemburg um 1533 (bei Knapp S. 590), hessische HalsGO von 1535 (vgl. die den Art. 47, 74, 91 der Karolina entsprechenden Bestimmungen der Art. 52, 79, 85; Text bei J. S. Fr. v. Boehmer, Meditationes Anh. S. 177 ff.), später die PeinlGO (1726) Tit. 1 § 6 (bei Bopp S. 338), Regensburger PeinlGO (um 1550) Art. 1 (bei Kleinheyer S. 51), Mandat der württ. Regierung von 1551 (bei Gehring S. 167), mecklenburgische Hof GO von 1568 (bei Pohle § 52 S. 74), Solmser Landrecht (1571) Tl. 1 Tit. 40, UGO Sponheim (1578) Art. 111, brandenburgische HalsGO von 1582 (v gl. die den Art. 47, 74, 155 der Karolina entsprechenden Bestimmungen der Art. 56, 87, 182; Text bei J. S. Fr. v. Boehmer, Meditationes Anh. S. 93 ff.), PO der Wolfenbütteler Kommissionsgerichte (16. Jh.) § 2 (bei Heinz-Jürgen Stebel, Die Osnabrücker Hexenprozesse, Diss. Bonn 1968, S. 107), Würzburger Zentbuch aus dem 16. Jh. (bei Knapp S. 67), UGO Zweibrücken (1657) Art. 111, Mühlhauser PO (1730) Tl. 2 Tit. 3 § 1. 193 Vgl. das Würzburger Zentbuch (16. Jh.), wonach der Beschuldigte im Achtverfahren zu laden ist, "dieweil unverhort niemant verdambt werden solle" (bei Knapp S. 53, zur Verwendung der Formel des Sachsenspiegels s. oben S. 49 N. 179), das Eigen-Landrecht der Siebenbürger Sachsen (1583) B. 1 Tit. 2 § 1, Tit. 10 § 1 (S. 6, 37), den mecklenburgischen Revers (1621) Art. 41, 42 unter Bezug auf den dem Zivilprozeß nachgebildeten Revers von 1572 (bei Fr. L. Fr. Richter, Handbuch § 48 [So 38 f.]), das Ritter- und Landrecht für Estland aus dem 17. Jh. (bei Bunge, Geschichte S. 208) und Mühlhauser PO (1730) Tl. 2 Tit. 8 § 1, die aus der naturrechtlichen Grundlage die allgemeine Geltung der Defension ableitet; das Brünner Stadtrecht Nr. 433 (bei Rössler S. 203) gründet den favor defensionis auf das Naturrecht.

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für Hinterpommern von 1683, wo seit 1706 Brunnemanns Traktat die Grundlage des Inquisitionsprozesses bildet1 94, die Magdeburger Prozeßordnung von 1696 und das preußische Edikt von 1718195 die Notwendigkeit an, den Täter mit seiner Defension zu hören. In Sachsen befassen sich Einzelbestimmungen aus dem 17. Jahrhundert mit dem Gehör l96 ; die Gothaische Prozeßordnung von 1776 führt die Hauptdefension vor dem Endurteil auf das Prinzip des Gehörs zurück l07 • 1522 Die Lehre von der Verteidigung bei Benedict Carpzov Die Bedeutung der naturrechtlichen Denkweise und ihre Verbindung mit älteren Auffassungen werden deutlich bei Benedict Carpzov (1595 bis 1666), dessen Autorität über die eigene Zeit weit hinausreicht l98 • Nach der zuerst 1638 erschienenen "Practica Nova" gilt der Anklageprozeß theoretisch noch als reguläres Verfahren l99 • Jedoch spricht bereits die allgemeine naturrechtliche Begründung des Gehörs, die bei dem Verteidigungsrecht des einzelnen ansetzt, für die praktische Geltung des Inquisitionsprozesses, da für den Akkusationsprozeß eine Berufung auf den Gleichheitssatz nahe gelegen hätte. Für die Geltung des Gehörs zieht Carpzov, der Methode der Zeit entsprechend, möglichst zahlreiche Autoritäten heran. Neben Stellen aus der antiken Literatur, der Gesetzgebung und Entscheidungen des Leipziger Schöffenstuhls200 wird vor allem eine naturrechtliche Begründung tra194 Hof GO Tit. 10 § 5, Text des Brunnemanns Traktat einführenden Ediktes von 1706 bei Abegg, Geschichte S. 86 N. 79. 105 Verbesserte Magdeburger PO Ad cap. 43 § 11 S. 1 u. ad cap. 50 § 6 (bei Mylius, Corp. Const. Magd. Tl. 2 Nr. 2 S. 99 ff.), Totschlagsedikt Art. 3 (bei Mylius, Corp. Const. March. Tl. 2 Abt. 3 Sp. 115); zur Fürsorgepflicht des Richters bezüglich der Defension vgl. die Allgemeine Ordnung zur Verbesserung des Justizwesens (1713) § 57 (bei Mylius, Corp. Const. Magd. Tl. 2 Nr. 3 S. 182 ff.) und die kurmärkische Kriminalordnung (1717) Kap. 6 § 12, Kap. 10 § 8 (bei Mylius, Corp. Const. March. Tl. 2 Abt. 3 Nr. 32 Sp. 87, 104). Ausdrücklich regelt das Gehör auch das Zirkular-Re skript des Polizei-Ministeriums (1817), § 2 Abs. 1 S. 1 (bei O. L. W. Richter, Handbuch § 33 S. 17). 196 Torgauer Landtags-Resolution von 1612 (bei Johann Christian Lünig, Codex Augusteus, Bd. 1 Leipzig 1724, Sp. 174 unter 11 4), RügeGO (1646) Kap. 2, 4, 5 (Des Durchläuchtigen ... Herrn Ernsten / Hertzogen zu Sachsen ... Ordnung, Wornach die ... Rüge-Gerichte reguliret und gehalten werden sollen, Gotha 1646), Reskript von 1657 (bei Granz S. 295). 197 PO Tl. 3 Kap. 8 § 1, weiter Kap. 11 § 6; vgl. auch den Eid des sächsischen Gerichtsbeamten (um 1790), "die peinlich Angeklagten jederzeit nothdürftig" zu hören (bei Pfotenhauer Nr. 43 S. 169). 198 Vgl. Stintzing / Landsberg Abt. 2 S. 61 ff., 69 ff., Eb. Schmidt, Einf. S. 153 ff., Wieacker S. 217 f. 199 Practica Nova (Ausg. 1739) Tl. 3 Qu. 103 Nr. 17, 18, Qu. 107 Nr. 22, 30, dazu Bernhard Heitsch, Beweis und Verurteilung im Inquisitionsprozess Benedikt Carpzov's, Diss. Göttingen 1964, S. 26. 200 Practica Nova Tl. 3 Qu. 113 Nr. 7 zitiert Stellen aus dem römischen und kanonischen Recht, aus Seneca und Ammianus Marcellinus (s. oben S. 14

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gend. Naturrecht meint dabei einmal in übereinstimmung mit der frühen Naturrechtslehre201 das geoffenbarte Wort Gottes 202 • Die universale Geltung des Gehörs wird mit Stellen aus der Bibel belegt, die von einer der Entscheidung voraufgehenden Prüfung und Untersuchung des Vorganges reden203 • Hauptsächlich204 beruft sich die Literatur seit den Kanonisten des Mittelalters bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts für die Geltung des Gehörs auf Gen. 3, 9, wonach Gott trotz seiner Allwissenheit Adam erst zu sich rief, bevor er über ihn urteilte2° 5 • Carpzov begründet das Gehör aber auch naturrechtlich im Sinne eines Schlusses von der empirischen Natur des Menschen auf einen Sollenssatz. Zur näheren Bestimmung des jedem Menschen zustehenden Verteidigungsrechts (defensio) ist auf den gleichlautenden Begriff des materiellen Strafrechts zurückzugehen. Er bezeichnet dort die Gegenwehr gegen einen Angriff206 • Es liegt nahe, diese Befugnis als rechtlich gestattete Verteidigung im Sinne der heutigen Notwehr aufzufassen und entspreN. 6, S. 18 N. 19; zur Billigkeit oben S. 15 N. 9), a.a.O. in Nr. 11 erscheint die Torgauer Landtags-Resolution von 1612 (s. oben S. 54 N. 196), Nr. 14 erwähnt Art. 46 der Karolina; weitere Belege in Tl. 3 Qu. 115 Nr. 18, 19, aus der Praxis des Leipziger Schöffen stuhls ebd. Nr. 34, 38. 201 Als Beispiel aus der Rechtslehre das Rechtsbuch Johannes Purgoldts (16. Jh.) B. 5 Kap. 5 (bei Friedrich Ortloff, Das Rechtsbuch Johannes Purgoldts (Sammlung deutscher Rechtsquellen Bd. 2), Jena 1860, S. 149): "Naturlich recht ist also gotis rechtt, uan got ist dye natur, dye do alle recht naturett und alle dingk." 202 Vgl. Peinl. Sächsischer Proceß, Vorrede an den Leser (1. S.), Practica Nova Tl. 1 Qu. 41 Nr. 2, Tl. 2 Qu. 77 Nr. 32. 203 Practica Nova Tl. 3 Qu. 113 Nr. 7 zitiert namentlich Joh. 7, 51: "Richtet unser Gesetz auch einen Menschen, ehe man ihn verhört und erkennt, was er tut?", weiter 1. Tim. 5 (vgl. V. 24). 204 Dagegen mehr im Sinne einer causae cognitio das Landrechtsbuch Ruprechts von Freising Kap. 70 (bei Georg Ludwig von Maurer, Das Stadt- und das Landrechtsbuch Ruprechts von Freysing, Stuttgart/Tübingen 1839, S. 86), Agricola Nr. 198 (BI. 76) und Gottfried Vogler, Biblisches Corpus Juris, Wittenberg 1704, Tit. I, 7 (S. 232, 246), s. auch oben zu Vantius S. 18 m. N. 23. 205 S. oben S. 18 N. 23, zu Stephan von Tournay Erler S. 151 N. 4 und zur Bibelinterpretation des Mittelalters S. 24, Eb. Schmidt, Einf. S. 146 f., Guido Kisch, Sachsenspiegel and Bible, Notre Dame (Indiana) 1941, S. 132 ff. Ofener Stadtrecht (15. Jh.) Prolog Art. 2 (bei Mollay S. 36), Olmützer GO (16. Jh.) Art. 2, 1 u. 22, 1 (bei Fischel, S. 6, 37), Damhouder Kap. 13 Nr. 1 (S. 22), Lauterbeck (1561) B. 5 Kap. 3 (BI. 307 v), Conrad Mauser, Processus iuris, Wittenberg 1569, S. 3, Saur (1580), Praeparatio ad processum S. I, Termineus (1602) Praefatio Auctoris (1. S.), Hoepner (1644) Assertio 92 (S. 422), Jhering (1731) Kap. 2 § 1 (S. 31), Seyfarts (1756) B. 1 Kap. 2 § 3 (S. 50), Camus (1818, 1. Aufl. 1772), 8. Brief S. 139, als deutsche übersetzung bei Fr. L. Fr. Richter, Handbuch (1830) § 167 b (S. 101); Gasser § 12 (S. 13) wendet gegen eine solche Argumentation ein, wegen der Allwissenheit Gottes sei das Gehör überflüssig. 206 Damhouder Kap. 78 f. (S. 194 ff.), Clarus § Homicidium Nr. 24 (S. 36), Althusius B. 1 Kap. 26 Nr. 22 (S. 102), Carpzov, Practica Nova Tl. 1 Qu. 33; aus der Gesetzgebung vgl. das Wiener Stadtrecht (1221) Art. 1 (Text bei F. Keutgen, Urkunden zur Städtischen Verfassungs geschichte, Berlin 1901, Nr. 164 S. 204): " ... ut defensio proprii corporis i. e. notwer probetur."

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chend die prozessuale Verteidigung als Mitwirkungsmöglichkeit in dem vom Recht zur Verfügung gestellten Rahmen zu interpretieren. Nach dem Beispiel der italienischen Kriminaiisten 207 beruft sich Carpzov jedoch auf den allen Lebewesen gemeinsamen instinktiven Trieb zur Selbsterhaltung und zur Abwehr von Angriffen208 • Die Ableitung eines Sollenssatzes, der Anerkennung der Verteidigung im Prozeß, aus diesem empirischen Befund veranschaulicht deutlich die Sein-Sollen-Metabasis des naturrechtlichen Denkens auch in der Verfahrenslehre. Der in der "natürlichen" Grundlegung zum Ausdruck kommende Rang der Maxime darf jedoch nicht über die Einbettung in den Inquisitionsprozeß hinwegtäuschen. Erst die spätere Aufklärung proklamiert das Prinzip des Gehörs, wie in den Menschenrechtserklärungen Amerikas und Frankreichs, als grundlegende politische Entscheidung für ein rechtlich geordnetes Verfahren 209 und bereitet den Boden, auf dem der reformierte Prozeß an die Stelle des Inquisiten den eigenverantwortlichen, mit den Rechten eines Prozeßsubjekts ausgestatteten Angeklagten setzen kann. Bei Carpzov bleibt spürbar, daß der Inquisitionsprozeß eine Verteidigung zuläßt, um die materielle Wahrheit besser ermitteln zu können. Dem Angeklagten wird nicht als Prozeßsubjekt eine Gelegenheit zur Verteidigung eröffnet, sondern er wird im Verhör als Mittel zur Wahrheitserforschung benutzt21o • Für bestimmte gravierende Delikte läßt Carpzov als ausdrückliche Ausnahme ein Verfahren ohne Verteidigung und in Abwesenheit zu, so 207 Deutlich Farinacius B. 1 Qu. 39 Nr. 1 (S. 619): "Et quod quis in crimine se defendat per fas et nefas iuris naturae est, quia naturalis est vivendi dulcedo", ebenso Pius II. zur Mainzer Stiftsfehde (bei Erler S. 299, s. oben S. 22), Hippolytus de Marsiliis § Quoniam Nr. 76 (S. 281); später Heil Kap. 3 § 22 (S. 109), Granz Tl. 1 Kap. 2 Membrum 1 Nr. 6 - 8 (S. 3), Schneyder Class. 1 Tit. 16 Nr. 5 (S. 153), Sahler § 1 (S. 1 f.). Eine "natürliche" Grundlage des Selbsterhaltungstriebes begegnet schon bei Cicero (nach Voigt Beil. 1 S. 530): "Natura partes habet duas: tuitionem sui et ulciscendi ius", weiter im Dekr. Grat. Dist. 1 c. 7 (Isidor). Das beiderseitige Gehör gründet Seyfarts B. 1 Kap. 2 § 3 (S. 50) auf die natürliche Ausstattung des Menschen mit zwei Ohren, s. auch oben S. 30N. 75. 208 Practica Nova Tl. 3 Qu. 115 Nr. 2: " ... quanto certius est, defensionem esse juris naturalis, adeo ut ne bestiis quidem, nedum homini, imo nec diabolo auferri debeat", weiter ebd. Nr. 5: "Hoc enim jus naturale postulat, ut quivis Reus audiatur." Wie Carpzov Johann Georg Albinus, Delinquens defensus, 2. Auft. Jena 1714, Positio tertia (S. 10). 209 s. unten S. 86, 88. 210 Vgl. Practica Nova Tl. 3 Qu. 113 Nr. 6, s. dazu unten S. 60. Wilhelm Döring, Der Anklage- und Inquisitionsprozeß bei Carpzov, Diss. Göttingen 1935, S. 56 f. vermengt unzulässig Gehör und Verhör, Klaus Bohlmann, Die Stellung des Inquisiten bei Carpzov, Diss. Marburg 1963, S. 176, 317 verkennt den Rechts-Charakter des Naturrechts, wenn er daraus die Stellung des Inquisiten als Prozeßsubjekt ableiten will. Auf der anderen Seite ist eine rein negative Würdigung Carpzovs, wie sie etwa Westhoff S. 90 noch unbesehen übernimmt, nicht haltbar, vgl. Eb. Schmidt, Einf. S. 156 f.

