Der gefährdete Zeuge im Strafverfahren [1 ed.] 9783428489244, 9783428089246

Immer häufiger werden Zeugen von Straftaten bedroht und unter Druck gesetzt. Ihren berechtigten Sorgen begegnet die Geri

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Der gefährdete Zeuge im Strafverfahren [1 ed.]
 9783428489244, 9783428089246

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 102

Der gefährdete Zeuge im Strafverfahren Von Klaus Zacharias

Duncker & Humblot · Berlin

KLAUS ZACHARIAS

Der gefährdete Zeuge im Strafverfahren

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. onL Professor der Rechte an der Universität Hamburg

und Dr. Friedrich-Christian Schroeder onL Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 102

Der gefährdete Zeuge im Strafverfahren Von

Klaus Zacharias

Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Dr. h. c. Harro Otto, Bayreuth

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zacharias, Klaus: Der gefährdete Zeuge im Strafverfahren / vorgelegt von Klaus Zacharias. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Strafrechtliche Abhandlungen ; N.F., Bd. 102) Zugl.: Bayreuth, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-08924-3 brosch.

Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-08924-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist i m Sommersemester 1996 an der Universität Bayreuth zur Promotion zugelassen worden. A n dieser Stelle möchte ich mich bei Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Harro Otto für die Betreuung der Arbeit sowie die lehrreiche und nette Zeit an seinem Lehrstuhl bedanken. Mein Dank gilt weiterhin Herrn Professor Dr. Otfried Ranft für die Erstellung des Zweitgutachtens. Klaus Zacharias

Inhaltsübersicht Einleitung

29

1. Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

30

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

30

2. Abschnitt: Das Phänomen der Zeugengefahrdung

87

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

103

1. Abschnitt: Eingriflscharakter der Zeugengefahrdung

103

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

111

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

157

1. Abschnitt: Polizeiliche Zeugenschutzprogramme

157

2. Abschnitt: Stellungnahme

178

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

195

1. Abschnitt: Schutz des Zeugen im Ermittlungsverfahren

195

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen im Hauptverfahren

217

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

284

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

324

Ergebnis der Untersuchung

374

Literaturverzeichnis

382

Sachwortverzeichnis

406

Inhaltsverzeichnis Einleitung

29

l.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

30

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis 1. Kapitel: Der Zeuge im Strafprozeß

A Der Begriff des Zeugen I. Strafprozessualer Zeugenbegriff. 1. Zeugenbegriff und Verfahrensrolle 2. Willensakt als konstituierendes Element Π. Konsequenzen 1. Zeugenbegriff des § 200 Abs. 1 S. 4 StPO 2. Zeugenbegriff des § 171 b GVG 3. Zeugenbegriff des § 58 Abs. 1 StPO ΙΠ. Schutzzweck orientierte Zeugenbegriffe 1. Zeugenbegriff der MRK 2. Zeugenbegriff der polizeilichen Schutzprogramme B. Gegenstand der Zeugenpflicht

30 30

30 30 30 31 32 32 33 34 35 35 35 36

I. Pflichtencharakter der Zeugenstellung

36

Π. Gegenstand des Zeugenbeweises 1. Wahrnehmung über Tatsachen 2. Abgrenzung zum Sachverständigen

37 37 38

ΠΙ. Gegenstand der Zeugenaussage

38

C. Vereinbarkeit mit anderen Verfahrensrollen I. Beschuldigter Π. Sonstige Veifahrensbeteiligte D. Fazit 2. Kapitel: Bedeutung und Gefahren des Zeugenbeweises

40 40 43 43 44

A. Praktische Bedeutung.

44

B. Gefahren des Zeugenbeweises I. Unbewußte Tatsachenverfalschung (Irrtum) 1. Wahrnehmung

47 47 48

nsverzeichnis

2. Erinnerung , a) Vergessen und Verdrängen b) Verwechseln und Verfälschen 3. Wiedergabe

49 49 50 51

Π. Bewußte Tatsachenverfalschung (Lüge)

51

ΙΠ. Individuelle Verfalschungskriterien

52

IV. Verwertung der Aussage

53

C. Fazit

54

3. Kapitel: Zur Geschichte des Zeugenbeweises

57

A. Der Zeuge im römischen Strafverfahrensrecht

57

I. Das "vorklassische" Strafverfahren

57

Π. Das Geschworenenverfahren zur Zeit der Republik 1. Zeugenfahigkeit 2. Beweiswert der Zeugenaussage 3. Zeugenstellung

58 58 59 60

ΙΠ. Strafverfahren der Kaiserzeit

61

B. Das alte deutsche Recht bis zur Rezeption

62

I. Germanische Zeit Π. Fränkische Zeit 1. Private Klage a) Zeugenfahigkeit b) Beweiswert der Zeugenaussage c) Zeugenstellung 2. Hoheitliches Verfahren

62 64 64 64 65 65 66

ΙΠ. Weitere Entwicklung im Mittelalter 1. Private Klage a) Zeugenfahigkeit b) Beweiswert der Zeugenaussage c) Zeugenstellung 2. Handhaftverfahren 3. Hoheitliches Verfahren a) Landfrageverfahren b) Formfreies Inquisitionsverfahren

67 67 68 68 69 69 70 70 71

C. Rezeption

;

72

I. Das übernommene italienische Strafprozeßrecht 1. Das Kirchenrecht 2. Das italienische Strafverfahren

72 72 74

Π. Das deutsche Strafverfahren nach der Rezeption 1. Die Carolina a) Zeugenfahigkeit b) Beweiswert der Zeugenaussage

75 75 75 76

10

nsverzeichnis

c) Zeugenstellung 2. Die Entwicklung des gemeinen Rechts a) Zeugenfahigkeit und Beweiswert der Aussage b) Zeugenstellung D. Der reformierte Strafprozeß

77 78 79 80 80

I. Entwicklung im 19. Jahrhundert 1. Zeugenfahigkeit und Beweiswert der Aussage 2. Zeugenstellung Π. Entwicklung im 20. Jahrhundert 1. Entwicklung bis 1975 2. Entwicklung nach 1975 E. Fazit

80 81 82 83 83 84 85

2. Abschnitt: Das Phänomen der Zeugengefahrdung. 1. Kapitel: Ursachen und Wirkungen

87 88

A Ursachen

88

B. Wirkungen

91

I. Aussageverhalten des Zeugen

91

Π. Kriminalitätsentwicklung und Rechtsbewußtsein

92

2. Kapitel: Kriminalitätsbereiche

92

A Allgemeine Kriminalität

92

I. Nähe- und Abhängigkeitsverhältnis

92

Π. Gruppensolidarität ΙΠ. Gewaltdelikte

93 94

B. Organisierte Kriminalität

95

I. Der Begriff der organisierten Kriminalität

95

Π. Zeugengefahrdung 1. Einwirken auf Zeugen als Wesensmerkmal 2. Einwirkungsmethoden a) "Beseitigen" des Zeugen b) Einschüchterung

96 96 98 98 99

C. Terrorismus und Landesverrat

101

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen 1. Abschnitt: Eingriffscharakter

103

der Zeugengefährdung

1. Kapitel: Private Störung und staatlicher Eingriff.

103 103

A Keine Zurechnung der privaten Störung

103

B. Staatliches Verhalten als Anknüpfungspunkt

104

C. Vorverlagerung des Grundrechtsschutzes

104

nsverzeichnis

I. Schutzbereich der Grundrechte

104

Π. Schutz vor staatlichen Gefahrdungsakten

105

ΙΠ. Schutz vor Maßnahmen, die Angst auslösen

107

2. Kapitel: Das eingreifende staatliche Verhalten

108

A Staatliche Gefährdungsakte

108

I. Informationsweitergabe

109

Π. Anordnungen gegenüber dem Zeugen

109

B. Staatliche Maßnahmen, die Angst auslösen

110

3. Kapitel: Die relevanten Grundrechte

2. Abschnitt: Schutzpflicht

110

des Staates

111

1. Kapitel: Grundlagen

111

A Grundrechte als primär subjektive Abwehrrechte B. Die objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte

112

I. Werte Π. Gebote

112 113

C. Gesetzgeber als primärer Adressat 2. Kapitel: Schutzpflicht der gefahrenabwehrenden

111

115 Polizei

3. Kapitel: Schutzpflicht der Strafverfolgungsorgane

A Grundlagen der Schutzpflicht

116 118

118

I. Der Zeuge als Veifahrenssubjekt

118

Π. Grundrechtsschutz in Verfahren 1. Die Lehre vom Grundrechtsschutz in Verfahren 2. Der Grundsatz fairer Verfahrensgestaltung

120 120 120

B. Schutzpflicht und Ermessensentscheidung I. Das Prinzip der Abwägung 1. Die einzelnen Schritte der Abwägung 2. Rationalität der Abwägung 3. Abwägung staatlicher und individueller Interessen a) Vorrang des staatlichen Interesses? b) Der Grundsatz "in dubio pro übertäte" Π. Die Gewichtung der kollidierenden Interessen 1. Veifahrensinteressen des Staates a) Sachverhaltsaufklärungsinteresse aa) "Bedeutung der Sache" bb) Bedeutung des Zeugenbeweises b) Aufrechterhaltung der Aussagebereitschaft c) "Je-desto" Aussagen 2. Verteidigungsinteresse des Beschuldigten

122 122 122 124 124 124 126 127 127 127 127 128 130 131 131

12

nsverzeichnis

a) Schwere der drohenden Nachteile 132 b) Bedeutung des Zeugenbeweises 132 c) Relativierungskriterium: Mißbrauch von Verteidigungsrechten... 133 d) "Je-destoM Aussagen 134 3. Schutzinteresse des Zeugen 134 a) Schwere der drohenden Nachteile 134 b) Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts 135 c) Relativierungskriterien 136 aa) Kompensation durch Schutz? 136 bb) Einwilligung 136 cc) Mitverantwortung für Gefahrdungslage 137 d) "Je-desto" Aussagen 138 ΠΙ. Zeugenschutz contra Verteidigungsinteressen C. Schutzpflicht und Gesetzesauslegung D. Schutzpflicht und Grenzen der Zeugenpflicht

138 139 141

I. Meinungsstand Π. Voraussetzungen 1. Gegenwärtige Gefahr 2. Keine andere Abwendbarkeit 3. Interessenabwägung

142 143 144 145 146

ΙΠ. Aussagen zu den Grenzen der Zeugenpflicht

147

E. Schutzpflicht und Verfahrensteilhabe

149

I. Mitgestaltungsrechte 1. Aussagen zum Umfang der Veifahrensteilhabe a) Die maßgeblichen Kriterien aa) Gewicht der drohenden Nachteile bb) Objektstellung des Betroffenen cc) Gesetzliche Determination der Entscheidung b) Zusammenfassung 2. Anhörungsrecht als Mindestforderung

150 150 151 151 151 151 152 152

Π. Rechtsbehelfe 1. Maßnahmen der Staatsanwaltschaft 2. Maßnahmen des Gerichts

153 153 154

ΙΠ. Recht auf Zeugenbeistand F. Zusammenfassung 3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

154 155 157

1. Abschnitt: Polizeiliche Ζ eugenschutzprogramme

157

1. Kapitel: Entstehung

157

2. Kapitel: Inhalt und Organisation

160

A. Inhalt

161

nsverzeichnis

I. Maßnahmen 1. Allgemeine Beratung 2. Hilfe zum Selbstschutz 3. Begleit- und Objektschutz 4. Operative Maßnahmen gegen potentielle Schädiger 5. Neuer Aufenthaltsort 6. Neue Identität 7. Veränderung des äußeren Erscheinens 8. Schutz inhaftierter Zeugen Π. Geschützter Personenkreis ΙΠ. Beendigung B. Organisation

161 161 162 162 162 162 164 165 165 165 166 168

I. Gefahrenprognose 1. Kriterien in der Person des Zeugen 2. Kriterien in der Person des Tatverdächtigen 3. Veifahrensbezogene Kriterien

168 169 169 169

Π. Anordnung und Durchführung

169

ΙΠ. Trennung von der Ermittlungsarbeit

170

IV. Beteiligung von Staatsanwaltschaft/Gericht

171

3. Kapitel: Rechtsgrundlage

172

A Polizeischutz

172

B. Beratung und Unterstützung

173

C. Änderungen der Identität I. Verändern von Personenstandsbüchern 1. Personenstandsgesetz 2. Namensänderungsgesetz Π. Ausstellen von Tarnpapieren

173 174 174 175 175

D. Operative Maßnahmen

177

2. Abschnitt: Stellungnahme 1. Kapitel: Begrenzte Schutzmöglichkeit

178 178

A Zumutbarkeit polizeilichen Zeugenschutzes I. Eingriffscharakter der Schutzmaßnahmen Π. Einwilligung ΙΠ. Konsequenzen für einzelne Zeugentypen 1. Zufallszeuge 2. Aussteiger und sonstige Szenemitglieder

178 178 179 180 180 180

B. Geographische Grenzen

181

C. Finanzielle und personeUe Grenzen

181

nsverzeichnis

14 2. Kapitel: Strafprozessuale

Problematik

A Zeugenschutz als Vorteil im Sinne § 136 a StPO I. Vorteilsversprechen Π. Vorteil gesetzlich nicht vorgesehen B. Glaubwürdigkeitsproblematik I. Aussagemotivation

182

182 183 184 185 185

Π. Aussageabsprachen

186

ΙΠ. Freie Beweiswürdigung als Korrektiv?

187

C. Beschränkung von Verteidigungsrechten

188

3. Kapitel: Zeugenschutz de lege ferenda

A Einheitliches "Zeugenschutzgesetz" B. Regelungsgegenstand

189

190 191

I. Ziele

191

Π. Maßnahmen

191

m. Organisation 1. Trennungsprinzip 2. Beteiligung von Staatsanwaltschaft und Gericht 3. Aufgabenzuweisung für Bundeskriminalamt

192 192 192 193

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

195

1. Abschnitt: Schutz des Zeugen im Ermittlungsverfahren 1. Kapitel: Der äußere Rahmen der Vernehmung

195 196

A Vernehmung durch Staatsanwaltschaft/Polizei

196

B. Vernehmung durch den Ermittlungsrichter

196

I. Grundsatz der Anwesenheit

196

Π. Gefahrdungsrelevanz

197

ΙΠ. Ausnahmen 1. Ausschluß des Beschuldigten 2. Ausschluß des Verteidigers 3. Nichtbenachrichtigung IV. Stellungnahme

198 198 199 199 200

C. Sonderproblem: Gegenüberstellung

202

I. Vernehmungsgegenüberstellung Π. Identifizierungsgegenüberstellung

202 202

2. Kapitel: Schutz vor Informationserhebung 3. Kapitel: Schutz vor Informationsweitergabe

A. Das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers, § 147 StPO

204 204

204

nsverzeichnis

I. Grundsatz des Akteneinsichtsrechts

204

Π. Gefahrdungsrelevanz

205

ΙΠ. Ausnahmen 1. Versagen der Akteneinsicht, § 147 Abs. 2 StPO 2. Keine Weitergabe von Aktenkopien 3. Verpflichtung zur Verschwiegenheit 4. Nichtaufnahme von Informationen zu den Akten IV. Stellungnahme

206 206 207 208 210 210

B. Namhafbnachung des Zeugen I. Mitteilung der Anklageschrift 1. Grundsatz 2. Gefahrdungsrelevanz 3. Ausnahmen a) Verschweigen der Wohnanschrift des Zeugen b) Verschweigen der Identität des Zeugen c) Verschweigen eines Identitätswechsels 4. Stellungnahme

212 212 212 213 213 213 214 215 215

Π. Mitteilung in der Ladung 4. Kapitel: Schutz durch Untersuchungshaft?

216 216

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen im Hauptverfahren 1. Kapitel: Der äußere Rahmen der Vernehmung

A. Ausschluß der Öffentlichkeit I. Grundsatz der Öffentlichkeit

217 217

217 217

Π. Gefahrdungsrelevanz der Öffentlichkeit

218

ΠΙ. Ausnahmen vom Öflfentlichkeitsgrundsatz 1. § 171 b GVG 2. §172 Nr. 1,1 a GVG a) Voraussetzungen aa) Gefahrdung der öffentlichen Ordnung bb) Insbesondere: Gefahrdung des Zeugen cc) Gefährdung durch Öffentlichkeit dd) Besorgnis der Gefahrdung b) Rechtsfolge aa) Anderweitige Abwendbarkeit bb) Gewichtungsbedingungen

219 219 220 220 220 221 222 222 222 223 224

IV. Revisionsrisiko 1. Gesetzwidriger Ausschluß der Öffentlichkeit 2. Gesetzwidriger Nichtausschluß der Öffentlichkeit

226 226 227

V. Stellungnahme

228

B. Ausschluß des Angeklagten

229

16

nsverzeichnis

I. Grundsatz der Anwesenheit des Angeklagten

229

Π. Gefahrdungsrelevanz der Anwesenheit

230

ΙΠ. Ausnahme, § 247 StPO 1. Voraussetzung a) § 247 S. IStPO b) § 247 S. 2, 2. Alt. StPO c) § 247 S. 2, 1. Alt. StPO d) Dauer des Ausschlusses 2. Rechtsfolge a) Anderweitige Abwendbarkeit b) Gewichtungsbedingungen aa) Verteidigungsinteresse des Angeklagten bb) Aufklärungsinteresse des Gerichts cc) Schutzinteresse des Zeugen

230 230 230 231 231 232 234 235 235 235 237 237

IV. Revisionsrisiko

237

V. Stellungnahme

238

C. Ausschluß des Verteidigers I. Grundsatz der Anwesenheit des Verteidigers

240 240

Π. Gefahrdungsrelevanz

240

ΙΠ. Ausnahmen von der Anwesenheit des Verteidigers IV. Stellungnahme

240 241

D. Vernehmung an einem sicheren Ort I. Gefahrdungsrelevanz der Vernehmung im Gericht

242 242

Π. Möglichkeit einer Verlegung der Hauptverhandlung

242

IQ. Entscheidung über die Verlegung

243

IV. Revisionsrisiko

244

V. Stellungnahme

244

E. Abschirmung I. Optische und akustische Abschirmung 1. Derzeitige Rechtslage 2. Stellungnahme a) Rechtliches Gehör b) Sachverhaltsaufklärung und Verteidigung c) Würde des Gerichtsverfahrens d) Mißbrauchsgefahr e) Schutzinteressen der Auskunftsperson f) Ergebnis Π. Veränderung des Aussehens ΠΙ. Räumliche Abschirmung, Bildschirmvernehmung 1. Derzeitige Rechtslage 2. Stellungnahme a) Der Grundsatz der körperlichen Anwesenheit

245 245 245 247 247 248 249 250 250 250 251 251 253 254 254

nsverzeichnis

b) Der Unmittelbarkeitsgrundsatz c) Ergebnis IV. Optisch/akustische und räumliche Abschirmung V. Stellungnahme F. Sonstige organisatorische Maßnahmen 2 Kapitel: Schutz vor Informationserhebung

A Angaben zur Person I. Grundsatz, § 68 Abs. 1 S. 1 StPO

254 256 256 257 257 259

259 259

Π. Gefahrdungsrelevanz der Personalangaben

259

ΙΠ. Ausnahmen 1. Dienstort bei "amtlichen Zeugen" a) Voraussetzungen aa) Amtliche Eigenschaft bb) Wahrnehmung in amtlicher Eigenschaft b) Rechtsfolge 2. Verschweigen der Wohnanschrift a) Voraussetzungen aa) Gefährdung durch Wohnortangabe bb) Anlaß zur Besorgnis b) Rechtsfolge aa) Anderweitige Abwendbarkeit bb) Gewichtungsbedingungen 3. Verschweigen sämtlicher Personalangaben a) Voraussetzungen b) Rechtsfolge aa) Verschweigen der Personalien bb) Angabe einerfrüheren Identität cc) Angabe der "Wahrnehmungseigenschaft" dd) Gewichtungsbedingungen

260 261 261 261 262 262 263 263 264 265 265 267 267 271 271 272 272 272 273 274

IV. Revisionsrisiko

276

V. Stellungnahme

276

B. Angaben zur Sache I. Grundsatz der Aussagepflicht Π. Gefahrdungsrelevanz ΠΙ. Ausnahmen 1. Schutzmöglichkeit des Gerichts 2. Schutzmöglichkeiten des Zeugen a) Aussageverweigerung b) Falschaussage IV. Revision V. Stellungnahme C. Sonstige Informationserhebungen 2 Zacharias

277 277 278 278 278 280 280 280 281 282 283

nsverzeichnis

18

3. Abschnitt: Schutz vor der ZeugensteUung 7. Kapitel: Ermittlungsverfahren

284 284

A. Heraushalten aus den Ermittlungsakten

284

I. Grundsatz der Aktenvollständigkeit

284

Π. Vertraulichkeitszusage als Ausnahme 1. Rechtliche Grundlage 2. Inhalt der Vertraulichkeitszusage 3. Voraussetzungen und Verbindlichkeit a) Gefahrdung der Auskunftsperson b) Notwendigkeit der Information c) Schwere Straftat 4. Rechtsfolge 5. Zuständigkeit 6. Schutzwirkung im Hauptveifahren

285 285 285 286 286 287 287 287 289 289

ΙΠ. Stellungnahme B. Auskunftsverweigerung gegenüber dem Gericht

290 290

I. Grundsatz der Auskunftspflicht Π. Ausnahmen 1. §54 StPO a) Voraussetzungen aa) Nachteile für das Bundes- oder Landeswohl bb) Gefahrdung öffentlicher Aufgaben b) Rechtsfolge c) Zuständigkeit d) Schutzwirkung im Hauptveifahren 2. § 96 analog a) Voraussetzungen b) Rechtsfolge c) Zuständigkeit d) Schutzwirkung im Hauptveifahren 3. Sonderproblem: V-Personen und VE a) Sperre wegen Gefahrdungslage b) Sperre wegen Notwendigkeit des Einsatzes c) Sperre wegen Notwendigkeit weiteren Einsatzes

290 291 291 291 292 292 293 294 295 297 297 300 300 300 301 301 302 303

ΙΠ. Zusammenfassung und Stellungnahme

304

C. Konsequenzen für die gerichtliche Beweisaufnahme I. Grundsatz der Unmittelbarkeit, § 250 StPO Π. Denkbare Beweissurrogate 1. Verlesenfrüherer Vernehmungsniederschriften a) Richterliche Protokolle b) Sonstige Urkunden 2. Schriftliche Befragung der Auskunftsperson

304 304 305 305 305 306 306

Inhaltsverzeichnis

3. Vernehmung von Verhörspersonen 4. Videoaufzeichnungen

19

307 307

ΙΠ. Beweissurrogate und Sachverhaltsaufklärung 1. Beweiswert der Surrogate a) Verlesen früherer Vernehmungsniederschriften b) Schriftliche Befragung der Auskunftsperson c) Vernehmung von Verhörspersonen aa) Angaben der Auskunftsperson bb) Glaubwürdigkeit der Auskunftsperson d) Kombination von Beweissurrogaten 2. Anforderungen an die Beweiswürdigung

308 308 308 309 310 310 310 311 312

IV. Beweissurrogate und Verteidigungsinteressen 1. Fragerecht a)§ 240 Abs. 2 StPO b) Art. 6 Abs. 3 d MRK 2. Der Grundsatz des fairen Verfahrens a) Behördliche Geheimhaltung als Verstoß aa) Verstoß gegen Ermittlungspflicht bb) Rechtsmißbrauch cc) Fehlerhafte Geheimhaltung b) Verwertung der Surrogate als Verstoß aa) Rechtliches Gehör bb) Recht auf optimale Verteidigung?

312 313 313 313 315 316 316 316 317 318 318 319

V. Zusammenfassung und Stellungnahme

321

2. Kapitel: Hauptverfahren

322

A. Verzicht auf Ladung

322

B. Konsequenzen für die Beweisaufnahme

323

I. Ablehnen von Beweisanträgen Π. Verlesen von Protokollen DI. Sonstige Beweissurrogate C. Stellungnahme

323 323 324 324

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe 1. Kapitel: Teilhabe vor gefährdenden Entscheidungen

A. Anhörungsrechte I. Entscheidungen des Gerichts, § 33 StPO 1. Beteiligtenstellung des Zeugen 2. Anhörung 3. Vom Anhörungsrecht umfaßte Entscheidungen a) In der Hauptverhandlung b) Außerhalb der Hauptverhandlung Π. Entscheidungen der Ermittlungsbehörden

2*

324 325

325 325 325 326 326 326 327 327

20

nsverzeichnis

Β. Antragsrechte

328

C. Belehrungspflichten der Strafverfolgungsorgane

330

2. Kapitel: Rechtsschutz nach gefährdenden Entscheidungen

A. Richterliche Maßnahmen

330

330

I. Beanstandung, § 238 Abs. 2 StPO 1. Beanstandungsbefugnis des Zeugen 2. Anfechtbare Entscheidungen 3. Einlegung der Beanstandung 4. Folgen der Beanstandung

330 331 331 332 333

Π. Beschwerde, §§ 304 Abs. 2, 305 S. 2 StPO 1. Beschwerdebefugnis des Zeugen 2. Anfechtbare Entscheidungen a) Zeugenladung b) Zulassung von Fragen c) Nichtausschluß der Öffentlichkeit d) Nichtausschluß des Angeklagten e) NichtVerlegung an sicheren Ort f) Maßnahmen der Sitzungspolizei g) Anordnung von Ungehorsamsfolgen h) Informationsweitergabe 3. Einlegung der Beschwerde 4. Folgen der Beschwerde a) Abhilfemöglichkeit b) Aufschiebende Wirkung, § 307 Abs. 2 StPO aa) Staatliches Beschleunigungsinteresse bb) Beschleunigungsinteresse des Angeklagten cc) Schutzinteresse des Zeugen dd) Fazit c) Entscheidung des Beschwerdegerichts 5. Stellungnahme

334 334 334 335 337 337 338 338 339 341 341 341 342 342 342 343 343 344 345 345 346

B. Maßnahmen der Ermittlungsbehörden I. § 161 a Abs. 3 StPO 1. Anordnung von Ungehorsamsfolgen 2. Androhung von Ungehorsamsfolgen Π. § 161 a Abs. 3 StPO analog ΙΠ. §§ 23 ff. EGGVG 1. Antragsbefugnis 2. Antragsgegenstand a) Anwesenheit weiterer Personen b) Gewähren von Akteneinsicht c) Einbezug gefährdender Informationen 3. Antragstellung und gerichtliche Entscheidung a) Anfechtungsantrag

346 346 346 346 347 348 348 348 349 349 351 351 351

nsverzeichnis

aa) Aufschiebende Wirkung bb) Sachentscheidung b) Verpflichtungsantrag aa) Einstweilige Anordnung bb) Sachentscheidung c) Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit 4. Zusammenfassung und Stellungnahme 3. Kapitel: Zeugenbeistand

351 352 352 352 352 353 353 354

A. Grundlagen und Aufgaben

354

B. Rechte des Beistandes

355

I. Eigene Rechte des Beistandes 1. Beratungsrecht 2. Anwesenheitsrecht a) Vernehmung b) Über Vernehmung hinaus 3. Akteneinsichtsrecht

357 357 357 357 358 360

Π. Wahrnehmung von Zeugenrechten 1. Erklärungsrecht 2. Antragsrecht 3. Beanstandungs- und Beschwerderecht

362 362 363 363

C. Pflichten der Strafverfolgungsorgane

364

I. Belehrungs- und Ladungspflicht

364

Π. Unterbrechungs- und Aussetzungspflicht

365

ΙΠ. Beiordnungspflicht

366

D. Ausschluß des Beistandes

370

E. Zusammenfassung und Stellungnahme

371

Ergebnis der Untersuchung

374

A, Zusammenfassung

374

B. Überblick über die Gesetzesvorschläge I. StPO § 48 S. 2: Verzicht auf Ladung § 55 Abs. 1: Auskunftsverweigerungsrecht § 68 Abs. 3: Optische/akustische Abschirmung § 69 Abs. 4: Hinweis auf Zeugenschutzgesetz § 71 a: Zeugenbeistand § 147 Abs. 2: Akteneinsicht § 161 a Abs. 3: Rechtsschutz § 168 c: Ausschluß des Beschuldigten/Verteidigers § 247: Ausschluß des Angeklagten

377 377 377 377 377 377 378 378 378 378 379

nsverzeichnis

22

§ 250 S. 2: Räumliche Abschirmung § 251 Abs. 1 a: Abspielen von Videoaufzeichnungen § 465 Abs. 1 a: Auslagen des Zeugenbeistandes

379 379 379

Π. GVG § 172 GVG: Ausschluß der Öffentlichkeit

380 380

ΙΠ. Zeugenschutzgesetz 1. Rechtsgrundlage für Identitätsänderung 2. Trennungsprinzip 3. Beteiligung von Staatsanwaltschaft und Gericht

380 380 380 380

Literaturverzeichnis

382

Sachwortverzeichnis

406

Abkürzungsverzeichnis a. A

andere Ansicht

Abs

Absatz

Abt

Abteilung

a.E

am Ende

a.F

alte Fassung

AG

Amtsgericht, Arbeitsgemeinschaft

AK

Alternativkommentar zur Strafprozeßordnung

A11MB1

Allgemeines Ministerialblatt der Bayerischen Staatsregierung

Angekl

Angeklagter

Anm

Anmerkung

Art

Artikel

AT

Allgemeiner Teil

Aufl

Auflage

BayObLG bayPAG

Bayerisches Oberstes Landesgericht Polizeiaufgabengesetz (Bayern) in der Fassung der Bekanntgabe vom 14.9.1990 (GVB1. S. 397)

BB

Der Betriebs-Berater

Bd

Band

Bearb

Bearbeiter

BGBl

Bundesgesetzblatt

BGH

Bundesgerichtshof

BGHR

BGH-Rechtsprechung in Strafsachen (Loseblattsammlung)

BGHSt

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen

BGH (Z)

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

BKA

Bundeskriminalamt

24

Abkürzungsverzeichnis

BKAG

Gesetz über die Einrichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes (Bundeskriminalamtes) in der Fassung vom 29.6.1973 (BGBl. I, S. 704)

BR-Drucks

Drucksachen des Bundesrates

BRAGO

Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte vom 26.7.1957 (BGBl. I, S. 907)

BRAO

Bundesrechtsanwaltsordnung vom 1.8.1959 (BGBl. I, S. 565)

B.T

Besonderer Teil

BT-Drucks

Drucksachen des Bundestages

Β VerfG

Bundesverfassungsgericht

BVeifGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

bzw.

beziehungsweise

CCB

Constitutio Criminalis Bambergensis

CCC

Constitutio Criminalis Carolina

ders

derselbe

dgl

dergleichen

d.h

das heißt

dies

dieselbe

Diss

Dissertation

DRiZ

Deutsche Richterzeitung

DVB1

Deutsche Verwaltungsblätter

EGGVG

Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz vom 27.1.1877 (RGBl. S. 77)

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EGStGB

Einfuhrungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2.3.1974 (BGBl. I, S. 469)

e.V

eingetragener Verein

f.

folgende

FBI

Federal Bureau of Investigation

ff.

fortfolgende

Abkürzungsverzeichnis

FG

Festgabe

Fn

Fußnote

FS

Festschrift

GA

Goltdammer's Archiv fur Strafrecht

GedS

Gedächtnisschrift

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949 (BGBl. S. 1)

GVB1

Gesetz- und Verordnungsblatt

GVG

Gerichtsverfassungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 9.5.1975 (BGBl. I, S. 1077)

Hans. OLG

Hanseatisches Oberlandesgericht

herausgeg

herausgegeben

h.M

herrschende Meinung

Hrsg

Herausgeber

i. V.m

in Verbindung mit

JK

Jura-Kartei, Beilage der Juristischen Ausbildung

JR

Juristische Rundschau

Jura

Juristische Ausbildung

JuS

Juristische Schulung

JW

Juristische Wochenschrift

JZ

Juristenzeitung

Kap

Kapitel

Kfz

Kraftfahrzeug

KG

Kammergericht

KK

Karlsruher Kommentar zur Straiprozeßordnung

KMR

Kleinknecht/Müller/Reitberger, Kommentar zur Strafprozeßordnung

krit

kritisch

LG

Landgericht

LK

Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch

LKA

Landeskriminalamt

LR

Löwe/Rosenberg, Kommentar zur Straiprozeßordnung

26

Abkürzungsverzeichnis

m.a.W

mit anderen Worten

MDR

Monatsschrift für Deutsches Rechts

m.E

meines Erachtens

MRK

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4.11.1950 (BGBl. Π, S. 685)

MSchrKrim

Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform

m.w.N

mit weiteren Nachweisen

n.Chr

nach Christus

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Nr

Nummer

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

ÖJZ

Österreichische Juristen-Zeitung

OK

organisierte Kriminalität

OLG OrgKG

Oberlandesgericht Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität vom 15.7.1992 (BGBl. I, S. 1302)

OWiG

Gesetz über Ordnungswidrigkeiten in der Fassung der Bekanntgabe vom 19.2.1987 (BGBl. I, S. 602)

PFA

Polizei-Führungsakademie

PKK

Arbeiterpartei Kurdistans

Preuß

Preußisch

Qu.