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beim "crimen laesae maiestatis", das gemäß der theokratischen Staatsauffassung mittelbar einen Angriff gegen Gott bedeutet211 • 1523 Einzelheiten des Gehörs in der gemeinrechtlichen Lehre Der oben angedeuteten Entwicklung gemäß, die unter der Herrschaft des Inquisitionsprozesses zur Herausarbeitung des Gehörs als Prinzip tendiert, findet sich das Gehör schon früh als Grundsatz in der Strafprozeßlehre. Die Formel, niemand solle ungehört verurteilt werden, begegnet bereits 1567 bei Gobler und wird im 18. Jahrhundert als Forderung der Vernunft ausgegeben 212 • Die alte Auffassung, die das Gehör über die bei Strafe der Nichtigkeit vorgeschriebene Ladung erfaßt213 , hat nur noch Bedeutung im Kontumazialverfahren des Achtprozesses. Seine Wirksamkeit hängt davon ab, daß der Geächtete trotz wirksam ergangener Ladung und Möglichkeit des Gehörs ausgeblieben ist214 • Die in der Karolina ausgedrückte Fürsorgepflicht des Richters veranlaßt das Vernunftrecht des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts, die besondere Bedeutung des Gehörs und die Verwirklichung der Defension gerade für den Strafprozeß herauszustellen 215 • Dabei folgt die All211 Praetiea Nova Tl. 1 Qu. 41 Nr. 1, 7. Zu der Lehre von den "Singularien" Schaffstein in: Im Dienst an Recht und Staat, Festschrift für Werner Weber, Berlin 1974, S. 53 ff. (64 ff., insbesondere S. 65 Nr. 5). 212 Gobler BI. 187, ebd. auch zur Gehörgewährung als Richterpflicht, 1764 Meister HSt. 8 § 33 (S. 221): "Die Vernunft saget, daß niemand ungehört verdammet werden soll, und unsere Gesetze treten ihr bey"; weiter z. B. Sahler

(1766) § 1 (S. 5).

213 So Damhouder (Ausg. 1601) Kap. 13 Nr. 2 (S. 22 f.), Reusner (1601) Bd. 2 Consilium 14 Nr. 4 f., 30 f. (S. 103, 106), Emerich von Rosbach, Praetiea eriminalis (1658) Tit. 1 Kap. 4 Nr. 1, Tit. 7 Kap. 1 Notabile 1 Nr. 13 (S. 145, 740), Mynsinger (1671) Centuria 4 Observ. 42 (S. 255, zur RKGO 1555 Tl. 2 Tit. 28 § 5, s. oben S. 53 N. 191), Martin, Commentarius forensis (1710) zu Tit. 4 § 1 Nr. 7 f. (Bd. 1 S. 195), Heil (1717) Kap. 2 § 1 (S. 39), Granz (1718) Tl. 1 Kap. 5 Membrum 2 Nr. 414 (S. 558 f.), noch Dorn (1791) § 335 (S. 213), für das protestantische Kirchenrecht Justus Henning Böhmer, Ius Ecclesiasticum Protestantium, 5. Aufl. Bd. 1 Halle!Magdeburg 1756, B. 2 Tit. 27 § 34 (S. 1411). 214 Carpzov, Practiea Nova Tl. 3 Qu. 140 Nr. 59, Keyser Tl. 2 § 17 (S. 48), Blumblacher Nr. 3 zu Art. 155 der Karolina (S. 352). In der Gesetzgebung bestimmen die Unwirksamkeit der Achterklärung bei fehlender Ladung die Alte Ordnung des Hofgerichts Rottweil (15. Jh.) Tl. 9 Tit. 15 - 17 (bei Max Speidei, Das Hofgericht zu Rottweil, Rottweil 1914, Anh. S. 29 f.) und die Wahlkapitulation von 1792 Art. 20 § 10; § 3 fordert ausdrücklich, daß der Angeklagte "in seiner habenden rechtmäßigen Defension und Nothdurft nach angehöret werde". 215 Brunnemann Kap. 8 Membrum 3 Nr. 19 (S. 135 f.), Carpzov, Practica Nova Tl. 3 Qu. 115 Nr. 5, Keyser Tl. 1 Kap. 7 §§ 1, 2 unter 3 (S. 482, 487), Knorre B. 3 HSt. 10 § 42 (S. 658), Gaertner § 1 zu Art. 47, 74, 90, 151, 152, 155, 156 der Karolina (S. 203), Johann Christi an Eschenbach, Commentationes iuridieae, Fase. 1 Rostock 1788, De inquisitione summaria § 4 Ziff. 19 (S. 79); dagegen einschränkend zu Art. 47 der Karolina J. S. Fr. v. Boehmer, Meditationes § 1

(S. 193).

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gemeingültigkeit des Grundsatzes aus der naturrechtlichen Grundlage und dem "favor defensionis"216. Die Defension gilt bei Strafe der Nullität217 in jedem Verfahren, auch wenn das Delikt notorisch 218 , der Täter auf frischer Tat ergriffen219 oder geständig ist220 . Der Richter ist durch seine Funktionen im Inquisitionsprozeß verpflichtet, sich um die materielle Verteidigung zu kümmern221 , wenn der Inquisit, der auf die Defension nicht verzichten kann 222 , das versäumt. Die Verteidigung durchzieht als nicht fristgebundene Möglichkeit zu neuem Vorbringen den Prozeß223, 216 Zu dem naturrechtlich begründeten favor defensionis etwa Oldekop, Tractatus Tract. 2 Decas 2 Qu. 9 (S. 235). Auch der favor defensionis be einflußt nur das Ermessen des Gerichtsherrn, ohne Rechte für den Inquisiten zu schaffen, so zutreffend Boehm in ZStW Bd. 61 S. 401, vgl. auch oben S. 56 N. 210 die Kritik an Bohlmann. 217 Rotschitz Tl. 2 Art. 11 Sekt. 2 Nr. 37 (BI. 116 v), Oldekop, Observation es Tit. 5 Observ. 1 Nr. 29 (S. 306), Brunnemann Kap. 8 Membrum 3 Nr. 14 (S. 134), Ludovici, Peinl. Proceß Kap. 8 § 3 (S. 80), Otto S. 92, Granz Tl. 1 Kap. 5 Membrum 2 Nr. 392 (S. 556), Hermann B. 2 Kap. 4 § 111 (S. 824). 218 Brunnemann Kap. 8 Membrum 3 Nr. 6, zum notorium Kap. 4 Nr. 5 (S. 130, 27), Oldekop, Observationes Tit. 1 Observ. 10 Nr. 13 (S. 39), Tit. 2 Observ. 14 Nr. 5 ff. (S. 77), Keyser Tl. 1 Kap. 7 § 2 unter 4 (S. 487), Ludovici, Peinl. Proceß Kap. 8 § 4 (S. 81), Heil Kap. 3 § 22 (S. 109), Granz Tl. 1 Kap. 4 Membrum 1 Sekt. 2 Nr. 143 (S. 86), Esaias Pufendorf, Introductio Kap. 17 § 4 (S. 101), Hermann B. 2 Kap. 4 § 116 (S. 825), Zach. Richter, Institutiones § 214 (S. 59), Meister HSt. 8 § 33 (S. 222), ihm folgend Dorn § 346 zu d (S. 248). 219 Oldekop, Tractatus Tract. 2 Decas 2 Qu. 9 (S. 231 f.), Heil Kap. 3 § 22 (S. 109), Blumblacher Nr. 5 zu Art. 47 der Karolina (S. 140, ferner S. 141), Thomas Siegfried Ring, Dissertatio juridica inauguralis de deprehensis in flagranti crimine (Resp.: Georg Christoph Seidel), Wittenberg 1745, Kap. 3 Aphor. 20, einschränkend bezüglich einer Kopie der Indizien in diesen Fällen Aphor. 12 (S. 68, 64), ebenso Granz Tl. 1 Kap. 5 Membrum 1 Sekt. 3 Nr. 71 (S. 297), gänzlich ablehnend Otto S. 221 unter 5. 220 Brunnemann Kap. 8 Membrum 3 Nr. 9, allgemein Nr. 8 (S. 131), Carpzov, Practica Nova Tl. 3 Qu. 115 Nr. 30, ihm folgend Hermann B. 2 Kap. 4 § 113 (S. 824), Oldekop, Tractatus Tract. 2 Decas 2 Qu. 9 (S. 235), Observationes Tit. 1 Observ. 10 Nr. 13, Tit. 2 Observ. 14 Nr. 18 (S. 39, 80), Ludovici, Peinl. Proceß Kap. 8 § 5 (S. 81), Keyser Tl. 1 Kap. 7 § 2 unter 5 (S. 487), Granz Tl. 1 Kap. 4 Membrum 1 Sekt. 2 Nr. 143 (S. 86), Meister HSt. 8 § 33 (S. 222), J. S. Fr. v. Boehmer, Meditationes § 1 zu Art. 155 der Karolina (S. 726), weiter Zach. Richter, Institutiones § 214 (S. 59), Christian Gotthelf Hübner, Principia processus inquisitorii, Leipzig 1798, B. 2 Kap. 1 Particula 2 § 8 (S. 75) und zur Gründung des Gehörs auf den favor defensionis Particula 1 § 9 S. 45 m. N.*. 221 Brunnemann Kap. 8 Membrum 3 Nr. 11 u. 29 (S. 132, 138), Carpzov, Practica Nova Tl. 3 Qu. 115 Nr. 13 u. 18, Meister HSt. 8 § 33 (S. 222), Carrach Kap. 2 § 27 (S. 281 f.); restriktiv dagegen J. S. Fr. v. Boehmer, Meditationes § 2 zu Art. 74 der Karolina (S. 270). 222 Althusius B. 3 Kap. 39 Nr. 67 (S. 725), Emerich von Rosbach, Practica criminalis Tit. 5 Kap. 8 Nr. 20 ff. (S. 554), Keyser Tl. 1 Kap. 7 § 2 unter 6 (S. 488) und Heil Kap. 3 § 22 (S. 109) halten einen Verzicht für unwirksam, Brunnemann Kap. 8 Membrum 3 Nr. 16 (S. 134) und Ludovici, Peinl. Proceß Kap. 8 § 8 (S. 84) für nicht bindend, Carrach Kap. 2 § 27 (S. 282) nur bei leichteren Delikten für möglich, differenzierend auch Zach. Richter, Institutiones § 215 (S. 59), allgemein Meister HSt. 8 § 33 (S. 222), abw. SIevogt S. 5. 223 Brunnemann Kap. 8 Membrum 3 Nr. 17 (S. 135), Carpzov, Practica Nova Tl. 3 Qu. 115 Nr. 21 u. Peinl. Sächsischer Proceß Tit. 8 Art. 2 Nr. 2 (S. 117), Her-

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wobei sich die Erheblichkeit ex ante bestimmt224 • Im einzelnen ist die materielle Verteidigung bereits in die Abfassung der Inquisitionsartikel einzubeziehen225 ; sie fordert eine angemessene Vorbereitungszeit226 , die Mitteilung der Anschuldigungsgründe, der Namen und Aussagen der Zeugen 227 , Einsicht in die Akten 228 , Vorführung von Entlastungszeugen229 und die abschließende Verlesung der eigenen Aussage 23o • Widerruft der Inquisit am endlichen Rechtstag, der wegen des schon abgefaßten Urteils zu einer bedeutungslosen Zeremonie herabgesunken ist, wird überwiegend gemäß Art. 91 der Karolina eine erneute Versendung der Akten für notwendig gehalten 231 • Die naturrechtliche Grundlage und die weitreichende theoretische Geltung des Gehörs dürfen nicht darüber täuschen, daß auch das Recht der Verteidigung in den Inquisitionsprozeß eingebettet ist und von ihm wesentlich geprägt wird. Es wäre verfehlt, von der literarischen Darstellung auf die Durchsetzbarkeit des Gehörs in der Praxis zu schließen. Sie mann B. 2 Kap. 4 § 87 (S. 814), Otto Anm. g zu Art. 156 der Karolina (S. 484), Keyser Tl. 1 Kap. 7 §§ 2 u. 7 (S. 489, 512), Zach. Richter, Institutiones § 223 (S. 61), allgemein SIevogt S. 6 f.; zu Einschränkungen hinsichtlich des Beginns der Verteidigungsmöglichkeit s. jedoch unten S. 60 m. N. 232. 224 Carpzov, Practica Nova Tl. 3 Qu. 115 Nr. 4, Keyser Tl. 1 Kap. 7 § 8 (S. 514), Daniel Clasen, Commentarius in constitutiones criminales Caroli V. Imperatoris, Leipzig 1718, zu Art. 74 der Karolina (S. 252). 225 Keyser Tl. 1 Kap. 5 § 13 unter 5 (S. 364), Carrach Kap. 2 § 21 (S. 275). 226 Brunnemann Kap. 3 Membrum 3 Nr. 20 (S. 136), Granz Tl. 1 Kap. 5 Membrum 1 Sekt. 5 Nr. 104 (S. 301), Esaias Pufendorf, Introductio Kap. 17 § 14 (S. 104), Gaertner § 1 zu Art. 77, 205 der Karolina (S. 162), allgemein SIevogt S.3. 227 Otto S. 92, Blumblacher Nr. 3 zu Art. 47 der Karolina (S. 139), enger Brunnemann Kap. 8 Membrum 3 Nr. 18 (S. 135) und Carpzov, Practica Nova Tl. 3 Qu. 115 Nr. 99, einschränkend Rotschitz Tl. 2 Art. 11 Sekt. 2 Nr. 38 (BI. 116 v); zu Einschränkungen bei Ergreifung des Täters auf frischer Tat s. oben S. 58 N. 219. Für das protestantische Kirchenrecht s. Justus Henning Böhmer, Institutiones B. 5 Tit. 1 u. 2 § 11 (S. 618). 228 Keyser Tl. 1 Kap. 7 § 3 unter 2 (S. 498), J. S. Fr. v. Boehmer, Observationes selectae ad Bened. Carpzovii JC. Practicam Novam Rerum Criminalium Imperialem Saxonicam, Frankfurt 1759, Tl. 3 Observ. 10 ad Qu. 115 Nr. 106 (S. 58), für das gemeine Recht Zach. Richter, Institutiones § 220 (S. 60), Carpzov, Practica Nova Tl. 3 Qu. 115 Nr. 99, als Beispiel aus der Gesetzgebung Speirer InquisitionsPO (um 1500) §§ 1 f. (bei Riedner S. 124); einschränkend Ludovici, Peinl. Proceß Kap. 4 § 5 (S. 44 f., anders Schlitte ebd. N. C zu Kap. 8 § 10 [So 85]), im einzelnen Reinmann Kap. 3 Sekt. 1 §§ 2 ff. (S. 14 ff.). Zur Literatur Schulz S. 59 ff., 83 ff., 105 ff. 229 Keyser Tl. 1 Kap. 7 § 6 unter 2 (S. 511), Carrach Kap. 2 § 28 unter 9 (S. 284), allgemeiner Blumblacher Nr. 9 zu Art. 47 der Karolina (S. 148). 230 Ludovici, Peinl. Proceß Kap. 5 § 20 (S. 60), Carrach Kap. 2 § 22 (S. 277). 231 Carpzov, Pein!. Sächsischer Proceß Tit. 11 Art. 3 Nr. 8 (S. 174) gegen die ältere Auffassung in der Practica Nova Tl. 3 Qu. 126 Nr. 65, Ludovici, Peinl. Proceß Kap. 10 § 17 (S. 137), J. S. Fr. v. Boehmer, Meditationes § 1 zu Art. 91 (S. 294), Blumblacher Nr. 2 zu Art. 91 (S. 216). s. auch oben S. 52.

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findet ihre Grenzen im System, im Wesen und in der Tendenz eines vom Inquisitionsgeist beherrschten Verfahrens. Aus dem System des Inquisitionsprozesses folgt bereits die wesentliche zeitliche Einschränkung, daß für die Defension erst nach der Antwort auf die - an Stelle der Litiskontestation des Anklageprozesses tretenden - Inquisitionsartikel Raum ist, außer wenn schon die Anwendbarkeit des Inquisitionsverfahrens gerügt werden soll232. Der konsequent ausgebildete Inquisitionsprozeß eliminiert völlig die Möglichkeit der Partei zu eigenem Vorbringen, verstanden als Mitwirkung am Prozeß richterlicher Entscheidungsbildung: Da sich der Inquisitionsrichter bereits von Amts wegen um die materielle Verteidigung zu kümmern hat, kommt der Inquisit nicht als gleichberechtigter Verfahrenspartner, sondern als bloßes Objekt der obrigkeitlichen Bemühungen zur Ermittlung der Wahrheit in Betracht. In einem Verfahren, das von einer derartig beherrschenden Position des Inquirenten ausgeht, liegt schließlich die Tendenz, auch Reste einer ursprünglichen Befugnis zum Gehör zugunsten eines Verhörs zurückzudrängen. Die absolutistische Staatsauffassung findet darin ihren deutlichen Niederschlag. Wie sich diese Gefahr auswirkte, wird bei den Hexenprozessen, die hier als Zuspitzung des Inquisitionsverfahrens interessieren, zu zeigen sein. 1524 Die Hexenprozesse Während die Geltung des Gehörs in der Theorie und der Gesetzgebung des allgemeinen Inquisitionsprozesses unangetastet blieb, war sie bereits weitgehend ausgeschlossen in den speziellen Verfahren gegen Ketzer und Hexen. Obwohl diese Verfahren zeitlich um etwa ein Jahrhundert früher liegen, sollen sie erst im Anschluß an die Darstellung des Regelverfahrens behandelt werden. Zunächst sind nur Ausprägungen der Maxime, dann aber auch das Prinzip der Verteidigung selbst betroffen. Wie schon das Inquisitionsverfahren zunächst für bestimmte gravierende Delikte angewandt wurde, blieb auch seine Einzelausgestaltung von dem Ziel abhängig, bestimmte Delikte auszurotten. Davon waren primär Zauberei und Hexerei betroffen, die als Abfall vom christlichen Glauben einen Angriff gegen die Grundlagen staatlicher Ordnung enthielten 233 • Die Dekretalen wollen nach den von Innocenz II!. zu Beginn des 13. Jahrhunderts getroffenen Bestimmungen das Inquisitionsverfahren bei schweren Delikten an feste Formen binden. Sie fordern die Anwesenheit des Inquisiten und die Bekanntgabe der Aussagen und 232 Brunnemann Kap. 8 Membrum 3 Nr. 15 (S. 134), Carpzov, Pein!. Sächsischer Proceß Tit. 8 Art. 2 Nr. 1 (S. 116) u. Practica Nova Tl. 3 Qu. 115 Nr. 24, Carrach Kap. 2 § 18(S. 269). 233 Zum crimen laesae maiestatis bei Carpzov s. oben S. 57.

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Namen der Zeugen 234 • Die in das Liber Sextus aufgenommene Regel Bonifaz' VIII. aus der Zeit um 1300 bestätigt dagegen die anderslautende Praxis. Sie schließt eine Bekanntgabe der Namen aus, wenn dadurch Ankläger oder Zeugen gefährdet werden 235 und gibt damit dem öffentlichen Interesse an der Durchführung des Verfahrens Vorrang vor dem Individualinteresse, durch die Mitteilung eine ausreichende Basis für die Verteidigung zu gewinnen. Der spanische Inquisitor Eymericus hält 1376 für das summarische Ketzereiverfahren an der naturrechtlich begründeten Defension und Zitation als Prozeßsubstantialien fest, sieht jedoch die Verteidigung bei einem Geständnis des Inquisiten als überflüssig an und gestattet mit der Begründung der päpstlichen Gesetzgebung die Unterdrückung der Namen von Zeugen und Anklägern 236 • Die darin angelegte Tendenz, unter Preisgabe eines geordneten und gerechten Verfahrens und Mißachtung schützender Formen auf jeden Fall "gemeingefährliche" Verbrecher auszurotten, beherrscht die Praxis in den deutschen Hexenprozessen namentlich des 16. und 17. Jahrhunderts völlig. Der Prozeß steht ausschließlich im Dienst des "favor fidei" und der von ihm gebotenen überwindung der überirdischen Kräfte 237 • Die Praxis hält sich an den Hexenhammer (1484), der die Bekanntgabe der Namen der Zeugen verbietet und allein eine rasche Bestrafung will 238 • Sie verstümmelt die Aussagen der Zeugen, um Rückschlüsse auf die Namen zu verhindern, verweigert die Mitteilung der belastenden Indizien, ausreichende Zeit zur Vorbereitung und die Verlesung der Aussagen, versagt schließlich das Gehör oft gänzlich, schneidet jede Diskussion über die angeblichen Irrlehren selbst ab und macht einen Widerruf des erpreßten Geständnisses illusorisch, weil das nur zu erneuter Folterung führt 239 • 234 Liber Extra 5. 1. 24 (gerade diese Bestimmungen wurden neu eingeführt, vgl. Friedrich August Biener, Beiträge zu der Geschichte des InquisitionsProcesses und der Geschwornen-Gerichte, Leipzig 1827, S. 48 m. N. 21, dazu Schulz S. 11, 15), 2. 25. 5, später noch Bullen Innocenz' VI. von 1360 und Gregors XI. von 1372 (bei J.-M. Vidal, Bullaire de l'inquisition fran~aise au XIVe siecle jusqu'a la fin du grand schisme, Paris 1913, Nr. 230 u. Nr. 269/270). 235 Liber Sextus 5. 2. 20; so verfuhren bereits Innocenz IV. 1254 und Gregor X. 1273 (vgl. Hinschius Bd. 5 S. 464 N. 10). 236 Directorium Inquisitorum Tl. 3 Quaestiones celltum tri gin ta super practica officii inquisitionis, eidern officio congruentes, Qu. 55 Nr. 2 u. 3 und Pegna, Comment. 104 (S. 583), Directorium, De defensionibus reorum Nr. 117 (S. 446), dagegen fordert Pegna, Comment. 28 (zu Nr. 117, S. 447) die Verteidigung auch bei einem Geständnis. Zu Beschränkungen der Akteneinsicht Schulz S. 19 ff. 237 Nur aus dieser Tendenz, den im Menschen wohnenden Dämon zu vertreiben (vgl. Fehr in Festgabe für Rudolf Stammler, Berlin/Leipzig 1926, S. 231 ff. [240, 252 f.]), nicht ausschließlich als Verletzung des positiven Rechts lassen sich die Hexenprozesse juristisch erfassen; unzutreffend Westhoff S. 3. 238 Sprenger und Institoris, Hexenhammer Tl. 3 Frage 9 u. 10 (bei J. W. R. Schmidt S. 62, 65, 67); zur Praxis vgl. Henry Charles Lea, Geschichte der Inquisition im Mittelalter, dt. Ausg. v. Joseph Hansen, Bd. 3 Bonn 1913, S. 578 und Hinschius Bd. 5 S. 484, 491 f.

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Die geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes

In dem Kampf gegen den Hexenwahn wird auch die Versagung der Verteidigung angegriffen. Spee behandelt die Zauberei zwar noch in herkömmlicher Weise als "crimen exceptum", fordert aber aus dem Gesichtspunkt der Charitas und der von Gott verliehenen Möglichkeit der Erkenntnis des natürlichen Gesetzes einen auf die Verteidigung des Unschuldigen gegründeten Prozeß240. Seine Kritik trifft den Kern, wenn er eine Praxis anprangert, die gerade in einer beredten Widerlegung der Belastungsgründe ein Indiz für ein Bündnis mit dem Bösen sieht241 und auf diese Weise das Gehör völlig ausschließt. Das Reichskammergericht und der Reichshofrat geben zwar auf Gehörverweigerung gestützten Nullitätsklagen statt und versuchen die Landesgewalt an die Befolgung der Karolina zu binden 242 , jedoch scheitert die Durchsetzung am Widerstand mächtiger Reichsstände, die die Rechtsfragen zu Machtfragen werden lassen. Wenn sich daneben auch Belege dafür finden, daß die Verdächtigen die Belastungsgründe erfahren und so ihre Verteidigung vorbereiten können 243 , handelt es sich doch nur um vereinzelte Eingriffe, die konkrete Mißstände beseitigen, ohne an deren Quelle zu rühren. Sie bleibt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unangetastet. 239 Vgl. die Petitionen der Inquisiten in den Bamberger Hexenprozessen des

17. Jhs. (bei Wittmann in Archiv für katholisches Kirchenrecht Bd. 50 [1883) S. 216, 217), die Vorwürfe gegen Hexenkommissare (ebd. S. 187 und bei Lam-

berg Beil. D [So 6)) und z. B. die Verhinderung jeder Diskussion in der Sache selbst in dem Prozeß gegen Johannes von Wesel Ende des 15. Jhs. (bei Paul Flade, Das römische Inquisitionsverfahren in Deutschland bis zu den Hexenprozessen [Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche Bd. 9 H. 1), Leipzig 1902, S. 60). Weiter Vargha S. 83, Friedrich Merzbacher, Die Hexenprozesse in Franken, 2. Auf!. München 1970, S. 123 f. Zur soziologischen Deutung der Gehörverweigerung als Folge der Tabuisierung oppositioneller Gedanken v. Baeyer-Katte in: Massenwahn in Geschichte und Gegenwart, hrsg. v. Wilhelm Bitter, Stuttgart 1965, S. 220 ff. (221). 240 Cautio Criminalis Frage 4 u. 5 (bei Ritter S. 5, 6), im einzelnen Frage 17, 18 (7., 8.,17. Ergebnis), 40 (ebd. S. 61 f., 66, 71, 196, 198). 241 Cautio Criminalis Frage 51, 18 (15. Ergebnis) (bei Ritter S. 282 unter 17; 69); die Urteils formel "auf Klage und Antwort und alles gerichtliche Vorbringen" (Beispiele aus den Jahren 1628 und 1629 bei Lamberg Beil. F, G, S, T, U [So 10, 11, 26, 27 f.)) zeigt den reinen Formelcharakter und wirkt unter diesen Umständen wie Hohn. 242 z. B. Mandat des RHR von 1630 (bei Lamberg Beil. E [So 9 f.)) und Entscheidung von 1727 (bei Selchow Bd. 2 § 5 c zu Tit. 48 § 15 [So 597)); das RKG wünschte auch eine Neuauflage der Cautio Criminalis, vgl. die Vorrede des Verlegers zur 2. Auf!. (bei Ritter S. XL). Zum Problem der Durchsetzbarkeit der Entscheidungen Kroeschell Tl. 2 S. 257. 243 Vgl. das Mandat des Kölner Kurfürsten von 1627 und die Vereinbarung mit der Stadt Köln von 1631 (bei Friedrich Wilhelm SiebeI, Die Hexenverfolgung in Köln, Diss. Bonn 1959, S. 110, 111; der ebd. S. 141 wiedergegebene Appellationsbescheid erwähnt die Gehörverletzung auch als Nullitätsgrund, zu der entsprechenden Bestimmung der Revisionsordnung von 1786 SchoeneseiHen S. 70), Mandat des Rates zu Münster von 1632 (bei Joseph Niesert, Merkwürdiger Hexen-Process gegen den Kaufmann G. Köbbing, Co es feld 1827, S. 64).

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1525 Das Gehör in den Programmen der Aufklärung Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts greift einzelne Mißstände im Verfahren an und beschränkt sich damit auf einige für die Praxis bedeutsame Auswirkungen der Maxime des Gehörs. Beccaria fordert angemessene Vorbereitungszeit für die Verteidigung des Inquisiten, hält aber noch an Ungehorsamsstrafen fest 24 4, Hommel geht in der umfassenden Spruchsammlung der "Rhapsodia quaestionum in foro quotidie obvenientium" nur auf die Gestaltung des Verteidigungsvorbringens ein245 , Filangieri verurteilt Abwesenheitsverfahren und den Zwang zum Geständnis246 , und Suarez behandelt in den Kronprinzenvorträgen aus dem Jahre 1791 nur die Abschaffung der Folter247 • Grundsätzliche Stellungnahmen bleiben vereinzelt - etwa bei Montesquieu248 - und sind nur mittelbar greifbar im weitergeführten Denkansatz des Vernunftrechts, auf den Selbsterhaltungstrieb abzustellen 249 •

1526 Die späte gemeinrechtliche Lehre im 19. Jahrhundert Die Strafprozeßlehre zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis zu dem mit der Revolutionszeit einsetzenden Umschwung hat die im Inquisitionsprozeß angelegte Tendenz für den allgemeinen Strafprozeß am schärfsten herausgebildet. Bezüglich des Gehörs knüpft sie äußerlich an die Tradition an: Sie bekennt sich zu dem Grundsatz, niemand dürfe ungehört verurteilt werden und bezeichnet die materielle Verteidigung als ein Essentiale des Prozesses 250 , dann auch - wie im Zivilprozeß - als eine Forderung aus der Natur der Sache251 • 244 Des Herren Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen, Auf das Neue selbst aus dem Italiänischen übersezet mit durchgängigen Anmerkungen des Ordinarius zu Leipzig Herren Hofrath Hommels, Breslau 1778, hrsg. v. John Lekschas, Berlin 1966, §§ 30, 38 (S. 128, 161). 245 Observ. 582 Bd. 3 S. 309 ff., Observ. 893 Bd. 6 S. 528 f., 4. Auf!. hrsg. v. Carl Gottlob Roessig, Bd. 1-7, Bayreuth 1782 ff. 248 La Scienza della Legislazione, 2. Aufl. Bd. 3 Neapel 1783, B. 3 Kap. 8, 10, 11, 20 (S. 110, 132 ff., 172, 367). 247 Vgl. Gerd Kleinheyer, Staat und Bürger im Recht (Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen Bd. 47), Bonn 1959, S. 110 f. 248 De l'Esprit des Lois (Nachdruck der Ausg. Amsterdam/Leipzig 1758 in (Euvres Completes de Montesquieu, hrsg. v. Andre Masson, Bd. 1 Paris 1950) B. 6 Kap. 2 (S. 100): "Mais dans les etats moderes, ... on ne lui [le citoyen] öte son honneur et ses biens qu'apres un long examen: on ne le prive de la vie que lorsque la patrie elle-meme l'attaque; et elle ne l'attaque qu'en lui laissant tous les moyens possibles de la defendre." 249 s. unten S. 89, zu Pufendorf, Thomasius, Wolff und Hoepfner S. 87 N. 361. 250 Bolley §§ 42 u. 46 (S. 65, 66), Mittermaier, Handbuch Bd. 2 S. 208 f. (vgl. auch die folgende Note), Bauer §§ 3 u. 210 (S. 3, 327, 328 f. N. a), Stübel §§ 1511, 1908, 3261 (Bd. 3 S. 220, Bd. 4 S. 128, Bd. 5 S. 268), eingehend Sundheim §§ 18 unter e, 18 a, 19 (S. 27 - 32), zum Ausdruck "rechtliches Gehör" S. 29 N. qq.