Quelle

RG

Reichsgericht

RGBl

Reichsgesetzblatt

RGSt RiStBV

Entscheidungen des Reichsgerichts Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren

S

Seite

SK

Systematischer Kommentar zur Straiprozeßordnung

sog

sogenannte(r)

sten

stenographisch

Abkürzungsverzeichnis

StGB

Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 10.3.1987 (BGBl. I, S. 945)

StPO

Straiprozeßordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7.4.1987 (BGBl. I, S. 1074)

StV

Strafverteidiger, Juristische Fachzeitschrift

StVÄG

Strafverfahrensänderungsgesetz

StVollzG

Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung vom 16.3.1976 (BGBl. I, S. 581)

StVRErgG

Gesetz zur Ergänzung des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 20.10.1974 (BGBl. I, S. 3651)

u.

und

ila

und andere

UCA

under cover agent

u.U

unter Umständen

UVollzO

Untersuchungshaftvollzugsordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 1.1.1977

V-Mann

Vertrauensmann

V-Person

Vertrauensperson

v.

von, vom

VE

Verdeckter Ermittler

VetfGH

Verfassungsgerichtshof

VerwArch

Verwaltungsarchiv

VG

Verwaltungsgericht

VGH.

Verwaltungsgerichtshof

vgl

vergleiche

VS

Verschlußsache

WDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 19.3.1991 (BGBl. I, S. 686)

VwGO VwVfG

Verwaltungsverfahrensgesetz vom 25.5.1976 (BGBl. I, S. 1253)

WiB

Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht

28

Abkürzungsverzeichnis

wistra

Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht

Z.B

zum Beispiel

zit

zitiert

ZPO

Zivilprozeßordnung in der Fassung vom 12.9.1950 (BGBl. I, S. 533)

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

ZSEG

Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen in der Fassung der Bekanntmachung vom 1.10.1969 (BGBl. I, S. 1756)

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

z.T

zum Teil

Einleitung "Um den gefährdeten Zeugen kümmert sich kaum jemand - außer dem Täter." Auch nach zehn Jahren hat diese Einschätzung Sielaffs 1 ihre Berechtigung. Zwar ist das Problem der Zeugengefährdung seither verstärkt in das Blickfeld des strafprozessualen Interesses geraten. Die Sorgen des Betroffenen werden jedoch immer noch allzu pauschal mit dem Hinweis auf die allgemeine Zeugenpflicht abgetan. Der Konflikt zwischen den Beschuldigtenrechten und dem staatlichen "Strafanspruch" bestimmt das Strafverfahren. Wer sich mit dem Zeugen beschäftigt, muß hier zwangsläufig zwischen die Fronten geraten, denn ein wirksamer Schutz ist meistens nur auf Kosten der Verfahrenseffizienz oder der Verteidigungsinteressen des Beschuldigten möglich. - Beide Konsequenzen sind in der derzeitigen Diskussion denkbar unpopulär. Der Schutz des Zeugen wird deshalb allenfalls halbherzig praktiziert und diskutiert. Ziel der Arbeit ist es, die Interessen des gefährdeten Zeugen i n das strafprozessuale Spannungsverhältnis einzubeziehen und die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Gestaltung des Verfahrens aufzuzeigen. Aussagen zu dem gebotenen Schutz des Zeugen können hierbei immer nur als Ergebnis einer Abwägung der kollidierenden Interessen getroffen werden. Im ersten Teil der Arbeit wird der Zeuge als Beweisperson vorgestellt und das Phänomen der Zeugengefahrdung beleuchtet. Der zweite Teil bildet sodann die Grundlage der weiteren Argumentation. Es wird dargelegt, auf welche Weise die Interessen des Zeugen in das strafprozessuale Spannungsverhältnis zu integrieren sind, welches Gewicht ihnen bei der Ausgestaltung des Verfahrens zukommt und welche Pflichten sich hieraus für den Staat ergeben. Inwieweit der Staat seinen Pflichten durch Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes nachkommen kann, ist Thema des 3. Teils, während i m vierten Teil untersucht wird, welche Schutzmöglichkeiten das geltende Prozeßrecht bietet bzw. welche Modifikationen de lege ferenda erforderlich sind.

1

Sielaff,

Kriminalistik 1986, 59.

l.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung 1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

1. Kapitel: Der Zeuge im Strafprozeß A. Der Begriff des Zeugen I. Strafprozessualer

Zeugenbegriff

1. Zeugenbegriff und Verfahrensrolle Der Begriff des Zeugen läßt sich materiell oder formell bestimmen. Materiell ist eine Person Zeuge, wenn sie Tatsachen wahrgenommen hat und darüber berichten kann. 1 Zeuge i m formellen Sinne ist dagegen eine Person, deren Wahrnehmungen über Tatsachen nach den strafprozessualen Vorschriften über den Zeugenbeweis i n das Verfahren eingeführt werden sollen. Der materielle Zeugenbegriff enthält keine Angaben darüber, nach welchen Kriterien die Rolle des Zeugen i n einem Verfahren zu bestimmen ist. Wer i n einem Strafverfahren die Rolle eines "Zeugen" einnimmt, bestimmt sich daher allein nach dem geltenden Verfahrensrecht. Dem trägt die herkömmliche Umschreibung Rechnung, wonach Zeuge ist, wer i n einem nicht gegen sich selbst gerichteten Strafverfahren als Beweisperson Auskunft über die Wahrnehmung von Tatsachen geben soll. 2 Strafprozessual gibt es daher nicht den "Zeugen an sich", sondern nur die gesetzlich bestimmte Verfahrensrolle einer Person "als" Zeuge. 3 Da Zeuge i m Sinne des Strafverfahrens ist, wer Auskunft geben soll, ist die Zeugenrolle unabhängig von einer tatsächlich gemachten Wahrnehmung und einer Aussage 1 Der materielle Zeugenbegriff entspricht umgangssprachlich dem sog. "Augenzeugen". 2 Vgl. nur RGSt 52, 289; Geppert, Jura 1991, 81; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 451; Roxi vi, Strafverfahrensrecht, § 26 Rdn. 1; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 11. 3 So zutreffend KMR/Paulus, Vor § 48 Rdn. 18; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 11.

31

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

darüber zu bestimmen. Ob eine Person in ihrer prozessualen Rolle als Zeuge tatsächlich Auskunft über von ihr wahrgenommene Tatsachen geben kann, ob sie im Rahmen der Vernehmung Auskunft gibt oder sich auf ein Zeugnisverweigerungsrecht beruft 4 , oder ob es gar nicht zur Vernehmung einer als Zeuge geladenen Person kommt 5 , ist für die Bestimmung der formellen Zeugenrolle irrelevant. Von daher ist die gelegentlich verwendete Formulierung: "Zeuge ist, wer i n einem Strafverfahren ... Auskunft gibt", unzutreffend. 6 2. Willensakt als konstituierendes

Element

Konstituierend für die Zeugenrolle - wie für andere Verfahrensrollen auch ist ein Willensakt, also ein sich objektiv manifestierender Wille des zuständigen Strafverfolgungsorganes. 7 Voraussetzung für die Zeugenstellung einer Person ist der Entschluß des zuständigen Strafverfolgungsorgans, einen Bezug zwischen der Person und einem Strafverfahren derart herzustellen, daß die in das Wissen der Person gestellten Wahrnehmungen nach den Vorschriften über den Zeugenbeweis in ein Strafverfahren eingeführt werden sollen. 8 Für das gerichtliche Verfahren manifestiert sich dieser Entschluß in der Ladung bzw. in dem Beschluß, eine Person als Zeuge zu vernehmen. 9 Auch zur Begründung der Zeugenstellung im Ermittlungsverfahren ist der Willensakt einer Strafverfolgungsbehörde erforderlich, die Angaben einer Person nach den Vorschriften über den Zeugenbeweis i n ein Strafverfahren einzubeziehen. Dies bedeutet, daß eine Person, deren Angaben erst zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens führen, diese Angaben - mangels Strafverfahren noch nicht als Zeuge macht. Informatorische Befragungen durch Polizeibeamte, ob und wenn ja gegen wen ermittelt werden soll, schaffen noch keine Prozeßrolle der Befragten als Zeugen. 10 Ist dagegen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, so begründet nicht die - spontane oder telefonische - Aussage, sondern der Entschluß des zuständigen Strafverfolgungsbeamten, die Aussage zu Beweiszwecken in einem Strafverfahren zu verwerten, die Zeugenstellung.

4

Hierzu Meyer/Höver, ZSEG, § 1 Rdn. 33.1 Vgl. auch BGHSt 7, 44, 46; Meyer/Höver, ZSEG, § 1 Rdn. 28. 6 So aber Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 171; Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 500; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Vor § 48, Rdn. 1; LR/Dahs, Vor § 48 Rdn. 1; ähnlich Schlucht er, Das Strafverfahren, Rdn. 477. 5

7

8

SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 21.

Hierzu bereits Birkmeyer, Deutsches Strafprozeßrecht, S. 420: Für die Zeugenstellung bedarf es einer "Bekundung, die vom Richter zum Zweck des Beweises entgegengenommen wird." (Hervorhebung im Original). 9 KMR/Paulus, Vor § 48 Rdn. 18; ähnlich Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 451. Vgl. hierzu bereits Birkmeyer, Deutsches Strafprozeßrecht (1898), S. 427. 10 KMR/Paulus, Vor § 48 Rdn. 71. Eingehend Geppert, Oehler-FS, S. 324.

32

.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

Dieser Entschluß manifestiert sich z.B. darin, daß die Aussage von dem Beamten schriftlich festgehalten und als Vernehmungsniederschrift zu den Verfahrensakten genommen wird. 1 1 Der Willensakt des zuständigen Ermittlungsbeamten muß sich auf die Verwertung der Angaben der Auskunftsperson zu Beweiszwecken in einem Strafverfahren beziehen. Polizeiliche Informanten, die aus polizeitaktischen Gründen aus einem Strafverfahren herausgehalten werden sollen, deren Angaben also gerade nicht nach den Vorschriften über den Zeugenbeweis in ein Strafverfahren eingeführt werden sollen, werden deshalb allein durch die Weitergabe ihrer Informationen an die Polizei nicht zu Zeugen im strafprozessualen Sinne. 12 IL Konsequenzen Aus dem formellen Zeugenbegriff der StPO ergeben sich Konsequenzen fiir die Auslegung einzelner Normen, deren sich der Gesetzgeber offenbar selbst nicht immer bewußt war: 7. Zeugenbegriff des § 200 Abs. 1 S. 4 StPO Nach § 200 Abs. 1 S. 4 StPO, der durch das OrgKG in das Gesetz eingefügt wurde 1 3 , ist in der Anklageschrift anzugeben, ob die Identität eines Zeugen oder sein Wohn- bzw. Aufenthaltsort ganz oder teilweise nicht offenbart werden soll. Die amtliche Begründung geht davon aus, daß Zeuge i m Sinne § 200 Abs. 1, S. 4 auch derjenige sei, der nach § 96 StPO für das Hauptverfahren als Zeuge "gesperrt" sei. 1 4 Damit geht der Gesetzgeber hier - wie auch an anderen Stellen des OrgKG 1 5 - von einem materiellen Zeugenbegriff aus. 16 Diese vom

11

Vgl. BGHSt 33, 83, 86. Dies ändert sich erst, wenn z.B. im gerichtlichen Verfahren auf die Angaben der Auskunftsperson zu Beweiszwecken zurückgegriffen werden soll. So bereits Geyer, in: Holtzendorffy Handbuch des deutschen Strafprozeßrechts (1879), S. 266: "Der Denunciant, welcher einer öffentlichen Behörde ... eine Mittheilung über eine ein Verbrechen betreffende Thatsache macht, in der Absicht, dadurch eine strafgerichtliche Verfolgung zu veranlassen, ist als solcher nicht Zeuge, kann aber weiterhin, falls das Strafverfahren wirklich stattfindet, als Zeuge behandelt werden." 13 Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität vom 15.7.1992, BGBl. I, S. 1302 ff. 14 BT-Drucks. 12/989, S. 44. 15 So wird etwa in der amtlichen Begründung zum OrgKG, BT-Drucks. 12/989 S. 41, feststellt, daß auch sogenannte Informanten strafprozessual Zeugen seien, obwohl Informanten gerade als Personen definiert werden, deren Angaben aufgrund einer Vertraulichkeitszusage nicht nach den Vorschriften über den Zeugenbeweis in den Strafprozeß eingeführt werden sollen, vgl. Nr. 1.2. der gemeinsamen Richtlinien über 12

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

33

Gesetzgeber intendierte Erweiterung des strafprozessualen Zeugenbegriffes ist jedoch sachlich unbegründet. Sinn und Zweck der Vorschrift ist es, den Angeschuldigten und das Gericht über die zur Verfügung stehenden Beweismittel zu informieren und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich darauf einzustellen, daß die Personalien bestimmter Personen in ihrer Verfahrensrolle als Zeuge geheim gehalten werden. 17 Einer Ausweitung der Vorschrift auf Personen, die strafprozessual gerade nicht als Zeugen in Erscheinung treten, bedarf es nicht. 2. Zeugenbegriff des § 171 b GVG Nach § 171 b Abs. 1 GVG kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, soweit Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Zeugen zur Sprache kommen. Hier wird die Ansicht vertreten, daß der Begriff des Zeugen im Sinne § 171 b GVG weiter zu bestimmen sei als der prozessuale Zeugenbegriff: "Zeuge im Sinne der Vorschrift ist auch, wer noch nicht oder nicht mehr geladen ist, aber als Zeuge in Betracht kommt." 1 8 Anlaß dieser weiten Begriffsbestimmung gab ursprünglich § 172 Nr. 2 GVG a.F. 1 9 Diese Vorschrift schuf zwar die Möglichkeit, die Öffentlichkeit zum Schutz der Privatsphäre des Zeugen auszuschließen, sie enthielt jedoch keine Ausschlußmöglichkeit zum Schutz des Tatopfers. Blieb dem Vergewaltigungsopfer z.B. die Zeugenrolle erspart, weil der Angeklagte ein Geständnis abgelegte, so bestand keine Möglichkeit, die Öffentlichkeit während der Erörterung des Intimlebens des Opfers auszuschließen. Daß der Schutz der Intimsphäre des Opfers davon abhängen sollte, ob es zufallig die Prozeßrolle eines Zeugen inne hatte oder nicht, war ein Mangel dieser Regelung. Mit § 171 b GVG hat der Gesetzgeber jedoch ausdrücklich die Möglichkeit geschaffen, die Öffentlichkeit zum Schutz des Zeugen oder des Verletzten auszuschließen. Die Anwendung des "weiten Zeugenbegriffes" würde nun dazu führen, daß neben dem eigentlichen Zeugen und dem Verletzten auch jede Person geschützt wäre, deren persönlicher Lebensbereich vor Gericht erörtert wird, denn all diese Personen kommen hinsichtlich ihres Lebensbereiches "als

die Inanspruchnahme von Informanten aa.; abgedruckt bei Kleinknecht/MeyerGoßner, Anlage D zur RiStBV, sowie Wetterich, Middendorf-FS, S. 286: "... es ist ja gerade der Sinn der Zusage, nicht als Zeuge dem Gericht präsentiert zu werden." 16 So zutreffend Zaczyk, StV 1993, 495. 17 Hilger, NStZ 1992, 459. 18 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 171 b GVG Rdn. 3; vgl. auch Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, § 171 b GVG Rdn. 7; Kissel , GVG, § 171 b Rdn. 2. 19 In der Fassung des Art. 20 Nr. 10 EGStGB vom 2.3.1974, BGBl. I, S. 521. Zur Diskussion um den weiten Zeugenbegriff des § 172 GVG a.F. vgl. einerseits Kiemknecht, Schmidt-Leichner-FS, S. 115; Mertens, NJW 1980, 2687; LR/Schäfer, 23. Aufl., § 172 GVG, andererseits Sieg, NJW 1980, 379. 3 Zacharias

.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

34

Zeugen i n Betracht". Schutzlos blieben allein Personen, die nicht zeugnisfahig sind. Abgesehen davon, daß nicht einzusehen ist, warum gerade diese Personen als einzige aus dem Schutzbereich herausfallen sollen 2 0 , ist die weite Interpretation des Zeugenbegriffs in § 171 b GVG mit den juristischen Auslegungsmethoden nicht zu erreichen. Wenn der Gesetzgeber i n Kenntnis der Problematik den Ausschluß der Öffentlichkeit nicht auf den Schutz aller betroffenen Personen ausgeweitet, sondern auf den Schutz des Zeugen und des Verletzten beschränkt hat, ist für eine Auslegung des Begriffes Zeuge i m Sinne von "Zeuge und alle anderen Personen" kein Raum. Zeuge i m Sinne § 171 b GVG ist daher allein der Zeuge i m verfahrensrechtlichen Sinne. 3. Zeugenbegriff des § 58 Abs. 1 StPO Ein Zuhörer kann nach übereinstimmender Ansicht aus der öffentlichen Hauptverhandlung verwiesen werden, wenn er als Zeuge i n Betracht k o m m t . 2 1 Der Verweis wird i m Interesse der Unverfalschtheit einer möglichen Zeugenaussage des Zuhörers allgemein für zulässig erachtet. Während Rechtsprechung und herrschende Literatur die Frage des Ausschlusses einzelner Zuhörer unter dem Aspekt der Einschränkbarkeit des Öffentlichkeitsgrundsatzes aus ungeschriebenen Verfahrensgrundsätzen heraus diskutieren, wird zum Teil versucht, das Problem vom Zeugenbegriff her zu lösen. 2 2 Der Zuhörer, der als Zeuge i n Betracht kommt, sei bereits Zeuge i m verfahrensrechtlichen Sinne, mit der Folge, daß sein Ausschluß unmittelbar auf § 58 Abs. 1 StPO gestützt werden könne. 2 3 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß die prozessuale Zeugenstellung nur durch den Willensakt des zuständigen Strafverfolgungsorganes begründet werden kann. Dann aber wird der Zuhörer nicht dadurch zum Zeugen, daß ein Verfahrensbeteiligter mitteilt, dieser Zuhörer käme als Zeuge i n Betracht. Erst der gerichtliche Beschluß, den Zuhörer als Zeuge zu vernehmen, begründet dann dessen prozessuale Zeugenrolle. III. Schutzzweck orientierte

Zeugenbegriffe

1. Zeugenbegriff der MRK Die wohl weitestgehende Bestimmung des Zeugenbegriffs liegt 6 Abs. 3 d M R K zugrunde. Danach hat jeder Angeklagte das Recht, "Fragen an die Bela-

20 21

So zutreffend Sieg, NJW 1981, 963. BGHSt 3, 386, 388; BGH bei Holtz, MDR 1983, 92; KK/Pelchen,

LR/Dahs, § 58 Rdn. 5; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

rensrecht, § 45 Rdn. 13. 2 2

KMR/Paulus,

§ 58 Rdn. 6.

2 3

KMR/Paulus,

§ 58 Rdn. 6.

§ 58 Rdn. 4;

§ 58 Rdn. 5; Roxin, Strafverfah-

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

35

stungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen". Unter Hinweis auf den Zweck der Regelung wird dabei jede Person als "Zeuge" erfaßt, deren Wahrnehmung über Tatsachen auf irgendeine Weise zur Entscheidungsfindung in einem Strafverfahren verwendet wird. 2 4 "Zeuge" kann danach auch der Sachverständige oder der Mitangeklagte sein. Als "Zeuge" i m Sinne Art. 6 Abs. 3 d MRK werden aber auch der geheime Informant und die gesperrte V-Person, die während des gesamten Verfahrens niemals "als Zeugen" vernommen wurden, angesehen25, und zwar unabhängig davon, "ob ihre früheren Aussagen durch Verlesung des Vernehmungsprotokolls oder durch Einvernahme einer Verhörsperson in das Verfahren eingeführt werden." 26 2. Zeugenbegriff der polizeilichen Schutzprogramme Problemlos erweitern läßt sich dagegen der Zeugenbegriff im Rahmen polizeilicher Zeugenschutzprogramme. Der Zeugenbegriff hat sich hier zwangsläufig weniger an strengen formellen Voraussetzungen als vielmehr an der praktischen Notwendigkeit zum Schutz der Auskunftsperson zu orientieren. Zeuge im Sinne des polizeilichen Zeugenschutzes ist jede Person, "deren Aussage zur Erforschung der Wahrheit von Bedeutung ist". 2 7 Zeuge im Sinne der polizeilichen Zeugenschutzprogramme ist daher auch der aussagebereite Mitbeschuldigte. B. Gegenstand der Zeugenpflicht I. Pflichtencharakter

der Zeugenstellung

Der Pflichtencharakter der Zeugenstellung ist vom Gesetzgeber erst durch das 1. StVRG 1975 und dort auch nur für die Vernehmung vor der Staatsanwaltschaft ausdrücklich in der StPO formuliert worden. 28 Für das gerichtliche 24

Sog. "autonomer Zeugenbegriff' des Art. 6 Abs. 3 d MRK, vgl. hierzu nur

LR/Gollwitzer,

M R K Art. 6 Rdn. 214.

25

Vgl. BGH, StV 1993, 171; BGH, StV 1991, 100, 101 im Anschluß an die Rechtsprechung des EGMR; vgl. hierzu zuletzt EGMR, StV 1992, 499 f. (Lüdi); StV 1991, 193 (Windisch); StV 1990, 481 ff. (Kostovski). Zur Rechtsprechung allgemein vgl. Joachim, StV 1992, 246 f. 26 LR/Gollwitzer, Art. 6 MRK Rdn. 224, vgl. auch BGH, StV 1993, 171. Die praktische Konsequenz dieses "autonomen Zeugenbegriffs" der MRK ist eine Ausweitung des Fragerechts des Angeklagten über § 240 Abs. 2 StPO hinaus, vgl. nur Tiede-

rnann, M D R 1963, 459. 27

§ 6 Abs. 1 S. 1 BKAG-Entwurf der Bundesregierung, BR-Drucks. 94/95, S. 6. Vgl. § 161 a Abs. 1 S. 1 StPO: "Zeugen und Sachverständige sind verpflichtet, auf Ladung vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen und zur Sache auszusagen oder ihr Gutachten zu erstatten". Vgl. aber auch Art. 24 der hessischen Landesverfassung, 28

3'

36

.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

Verfahren werden die Zeugenpflichten nicht i n der StPO begründet, sondern als selbstverständliche Pflicht jedes Individuums, hoheitlichen Anordnungen Folge zu leisten, vorausgesetzt. 29 Da die Zeugenpflicht nicht auf deutsche Staatsbürger begrenzt ist, ist sie keine reine staatsbürgerliche Pflicht, sondern eine allgemeine öffentlich-rechtliche Pflicht gegenüber dem Staat. 30 Adressaten der Pflicht können nur Personen sein, die der deutschen Staatsgewalt und damit der deutschen Gerichtsbarkeit unterworfen sind. Zeugenpflichtig ist daher jeder Deutsche sowie jeder Staatenlose und Ausländer, wenn er sich i n Deutschland aufhält, mit Ausnahme sog. Exterritorialer 31 . Personen, die der öffentlich-rechtlichen Zeugenpflicht nicht unterliegen, steht es frei, ob sie sich von einem deutschen Strafverfolgungsorgan als Zeugen in die Pflicht nehmen lassen. II. Gegenstand des Zeugenbeweises 1. Wahrnehmung über Tatsachen Gegenstand des Zeugenbeweises können alle Tatsachen sein, die mittelbar oder unmittelbar für die Entscheidung erheblich sind. Tatsachen sind konkrete vergangene oder gegenwärtige 32 Geschehnisse oder Zustände. 33 Unmittelbar

wonach Beschränkungen der persönlichen Freiheit zur Sicherung der Zeugenpflicht zulässig sind. 29 Dies zeigen die Sanktionen, die das Gesetz an das Nichtbefolgen der Anordnungen knüpft, §§51, 70 StPO. Auf die Gehorsamspflicht, die sich bereits aus dem Staatsverhältnis ableitet, fuhrt auch Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage (1925), S. 116 die Zeugenpflicht zurück. Eingehend hierzu auch Weiss, Duldungs- und Mitwirkungspflichten, S. 189 ff. 30 Vgl. bereits Birkmeyer, Deutsches Strafprozeßrecht (1898), S. 427; Stein/Jonas/Schuhmann, ZPO, Vor § 373 Rdn. 31. Trotz dieser begrifflichen Ungenauigkeit hat sich der Begriff der staatsbürgerlichen Zeugenpflicht in Rechtsprechung und Literatur weitgehend durchgesetzt. Allgemein zur Zeugenpflicht als sog. Grundpflicht Luchterhandt, Grundpflichten, S. 526 f.; Weiss, Duldungs- und Mitwirkungspflichten, S. 147 flf. Nach Häberle, WDStRL 41 (1983), 93 (Diskussionsbeitrag) läßt sich die Zeugenpflicht "durchaus auf Verfassungsebene" herleiten, und zwar "aus einer Verbindung von Rechtsstaatsprinzip und unterverfassungsgesetzlichem Recht". Luchterhandt, Grundpflichten, S. 567, und ihm folgend Bär, Zugriff auf Computerdaten, S. 372, sehen die Zeugenpflicht als ein von der "Ewigkeitsgarantie" des Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 GG erfaßtes, unaufhebbares und unverzichtbares Element des gerichtlichen Verfahrens im Veifassungsstaat des Grundgesetzes an. 31 Dies sind Personen, die unter diplomatischen Schutz fallen, vgl. §§18, 19 GVG. 32 Über gegenwärtige Tatsachen sagt der Zeuge aus, wenn er z.B. Auskunft über bestehende Tatfolgen, über die Zuverlässigkeit seines Wahrnehmungsvermögens oder über das Wiedererkennen einer ihm gegenübergestellten Person gibt. Demgegenüber

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

37

für die Entscheidung erheblich ist eine Tatsache, wenn sie den äußeren oder inneren Tatbestand oder einen Strafzumessungsfaktor feststellt. Mittelbar entscheidungserheblich sind alle Tatsachen, die als Indizien für die unmittelbar erheblichen Tatsachen in Betracht kommen. Hierzu gehören auch Tatsachen, die einen Schluß auf die Wertigkeit anderer Beweismittel und auch auf Erfahrungssätze zulassen. 34 Als Gegenstand des Zeugenbeweises ungeeignet sind daher Tatsachen, deren Vorliegen oder NichtVorliegen in keinerlei Zusammenhang mit einer entscheidungserheblichen Tatsache stehen. 35 So läßt z.B. die Beweistatsache, daß der Zeuge dem Beschuldigten die Tat zutraut, keinerlei Schlüsse zu, ob der Beschuldigte tatsächlich der Täter war oder nicht. Die in das Wissen des Zeugen gestellten Tatsachen können sich sowohl auf Ereignisse in der Außenwelt als auch auf innere Vorgänge in der Person des Zeugen beziehen. Gegenstand des Zeugenbeweises können somit auch die Beweggründe und Gefühle des Zeugen, wie z.B. Liebe, Haß oder Abneigung, sein. 36 Selbst Eindrücke, Gedanken und Meinungen sind dem Beweis zugängliche Tatsachen, allerdings nur "unter dem Gesichtspunkt ihrer Existenz, nicht aber ihrer Richtigkeit". 37 Entscheidungserheblich werden diese inneren Tatsachen insbesondere bei der Zeugenaussage des Geschädigten. So setzen einige Straftatbestände bestimmte innere Tatsachen des Geschädigten voraus, wie z.B. der Betrugstatbestand den Irrtum oder die Nötigung eine psychische Zwangslage. Darüber hinaus können innere Tatsachen des Geschädigten für die Frage der Strafzumessung Bedeutung erlangen. 38 Auch der sog. Zeuge vom Hörensagen ist unmittelbarer Zeuge. Gegenstand des Zeugenbeweises ist die Tatsache, daß der Zeuge bestimmte Wahrnehmungen über die Mitteilung einer anderen Person gemacht hat. Die innere Tatsache, daß der Zeuge den Informanten für glaubwürdig oder unglaubwürdig hält, kann dabei allenfalls als Indiz für die richterliche Glaubwürdigkeitsprüfung sieht Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Vor § 48 Rdn. 12, in dem Wiedererkennen eine Angabe über vergangene Tatsachen. Der Zeuge vollziehe hier als "Beweismittler" für das Gericht eine Augenscheinseinnahme. 33 Vgl. nur Otto, Strafrecht, B.T., § 51 ΠΙ 1; Schönke/Schröder/Cramer, StGB, § 263 Rdn. 8. 34 Hierzu auch RGSt 64, 432. 35 BGHSt 39, 251, 253. Zu dem für den Beweisantrag erforderlichen Konnex zwischen Beweistatsache und Beweismittel vgl. auch BGHSt 40, 3, 6 im Anschluß an Widmaier, NStZ 1993, 602 f. 36 Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 191. 37 KMR/Paulus, Vor § 48 Rdn. 20. So kann der Eindruck des Vernehmungsbeamten von dem Beschuldigten im Wege des Zeugenbeweises in das Verfahren eingeführt werden, vgl. Rückel, Probleme der Benennung und Befragung von Zeugen, S. 25. 38 Z.B. unter dem Gesichtspunkt der verschuldeten Auswirkungen der Tat, § 46 Abs. 2 StGB.

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.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

herangezogen werden. 39 A u f die umstrittene Frage, inwieweit die Vernehmung der polizeilichen Verhörspersonen i n das Strafverfahren eingeführt werden darf 4 0 , braucht i n diesem Zusammenhang nicht eingegangen zu werden; sie betrifft die formale Zeugenstellung der Verhörsperson nicht. 2. Abgrenzung zum Sachverständigen Hinsichtlich des Gegenstandes des Zeugenbeweises können sich Überschneidungen mit der Beweisperson des Sachverständigen ergeben. Aufgabe des Sachverständigen ist es nämlich nicht nur, dem Gericht eigene Sachkunde zu vermitteln, sondern auch, sachkundig über Wahrnehmungen zu berichten. 4 1 Insoweit gibt auch der Sachverständige Auskunft über die Wahrnehmung von Tatsachen. Entscheidendes Kriterium für die Abgrenzung des Zeugen von dem Sachverständigen ist der Anlaß der Wahrnehmung: Der Sachverständige macht seine sachkundigen Wahrnehmungen i m behördlichen Auftrag, der Zeuge, auch der sachverständige Zeuge, § 85 StPO, macht seine Wahrnehmungen ohne oder außerhalb eines behördlichen Auftrages. 42 III. Gegenstand der Zeugenaussage Von dem Gegenstand des Zeugenbeweises zu unterscheiden ist der Gegenstand der Zeugenaussage. Auch wenn es die Aufgabe des Zeugen ist, dem Gericht bei der Tatsachenfeststellung zu helfen, wäre es ein Trugschluß zu glauben, der Zeuge selbst sage über Tatsachen aus. Die Aussage des Zeugen ist immer nur die Wiedergabe einer - als zutreffend behaupteten - Erinnerung an die subjektive Wahrnehmung eines tatsächlichen Geschehens. Dies ist unbestritten seit der Erkenntnis, daß jede bewußte Sinneswahrnehmung ebenso wie die Wiedergabe ihrer Ergebnisse auf denkender Tätigkeit beruht. 4 3 Die Wiedergabe der Erinnerung an eine Wahrnehmung ist damit inhaltlich keine Tatsache, sondern eine Schlußfolgerung. Wer dies bestreitet und daran festhält, daß die beweiserhebliche Tatsache der Inhalt der Zeugenaussage sein müsse, steht vor dem unlösbaren Problem, den Inhalt der Zeugenaussage nach der zulässigen Mitteilung von Tatsachen und der unzulässigen Mitteilung von Schlußfolgerungen und insbesondere

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Vgl. nur Rücket, Probleme der Benennung und Befragung von Zeugen, S. 25 Vgl. hierzu den Überblick über den Streitstand bei Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 527flf. sowie Geppert, Jura 1991, 538 flf. 41 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 27 Rdn. 1. 42 Eingehend Geppert, Jura 1991, 81 f.; vgl. auch BGH, StV 1995, 57; Osenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 506; Schlüchtern Strafverfahren, Rdn. 480 f. 43 Vgl. hierzu nur Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 195; Hamm, StV 1993, 457; Kühne, Strafprozeßlehre, Rdn. 461. 40

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

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Werturteilen zu unterteilen. 44 Dies ist bereits bei alltäglichen Mitteilungen, wie z.B. "es war hell" oder "er schrie laut", nicht möglich. Daß diese Unterscheidung aber nicht nur objektiv unmöglich, sondern auch müßig ist, zeigt sich daran, daß die Existenz einer Schlußfolgerung unstreitig eine beweiserhebliche Tatsache sein kann. Sagt der Zeuge z.B. aus, daß er das Gefühl hatte, der Beschuldigte habe Schmerzen gehabt, so ist der Inhalt dieser Aussage unstreitig ein Werturteil. Der Umstand, daß der Zeuge dieses Gefühl hatte, ist dagegen eine Tatsache. 45 Wenn aber anerkannt wird, daß die Wiedergabe einer währgenommenen Tatsache stets eine Schlußfolgerung ist und daß die Existenz einer Schlußfolgerung selbst wiederum eine Tatsache ist, dann wird klar, daß der Gegenstand der Zeugenaussage durch den Begriff der Tatsachenbehauptung keinerlei Konturen erhält. 46 Der zulässige Gegenstand des Zeugenaussage bestimmt sich allein nach der Funktion des Zeugen als Beweismittel. 47 Der Zeuge ist zur Aussage verpflichtet, damit sich die Strafverfolgungsorgane ein Bild über das Vorliegen oder Nichtvorliegen entscheidungserheblicher Tatsachen machen können. Durch die Aussagepflicht des Zeugen soll zum einen die subjektive Wahrnehmung des Zeugen über die beweiserhebliche Tatsache festgestellt werden (Aussage zur Sache). Die behauptete subjektive Wahrnehmung ist aber immer nur ein Indiz für das Vorliegen der Beweistatsache.48 Deshalb sollen durch die Zeugenaussage zugleich Informationen über die Beweisstärke dieses Indizes erhoben werden, sog. Glaubwürdigkeitsfragen, vgl. § 68 Abs. 4 StPO.

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Vgl. hierzu auch Widmaier, NStZ 1993, 603 (Das Aufspalten einer Zeugenaussage nach Wahrnehmungs- und Schlußfolgerungsbestandteilen ist unzulässig). 45 Zur Sachwidrigkeit der Differenzierung zwischen sog. äußeren und inneren Tatsachen bei den Aussagedelikten, §§ 153 ff. StGB, vgl. Otto, Grundkurs Strafrecht, B.T., § 97 Π 1 b, m.w.N. 46 Anders die herrschende Meinung, vgl. nur SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 15 ff. 47 Hierzu bereits Henkel, Strafverfahrensrecht, § 45 I. 48 Ob eine Information ein Indiz ist oder nicht, entscheidet sich allein danach, ob sie die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der Beweistatsache verändert. Der Einfluß auf die Wahrscheinlichkeit hängt davon ab, ob die Information nach der Lebenserfahrung häufiger vorliegt, wenn die Haupttatsache eingetreten ist als wenn sie nicht eingetreten ist. Die abstrakte Beweisstärke des Indizes bestimmt sich also danach, wieviel mal häufiger bzw. seltener das Indiz im einen oder anderen Fall auftritt. Eine Information ist kein Indiz, wenn sie in beiden Fällen gleich häufig vorliegt. Vgl. Schneider, Nonverbale Zeugnisse, S. 18 f.

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1 .Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

C. Vereinbarkeit mit anderen Verfahrensrollen /. Beschuldigter Auch die Angaben des Beschuldigten können zu Beweiszwecken in dem Strafverfahren verwertet werden. Insoweit ist der Beschuldigte ebenso wie der Zeuge ein persönliches Beweismittel. Dennoch ist die Rolle des Beschuldigten mit der Stellung des Zeugen unvereinbar. 49 Dieser Grundsatz des deutschen Strafprozeßrechts findet seinen Ausdruck insbesondere in der unterschiedlichen Regelung der Vernehmung des Zeugen und des Beschuldigten im 6. bzw. 10. Abschnitt des 1. Buches der StPO. 50 Während es dem Beschuldigten freisteht, sich zu äußern (§ 136 Abs.l S. 2 StPO), und Zwangsmaßnahmen ebenso unzulässig sind (§ 136 Abs. 1 StPO) wie seine Vereidigung, ist der Zeuge grundsätzlich zu einer wahrheitsgemäßen Aussage und zur Eidesleistung verpflichtet (§ 70 StPO). Eine Falschaussage ist für den Zeugen, anders als für den Beschuldigten, strafbar, §§ 153 ff StGB. Von daher ist die Trennung der Vernehmung des Zeugen und des Beschuldigten auch Ausfluß des Rechtssatzes "nemo tenetur se ipsum accusare". 51 Die gleichen Grundsätze gelten, wenn Strafverfahren gegen mehrere Beschuldigte von einer Strafverfolgungsbehörde miteinander verbunden werden. 5 2 Auch hier steht die Beschuldigtenrolle einer Vernehmung als Zeuge in dem (verbundenen) Verfahren entgegen. Entfallt dagegen die Verbindung, weil das Verfahren gegen einen der Mitbeschuldigten abgetrennt, eingestellt bzw. durch Freispruch oder Verurteilung beendet wurde, so kann dieser ehe-

49 Unbestrittene Rechtsansicht, vgl. nur RGSt 6, 279, 280 ff; BGHSt 10, 8, 10; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 181 m.w.N.; KK/Peichen, Vor § 48 Rdn. 6; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Vor § 48, Rdn. 3. - Anders dagegen im anglo-amerikanischen Rechtskreis, vgl. Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 505. 50 Vgl. femer § 243 Abs. 1 S. 2 und § 244 Abs. 1 StPO, in denen fur die Hauptverhandlung klar zwischen der Vernehmung des Angeklagten zur Sache und der Beweisaufnahme unterschieden wird. Hierzu Rogali , Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 32. 51 Zur Herleitung dieses Rechtssatzes eingehend BVerfGE 56, 37 ff, 42 ff; Rogali , Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 67 ff, 104 ff. 52 Diese Möglichkeit ergibt sich für das gerichtliche Verfahren aus §§2 ff, 13 Abs. 2, 237 StPO. Im Ermittlungsverfahren obliegt es allein der Staatsanwaltschaft aufgrund ihrer umfassenden Sachleitungskompetenz, zusammenhängende Strafsachen zu verbinden, vgl. BGH, NStZ 1985, 419 f.; BGH, MDR 1987, 249. Der Umstand, daß die Polizei gegen mehrere Beschuldigte gemeinsam ermittelt, begründet dagegen noch keine derartige Verbindung, BGHSt 34, 138, 141; 34, 215, 217.

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

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mais Mitbeschuldigte gegen den oder die anderen Mitbeschuldigten als Zeuge vernommen werden. 53 In der Literatur wird zum Teil versucht, die Rolle des Mitbeschuldigten unabhängig vom formalen Verfahrensstand danach zu bestimmen, ob der Betroffene der Tat verdächtigt w i r d 5 4 oder ob gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet ist. 5 5 Durch diese Ausdehnung des (Mit-) Beschuldigtenbegriffs soll der Konflikt zwischen der Rolle des Tatverdächtigen bzw. Beschuldigten und der Rolle des Zeugen aufgelöst werden. Abgesehen davon, daß ihr dies nur begrenzt gelingt 5 6 , ist dieser Ansicht entgegenzuhalten, daß eine materielle Bestimmung der Beschuldigtenrolle i m Widerspruch zur Gesetzessystematik steht. Die StPO geht in den § 60 Nr. 2, § 55 sowie § 97 Abs. 2 S. 3 davon aus, daß ein Tatverdächtiger bzw. ein in einem anderen Verfahren Beschuldigter Zeuge sein kann. 5 7 Die verfahrensrechtliche Mischfigur eines Nichtangeklagten, der als Beschuldigter zu vernehmen ist, oder eines Mitangeklagten, der als Zeuge zu vernehmen i s t 5 8 , ist der StPO fremd. 5 9

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Sog. prozessuale Betrachtungsweise, vgl. BGHSt 10, 8, 11; 10, 186, 187 ff; 18, 238, 240; 27, 139, 141; BGH, JR 1969, 148 f.; BGH, MDR 1992, 791 ff; Alsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 182 f.; Geppert, Jura 1991, 85; Grünwald, KlugFS, S. 498; KK/Peichen, Vor § 48 Rdn. 7; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Vor § 48 Rdn. 21; KMR/Paulus, § 2 Rdn. 11; LR/Dahs, Vor § 48 Rdn. 17 ff; Schöneborn, ZStW 86 (1974), 927 ff. 54 Sog. "materieller" Mitbeschuldigtenbegriff, vgl. Bruns, Schmidt-Leichner-FS, S. 7; Dünnebier, JR 1975, 3; v. Gerlach, JR 1969, 149; Hanack, JR 1977, 435 f ; Lenckner, Peters-FS, S. 336 ff; Lüderssen, wistra 1983, 232; Peters, 46. Deutscher Juristentag (1966), Bd. I, Teil 3 A, S. 136 ff; ders, Strafprozeß, S. 346. 55 Sog. "formell-materieller" Mitbeschuldigtenbegriff, vgl. Beulke, Strafprozeßrecht, Rdn. 185; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 203; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1227; Prittwitz, StV 1984, 362 l\Roxin, Strafverfahrensrecht, § 26 Rdn. 5; Schlüchter, Strafverfahren, Rdn. 479. 56 Gerade die als anstößig angesehene Trennung von Verfahren mit dem Ziel, den einen Tatverdächtigen als Zeugen gegen den anderen zu gewinnen, wird hierdurch nicht unterbunden, weil der rechtskräftig Verurteilte oder sonst aus der Strafverfolgung ausgeschiedene auch nach dem materiellen Beschuldigtenbegriff Zeuge sein kann, vgl. hierzu Grünwald, Klug-FS, S. 497 f. 57 Dies erkennt auch Peters, Strafprozeß, S. 346, der jedoch meint, § 60 Nr. 2 StPO sei "infolge Rechtsentwicklung hinfallig geworden". 58 Hier ist schon nicht einzusehen, warum der Tatverdächtige, der zu seiner Vernehmung von weit her angereist ist, keinen Anspruch auf Zeugenentschädigung haben soll, andererseits aber bei Ungehorsam keinerlei Sanktionen zu furchten braucht, sei es als Zeuge, § 51 Abs. 1 StPO, oder als Angeklagter, § 230 Abs. 2 StPO. 59 Zur These vom "Verdächtigen" als selbständiger Auskunftsperson im Strafprozeß vgl. vor allem Bringewat, JZ 1981, 289 ff; Bruns, Schmidt-Leichner-FS, S. 1 ff; Helgerth, Der "Verdächtige" als schweigeberechtigte Auskunftsperson, S. 88 ff; Mon-

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.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

Einer Ausweitung des Beschuldigtenbegriffs über die Grenzen des Gesetzes hinaus bedarf es aber auch deshalb nicht, weil der Konflikt des Betroffenen zwischen seiner Selbstbelastungsfreiheit als Tatverdächtiger bzw. Beschuldigter und der Wahrheitspflicht als Zeuge durch das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO und das Vereidigungsverbot des § 60 Nr. 2 StPO hinreichend berücksichtigt w i r d . 6 0 Meint man hingegen, der Tatverdächtige sei umfassend vor der Überforderung zu schützen, "neben seiner persönlichen Verstrickung auch noch als Zeuge i n die Pflicht genommen zu werden" 6 1 , so wird der Tatverdächtige i n einem Bereich geschützt, i n dem andere Zeugen keinen Schutz erhalten. Von dem Opfer eines Gewaltverbrechens wird selbstverständlich erwartet, daß es der Überforderung standhält, "neben seiner persönlichen Betroffenheit als Opfer auch noch als Zeuge i n die Pflicht genommen zu werden". Die verbleibende Gefahr, daß der Tatverdächtige seine Vernehmung dazu nutzt, sich durch Belastung des Angeklagten selbst zu entlasten, besteht unabhängig davon, ob er als Zeuge oder Mitangeklagter vernommen wird. Hier nun die Zeugenrolle des Tatverdächtigen unter Hinweis auf die Gefahr von Fehlurteilen ausschließen zu wollen, hieße nicht nur, die gerichtliche Aufklärungspflicht i n einem wesentlichen Bereich unangemessen zu beschränken, sondern auch, dem Angeklagten den oft entscheidenden Entlastungsbeweis zu nehmen. Die Gefahr einer falschen Bezichtigung des Angeklagten durch einen tatverdächtigen Zeugen kann das Gericht nicht aus der Verantwortung entlassen, umfassend Beweis zu erheben und dessen Ergebnis zu würdigen, §§ 244 Abs. 2, 261 StPO. Keine Frage der Zulässigkeit der Verfahrenstrennung, sondern der Zulässigkeit der Zeugenvernehmung verbirgt sich hinter den Fällen des sog. Rollen-

tertbruck, ZStW 89 (1977), 878 ff; kritisch dagegen Rogali , NJW 1978, 2535 f. Zur Notwendigkeit einer Gesetzesänderung vgl. Grünwald, Klug-FS, S. 504 f.; Rosenmeier, Die Verbindung von Strafsachen, S. 163 ff ; Roxi η, Strafverfahrensrecht, § 26 Rdn. 6. 60 Mit der Ausgestaltung des § 55 StPO ist auch dem "nemo-tenetur-Prinzip" Rechnung getragen, denn der Zeuge kann sich auf § 55 StPO berufen, ohne die Umstände, welche die Gefahr eigener Strafverfolgung begründen, glaubhaft machen zu müssen, vgl. BGH, StV 1987, 328; BGH, StV 1986, 282; KK/Pelchen y § 56 Rdn. 4; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 56 Rdn. 2. In einem späteren Strafverfahren darf das Gericht keine nachteiligen Schlüsse aus dem Schweigen des Tatverdächtigen als Zeuge einesfrüheren Verfahrens ziehen, BGHSt 38, 302, 303 ff. Eine belastende Aussage des Zeugen ohne vorherigen gerichtlichen Hinweis auf § 55 StPO unterliegt einem Verwertungsverbot in einem späteren, gegen ihn gerichteten Straf- bzw. Wiederaufnahmeverfahren, vgl. BayObLG, NJW 1984, 1246 f.; Älsberg/Nüse/Meyer, Beweisantrag, S. 489 Fn. 458 a.E.; Grünwald, JZ 1966, 499 Fn. 97; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Rdn. 17; KMR/Paulus, § 55 Rdn. 19. 61

So z.B. Jung, Straffreiheit für den Kronzeugen?, S. 73.

§ 55

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

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tausches, d.h. der vorübergehenden Trennung verbundener Verfahren zu dem Zweck, den einen Beschuldigten in dem Verfahren gegen den anderen als Zeuge zu vernehmen. Betrifft die Aussage des Zeugen seinen eigenen Tatvorwurf, so hat der Betroffene - nachdem die Verfahren wieder miteinander verbunden sind - in eigener Sache ausgesagt, und zwar über seinen Tatvorwurf vor dem für die Verfolgung zuständigen Strafverfolgungsorgan. Hier nutzt die Strafverfolgungsbehörde mit der vorübergehenden Verfahrenstrennung eine prozessuale Gestaltungsmöglichkeit, um zu erreichen, was zu erreichen ihr untersagt ist, nämlich einen Beschuldigten in eigener Sache als Zeuge zu vernehmen. Dieser Mißbrauch prozessualer Gestaltungsmöglichkeiten begründet die Unzulässigkeit der Zeugenvernehmung, denn hier wird das Schweigerecht des Beschuldigten als elementares Prinzip des Strafverfahrens verletzt. In der Hauptverhandlung verbietet sich der sog. Rollentausch darüber hinaus, weil hierdurch das Anwesenheitsgebot des § 230 StPO umgangen würde. IL Sonstige Verfahrensbeteiligte Im Gegensatz zur Beschuldigtemolle schließen andere Verfahrensrollen die Zeugenstellung grundsätzlich nicht aus. Im Konfliktfall werden sie von der Zeugenrolle verdrängt, so daß auch der Richter, Staatsanwalt, Verteidiger und Nebenkläger als Zeugen vernommen werden können, soweit es die Sachverhaltsaufklärung gebietet. Auf die Einzelheiten muß daher im Zusammenhang mit der Bestimmung der Zeugemolle nicht eingegangen werden. 62 Eine Ausnahme gilt für die Stellung des Privatklägers. Da er selbst als Kläger auftritt, kann der Privatkläger nicht zugleich Zeuge sein. Er ist aber in seiner Verfahrensrolle als Privatkläger zur Abgabe von Erklärungen befugt. 63 D. Fazit Zeuge i m Sinne des Strafverfahrensrechts ist eine natürliche Person, die nicht Beschuldigter des Verfahrens ist und deren Wahrnehmung über Tatsachen aufgrund eines Willensaktes des zuständigen Strafverfolgungsorganes nach den Vorschriften über den Zeugenbeweis in das Verfahren eingeführt werden soll. Zeugenfähig im Sinne des Strafverfahrensrechts kann demnach jeder Mensch sein, der in der Lage ist, Tatsachen sinnlich wahrzunehmen und hierüber Auskunft zu geben. 64

62 Insoweit sei auf die einschlägige Kommentarliteratur verwiesen, vgl. nur LR/Dahs, Vor § 48 Rdn. 10-16 sowie 21-34. 63 Vgl. jeweils mit Nachweisen Geppert, Jura 1991, 88; Kleinknecht/Meyer-

Goßner, Vor § 374 Rdn. 6; a.A KMR/Paulus, 64

Vor § 48 Rdn. 37 flf.

BGHSt 2, 269 f.; Geppert, Jura 1991, 81; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Vor § 48 Rdn. 13; LR/Dahs, Vor § 48 Rdn. 9. - Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 140

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.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

2. Kapitel: Bedeutung und Gefahren des Zeugenbeweises A. Praktische Bedeutung Innerhalb der gesetzlichen Beweismittel kommt dem Zeugen aufgrund seiner Bedeutung für die Strafverfahrenspraxis eine herausragende Stellung zu. 6 5 Die Sachverhaltsaufklärung ist darauf gerichtet, als Grundlage einer das Verfahren abschließenden Entscheidung, Vorgänge der Vergangenheit authentisch zu reproduzieren. Soziale Vorgänge sind grundsätzlich einer unmittelbaren Kontrolle durch den Staat entzogen. Von daher fehlen im Regelfall unmittelbare Informationen über derartige Vorgänge. Die strafrechtlich relevanten Lebenssachverhalte werden zudem nur bruchstückhaft durch Schriftstücke (Urkundenbeweis) und andere Beweisgegenstände (Augenscheinsbeweis) konserviert. 66 Als soziale Vorgänge können sie daher meist nicht ohne die Aussagen der beteiligten Personen vollständig reproduziert werden. Dies gilt insbesondere für den Nachweis des subjektiven Tatbestandes. Das Vorliegen des subjektiven Tatbestandes läßt sich allein durch Sachbeweise kaum klären. Der Aussage von Tatzeugen kommt daher - neben der Aussage des Beschuldigten - entscheidende Bedeutung bei der Frage zu, ob der Beschuldigte die ihm vorgeworfene Tat vorsätzlich begangen hat, d.h. ob er die Tatumstände in ihrem sozialen Sinngehalt erkannt hat und mit Tatverwirklichungswillen handelte und ob er mit seinem Handeln bestimmte vom Gesetz vorausgesetzte Absichten verfolgte. Aber auch die Erfüllung des objektiven Tatbestandes ist häufig an subjektive Umstände geknüpft. Praktisch relevant wird dies z.B. bei der Aufklärung von Sexualdelikten. Hier können zwar rechtsmedizinische Befunde wichtige Hinweise auf den tatsächlichen Geschehensablauf geben. Über die Frage des entgegenstehenden Willens des Opfers können sie jedoch nur selten eindeutig Aufschluß geben. 67 Ähnliche Probleme ergeben sich beim Nachweis des Betrugstatbestandes im Hinblick auf die Merkmale der Täuschung und des Irrtums. Die praktische Bedeutung gerade des Zeugen als Auskunftsperson ergibt sich hierbei daraus, daß der Beschul-

hält Kinder unter 5 Jahren nur in Ausnahmefallen fur aussagetüchtig, ähnlich Gley, StV 1987, 405 f. Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 911, geht von einem Mindestalter von etwa 3 Jahren aus. 65 Fgl. nur BVerfGE 33, 367, 374 f.; 38, 105, 116; BGHSt 32, 115, 127, sowie Bender/Nack, Tatsachenfeststellung I, S. X; Geppert, Jura 1991, 80; Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, 2. Bd., S. 49 ff; Schmidt, Die Rechte des Zeugen, S. 9, 12; Schneider, Nonverbale Zeugnisse, S. 1. 6 6

Eisenberg, JZ 1984, 912.

67

Vgl. hierzu nur Schmitt, Beweiswürdigung, S. 364 f.

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

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digte - anders als der Zeuge - zur Reproduktion in der Vergangenheit liegender Geschehnisse nicht verpflichtet ist. Besondere Bedeutung erlangt der Zeugenbeweis bei der Aufklärung von Straftaten krimineller Organisationen. Deren konspirativem und nach außen abgeschottetem Vorgehen entsprechend ist es für Strafverfolgungsbehörden kaum möglich, die kriminellen Strukturen, Hierarchien und die Tatbeiträge einzelner Mitglieder einer solchen Organisation aufzudecken. Sachbeweise sind entweder nicht vorhanden oder erlauben keine Rückschlüsse auf die "Hintermänner". Einblicke in die kriminelle Organisation kann nur der Zeugenbeweis mittels eines "Insiders" liefern. Auf der Grundlage seiner Aussage können dann auch aussagekräftige Sachbeweise gewonnen werden. 68 Darüber hinaus ist der Zeuge ein bequemes Beweismittel. 69 Er liefert Interpretationen, die beim Sachbeweis erst aus einer langen Kette von Indizien erschlossen werden müssen. 70 Der Sachbeweis erfordert hier ein mühsames Verknüpfen einzelner Teile (Indizien), deren Verbindung zueinander und zu dem aufzuklärenden Sachverhalt eingehender Begründung bedarf. 71 Der Sachbeweis ist in der Regel wesentlich arbeitsintensiver und kostspieliger zu erlangen als eine Zeugenaussage. In der praktischen Ermittlungstätigkeit ist der Vorrang des Zeugenbeweises bereits durch die begrenzten Kapazitäten der Polizei bedingt. 72 Die zentrale Bedeutung des Zeugen als Beweismittel wird insbesondere für das Ermittlungsverfahren durch empirische Untersuchungen belegt. Danach wird in 90 % aller Fälle der Anfangsverdacht durch die Anzeige eines Bürgers, und damit eines potentiellen Zeugen, begründet. 73 In 70 % der Fälle erstattet das Opfer die Anzeige. 74 Im Bereich der Vermögensdelikte, der 3/4 der Gesamtkriminalität ausmacht 75 , beruhen sogar mehr als 95 % der Ermitt68

Freiberg/Thamm, Das Mafia-Syndrom, S. 229. Vgl. auch Plewka, Zeugenschutz, S. 47. 69 Kähne, Strafprozeßlehre, Rdn. 503. 70 Hierzu Kube/Leineweber, Polizeibeamte als Zeugen und Sachverständige, S. 5. Zur beschränkten Aussagekraft des Sachbeweises anschaulich Tondorf \ StV 1993, 40 f. 71 Zur Kritik an den Ressentiments der Gerichte gegenüber dem Sachbeweis vgl. Fot h/Kar eher, NStZ 1989, 166 flf. 72 Vgl. Schmitz, Tatgeschehen, Zeugen und Polizei, S. 18 flf. 73 Für die Deliktsbereiche Einbruchsdiebstahl (96,4 %, S. 127), Raub (96,9 %, S. 191), Vergewaltigung (97,7 %, S. 218) und Betrug (96,4 %, S. 238) eingehend Dolling, Polizeiliche Ermittlungstätigkeit, S. 258 f. 74 Vgl. Kerner, Rundbrief Soziale Arbeit und Strafrecht, Sonderheft Nr. 17 (1992), S. 5. 75 Polizeiliche Kriminalstatistik 1994, S. 22 f.: Diebstahl: 59,1%; Betrug: 9,0%; Sachbeschädigung: 8,9%; sonstige Straftaten: 22,9%.

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.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

lungsverfahren auf der Anzeige eines potentiellen Zeugen. 76 Die Mitwirkung von Auskunftspersonen ist jedoch nicht nur für die Einleitung des Ermittlungsverfahrens von entscheidender Bedeutung, sondern trägt auch maßgeblich zu dessen erfolgreichem Abschluß, d.h. zur Ermittlung eines der Tat zur Anklageerhebung hinreichend Verdächtigen, bei. In mehr als 80 % der Raub-, Vergewaltigungs- und Betrugsfälle und i n mehr als der Hälfte der Einbruchsdiebstähle wird der Tatverdächtige durch die Angaben des Opfers oder sonstiger Zeugen ermittelt. 7 7 In der Untersuchung von konnte dagegen nur i n 10 von 1414 analysierten Fällen ein Tatverdächtiger allein mit Hilfe von Tatspuren ermittelt werden. 7 8 In der Hauptverhandlung stehen aufgrund der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungstätigkeit sowie des Verteidigungsvorbringens des Angeklagten regelmäßig weitere Beweismittel neben der Aussage des Anzeigeerstatters und des Angeklagten zur Verfügung. Dennoch dominiert auch hier der Zeugenbeweis. 79 Nach einer Studie des Instituts für Rechtstatsachenforschung der Universität Konstanz sollen Zeugenaussagen bei 95 % der Strafurteile den Ausschlag geben. 80 B. Gefahren des Zeugenbeweises "Die Beweiskraft des Zeugnisses beruht auf der allgemeinen Präsumtion der Wahrhaftigkeit des Menschen." 81 Diese Erkenntnis ist die Erklärung für den merkwürdigen Kontrast, der zwischen der überragenden forensischen Bedeutung des Zeugenbeweises und seiner funktionalen Bedeutung als Beweismittel

76

Hierzu Heinz/Koch in Kube/Störzer/Timm, Kriminalistik Bd. 1,5/125. Vgl. hierzu die Untersuchung von Dölling, Polizeiliche Ermittlungstätigkeit, S. 258 f. Lisken, ZRP 1993, 124 geht sogar davon aus, daß 90 % der Ermittlungserfolge auf der Mitwirkung von Auskunftspersonen beruhen. 7 8 Dölling, Polizeiliche Ermittlungstätigkeit, S. 259. Anschaulich dokumentiert den Vorrang des Zeugenbeweises gegenüber dem Sachbeweis zur Tataufklärung Schmitz, Tatgeschehen, Zeugen und Polizei, S. 133 flf. Auf die Frage, "Was hat Ihnen in der Ermittlung mehr geholfen ?" wurde in 63, 8 % aller Fälle angegeben: "alleine der Personalbeweis", während nur in 6,1 % der Fälle alleine der Sachbeweis weiterhalf 79 Vgl. hierzu Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 52flf. - Zu der polizeilichen Einschätzung der Bedeutung des Zeugenbeweises im Hauptverfahren vgl. Schmitz, Tatgeschehen, Zeugen und Polizei, S. 137 f.: Auf die Frage, "Was hat ihrer Meinung nach den größeren Beweiswert vor Gericht? Sachbeweis, Aussagen, beides gleichbedeutend, keines von beiden" gaben an bei Diebstahl Sachbeweis 3,3 %, Aussagen 69, 4 %; bei gefahrlicher Körperverletzung Sachbeweis 0%, Aussagen 100 %; bei Betrug Sachbeweis 41, 7 %, Aussagen 20, 5 %; bei Raub Sachbeweis 3 %, Aussagen 65, 4 %. 80 Zitiert nach Unger , NJW 1984, 417. 81 Zachariae, Handbuch des Strafprocesses, Bd. 2, S. 440. 77

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

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steht. "Die Zeugenaussage ist das praktisch wichtigste und zugleich mit Abstand schlechteste Beweismittel." 82 Eine fehlerfreie Zeugenaussage ist die Ausnahme, nicht die Regel. 8 3 Für das Problem der Fehlerhaftigkeit einer Zeugenaussage spielt die bewußte L ü g e 8 4 gegenüber unbewußten Verfälschungen eine untergeordnete Rolle, wenngleich der Übergang vom Irrtum zur Lüge fließend i s t . 8 5 I. Unbewußte Tatsachenverfälschung

(Irrtum)

Die Gefahr einer irrtümlich falschen Aussage liegt bereits i n der allgemeinen Unzulänglichkeit menschlichen Erkennens absoluter Wahrheit und i n der Subjektivität des Zeugenbeweises begründet. 86 Hierzu hat bereits das Reichsgericht i m Jahre 1913 festgestellt: "Der Zeuge hat i n der Regel über Vorgänge zu berichten, die abgeschlossen i n der Vergangenheit liegen. Er gibt aber nicht die Vorgänge selbst wieder, sondern nur die Wahrnehmungen, die er über sie gemacht hat. Hierbei kommt es ganz wesentlich auf das Auffassungsvermögen, das Urteil und die Gedächtnisstärke des Zeugen an, sowie auf seine Fähigkeit, streng sachlich zu berichten, auf seine persönliche Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit u. dgl. Das Ergebnis der Wahrnehmung und ihre Wiedergabe sind m.a.W. regelmäßig durchaus persönlicher A r t . " 8 7 Die Gefahr einer verfälschten Reproduktion des tatsächlichen Geschehens durch den Zeugen beruht auf einer Kette von Bedingungen, die i m einzelnen

82

Vgl. Egon Schneider y Beweis und Beweiswürdigung, Rdn. 872 ff; ähnlich Schellhammer, Zivilprozeß, Rdn. 628;' Stein/Jonas/Schumann, ZPO, Vor § 373 Rdn. 21. Noch schärfer Bruns, Zivilprozeßrecht, S. 278: Die Zeugenaussage ist "das geschwätzigste, aber unzuverlässigste Beweismittel". Salditi , StV 1993, 445, spricht von bestürzenden Erkenntnissen "über die Fehlerhaftigkeit des Zeugenbeweises, ja über die naturgesetzliche Neigung der Menschen, den Gegenstand der Erinnerung zu verändern." 83 Stern, ZStW 22, 327. 84 Verurteilungen (mit Einstellungen) 1993: Falsche uneidliche Aussage, § 153 StGB: 3701; Meineid, § 154 StGB: 576, vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, S. 20. Bereits 1927 schätze der Reichsjustizminister Emminger, daß die tatsächlichen Meineidsfalle 20 mal über den abgeurteilten Fällen liege, vgl. hierzu Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, S. 52. 85 Bender/Nack, Tatsachenfeststellung I, Rdn. 1. 86 RGSt 66, 164; BGH, NJW 1951, 83, 122. 87 RGSt 47, 100, 104 f.

48

.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

noch nicht eindeutig geklärt sind und die hier nur i m Rahmen eines kurzen Überblickes aufgezeigt werden können. 8 8 1. Wahrnehmung Wahrnehmen ist das sinnhafte Verarbeiten eines empfundenen Reizes. 89 Wahrnehmung ist daher immer Interpretation. Der Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen sind zum einen physiologische Grenzen gesetzt. Die menschlichen Sinnesorgane sind nur in begrenztem Umfang in der Lage, Reize "zu empfinden". So können plötzlich ablaufende Ereignisse, wie z.B. ein Verkehrsunfall oder ein Tumult nur bruchstückhaft wahrgenommen werden. 9 0 Auch zum Abschätzen von Geschwindigkeiten ist das Auge ungeeignet. 91 Geräusche bestimmter Frequenzen und insbesondere Stimmen können vom menschliche Ohr nur bedingt lokalisiert werden. Die menschlichen Sinnesorgane sind zudem sehr begrenzt i n der Lage, mehrere Sinneseindrücke gleichzeitig aufzunehmen. 92 Diese begrenzte Simultankapazität des Gehirns führt dazu, daß die Intensität, mit der ein neuer Reiz empfunden wird abnimmt, je stärker ein anderer Reiz empfunden wird, oder vereinfacht ausgedrückt: "wer gut sieht, hört schlecht" 93 . Den Zeugen, der alles gesehen und gehört hat, gibt es nicht, auch wenn er i n der Praxis gern gesehen und häufig anzutreffen ist. Zum anderen steht die Struktur menschlicher Wahrnehmung einer authentischen Erfassung des tatsächlichen Geschehens i m Wege. Wahrnehmungen werden "gemacht", indem Reizempfindungen in ein bereits bestehendes kognitives System eingeordnet werden. U m die Vielzahl von äußeren Reizen wahrnehmen zu können, arbeitet das menschliche Gehirn mit Schemata, in denen die Erfahrung mit typischen, immer wiederkehrenden Geschehnissen gespeichert ist. Von der Zuordnung eines Reizes zu einem individuellen Schema hängt es ab, welche Details eines komplexen Geschehens überhaupt wahrgenommen werden. Darüber hinaus bewirkt das "Verorten" eines Reizes in einem Schema, daß bruchstückhafte Beobachtungen zu einem sinnvollen

88 Zum Beweiswert der Zeugenaussage vgl. Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage; Bender/Nack, Tatsachenfeststellung; Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 862 ff; Gley, StV 1987, 403; Kühne, NStZ 1985, 252; Schmitt, Beweiswürdigung, S. 315ff. ; Egon Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rdn. 917 ff. 89 Eingehend hierzu Täschner, NStZ 1993, 323. 90 Schmitt, Beweiswürdigung, S. 318 m. Fn. 25. 91 Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 867 ff. Allgemein zur Unzuverlässigkeit von Schätzungen Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 60. 92 Vgl. hierzu Kühne, NStZ 1985, 253; sowie mit eingehenden Nachweisen Schmitt, Beweiswürdigung, S. 318. 93 Bender/Nack, Tatsachenfeststellung I, Rdn. 49.