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1 Die geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes

Doch gibt die grundsätzliche Verschiedenheit des Strafprozesses vom bürgerlich rechtlichen Verfahren, die sich in der Praxis noch tiefgreifender darstellt, dem Gehör einen spezifischen Sinn. Der Untersuchungsrichter strebt nach dem höchsten Ziel des Prozesses, der materiellen Wahrheit, und bedient sich dazu insbesondere der eigenen Aussage des Inquisiten, weil sie aus unmittelbarer Anschauung schöpft und bei nicht verwirklichten Taten oft die einzige Erkenntnisquelle bildet. Das Gehör besitzt daher, obwohl als Prinzip begründet, auch in der Theorie nicht mehr den Eigenwert, den ihm die Naturrechtslehre gegeben hat, sondern nur die ebenfalls im beiderseitigen Gehör des Zivilprozesses angelegte Funktion, dem Richter zu einer vollständigen Ermittlung zu verhelfen252 • Diesem Zweck entsprechend wird auch das durch die Ladung vermittelte Verteidigungsrecht als nicht verzichtbare "Befugnis" zu Erklärungen umgedeutet 253 • Der Inquisitionsprozeß muß danach trachten, den Schuldigen als die umfassendste Erkenntnisquelle für die Wahrheit durch ein Geständnis zu überführen. Nur wer als gehorsamer Untertan seiner Pflicht zur Angabe der Wahrheit nachkommt und so zu seiner Verurteilung beiträgt, braucht nicht zu befürchten, verfeinerten Methoden zur Erlangung einer Erklärung unterworfen zu werden. Wenn er sich hartnäckig zeigt, die Wahrheit bewußt verschweigt oder jede Antwort verweigert, kann sein Ungehorsam mit Strafen, die auch in körperlicher Züchtigung bestehen, geahndet werden. Sie sollen sich, dadurch theoretisch scheinbar gerechtfertigt, durch ihren Vergeltungscharakter von dem Zwangsmittel der Folter unterscheiden 254 • 251 Mittermaier, Diss. inaug. §§ 1, 2, 16 (S, 2, 6, 36; die bloße Angabe des Vornamens Joseph im Druck ist für die Autorschaft irreführend: C. J. A. Mittermaier bezieht sich selbst auf seine Dissertation im Handbuch Bd. 1 S. 197, Bd. 2 S. 551 N. a), Gmelin S. 245 f., Müller §§ 16, 78, 89, 90 (S. 20, 152, 177, 178 m. N. 2), 1861 noch Zachariae, Handbuch Bd. 1 § 7 (S. 23). Zur Natur der Sache als Rechtsquelle im Zivilprozeß s. oben S. 40. 252 Bolley §§ 45 f. (S. 66), Mittermaier, Diss. inaug. § 16 (S. 36) u. Handbuch Bd. 2 S. 99, Gmelin S. 27; Stübel § 2332 (Bd. 4 S. 313) bezüglich des letzten Wortes, während die Information über die Verdachtsgründe (§ 2342 [Bd. 4 S. 317]) als eine Befugnis des Inquisiten erscheint; Abegg, Lehrbuch §§ 66 u. 143 (S. 94, 250), - das demgegenüber in § 111 (S. 183) dem Angeschuldigten zugebilligte Recht, aktiv mitzuwirken und gehört zu werden, bleibt offen und wird nicht weiter verfolgt. 253 Stübel § 1511 (Bd. 3 S. 219 f.); zur Ladung als Essentiale vgl. auch Bolley §§ 42 u. 44 (S. 65). 254 Bauer §§ 122, 184, zu ausnahmsweise zulässigen Suggestivfragen § 181 (S. 191, 286, 282), Bolley §§ 81 unter VIII, 122 (S. 143, 231 f.), Henke § 163 (S. 272, 274 N. 4), Abegg, Lehrbuch §§ 116, 122 (S. 194 ff., 206), ihm folgend Müller § 149 (S. 345 N. 35, 346 N. 38), Gmelin S. 114 f., Stübel §§ 1928, 1932 f., 1937, 1939 (Bd. 4 S. 136, 139, 143, 144 m. N. a), Mittermaier, Handbuch Bd. 2 S. 121, 166 -174, bezeichnend Bd. 1 S. 214: die Bestimmungen des römischen Anklageprozesses, "die den Geist des öffentlichen Verfahrens, den Geist der Freiheit etc. athmen, sind für uns nicht anwendbar".

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Der konsequent ausgebildete Inquisitionsprozeß führt weiter dazu, jede Aktivität des Inquisiten zur Sicherung seiner materiellen Verteidigung als überflüssig anzusehen. Daher wird die ursprüngliche Vorstellung, die Versagung des Gehörs legitimiere zur Nichtigkeitsbeschwerde, zunächst dahin verändert, daß auch dem Staat dieses Rechtsmittel zusteht255 und schließlich durch die auch in der Gesetzgebung verwirklichte Auffassung einer Revision von Amts wegen in allen wichtigen Fällen verdrängt 256 • Bei der Darstellung des Anklageprozesses, der noch vereinzelt in den Territorien fortlebt, ergibt sich kein prinzipieller Unterschied. Er wird nicht in Analogie zum bürgerlichrechtlichen Verfahren als Parteiprozeß gedeutet, sondern unterliegt wegen der mit dem Inquisitionsprozeß übereinstimmenden Zielsetzung denselben Grundsätzen wie dieser, kennt also ebenfalls nur ein inquisitorisches Verhör 257 • 153 Der reformierte Strajprozeß

Im reformierten Strafprozeß sollte der entscheidende Durchbruch zur Anerkennung des Gehörs als Individualrecht des Angeklagten erfolgen. Voraussetzung war die überwindung des Inquisitionsprozesses. Seine Tauglichkeit hing von der Integrität des allmächtigen Untersuchungsrichters ab. Dieses Vertrauen war jedoch erschüttert, weil die Erfahrung gezeigt hatte, wie leicht der Inquisitionsprozeß unter den Händen willfähriger Beamter zu einem Instrument des Terrors werden konnte 258 • 255 Abegg, Lehrbuch § 188 (S. 324 f.), ebenso Müller § 227 (S. 534); zur älteren Auffassung vgl. Bauer § 240 i. V. m. §§ 3, 210 (S. 374, 3, 327), Mittermaier, Diss. inaug. § 16 (S. 36), Stübel §§ 3257 Ziff. 4, 3261 (Bd. 5 S. 266, 268), Sundheim §§ 3, 19, 22 (S. 11, 32, 36), Zachariae, Grundlinien des gemeinen deutschen Criminal-Processes, Göttingen 1837, S. 286. 256 Mittermaier, Handbuch Bd. 2 S. 542 ff., 546 f., Henke § 182 (S. 311), Hofacker § 232 (S. 213 N. 50). Aus der Gesetzgebung vgl. das österr. Gesetz von 1803 § 438 S. 2 (Text bei Egger) und das bayerische StGB von 1813 Tl. 2 Art. 366 Abs.1. 257 Bauer § 253 (S. 398), Mittermaier, Handbuch Bd. 2 S. 611, 613, Henke § 201 (S. 350), Müller § 189 (S. 464 f.); Eb. Schmidt, Inquisitionsprozess S. 100, 104. Der Inquisitionsprozeß kann seinem Wesen nach nicht Parteiprozeß sein (vgl. z. B. Henke §§ 67, 188 [So 100, 329]); Stübels abweichende Auffassung (§ 3209 [Bd. 5 S. 244]) hat keine Nachfolger gefunden. 258 Zum Vertrauen auf die Integrität des Inquirenten als implizierter Voraussetzung Carl Otto Graebe, über die Reformation der peinlichen Gesetze, Münster 1784, § 54 (S. 94), G. W. C. Cavan, Anweisung zu Criminalprocessen bei Civil- und Militärgerichten, Berlin 1805, § 84 (S. 63), kritisch bereits Carrach (1776) Kap. 2 § 4 (S. 256) und Bauer Vorrede (S. 12), zur Widerlegung durch die Erfahrung Zachariae, Gebrechen S. 143, Mittermaier, Gesetzgebung S. 274 f. und in Archiv des Criminalrechts N. F. Jg. 1842 S. 445, Vargha S. 181, bereits Sethe spricht 1818 in seinem Gutachten von "Justizgreueln", die vorgekommen sein sollen (S. 28), weiter Scheller S. 13, 29 ff. "Die Menschheit hat diese Irrtümer mit Leid und Qual und mit Strömen unschuldig vergossenen Blutes bezahlen müssen" (Eb. Schmidt, Einf. S. 208).

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Die Kritik setzte weiter an der Inkonsequenz des Inquisitionsprozesses selbst an. Obwohl er keine Aufteilung der verschiedenen Funktionen zuließ, war doch auf Grund der Praxis die Zuziehung eines Verteidigers anerkannt. Das geschah mit der bezeichnenden Begründung, nur so könne sich die materielle Verteidigung sinnvoll entfalten 259 • Ebenso war der Inquisitionsprozeß fraglich geworden, wenn die freie Unterredung des Verteidigers mit dem Mandanten ohne Beisein einer Gerichtsperson teilweise damit begründet wurde, dies sei oft die einzige Möglichkeit, eine gesetzwidrige Behandlung des Inquisiten aufdecken zu können 26o . Die Ablehnung des Inquisitionsprozesses wegen seiner inneren Widersprüchlichkeit trug den Sieg über vorsichtigere Auffassungen davon, die nur auf die Gefahr der Entartung und des Mißbrauchs hinwiesen und davor warnten, aus einem falsch verstandenen Liberalismus "den Verbrecher in Baumwolle einzuwickeln"261. Hauptträger der neuen Entwicklung wird die Literatur aus dem Anfang und der Mitte des 19. Jahrhunderts 262 , deren Forderungen in der Revolutionszeit wirkungsvoll durchgesetzt werden können. Die Reformbewegung will, angestoßen durch die Auseinandersetzung mit dem "Code d'instruction criminelle" von 1808, eine unabhängige Rechtspflege, die Beteiligung von Laien als Geschworenen, eine selbständige Anklagebehörde und ein öffentliches, mündliches Verfahren 263 • Das Bestreben, für das Verhältnis zwischen Bürger und Obrigkeit feste rechtliche Formen zu 259 Mittermaier, Handbuch Bd. 1 S. 187, 193, Bd. 2 S. 220 ff., Müller § 164 (S. 397); die Neue PeinlGO für Böhmen, Mähren und Schlesien (1707) Art. 1 § 2 enthielt die bezeichnende Einschränkung, der Inquirent solle nur "einiger massen auch deß Beklagten stelle" vertreten (nach Hye - Glunek S. 5 Note). Kritisch bereits Sahler (1766) § 10 (S. 53): "Quin quid si [judex] plane malevolus sit, si prava mentis cupiditate trahatur, si turpi malitia reo Defensionis remedia intercipiat?" 280 Stübel § 2361 (Bd. 4 S. 324) als Ausnahme von den Grundsätzen der §§ 2355 ff. (ebd. S. 322 f.), Mittermaier, Handbuch Bd. 2 S. 230 (anders Strafverfahren Tl. 2 § 153 [So 272]), allgemein für eine freie Unterredung Meister HSt. 8 § 54 (S. 255), Abegg, Lehrbuch § 146 (S. 255), aus der Gesetzgebung im Grundsatz die Revidierte Hamburger GO (1711) Tit. 55 Art. 28 (bei Helmut Gade, Hamburgische Strafrechtspflege im 18. Jh., Diss. Hamburg 1956, S. 30). A. A. z. B. noch Heil Kap. 3 § 25 (S. 111). 261 So Köstlin S. 92, 98 f., obwohl er selbst die negativen Erfahrungen nicht verkennt (vgl. S. 78), zum prinzipiellen Widerspruch dagegen z. B. Zachariae, Gebrechen S. 139. 262 Seiner Zeit voraus und daher besonders hervorzuheben ist der 1792 anonym erschienene, von Karl Theodor Anton Maria Freiherr von Dalberg (1744 - 1817) verfaßte Entwurf eines Gesetzbuchs in Criminalsachen (Frankfurt/Leipzig 1792; zur Autorschaft Holzmann / Bohatta Bd. 2 Nr. 923). Der Entwurf kennt zwar noch Ungehorsams strafen (vgl. Tl. 1 Abschn. 7 § 5, Abschn. 12 § 2), gewährt aber weitgehende Akteneinsichtsrechte nach Schluß der Untersuchung (Tl. 1 Abschn. 8 § 3), fordert eine Schlußverhandlung "bey offenen Thüren" (Tl. 1 Abschn. 19 § 2 Abs. 1) und verpflichtet den Richter, mit dem Inquisiten "zugleich menschenfreundlich, und mit dem Ernste der richterlichen Würde" zu verfahren (Tl. 1 Abschn. 7 § 2 Abs. 2).

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schaffen, entspringt rechtsstaatlichem Denken. Im Prozeß geht es darum, den Betroffenen als Subjekt anzuerkennen und mit bestimmten Abwehrund Freiheitsrechten gegenüber dem Staat auszustatten. Die Schlagworte der Revolutionszeit: Anklageprozeß, Mündlichkeit - verstanden im Sinne der heutigen Unmittelbarkeit -, Öffentlichkeit und Schwurgerichte, haben auch Auswirkungen auf die Lehre vom Gehör gehabt. Die von der Paulskirche wirksam erhobene Forderung nach Einführung des Anklageprozesses schafft unter Anlehnung an das französische Recht einen Parteiprozeß. Staatsanwalt und Angeklagter stehen als gleichberechtigte Prozeßsubjekte einem Richter gegenüber, der sich um die materielle Wahrheit bemüht, aber auf die unparteiische Entscheidung des Rechtsstreits beschränkt ist264 . Die eigenverantwortliche Stellung des Angeklagten und die Bindung der Staatsgewalt an rechtliche Regeln sollen eine Entwürdigung des Betroffenen wie im Inquisitionsprozeß unmöglich machen. Für das Gehör bedeutet das eine völlige Abkehr von der Praxis der Inquisition. Der Respekt vor der Personwürde des Angeklagten schließt eine durch Ungehorsamsstrafen rechtlich erzwingbare Pflicht zur Angabe der Wahrheit aus 265 . Er ersetzt die "perfide Jagdwissenschaft"266, nach einem geheimen Untersuchungsplan auf ein Geständnis hinzuarbeiten, durch die Aufforderung an den Angeklagten, sich auf die offen vorgetragene Anklage zu verteidigen 261 und gewährt ihm, der Ent263 Zu den Zielen der Reform Eb. Schmidt, Einf. S. 327 ff., Text des Code bei Haeberlin S. 3 ff. Zum öffentlichen und mündlichen Verfahren in Frankreich als Vorbild der deutschen Zivilprozeßreform Gerhard J. Dahlmanns, Der Strukturwandel des deutschen Zivilprozesses im 19. Jh., Aalen 1971, S. 28 ff., Knut Wolfgang Nörr in ZZP Bd. 87 (1974), S. 277 ff. (279 ff.). 264 Zachariae, Gebrechen S. 54, 63, Handbuch Bd. 1 §§ 11 II B, 64 (S. 43, 421, 422 m. N. 2), Mittermaier, Strafverfahren Tl. 1 § 28 (S. 169), Gesetzgebung S. 286, Leue, Anklage-Proceß S. 179, Planck §§ 12, 60, 63 (S. 36, 147, 163), Glaser, Gutachten S. 88, Temme S. 36 unter 3,37, Hermann Ortloff, Das Strafverfahren in seinen leitenden Grundsätzen und Hauptformen, Jena 1858, S. 164, 179, 190 f., 196, was konsequent zum beiderseitigen Gehör führt (S. 62 f., 171). Zur Terminologie im einzelnen Westhoff S. 10 ff. und Udo Heissler, Die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Strafprozeß, Diss. Tübingen 1973, S. 41 ff., zum Anklagegrundsatz in der Verfassungsentwicklung Gerhard Urban, Die Stellung der Paulskirche zu Gerichtsverfassung und Strafverfahren, Diss. Tübingen 1946, S. 150 H. Anders noch Sundelin in GA Bd. 6 (1858) S. 629 f., Groß S. 161 - 164. 265 Zachariae, Gebrechen S. 108, 114, Handbuch Bd. 2 § 104 I (S. 232), Köstlin S. 63, 66, 103, Mittermaier, Strafverfahren Tl. 1 §§ 61 III, 82 (S. 410, 503, 508 f.), Planck § 92 (S. 246 f.). Anders noch Martin, Criminal-Process §§ 65, 114 (S. 192 ff., 358 f.) und Sundelin in GA S. 632: "Wir sind gewohnt, im Richter die von Gottes und Rechtswegen untersuchende und strafende Obrigkeit zu sehen. Wir zweifeln an seinem Recht ebensowenig, als an unserer Pflicht, ihm Rede und Antwort zu geben, die er kraft seines Amts verlangt." 266 Köstlin S. 94. 267 Zachariae, Gebrechen S. 55 u. Handbuch Tl. 2 § 104 I (S. 232), Temme S. 73 f., Mittermaier, Gesetzgebung S. 287 und Anleitung zur Vertheidigungskunst, 4. Aufl. Regensburg 1845, §§ 3, 5 (S. 13, 31), Planck §§ 60, 92, 128 (S. 152,