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

49

Ganzen geordnet werden. 94 Wahrnehmungslücken werden durch nachträgliche Schlüsse, Erfahrungen und Erwartungen, die sich an dem Schema orientieren, dem die Empfindung zugeordnet wird, ausgefüllt. 95 2. Erinnerung Wahrnehmungen werden im Gedächtnis gespeichert und bei der Erinnerung aus dem Gedächtnisspeicher abgerufen. Erinnert werden können dabei nur solche Wahrnehmungen, die vom Kurzzeitgedächtnis nach spätestens 30 Sekunden in das Langzeitgedächtnis übernommen wurden. 96 Da der Zeuge über das, was er vergessen hat, keine Aussage machen kann, erscheint die fehlende Erinnerung unter dem Gesichtspunkt des Beweiswertes der Zeugenaussage unproblematisch. Diese trifft jedoch nicht zu, denn der Zeuge wird sich seiner mangelnden Erinnerungsleistung häufig gar nicht bewußt. Das menschliche Gedächtnis ist seiner Struktur nach geradezu darauf angelegt, Erinnerungslücken auszufüllen bzw. noch vorhandene Wahrnehmungen umzudeuten. Während es sich bei den Wahrnehmungsfehlern also um Verfälschungen beim "Abspeichern" der Information handelt, beruhen Erinnerungsfehler auf unbewußten Manipulationen während des "Abruf'-Vorganges. a) Vergessen und Verdrängen Nimmt das Gehirn neue Eindrücke auf und verwertet sie, wird Vergangenes aus dem "Gedächtnisspeicher gelöscht". Nach einer Woche sollen nur noch 10 % der Wahrnehmungen wiedergegeben werden können. 97 Erste entscheidende Weichenstellung für ein späteres Erinnern ist, wie bereits erwähnt, ob die Wahrnehmung über das Kurzzeitgedächtnis hinaus erhalten blieb und in dem Langzeitgedächtnis abgespeichert wurde. Wahrnehmungen, die über das Kurzzeitgedächtnis nicht hinaus gelangen, können nicht erinnert werden. Viele Verhaltensweisen des Alltags sind bis zur Gewohnheit eingeübt, so daß sie unbewußt, d.h. ohne Übernahme in das Langzeitgedächtnis, stattfinden. Das Absperren der Haustür, die Lenkbewegungen in einer gewohnten Verkehrssituation etc. werden grundsätzlich nicht in das Langzeitgedächtnis aufgenommen und können deshalb nicht erinnert werden. Sagt ein Zeuge den-

94

Schmitt, Beweiswürdigung, S. 318 m. Fn. 26. Bender/Nack, Tatsachenfeststellung I, Rdn. 38; Schmitt, Beweiswürdigung, S. 318 m. Fn. 27. Vgl. hierzu auch das Beispiel bei Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 872: Sieht der Beobachter einer Kampfsituation an der Hand des Angreifers etwas blitzen, und sinkt das Opfer nach einer Stechbewegung zu Boden, so wird die "Wahrnehmung" des Beobachters mit großer Wahrscheinlichkeit "schemenimmanent" dahin ergänzt, daß der Angreifer mit einem Messer zugestochen hat, auch wenn es in Wirklichkeit die Armbanduhr war, die die Beleuchtung reflektierte. 96 Bender/Nack, Tatsachenfeststellung I, Rdn. 112. 97 Schmitt, Beweiswürdigung, S. 321. 95

4 Zacharias

50

.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

noch hierüber aus, macht er i m Zweifel Angaben darüber, wie er sich üblicherweise in solchen Situationen verhält. 98 Aber auch das, was der Zeuge nicht vergessen hat, kann er mitunter nicht erinnern. Der Informationsabruf aus dem Gedächtnis ist dann gestört. Wahrnehmungen, die i m Gedächtnis gespeichert sind, sind nicht permanent präsent. Es passiert häufig, daß Informationsimpulse die entsprechende Gedankenverbindung nicht finden, insbesondere dann, wenn sich die Person in einer Streßsituation befindet oder die gesuchte Verbindung von anderen, häufiger benutzten oder intensiver angelegten Assoziationsbahnen verdeckt wird (Inkadenzphänomen).99 b) Verwechseln und Verfälschen Das Ausfüllen ist gewissermaßen die Reaktion des Gehirns auf das Verblassen der Erinnerung. Ebenso wie bei der Wahrnehmung ordnet das Gehirn auch bei der Erinnerung das Geschehen bestimmten Schemata zu. Lückenhafte Vorgänge werden so durch Rückschlüsse, Erfahrungen und Erwartungen zu einem sinnvollen Ganzen ergänzt. 100 Ein solches "Strukturieren" der gemachten Wahrnehmung kann aber auch dazu führen, daß noch vorhandene Informationen verändert, bzw. umgedeutet werden. Zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahre haben nachgewiesen, daß die Erinnerung des Zeugen in hohem Maße durch Eigen- und Fremdsuggestionen verfälscht w i r d . 1 0 1 Eine gemachte Wahrnehmung ist also im Gedächtnis keineswegs zuverlässig untergebracht, sondern vielfaltigen Manipulationen ausgesetzt. Eine falsche Erinnerung kann aber auch einfach durch einen fehlgeleiteten Abruf verursacht werden. Sind im Gedächtnis mehrere vergleichbare Wahrnehmungen abgespeichert, kann die abzurufende Wahrnehmung vom Gehirn mit einer anderen, vergleichbaren Wahrnehmung verwechselt werden. Das Gehirn greift dann bei der Erinnerung auf die falsche Information zurück. 1 0 2 Darüber hinaus besteht die Gefahr der Verfestigung einer falschen Erinner u n g . 1 0 3 Jedesmal, wenn sich der Zeuge mit dem vergangenen Geschehen beschäftigt, wird das Geschehen "als Erinnerung" aus dem Gedächtnis wiederhergeholt. Je häufiger sich der Zeuge mit dem Geschehen beschäftigt, desto eingefahrener werden die Assoziationsbahnen. Ist die Wahrnehmung im Gedächtnis durch Ausfüllen oder Umdeuten oder durch einen falschen Zugriff 98

Bender/Nack, Tatsachenfeststellung I, Rdn. 111. Amt zen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 65 f.; Bender/Nack, Tatsachenfeststellung Π, Rdn. 564. 100 V g l hierzu m.w.N. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 323 f. 101 Eingehend hierzu Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 875 ff. Zum Problem des Konformitätsdrucks bei Gruppenaussagen vgl. auch Bender/Nack, Tatsachenfeststellung I, Rdn. 108 f.; Kühne, NStZ 1985, 254. 102 Bender/Nack, Tatsachenfeststellung I, Rdn. 138. 103 Bender/Nack, Tatsachenfeststellung I, Rdn. 123 f. 99

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

51

verfälscht worden, verfestigt sich auf diese Weise die falsche Erinnerung. Der Zeuge ist dann zutiefst von der Wahrhaftigkeit seiner Erinnerung an das Geschehen überzeugt. Ähnlich wirkt sich der sog. Überlagerungseffekt auf die Authentizität der Aussage a u s . 1 0 4 Die frische Erinnerung an die Aussage überlagert die mit der Zeit verblaßte Erinnerung an das Ereignis. Bei einer wiederholten Vernehmung greift der Zeuge nicht mehr auf die Erinnerung an das tatsächliche Geschehen zurück, sondern auf die Erinnerung an die Aussage hierüber. 1 0 5 Was er von dem Geschehen tatsächlich wahrgenommen hat und was nicht, kann er dann nicht mehr sagen, er hat es vergessen. Bei wiederholten Vernehmungen sagt der Zeuge daher häufig völlig zurecht: "Ich kann nur das wiederholen, was ich schon einmal gesagt habe." 3. Wiedergabe Eine unverfälschte Wiedergabe des richtig Wahrgenommenen und Erinnerten setzt voraus, daß das innere Bild authentisch i n das Medium der Sprache übertragen w i r d . 1 0 6 Da der Mensch weitgehend i n sprachlichen Begriffen d e n k t 1 0 7 , wird ihm dies i n vertrauten Gesprächssituationen kaum Probleme bereiten. Bei der falschen Wiedergabe einer richtigen Erinnerung ist daher regelmäßig die Schwelle zur bewußten Lüge überschritten. Eine unbewußte Verfälschung kann aber durch Suggestion entstehen, für die gerade der i n seiner Formulierung unsichere Zeuge anfallig ist. Hier greift der Zeuge spontan auf "Formulierungshilfen" des Vernehmenden zurück, ohne zu erkennen, daß hierdurch das tatsächliche Geschehen nicht zutreffend erfaßt wird. A u f diese Weise kann es - unabhängig von Kommunikationsproblemen - allein durch die verfremdete Wiedergabe der richtigen Erinnerung zu einer Aussageverfalschung kommen. IL Bewußte Tatsachenverfälschung

(Lüge)

Lüge ist die wissentlich falsche Aussage mit dem Zweck, jemanden zu täuschen. 1 0 8 Trotz der erheblichen Strafandrohung wird vor Gericht mit erstaun-

104

Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 90. Eingehend zur Problematik wiederholter Vernehmungen Bender/Nack, Tatsachenfeststellung Π, Rdn. 561. 106 Zu Untersuchungen, wonach der Begriffsreichtum der Sprache bereits die Wahrnehmungsfähigkeit bestimmt, vgl. Kühne, NStZ 1985, 253. 107 Hierzu Kühne, NStZ 1985, 253. 108 peters ? Strafprozeß, S. 383. 105

4*

.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

52

licher Unbekümmertheit gelogen. 109 Dies hat seinen Grund nicht zuletzt in dem günstigen Gefahrlichkeitskalkül einer Falschaussage.110 Da es sich bei der Zeugenaussage um die Wiedergabe einer (subjektiven) Erinnerung an eine (subjektive) Wahrnehmung handelt, kann der Zeuge mit großer Sicherheit davon ausgehen, daß ihm eine bewußte Verfälschung dieser inneren Vorgänge nicht nachgewiesen werden kann. Unter dem Gesichtspunkt des Gefährlichkeitskalküls besonders günstig und daher i n der Praxis wohl auch besonders häufig sind Lügen über sog. subjektive Tatsachen, wie z.B. bei der Antwort auf die Frage: "Können sie sich an das Geschehen erinnern?" 111 Auch das bewußte Verschweigen von Tatsachen, für die es keine weiteren Beweise gibt, wird als risikolos eingestuft und praktiziert. Den Gegenpol hierzu bilden umfangreiche Aussagen über ein frei erfundenes komplexes Geschehen. Derartige reine Phantasieprodukte sind i m Normalfall leicht zu entlarven. Sie kommen schon aus diesem Grunde in der Praxis so gut wie nie v o r 1 1 2 . Der unredliche Zeuge versucht vielmehr, "möglichst knapp an der Wahrheit vorbeizulügen". Ist dies nach dem Inhalt der Aussage nicht möglich, werden - allein schon aus Sicherheitsgründen möglichst große "Bausteine" anderweitig erlebter oder übermittelter Gegebenheiten in das Lügengebäude eingesetzt. 113 Die Gefahr der Lüge steigt daher überproportional mit der Nähe zur Wahrheit. In dem selben Verhältnis nimmt das Risiko zu, daß die Lüge nicht erkannt und damit die Sachverhaltsfeststellung i m Strafverfahren verfälscht wird. III

Individuelle

Verfälschungskriterien

Die Tauglichkeit der Zeugenaussage zur Aufklärung des wahren Sachverhalts wird durch die vielfältigen Gefahren einer bewußten oder unbewußten Verfälschung der Aussage relativiert. Der Grad der Verfälschungsgefahr wird bestimmt durch die Persönlichkeit und die Motive der Auskunftsperson. Die Persönlichkeit des Zeugen prägt Inhalt und Struktur seiner Aussage. Im Hinblick auf irrtümliche Tatsachenverfalschungen ist die individuelle Aussagetüchtigkeit das entscheidende Kriterium, das durch die körperlichen und seeli-

109

Bender, StV 1982, 484 meint gar, nirgends würde so viel gelogen wie vor Gericht. Empirisch Peters, Strafprozeß, S. 383. Zu einzelnen Lügenzeichen Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 953 ff. Zu Lügenzeichen in der Aussagemotivation Bender/Nack, Tatsachenfeststellung I, Rdn. 182 ff. 110 Bender/Nack, Tatsachenfeststellung I, Rdn. 171. 111 Bender/Nack, Tatsachenfeststellung I, Rdn. 167. 112 Vgl. z.B. Amtzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 122. 113 Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 122.

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

53

sehen Eigenarten des Zeugen bestimmt w i r d . 1 1 4 Ausschlaggebend für eine Lüge sind die Umstände der konkreten Aussagesituation und insbesondere die Motivationslage des Zeugen. Bei psychisch intakten Menschen werden sich Gründe für die Lüge daher nur selten in der allgemeinen Persönlichkeitsstruktur finden lassen. Die Persönlichkeit des Lügners gibt es nicht. Allenfalls die grundsätzliche ethische Einstellung gegenüber der Lüge kann hier als Persönlichkeitsmerkmal Indizcharakter erlangen. 115 Oie Motivation eines Menschen bestimmt nicht nur sein Verhalten, sondern auch sein Erleben. 1 1 6 Im Hinblick auf den Beweiswert der Zeugenaussage bedeutet dies, daß der Motivation des Zeugen sowohl zum Zeitpunkt der Wahrnehmung (Erleben) als auch bei der Wiedergabe (Verhalten) entscheidende Bedeutung zukommt. IV. Verwertung

der Aussage

Ein weiteres entscheidendes Kriterium für den Beweiswert der Zeugenaussage ist die authentische Transformation des Aussageinhalts in das Urteil. Hier geht es um die Frage, ob der Zeuge das gesagt hat, was als seine Aussage bei der freien Beweiswürdigung gewertet wird. Die strafprozessuale Rechtsprechung und Lehre ist noch immer weitgehend von der Vorstellung beherrscht, daß die Aussage des Zeugen, wenn sie erst einmal zutreffend dem Richter zu Gehör gebracht wurde, keinerlei Verfälschungsgefahren mehr unterliegt, sondern so, wie sie objektiv in Worte gefaßt wurde, von dem Richter zur Grundlage seiner freien Beweiswürdigung gemacht w i r d . 1 1 7 Dabei unterliegt die Verarbeitung der Zeugenaussage durch die Person des Vernehmenden bzw. durch das Gericht denselben Grundsätzen, die für die Verarbeitung sonstiger Informationen durch Menschen gelten. Der Inhalt der Aussage ist - wie alle sonstigen Informationen auch - der Gefahr ausgesetzt, von dem Vernehmenden unrichtig wahrgenommen, unrichtig erinnert und (unbewußt) unrichtig wiedergegeben zu werden. Die Tauglichkeit des Zeugenbeweises zur Sachverhaltsaufklärung im Strafverfahren hängt damit nicht nur von der Person des

114

Von daher ist die Kritik von Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 120, berechtigt, daß sich die Aussagetauglichkeit nicht in den körperlichen Eigenschaften erschöpft. 115 Dies erkennt auch der BGH an, indem er zwischen der allgemeinen Glaubwürdigkeit einer Person und ihrer speziellen Glaubwürdigkeit im Hinblick auf die konkrete Aussage differenziert und feststellt: "Die Klärung der allgemeinen Glaubwürdigkeit läßt nach den Erkenntnissen der forensischen Psychiatrie noch nicht ohne weiteres generelle Schlüsse auf die spezielle Glaubwürdigkeit zu." Vgl. hierzu BGH, StV 1994, 64. 116 Zur Definition der Motivation Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 85. 117 Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 968 spricht von einer Illusion des gleichsam objektiven Beurteilers.

54

.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

Zeugen ab, sondern auch von der Person des erkennenden Richters, der die Aussage i n der Entscheidung zu verwerten hat. C. Fazit Die Person des Zeugen trägt nicht nur entscheidend zur Sachverhaltsaufklärung innerhalb eines Strafverfahrens bei, sondern schafft - i m Vorfeld ihrer formellen Zeugenstellung - durch ihre Anzeige überhaupt erst die Voraussetzungen, damit ein Strafverfahren eingeleitet werden kann. Ohne Zeugen könnte Strafrecht nicht durchgesetzt werden. Die Aussage des Zeugen ist dagegen ungeeignet, unmittelbaren Beweis über das Vorliegen der relevanten Tatsache erbringen. Der Zeuge sagt nicht über das vergangene Geschehen aus, sondern über den Inhalt seiner Erinnerung an Wahrnehmungen, die er von einem tatsächlichen Geschehen gemacht hat. Der Zeugenbeweis ist damit ein Indizienbeweis. 118 Wegen seiner Subjektivität und der Kommunikationsproblematik ist der Zeugenbeweis einer Vielzahl von Verfälschungsgefahren ausgesetzt. Diese Gefahren rechtfertigen nicht die alte Forderung nach Abschaffung des Zeugenbeweises 119 , sondern erfordern vielmehr ein Vernehmungs- und Beurteilungsverfahren, das diesen Gefahren Rechnung trägt. Wahrheit i m verfahrensrechtlichen Sinne kann nie mit dem umfassenden historischen Erkennen eines vergangenen Geschehens identisch s e i n . 1 2 0 Gerade für den Zeugenbeweis kann die Frage daher nur lauten, wann das Gericht dem Ziel materieller Wahrheit nahe genug gekommen ist. Den prozessualen Maßstab gibt hier § 261 StPO, wonach das Gericht sich von den dem Urteil zugrundeliegenden Tatsachen mit den verfahrensgemäßen Mitteln eine Überzeugung zu verschaffen hat. Die Überzeugung ist die einzige Form, i n der der

118

Bender/Nack, Tatsachenfeststellung I, Rdn. 383; Schneider, Nonverbale Zeugnisse, S. 16. - Indizien sind Tatsachen, die - mit Erfahrungssätzen aufgefüllt - einen Schluß auf unmittelbar erhebliche Tatsachen zulassen, so Schlüchter, Strafverfahren, Rdn. 471.2. 119 Baumbach/Hartmann, ZPO, Vor §373 Rdn. 7, würde einen Ausschluß des Zeugenbeweises ab einem bestimmten Streitwert als ein "Denkmal der Menschenkunde" begrüßen. Bereits 1918 forderte Wach, JW 1918, 797: "Vor allem sollte der Zeugenbeweis, dieser nach Kenntnis jedes Erfahrenen schlechteste Beweis, nach Kräften ausgeschaltet werden", zustimmend Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage (1925), S.. 257. 120 Schmitt, Beweiswürdigung, S. 392. Vgl. auch BGH, NJW 1951, 83: "So wenig aber der Mensch überhaupt sich durch diese abstrakte Irrtumsmöglichkeit vom praktischen Handeln abhalten lassen kann, wenn er nicht untergehen will, so wenig darf sich auch der Richter, wenn nicht die Gerechtigkeit Schaden leiden soll, auf die Unmöglichkeit einer absoluten Wahrheitserkenntnis zurückziehen."

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

55

Mensch die Wahrheit erfassen kann. Sie ist unabdingbare Voraussetzung, um die Idee der Gerechtigkeit i n das strafgerichtliche Urteil einzubringen. 1 2 1 Der mit der freien richterlichen Überzeugung zwangsläufig verbleibende Rest an Unsicherheit hinsichtlich des i m konkreten Fall richtigen Ergebnisses wird vom Gesetzgeber hingenommen, weil das Ziel der materiellen Wahrheit hierdurch am weitesten verwirklicht werden k a n n . 1 2 2 Das Problem des Zeugenbeweises ist somit nicht i n der Person des Zeugen, sondern i n der Person desjenigen begründet, der die Aussage aufnimmt und bewertet. Diese Erkenntnis brachte vor fast einhundert Jahren H. Gross mit folgendem B i l d zum Ausdruck: Der Zeuge ist wie ein Instrument, das wertlos ist i n der Hand des Stümpers, mit dem aber alles geleistet werden kann i n der Hand des Meisters. 1 2 3 Die derzeitige Praxis des strafprozessualen Zeugenbeweises trägt dieser Erkenntnis nur bedingt Rechnung. Zum einen ist der vernehmende Jurist aufgrund seiner Ausbildung ein Laie auf dem hier entscheidenden Gebiet der Aussage- und Vernehmungspsychologie. Dementsprechend beruhen Vernehmungstechnik und Glaubhaftigkeitsbeurteilung i n vielen Fällen auf Intuition und Menschenerfahrung mit der Gefahr, daß für Erfahrung gehalten wird, was 20 Jahre lang falsch gemacht w u r d e . 1 2 4 Allein schon aufgrund fehlender Sensibilisierung werden die Vernehmung des Zeugen und die Verwertung seiner Aussage an Efifektivitätsgesichtspunkten ausgerichtet, die mit dem eigentlichen Ziel - Erforschung des tatsächlichen Sachverhaltes - nicht mehr i n Einklang zu bringen s i n d . 1 2 5 Ein ehemaliger Vorsitzender Richter stellte hierzu resignierend fest: "Das Aktenabfragen zur Befestigung eines Vorurteils oder zur pauschalen Bewertung von Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit, über die Psychologen und Gedächtnisforscher nur den Kopf schütteln können, beherrscht unseren Prozeß von Gene-

121

Vgl. hierzu auch Westhoff, Grundlagen des Strafprozesses, S. 73. So auch Schmitt, Beweiswürdigung, S. 534 123 H; Groß, Criminalpsychologie (1898), S. 330. 124 Schneider, Nonverbale Zeugnisse, S. 271. Hier auch eine eingehende Untersuchung zu der Selbsteinschätzung von Richtern im Hinblick auf ihre Fähigkeit zur Glaubwürdigkeitsanalyse. Zu rechtstatsächlichen Forschungen, in denen die richterlichen Alltagstheorien den Ergebnissen psychologischer Glaubwürdigkeitsuntersuchungen gegenübergestellt wurden, vgl. A. Kühne, Psyche, Recht, Gesellschaft, S. 161 ff. 125 Dies zeigen bereits die oftmals stereotypen Belehrungsfloskeln. Staiger-Allroggen, Auswirkungen des Opferschutzgesetzes, S. 122, kommt zu dem Ergebnis, daß die Zeugen in der Mehrzahl der untersuchten Fälle nicht ausreichend durch den Richter belehrt wurden. Die Zeugen selbst schätzten die Notwendigkeit, sich eingehender belehren zu lassen, naturgemäß wesentlich geringer ein. Zu floskelhaften Glaubwürdigkeitserwägungen im Urteil vgl. OLG Köln, StV 1994, 245. 122

.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

56

ration zu Generation." 1 2 6 Diesem Mangel kann nur durch eine entsprechende Aus- und Weiterbildung der mit Zeugenaussagen befaßten Juristen abgeholfen werden. 1 2 7 Gerade weil der Zeugenbeweis subjektiv geprägt ist, bedarf es objektiver Kriterien, an Hand derer der Beweiswert der Aussage gewürdigt wird. Die Aussage des Zeugen muß hierzu möglichst objektiv, unverfälscht und umfassend festgehalten werden. Die derzeitige Protokollierungspraxis ist dagegen geprägt von der Sorge vor einem "Einfallstor für Verfahrensrügen nach §§ 244 Abs. 2, 261 S t P O " . 1 2 8 Sie wird der an sich selbstverständlichen Voraussetzung richterlicher Beweiswürdigung, daß die Umstände, die für die Beurteilung maßgeblich sind, auch festgehalten werden, nicht einmal i m Ansatz gerecht. 1 2 9 Die Forderungen nach einer verbesserten Fixierung der Aussage reichen von der wörtlichen Protokollierung 1 3 0 über die Orginaltonaufnahme 131 bis hin zur Videoaufzeichnung 132 . Die Carolina von 1532 scheint hier wesentlich fortschrittlicher gewesen zu sein: U m die Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage beurteilen zu können, wurde dort nicht nur die Aussage selbst in die Niederschrift aufgenommen, sondern auch die "eusserlichen geberden" des Zeugen und ob dieser sich bei seiner Aussage "wanckelmutig" oder "vnbestendig" verhielt. 1 3 3

126

Prüfer, StV 1993, 605. Zur noch unbefriedigenderen Situation im Zivilprozeß vgl. z.B. den Aufsatz von Bull, DRiZ 1972, 205, mit dem Titel: "Von der Bequemlichkeit, einem Zeugen zu glauben"; sowie Reinecke, MDR 1986, 63: "Offenkundige Bedenken gegen Zeugenaussagen werden geradezu institutionell verdrängt: 'Glauben' ist sehr viel bequemer als zweifeln. ... Im Zweifel sind die Gerichte überzeugt". Schneider, Beweiswürdigung und Beweisveifahren, Rdn. 877, sieht hier eine geheime Beweisregel, "wonach grundsätzlich eine inhaltlich brauchbare Aussage auch beweiskräftig ist, sofern nicht ausnahmsweise besondere Anhaltspunkte für das Gegenteil feststehen". 127 Geppert, Jura 1991, 80. Zu den Gründen für die Vernachlässigung der Aussagepsychologie in der Strafverfahrenspraxis eingehend Schneider, Nonverbale Zeugnisse, S. 2 ff. 1 2 8

129

Vgl. LR/Gollwitzer,

§ 273 Rdn. 51.

Kritisch zur Protokollierungspraxis auch Salditi, StV 1993, 445 f.; Schmitt, Beweiswürdigung, S. 327 f., 509flf ; Schneider, Nonverbale Zeugnisse, S. 38 flf. 130 Am günstigsten wird angesehen, die Aussage im Redetempo - etwa mittels Stenomaschinen - mitzuschreiben, vgl. Eisenberg, JZ 1984, 916. 131 Bender/Nack, Tatsachenfeststellung Π, Rdn. 832 flf. 132 Stern, Geständniswiderruf, S. 51; vgl. auch die Thesen des Deutschen Strafverteidigers e.V. und des Deutschen Richterbundes e.V., StV 1994, 519. 133 Art. 71 CCC. Zu dem Hintergrund dieser Regelung vgl. S. 76.

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

57

3. Kapitel: Zur Geschichte des Zeugenbeweises Ziel dieser Darstellung kann es nicht sein, die Geschichte des Strafverfahrens, mit der j a die Geschichte des Zeugenbeweises untrennbar verbunden ist und die nur aus den gesellschaftlichen und politischen Zuständen heraus zu verstehen ist, in all ihren Facetten nachzuzeichnen. Insoweit sei auf die einschlägigen Monographien verwiesen. 134 Bei diesem Überblick kann es nur darum gehen, einen ersten Eindruck von der historischen Bedeutung des Zeugen als Beweismittel und seiner Stellung im Strafverfahren zu erhalten, um die derzeitige Rechtslage aus ihrem historischen Kontext heraus verstehen und mögliche Parallelen der geschichtlichen Entwicklung aufzeigen zu können. A. Der Zeuge im römischen Strafverfahrensrecht Wenn von dem römischen Strafverfahren die Rede ist, so wird meist das Geschworenenverfahren der späten Republik gemeint. Dieses Verfahren überdauerte in seiner ursprünglichen Form nur eine relativ kurze Zeit. Von daher erscheint es angebracht, auch auf die übrigen Verfahrensarten des römischen Strafprozesses kurz einzugehen. 135 Gemeinsam war allen Verfahrensarten das Bestreben, das Urteil auf der Grundlage des tatsächlichen Sachverhaltes zu treffen. Um Wiederholungen zu vermeiden, werden die Einzelheiten des Zeugenverfahrens im Rahmen des klassischen Geschworenenverfahrens erörtert. I. Das "vorklassische"

Strafverfahren

In frühester Zeit gab es einen einheitlichen privaten Rechtsgang, in dem der einzelne seine zivil- oder strafrechtlichen Schadensersatzansprüche durchsetzen konnte. Das private Klageverfahren galt auch in der klassischen Zeit (bis ca. 300 n. Chr.) für "delieta privata", wie z.B. Raub, Diebstahl oder Beleidigung. Die Übernahme der Zeugenstellung war eine rein freiwillige Freundesleistung. Zeugenfahig waren grundsätzlich alle freien Männer. Sie bekräftigten ihre Aussage durch den Eid. In der Königszeit gab es neben diesem reinen Privatverfahren ein Magistratsverfahren (coercitio) als außerordentliches Verfahren. In diesem "Königsverfahren" konnte der Magistrat völlig frei ermitteln und urteilen. Der Zeuge unterlag in diesem Verfahren wie der Angeschuldigte der staatlichen Gewalt. Die Zeugenpflichten konnten durch Geldstrafe oder Haft durchgesetzt

134

Eine ungemein fundierte Darstellung der Geschichte des Beweisverfahrens im deutschen Recht findet sich z.B. bei Schmitt, Beweiswürdigung, S. 81 ff. 135 Mommsen teilt das römische Strafverfahren sogar in 10 verschiedene Arten ein, vgl. Römisches Strafrecht, S. 136 f.

58

.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

werden. Der falsche Zeuge wurde schon im ältesten Recht dem Mörder gleichgestellt. 1 3 6 Noch in der Königszeit hat sich das Volksgerichtsverfahren herausgebildet. Dieses Verfahren bestand aus zwei Teilen, dem Ermittlungsverfahren (cognitio) und dem gerichtlichen Hauptverfahren (provocatio). Das Ermittlungsverfahren wurde weiter durch die Magistrate geführt. Es Schloß mit einem Urteil des Magistrats. In Verfahren gegen Unfreie (sowie Frauen) und Geständige (bzw. auf frischer Tat betroffene Täter) war dieses Magistratsurteil rechtskräftiges Endurteil. In den übrigen Fällen konnte der Angeklagte das Volksgericht anrufen. Das Volk entschied dann in freier Beweiswürdigung über das Urteil des Magistrates. Der Magistrat vertrat in diesem Verfahren die Anklage ähnlich einem Staatsanwalt. IL Das Geschworenenverfahren

zur Zeit der Republik

Als ordentliches Strafverfahren der späten Republik etablierten sich ständige Geschworenengerichte (quaestiones perpetuae). Der Magistrat (Prätor) wirkte in diesem Verfahren nur noch als Leiter des formalen Verfahrens mit. Das Urteil fällte er zusammen mit den Geschworenen. Die Anklage wurde einem privaten Ankläger übertragen, der diese hoheitliche Aufgabe gegen z.T. erhebliche Belohnungen übernahm. 137 Für jedes Verbrechen war ein bestimmtes Geschworenengericht zuständig. Auch dieses Verfahren bestand aus zwei Teilen. Der erste Teil (citatio) fand vor dem Prätor statt und diente allein der Festlegung der Anklage. Das eigentliche Verfahren wurde vor den Geschworenen abgehalten. Die Geschworenen entschieden nach freier Überzeugung. Sie waren durch keine starren Beweis- oder Beweislastregeln gebunden. Es handelte sich also weder um ein Inquisitions- noch um ein privates Akkusationsverfahren. 1. Zeugenfähigkeit Bei der Frage der Zeugenfahigkeit ergeben sich häufig Mißverständnisse, da i m römischen Recht zwischen "echten" Zeugen und "Quasi-Zeugen" unterschieden wurde 1 3 8 , während in der Literatur häufig nur von "Zeugen" die Rede i s t . 1 3 9 Echte Zeugen konnten nur freie Männer sein, die ihre Aussage

136

Dies galt auch für den anonymen Denunzianten, Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 635. 137 Der Ankläger rückte z.B. im Falle des Obsiegens in die gesellschaftliche Stellung des Angeklagten auf. Zum ganzen Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 509 f. 138 Diese Unterscheidung findet sich bereits im alten griechischen Recht, vgl. Leisi, Der Zeuge im attischen Recht, S. 13 ff. 139 Besonders mißverständlich insoweit Haus er, Zeugenbeweis, S. 2.

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

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durch Eid bestärkten. 140 Quasi-Zeugen konnten dagegen auch Unfreie, Fremde, Frauen und Kinder sein. Bei Freien kann zwischen absoluter und relativer Zeugenunfahigkeit unterschieden werden. 1 4 1 Absolut zeugenunfahig waren verdächtige und unehrenhafte Personen, wie z.B. bestochene Zeugen oder wegen eines Verbrechens Verurteilte. 142 Die besondere Beziehung des Zeugen zu dem Angeklagten konnte eine relative Zeugenunfahigkeit begründen. So waren der Sohn oder der Vater des Angeklagten vom Zeugnis ebenso ausgeschlossen wie ehemalige Sklaven, die von dem Angeklagten in die Freiheit entlassen worden waren. Auch der Verteidiger des Angeklagten war in diesem Verfahren nicht als Zeuge zugelassen. 143 Die Aussage der "QuasiZeugen" wurde nicht beeidigt und hatte allein schon deshalb einen geringeren Beweiswert. Sklaven hatten als Zeugen einen besonders schlechten Stand. Sie mußten nach ihrer Aussage die Folter überstehen, bei der festgestellt werden sollte, ob der Sklave auch unter Folter bei seiner Aussage blieb. 1 4 4 Die Folter wurde hier also als Mittel der Wahrheitsbestätigung angesehen. 145 In Verfahren gegen ihren Herren waren Sklaven als Beweismittel anfangs ausgeschlossen. 2. Beweiswert der Zeugenaussage Die Zeugenvernehmung war öffentlich und mündlich. Nach der Befragung durch die beweisführende Partei wurde der Zeuge dem Gegenverhör der Gegenpartei und anschließend dem Kreuzverhör unterworfen. 146 Ungehörigkeiten der Anwälte gegenüber dem Zeugen sollte der Vorsitzende unterbinden. 147 Das Urteil konnte auch auf die Aussage nur eines Zeugen gestützt werden, wenngleich die Anwälte das Fehlen einer zweiten Zeugenaussage haüfig als Unglaubwürdigkeitskriterium darstellten. 148 Maßgebliche Glaubwürdigkeits140

Westhoff, Grundlagen des Strafprozesses, S. 72. Die Zeugen wurden grundsätzlich vor ihrer Aussage vereidigt. 141 Kritisch zu einer derartigen Unterscheidung aber Karitzky, Geschichte der Zeugnisverweigerüngsrechte, S. 10. 142 Im einzelnen Schmitt, Beweiswürdigung, S. 112. 143 Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 401 f. 144 Dies entsprach dem attischen Recht in Griechenland, vgl. Leisi, Der Zeuge im attischen Recht, S. 20 f., 108 f. 145 Vgl hierzu einen Erlaß des Kaisers Augustus: "Wenn sich Kapitalverbrechen und schwere Untaten nicht anders untersuchen und aufklären lassen als durch peinliche Verhöre von Sklaven, dann sind diese, wie ich glaube, äußerst wirksam, die Wahrheit ans Licht zu bringen" (zitiert bei Fuhrmann/Lieb, Exempla Iuris Romani, S. 197 f.). 146 Westhoff, Grundlagen des Strafprozesses, S. 71 unten. 147 Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 431. 148 Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 440.