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wicklung zum Verfassungsstaat entsprechend, ein Recht auf Gehör gegenüber dem Richter 268 • Von den weiteren Forderungen der Revolutionszeit läßt die Unmittelbarkeit der Verhandlung die damit gegebene Einflußmöglichkeit des Angeklagten erst als volle Verwirklichung des rechtlichen Gehörs erscheinen269 • Auch die Öffentlichkeit wird vereinzelt als Bürgschaft für das beiderseitige Gehör und für die Würdigung des Vorgetragenen durch den Richter angesehen 270 • Die Beteiligung von Geschworenen, die nach ihrer überzeugung urteilen, macht schließlich die Sicherung unerläßlicher Vorschriften auf dem Wege über die Nichtigkeitsbeschwerde erforderlich. Das als Vorbild dienende französische Recht hatte hier ursprünglich auf die "formes essentielles" abgestellt und war nach einer positivistischen Zwischenphase, die die Nichtigkeitsbeschwerde nur auf das im Gesetz bei Strafe der Nichtigkeit Vorgeschriebene bezog, zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu den "nullites substantielles" zurückgekehrt. Zu ihnen gehörten nach der Rechtsprechung des Kassationshofes und der Lehre auch das Verhör und die freie Entfaltung der Verteidigung 271 • Die Generalklausel setzt sich auch in Deutschland durch und löst die Einzelaufzählung der Nullitätsgründe ab 272 •

246, 357 f.), der bei fehlender Verteidigung wegen Verstoßes gegen den Anklageprozeß Nichtigkeit des Verfahrens annimmt (§ 181 [So 535 unter 3]), Martin, Criminal-Process § 61 (S. 166: Verhör als wechselseitige Unterhaltung), Glaser, Gutachten S. 88, 90 f. (ebenso der vom Juristentag angenommene Antrag, vgl. Verhandlungen des 7. DJT, Bd. 2 Berlin 1869, S. 122); dazu Herrmann S. 62 f. 268 Zachariae, Gebrechen S. 118, Temme S. 131, Brauer, Art. "rechtliches Gehör" in: Ludwig von Jagemann, Criminallexikon, Erlangen 1854, S. 539; dagegen halten Sundelin in GA S. 633 f. und Groß S. 165, 167 an dem Verhör fest. Mittermaier, Strafverfahren erwähnt widersprüchlich das beiderseitige Gehör im Anklageprozeß (Tl. 1 § 60 [So 408 unter 2]) und als Zweck des Verhörs die Geständniserlangung (Tl. 2 § 145 [So 226 ff.]). 269 Feuerbach, Betrachtungen S. 296, Leue, Anklage-Proceß S. 180, 182 f., A. C. H. Braun, Hauptstücke des öffentlich-mündlichen Straf-Verfahrens mit Staatsanwaltschaft nach französischer und holländischer Gesetzgebung, Leipzig 1845, S. 23 f. 270 Feuerbach, Schlußverfahren S. 224 f., 226. 271 Vgl. die in GS Jg. 1 (1849) Bd. 2 S. 395 wiedergegebene Entscheidung des Kassationshofes von 1844; Mittermaier, Strafverfahren Tl. 1 § 35 (S. 230 f.) u. Nichtigkeiten S. 293 f., 320, 492, Friedrich Walther, Die Rechtsmittel im Strafverfahren, Abt. 2 München 1855, § 50 (S. 47, 51) und Lehrbuch § 61 (S. 235 N.***). Schmid S. 10 - 12. 272 Zachariae, Handbuch Bd. 2 § 68 II C (S. 18 f.), zur traditionellen Auffassung ebd. § 68 I A (S. 15 m. N. 3), Mittermaier, Strafverfahren Tl. 1 § 35 (S. 219), Tl. 2 § 204 (S. 628), Martin, Criminal-Process § 13 (S. 44), Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 14. Aufl. Gießen 1847, hrsg. v. Mittermaier, §§ 519, 523 (S. 794, 796 m. N. 1).

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154 Das Gehör in der Gesetzgebung der Länder Eine Betrachtung der Gesetzgebung der Länder in groben Umrissen soll zeigen, in welchen Etappen sich die namentlich durch die Revolutionsbewegung angestoßene Wandlung vom Inquisitions- zum Anklageprozeß vollzog. Für das Gehör kommen sowohl " positive " Regelungen für die einzelnen Teile des Verfahrens in Betracht als auch "negative" im Rahmen der Nichtigkeitsbeschwerde. Die Tabelle soll die Mittel veranschaulichen, deren sich der Gesetzgeber im einzelnen bedient hat273 • 1541

Ausdrücklic...~e

Regelungen des Gehörs

"Positive" Regelungen lassen sich insbesondere für die Entwicklung in Baden, Württemberg, Preußen, Braunschweig-Hannover und Bayern aufzeigen. Ergänzend wird die parallel verlaufende Entwicklung in Österreich verfolgt. Das badische Strafedikt von 1803 ist noch von der Karolina geprägt; die den endlichen Rechtstag ersetzende nochmalige Vernehmung des Inquisiten hat bloße Kontrollfunktion274 • Dagegen verwirklicht die nicht in Kraft getretene - StPO von 1845 die Forderung nach einer dem Urteil vorangehenden mündlichen Verhandlung. Diese reproduziert jedoch im wesentlichen das bisherige Ergebnis, wie die erschwerte Widerrufsmöglichkeit eines Geständnisses zeigt 275 • Das Gesetz von 1851 stellt es im Verfahren vor den Hofgerichten grundsätzlich in das Ermessen des Gerichts, die Voruntersuchung zur besseren Sachaufklärung mit einer mündlichen Verhandlung abzuschließen, die die Bedeutung einer Hauptverhandlung im Schwurgerichtsverfahren hat 276 • Erst die StPO von 1864 setzt für alle Strafsachen eine öffentlich-mündliche Verhandlung fest (§ 6 Abs. 1) und beseitigt damit die Praxis der Hofgerichte, die meistens auf die Schlußverhandlung verzich273 Unten S. 83; übersicht über die Gesetzgebung der Länder bei Planck Vorrede S. 8 ff. 274 Strafedikt § 17, zur Anwendung der Karolina § 7 und zu Ungehorsamsstrafen § 11 (Text bei Junghanns). 275 StPO § 253, zur mündlichen Verhandlung §§ 230, 235 Abs. 1, 253 Abs. 2 (Text bei Haeberlin S. 370 ff.). Feuerbachs Gedanke der Verwirklichung des Gehörs durch das Prinzip der Unmittelbarkeit (s. oben S. 68 N. 2-69) wurde aufgenommen von der Regierungskommission (bei Wilhelm Thilo, Strafproceßordnung für das Großherzogthum Baden, Karlsruhe 1845, S. 2 f.); theoretisch vorgearbeitet hatten v. Drais (S. 238) und die von Nebenius geleitete Rechtsgesetzgebungskommission 1834/35 (dazu Mackert S. 47 f., 60, 64). 276 Gesetz § 35 Abs. 2 S. 1, nur im Fall des § 36 Abs. 2 bestand eine Pflicht zur Schlußverhandlung (Text bei Haeberlin S. 422 ff.); zur Funktion der Schlußverhandlung Anton Mayer, Das Strafverfahren im Großherzogthum Baden nach dem Gesetze vom 5. Febr. 1851, Freiburg 1852, §§ 49, 68, 80 (S. 89,

141,178).

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teten. Die Verteidigung ist in der Voruntersuchung dadurch gesichert, daß hier das Verhör nur in der Entgegennahme der Rechtfertigung besteht (§ 188 Abs. 1), und in der Hauptverhandlung durch das beiden Seiten gewährte Gehör (§ 244), ohne daß deshalb schon von einem Parteiprozeß gesprochen werden könnte 277 • Gegenüber diesen positiven Regelungen des Gehörs tritt die Qualifizierung des fehlenden Gehörs als Nullitätsgrund zurück. Die Nichtigkeitsbeschwerde in Strafsachen richtet sich zunächst nach zivilprozessualen Vorschriften278 • Die StPO von 1845 wendet den auf die Wirksamkeit von Willenserklärungen zugeschnittenen Satz 6 k aus der Einleitung zum badischen Landrecht von 1809 an und arbeitet mit der GeneralklauseI der Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften279 • über diese traditionelle Formel hinausgehend hat Haager versucht, von den wesentlichen Vorschriften über die Formen des Verfahrens wesentliche Voraussetzungen der Rechtsbeständigkeit zu unterscheiden, die wie absolute Revisionsgründe eine Prüfung der Kausalität nicht erfordern und in dieser Hinsicht zu einer "absoluten" Nichtigkeit führen. Zu den aus der Natur der Sache abgeleiteten natürlich-wesentlichen Voraussetzungen zählt auch das rechtliche GehÖr 280 • Diese Wiederaufnahme der alten Lehre von den heilbaren und unheilbaren Nullitäten blieb jedoch vereinzelt und ohne Wirkung auf die Erörterungen zur StPO von 1864, die ebenfalls nur die Generalklausel kennt281 • -

Für Württemberg bezeichnet Hofacker 1820 das "rechtliche Gehör" womit er wohl als erster den Begriff im Strafverfahren anwendet -

277 Text bei Ammann S. 51 ff.; Einzelbefugnisse des Angeklagten in §§ 196 Abs. 2, 218 Abs. 1, zum Verbot von Zwang § 190, gegen einen Parteiprozeß die lVIotive (bei Ammann Anm. 1 zu § 39 [So 78 f.]), zur negativen Erfahrung mit der Schlußverhandlung im Verfahren vor den Hofgerichten Ammann Einl. S. 12 gegen Bekks optimistische Ansicht (zu § 35 des Gesetzes von 1851 [So 25]). 278 Auf das Edikt von 1804 (s. oben S. 43) beziehen sich die VO von 1805 (bei Junghanns Zusatz I A 2 d, S. 35 f.), der Beschluß von 1810 (Sammlung der Erläuterungen über das Edict wegen der Strafgerechtigkeits-Pfiege (1812) Ziff. 36, bei Obermüller S. 1075) und die Zirkularverfügung des Oberhofgerichts von 1811 (bei v. Drais S. 132); zum fehlenden Gehör als Nichtigkeitsgrund v. Drais S. 133. 219 StPO §§ 291 Abs. 1, 294 Abs. 1 (Text bei Haeberlin S. 370 ff.), § 474 Nr. 1 des E 1835 hatte die Beschränkung der Verteidigung noch einzeln aufgeführt (nach lVIittermaier, Nichtigkeiten S. 315 N. *). Wie die StPO das Gesetz von 1851 § 115 Nr. I, 2, weiter § 117 Nr. 2 (Text bei Haeberlin S. 422 ff.), zur Entstehungsgeschichte Abg. Christ im Bericht der Kommission der 2. Kammer von 1848 (bei Haager S. 102 f.), zur Auslegung im Sinne des Landrechtssatzes Bekk Anm. zu § 115 des Gesetzes (S. 102). 280 Haager S. 107, 109, 112 unter c, 174, zur Untauglichkeit des Landrechtssatzes S. 106; aus den Vorarbeiten lVIittermaier im Bericht der Kommission der 2. Kammer zum E 1848 (nach Haager S. 99). Dagegen wird sonst das rechtliche Gehör zu den "wesentlichen Formen" gerechnet, z. B. bei Bekk Anm. zu § 115 des Gesetzes (S. 102 N. *). 281 StPO § 373 Abs. 1 Nr. 3, dazu Ammann Anm. 7 (S. 257).

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als absolut wesentlichen Bestandteil des Prozesses. Das ist jedoch ohne Einfluß auf den Charakter des Inquisitionsprozesses, der in der Sache nur eine der Aufklärung dienende Vernehmung zuläßt und diesen Zweck mit Ungehorsamsstrafen sichert282 • In der Gesetzgebung hat die bereits vor 1848 eingeführte mündliche Schlußverhandlung die Entwicklung des Gehörs besonders gefördert. In den Vorarbeiten zur StPO von 1843 ist das rechtliche Gehör als Prinzip anerkannt 283 • Die Bestimmungen der StPO, der Angeklagte sei in allen Strafsachen in der Schlußverhandlung bei Folge der Nichtigkeit zur Verteidigung aufzufordern, geben dem Gericht die Möglichkeit, die Verhandlung nicht nur zu einer Reproduktion der vorliegenden Akten werden zu lassen; sie bereiten so die überwindung des Inquisitionsgedankens vor, wie er sich noch in den Ungehorsamsstrafen zeigt 284 • Die Änderungen durch das Schwurgerichtsgesetz von 1849 285 bringen die Nichtigkeitsgründe des fehlenden Gehörs in der Voruntersuchung (Art. 28 Nr. 3) und der Beschränkung der Verteidigung (Art. 193 Nr. I 2). Die StPO von 1868 führt vor allem die bereits im Gesetz von 1849 angelegte Tendenz weiter, die Verteidigung durch eine Pflicht des Richters zu einer entsprechenden Aufforderung zu sichern, während ein weitergehender Hinweis auf das Recht zu schweigen wegen der meist nachteiligen Wirkungen abgelehnt wird 286 • In konsequenter Befolgung des Anklageprinzips darf das Urteil bei Strafe der Nichtigkeit erst ergehen, wenn Staatsanwalt und Angeklagter gehört sind287 • 282 Hofacker §§ 14, 156, 169 (S. 8, 127 f., 140); auch im Anklageprozeß ist nur für ein Verhör, nicht für das Gehör Raum (§ 224 [So 201]), s. auch oben S. 65. 283 So im Bericht der Kommission der württ. Abgeordnetenkammer für den StPO-E 1839, hier in Bezug auf das französische Abwesenheitsverfahren (bei Hepp S. 216); auch die Erklärung der Staatsregierung von 1842 über den Beschluß der Kammern bezeichnet das rechtliche Gehör im standgerichtlichen Verfahren als etwas Selbstverständliches (ebd. S. 245 unter 3), weiter Hepp S.221. 284 StPO Art. 255 Abs. 1 S. 1, 258 f., 276 Abs. 2, 278 Abs. 1, zur Nichtigkeit Art. 261 Abs. 1, 281, 404 Abs. 1 i. V. m. 389 Abs. 2, zu den Ungehorsamsstrafen Art. 143 Abs. 1 i. V. m. 142 Abs. 1, 148 Abs. 1 (Text bei Haeberlin S. 525 ff.). Unzutreffend Westhoff S. 115, die Reformbewegung sei bis 1848 nur literarisch gewesen. 285 Text bei Haeberlin S. 600 ff. 286 StPO Art. 197 Abs. 2, 305, 353 Abs. 1 S. 1, 390 Abs. 1 (Text in: Die Neue Justizgesetzgebung Bd. 3 Abt. 1), Vorlage waren die Entwürfe von 1863 (Entwurf einer Strafprozeßordnung für das Königreich Württemberg, Stuttgart 1863) und von 1867 (Text in: Die Reform der Justizgesetzgebung im Königreich Württemberg, Abt. 1, Stuttgart 1867, S. 79 ff.). Zur Gesetzesfassung vgl. den Kommissionsbericht zu Art. 196 u. 305 des E 1867 (in: Die Neue Justizgesetzgebung Bd. 3 Abt. 2 S. 240, 348 f.); s. auch schon Schwurgerichtsgesetz 1849 Art. 125 Abs. 1, 177 S. 1 (Text bei Haeberlin S. 600 ff.). 287 stPO Art. 328 Abs. 1, 441 Nr. 5 u. 6, zum beiderseitigen Gehör im einzelnen Art. 301 S. 7, 359 Abs. 3 S. 1; kritisch zur fehlenden Einzelregelung des Verhörs im E 1863 Mittermaier, Der württembergische Entwurf der Strafprocessordnung, Heidelberg 1864, S. 18 f. Zu dem oldenburgischen Gesetz von 1857, das der stpo von 1868 teilweise als Vorbild diente, s. unten S. 79.