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.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

kriterien waren die Persönlichkeit 149 und Motivation 1 5 0 des Zeugen sowie sein Aussageverhalten 151 . Dort, wo das Aussageverhalten nicht berücksichtigt werden konnte, weil der Zeuge die Aussage nicht unmittelbar vor Gericht abgelegt hatte, verringerte sich ihr Beweiswert. 152 Dies galt sowohl für die Angaben des Zeugen vom Hörensagen wie auch für Zeugen, deren frühere Aussagen im Prozeß verlesen wurden. 1 5 3 Im übrigen waren die Geschworenen in der Beweiswürdigung frei, wie das folgende Zitat Ciceros belegt: "Nicht darin besteht die Pflicht des Richters, die abgehörten Zeugenaussagen mechanisch zu zählen und ohne weiteres ihnen zu trauen, sondern darin, dieselben zu prüfen und ihre Glaubwürdigkeit abzuwägen. ... Ihre Pflicht aber fordert eine Prüfung der Zeugenaussage, und so müssen sie trotz einer großen Zahl derselben freisprechen, solange ihnen eine wirkliche Überzeugung von der Schuld des Angeklagten mangelt." 1 5 4 3. Zeugenstellung Ankläger und Angeklagter konnten Zeugen benennen und befragen. Allerdings hatte nur der Ankläger die Befugnis, Zeugen zwangsweise - durch Gerichtsbeschluß - vorzuladen. 155 Um unnötige Belästigungen der Bürger durch die Zeugenpflicht zu vermeiden, war die Zahl der zu ladenden Zeugen begrenzt. 1 5 6 Der Sache nach kannte das römische Recht bereits Zeugnisverweigerungsrechte, die wesentlich weiter reichten als das heutige Recht. 1 5 7 Bestimmten Personen, denen mit Rücksicht auf ihre Beziehung zum Angeklag-

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Entscheidend waren insoweit Lebenswandel und bürgerliche Stellung des Zeugen, vgl. Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 439 flf. 150 Besonders verdächtig waren Zeugen, die mit einer Partei befreundet oder verfeindet waren oder aber von dem Ausgang des Prozesses einen persönlichen Vorteil zu erwarten hatten, vgl. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 112. 151 Der Beweiswert einer ruhigen und unparteiischen Aussage über persönlich wahrgenommene Geschehnisse war hoch. Gefühlsbetonten Aussagen mißtraute man dagegen, Schmitt, Beweiswürdigung, S. 112. 152 Ein weiterer Grund für den geringeren Beweiswert war der fehlende Eid. 153 Die Aussage des Zeugen vom Hörensagen war damit nicht grundsätzlich unzulässig. Hierzu Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 411, 440. 154 Cicero, pro Fonteio, §§21 flf, zitiert nach Schmitt, Beweiswürdigung, S. 113 Fn. 253; ähnlich Westhoff, Grundlagen des Strafprozesses, S. 73 Fn. 2. 155 Hierzu wurden dem Ankläger die Hilfsmittel der öffentlichen Gewalt zur Verfügung gestellt. 156 Nachweise bei Zachariae, Handbuch des Strafprocesses, Bd. 2, S. 202 Fn. 18. 157 Eingehend zum ganzen Karitzky, Geschichte der Zeugnisverweigerungsrechte, S. 11 f. ; Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 411.

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

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ten, ihr Alter, ihre Entfernung vom Ort der Verhandlung oder ihre gesellschaftliche Stellung "die Unbequemlichkeit einer Zeugenaussage nicht zumutbar" war, stand es frei, die Zeugenpflicht zu übernehmen. 158 Erschien ein geladener Zeuge nicht, ohne genügend entschuldigt zu sein, konnte er zu Geldstrafe oder Haft verurteilt werden. Ebenso konnte mit einem Zeugen verfahren werden, der zwar vor Gericht erschien, aber die Aussage verweigerte. 159 Der aussagende Zeuge hatte dagegen einen Anspruch auf Kostenersatz gegen den Kläger. 1 6 0 III. Strafverfahren

der Kaiserzeit

In der Kaiserzeit verschob sich das Verhältnis von bürgerlicher Freiheit und staatlicher Macht immer mehr zu Gunsten des Staates. Dies spiegelt sich in der Entwicklung des Strafverfahrens wider. Seit Augustus lebte das alte Volksgerichtsverfahren als consulisch-senatorisches Verfahren wieder auf. Gegen Ende des 3. Jahrhunderts wurde es durch das Kaisergericht abgelöst. Die Richter standen wie im alten Magistratsverfahren - dem Vorläufer des Volksgerichtsverfahrens - über dem Gesetz. Um einen Beraterstab von Rechtsgelehrten erweitert, entstand aus dem Kaisergericht das Hofgericht. Das Verfahren wurde zwar weiterhin auf eine Anklage hin eingeleitet, der Richter griff jedoch wieder selbst in das Verfahren ein, konnte Zeugen laden und besaß ein uneingeschränktes Fragerecht. 161 Der Zeuge war dem Ermessen bzw. der Willkür des Richters nahezu rechtlos ausgeliefert. Die Zeugenpflicht erstreckte sich auf alle Arten von Gerichtsverfahren. 162 Im Falle des Ungehorsams drohten dem Zeugen Zwangsmittel bis hin zur Folter. 1 6 3 Aber auch der aussagebereite Zeuge war vor Folter nicht sicher, wenn es darum ging, Widersprüche in seiner Aussage zu klären. 1 6 4 In dem Bemühen, das Urteil auf eine rationale Grundlage zu stellen, bildeten sich verstärkt Beweisregeln heraus. 165

158

Karitzky, Geschichte der Zeugnisverweigerungsrechte, S. 11. Der Kläger wird seine Zeugen allerdings mit Bedacht ausgewählt haben, so daß Fälle der Aussageverweigerung nicht bekannt sind, vgl. Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 409. 160 Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 409. 161 Westhoff, Grundlagen des Strafprozesses, S. 74. 162 Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S. 426. 163 Goltdammer, GA 10 (1862), 821. 164 Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 407. 165 Schmitt, Beweiswürdigung, S. 115; Westhoff, Grundlagen des Strafprozesses, S. 76. 159

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.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefhrdung

Zur Überführung des Angeklagten waren nun ohne Ausnahme mindestens zwei Zeugenaussagen erforderlich. 166 B. Das alte deutsche Recht bis zur Rezeption I. Germanische Zeit Der germanische Rechtsgang 167 war formal nicht darauf angelegt, den wahren Sachverhalt aufzuklären. Wahrheit wurde als etwas von der Natur Vorgegebenes gesehen, so daß die Natur selbst, wenn man sie gewähren ließe, die Wahrheit aufzeigte. 168 Über den Klagevorwurf entschieden daher weder die Richter noch die versammelte Volksgemeinschaft (Thing) 1 6 9 . Die Entscheidung traf vielmehr die Natur durch den Eid des Beklagten oder durch das Gottesurteil. 170 Nach der Vorstellung der Germanen wurde ein Meineid von der Natur nicht hingenommen, sondern durch den Eideszauber auf der Stelle entlarvt. Gelang es dem Beklagten aber, die formalen Voraussetzungen des Reinigungseides zu erfüllen, so war der Klagevorwurf mit der Eidesleistung widerlegt. War ihm der Reinigungseid versagt 171 , entschied der Ausgang des von der Volksgemeinschaft bestimmten - Gottesurteils. Zur Wirksamkeit des Reinigungseides mußte der Beklagte von einer bestimmten Anzahl sog. Eideshelfer unterstützt werden. Die Eideshelfer beschworen mit ihm zusammen die Reinheit seines Eides. Ihr Eid war also kein Zeugnis, sondern ein Urteil über die Rechtschaffenheit des Beklagten. Die Eideshelfer können damit nicht als "Zeugen" angesehen werden. Das germanische Recht kannte jedoch - zumindest in "Zivilsachen" - den Zeugenbeweis in der Form des Zeugeneides. 172 Voraussetzung für die Zeugen166 vgj codex justinianus 4, 20, 9; zit. bei Hauser, Zeugenbeweis, S. 3. 167 "Den" germanischen Rechtsgang gab es freilich nicht, wesentliche Rechtsquelle war vielmehr die überlieferte Rechtsüberzeugung des jeweiligen Stammes. 168 Westhoff\ Grundlagen des Strafprozesses, S. 60 ff.; vgl. auch Alb er, Geschichte der Öffentlichkeit, S. 12. 169 Dem Richter oblag allein die Verhandlungsleitung, nicht aber die Entscheidung über die Art des Beweises, vgl. z.B. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 25 f.; Schmitt, Beweiswürdigung, S. 84 m.w.N. in Fn. 34. 170 Die häufigste Form des Gottesurteils war der Zweikampf. Weitere Formen waren der Kesselfang (Herausholen eines Gegenstandes aus einem mit siedendem Wasser gefüllten Kessel), das Tragen glühender Eisen, der Pflugscharengang (Überschreiten von neun glühenden Pflugscharen) oder die Wasserprobe. 171 Z.B. bei Eidesunwürdigkeit, oder Eidesschelte, d.h. Wegziehen der Schwurhand des Beklagten durch den Kläger; vgl. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 25. 172 Ruth, Zeugen und Eideshelfer, S. 2; Westhoff, Grundlagen des Strafprozesses, S. 53.

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

63

Stellung war, daß der Betreffende vor seiner Wahrnehmung ausdrücklich zur Kenntnisnahme aufgefordert wurde. Bei Geschäftsabschlüssen wurde der Betreffende als sog. Gewährs- und Solemnitätszeuge i m wahrsten Sinne des Wortes "hinzugezogen", nämlich am Ohr gezupft und zur Kenntnisnahme aufgefordert. 173 Zufällige Wahrnehmungen waren für den Zeugenbeweis grundsätzlich ungeeignet. Bei seinem Eid hatte der Zeuge das Beweisthema meist Wort für Wort zu wiederholen. 1 7 4 Als Zeugen konnten nur diejenigen Personen auftreten, die zur Teilnahme an der Gerichtsversammlung berechtigt waren, also nur freie, wehrfähige Männer. Die Zeugen mußten der Gegenpartei ebenbürtig sein. Darüberhinaus gab es mit den sog. Nachbarzeugen und Öffentlichkeitszeugen Beweispersonen, die aufgrund besonderer Erfahrungen über ortskundige oder offenkundige Tatsachen Zeugnis ablegten. 1 7 5 I m deutschen Recht dürfte der strafprozessuale Zeugenbeweis seinen Ursprung i m sog. Handhaftverfahren des germanischen Rechtsganges haben. 1 7 6 I n diesem Verfahren konnte der Täter, der auf frischer Tat betroffen wurde, gefesselt und mit aufgebundenen Beweisstücken sofort vor Gericht gebracht werden. Während dem "Beklagten" i m germanischen Rechtsgang grundsätzlich die Möglichkeit offenstand, sich durch einen Reinigungseid 1 7 7 von dem Tatvorwurf zu befreien, hatte er i m Handhaftverfahren seine Verteidigungsrechte aufgrund der eindeutigen Beweislage verwirkt. Hier genügte es zum Tatnachweis, daß der Kläger den Überführungseid leistete und Augenzeugen die Rechtmäßigkeit der Ergreifung unter Eid bestätigten. 178 Diese Augenzeugen, die auf das "Gerüfte" des Verletzten herbeigeeilt kamen, waren die " Schreimannen" 179 . Da der Beweis nicht dem Gericht, sondern der Gegenpartei erbracht wurde, waren der Zeuge und erst recht der Schreimann nicht dem Gericht gegenüber 173

Hierzu mit Nachweisen Rogge, Das Gerichtswesen der Germanen, S. 114 f. Brunner, Zeugen- und Inquisitiönsbeweis, S. 352; Ruth, Zeugen und Eideshelfer, S. 5. 175 Z.B. über einen Grenzverlauf, über die für die Erbfolge wesentliche Frage einer Lebendgeburt oder über bestimmte prozessuale Akte, wie z.B. die Eidesleistung. Vgl. hierzu die Quellenangaben bei Maurer, Geschichte, S. 34; Rogge, Das Gerichtswesen der Germanen, S. 99 ff. 17 6 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 29; Schild, Justiz in alter Zeit, S. 138; Schmitt, Beweiswürdigung S. 93. Zur Gestaltung des Handhaftverfahrens eingehend Beyerle y Deutschrechtliche Beiträge, Bd. 10, S. 460 ff. 177 Bei der Eidesleistung wurde die Partei durch sog. Eideshelfer unterstützt. Die Eideshelfer beschworen jedoch nicht etwa die Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit des Klagevorwurfs, sondern allein, daß der Eid ihrer Partei "rein und nicht mein" sei, vgl. Westhoff, Grundlagen des Strafprozesses, S. 53. 17 8 Schmitt, Beweiswürdigung, S. 86, Fn. 47. 179 Vgl. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 25. 17 4

.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

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zum Erscheinen und Schwören verpflichtet. Eine private Verpflichtung konnte sich allenfalls für den gezogenen Zeugen aus einem mit der beweisführenden Partei vereinbarten Beweisgedinge ergeben. 180 Erschien der Zeuge allerdings vor Gericht, unterlag er, wie jeder andere Rechtsgenosse i m Thing, der Befehlsgewalt des Richters. Kam er der Aufforderung des Richters zum Zeugeneid nicht nach, machte er sich wegen Bannbruchs strafbar. Bei Meineid, der allerdings nur durch Zweikampf oder ein anderes Gottesurteil nachzuweisen war, wurden Zeugen und Eideshelfer bußfallig. 1 8 1 IL Fränkische Zeit 1. Private Klage I m germanischen Rechtsgang erbrachten die Schreimannen und Zeugen Beweis nicht durch die Aussage über den Hergang des Geschehens, sondern durch ihren Eid. Ihr Eid bestärkte den Eid der beweispflichtigen Partei. 1 8 2 Dies begann sich i m fränkischen Recht zu ändern. Der Beweis wird nicht mehr allein der Gegenpartei erbracht, sondern dem Gericht. Das Beweisverfahren gewinnt immer mehr die Bedeutung, dem Gericht ein eigenes B i l d von dem streitigen Geschehen zu ermöglichen. 1 8 3 Hauptbeweismittel bleibt der Parteieid. A n die Stelle des Aufgebotes von Sippengenossen als Eideshelfer treten i n "Zivilsachen" - verstärkt Zeugen. 1 8 4 Gelegentlich war es hier der Gegenpartei sogar gestattet, durch eigene Zeugen oder Urkunden den Gegenbeweis zu führen. 1 8 5 a) Zeugenfahigkeit Zeugen konnten entweder amtliche Marktgeschworene oder hinzugezogene" Privatpersonen s e i n . 1 8 6 Zeugenfahig waren aber auch jetzt nur ausgewählte, besonders glaubwürdig erscheinende, freie - und damit der Ge-

180

Vgl. hierzu. Ruth, Zeugen und Eideshelfer, S. 2, 11. Ruth, Zeugen und Eideshelfer, S. 11. 182 Insofern waren auch die Schreimannen letztlich nur zufallige Eideshelfer, die zwar nicht aus der Sippe des Klägers stammen mußten, aber mit ihrem Eid nicht etwa die eigene Wahrnehmung beschworen, sondern ebenfalls nur die Verläßlichkeit des klägerischen Eides. Vgl. hierzu Westhoff, Grundlagen des Strafprozesses, S. 53. 183 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 29 oben. 184 Schmitt, Beweiswürdigung, S. 93 mit Fn. 102. 185 Brunner, Zeugen- und Inquisitionsbeweis, S. 367; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 49. 181

18 6

Dilcher, JuS 1989, 877.

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

65

genpartei ebenbürtige - M ä n n e r . 1 8 7 Der Zeuge mußte zumindest so viel Vermögen haben, um die Buße für ein falsches Zeugnis bezahlen zu k ö n n e n . 1 8 8 Zeugenunfähig war zudem jeder, der bereits wegen Falschaussage vorbestraft w a r . 1 8 9 Der Zeuge mußte vor seiner Wahrnehmung von der Partei zur Kenntnisnahme aufgefordert worden sein. Zufälliges Wahrnehmen war auch jetzt noch nicht zeugnisfähig. 190 b) Beweiswert der Zeugenaussage Die Beweiskraft des Zeugnisses beruhte weiterhin nicht auf der Wiedergabe der Wahrnehmung, sondern auf dem Eid, mit dem der Zeuge das Beweisthema bestätigte. 191 Nach einer Vorschrift Karls des Großen war der Zeuge jedoch vor der Eidesleistung von dem Richter darüber zu vernehmen, ob er Kenntnis von dem fraglichen Vorfall hat. A u f diese Weise sollte die Zahl der Meineide vermindert werden 1 9 2 , woran auch der Zeuge großes Interesse gehabt haben dürfte, denn Karl der Große führte zugleich gegen falsche Zeugen die Strafe des Handabhauens e i n . 1 9 3 Der Zeuge sagte also auch i m fränkischen Rechtskreis nicht über das aus, was er wahrgenommen hat, sondern bestätigte nur wenn auch aufgrund eigenen Wissens - die Aussage der beweispflichtigen Partei. c) Zeugenstellung Die Zeugen waren verpflichtet, auf Ladung vor Gericht zu erscheinen, Fragen zu beantworten und den Zeugeneid zu leisten. Geladen wurden die Zeugen von der beweispflichtigen Partei in Gegenwart dreier Zeugen. 1 9 4 . Ein ordnungsgemäß geladener, aber nicht erschienener Zeuge wurde zu einer Geld187 Willmann, GA 65 (1918), 507; zu den Ausnahmen, unter denen auch Frauen als Zeugen anerkannt wurden, S. 509 f. 188 Rogge, Das Gerichtswesen der Germanen, S. 111 f. 189 Zum ganzen vgl. die Nachweise bei Rogge, Das Gerichtswesen der Germanen, S. 110 flf. 190 Westhoff y Grundlagen des Strafprozesses, S. 56. 191 Schmitt y Beweiswürdigung, S. 93. 192 Brunner y Zeugen- und Inquisitionsbeweis, S. 366. 193 Zum Nachweis der Unwahrheit seiner Aussage mußte der Zeuge den Eid leisten und sodann zum Zweikampf mit der Gegenpartei oder einem derer Zeugen antreten. Unterlag er im Zweikampf, verlor er auch seine Hand. Die übrigen Zeugen der damit unterlegenen Partei konnten sich durch eine hohe Buße von der Strafe des Handabhauens freikaufen, sofern sie noch keinen Eid geleistet hatten. Nachweise hierzu bei Brunner, Zeugen- und Inquisitionsbeweis, S. 368; vgl. aber auch Rogge, Das Gerichtswesen der Germanen, S. 128. 194

Rogge y Das Gerichtswesen der Germanen, S. 118 f. Nach Maurer, Geschichte, S. 21 y wurden die Zeugen zu dieser Zeit bereits durch Gerichtsboten "vorgebannt" (bannitio). 5 Zacharias

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l.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

strafe verurteilt 1 9 5 , es sei denn, er konnte nachträglich das Vorliegen eines gesetzlichen Entschuldigungsgrundes glaubhaft machen. Als Entschuldigungsgründe galten eigene Krankheit, Krankheit oder Tod eines Verwandten, Königsdienste, Naturereignisse oder ein Feiertag. Glaubhaftmachung geschah durch Eid oder durch Zeugen. 1 9 6 Erschien der Zeuge dagegen vor Gericht, verweigerte aber das Zeugnis, so konnte er ebenfalls zu einer Geldstrafe verurteilt werden. 1 9 7 Der Zeugenbeweis war ausschließlich mündlich und erfolgte i n öffentlicher Verhandlung. Die Zeugen wurden einzeln und i n Abwesenheit der später zu hörenden Zeugen vernommen. 1 9 8 2. Hoheitliches Verfahren Während der Zeugenbeweis i n fränkischer Zeit i n "Zivilsachen" große Bedeutung erlangte, konnte sich der Angeklagte i n "Strafsachen" weiterhin durch Eid oder Gottesurteil von dem Vorwurf des Klägers reinigen. Zur Überführung des Beklagten konnte der Zeugenbeweis i m privaten Klageverfahren daher keine Rolle spielen. 1 9 9 Allerdings entwickelten sich mit dem sog. königsgerichtlichen Verfahren und dem Rügeverfahren eine Art hoheitlicher Strafverfolgung. Die Besonderheit dieser Verfahren bestand darin, daß der Richter hier Straftaten, für die sich kein privater Kläger fand, von Amts wegen aufzuklären hatte. Die richterliche "Zeugenvernehmung" diente i n diesen Verfahren dazu, einen Verdächtigen zu überführen. Wurde z.B. ein Mensch erschlagen i n der Feldmark aufgefunden, hatte der Königsrichter die Nachbarn zur Preisgabe ihres Wissens über die Tat zu zwingen. 2 0 0 Die Zeugnispflicht der Befragten beruhte auf dem Königsbann. 2 0 1 I m Rügeverfahren wählte der Richter angesehene Männer als sog. Rügegeschworene aus, die er zur Wahrheit ermahnte und vereidigte. Sodann wurden die Rügegeschworenen befragt, welche Verbrechen i n ihrem Gerichtsbezirk begangen wurden und gegen welche Personen sich der Verdacht richte. Die Anklage (Rüge) der Rügegeschworenen ersetzte sodann die förmliche Parteienklage 202 Der durch die Rüge An-

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Maurer, Geschichte, S. 48, 90 f. Eingehend hierzu Maurer, Geschichte, S. 57, 94 f. 197 Rogge, Das Gerichtswesen der Germanen, S. 119. Vgl. hierzu auch Βeyerie, Deutschrechtliche Beiträge, Bd. 10, S 438; Maurer, Geschichte, S. 41. 198 Maurer, Geschichte, S. 85. 199 So auch das Ergebnis der Untersuchung von Βeyerie, Deutschrechtliche Beiträge, Bd. 10, S. 404. 200 Hierzu Ruth, Zeugen und Eideshelfer, S. 30. 201 Beyerle, Deutschrechtliche Beiträge, Bd. 10, S. 439; Maurer, Geschichte, S. 41, weist jedoch nach, daß die Befugnis zur echten "Verbannung" nicht den Königsrichtern, sondern nur dem König zustand. 202 Westhoff Grundlagen des Strafprozesses, S. 58. 196

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

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geklagte konnte sich, falls er eideswürdig war, durch Eid, ansonsten durch Gottesurteil von dem Verdacht reinigen. 2 0 3 III. Weitere Entwicklung im Mittelalter Die Entwicklung des Zeugenbeweises i m mittelalterlichen Recht ist vor allem durch neue Erscheinungsformen kriminellen Verhaltens bestimmt. Das Wachsen der Städte sowie die ständische Neuordnung der Gesellschaft hatte eine soziale Entwurzelung zur Folge. Daraus entwickelte sich ein Berufsverbrechertum, das sich aus fahrendem Volk, verarmten Dienstmannen, entlassenen Söldnern, aber auch Raubrittern rekrutierte. 204 Die Bekämpfung dieser Jahrhunderte anhaltenden Landplage wurde zur schwersten Aufgabe der mittelalterlichen Rechtspflege. 205 Mit dem strengen Formalismus des alten Rechtsganges war dieser Kriminalitätsform nicht beizukommen. 206 Augenfällig wird dies beim Raubrittertum, dessen wirksame Verfolgung schon durch die Vorschrift der Ebenbürtigkeit des Klägers und der Zeugen mit dem Beklagten verhindert wurde. Aber auch der sakrale Gehalt des Reinigungseides, mit dem sich grundsätzlich jeder Beklagte entlasten konnte, verkam hier zu leerem Formalismus. 207 Im Beweisverfahren begann sich daher das Gewicht von einem rein formalen Beweis hin zu einem inhaltlichen Überführungsbeweis zu verlagern. Zwischen Zeugen und Eideshelfern wurde häufig nicht mehr unterschieden. 1. Private Klage Das private Klageverfahren der fränkischen Zeit wurde im wesentlichen beibehalten. Die Aufgabe des Richters bestand weiter allein in der Verfahrensleitung, während zur Urteilsfindung die Schöffen berufen waren. 2 0 8 Das wichtigste formale Beweismittel blieb der Parteieid. 209

203

Im einzelnen Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 28. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 96 ff 205 Westhoff, Grundlagen des Strafprozesses, S. 65. 206 Ygi hierzu Westhojf, Grundlagen des Strafprozesses, S. 65. 207 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 33. 208 Dies änderte sich erst im späten Mittelalter, vgl. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 31. 209 So hielt auch der Sachsenspiegel an dem Recht des Beklagten fest, sich durch Reinigungseid zu entlasten, vgl. hierzu die Nachweise bei Schmitt, Beweiswürdigung, S. 96 Fn. 135. 204

5'

l.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

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a) Zeugenfahigkeit Die Zeugenfahigkeit setzte weiterhin voraus, daß die Person des Zeugen bestimmte Glaubwürdigkeitskriterien erfüllte. 2 1 0 Im einzelnen wurde jedoch durchaus differenziert. So unterschied z.B. das Freiburger Stadtrecht von 1520 zwischen absoluter und relativer Zeugenunfahigkeit. Absolut zeugenunfähig waren alle Personen unter 12 Jahren sowie Geächtete, Meineidige, Frauenwirte, Totschläger, Juden und Ketzer. Die relative Zeugenunfahigkeit knüpfte dagegen an die besondere Beziehung des Zeugen zu dem Beweisgegenstand. So waren die Aussagen von Verwandten oder von Personen, die mit der Gegenpartei verfeindet waren, ebenso unzulässig wie die Aussage von Gesellschaftern "in einem handel, der ir geselschaft anruerte". 2 1 1 Wegen der Gefahr von Wahrnehmungsfehlern konnten Geschehnisse zur Nachtzeit oder i n einer Schenke nicht durch Zeugen bewiesen werden. Die Schenken wurden "wegen der Trunkenheit" der Nachtzeit gleichgesetzt. 212 Darüber hinaus konnte der Richter nach seinem Ermessen Personen als Zeugen zulassen oder abweisen.213 b) Beweiswert der Zeugenaussage Das Beweismittel des Zeugeneides wandelte sich immer mehr zu einer Beteuerung eigener Wahrnehmungen. 2 1 4 Die Zeugenstellung setzte weiterhin voraus, daß der Zeuge vor dem Geschehnis zur Wahrnehmung aufgefordert wurde. Er wurde von dem Richter zur Wahrheit ermahnt und zur Aussage aufgefordert. 215 Die Zeugenvernehmung fand öffentlich statt, die Zeugen soll-

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Hierzu und zu den Ausnahmen bei Bagatellsachen eingehend Willmann, GA 65 (1918), 507 ff; vgl. auch Heimbach, in Weiske, Rechtslexikon, Bd. 15, S. 241 ff Zu den Anforderungen an die Zeugenfahigkeit in Sachsenspiegel, Schwabenspiegel und Augsburger Stadtrecht Knapp, GA 67 (1919), 42 ff 211 Im einzelnen Willmann, GA 65 (1918), 508 f. 212 Derartige Geschehnisse konnten damit nur durch gerichtlichen Zweikampf bewiesen werden, Willmann, GA 65 (1918), 511. 213 Willmann, GA 65 (1918), 509, 512. 214 ygi hierzu die Glosse zum Sachsenspiegel, zit. bei Heimbach, in Weiske, Rechtslexikon, Bd. 15, S. 245: "... der richter soll die gezeugen fragen umb die zeit, umb die statt und ob sie es haben gesehn und gehört, das sie gezeugen wollen und manches andere dinges, das ich dir hier nich alles gesagen kann." 215 Die Art der Zeugenvernehmung veranschaulicht ein Gerichtsbrief aus dem Jahre 1472: "Damach der Anwald wider für mich in Recht komen ist, und begert seinen Zeug ze rueffen; darauf der geswom Ambtman geruft hat den Zeug wan in gepoten sey worden, des zu Recht genug sey; darauf der Anwald begeret den Zeugen sull zugesprochen werden, ob sy des Rechte helffen wellen; darauf die Zeugen all vier ainhelligküchen reden haben lassen, sy mugen dem von Pollingen des Rechten wol geheißen Innhalt des Richters Laeuterung, und nach Laut der Sponzettel; und darauf haben sy all vier ainhelligklichen a inen gegebenen Ayd mit aufgepotten Vingern zu Gott und zu

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

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ten weiterhin einzeln und i n Abwesenheit der anderen vernommen werden. 2 1 6 A n die Aussage und insbesondere das Nachsprechen der Eidesformel wurden hohe formale Anforderungen gestellt. Jedes falsche Wort, Zögern, Zittern oder Stottern des Zeugen beim Nachsprechen der Eidesformel konnte der Aussage nicht nur jede Beweiskraft nehmen, sondern brachte den Zeugen i n die Gefahr wegen Unrechten Eides hart bestraft zu werden. 2 1 7 c) Zeugenstellung Zu seiner Vernehmung wurde der Zeuge von einem Fronboten geladen. 2 1 8 Unentschuldigtes Fehlen und Verweigern der Aussage wurde weiterhin mit Geldstrafe geahndet. 2 1 9 Für ein Ausbleiben oder ein Fehlen konnte es gute Gründe geben, denn i m Falle der Eidesschelte mußte der Zeuge zum Zweikampf mit der Gegenpartei antreten. 2 2 0 Verweigerte er den Zweikampf, wurde er wie ein Meineidiger bestraft. 221 2. Handhaftverfahren Der Anwendungsbereich des Handhaftverfahrens wurde erheblich ausgeweitet. Während der Beschuldigte früher nur dann jeder Verteidigungsmöglichkeit verlustig ging, wenn er auf frischer Tat festgenommen wurde, genügte es jetzt, daß der Beschuldigte - ohne zeitlichen Zusammenhang mit der Tat -

den Heiligen geswom, das das ain Warhait sey. Darauf der Anwald begert den Anderen zu ruffen, darauf der gesworn Ambtmann den Zeugen auch geruft hat ...". Zitiert bei Maurer, Geschichte, S. 188. 216 Maurer, Geschichte, S. 188. 217 Wer einen Unrechten Eid schwört, wird nach dem Schwabenspiegel gebannt und sühnt mit Geldbuße, Schlägen oder gar dem Verlust seiner Hand, vgl. Knapp, GA 67 (1919), 35, 43. Allgemein zu dem überzogenen Formalismus des Verfahrens Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 31; Maurer, Geschichte, S. 225. 218 Maurer, Geschichte, S. 138, 207. Eine detaillierte Regelung der Zeugenpflicht findet sich in einer Freiburger Rechtssammlung aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. Danach wurde der Zeuge auf Ersuchen der beweisfuhrenden Partei von einem "Bürgermeister" geladen. "Spreche er aber, das er nützit darumbe wisti, und swueri des vor dem burgermeister, der soelte sin denne lidig sin." Bei der Ladung auswärtiger Zeugen hatte die Partei "die gezügen in sinem kosten zeren und den kosten darumb haben." Eingehend zu dieser Quelle Willmann, GA 65 (1918), 512. 219

Vgl. auch Maurer, Geschichte, S. 209, 218 f. Demgegenüber geht Bender, Merkmalskombinationen, S. 26 f., ohne Begründung davon aus, daß die Zeugenaussage freiwillig war. 22 0 Willmann, GA 65 (1918), 515, mit zahlreichen Quellennachweisen. 221 Im einzelnen hierzu Knapp, GA 67 (1919), 35.

l.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

70

von dem Kläger und den Schreimannen dem Gericht überstellt w u r d e . 2 2 2 Parallel zu dieser Erweiterung wurden die Anforderungen an den Überführungsbeweis erhöht. Es genügte nicht mehr, daß der Kläger den Überführungseid sprach und die Schreimannen schworen, daß die Festnahme rechtmäßig erfolgte. Neben dem klägerischen Eid wurde jetzt regelmäßig die beeidete Aussage von sechs Tatzeugen gefordert. 223 Dadurch, daß die Schreimannen i n der Sache als Tatzeugen aussagten, ohne die strengen Anforderungen an die Zeugenfahigkeit zu erfüllen, begann sich der Zeugenbeweis von seinen strengen formalen Anforderungen an die Person des Zeugen zu befreien. 2 2 4 So kam es zu der wichtigsten Änderung des mittelalterlichen Beweisrechts: Der Zulassung des Zufallszeugen. 225 Der Beklagte hat damit sein Beweisführungsprivileg verloren, was eine erhebliche Schlechterstellung bedeutete. Der Zeugenbeweis wurde damit endgültig zu einem Überführungsbeweis. 226 5. Hoheitliches Verfahren a) Landfrageverfahren U m Verbrechen wirksamer bekämpfen zu können, entwickelte sich etwa ab dem 12. Jahrhundert aus dem fränkischen Rügeverfahren das sog. Landfrageverfahren. 2 2 7 Die gesamte Bevölkerung oder ausgewählte Kreise wurden von dem Landherren nach landschädlichen L e u t e n 2 2 8 (Verbrechern) befragt. Zur Überführung der auf diese Weise namhaft gemachten Personen bedurfte es der eidlichen Erklärung sieben unbescholtener Männer als Zeugen ("Thingleute"),

222

Dies galt vor allem in den süddeutschen Rechtskreisen, während der Sachsenspiegel weiterhin die Festnahme auf frischer Tat vorschrieb, vgl. zu diesen regionalen Unterschieden Schmitt, Beweiswürdigung, S. 99. 223 Eine Zusammenstellung der unterschiedlichen Beweisanforderungen bei handhafter Tat in Sachsenspiegel, Schwabenspiegel und Augsburger Stadtrecht findet sich bei Knapp, GA 67 (1919), 36 ff. 22 4 Westhoff Grundlagen des Strafprozesses, S. 67. Zu den regionalen Unterschieden eingehend Schmitt, Beweiswürdigung, S. 100 in Fn. 156. 225 Schmitt, Beweiswürdigung, S. 100 Fn. 155. 22 6 Schmitt, Beweiswürdigung, S. 100 Fn. 160. 227 Weitere Formen des alten Rügeverfahrens - in denen jedoch der eigentliche Zeugenbeweis kaum noch eine Rolle spielte - waren das Femeverfahren - eingehend hierzu Westhoff y Grundlagen des Strafprozesses, S. 64 f. - und das Leumundsverfahren - hierzu Göggelmann, Das Strafrecht der Reichsstadt Ulm, S. 312 f f ; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 33, sowie eingehend Ruth, Zeugen und Eideshelfer, S. 211 ff. 2 2 8 Eingehend zum Begriff landschädlicher Leute Ruth, Zeugen und Eideshelfer, S. 186flf. Zu Besonderheiten des privaten Klageverfahrens gegen landschädliche Leute vgl. Göggelmann y Das Strafrecht der Reichsstadt Ulm, S. 310 flf.

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

71

daß ihnen der Beschuldigte als schädlicher Mann bekannt s e i . 2 2 9 Zum Schutz der Zeugen vor Racheakten des Verbrechertums fand diese Befragung heimlich, als sog. "stille Frage" oder "Geräune", statt. 2 3 0 Der Beschuldigte hatte anders als i m fränkischen Rügeverfahren, wo die Benennung als Tatverdächtiger lediglich die Anklage ersetzte - i m Landfrageverfahren keine Möglichkeit mehr, sich durch den Reinigungseid zu entlasten. Dennoch fehlte es diesem Verfahren durch das Erfordernis von sieben Zeugen an der Durchschlagskraft. 231 b) Formfreies Inquisitionsverfahren Während das private Klageverfahren durch seinen strikten Formalismus zur Ahndung von Straftaten immer ungeeigneter wurde, entwickelte sich mit der Inquisition ein eigenständiges staatliches Strafverfolgungsverfahren heraus, i n welchem sich die hoheitlichen Strafverfolgungsorgane von jeder Formbindung befreiten. Ziel des Beweisverfahrens war nicht mehr das formale Besiegen des Gegners, sondern das Erforschen des tatsächlichen Geschehens. Der Sachverhalt wurde von Amts wegen aufgeklärt. Eid und Gottesurteil verschwanden daher als Beweismittel. A n ihre Stelle traten das durch Folter erlangte Geständnis des Angeklagten sowie der Zeugen-, Sachverständigen- und Augenscheinsbeweis. Der Zeugenbeweis war nur dann erfolgreich geführt, wenn zwei Zeugen - bei schweren Verbrechen sechs Zeugen - die Anklage bestätigten. Durch das sog. Gerichtszeugnis konnten die Angaben von Verhörspersonen i n das Verfahren eingeführt werden. Ein späterer Geständniswiderruf konnte durch die Aussage der bei der Folter anwesenden Schöffen widerlegt werden. 2 3 2 Die Zeugen waren selbstverständlich auch i n den hoheitlichen Landfrageund Inquisitionsverfahren verpflichtet, auf amtliche Ladung vor Gericht zu erscheinen und auszusagen. Ungehorsam war auch hier mit Strafe bedroht. 2 3 3

229 Ruth, Zeugen und Eideshelfer, S. 198 ff, weist nach, daß auch das Landfrageverfahren meist eine konkrete Straftat zum Anlaß hatte. Das Wissen der Zeugen über die Schuld des Verdächtigen an der konkreten Tat beruhte allerdings nur auf der Schlußfolgerung aus dem Lebenswandel des Beschuldigten. Zum ganzen auch Jerouschek, ZStW 104 (1992), 357 f. 230 Westhoff, Grundlagen des Strafprozesses, S. 66. 231 Dies kommt etwa in dem Privileg Sigismunds für Leutkirch (1431) zum Ausdruck, wo erklärt wird, daß "die gericht ofit dick verhindert und solch schädlich leut ungestraflt und gefristet werden darum, daz man an solch eyden instünden gebrechen hat." HierzuEb. Schmidt, ZStW 62 (1944), 255. 232 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 34. 233 Zu einzelnen Quellennachweisen vgl. Ruth, Zeugen und Eideshelfer, S. 55.

72

l.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

C. Rezeption Das Inquisitionsverfahren, wie es im Deutschland des späten Mittelalters praktiziert wurde, war der Versuch, die dramatisch angestiegene Kriminalität wirksam zu bekämpfen. Beherrschender Gedanke des Verfahrens war seine Zweckmäßigkeit. Wegen seiner einfachen Handhabung entwickelte sich der Inquisitionsprozeß - wenn auch von Ort zu Ort verschieden - zum Normalverfahren gegen jeden Tatverdächtigen. Der Preis seiner Zweckmäßigkeit war die Willkür, die unvermeidlich mit dem Verlust prozessualer Formen einherging. Die Erkenntnis, daß Gerechtigkeit mit diesem Verfahren immer weniger verwirklicht werden konnte, führte zu Versuchen, dem Verfahren eine einheitliche rationale Grundlage zu geben, um so der Rechtszersplitterung und Willkür zu begegnen. 234 Hierfür bot sich das italienische Verfahren mit seiner Systematik und Begrifflichkeit geradezu an. Unterstützt durch das Aufkommen eines gelehrten Richtertums drang das italienische Verfahrensrecht seit dem 14. Jahrhundert verstärkt in den deutschen Strafprozeß e i n . 2 3 5 Die Rezeption des italienischen Straiprozeßrechts hat den deutschen Strafprozeß bis in das 19. Jahrhundert hinein geprägt. I. Das übernommene italienische Strafprozeßrecht Mit dem italienischen Strafverfahren wurde ein Recht übernommen, welches Elemente des alten römischen Rechts mit Elementen des mittelalterlichen Kirchenrechtes verband. 2 3 6 Von daher soll vorab das kanonische Recht kurz dargestellt werden. 7. Das Kirchenrecht Der kirchliche Strafprozeß wurde 1215 von Innozenz III. zu einem Inquisitionsverfahren ausgeformt. 237 Es bildete in allen Grundfragen der Verfahrensgestaltung den Gegentyp des germanischen Verfahrens: Das altdeutsche Recht war vom Parteibetrieb getragen, beruhte auf dem Anklage- und Verhandlungsgrundsatz, war öffentlich und mündlich, und wurde durch Formalbeweisakte der Parteien geführt. Das kanonische Strafverfahren war vom Inqui234

In der Vorrede der CCC wurde als ein Grund für ihren Erlaß angegeben, "dass ... an viel orten ofltermals wider recht vnnd gute vernunflt gehandelt, vnnd ... die vnschuldigen gepeinigt und getödt... werden." 235 Zum Streit über die Herkunft dieses Inquisitionsverfahrens vgl. einerseits Oehler, Hilde Kaufinann-GedS, S. 858 ff., andererseits Eb. Schmidt, ZStW 62 (1944), 235 ff, 253 ff. 236 Schmitt, Beweiswürdigung, S. 109. 237 Zu den rechtspolitischen Hintergründen vgl. Jeronschek, ZStW 104 (1992), 334 ff.

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

73

sitionsprinzip getragen, parteilos 238 , schriftlich und geheim. Das Beweisverfahren war auf die Erforschung der materiellen Wahrheit gerichtet, der Richter war durch keinerlei formale Schranken gebunden. 239 Beweis wurde geführt mit "ganzen" und "halben" Beweisen. Halber Beweis konnte mit Gerüchten (infamatio, denuntiatio) und Indizien (auch Präsumtionen) erbracht werden. 2 4 0 Vollen Beweis erbrachte neben dem Geständnis die übereinstimmende Aussage zweier eidesfähiger Tatzeugen. 241 Beim Beweis gegen Angehörige des Klerus war die Zahl der Zeugenaussagen, die zu einer Überführung des Angeklagten erforderlich waren, davon abhängig, welchen Rang der Geistliche innerhalb der Kirchenhierachie innehatte. 242 Die Zeugenfahigkeit wurde durch eine stattliche Liste von Ausschlußgründen eingeschränkt. 243 Als Glaubhaftigkeitskriterium der Aussage galt vor allem die formale Glaubwürdigkeit des Zeugen auf Grund seines Alters und seines Standes. Dem Beschuldigten wurden Name und Aussage der Belastungszeugen mitgeteilt 2 4 4 , damit er gegen die Verwertung ihrer Aussage und damit gegen ihre formale Zeugenfähigkeit Einwendungen erheben konnte. 2 4 5 Verdächtige

238

Bei den kirchlichen Ketzerprozessen genügte die bloße Denunziation zur Verfahrenseinleitung. Die Namen der Belastungszeugen wurden nicht angegeben, oft wurde die Zeugenaussage vom Gericht inhaltlich verfälscht, der Angeklagte hatte kaum Verteidigungsmöglichkeiten. Hierzu kurz Westhoff, Grundlagen des Strafprozesses, S. 80. 239 Zum ganzen Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 37. 240 Der halbe Beweis konnte durch Zeugen komplettiert werden, vgl. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 118. 241 Dies entsprach auch biblischen Vorstellungen, vgl. z.B. fünftes Buch Moses, Kap. 17, Vers 6: "Wer auf den Tod angeklagt ist, soll auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen hin getötet werden; er darf nicht getötet werden auf die Aussage eines Zeugen hin." 242 Vgl zum ganzen Schmitt, Beweiswürdigung, S. 118. 243 Eingehend Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 29 f. 244 Die Problematik anonymer Zeugenaussagen war bereits Innozenz DI. bekannt: "Und nicht allein die Aussagen, sondern auch die Namen der Zeugen sind ihm ... bekanntzugeben ..., damit es nicht aussieht, als ob jemand mit Hilfe der Unterdrückung der Namen den anderen diffamieren dürfe ..."; vgl. Oehler, H. Kaufmann-GedS, S. 852. 245 Derartige Einwendungen konnten erhebliche juristische Probleme aufwerfen. Innozenz ΙΠ. sah sich daher in dem Strafverfahren gegen den untreuen Abt von Pomposa im Jahre 1199 zu folgender Weisung genötigt: "Wir (haben) unter Beachtung der Billigkeit den Beweis nur solcher Einwendungen zugelassen, welche aus Eifer für die Gerechtigkeit und nicht aus Böswilligkeit zu stammen schienen.", vgl. Oehler, H. Kaufinann-GedS, S. 850 f.

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l.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

Zeugen konnten vom Angeklagten abgelehnt werden. 2 4 6 Widersprachen sich die Zeugenaussagen, führte dies nicht zwingend zum Freispruch. Der Richter konnte vielmehr entscheiden, welcher der beiden Aussagen er Glauben schenkte. Die Zeugen waren verpflichtet, ihr Wissen über den Straffall zu bekunden und den Eid zu leisten 2 4 7 . Diese Pflicht wurde bei einer Weigerung des Zeugen mit Zwangsmitteln durchgesetzt. 248 2. Das italienische Strafverfahren Etwa seit 1400 war das Inquisitionsverfahren insbesondere in den oberitalienischen Städten die regelmäßige Verfahrenform. 249 Auch hier lag der wesentliche Grund i n der Notwendigkeit einer wirksameren Verbrechensbekämpf u n g . 2 5 0 Der Entlastungsbeweis des Angeklagten mittels Reinigungseid wurde abgeschafft, der Angeklagte konnte selbst ohne Geständnis oder Überführungszeugen allein aufgrund von Indizien überführt werden. Die übereinstimmende Aussage zweier Tatzeugen sowie das Geständnis waren die Verurteilung tragende "indicia indubitata", während die Aussage zweier Zeugen, die das Tatgeschehen selbst nicht wahrgenommen hatten, nur "indicia dubitata" waren, die nicht zur Verurteilung, sondern nur zur Folter des Angeklagten mit dem Ziel, ein Geständnis zu erlangen - berechtigten. 251 Auch der Zeuge konnte unter zwei Voraussetzungen gefoltert werden, nämlich wenn er sich bei seiner Aussage widersprach und wenn er angab, an der Tat nicht beteiligt gewesen zu sein, dies aber durch andere Aussagen widerlegt wurde. 2 5 2

246

Verdächtige Zeugen waren Personen üblen Rufs oder solche, die der Parteilichkeit verdächtig waren wegen verwandtschaftlicher Beziehungen oder weil sie in einem Abhängigkeitsverhältnis standen. Verdächtige Zeugen waren darüberhinaus arme und unbekannte Personen; Westhoff, Grundlagen des Strafprozesses, S. 79. 247 Henkel, Strafveifahrensrecht, S. 36. 248 Goltdammer, GA 10 (1862), 821. 249 Wobei es sowohl im alten römischen Recht als auch im kanonischen Recht ein Verfahren von Amts wegen gab, vgl. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 119. 25 0 Schmitt, Beweiswürdigung, S. 120. 251 Schmitt, Beweiswürdigung, S. 120. 252 Karitzky, Geschichte der Zeugnisverweigerungsrechte, S. 16.

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

IL Das deutsche Strafverfahren

75

nach der Rezeption

1. Die Carolina Die Constitutio Criminalis Carolina ( C C C ) 2 5 3 wurde als Peinliche Gerichtsordnung von Karl V. erlassen und galt von 1532 bis 1806 formal als Reichsgesetz. 254 In ihr wurden die wesentlichen Grundsätze des rezipierten italienischen Inquisitionsverfahrens übernommen und gewannen damit für die Rechtsanwendung im gesamten Reich Bedeutung. Durch die CCC wurde die germanische Schöffenverfassung zugunsten ausgebildeter Richter, die auch an der Urteilsfindung beteiligt wurden, abgebaut. 255 Das Strafverfahren war weitgehend schriftlich und geheim, lediglich die Urteilsverkündung fand am "entlichen Rechtstag" öffentlich statt. 2 5 6 Das Verfahren konnte auf private Klage oder, bei Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachtes, von Amts wegen eingeleitet werden. Da die private Klage jedoch mit einem erheblichen Kostenrisiko des Klägers verbunden w a r 2 5 7 , wird der Verletzte regelmäßig nicht selbst geklagt, sondern eine Anzeige erstattet haben. a) Zeugenfähigkeit Die Zeugenfähigkeit war wie bisher an bestimmte Glaubwürdigkeitskriterien geknüpft. Als Zeugen zugelassen (genugsam) waren nur Personen, "die vnverleumbdt vnnd sunst mit keiner Rechtmessigen vrsachen zuverwerffen seindt". 2 5 8 Angehörige waren damit ebenso wie Frauen oder Heranwachsende nicht grundsätzlich vom Zeugnis ausgeschlossen. Unbekannte Zeugen waren nur zugelassen, nachdem ihre Redlichkeit dargetan wurde. 2 5 9 Die Zeugen hatten von ihrem "selbs eigen waren wissenn mit antzeigung jrs wissens gruntli-

253

Die einzelnen Vorschriften der CCC sind zitiert nach Kohler/Scheel, Peinliche Gerichtsordnung. 254 Geistige Vorläufer waren die Wormser Reformation von 1498 und insbesondere die Constitutio Criminalis Bambergensis (CCB) von 1507. Zur Entstehungsgeschichte vgl. Kleinhey er, Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 7 ff, 14 flf. 255 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 39. 256 Zur Bedeutung schriftlicher "Gutachten" für die Urteilsfindung vgl. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 127 m.w.N. Zur Bedeutung des "entlichen Rechtstages" eingehend Schild, Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 119 flf. 257 Konnte der Kläger keine Sicherheit leisten, wurde er zusammen mit dem Angeklagten festgenommen, da er dem Angeklagten bei erfolgloser Klage zum Schadensersatz verpflichtet war, Art. 12 und 14 CCC. 258 Art. 66 CCC. Die CCB verlangte darüberhinaus, daß der Zeuge über 20 Jahre und kein "Weibsbild" sein dürfe, Art. 76 CCB, vgl. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 132. 259 Art. 63 CCC.

76

l.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

cher ursach" zu berichten, Zeugen vom Hörensagen waren ausgeschlossen.260 Stellte sich heraus, daß sich ein Zeuge hatte kaufen lassen, so wurde er peinlich bestraft. 261 Bei einer Falschaussage wurde der Zeuge so bestraft, wie der Angeklagte bei zutreffender Aussage bestraft worden wäre. 2 6 2 b) Beweiswert der Zeugenaussage Im Beweisrecht wurden die altdeutschen formalen Beweismittel wie Reinigungseid, Übersiebnen und Gottesurteil abgeschafft. Wie im italienischen Recht wurde zwischen Beweisen, die zur Verurteilung berechtigten, und solchen, die nur Anlaß zum Erfoltern eines Geständnisses gaben, unterschieden. Voraussetzung für die Folter war ein hinreichender Tatverdacht, der z.B. auf einer glaubhaften Strafanzeige beruhen konnte. 2 6 3 Glaubhaft war die Anzeige, wenn sie von einem Augenzeugen der Tat stammte oder wenn zwei Zeugen, ohne die Tat gesehen zu haben, bestimmte Indizien für die Täterschaft des Verdächtigten liefern konnten. 2 6 4 Die Glaubhaftigkeit einer Anzeige durch bereits überführte Mittäter war genau zu überprüfen. 265 Die Verurteilung des Angeklagten setzte grundsätzlich dessen glaubwürdiges Geständnis voraus. 2 6 6 Mit Hilfe des Zeugenbeweises sollte der Angeklagte nur überführt werden, falls kein Geständnis zu erlangen w a r . 2 6 7 Zum Tatnachweis erforderlich waren die übereinstimmenden Aussagen zweier Tatzeugen. 268 Auch aus diesem Grund mußte primäres Beweismittel das Geständnis bleiben.

260

"So sy aber vonnfrembden hören sagenn wurden, das soll nit genugsam geacht werden", Art. 65 CCC. Lediglich beim Widerruf des erfolterten Geständnisses konnte der Angeklagte im Wege des Gerichtsbeweises durch die Aussage zweier Folterschöffen überführt werden, Art. 91 CCC; eingehend zu diesem Vorgehen Schild, Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 122. 261 Art. 64 CCC: "Item belonten zeugen sein auch verworffen vnd nit zulessig, sonnder peinlich zu straffen." 262 Art. 68 CCC. 263 Art. 20 und Art. 45 CCC. 264 Art. 23 und 30 CCC. - Die CCC enthielt für die unterschiedlichen Delikte detaillierte, aber nicht abschließende (vgl. Art. 24 CCC) Vorgaben zu den jeweils möglichen Indizien. Hierzu auch Schmitt, Beweiswürdigung, S. 129 f. 265 Art. 31 CCC enthält hierzu Vorgaben, die auch im Zeitalter der Aussagepsychologie noch Gültigkeit beanspruchen können. So waren insbesondere Suggestivfragen untersagt, Art. 31 Satz 3 CCC. 266 Das Geständnis war glaubwürdig, wenn in ihm "solliche Wahrheit befunden wirdt, die kein vnschulldiger allso sagenn vnd wissen khänndt", Art. 60 CCC. 267 Art. 62 CCC: "... wo der beclagt nichts bekennen ... wollte." So auch Henkel, Strafveifahrensrecht, S. 42 f. AA. Kohler/Scheel, Carolina, S. 127 f. 268 Nach Art. 67 CCC setzte der Zeugenbeweis zur Überfuhrung voraus, daß "ein missethat zum wenigstenn mit zweien oder dreienn glauphafltigenn guten zeugen, die

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

77

Die Zeugen wurden regelmäßig durch den Richter in Gegenwart zweier Schöffen und des Gerichtsschreibers geheim vernommen. 269 Dem Angeklagten wurde das Ergebnis der Vernehmung mitgeteilt, er konnte hiergegen Einwendungen erheben. 270 Über die Zeugenaussage wurde wie im kanonischen Recht ein Protokoll erstellt. Um den nicht anwesenden Schöffen sowie den Rechtsverständigen die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage zu ermöglichen und möglichen Einwendungen des Angeklagten zuvorzukommen, wurden neben der Aussage zur Sache auch die Aussagen zu den sog. Generalfragen sorgfältig zu Protokoll genommen, wie folgender Auszug aus einem Vernehmungsprotokoll zeigt: "... er sei eelicher Geburt, er war in keiner verlewmung, darumb er sich im rechten forchten muß, er saget nicht von haß, veindschaft (oder) freundschaft ... wegen, im wer von seiner sag nichts versprochen und er het sich mit seinen mitzeugen nicht unterredt, auch nicht unterwisen, was und wie er sagen solt". 2 7 1 Darüberhinaus waren die "eusserlichen geberden" des Zeugen ebenso in das Protokoll aufzunehmen wie der Umstand, ob der Zeuge sich bei seiner Aussage "wanckelmutig" oder "vnbestendig" verhielt. 2 7 2 c) Zeugenstellung Die Carolina behandelt nur den Beweiswert der Zeugenaussage und das Verfahren der Zeugenvernehmung. Zur Zeugnispflicht enthält sie dagegen keine Bestimmungen, offenbar weil sie diese als selbstverständlich voraussetzt. 2 7 3 Die Zeugen wurden zur Vernehmung geladen. Wurde das Verfahren durch eine private Klage eingeleitet, so hatte der Kläger dem Gericht die Zeugen mit Name und Anschrift zu nennen, damit diese zur Vernehmung geladen und in "gepurlicher weis verhört" werden konnten. 2 7 4 Der Zeuge hatte zumindest gegen den privaten Ankläger Anspruch auf angemessene Entschädi-

von einem warenn wissen sagen, bewisen würdt." - Solche Zeugen dürften freilich nur selten zur Verfügung gestanden haben. 269 270

Art. 71 CCC. Art. 73 CCC.

2 7 1

Nachweis bei Trusen, Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 68.

272

Ait. 71 CCC.

273 ygi auch Zachariae, Handbuch des deutschen Strafprocesses, Bd. 2, S. 183, Fn. 7. 274

Art. 70 CCC.

78

l.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

g u n g . 2 7 5 Freies Geleit sollte der vernehmende Richter dem Zeugen grundsätzlich erst nach dessen Vernehmung zusagen. 276 2. Die Entwicklung des gemeinen Rechts Von einer einheitlichen Entwicklung des Strafverfahrensrechts, wie sie von Karl V. angestrebt wurde, konnte i n den folgenden Jahrhunderten keine Rede sein. I n den einzelnen Territorien entwickelte sich ein Rechtsbestand, der immer stärker von den Vorgaben der Carolina abwich und - spätestens mit dem Hexenwahn - hinter diese zurückfiel. Er wird gewöhnlich unter dem Sammelbegriff des "gemeinen Rechts" zusammengefaßt. Dem Zeitgeist des Absolutismus entsprechend war das Verhältnis der Obrigkeit gegenüber dem einzelnen geprägt von Staatswohl und Staatsräson. Das gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren war das Abbild dieses staatsabsolutistischen und polizeistaatlichen Denkens. 2 7 7 Der Staat sah sich zu einer effektiven Strafverfolgung verpflichtet, um seine Ordnungsfunktion zu erfüllen. Jede Form, die die Effektivität des Verfahrens hinderte, wurde beseitigt und durch das Ermessen des Richters ersetzt. 2 7 8 Das Ermessen des Richter war allein begrenzt durch das Weisungsrecht der Obrigkeit. Angeklagter wie Zeuge waren nur Mittel zum Zweck, als Objekte der Inquisition kamen ihnen so gut wie keine Rechte zu. Das gesamte Verfahren, einschließlich der Urteilsverkündung, war schriftlich und geheim. 2 7 9 Der Untersuchungsrichter reichte nach Abschluß der Beweisaufnahme die Akten zur Urteilsfindung bei dem Urteilskollegium ein, dem er selbst angehörte. Das Urteil erging sodann auf der Grundlage der Akten. Wie bisher wurde zwischen vollem und unvollkommenem Beweis unterschieden. Bei vollem Beweis konnte der Angeklagte zur ordentlichen Strafe, bei nicht vollgültigem Beweis, aber hinreichenden Indizien, zu außerordentlicher Strafe verurteilt werden. 2 8 0 Das Geständnis des Angeklagten blieb primäres Ziel der Beweisaufnahme, auch wenn die Folter seit Ende des 18. Jahrhunderts durch weniger brutale, aber weiterhin effektive Methoden ersetzt wurde. 2 8 1

275

Art. 75 CCC. Art. 76 CCC. 27 7 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 45. 27 8 Schmitt, Beweiswürdigung, S. 135 m.w.N. 27 9 Birkmeyer, Deutsches Strafprozeßrecht, S. 820. 280 Die außerordentliche Strafe beinhaltete z.B. Gefängnis, oder Handabhauen. Eingehend zu der Carpzov'sehen Lehre von der "poena ordinaria et extraordinaria" Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch, S. 244 ff 281 Statt durch Folter wird das Geständnis jetzt durch Prügelstrafen, strengen Arrest, und jede Art von List erlangt. 276

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

79

a) Zeugenfahigkeit und Beweiswert der Aussage Während der Spielraum des Richters bei der Verfahrensgestaltung nahezu unbeschränkt war, wurde ihm die Würdigung der erlangten Beweise minutiös vorgeschrieben. In der Regelung des Zeugenbeweises wurde die gesetzliche Beweistheorie auf die Spitze getrieben. Die Zeugen wurden i n Gruppen eingeteilt, wobei im wesentlichen wie im früheren Recht zwischen absolut unfähigen, relativ unfähigen und verdächtigen Zeugen unterschieden wurde. 2 8 2 Um die Einteilung zu erleichtern, wurden alphabetische Zeugenkataloge herausgegeben. 2 8 3 Der Beweiswert der Zeugenaussage wurde für jede Gruppe im voraus gesetzlich eingestuft. Voller Beweis konnte nur durch die übereinstimmende Aussage zweier "genügsamer" Zeugen erbracht werden. Die beiden Aussagen mußten glaubwürdig sein, um den vollen Beweis gegen den Angeklagten zu erbringen. Dies war nicht der Fall, wenn "die Zeugen, das, was sie aussagen, nicht gewiß wissen, sondern nur vermuthen, oder Folgerungsweise schliessen, in Zweifel oder von anderen gehört haben" oder wenn "der Zeuge bald so, bald änderst aussaget, mithin sich selbst widerspricht, entweder gar keine, oder unwahrscheinliche Ursache angäbe, oder falsche Umstände mit einmischte." 284 Zum vollen Beweis der Unschuld des Angeklagten genügte dagegen die entlastende Aussage eines Zeugen. 285 Mit der Zeit wurde der Beweiswert der Aussage entsprechend den einzelnen Zeugengruppen durch ein mathematisches Verfahren errechnet. 286 Ein voller Beweis konnte sich aus Bruchteilen von halb-, viertel-, oder achtel-wertigen Zeugenaussagen zusammensetzen. 287 Noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts verlangten die Länderstrafgesetze zur Überführung des Täters ein Geständnis oder die Aussagen

282

Absolut zeugenunfahig waren Personen, die wegen ihres eingeschränkten Denk- und Geistesvermögens kein geeignetes Zeugnis ablegen konnten. Nicht genügsame Zeugen waren diejenigen, die in einem besonderen Verhältnis zu dem Angeklagten standen. Dies waren vor allem seine Blutsverwandten, nicht dagegen seine Freunde. Zu den verdächtigen Zeugen Zählten alle übel beleumundeten Personen. Vgl. hierzu Schmitt, Beweiswürdigung, S. 140. 283 Nachweise bei Birkmeyer, Deutsches Strafprozeßrecht, S. 421 Fn. 7. 284 Art. 33 § 14, 15 Theresiana, zit. nach Schmitt, Beweiswürdigung, S. 140. 285 So konnte ein Zeuge, der zugunsten des Angeklagten aussagte, zwei ihn belastende Aussagen entkräften, vgl. hierzu Carpzov Qu. 115 Nr. 75 zit. bei Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch, S. 337. 286 Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert der Versuch v. Globigs zur Bestimmung des Beweiswertes von Zeugenaussagen: "Wenn also z.B. 3 Zeugen in 8 zusammenhängenden Punkten übereinstimmen, so ist der Grad ihrer Harmonie 24. Sind hingegen 8 Zeugen bloß in 3 Punkten einstimmig, so ist die Harmonie ebenfalls 24 und sie beweisen nicht mehr als jene 3 Zeugen" (zitiert nach Schmitt, Beweiswürdigung, S. 151 Fn. 581). 287 Eingehend hierzu Hornung-Grove, Beweisregeln im Inquisitionsprozeß, mit anschaulichen Übersichten auf S. 16 f., 36 und 97.

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l.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

zweier Augenzeugen. 288 Indizien genügten nach wie vor grundsätzlich nur für die Verdachtsstrafe. 289 b) Zeugenstellung Die Zeugenpflichten zum Erscheinen, Aussagen und Schwören wurden dem absolutistischen Zeitgeist entsprechend als selbstverständliche Staatsbürgerpflichten angesehen. Der Zeuge war ebenso wie der Angeklagte ein rechtloses Untersuchungsobjekt. 290 Ein Zeuge, der eine Aussage verweigerte, konnte unabhängig von der Strafe, die dem Beschuldigten drohte, bis zu seiner Aussage, u.U. also lebenslang 291 , in Haft genommen werden. Auch die Folter war zur Erzwingung des Zeugnisses zulässig. 292 Die Folter wurde aber nur empfohlen, "wenn die Wahrheit nicht anders zu ermitteln war und es bestimmt erhellte, daß der Zeuge von den Hauptumständen des Verbrechens Kenntnis habe." 2 9 3 D. Der reformierte Strafprozeß I. Entwicklung im 19. Jahrhundert Als sich der politische Zeitgeist immer stärker vom absolutistischen Staatsverständnis entfernte und sich mit dem Liberalismus schließlich in dessen Gegenteil verkehrte, wurde offensichtlich, daß auch das Strafverfahrensrecht von seinen Grundlagen her vollkommen neu zu gestalten war. Die Weichen für einen derartigen politischen Kraftakt wurden in Deutschland durch die Revolution von 1848 gestellt. 2 9 4 Hierbei galt es, zwei scheinbar konträre Forderun-

288

Vgl. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 159 ff. Als Ausnahme hiervon hatte Friedrich Π. bereits in einem Ordre vom 3. Juni 1740 bestimmt: "Hingegen sollen in allen übrigen Fällen, wann die Delinquenten die stärksten und sonnenklaren Indicia und Beweise durch viele unverdächtige Zeugen und dergl. wider sich haben und doch aus hartnäckiger Bosheit nicht gestehen wollen, diesselben nach den Gesetzen bestraft werden." (Zitiert bei Schmitt, Beweiswürdigung, S. 159 Fn. 644. 290 So ein Gutachten des Spruchkollegiums der Universität Erlangen, abgedruckt bei Goltdammer, GA 11 (1863), 823. 291 Spruchkollegium der Universität Erlangen, zitiert bei Goltdammer, GA 11 (1863), 824. 292 Karitzky, Geschichte der Zeugnisverweigerungsrechte, S. 25; Zachariae, Handbuch des deutschen Strafprocesses, Bd. 2, S. 186 Fn. 13; jeweils m.w.N. Das Zwangsmittel der Folter gegen den Zeugen wurde seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zusammen mit der Folter gegen den Angeklagten abgeschafft. 293 Goltdammer, GA 10 (1862), 821 m.N. 294 Zum Einfluß der französischen Revolution auf das deutsche Strafverfahren vgl. Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 67 ff 289

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

81

gen zu vereinen: Einerseits verlangte der liberalistische Zeitgeist zum Schutz der Rechte des einzelnen die Kontrolle richterlicher Macht und ihre Bindung an das Gesetz. Andererseits zeigte die Erfahrung mit der Bindung des Richters an gesetzliche Beweisregeln, daß Wahrheit und Gerechtigkeit nur durch eine freie Beweiswürdigung verwirklicht werden können. 2 9 5 Die Lösung des Konfliktes wurde i n einem Verfahren gefunden, das einerseits die freie Beweiswürdigung des Richters anerkannte und andererseits die wirksame Kontrolle dieser richterlichen Freiheit sicherstellte. Diese Kontrolle sah man i n der wiedereingeführten Mitwirkung von Schöffen, in der Mündlichkeit und Öffentlichkeit des Hauptverfahrens 296 sowie in dem Zwang zur Urteilsbegründung und schließlich in der Möglichkeit, gegen das Urteil Rechtsmittel einzuleg e n . 2 9 7 Gesetzlichen Ausdruck fanden diese Reformbestrebungen zuerst i n den Landesstrafgesetzen, die auf der Grundlage der Paulskirchenverfassung von 1848 erlassen wurden und - nach der Neugründung des Reiches 1871 - i n der Reichsstrafprozeßordnung von 1877 2 9 8 . Die beiden Forderungen an den reformierten Strafprozeß - Schutz des einzelnen vor staatlichen Eingriffen und Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung - gewannen auch für den Zeugenbeweis i m Strafverfahren Bedeutung. 1. Zeugenfähigkeit

und Beweiswert der Aussage

M i t dem Grundsatz freier Beweiswürdigung veränderten sich die Anforderungen an die Zeugenfähigkeit grundlegend. Der i m gemeinen Recht entwickelte umfassende Katalog von absolut unfähigen, relativ unfähigen und verdächtigen Zeugen wird der neuen, materiellen Beweistheorie angepaßt. Zeugenunfähig sind jetzt nur noch diejenigen Personen, die von Natur aus unfähig sind, Tatsachen sinnlich wahrzunehmen und hierüber Auskunft zu geben. Alle übrigen Personen, die nach früherem Recht wegen ihrer eingeschränkten Glaubwürdigkeit als Beweispersonen ausgeschlossen waren, konnten jetzt als Zeugen vernommen werden. Der Gefahr, die von ihrer Aussage für die Wahrheitserforschung ausging, wurde nicht mehr durch ein Beweisverbot, sondern durch die freie richterlichen Beweiswürdigung begegnet. Damit konnte auch die unbeeidete Aussage eines Zeugen zu Beweiszwecken verwertet werden.