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1 Die geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes

Die Gesetzgebung Preußens veranschaulicht deutlich die Wandlung von einem angehängten Schlußverhör zu einer mündlichen Verhandlung als Mittelpunkt des Verfahrens. Nach der Kriminalordnung von 1805, die einen Erklärungszwang verbietet (§§ 285, 288), aber noch Ungehorsamsstrafen auf Grund einer Entscheidung des Justizkollegiums kennt (§§ 289, 293), dient das Schlußverhör der Wahrheitsfindung: es ermöglicht die vollständige Sichtung des Be- und Entlastenden (§ 418)288. Das im Rheinland geltende Recht des Code d'instruction criminelle von 1808 machte eine Auseinandersetzung mit den modernen Auffassungen nötig. Sethe, Mitglied der Justizimmediatkommission für das Rheinland, spricht sich 1818 mit Erfolg für die Beibehaltung des öffentlichen und mündlichen Verfahrens aus. Er argumentiert, hier bestehe nicht die Gefahr mißbräuchlicher Ausübung der unbeschränkten Gewalt eines Inquirenten und die unmittelbare Äußerungsmöglichkeit vor Gericht sei ebenso eine Forderung der Gerechtigkeit wie das rechtliche Gehör selbst289 • Das Gesetz über das Verfahren bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht Berlin von 1846 verwirklicht die neuen Vorstellungen insoweit, als sich das Urteil jetzt auf eine mündliche Verhandlung gründet, in der Staatsanwalt und Angeklagter zu hören sind 290 • Dieser Grundsatz wird durchgeführt in der Verordnung von 1849 291 und in dem Änderungsgesetz von 1852. Das Gesetz fordert die ständige Anwesenheit des Angeklagten, verpflichtet das Gericht zur Wiederholung des bei Entfernung Verhandelten (Art. 28) und gewährt die Nichtigkeitsklage bei Verletzung 288 Text bei Liman S. 255 ff. Christi an Ludwig Paalzow fordert schon weitergehend in seinem Kommentar über die Criminal-Ordnung für die preussischen Staaten, Berlin 1807, eine umfassende Erörterung des Entlastenden (zu §§ 418 ff., Tl. 2 S. 321) und verwirft die Ungehorsamsstrafen (zu §§ 292, 293, Tl. 1 S. 459), die bereits nach dem Reskript von 1766 (bei Abegg, Geschichte S. 144 N. 185) nur durch das Kriminalkollegium erkannt werden konnten. 289 Gutachten S. 11, 23, zur Justizimmediatkommission Eb. Schmidt, Einf. S. 327, Landsberg in der Edition des Gutachtens Einl. S. XL ff., zum Gutachten S. LXXXVI f. Zu den Äußerungsmöglichkeiten des Angeklagten im Strafverfahrensrecht des Rheinlandes A. von Daniels, Grundsätze des rheinischen und französischen Strafverfahrens, Berlin 1849, §§ 269, 271, 307, 329, 348 (S. 148, 149, 171, 179, 184), vgl. Code d'instruction criminelle Art. 327, 335 Abs. 2, 363 Abs. 1 (Text bei Haeberlin S. 3 ff.), zur Mündlichkeit in den pr. StPO-Entwürfen von 1828, 1828/29 und 1841 Löhr S. 33. Wie die Mißachtung des Gesetzes im Inquisitionsprozeß angelegt ist, zeigt die eigene Darstellung J. D. H. Temmes im Commentar über die wichtigeren Paragraphen der Preußischen Criminalordnung, Berlin 1838, zu § 270 (S. 99). 290 Gesetz § 15, das Anklagemonopol der StA folgt aus § 5 Abs. 1 (Text in PrGS 1846 S. 267 ff.). Zur Verwirklichung des Gehörs im Beschwerdeverfahren durch eine gerichtliche Verhandlung an Stelle einer einseitigen Verfügung des Ministers Scheller, Anh. S. 125 ff. (Denkschrift S. 129 f.), weiter S. 121. 291 VO §§ 14, 22 Abs. 2 S. 2, 34 Abs. 1, 121 Abs. 1 (Text bei Liman S. 1 ff., Haeberlin S. 194 ff.). Johann Carl Hagens, Das neue Preußische Strafverfahren mit einem Kommentar zur Verordnung vom 3. Januar 1849, Berlin 1849, Anm. zu § 6 VO (S. 66) sieht die StA auch als Partei an, anders später E. Löwe, Der Preußische Strafproceß, Breslau 1861, S. 104.

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wesentlicher Prozeßgrundsätze (Art. 107 Nr. 2), wie der unzulässigen Verteidigungsbeschränkung und der Verhandlung in Abwesenheit (Art. 108 Abs. 1 Nr. 5)292. Die Prinzipien des beiderseitigen Gehörs und der aus der ParteisteIlung des Angeklagten abgeleiteten Freiheit der Äußerung kehren in der Theorie wieder 293 • Die StPO von 1867 fügt für die Voruntersuchung die Pflicht hinzu, das Vorbringen des Angeschuldigten nicht nur zu hören, sondern auch zu berücksichtigen294 • In den Territorien Braunschweig, Lüneburg und Hannover ist das gemeine Recht noch lange wirksam geblieben. Nach dem Rechtszustand, wie ihn die Kriminalinstruktion von 1736 geschaffen hat, bestimmen sich die Gründe zur Einlegung der Nichtigkeitsbeschwerde in Strafsachen gemäß der Reichskammergerichtsordnung. Die an der Struktur des Inquisitionsprozesses festhalt ende Theorie rechnet dazu die Versagung des aus der Natur der Sache begründeten GehÖrs 295 • Noch der Hannoversche Regierungsentwurf von 1830 steht völlig im Bann überkommener Vor292 Text bei Liman S. 1 ff., Haeberlin S. 232 a ff. Das beiderseitige Gehör ist gesichert durch Art. 108 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes i. V. m. § 14 der VO. Einzelfälle der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung in den Entscheidungen des Obertribunals von 1854 und 1855 in GA Bd. 2 S. 674, Bd. 3 S. 117,249, 554, 679, weiter bei Liman (Anm. 1 zu Art. 29 [So 69]). Zur Bedeutung dieses Nichtigkeitsgrundes vgl. die Allgemeine Verfügung von 1855 (ebd. in Anm. 16 zu § 52 der VO [So 106]); die Generalklausel des Art. 107 sollte die Prozeßformen umfassender als die Einzelgründe des § 140 der VO schützen (vgl. den Kommissionsbericht der 2. Kammer bei G. L. Hartmann, Die Verordnung vom 3. Januar 1849 ... und das Gesetz vom 3. Mai 1852 ... , Berlin 1852, S. 117 f.). 293 Leue, Entwurf Art. 106, 112 Abs. 2, 123 S. 1, 139 S. 1 und Motive, Anm. 1 zu Art. 18, Anm. 1 zu Art. 29 u. zu Art. 106 (S. 107, 123, 251 f.); zum Recht auf Äußerung C. K. Leman, über Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Strafverfahrens in den Preussischen Gerichten, Berlin 1842, S. 72 und C. v. Stemann, Darstellung des Preussischen Strafverfahrens, Berlin 1858, S. 83 (zu ihm s. auch unten S. 81.). 294 StPO § 69 Abs. 2 S. 1 (Text in PrGS 1867 S. 76 ff.) gemäß § 76 Abs. 2 S. 1 des E 1865 (Entwurf einer Strafprozeß-Ordnung für den Preußischen Staat, Berlin 1865). Unter Einbeziehung des wichtigen E 1851 (Text in JMBI 1851 S. 85 ff., zur ausführlichen Regelung der Nichtigkeitsgründe vgl. § 446 Nr. 4 - 6) entsprechen sich StPO 1867 E 1865 E 1851 Ges. 1852 VO 1849

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151 152 238 S.2 255 390 Abs.1 Nr.3

162 163 249 S.2 401 Abs.1 Nr.3

324 Abs.1 191 197 305 306

14 28 107 Nr.2

295 Oesterley Tl. 3 §§ 9, 10, 88 (S. 13, 14, 251 unter 2), zum Inquisitionsprozeß § 72 (S. 207), für Braunschweig Georg Heinrich Oesterley, Grundriß des bürger-

lichen und peinlichen Processes für die Chur-Braunschweig-Lüneburgischen Lande, Göttingen 1800, § 178 (S. 552 f.) und Bülow § 219 (S.144).

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1 Die geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes

stellungen. Sie gipfeln in der Geheimhaltung des Untersuchungsplans, der Pflicht zur Angabe der Wahrheit und ihrer Sanktion durch Ungehorsamsstrafen296 . Der Entwurf übernimmt für die Nichtigkeitsgründe die Generalklausel der Verletzung wesentlicher Prozeßbestandteile (Art. 305 Nr. 4). Als Anwendungsfall der entsprechenden Bestimmung in dem Gesetz von 1840 ist in Rechtsprechung und Lehre die Verletzung des Gehörs anerkannt 2D7 . Die inquisitorische Tendenz herrscht auch hier, da das Gesetz den Anwendungsbereich der Ungehorsamsstrafen noch ausdehnt 2D8. Dagegen verwirklicht die braunschweigische StPO von 1849 die neuen Ideen im Sinne einer positiven Anerkennung des Gehörs am radikalsten von allen Ländern. Die konsequente Durchführung des vom englischen Recht übernommenen Parteiprozesses bedingt nicht nur das beiderseitige Gehör in der Hauptverhandlung, sondern auch die ausdrückliche Anerkennung des Rechts des Angeklagten zu schweigen. Ihm ist deshalb bereits in der Voruntersuchung zu eröffnen, "daß er zu keiner Antwort oder Erklärung auf die ihm vorzulegenden Fragen gehalten sei"29D. Die Hannoverschen Strafprozeßordnungen von 1850 und 1859 sprechen zwar ebenfalls von Parteien, beschränken sich aber wie die Gesetze der übrigen Länder darauf, einen Zwang zu Erklärungen zu verbieten und auf die Gelegenheit zur Rechtfertigung abzustellen30o • Als Nichtigkeitsgrund erscheint nicht die noch im braunschweigischen Gesetz beibehaltene 296 E Art. 109 S. 2, 119, 132 (Text bei Gans), die Befugnis zu eigenem Vorbringen (vgl. Art. 109 S. 1, 124 Abs. 3, 250) darf den Untersuchungszweck nicht gefährden (so deutlich Art. 127); die 1. Kommission war mit ihrer Forderung nach einem öffentlichen und mündlichen Verfahren nicht durchgedrungen (vgl. Gans Einl. S. 14). 297 Zum Gehör als wesentlichem Bestandteil im Sinne des § 40 Nr. 4 des Gesetzes von 1840 (Text bei Nieper S. 163 ff.) vgl. das Urteil des OAG Celle von 1847 (bei Bothmer Bd. 3 S. 240) und Bothmer ebd. Bd. 1 S. 61 f.; zur Nichtigkeitsbeschwerde in Strafsachen Ernst Spangenberg, Das Oberappellationsgericht in Celle für das Königreich Hannover, Celle 1833, S. 273. 29B Gesetz § 10 zu Kap. 7 § 15 der Kriminalinstruktion von 1736 (Text bei Nieper S. 1 ff.); ablehnend Meyer bei Bothmer Bd. 2 S. 86, 88. 298 StPO § 43 Abs. 1, zum öffentlich-mündlichen Hauptverfahren §§ 136 - 138 (Text bei Degener Bd. 1 S. 20 ff.), übernommen in die Rev. StPO von 1858 (Text in Gesetz- und Verordnungs-Sammlung für die Herzoglich Braunschweigischen Lande Jg. 45 [1858] S. 299 ff.), zum Parteiprozeß Degener Bd. 2 S. 42, 47 f., 56, zum englischen Recht Mittermaier, Gesetzgebung S. 462, Planck Vorrede S. 13. Die Verfügung von 1814 (§ 32 Abs. 2) hatte bereits die Spezialinquisition durch einen summarischen Vorhalt ersetzt (Text in VerordnungsSammlung Jg. 1 [1814] S. 98). 300 StPO 1850 §§ 85 Abs. 4, 185 Abs. 2 (übernommen aus dem Entwurf zur Straf-Prozeß-Ordnung für das Königreich Hannover, o. O. o. J. [um 1845]) = StPO 1859 (Text bei Sundelin S. 117 ff.) §§ 92 Abs. 4, 191 Abs. 2, zum Gehör weiter StPO 1850 §§ 137 Abs. 5, 7, 195 Abs. 3 = StPO 1859 §§ 144 Abs. 5, 7, 201 Abs. 3; von "Parteien" sprechen in der StPO 1850 die §§ 137 Abs. 3, 182 Abs. 1 = StPO 1859 §§ 144 Abs. 3, 188 Abs. 1.

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Generalklausel (§ 158 Abs. 2 Nr. 2), sondern spezifiziert die Beschränkung der Verteidigung 301 • Die Entwicklung in Bayern wird zunächst bestimmt durch Kleinschrods "Entwurf eines peinlichen Gesetzbuches für die kurpfalzbaierischen Staaten" von 1802. Ihm zufolge gehört die Verteidigung zu den notwendigen Bestandteilen jeden Verfahrens und ermöglicht die selbständige Stellung des Täters im Beweisverfahren; auf der anderen Seite bleiben das auch den Anklageprozeß charakterisierende Verhör und mit ihm Ungehorsamsstrafen beherrschend 302 . Das StGB von 1813 enthält als wesentliche Neuerung das von Feuerbach geforderte Schlußverfahren mit einem Verteidigungstermin (Tl. 2 Art. 141, 147 Abs. 1), jedoch nur als Ergänzung des bisher gewonnenen Ergebnisses, und erwähnt die Verletzung des Gehörs als selbständigen Nichtigkeitsgrund (Art. 480 Nr. 2)303. Die Theorie bereitet die überwindung des Inquisitionsprozesses vor, wenn sie das Verhör in der Spezialuntersuchung als Mittel zur Verwirklichung der materiellen Verteidigung: des rechtlichen Gehörs, deutet304 . Das Gesetz von 1848 305 bringt dann den Durchbruch zum Anklageprozeß. Für die Hauptverhandlung führt das zu dem Grundsatz, beide Seiten zu hören (Art. 170, 199) und zu Äußerungs- (Art. 159 Abs. 2, 170 Abs. 4, 199 Abs. 2) und Informationsrechten des Angeklagten (Art. 162 Abs. 3, 184 Abs. 2). Auch die Voruntersuchung dient der Verteidigung (Art. 37, 38 Abs. 1 u. 3). Der Vedächtige kann daher verlangen, vernommen zu werden (Art. 34), - ein für den Inquisitionsprozeß undenkbares Recht. Die Verletzung wesentlicher Förmlichkeiten, insbesondere die Verkürzung der Verteidigung (Art. 231 Nr. 8) durch Zwischenentscheidungen306, berechtigt zur Nichtigkeitsbeschwerde (Art. 230 Abs. 1 Nr. 1). Die Literatur leitet aus der Anerkennung des Angeklagten als Subjekt seine ParteisteIlung im Verfahren ab, ferner das Verbot von Zwang und Ungehorsamsstrafen und die Pflicht des Gerichts zur Verwirklichung der Verteidigung und des GehÖrs 307 • Stpo 1850 § 215 Abs. 1 Nr. 4 = StPO 1859 § 221 Abs. 1 Nr. 4. E §§ 2609, 2640, 2912, 2536, 2552; die Einteilung der Nichtigkeitsgründe (§ 2747) folgt dem JRA (s. oben S. 36 N. 105). 303 Zum Einfluß Feuerbachs vgl. Josef Cornelissen, Tätigkeit und Theorien Feuerbachs im Strafprozeßrecht, Diss. Bonn 1963, S. 33 m. N. 1, zur Funktion der Öffentlichkeit ebd. S. 34 und oben S. 68); das Gesetz schließt einen Erklärungszwang aus (Art. 156 S. 2, 186 Abs. 1), hält aber am inquisitorischen Verhör (Art. 175 Abs. 1) und an Ungehorsams strafen (Art. 188 Abs. 1) fest. 304 Wendt §§ 58, 62 (S. 94 f., 102 f.), für Ungehorsams strafen dagegen noch § 67 (S. 113). 305 Text bei Haeberlin S. 235 ff. 308 Zu dieser Auslegung der Bestimmung durch das OAG vgl. Carl Friedrich von Dollmann, Die Gesetzgebung des Königreichs Bayern seit Maximilian I1., Tl. 3 Beilagenheft 1 Erlangen 1862, S. 179. 307 Scheurl S. 34, 39 f., Walther §§ 2, 61 f. (S. 8, 235 ff., 241), zur Beschränkung der Verteidigung als Nichtigkeitsgrund § 114 (S. 424, 427; s. weiter oben 301

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An Hand der österreichischen Gesetze von 1788, 1803, 1850, 1853 und 1873 läßt sich noch einmal die allmähliche Umbildung des gemeinen Prozesses zum reformierten aufzeigen. Das reiche Quellenmaterial legt eine Darstellung der parallelen Entwicklung nahe, obwohl es sich nicht um eigentliche Vorarbeiten zur deutschen RStPO handelt. Die Josephina von 1788 und das Gesetzbuch von 1803 kennen zwar ein Recht des Beschuldigten, während des ganzen Verfahrens das zur Verteidigung Dienende anzubringen308 , wollen ihn aber für nicht wahrheitsgemäße Angaben bestrafen und versagen ihm, in konsequenter Durchführung des Inquisitionsprinzips, sogar einen Verteidiger, da die Defensi on bereits vom Inquirenten wahrgenommen wird 309 • Neues Vorbringen nach dem Verhör soll dem Gesetzbuch von 1803 zufolge nur eine vollständige Würdigung des Entlastenden gewährleisten; dagegen bildet die öffentlich-mündliche Hauptverhandlung nach dem Gesetz von 1850 die wesentliche Urteilsgrundlage 310 • Das hier verwirklichte beiderseitige Gehör ist auch als Prinzip in der Rechtsprechung anerkannt 311 • Die Voruntersuchung schließt dagegen das Streben nach einem Geständnis noch nicht aus. Sie soll dem Angeschuldigten, ohne ihn Erklärungsdruck auszusetzen, Gelegenheit zur Rechtfertigung geben, aber dadurch das Bemühen um ein Geständnis nicht verzögern; sie verbietet dieses Ziel also nicht 312 • In der StPO von 1853 verschiebt sich das Schwergewicht weiter zu der Schlußverhandlung als Grundlage, während das Vorverfahren ein Geständnis zumindest als willkommenes Ergebnis erscheinen läßt S. 68 N. 271). Gegen die Betrachtung der StA als Partei im Sinne einseitiger Parteilichkeit Dollmann, Gesetzgebung (s. vorige Note) Tl. 3 o. O. o. J. [Erlangen um 1850] S. 109. 308 Josephina §§ 150 f., in § 243 S. 1 wird die Vernehmung als Essentiale jedes Prozesses auch im standrechtlichen Verfahren gefordert, zur naturrechtlichen Grundlage Joseph Leonhard von Banniza, Gründliche Anleitung zu der allgemeinen Kriminalgerichtsordnung, Innsbruck 1790, § 150 (S. 188), ebenso zu § 13 der Instruktion von 1787 über das Verfahren bei politischen Verbrechen (S. 368); Gesetzbuch § 337 S. 2 (Text bei Egger). 309 Josephina §§ 39 S. 1, 83 S. 1, Gesetzbuch §§ 337 S. 1, 363 ff. 310 Gesetzbuch § 372, zur Unverzichtbarkeit der Bedenkzeit für neues Vorbringen Hofdekrete von 1816 und 1831 (bei J. K. J. Maucher, Sistematisches Handbuch des österreichischen Strafgesetzes über Verbrechen, Tl. 2 Wien 1844, Nr. 1218 u. 1219 [So 640]), Stpo 1850 (Text bei Würth) §§ 272, 285, 321, 341, zum Nichtigkeitsgrund der Verteidigungsbeschränkung durch Zwischenentscheidungen § 352 Buchst. d. Schnabel in Magazin für Rechts- und Staatswissenschaft, hrsg. v. Haimerl, Bd. 4 (1851) S. 169 sieht das Verfahren als Parteiprozeß an, zum Gehör der StA als Partei vgl. Würth Vorbem. 3 vor §§ 51 ff. (S. 142). Zum Kontumazialverfahren Friedrich Hart!, Das Wiener Kriminalgericht, Wien/Köln/Graz 1973, S. 195. 311 Entscheidung des Kassationshofes von 1852 (nach Mayer, Handbuch Bd. 2 Lfrg. 1 Anm. 15 zu § 1 der StPO von 1873). 312 Stpo §§ 212, 215, Rulf, Beiträge S. 310, 319 ff. Würths positive Würdigung des Gesetzes (Einl. S. 15, Anm. zu § 87 [So 193], Vorbem. vor §§ 210 ff. [So 308]) ist wegen der inquisitorischen Reste nicht überzeugend.

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und damit stärker inquisitorische Züge trägt313 • Die Theorie fordert weitergehend eine Schlußverhandlung, die den Schwerpunkt des ganzen Verfahrens bildet, und die Wandlung des Verhörs in der Voruntersuchung zum Gehör für den Angeschuldigten, das im Schlußverfahren bereits durch die Unmittelbarkeit der Verhandlung gewährleistet ist 314• Diesen Vorstellungen entspricht erst die StPO von 1873. Sie betrachtet Staatsanwalt und Angeklagten als Prozeßparteien315 , verbietet jede Art von Erklärungszwang, anerkennt das Recht zu schweigen und schließt eine Rechtspfticht zur Angabe der Wahrheit aus, weshalb auch die Voruntersuchung nur Gelegenheit zur Verteidigung zu gewähren hat 316 • Die mündliche Verhandlung trägt die eigentliche Urteilsfindung. In ihr darf der Angeklagte nicht mehr zur Beantwortung von Fragen angehalten werden, sondern muß sich selbständig äußern können 317 • Nichtigkeitsbeschwerde kann eingelegt werden, wenn das grundlegende Prinzip des rechtlichen Gehörs durch Zwischenentscheidungen verletzt ist318• 1542 Die Sicherung des Gehörs über die Nichtigkeitsbeschwerde Neben ausdrücklichen Regelungen des Gehörs stehen Bestimmungen, die seine Verletzung als Nichtigkeitsgrund erfassen. Sie haben, abge313 Stpo § 172 S. 4, zustimmend W. Th. Frühwald, Handbuch des österreichischen allgemeinen Strafprozeßes, 2. Auf!. Wien 1856, Vorbem. vor § 148 (S. 210), zur Schluß verhandlung StPO §§ 233 Abs. 1, 237 Abs. 2, 238 S. 2, 253 (Text bei Rulf). 314 Rulf, Kommentar zur StPO 1853, Ein!. § 6, Vorbem. 1 vor §§ 172 ff. (Bd. 1 S. 12, 282), Vorbem. 1 vor §§ 213 ff. (Bd. 2 S. 1), Hye-Glunek S. 26 Note, abweichend dagegen S. 259 unter a in der Würdigung der Schluß verhandlung als Schwerpunkt des Verfahrens. 315 Vg!. die Formulierungen in den §§ 238 Abs. 1, 255 Abs. 3 S. 1, 324 S. 1 der StPO (Text bei Rulf), aus der Entstehungsgeschichte Bericht der Kommission des Abgeordnetenhauses von 1869 (bei Rulf, Kommentar zur StPO Vorbem. 1 vor §§ 29 ff. [So 50 m. N. **]), für eine formelle Parteistellung der StA Rulf ebd. Vorbem. 3 vor §§ 29 ff. (S. 55), Mayer, Handbuch Bd. 2 Lfrg. 1 Anm. 24 zu § 29, Anm. 5 zu § 30. 316 stpo § 199, dazu Motive zum E 1872 (bei Rulf, Kommentar zur StPO S. 202 unter b) und Rulf ebd. Vorbem. vor §§ 198 ff. (S. 201), Mayer, Handbuch Bd. 3 Anm. 32 zu § 245. 317 StPO § 245 Abs. 1 S. 5, dazu Bericht der Kommission des Abgeordnetenhauses von 1873, die auch die - vom Herrenhaus abgelehnte - Eröffnung gefordert hatte, der Angeklagte sei zur Angabe der Wahrheit nicht verpflichtet (beide Stellungnahmen bei Rulf, Kommentar zur StPO Anm. zu § 245); zum Wesen der mündlichen Verhandlung Motive (ebd. Vorbem. vor §§ 84 ff. [So 107]), zum beiderseitigen Gehör im einzelnen StPO §§ 255 Abs. 3, 324 S. 1, 335 S. 2. 318 Stpo §§ 281 Abs. 1 Nr. 4, 344 Abs. 1 Nr. 5, zum Gehör Mayer Handbuch Bd. 3 Anm. 143 zu § 281, Handbuch Bd. 2 Lfrg. 2 Anm. 2 u. 6 zu § 198; § 298 der Stpo von 1853 (dazu Rulf, Kommentar zur StPO 1853 Anm. [Bd. 2 S. 162]) sah allgemein die Berufung bei Verletzung wesentlicher Förmlichkeiten vor.

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1 Die geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes

sehen von der badischen Gesetzgebung, vor allem in Gesetzen Sachsens, Oldenburgs und Hessens ihren Niederschlag gefunden. In Sachsen sieht die am Inquisitionsprozeß festhaltende Theorie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Ladung ein Mittel, den Angeschuldigten als Erkenntnisquelle benutzen zu können; nur in dieser instrumentalen Funktion kann sich die Defension entfalten, nicht als selbständige Befugnis zu eigenem Vorbringen 319 • Noch die StPO für SachsenWeimar von 1850 kennt eine Ermahnung zur wahrheitsgemäßen Aussage320 und die königlich-sächsische StPO von 1855 Untersuchungshaft bei Verweigerung der Antwort 321 • Beide Gesetze entsprechen im übrigen ebenso wie die Sachsen-Altenburgische StPO von 1854 mit den Bestimmungen über die Gelegenheit zur Rechtfertigung in der Voruntersuchung, das beiderseitige Gehör in der Hauptverhandlung und die Nichtigkeit bei unzulässiger Beschränkung der Verteidigung dem allgemeinen Stand der Gesetzgebung 322 • Wenn Schwarze - nach dem Beispiel Haagers für das badische Recht - eine besondere Kategorie von Grundbedingungen eines jeden gesetzlichen Verfahrens aufstellt, die - wie das beiderseitige Gehör - im Falle ihrer Verletzung immer zur Nichtigkeit des Urteils führen sollen323 , bleibt das ohne Einfluß auf die Praxis. Sie sieht in herkömmlicher Weise in der Verletzung des Gehörs einen Verstoß gegen wesentliche Vorschriften des Verfahrens 324 • 319 Volkmann (1832) § 275 (S. 54, 55 m. N. e) gegen Stübel § 1511 (Bd. 3 S. 219 f.; s. oben S. 63), der die Ladung noch in den Dienst des - allerdings unverzichtbaren - Verteidigungsrechts gestellt hatte; zur Nichtigkeit Volkmann § 391 (S. 179 unter 4). Rechtsquellen sind das Generale von 1770 und von 1783 (ebd. § 237 [So 5]). 320 Art. 121 S. 1 der StPO für Sachsen-Weimar, Sachsen-Meiningen, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Anhalt-Dessau und AnhaltKöthen (Text bei Haeberlin S. 753 ff.). 321 StPO Art. 171 Abs. 3, obwohl nach Abs. 1 Zwang zur Erlangung eines Geständnisses ausgeschlossen sein soll (Text bei Schwarze, Kommentar Bd. 1 S.253). 322 StPO für Sachsen-Weimar (1850) Art. 123, 248 Abs. 1, 284 Abs. 1,298 Abs. 1, 306 Nr. 4; StPO für Sachsen-Altenburg (1854) (Text bei Sundelin S. 389 ff.) Art. 103, 234, 260 Nr. 4, zur Zulässigkeit von Ungehorsamsstrafen vgl. das Grundgesetz für das Herzogtum Sachsen-Altenburg (1831) § 52 S. 2 (Text bei Felix Stoerk, Handbuch der Deutschen Verfassungen, 2. Auf!. 1913, S. 358); königl.-sächs. StPO (1855) Art. 168 Abs. 2, 296, Art. 243 Abs. 3 als Spezifizierung der in Art. 349 Abs. 1 Nr. I 1 wiederkehrenden Generalklausel des Art. 242 Nr. I 1. 323 Schwarze, Exkurs vor Art. 85 ff. (Bd. 1 S. 164) u. Anm. zu Art. 349 (Bd. 2 S. 167) zu Haager s. oben S. 70. In Schwarzes später erschienenen Grundsätzen des Kön. Sächs. Strafproceßrechts, Leipzig 1856, § 31 (S. 28) erscheint das rechtliche Gehör dagegen nur allgemein als Prozeßessentiale, ohne direkten Bezug zu den in § 33 (S. 30) erwähnten unheilbaren Nichtigkeiten. 324 Vgl. die zu Art. 349 der kön. sächs. stPO von 1855 ergangenen Entscheidungen des OAG Dresden von 1859 und 1860 in den Annalen des Königl. Sächs. OAG Bd. 1 (1860) Nr. 23 S. 282 und in der Allgemeinen Gerichtszeitung für das Königreich Sachsen Jg. 4 (1860) Nr. 36 S. 115 u. Nr. 92 S. 297 f.

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In Oldenburg, das 1814 das bayerische StGB von 1813 mit den im 2. Teil enthaltenen prozessualen Bestimmungen übernommen hatte325, zeichnet sich das Gesetz von 1857 durch eine umfassende Regelung der Nichtigkeitsbeschwerde aus. Gehörverletzungen sind unter mehrere Nichtigkeitsgründe zu fassen. So kann mit der Nichtigkeitsbeschwerde gerügt werden, daß die Verteidigung unzulässig beschränkt wurde, daß bei der Entscheidung über Zwischenanträge prozessuale Befugnisse verletzt oder daß Verfahrensgrundsätze, "deren Beobachtung durch das Wesen eines die Verfolgung und die Vertheidigung sichernden Verfahrens geboten ist", beeinträchtigt wurden (Art. 416 § 1 Nr. 4, 6, 8)326. Die Bestimmungen, die Voruntersuchung solle vollständige Gelegenheit zur Rechtfertigung geben (Art. 166 § 2) und beide Seiten seien vor der Urteils fällung zu hören (Art. 283 Abs. 1, 266 S. 5, 319 S. 1), entsprechen im übrigen dem allgemeinen Stand der Gesetzgebung, wie ihn etwa auch das Frankfurter Gesetz von 1856327 , das Lübecker von 1862 328, das Bremer von 1863 328a, das Hamburger von 1869 329 und als Beispiel aus dem Schweizer Recht das Zürich er von 18513 30 repräsentieren. 325 StGB Art. 625, 630 (Schlußverfahren), 960 Nr. 2 (Nichtigkeit), 640 S. 2, 669 Abs. 1 (gegen Erklärungszwang), 658 Abs. 1 (geheimer Untersuchungsplan) und 671 Abs. 1 (Ungehorsamsstrafen), überblick über den Strafprozeß bei Peter Heidenreich, Oldenburgische Kriminalpolitik im 19. Jh., Diss. Marburg 1967, S. 48 ff.; zum bayerischen StGB s. oben S. 75. 326 Text bei Sundelin S. 494 ff. VgI. bereits Art. 421 des Entwurfs (Commis-

sions-Entwurf der Straf-Proceß-Ordnung für das Herzogthum Oldenburg, Oldenburg 1856). 327 Gesetz Art. 228 S. 1, 258 Abs. 1, zur Generalklausel bei der Nichtigkeitsbeschwerde Art. 327 Nr. 3 (Text bei Sundelin S. 584 ff.). 328 stpo §§ 109 Abs. 2, 162 Abs. 2 S. 1, 188 Abs. 3 S. 1, 195, 208 Abs. 1, zur Nichtigkeitsbeschwerde § 251 Nr. 3 (Text in Sammlung der Lübeckischen Verordnungen Bd. 29 S. 253 ff.). Dazu Gerhard Hohnsbein, Das Strafverfahren Lübecks im 19. Jh., Diss. Kiel 1971, S. 355 ff., zur Verbindung des Gehörs mit der Öffentlichkeit vgI. die Stellungnahme in den Lübeckischen Blättern von 1859 (ebd. S. 356) und zur Verwirklichung des Gehörs bereits das Dekret des Rats von 1822 unter 3 a u. b (S. 129). 328a Provis. Stpo §§ 256, 257, 265, 405, 474 S. 1, 424, zu den Nichtigkeitsgründen s. auch oben S. 38 N. 110. Dagegen erfaßt das Provis. Gesetz über Geschwornengerichte § 161 Nr. 2 die Gehörverweigerung als selbständigen Nichtigkeitsgrund (Text in Gesetzblatt der freien Hansestadt Bremen 1851 S. 47). 329 Zum beiderseitigen Gehör §§ 178 Abs. 3, 225 Abs. 1 der StPO, zur Nichtigkeitsbeschwerde § 254 Abs. 1 Nr. 3 (Text in Gesetzsammlung 1869 S. 101, 113, 119); s. auch oben S. 38 N. 110. 330 Strafverfahrensgesetz §§ 128 Abs. 1 S. 2, 190 Abs. 2 S. 2, 243 Abs. 1 S. 2, zur Nichtigkeitsbeschwerde § 164 Abs. 1 Buchst. a u. b (Text bei Rüttimann S. 54 ff.), zum Einfluß des englischen Rechts Herrmann S. 51; ebenso das Gesetz betreffend die zürcherische Rechtspflege (1874) §§ 882 Abs. 1 S. 2, 1091 Nr. 4. Dieselbe Anlage zeigt z. B. die Solothurner StPO von 1885 i. d. F. v. 1926 (vgI. §§ 163, 286, 365 Abs. 1 S. 1; 330 Abs. 1 Nr. 3 u. 4, 421 Nr. 3 u. 4); das Berner Gesetz von 1928 kennt dagegen interessanterweise noch die fehlende Vorladung als Nichtigkeitsgrund (Gesetz über das Strafverfahren des Kantons Bern, Bern 1928, Art. 327 Nr. 3).