295

Grundlegend v. Savigny, GA 6 (1858), 484, 486 f. Vgl. auch Koch, Justizielles Beweisveifahren, S. 246 ff.; Schmitt, Beweiswürdigung, S. 145 ff. 296 Eingehend hierzu Alber y Geschichte der Öffentlichkeit, S. 31 ff., 69 ff, 144 ff. 297 v. Savigny, GA 6 (1858), 485 f. 298 Erlassen am 1.2.1877, RGBl. S. 253, in Kraft getreten am 1.10. 1879. 6 Zacharias

l.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

82

2. Zeugenstellung Der liberalistischen Grundeinstellung entsprechend orientierte sich die Zeugenstellung nicht mehr allein an Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten, vielmehr wurde auch die Interessenlage des Zeugen mit berücksichtigt. Die staatsbürgerliche Zeugenpflicht sollte nicht auf Kosten der gerade politisch erkämpften bürgerlichen Freiheits- und Persönlichkeitssphäre durchgesetzt werd e n . 2 9 9 In den Fällen, in denen die Zeugenpflicht mit "anderweitigen Rücksichten" 3 0 0 der Auskunftsperson kollidierte, sollte der Zeuge selbst die Entscheidung treffen, welcher Pflicht er den Vorrang einräumt. 3 0 1 Aus diesem Grund enthielten bereits die Ländergesetze ein Zeugnisverweigerungsrecht für Angehörige, Geistliche und Verteidiger. 302 Die StPO von 1877 erstreckte dieses Recht auf Rechtsanwälte und Ärzte. 3 0 3 Einige Ländergesetze gaben dem Zeugen das Recht, die Auskunft auf Fragen zu verweigern, bei deren Beantwortung er eine eigene Schande offenbaren müßte 3 0 4 oder ihm geschäftliche Nachteile drohen. 3 0 5 Bei den Beratungen zur StPO wurde eine solche Regelung dagegen mit der Begründung abgelehnt, hierdurch würden die Aufgaben der Strafrechtspflege gefährdet. 306 In den übrigen Fällen wurde die Zeugenpflicht weiterhin als allgemeine Staatsbürgerpflicht anerkannt, die "zur Erhaltung der Rechtsordnung im Staate durch die Rechtspflege unentbehrlich" i s t . 3 0 7 Der Zeuge hatte nunmehr unmittelbar in der öffentlichen Hauptverhandlung und in Anwesenheit des Angeklagten auszusagen und war verpflichtet, sich auch von diesem befragen zu lassen. Von der Vernehmung des Zeugen im Ermittlungsverfahren war der 299

Koch, Justizielles Beweisverfahren, S. 259 f. Koch, Justizielles Beweisverfahren, S. 260. 301 Zachariae, Handbuch des deutschen Strafprocesses, Bd. 2, S. 186 f. 302 Insbesondere die Aussagepflicht von Angehörigen des Beschuldigten wurde als ein Fall einer "Pflichtenkollision" angesehen. In den Motiven wurde das Zeugnisverweigerungsrecht des Angehörigen damit begründet, daß es vorzuziehen sei, auf ein Beweismittel zu verzichten, als einen nahen Angehörigen des Beschuldigten der Versuchung auszusetzen, einen Meineid zu leisten; hierzu mit Nachweisen Karitzky, Geschichte der Zeugnisverweigerungsrechte, S. 56; Schmitt, Zeugnisverweigerungsrechte, S. 25. 303 Schmitt, Zeugnisverweigerungsrechte, S. 29. 304 Z.B. Art. 222 Sächsische Strafprocessordnung. 305 § 313 Preuß. Criminalordnung. Hielt der Richter die Weigerung des Zeugen für unberechtigt, so hatte nach § 314 das Obergericht zu entscheiden. Im einzelnen hierzu Zachariae, Handbuch des deutschen Strafprocesses, Bd. 2, S. 195 Fn. 34. 306 Hahn, Materialien zur Strafprozeßordnung, 1. Abt., S. 107. Eine entsprechende Regelung wurde erst 1933 durch § 68 a StPO eingefügt. Zum ganzen Karitzky, Geschichte der Zeugnisverweigerungsrechte, S. 68. 307 Zachariae, Handbuch des deutschen Strafprocesses, Bd. 2, S. 181. 300

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

83

Beschuldigte dagegen ausgeschlossen.308 Nach z.T. heftigen Diskussionen 309 über die Ausgestaltung des Zeugenzwanges wurde eine Regelung Gesetz, die die Verhängung von Beugestrafen (Buße oder Haft) zwar grundsätzlich zuließ, aber i n das Ermessen des Richters stellte. Auf diese Weise sollte eine ungerechte Strafe des Zeugen vermieden werden in Fällen, in denen zwar keine gesetzliche Ausnahme von der Zeugenpflicht bestand, die Aussagepflicht für den Zeugen aber dennoch einen schweren Konflikt bedeutete. 310 II. Entwicklung im 20. Jahrhundert 1. Entwicklung bis 1975 Die Straiprozeßordnung von 1877 war geprägt von der Erkenntnis, daß diejenigen Individuen, die von einem hoheitlichen Strafverfahren betroffen werden, in ihren Rechten geschützt werden müssen. Naturgemäß stand bei der weiteren Diskussion die Rechtsstellung des Beschuldigten als des am nachhaltigsten Betroffenen i m Vordergrund, die Rechtsstellung des Zeugen geriet darüber in Vergessenheit. "Der Zeuge zählt zu den Stiefkindern der strafprozessualen Dogmatik." 3 1 1 Während die Vorschriften über die Stellung des Beschuldigten vielfältigste Änderungen erfuhren 312 , blieb die Rechtsstellung des Zeugen über ein Jahrhundert nahezu unverändert, lediglich der Kreis der zeugnisverweigerungsberechtigten Berufsgruppen wurde kontinuierlich erweitert. 313 Erwähnenswerte Änderungen des Beweisverfahrens brachten allenfalls die Einführung des § 68 a StPO i m Jahre 1933 3 1 4 , wonach Fragen, die dem Zeugen zur Unehre gereichen können, nur gestellt werden sollen, wenn sie unerläßlich sind. Einen mit-

308 ygi aber § 318 Preuß. Criminalordnung: "Jedoch muß dem... Vertheidiger des Angeschuldigten die Gegenwart bei dem Zeugenverhöre gestattet werden, weshalb ihm der Termin jederzeit bekannt zu machen ist." 309 Vgl. Detker, GA 26 (1878), 113 ff, sowie die Fall-Dokumentation des zeugnisverweigernden Kölner Zeitungsredakteurs Heinrich Kruse bei Goltdammer, GA 11 (1863), 816 ff. 310 Vgl. hierzu Goltdammer, GA 11 (1863), S. 839. 311 Jung/Krüger, Gefährdete Zeugen, S. 30. 312 Zur Entwicklung der Rechtsstellung des Beschuldigten seit Erlaß der StPO vgl. z.B. Hübner, Allgemeine Verfahrensgrundsätze, S. 38 ff., zur Entwicklung in der Bundesrepublik S. 45 ff. 313 Im einzelnen hierzu Schmitt, Zeugnisverweigerungsrechte, S. 31 ff. 314 Gesetz zur Einschränkung der Eide im Strafverfahren vom 24.11.1933 (RGBl. I, S. 1008). Zugleich wurden die Vorschriften über die Vereidigung des Zeugen modifiziert: Vom Voreid zum Nacheid. Die Vereidigung war nicht mehr zwingend, sondern wurde für bestimmte Fälle in das Ermessen des Gerichts gestellt. 6*

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l.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

telbaren Einfluß auf den Zeugenbeweis erbrachte die erweiterte Möglichkeit, frühere Zeugenaussagen durch das Verlesen nichtrichterlicher Vernehmungsprotokolle in die Hauptverhandlung einzuführen, § 251 Abs. 2 StPO. 3 1 5 Den Befund, daß die Rechtsstellung des Zeugen über einhundert Jahre weitgehend in Vergessenheit geraten ist, veranschaulichen zwei Zitate, zwischen denen 125 Jahre liegen. 1863 stellte das Spruchkollegium der Universität Erlangen fest: "Eine eingehende rationelle Erörterung hat die Frage über die Rechte und Pflichten der Zeugen nach den Prinzipien des neuen Verfahrens in Deutschland noch nirgends gefunden." 316 1988 faßt Schumann 317 die Rechtsstellung des Zeugen wie folgt zusammen: "Gesetzgebung, Schrifttum und Praxis haben bislang die Sonderstellung des Zeugen noch nicht ausreichend berücksichtigt. ... Öffentliches Bewußtsein und Rechtswissenschaft (sind) bisher nicht sehr geneigt, dem Zeugen einen umfangreichen Rechtsschutz angedeihen zu lassen. ... Offensichtlich besteht die Sorge, den Zeugenbeweis als Beweismittel zu schwächen, wenn dem Zeugen ein stärkerer Schutz als bisher gewährt wird." 2. Entwicklung nach 1975 Erst mit der Diskussion um die Verbesserung der Rechtsstellung von Verbrechensopfern zu Beginn der siebziger Jahre rückte der Zeuge als Rechtssubjekt wieder i n den Blickwinkel der Auseinandersetzung. 1975 wurde das Zeugenverfahren dahin geändert, daß Zeugen unter 16 Jahren nur vom Vorsitzenden zu vernehmen sind (§241 a StPO) und die Vernehmung unter Ausschluß des Angeklagten stattfinden kann, wenn andernfalls Nachteile für das Wohl des Jugendlichen zu befürchten sind (§ 247 S. 2 StPO). 3 1 8 Der 1978 eingeführte § 68 S. 2 berücksichtigte erstmals die Situation gefährdeter Zeugen. 3 1 9 Der Richter konnte einen gefährdeten Zeugen danach von der Pflicht zur Wohnortangabe entbinden. Die Verbesserung des Persönlichkeitsschutzes des

315

Die Ausnahmen von dem Unmittelbarkeitsgrundsatz in § 251 Abs. 1 und 4 StPO entsprechen im wesentlichen der ursprünglichen Rechtslage, während die Absätze 2 und 3 durch Art. 4 der Dritten Vereinfachungsverordnung vom 29.5.1943 eingefugt wurden, § 251 Abs. 2 StPO wurde zuletzt geändert durch StVÄG 1987 vom 27.1.1987 (BGBl. I, S. 475). Vgl. hierzu LR/Gollwitzer y § 251 vor Rdn. 1. 316 GA11 (1863), 823. 3 1 7

Stein/,Jonas/Schumann,

318

Art. 1 Nr. 11 des 1. StVRErgG v. 20.12.1974 (BGBl. I, S. 3651). Strafveifahrensänderungsgesetz 1979 vom 5.10.1978 (BGBl. I, S. 1645).

319

ZPO, vor § 373 Rdn. 33.

1. Abschnitt: Der Zeugenbeweis

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Zeugen war ein wesentliches Anliegen des Opferschutzgesetzes von 1986. 3 2 0 Fragen aus dem persönlichen Lebensbereich des Zeugen sollen nun generell nur noch gestellt werden, wenn dies unerläßlich ist, § 68 a StPO. Der Zeuge kann unter Ausschluß des Angeklagten vernommen werden, wenn andernfalls schwere Nachteile für seine Gesundheit zu befürchten sind, § 247 S. 2 StPO. Die Öffentlichkeit kann nach § 171 b GVG ausgeschlossen werden, wenn Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich des Opfers erörtert werden. Zudem wurde für den Opferzeugen das Recht auf Beistand während der Vernehmung gesetzlich normiert, § 406 f StPO. Mit dem Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität 3 2 1 wurden die prozessualen Möglichkeiten erweitert, gefährdete Zeugen vor Repressalien zu schützen. § 68 stuft die Pflicht zur Angabe der Personalien entsprechend der Gefährdungslage des Zeugen a b 3 2 2 , § 172 Nr. l a GVG gibt dem Gericht die Möglichkeit, die Öffentlichkeit zum Schutz gefährdeter Zeugen auszuschließen. Durch das Gesetz vom 23.7.1992 ist in § 53 Abs. 1 Nr. 3 b StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht für staatlich anerkannte Drogenberater geschaffen worden. 3 2 3 Im Jahre 1994 hat der Gesetzgeber das beschleunigte Verfahren neu geregelt. 324 In diesem Verfahren kann nun der Zeugenbeweis ersetzt werden durch die Verlesung schriftlicher Erklärungen der Auskunftsperson, § 420 Abs. 1 StPO. E. Fazit In der Geschichte des Zeugenbeweises spiegeln sich die Grundprobleme staatlicher Ordnung und staatlichen Verfahrens wider. Zeugenbeweis und Zeugenstellung sind zum einen geprägt von dem Spannungsverhältnis staatlicher Macht und individueller Freiheit und zum anderen durch den Konflikt zwischen Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit. Immer ging es im Beweisverfahren aber darum, die materielle Wahrheit zu verwirklichen. 3 2 5

320

v. 18.12.1986. BGBl. I, S. 2496: § 171 b GVG eingefügt; §§ 172 - 175 GVG geändert. 321 OrgKG vom 15.7.1992, BGBl. I, S. 1302. 322 Polizeibeamte erhalten das Recht, statt ihrer Wohnanschrift ihre Dienstanschrift anzugeben. Anderen Zeugen kann dies gestattet werden, wenn sie durch die Wohnortangabe gefährdet werden. Würde der Zeuge durch die Angabe der Personalien in Lebensgefahr geraten, so kann er anonym vernommen werden. Weitere Änderungen enthalten §§168 a, 200, 222 sowie § 110 b Abs. 3 i.V.m. § 96 StPO. 323 BGBl. I, S. 1366. 324 Sog. Verbrechensbekämpfungsgesetz, BGBl. I, S. 3186. 325 Dies gilt auch für das streng formale Beweisverfahren des germanischen Rechtsganges, in dem die Wahrheit als von der Natur vorgegeben anerkannt wurde, die durch Eid und Gottesurteil zu Tage gefordert werde.

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l.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

Der Konflikt zwischen Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit zeigt sich i m Hinblick auf den Beweiswert der Zeugenaussage in dem ständigen Pendeln zwischen freier Beweiswürdigung und starren Beweisregeln. Jedesmal, wenn sich das Beweisverfahren zu sehr einem Extrem zuwandte, kehrte sich die Entwicklung um. So wurde der Grundsatz der freien Beweiswürdigung i m römischen Recht zu einer Zeit eingeschränkt, als die Irrationalität rein intuitiver Überzeugungsbildung und die hierdurch eröffneten Mißbrauchsmöglichkeiten immer weniger Rechtssicherheit zu bieten schienen. Aus einzelnen Ermahnungen an den Richter wurden immer starrere Beweisregeln, bis schließlich i m 19. Jahrhundert der Widerspruch zwischen den hochkomplizierten, mathematischen Beweisregeln und der Einzelfallgerechtigkeit unerträglich wurde. Seitdem bestimmt der Richter den Beweiswert der Zeugenaussage wieder nach seiner freien, wenn auch kontrollierbaren Überzeugung. Mit dem Wechsel von gesetzlichen Beweisregeln zur freien Beweiswürdigung veränderten sich auch die Anforderungen an die Person des Zeugen. Solange der Zeuge ein formales Beweismittel war, dessen Aussage für den Richter bindend war, mußten hohe formale Anforderungen an die Zeugenfähigkeit gestellt werden. Ein vollwertiges Zeugnis konnte daher auch nur der unmittelbare Tatzeuge erbringen. Der Zeuge vom Hörensagen mußte als formales Beweismittel ungeeignet erscheinen. In dem Maße aber, in dem die freie Beweiswürdigung die starren Beweisregeln ersetzte, konnten die formalen Anforderungen an die Person des Zeugen sinken. Der Konflikt zwischen staatlicher Macht und individueller Freiheit zeigt sich an der persönlichen Stellung des Zeugen i m Strafverfahren. Solange die Ahndung der Straftat eine reine Privatangelegenheit des Verletzten war, stand die Übernahme der Zeugenrolle im Belieben des einzelnen. Die Zeugenstellung war daher sowohl i m römischen als auch i m germanischen Privatklageverfahren eine freiwillige Freundespflicht. In dem Moment aber, in dem die staatliche Gewalt die Strafverfolgung als hoheitliche Aufgabe an sich zog, wurde der Zeuge staatlichem Zwang unterworfen. Die Frage, inwieweit berechtigte Interessen des einzelnen bei der Ausgestaltung seiner Zeugenpflicht vom Staat berücksichtigt wurden, entschied sich dabei nach dem Staatsverständnis der jeweiligen Zeit. Die hier anzutreffende Bandbreite reichte von völliger Rechtlosigkeit und Folter des Zeugen zu Zeiten der totalitären Staatsformen der römischen Kaiserzeit und des Absolutismus bis hin zu größtmöglicher Rücksichtnahme und weitreichenden Weigerungsrechten im römischen Geschworenenverfahren der res publica. Das liberale Strafverfahrensrecht des 19. Jahrhunderts erkannte die Unverzichtbarkeit des Zeugenbeweises für die Durchsetzung des Strafrechts, bemühte sich aber dennoch, die Interessen des Zeugen angemessen zu berücksichtigen.

. Abschnitt:

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der Zeugengefahrdung

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Die weitere, lebhafte Entwicklung des Strafverfahrensrechts i m 20. Jahrhundert ging dagegen an der Stellung des Zeugen nahezu spurlos vorbei. Diese Entwicklung war zum einen von dem Bestreben bestimmt, das Strafverfahrensrecht den jeweiligen Bedürfnissen einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege anzupassen. Zum anderen wurde die Verfahrensstellung des Beschuldigten verfassungsrechtlich "aufgerüstet" und entsprechend den immer differenzierteren Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum "Recht auf faires Verfahren" in der Praxis abgesichert und ausgebaut. An einer Verbesserung der Zeugenstellung bestand dagegen weder unter dem Gesichtspunkt der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege noch im Hinblick auf den Schutz der Verteidigungsmöglichkeiten ein Interesse: Für die Strafrechtspflege ist der Zeuge das wichtigste Mittel zur Aufklärung des Sachverhaltes. Jede Verbesserung der Rechtsstellung des Zeugen droht seinen Nutzen zu verschlechtern. Für den Beschuldigten muß jede Forderung nach einer Verbesserung der Zeugenstellung als ein Angriff auf sein "Recht auf umfassende Verteidigung" erscheinen. So steht der Zeuge im Strafverfahren des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts den verfahrensrechtlich abgesicherten Interessen der Strafrechtspflege und des Beschuldigten mit einer spartanisch anmutenden rechtlichen Ausstattung gegenüber.

2. Abschnitt: Das Phänomen der Zeugengefährdung Das Phänomen der Zeugengefährdung ist vermutlich so alt wie der Zeugenbeweis selbst. In den allermeisten Fällen drohen dem Zeugen Gefahren von Seiten des Beschuldigten oder dessen Umfeld. 3 2 6 Betroffen sind vor allem Opfer und ehemals Tatbeteiligte, die den Beschuldigten durch ihre Aussage belasten. 3 2 7 Unter dem Begriff des gefährdeten Zeugen soll im folgenden eine Person verstanden werden, auf deren Aussageverhalten von Seiten Dritter durch Gewalt oder Drohung Einfluß genommen wird oder bei der Anlaß zur Besorgnis besteht, daß sie - oder eine ihr nahestehende Person - bei Erfüllung ihrer Zeugenpflichten gewalttätigen Racheakten ausgesetzt sein w i r d . 3 2 8 In den letzten Jahrzehnten haben die Fälle von Einwirkungen auf Zeugen nach der Erfahrung von Praktikern erheblich an Bedeutung gewonnen. 329

326 Weniger häufig sind Fälle, in denen ein Zeuge - z.B. von Angehörigen des Opfers - wegen einer entlastenden Aussage gefährdet wird oder in denen eine Person von dritter Seite gezwungen wird, als Zeuge gegen den Beschuldigten auszusagen. 327 Vgl. auch Krehl, GA 1990, 555 Fn. 1. 328 Ähnlich die Definitionen von Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1186, sowie

SK/Rogall, 329

Vor § 48 Rdn. 69.

Vgl. bereits Sielaff gorum-FS, S. 544.

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Kriminalistik 1986, 58 ff; sowie Böttcher, Schüler-Sprin-

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l.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

Empirische Untersuchungen hierzu gibt es jedoch nur aus den Vereinigten Staaten. Eine Untersuchung am New Yorker Brooklyn Criminal Court aus dem Jahre 1976 ergab, daß 26 % der befragten Zeugen im Verlauf des Strafverfahrens konkret bedroht wurden, 21 % von dem Beschuldigten und 5 % von Angehörigen oder Freunden des Beschuldigten. 330 Über die Art und Weise der Einwirkung machten Zeugen bei einer Befragung aus dem Jahre 1981 folgende Angaben: 64 % der gefährdeten Zeugen erhielten direkte mündliche Drohungen, 23 % wurden am Telefon bedroht. Über 13 % der Zeugen wurden körperlich angegriffen, fast die Hälfte davon mit Waffen. In 17 % der Fälle kam es zu Übergriffen auf das Eigentum des Zeugen. 42 % der Zeugen wurden in ihrer Wohnung oder der Nachbarschaft bedroht, 15 % an ihrem Arbeitsplatz und weitere 15 % im Gerichtsgebäude. 331 Für den New Yorker Stadtteil Bronx ergab eine 1988 durchgeführte Studie, daß 41 % der Opfer durch den Beschuldigten bedroht wurden, keine Anzeige zu erstatten. In einem Viertel dieser Fälle wurde die Drohung durch Tätlichkeiten gegen den Zeugen bekräftigt. 332 Naturgemäß muß bei der Zeugengefährdung von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden, denn in all den Fällen, in denen die Einschüchterung erfolgreich ist, unterbleibt von vornherein eine Zusammenarbeit des Zeugen mit den Strafverfolgungsorganen. 333 1. Kapitel: Ursachen und Wirkungen A. Ursachen Die drohende Strafverfolgung und -Vollstreckung stellt für jeden Betroffenen ein schwerwiegendes Übel dar. Er wird deshalb bestrebt sein, dieses Risiko möglichst gering zu halten. Wegen der bereits dargestellten enormen praktischen Bedeutung des Zeugenbeweises für die Durchführung des Strafverfahrens hat jeder Betroffene ein erhebliches Interesse daran, eine ihn belastende Aussage eines Zeugen zu verhindern bzw. abzuschwächen. Wirksamstes Mittel zur Erreichung dieses Zieles ist die endgültige Beseitigung derjenigen Personen, die als Zeugen in Frage kommen könnten. In der Praxis kommt es immer wieder vor, daß Menschen, die als Belastungszeugen

330 331 332 333

Graham , Witness Intimidation, S. 4. Graham, Witness Intimidation, S. 6 f. Vgl. Walther, Zeugenschutz, S. 235. Zum Dunkelfeld in diesem Bereich vgl. auch Plewka, Zeugenschutz, S. 47.

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in Betracht kommen, getötet werden. 3 3 4 Dennoch handelt es sich um Ausnahmefälle. Dem Täter fehlt in vielen Fällen nicht nur die kriminelle Energie, um die Tötungsschranke zu überwinden, ein Tötungsdelikt gegen den Zeugen birgt darüber hinaus ein weiteres hohes Strafverfolgungsrisiko in sich. Unter "Kosten/Nutzen Gesichtspunkten" erscheint es daher wesentlich sinnvoller, auf die Person des Zeugen in einer Art einzuwirken, die die Gefahr der belastenden Aussage beseitigt, ohne die Gefahr einer erneuten Strafverfolgung oder sonstiger Nachteile für den Täter zu begründen. Als kostengünstigstes und sicherstes Mittel einer Einflußnahme auf das Aussageverhalten eines Zeugen bietet sich das Auslösen von Angst a n . 3 3 5 Erreicht der Täter, daß die Person des Zeugen Angst vor ihm hat, so kann er hierdurch nicht nur das Aussageverhalten des Zeugen beeinflussen, er ist auch sicher davor, daß ihm aus seiner Einflußnahme weitere Nachteile entstehen. Das Gefühl der Angst entsteht bei dem Zeugen, wenn er sich einer bedrohlich wirkenden Macht des Täters hilflos ausgeliefert fühlt. Dies ist dann der Fall, wenn der Zeuge das Gefühl hat, der Täter könne über seine Rechtsgüter - oder die Rechtsgüter einer dem Zeugen nahestehenden Person, z.B. seiner Kinder nach Belieben verfügen und der Zeuge keine Möglichkeit sieht, sich möglichen Angriffen auf Dauer wirksam zu entziehen. Dieses Gefühl kann durch offene Drohungen, evt. unterstützt durch Tätlichkeiten, ausgelöst werden. Häufig bedarf es aber einer ausdrücklichen Drohung gar nicht, weil sich der Zeuge mit einem Klima latenter Gewalt konfrontiert sieht. Hier genügt es, dem Zeugen zu spüren zu geben, daß er für den Täter oder sein Umfeld "erreichbar" ist. Hierzu können bereits anonyme Anrufe in der Nacht genügen. Der Person des Zeugen wird klargemacht, daß es außerhalb ihres geschützten Lebensbereichs jemanden gibt, der ihr Aufmerksamkeit schenkt und dessen Einflußmöglichkeiten sie weder durchschauen noch sich ihnen entziehen kann. Gerade bei Zufallszeugen, die bisher nie mit Kriminalität konfrontiert wurden, hat diese Situation eine enorm beängstigende und damit einschüchternde Wirkung. Voraussetzung für eine wirksame Einschüchterung des Zeugen ist demnach die Vermittlung einer möglichst unausweichlichen, unberechenbaren und bedrohlichen Macht. Diese Macht können der Täter oder sein Umfeld natürlich nur dann vermitteln, wenn ihnen die Identität des Zeugen bekannt ist. Voraussetzung ist weiterhin, daß der identifizierte Zeuge für den Täter erreichbar ist. Der Täter muß die Möglichkeit innehaben, auf den Zeugen einzuwirken.

334 Vgl n u r die Sachverhalte der Entscheidungen BGH, wistra 1993, 190 f. ; sowie BGH, BGHR § 211 Abs. 2 Verdeckung 6, zu einem Fall, in dem der Vater des Angeklagten Briefbomben an drei Belastungszeugen verschickte. 335 Der Versuch, den Zeugen durch das Gewähren von Vorteilen zu "bestechen" erscheint dagegen - abgesehen von demfinanziellen Aufwand - wesentlich unsicherer.

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l.Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefahrdung

Hierzu ist regelmäßig die Kenntnis der Wohnanschrift, Telefonnummer oder Arbeitsstelle des Zeugen erforderlich. Voraussetzung ist schließlich, daß der betroffene Zeuge die Einwirkung durch den Täter als bedrohlich empfindet. Je nach der erwarteten Empfindlichkeit des Zeugen können die Einschüchterungen von bloßen Belästigungen bis zu schweren körperlichen Mißhandlungen führen. Darüber hinaus gibt es Übergriffe auf Zeugen, die sich allein mit der Gefahr der Strafverfolgung bzw. Strafvollstreckung gegen den Täter nicht erklären lassen. Die Verfahrensrolle "Zeuge" stellt offenbar für manche Täter und ihr Umfeld eine Art "Feindbild" dar, die belastende Aussage selbst wird als persönlicher Angriff empfunden. Nur so lassen sich die z.T. hemmungslosen Aggressionen erklären, denen Zeugen selbst bei Bagatelldelikten ausgesetzt sind. Beispielhaft hierfür sei der Sachverhalt einer Entscheidung des L G Koblenz 3 3 6 (gekürzt) wiedergegeben: Im Juni 1989 verursachte die Ehefrau des Angekl. einen leichten Auffahrunfall; Unfallgegner war der Zeuge K. Gegen die Ehefrau wurde ein Bußgeld über 80 D M erlassen. Nachdem ihr Verteidiger Einspruch eingelegt hatte, kam es zur Hauptverhandlung. Als der Zeuge Κ den Sitzungssaal betrat, drohte der Angekl. bereits mit erhobener, zur Faust geballten Hand mit den Worten: "Wenn das vorbei ist! " Die anschließende Hauptverhandlung verfolgte der Angekl. als Zuhörer. Nach seiner Vernehmung verließ der Zeuge Κ den Sitzungssaal. Der Verteidiger der Ehefrau des Angekl. nahm den Einspruch zurück. Als Κ das Gerichtsgebäude verließ, sprach ihn der Angekl. mit den Worten an: "Ich habe Dir vorhin ja etwas gesagt" und zog sogleich einen bis dahin verdeckt gehaltenen 40-60 cm langen Stock hervor. K, völlig arglos und überrascht, konnte noch sagen: "Nun laß es gut sein!", als ihm der Angekl. mit voller Wucht den Stock ins Gesicht schlug. Es entstand eine quer über die rechte Gesichtshälfte verlaufende Platzwunde. Obgleich Κ bereits nach dem ersten Schlag in die Knie sank, schlug ihm der Angekl. blitzschnell erneut ins Gesicht. Während Κ auf dem Boden kniete, versetzte ihm der Angekl. mit voller Wucht einen dritten Schlag, der den Verletzten an der rechten Schulter traf. Sodann entfernte sich der Angekl. vom Tatort.

336

LG Koblenz, NStZ 1991, 283 f., mit Anm. Molketin, S. 284.

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B. Wirkungen I. Aussageverhalten des Zeugen Die Angst vor Gefahrdungen wirkt sich unmittelbar auf das Anzeige- und Aussageverhalten von Auskunftspersonen aus. "Sie kann dazu führen, daß sie Strafanzeigen unterlassen, Aussagen abschwächen, widerrufen oder von vornherein falsche Angaben machen, Nichtwissen oder Erinnerungsverlust vortäuschen oder unter Verweisung auf die Gefährdung die Aussage generell verweigern." 3 3 7 In welchem Umfang Zeugenaussagen durch Pressionen beeinflußt werden und in welchem Umfang sich Bürger aus Furcht entsprechend der Losung der drei Affen: "Nicht hören - nicht sehen - nicht sprechen" der Übernahme der Zeugenrolle entziehen, läßt sich nur schwer abschätzen. 338 Aufschlüsse hierüber können jedoch Untersuchungen zu der Aussagebereitschaft von Opfern und sonstigen Zeugen bieten. Bei einer 1992 in der Bundesrepublik durchgeführten Opferbefragung verzichteten 56,3 % der Opfer von tätlichen Angriffen und Bedrohungen auf eine Anzeige. 13,8 % dieser Opfer nannte als Grund für die Nichtanzeige Angst vor Vergeltung und Rache. 339 Von den Opfern einer sexuellen Belästigung verzichteten über 66 % auf eine Anzeige, 12,3 % davon aus Angst vor Vergeltung und Rache. 3 4 0 Die Auswirkung von Einschüchterungen des Zeugen auf seine Aussagebereitschaft ist in den USA seit vielen Jahren Gegenstand von Untersuchungen. Bereits 1973 kam eine Studie zu dem Ergebnis, daß etwa 23 % von 1547 untersuchten Fällen von Mord, Vergewaltigung, Raub, Körperverletzung und Einbruchsdiebstahl aufgrund fehlender Kooperation von Zeugen nicht strafrechtlich verfolgt werden konnten. 28 % dieser "potentiellen" Zeugen gaben an, aus Furcht vor Repressalien zu schweigen. Auf die Frage, wie die Aussagebereitschaft erhöht werden könnte, antworteten die meisten der befragten Zeugen: "Durch besseren Zeugenschutz". 341 Bei der bereits erwähnten Untersuchung am Brooklyn Criminal Court äußerten 39 % der befragten Zeugen, sie hätten große Angst vor Racheakten seitens des Beschuldigten. 342 Die Studie aus dem Stadtteil Bronx ergab, daß 75 % der Personen, die sich als

337 338 339 340 341 342

BT-Drucks. 12/989 S. 34; so auch Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1187. Dazu Körner, Kriminalistik 1984, 340. Kury/Dörmann u.a., Opfererfahrungen, S. 143 ff, 146. Kury/Dörmann u.a., Opfererfahrungen, S. 133 ff. Graham , Witness Intimidation, S. 4. Graham , Witness Intimidation, S. 4.