80

1 Die geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes

In Hessen gelten für die Nichtigkeitsgründe durch Gerichtsgebrauch zunächst die den Zivilprozeß betreffenden Verordnungen von 1797 und 1815 331 • Das als erstes nach der Paulskirche erlassene Territorialgesetz für die Provinzen Starkenburg und Oberhessen von 1848 und die StPO für Hessen-Nassau von 1849 erwähnen als Nichtigkeitsgrund ausdrücklich den Fall, daß dem Angeklagten im Verfahren über die Verweisung der Sache an das Strafgericht das rechtliche Gehör versagt wurde332 • Da in diesem nur dem Namen nach vorbereitenden Verfahren die entscheidenden Feststellungen getroffen werden, ist das rechtliche Gehör als Prinzip des Strafprozesses anerkannt. Erst nach den einführenden Bestimmungen des Gesetzes von 1852 soll in Strafsachen eine eigentliche Hauptverhandlung vor dem erkennenden Gericht stattfinden, in der Staatsanwalt und Angeklagter zu hören sind; für die Nichtigkeitsbeschwerde wird nur der Grund des Gesetzes von 1848 übernommen, daß einer Seite Mittel zur Ausübung ihrer gesetzlichen Befugnisse abgeschnitten wurden 333 • Der StPO-Entwurf von 1860 basiert auf den Gesetzen von 1848 und 1852 334 , während die kurhessischen Gesetze von 1848, 1851 und 1863 bei der Nichtigkeitsbeschwerde mit der Generalklausel der Verletzung wesentlicher Vorschriften arbeiten335 • 1543 Der Beitrag der Theorie in weiteren Ländern Damit ist die Vorarbeit, die die Länder für die Reichsgesetzgebung geleistet haben, im wesentlichen skizziert. Am Schluß soll auf Territorien eingegangen werden, in denen die neuen Ideen ebenfalls ihren Niederschlag gefunden haben, jedoch nicht in der Gesetzgebung verwirklicht wurden. Sundheim § 22 S. 37 N. e), zum Zivilprozeß s. oben S. 43. Gesetz (1848) Art. 261 Abs. 2 Nr. 7, zum fehlenden Gehör für die StA Nr. 8 (Text bei Haeberlin S. 639 H.), Nr. 7 übernommen aus Art. 58 Abs. 2 Nr. 6 des Entwurfs (Text bei Ludwig Lippert, Theoretisch-praktische Anweisung zur Einführung und Anwendung des öffentlichen und mündlichen Strafverfahrens in Deutschland, Mainz 1848, S. 122), StPO Hessen-Nassau § 249 Nr. 7 (nach Mittermaier, Nichtigkeiten S. 307). 333 Gesetz Art. 36 (Text bei Sundelin S. 196 ff.) unter Bezug auf Art. 270 Buchst. A, 2 des Gesetzes von 1848, zum beiderseitigen Gehör Art. 162 Abs. 1, 193 S. 1; zur Hauptverhandlung Art. 4 des EinfG zum Gesetz von 1852 (bei Hugo Blass, Die Entwicklung des Strafverfahrens in Hessen-Darmstadt im 19. Jh. (Strafrechtliche Abhandlungen H. 337), Breslau-Neukirch 1934, S. 171 f.). 334 E Art. 296 Abs. 2, 315, 376 Abs. 1 S. 2, 439, zur Voruntersuchung Art. 188, die Ungehorsamsstrafe findet sich noch in Art. 195 Abs. 2 (Text bei Sundelin S. 204 ff.). 335 Strafverfahrensgesetz 1848 Art. 356 (Text bei Haeberlin S. 462 ff.), Provisorisches Gesetz 1851 Art. 48 Nr. 1 (Text bei Haeberlin S. 511 ff.), Strafverfahrensgesetz 1863 §§ 180 Abs. 3, 195 Abs. 1 (Text in Sammlung von Gesetzen Bd. 16 [1863] S. 124 ff.). Die VO von 1821 hatte dagegen die Vernehmung ausdrücklich zu den wesentlichen Rechtsnormen gerechnet (nach Karl Philipp Theodor Schwenken [Autorschaft nach Holzmann/Bohatta Bd. 7 Nr. 8394], Die Rechtsmittel in Strafsachen ... , Hanau 1834, S. 113 f. Note). 331

SS2

15 Das Gehör im Strafprozeß bis zur RStPO

81

Die Entwicklung in Schleswig-Holstein stützt sich bis zur Einführung des preußischen Gesetzes von 1867 336 vor allem auf Vorarbeiten zur Gesetzgebung. Der 1808 von Eggers publizierte Entwurf unterscheidet ein dominierendes Vorverfahren und ein angehängtes Schlußverfahren. Das Vorverfahren ist rein inquisitorisch: der Richter kann Zwangsmittel zur Erlangung eines Geständnisses anwenden und ist zudem immer durch die Vermutung gedeckt, daß er seine Grenzen nicht überschritten hat; das Schlußverfahren, welches bei Grund zu weiterem peinlichen Verfahren stattfindet, stellt dagegen eine zweiseitige Verhandlung wie im bürgerlichrechtlichen Prozeß dar 337 • Erst der StPO-Entwurf von 1849 verwirklicht den Anklageprozeß in einem öffentlich-mündlichen Verfahren, wobei die Vorarbeiten den Feuerbachschen Gedanken aufgreifen, das Recht des Angeklagten auf unmittelbares Gehör sei ebenso unbestreitbar wie sein Recht auf Gehör allgemein 338 . v. Stemann sieht in § 49 des Entwurfs, wonach der Angeklagte ein Recht hat, verhört zu werden, die Abkehr vom Inquisitionsprozeß und führt die Gedanken des Gesetzes in seinem Entwurf aus dem Jahre 1866 fort 339 , einem durchgebildeten Partei prozeß340. Die Entwicklung in Mecklenburg geht wie im Zivil- so auch im Strafprozeß eigene Wege. Allein in dem Entwurf der provisorischen Volksvertretung von 1848 sind die neuen Ideen lebendig und in der Forderung nach einem öffentlich-mündlichen Verfahren mit bei Folge der Nichtigkeit zu gewährendem beiderseitigem Gehör sowie in der Absage an jeden Erklärungszwang und Ungehorsamsstrafen voll verwirklicht341 . Die revolutionären Bestrebungen konnten sich jedoch nicht durchsetzen. 336

S. oben s. 73.

E §§ 1290, 1958, 1961, 2020, Erläuterungen Ziff. LU (S. 36). ns E § 62, im einzelnen ist das Gehör verwirklicht in den §§ 101, 150, 151, 173 Abs. 1, gegen Erklärungszwang § 6; zur Unmittelbarkeit und zum Gehör vgl. den Bericht der für die Vorberatung des E über das Kriminalverfahren gewählten außerordentlichen Deputation der 2. Kammer von 1842 (bei Schirach S.31). 339 Bemerkungen, zu § 49 E 1849 (S. 12 f.); E 1866 (Autorschaft nach Carstens in der Allgemeinen Deutschen Biographie Bd. 36 S. 41) §§ 129, 197 S. 2, 208, 236 S. 1, 261 Abs. 2, zur Gehörverletzung als Nichtigkeitsgrund § 316 Abs. 1 Nr. 5 u. 6, zum Parteicharakter Grundzüge der Strafproceßordnung S. 99 - 101, 104, § 203 S. 2 verlangt interessanterweise wie Art. 28 des preußischen Gesetzes von 1852 (s. oben S. 72) bei zeitweiliger Abwesenheit die Wiederholung des Verhandelten; zum Recht auf Äußerung in Stemanns Darstellung des preußischen Strafverfahrensrechts s. oben S. 73 N. 293. 340 Die Analogie zum Zivilprozeß beherrscht auch die Darstellung Samson von Himmelstierns für Livland (1824): er sieht das Gehör im Untersuchungsprozeß durch die an Stelle der Ladung tretende Vernehmung verwirklicht (Institutionen Tl. 2 §§ 1532 -1534, 1784 [So 196 f., 282]). 341 E (Text bei Boehlau Anh. Ir S. 270 ff.) §§ 16 Abs. 1, 57 Abs. 1, 75, 111 Abs. 2 S. 1, 112, 124 Abs. 2, wobei die Verletzung der §§ 16 Abs. 1, 75, 111 und 112 gemäß § 141 i. V. m. § 140 Nr. 1 zur Nichtigkeit führt; Zwang und Ungehorsamsstrafen sind durch § 21 ausgeschlossen. 337

6 Rüping

82

1 Die geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes

1849 wird der gemeinrechtliche Inquisitionsprozeß mit seiner Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage als geltendes Recht angesehen342 • Die Theorie zählt das Gehör, unter Verweis auf die Reichskammergerichtsordnung von 1555, traditionell zu den Prozeßessentialien343 ; in der Gesetzgebung sichert die Gerichtsordnung für das Kriminalkollegium zu Bützow (1817) dem Inquisiten ausdrücklich volles GehÖr 344• Die 1856 bei diesem Gericht eingeführte Schlußverhandlung bedeutet ebenfalls im gemeinrechtlichen Sinne nur eine Reproduktion des bisherigen Ergebnisses, da die vorliegenden Akten die Grundlage für das Urteil bleiben und das Gericht nicht zu weiterer Aufklärung und Erörterung verpflichtet ist 345• Noch die Verordnung von 1865 über die Nichtigkeiten in Strafsachen ist mit ihrer an den Jüngsten Reichsabschied erinnernden Einteilung der Nullitätsgründe ein reines Produkt des gemeinen Rechts 346 • 155 Das Gehör in der RStPO

Wegen der weitgehenden Verwirklichung des rechtlichen Gehörs in der Gesetzgebung der Länder hat die Maxime auch in den Vorarbeiten zur RStPO eine entscheidende Rolle gespielt. Der 1. Entwurf von 1873 sieht eine Hauptneuerung gegenüber den bestehenden Gesetzen darin, daß ein Kontumazialverfahren in Strafsachen grundsätzlich ausgeschlossen ist (§ 185 Abs. 1) und daß die Fiktion eines Verzichts auf das Gehör nur bei geringfügigen Straffällen eingreifen kann (§ 187 Abs. 1). Das Gehör gilt als unerläßlich für die Ermittlung der materiellen Wahrheit. Deshalb darf auch ein Abwesender, der überhaupt keine Möglichkeit hatte zu erscheinen, nicht verurteilt werden (§ 223 Abs. 1)347. In dieser Form ist das rechtliche Gehör positiv anerkannt. Darüber hinaus ist es in Einzelregelungen faßbar. So soll die Voruntersuchung Gelegenheit zur Rechtfertigung geben (§ 119 Abs. 1), womit gleichzeitig die weitergehende Auffassung des Braunschweigischen Gesetzes 348 abgelehnt ist. In der Hauptverhandlung besteht beiderseitiges Gehör (§§ 197, 208), auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes muß hingewiesen werden (§ 215 Abs. 1), und beim Strafbefehl (§ 337 Abs. 1) soll die EinspruchsmögPohle (1849) § 94 (S. 147). Pohle §§ 51, 169 (S. 69 unter 3, 264 unter C 1 m. N. 26), zur RKGO 1555 s. oben S. 52 f.; weiter Fr. L. Fr. Richter, Handbuch § 101 (S. 67). 344 Tl. 2 Art. 2 § 45 S. 1 (Text bei Raabe Folge 2 Bd. 2 Nr. 1765 S. 488 f.). 345 VO §§ 19, 31 Abs. 1 (Text bei Raabe Folge 2 Bd. 6 Nr. 5098 S. 91 ff.), Boehlau § 49 (S. 238 m. N. 916 u. 917), zur Regierungsvorlage von 1853 ebd. § 4 (S. 32 f.). 346 VO § 1 (nach Boehlau § 34 [So 198]); zum JRA s. oben S. 36 N. 105. 347 Motive S. 9 unter XII und zu §§ 185 - 191 (S. 160 - 164; dort auch zur Entfernung nach der Aussage [§ 186]) sowie zu §§ 223 - 225 (S. 200 f.); zum Stand der Gesetzgebung der Länder Einl. S. 1 - 4. Den angeführten Bestimmungen entsprechen im E 2 von 1873 die §§ 190 Abs. 1, 192 Abs. 1, 229 Abs. 1. 348 s. oben S. 74. 342

343

'1

Entw.

Entw.

Entw.

Entw.

RStPO

Zürich

Sachsen-Weimar - Altenburg Kngr. Sachsen Schl.-Holst. Entw. Württemberg

Oldenburg Preußen

LÜbeck Mecklenburg österreich

Hessen

Frankfurt Hamburg Hannover

Baden Bayern Braunschweig Bremen

1864 1848 1849 1851 1863 1856 1869 1850 1859 1848 1860 1862 1848 1850 1853 1873 1857 1846 1849 1851 1852 1865 1867 1850 1854 1855 1849 1843 1849 1868 1851

Voruntersuchung

197 128

123 103 168

191

136

197

162 151 123 103 168

212 175 199 166

188

257

256

188 109 36 212 175 199

38

188 37

I

123 103

212 175 199 222

38

I weise

136 a

199

106 171 6 141

163 152

172 18 18 197

194 115 21 215 177

265 137 80 85 92

6

190

I

28

261

161

66

ErVerGele- hebung Nlchanlas- genheit der kein tigkeit sung zur vorge- Erklä- wenn zur Recht- schla- rungsStA Äuße- ferti- genen zwang nicht rung gung Begehört

-

I

I

28

261

161

Angeschuldigter nicht gehört

I wenn

Itigkei Nlcht

328

62

6

283 15 14 324

315 208 16

I

258

190

249 238 248 234 296 101 276

324

34 359

258

235 296 101

249 238

315 208 75 253 255 283

178 137 144

116

244 170

I

I

258

173 255 125 305 243

239 234

121 385

237

138 146 523 228 178 137 144 193 376 195 112

zenden

Fragepflicht

Nichtigkeitsbeschwerde

I

247

115 299

240

306

238 250 262

297

166 136 143

162

441

108

I

I

441 164

446 108

416

141

215 221

I

193

306 260 243

281 416

352

254 215 221 270 439

231

242 181 404

107 401 390

416

251 140

612 327 254

373 I 230 158

I

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Hauptverhandlung

Das Gehör in der Gesetzgebung des reformierten Strafprozesses

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