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Zeugen zur Verfügung stellten, Angst vor Vergeltung seitens des Beschuldigten hatten. 3 4 3 IL Kriminalitätsentwicklung

und Rechtsbewußtsein

In dem Maße, in dem sich die Zeugengefährdung als ein Mittel zur Minimierung des Strafverfolgungsrisikos etabliert, werden potentielle Täter ermutigt, ebenfalls gegen Zeugen vorzugehen. Allgemein verstärkt der Erfolg eines solchen Vorgehens die kriminologisch bedenkliche Tendenz zur "Organisation des Verbrechens". Welche Auswirkungen sich aus der Situation der Zeugenbedrohung für das Rechtsgefühl des Zeugen und der Allgemeinheit ergeben können, haben Jung/Krüger wie folgt auf den Punkt gebracht: "Als Zeuge erlebt der Bürger schließlich hautnah die Rechtsqualität eines Staates, die ansonsten für ihn abstrakt und deswegen nicht nachvollziehbar ist. Wenn er erleben muß, daß etwa physischer Druck, der von kriminellen Minderheiten ausgeht, stärker ist als staatliche Ordnungssysteme, so muß dies verheerende Wirkungen für das allgemeine Vertrauen in die Strafrechtspflege haben." 3 4 4

2. Kapitel: Kriminalitätsbereiche Im folgenden sollen Konstellationen aufgezeigt werden, in denen die Voraussetzung einer wirksamen Einflußnahme auf den Zeugen für den Täter oder sein Umfeld besonders günstig ist und Einwirkungen auf den Zeugen daher besonders häufig festzustellen sind. A. Allgemeine Kriminalität L Nähe- und Abhängigkeitsverhältnis Die Voraussetzungen einer Einflußnahme sind besonders günstig, wenn Zeuge und Täter in einem sozialen Nahbereich zusammenleben. Die engste Form bilden familiäre und sonstige intime Beziehungen. 345 Aber auch andere

343

Walther, Zeugenschutz, S. 235. Jung/Krüger, Gefährdete Zeugen, S. 32. 345 Zur Einschüchterung von Zeugen innerhalb von Beziehungstaten vgl. auch Sielaff.\ Kriminalistik 1986, 58. - Die Bedeutung sozialer Näheverhältnisse für die Begehung und Aufklärung von Straftaten sollte nicht unterschätzt werden. Dies belegen die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 1994: Im Bereich der versuchten Tötungsdelikte und der qualifizierten Körperverletzungsdelikte besteht in mehr als 60 % bzw. 50% der Fälle ein Verwandtschafts- oder nahes Bekanntschaftsverhältnis zwischen dem weiblichen Opfer und dem Tatverdächtigen. Bei Vergewalti344

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enge Gemeinschaften, wie z.B. zwischen Gefängnisinsassen, bieten ideale Voraussetzungen für eine wirksame Zeugenbedrohung. 346 Die Identität der Person des Zeugen ist regelmäßig bekannt, weil es sich bei dem Zeugen entweder um das Opfer einer Tat innerhalb des Näheverhältnisses handelt, oder der Täter den Sachverhalt des Ermittlungsverfahrens problemlos dem Wissen dieser Person als Zeuge zuordnen kann. Auch die Erreichbarkeit des Zeugen ist für den Täter völlig unproblematisch, da der Zeuge dem unmittelbaren Einflußbereich des Täters unterliegt. Die Wirksamkeit der Einschüchterung ergibt sich hier schon daraus, daß zwischen der Person des Zeugen und dem Täter ein Abhängigkeitsverhältnis oder eine Zwangsgemeinschaft besteht, aus der heraus der Täter eine Machtposition einnimmt, der der Zeuge nichts entgegenzusetzen h a t . 3 4 7 Ein Indiz für die Wirksamkeit von Einschüchterungen innerhalb familiärer Beziehungen bietet eine Untersuchung aus den Vereinigten Staaten. Von etwa 450 Opfern familiärer Gewaltdelikte, die von der "Domestic Violence Unit" in New York betreut wurden, haben zwei Drittel auf einen Strafantrag verzichtet, von den Verbleibenden haben 25 % den Strafantrag später zurückgezogen. 348 IL Gruppensolidarität Der Zeuge ist besonders häufig Einwirkungen ausgesetzt, wenn der Tatverdächtige über ein mit ihm solidarisches Umfeld verfügt. Ein solches Umfeld kann aus Familienangehörigen, aber auch aus Mitgliedern einer Clique, eines Vereins oder eines "politischen" Zusammenschlusses bestehen. Für den Zweck einer Einwirkung auf den Zeugen verfügt die Gruppe bereits über einen "logistischen" Vorteil gegenüber dem Tatverdächtigen, der hierfür auf sich allein gestellt ist. Der Tatverdächtige selbst kann sich heraushalten, so daß er durch die Einwirkungen keine weiteren strafrechtlichen Nachteile zu befürchten hat. Die Einflußnahme ist zudem unabhängig davon möglich, ob sich der Tatverdächtige auf freiem Fuß befindet. Darüber hinaus kann auf den Zeugen auch zeitlich viel intensiver, sozusagen rund um die Uhr eingewirkt werden. Schließlich ist der Einschüchterungseffekt bei dem Zeugen naturgemäß grö-

gungen besteht in 50% der Fälle ein derartiges Verhältnis, vgl. Polizeiliche Kriminalstatistik 1994, S. 67 f., sowie Anhang, Tabelle 92. 346 Graham, Witness Intimidation, S. 6. 347 Allgemein hierzu Plewka, Zeugenschutz, S. 47. Geradezu klassisch sind in diesem Zusammenhang die Einschüchterungen von Prostituierten durch ihre Zuhälter, eingehend zu den hier bestehenden Abhängigkeitsverhältnissen Buckow, 17. Strafverteidigertag, S. 110 ff; vgl. auch Böttcher, Schüler-Springorum-FS, S. 544; Hillgärtner, Kriminalistik 1995, 196 ff, sowie die Fallbeispiele bei Rahmer, Sten. Protokoll der 31. Sitzung des Rechtsausschusses am 22.1.1992, Anhang S. 18 ff. 348 Hierzu Graham, Witness Intimidation, S. 5 f.

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ßer, wenn er sich nicht nur einem Einzeltäter, sondern einer für ihn unüberschaubaren und in ihrem Verhalten unberechenbaren Gruppe ausgeliefert sieht. Die Gruppe vermittelt Macht und Überlegenheit. Der Zeuge kann sich zudem auch für den Fall einer Verurteilung des Täters zu einer Haftstrafe nicht sicher fühlen. Als ein anschauliches Beispiel mag der folgende Sachverhalt einer Reichsgerichtsentscheidung aus dem Jahre 1932 dienen: Der der A.-Partei angehörige Angeklagte wurde zur Nachtzeit auf der Straße von einer Anzahl junger Anhänger der B.-Partei überfallen und von M. mißhandelt. Im gerichtlichen Verfahren gegen M. sagte A als Zeuge aus. Die Verhandlung wurde vertagt. Vor dem neuen Verhandlungstermin wurde der Angeklagte von Mitgliedern der B.Partei zur Nachtzeit überfallen; auch fand er seine in einsamer Gegend liegende Wohnung von Mitgliedern dieser Partei besetzt, so daß er sich mehrere Tage nicht nach Hause traute. In der erneuten Verhandlung gegen M. vor dem Schöffengericht wurde dem wiederum als Zeugen geladenen Angeklagten aus dem Zuhörerkreis, in dem sich zahlreiche Angehörige der B.-Partei befanden, zugerufen, wenn M. eine Strafe bekomme, dann komme er (der Angeklagte) nicht gesund aus dem Saal; und wenn man ihn nicht jetzt sofort fassen könne, dann werde man ihn schon bei späterer Gelegenheit kriegen. Als Zeuge vernommen, hat der Angeklagte seine Angaben dahin abgeschwächt, daß er angab, die Mißhandlung habe er von einem der Leute, die bei M. waren, erhalten. Der Angeklagte wurde in erster Instanz wegen eines Verbrechens des Meineides verurteilt. 3 4 9 III. Gewaltdelikte Eine besondere Gefahr von Repressalien besteht darüber hinaus bei Zeugen - und insbesondere Opfern - von Gewalttaten. Nach einer Untersuchung aus den Vereinigten Staaten sind in Philadelphia bei 50 % aller angezeigten Vergewaltigungsfälle die Opfer mit Gewaltanwendung bis hin zur Tötung für den Fall einer Strafanzeige bedroht worden. 3 5 0 Häufig ist die Gewalttat selbst Ausdruck der Bereitschaft des Täters, Probleme mit Gewalt zu lösen und eigene Interessen rücksichtslos auf Kosten der persönlichen Integrität und der

349

RGSt 66, 98 ff. Das RG hat den Angeklagten vom Vorwurf des Meineides freigesprochen, da zum Zeitpunkt der Aussage eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für Leib und Leben des Angeklagten bestanden habe. Ein ähnlicher Sachverhalt findet sich in RGSt 66, 222, 224. 350 Graham, Witness Intimidation, S. 4 f. Vgl. hierzu auch die Untersuchung von Steck/Pauler y MSchrKrim 1992, 195 über das Verhalten von Vergewaltigungstätern gegenüber den Opfern nach der Tat.

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freien Willensentschließung anderer Personen durchzusetzen. 351 Wer im Zusammenhang mit einer Gewalttat als Zeuge auszusagen hat, ist sich bewußt, daß dem Täter gewaltsame Übergriffe zuzutrauen sind. Der Zeuge hat allein aus diesem Grund häufig Angst, den Täter mit einer belastenden Aussage zu "reizen". Die Person des Zeugen ist daher gerade in diesem Deliktsbereich besonders anfällig für Einschüchterungen. B. Organisierte Kriminalität L Der Begriff der organisierten Kriminalität Der Begriff der organisierten Kriminalität suggeriert ein homogenes Kriminalitätsphänomen. Tatsächlich verbergen sich hinter diesem Begriff jedoch ganz unterschiedliche Kriminalitätsbereiche mit ganz unterschiedlichen Strukturen. Neben echten "Familienclans" und "Sippen" finden sich streng unternehmerisch geführte Organisationen ebenso wie lockere, vorübergehende Zweckgemeinschaften, die sich den wandelnden Gegebenheiten der kriminellen Szene anpassen. Die Innenministerkonferenz hat sich 1990 auf eine einheitliche Beschreibung dieses weitgefaßten Kriminalitätsfeldes geeinigt. Organisierte Kriminalität ist danach "die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig a) unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, oder b) unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel, oder c) unter Einflußnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken." 352 Organisierte Kriminalität umfaßt damit vor allem die Bereiche Rauschgifthandel, ausbeuterische Prostitution, Menschenhandel und Menschenschmuggel, Schutzgelderpressung, internationale Kfz-Verschiebung, Glücksspiel, Falschgeld, Zigarettenschmuggel, Versicherungsbetrug, aber auch Formen reiner Wirtschaftskriminalität wie z.B. Kapitalanlagebetrug, Subventions-

351

Sielaff Kriminalistik 1986, 58. Nr. 2.1. der Gemeinsamen Richtlinien der Justiz- und Innenminister über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität, abgedruckt bei Kleinknecht/Meyer-Goßner als Anlage E zu den RiStBV. In einer Anlage der gemeinsamen Richtlinien sind generelle Indikatoren zur Erkennung " OK-relevanter" Sachverhalte aufgeführt. Eine nähere Umschreibung der einzelnen Merkmale findet sich bei Freiberg/Thamm, Das Mafia-Syndrom, S. 113 ff. 352

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Schwindel, Waffenhandel, illegale Abfallbeseitigung, unerlaubte Arbeitsvermittlung etc. Trotz aller Unterschiede in den jeweiligen Kriminalitätsbereichen läßt sich jedoch eine Gemeinsamkeit aller Organisationen finden, nämlich das Ausnutzen der logistischen Vorteile einer Organisation gegenüber dem Einzeltäter zur Gewinnmaximierung bei gleichzeitiger Risikominimierung. 353 Der frühere Berliner Landeskriminaldirektor Böttcher stellte hierzu bereits 1974 fest: "Parallel zum gesamten Leistungsbereich in unserer Gesellschaft, die zu Rationalisierung und Industrialisierung gezwungen ist, verhält sich die Verbrechenswelt. Die Einzeltat ist nicht mehr lukrativ genug; sie wird den Markterfordernissen ebensowenig gerecht wie dem Bedürfnis nach risikogeringer, beständiger und profitbringender Sicherheit." 354 IL Zeugengefährdung 1. Einwirken

auf Zeugen als Wesensmerkmal

Im Jahr 1995 wurden in Deutschland 789 Ermittlungskomplexe aus dem Bereich der organisierten Kriminalität festgestellt. 355 In 366 Verfahren kam es zu Gewalttätigkeiten oder sonstigen Einschüchterungen gegen Zeugen. 3 5 6 In einem Bericht der italienischen parlamentarischen Antimafiakommision von 1990 wird die Einschüchterung von Zeugen in Verfahren gegen die organi353

Zur Logistik der Risikominimierung krimineller Organisationen vgl. Sieb er/Bogel, Logistik, S. 61 f., 115 ff. (Kfz-Verschiebung), 185 ff (ausbeuterische Prostitution), 229 ff. (Menschenhandel); 270 ff. (Glücksspiel). 354 Böttcher, zitiert nach Freiberg/T ha mm, Das Mafia-Syndrom, S. 107 f. Ähnlich der damalige Mitarbeiter des BKA Kollmar, Kriminalistik 1974, 3: "Es ist sehr wichtig, sich zu verdeutlichen, daß 'kriminelle' Unternehmen sich von 'nichtkriminellen' Unternehmen im wesentlichen dadurch unterscheiden, daß erstere vornehmlich illegale, letztere vornehmlich legale Geschäfte tätigen. ... Gemeinsam ist dagegen beiden Gruppen, daß sie ein Maximum an Gewinn oder Erfolg erzielen wollen. Dazu bedarf es, ganz gleich welche Art von Geschäften betrieben wird, einer Organisation." Diese Einschätzung findet sich bestätigt bei Rebscher/Vahlenkamp, Organisierte Kriminalität, S. 140 ff, die von einer Überforderung des Einzeltäters sprechen. 355 Zachert, Kriminalistik 1995, 695. Die geringe Zahl der Ermittlungskomplexe darf nicht über das tatsächliche Ausmaß dieser Verfahren hinwegtäuschen. So wurden z.B. in Berlin 1992 83 Ermittlungskomplexe festgestellt, zu denen 6974 Einzeldelikte gehörten, und die sich - bei einem Gesamtschaden von 86 Mio. DM - gegen 1471 Tatverdächtigerichteten;vgl. Pähl, Kriminalistik 1994, 788. 356 Zachert, Kriminalistik 1995, 695. 1992 kam es in 260 von insgesamt 641 Verfahren aus dem Bereich der organisierten Kriminalität zu Gewalt und Einschüchterungen gegen Zeugen, vgl. hierzu Schuster, zitiert bei Koch/Poerting/Störzer, Kriminalistik 1994, 6; Zachert, Kriminalistik 1994, 21.

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sierte Kriminalität sogar als der "Regelfall" bezeichnet. 357 Nach Erkenntnissen des B K A gehört Gewalt auch in Deutschland zur Unterdrückung der Aussagebereitschaft von Zeugen und Geschädigten zum Tagesgeschäft organisierter K r i m i n a l i t ä t . 3 5 8 Die Einwirkung auf Zeugen kann damit als ein Wesensmerkmal der organisierten Kriminalität bezeichnet werden. 3 5 9 Die Strukturen krimineller Organisationen sind ausgerichtet auf die Maximierung von Gewinnen bei gleichzeitiger Minimierung des Strafverfolgungsrisikos. Ebenso wie für die Tatbegehung wird für die "Tat-Nachsorge" auf eine effektive Logistik zurückgegriffen. Der Zeuge ist gerade i n diesem nach außen weitgehend abgeschütteten Kriminalitätsbereich das i n der Praxis wichtigste Beweismittel. 3 6 0 Das Strafverfolgungsrisiko kann daher durch eine planmäßig betriebene und am Effektivitätsgedanken ausgerichtete Einschüchterung aussagebereiter Zeugen ganz massiv reduziert werden. Der größte Schaden für die Organisation insgesamt droht dabei durch die Zusammenarbeit eines Gruppenmitgliedes mit Strafverfolgungsorganen. 361 Oberstes Anliegen eines wirksamen Schutzes vor Strafverfolgung muß es daher sein, einen derartigen "Verrat" um jeden Preis zu verhindern. Das sicherste Mittel zur Aufrechterhaltung einer unbedingten Loyalität ist die unausweichliche, konsequente und in aller Härte durchgeführte Bestrafung von Verrätern. Diese geschieht oftmals in grausamer und ritualisierter Weise, wobei die Öffentlichkeitswirkung unter dem Gesichtspunkt der Generalprävention bewußt in Kauf genommen w i r d . 3 6 2 Neben dem Gruppenmitglied spielen andere Zeugentypen i m Bereich der organisierten Kriminalität eine eher untergeordnete Rolle, was sich schon dar357

Zitiert bei Orlandi , Zeugenschutz, S. 100 Fn. 31. Ähnlich für Deutschland Podolsky, Kriminalitätsformen, S. 89, sowie Sieber/Bögel, Logistik, S. 121. 35 8 Vahlenkamp, Drogen und Kriminalität, S. 125 f. 359 V g l hierzu Boeden, Organisierte Kriminalität, S. 37 f.; Boll, Kriminalistik 1992, 70; Dörmann/Koch, Wie groß ist die Gefahr?, S. 17; Freiberg/Thamm, MafiaSyndrom, S. 229; Ja cobi, Jura 1989, 589; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 22; Ranft, Jura 1993, 450; Rebmann/Schnarr,

NJW 1989, 1185; Rebscher/Vahlenkamp,

Organisierte Kriminalität, S. 94; Sieber/Bögel, Logistik, S. 120 ff, 339; Sielaff MafiaSyndrom, S. 274 ff; ders., Kriminalistik 1986, 58 ff; Weigand, Kriminalistik 1992, 143 ff Fallschilderungen auch in Der Spiegel vom 6. Juli 1992, Nr. 28, S. 40 f. 360

Vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 33 sowie Böttcher, Schüler-Springorum-FS, S. 541; Boll, Kriminalistik 1992, 69 f.; Podolsky, Kriminalitätsformen, S. 102 f.; Weigand, Kriminalistik 1992, 146. 361 Hierzu Weigand, Kriminalistik 1992, 144: "Ein aussagewilliger Zeuge ist für Straftäter der Organisierten Kriminalität ein höchst gefahrlicher Störer, der durch sein Verhalten den Lebensnerv der Organisation treffen kann." 362 Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 22; eingehend und mit Falldarstellungen Podolsky, Kriminalitätsformen, S. 79 ff. 7 Zacharias

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aus ergibt, daß es in vielen Kriminalitätsbereichen, wie z.B. i n Teilen der Wirtschaftskriminalität 3 6 3 und insbesondere bei dem Rauschgifthandel, der etwa die Hälfte aller Ermittlungsverfahren i m Bereich organisierter Kriminalität ausmacht 3 6 4 , keine "Opfer" g i b t . 3 6 5 Eine Ausnahme bilden die Bereiche organisierte Prostitution, Menschenhandel und Schutzgelderpressung, wobei gerade hier die Aussagebereitschaft der Opfer minimal i s t . 3 6 6 Zur Aufklärung von Einzeltaten werden jedoch immer wieder auch Zufallszeugen in die Pflicht genommen, die dann ebenfalls systematischen Repressalien ausgesetzt s i n d . 3 6 7 2, Einwirkungsmethoden a) "Beseitigen" des Zeugen Während i m Bereich der allgemeinen Kriminalität die Tötung des Zeugen selten ist, kann sie als ein typisches Erscheinungsbild der organisierten Kriminalität angesehen werden. 3 6 8 Nach einer Untersuchung aus den Vereinigten Staaten sind etwa 10 % aller Mordopfer aus dem Bereich der organisierten Kriminalität Zeugen der Anklage gewesen. 369 Die Tötung eines Zeugen er363

Zu denken ist hier z.B. an den Waffen- und Atomschmuggel, sowie an Fälle von Korruption; hierzu auch Zachert, Kriminalistik 1995, 693 f. 36 4 Neusei, Politische Studien, Sonderheft 3/1993, S. 9, fur das Jahr 1991. 365 Diese "rauschgiftspezifische" Situation spiegelt sich auch im Anzeigeverhalten wider. Die Rauschgiftkriminalität wird nur zu etwa 4 % ohne Zutun der Polizei bekannt, zu ca. 96 % dagegen aufgrund polizeilicher Ermittlungsarbeit, vgl. hierzu die Nachweise bei Beck, Bekämpfung der organisierten Kriminalität, S. 28 ff. 366 Zur Schutzgelderpressung anschaulich der Sachverhalt in BGH, wistra 1994, 225; BGH, NStZ 1992, 275. Der Berliner Oberstaatsanwalt Fätkinhäuer, Kriminalistik 1994, 265, kommt zu dem Ergebnis, daß im Bereich der Schutzgelderpressung "der Zeugenbeweis durch die OK-Repressalien komplett neutralisiert ist". Nach einer Untersuchung der AG Kripo, Kriminalistik 1995, 318, beruhten gleichwohl 84,2 % der Strafverfahren aus dem Bereich der Schutzgelderpressung auf einer Anzeige, wobei 11,4 % der Erpressungsopfer und 13,5 % der sonstigen Zeugen während der polizeilichen Ermittlungen eingeschüchtert bzw. angegriffen wurden. Nach Eröflnung der Hauptverhandlung lag die Zahl der Übergriffe bei 0,8 % bzw. 1,5 % (S. 317). - Zu den Problemen im Bereich der organisierten Prostitution Hillgärtner, Kriminalistik 1995, 198 f. 36 7

Podolsky, Kriminalitätsformen, S. 103. Bei Nicht-Bandenmitgliedern wird häufig vor einer Einschüchterung versucht, durch Korruption auf das Aussageverhalten Einfluß zunehmen, vgl. Sieber/Bögel, Logistik, S. 122. 36 8 Krafczyk, Gewalt und Kriminalität, S. 152 ff; Rebscher/Vahlenkamp, Organisierte Kriminalität, S. 94; Sielaff, Mafia-Syndrom, S. 277. Fallschilderungen finden sich z.B. bei Pähl, Kriminalistik 1994, 791 f., sowie Podolsky, Kriminalitätsformen, S. 80 f. 369 Die Untersuchung erstreckte sich auf einen Zeitraum von vier Jahren, vgl. hierzu Graham, Witness Intimidation, S. 85.

2. Abschnitt: Das Phänomen der Zeugengefahrdung

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folgt nach Kosten/Nutzen Erwägungen. Tötungshemmschwelle und Strafverfolgungsrisiko erlangen hier nur ein geringes Gewicht. In vielen Fällen wird der Tötungsauftrag an professionelle Killer vergeben. Neben dem Schaden, der der Organisation durch die Aussage des Zeugen droht, geben generalpräventive Überlegungen den Ausschlag dafür, den Zeugen zu töten. Der aussagebereite Zeuge wird nicht nur beseitigt, um seine Aussage zu verhindern, sondern auch, um potentiellen weiteren Zeugen unmißverständlich klarzumachen, daß das Gesetz des Schweigens unvermindert Gültigkeit beansprucht. b) Einschüchterung Eine Person, die als Zeuge mit organisierter Kriminalität konfrontiert wird, braucht nicht massiv bedroht zu werden, um Angst vor der Pflicht zu einer belastenden Aussage zu haben. Sie fühlt sich unmittelbar durch die dieser Kriminalitätsform innewohnende latente und in letzter Konsequenz unausweichliche Gewalt bedroht. Das Wissen, der Organisation bekannt zu sein, reicht. Wird dem Zeugen von der Organisation ein "Aussageverbot" erteilt oder wird ihm der Inhalt seiner Aussage vorgegeben, so bedarf es keiner ausdrücklichen Sanktionsandrohung mehr, um die Person des Zeugen von einer davon abweichenden Aussage abzuhalten. Aus diesem Grunde findet sich gerade in dem Bereich organisierter Kriminalität eine Vielzahl subtiler Einschüchterungsmethoden. 370 Die Palette reicht von scheinbar unverbindlichen Bemerkungen, wie z.B. "Du hast aber eine nette Familie", über anonyme Anrufe, das Observieren der Wohnung oder das Nachfahren mit Fahrzeugen, das Zusenden von Angehörigenfotos 371 , Beileidskarten, Kranzschleifen, Munitionspatronen, Tierkadavern 372 oder von Romanteilen, aus denen hervorgeht, wie man mit "Verrätern" umgeht, die Aufgabe verschlüsselter Anzeigen, wie z.B. "Hallo M. Herzlichen Glückwunsch. Sie machten sich wegen der Rattenzucht stadtbekannt. Das zu ignorieren, kaum möglich. Alles Gute für die Gesundheit. Seerose! " 3 7 3 , bis hin zu 370 Im einzelnen vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 33; Jacobi, Jura 1989, 589; Rebscher/Vahlenkamp, Organisierte Kriminalität, S. 96 f.; Siel äff, Kriminalistik 1986, 59; Weigand, Kriminalistik 1992, 144.; sowie Der Spiegel v. 6.7.1992, Nr. 28, S. 40 f. 371 Podolsky, Kriminalitätsformen, S. 81 beschreibt z.B. einen Fall, in dem einen in Haft befindlichen Aussteiger aus dem Bereich der internationalen Kfz-Verschiebung eine Fotografie seiner Familie zugespielt wurde, auf der eine männliche Person seinem Kind eine Pistole an den Kopf hielt. 372 In einem Fall soll einem Zeugen, der gegen die neapolitansiche Camorra aussagen sollte, die abgeschnittene Zunge eines Menschen zugesendet worden sein, vgl. Der Spiegel v. 6.7.1992, Nr. 28, S. 41. 373 Diese mittlerweile schon "klassische" Anzeige wurde in mehreren Hamburger Tageszeitungen veröffentlicht und richtete sich gegen den Zeugen "Manole" in einem Prozeß gegen ein kolumbianisches Drogenkartell. "Rattenzucht" war das Synonym für den Verrat des Zeugen, "Seerose" eine Zusammenstellung der Anfangsbuchstaben der

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tätlichen Drohungen wie dem Beschmieren von Hausfassaden, Zerstechen von Autoreifen und sonstigen Manipulationen am Fahrzeug, dem Zerstören von Wohnungseinrichtung und Geschäftsräumen, Warnschüssen aus dem Hinterhalt, Zerschießen von Fensterscheiben, Abdrängen mit dem PKW von der Straße, Freiheitsberaubungen, z.B. durch tagelanges Einsperren in einen Käfig oder das Aussperren auf einem Balkon 3 7 4 , und schließlich u.U. gravierenden körperlichen Mißhandlungen (Zusammenschlagen, Verstümmelungen, erniedrigende und besonders qualvolle Sexualpraktiken, und sonstige z.T. äußerst brutale Folterungen). Je nach dem Effektivitätskalkül richten sich die Übergriffe direkt gegen die Person des Zeugen oder gegen ihr nahestehende Personen, insbesondere ihre Kinder. 3 7 5 Die besondere Wirksamkeit der Einschüchterung, die in vielen Verfahren zu der hinlänglich bekannten "Mauer des Schweigens" fuhrt, ergibt sich aus dem Wissen jedes Zeugen um die "unausweichliche, konsequente und in aller Härte durchgeführte Gewaltanwendung" im Falle einer illoyalen Aussage. 376 Diese Angst allein kann tödliche Folgen haben, wie der Sachverhalt einer Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1989 verdeutlicht. 377 Dort hatte der Staatsanwalt in dem Ausgangsverfahren erklärt: "Der Zeuge G ist nach den bisherigen Ermittlungen durch den Angeld. und dessen Ehefrau, die in Begleitung von zwei männlichen Personen des öfteren versucht hat, den Zeugen aufzusuchen, massiv bedroht worden. Er sollte dazu bewegt werden, seine Angaben zurückzunehmen. Der Zeuge ist mehrfach zu Hause aufgesucht worden. Er ist wegen dieser Druckausübung bei der Hauptverhandlung des Schöffengerichts Laufen ferngeblieben. Er traf die Entscheidung, mit seiner Ehefrau aus dem Leben zu scheiden. Er konnte erst durch das sofortige Eingreifen der Polizei letztlich gerettet werden, während seine Ehefrau starb. Diese ist mehrmals dazu getrieben worden, auf den Zeugen einzuwirken. Auch die Schwiegermutter des Zeugen wurde angehalten, an den Zeugen heranzutreten."

Familiennamen mehrerer Täter. Zu dieser Anzeige auch Sielaff, Mafia-Syndrom, S. 278. 374 Weitere Beispiele aus dem sog. Rotlichtmilieu bei Rahmer, Sten. Protokoll der 31. Sitzung des Rechtsausschusses am 22.1.1992, Anhang S. 19 f. 375 Dazu, daß sich die Gefahrdungslage häufig auf Angehörige des Zeugen erstreckt, vgl. BGH, wistra 1995, 274, 275. 376 V g l hierzu auch Rebscher/Vahlenkamp, Organisierte Kriminalität, S. 45 f. 377 BGH, NStZ 1989, 237.

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C. Terrorismus und Landesverrat Terrorismus kann umschrieben werden als politisch motivierte, organisierte Gewaltkriminalität. 378 Bereits aus dieser Begriffsbestimmung wird ersichtlich, daß sich die terroristische Kriminalität von der organisierten Kriminalität i m wesentlichen nur durch die Tatmotivation unterscheidet. 379 Für den hier interessierenden Bereich der Einwirkung auf Zeugen kann daher auf die Ausführungen zur organisierten Kriminalität verwiesen werden. Auch i m Bereich des Terrorismus sind es vor allem Gruppenmitglieder, die als Aussteiger und Zeugen massiv bedroht werden. 3 8 0 Da Terroristen ihre kriminellen Handlungen nicht planvoll nach außen abschotten, sondern im Gegenteil ganz bewußt die Öffentlichkeit für die Tatbegehung suchen, erlangen in diesem Bereich Zufallszeugen eine wesentlich größere Bedeutung als z.B. im Bereich der organisierten Rauschgiftkriminalität. - Neben der organisierten Kriminalität und dem Terrorismus galt der Bereich des (geheimdienstlichen) Landesverrates lange Zeit als besonders gefährdungsrelevant. 381 Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Ostblocks spielt dieser Bereich derzeit keine besondere Rolle mehr.

378

Im einzelnen zu den unterschiedlichen Definitionsversuchen Rabert, Terrorismus, S. 14 ff. 379 So auch v. Stahl, Politische Studien, Sonderheft 3/1993, S. 78. 380 Eingehend zu der hier relevanten Gefahrdungslage Rebmann, NStZ 1982, 316. - Fallbeispiele für Zeugengefahrdungen im Zusammenhang mit Verfahren gegen die RAF und die kurdische Arbeiterpartei PKK finden sich bei Reb mann/Schnarr, NJW 1989, 1187 Fn. 17. In linksextremistischen Szeneblättern wird z.T. ausdrücklich zur Einschüchterung von Zeugen aufgefordert, vgl. die Nachweise bei Horchern, Terror und Extremismus, S. 116; Rebmann, NStZ 1982, 316. Zu Beispielen aus dem Bereich rechtsextremer Gewalt gegen Ausländer vgl. Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 153 Fn. 389. 381 Vgl. auch BGH, NStZ 1984, 32. Fallbeispiele hierzu bei Rebmann, NStZ 1982, 315 f. Der strafprozessuale Zeugenschutz für denfrüheren Oberleutnant des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR "Stiller" beschäftigte unter anderem BVerfGE 57, 250 ff; BGHSt 33, 70 ff; BGH, NStZ 1981, 270.

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen 1. Abschnitt: Eingriffscharakter der Zeugengefährdung 1. Kapitel: Private Störung und staatlicher Eingriff A. Keine Zurechnung der privaten Störung Im ersten Moment mag es überraschen, die Gefahrdungen, denen der Zeuge durch Dritte ausgesetzt wird, unter dem Gesichtspunkt staatlicher Grundrechtsbeeinträchtigungen zu untersuchen. Die Einschüchterungsversuche durch private "Störer" sind ebensowenig staatliche Eingriffe wie mögliche Racheakte, denen der Zeuge nach seiner Aussage ausgesetzt ist. Versuche, dem Staat das Verhalten privater Störer wie eigenes, hoheitliches Verhalten zuzurechnen, müssen scheitern, da der Staat keinerlei Steuerungsmöglichkeit über das Verhalten des tatsächlichen Störers inne hat. 1 Dies zeigt sich schon daran, daß ein Anspruch gegen den Staat, die Eingriffe zu unterlassen, mangels Herrschaft des Staates über das Verletzungsverhalten der Störer wertlos wäre. Auch die Konstruktion der staatlichen Schutzpflicht führt zu keiner Zurechnung des privaten schädlichen Verhaltens als staatlicher Grundrechtseingriff. 2 Selbst wenn der Staat zum Schutz des gefährdeten Zeugen verpflichtet ist, führt das Unterlassen der staatlichen Schutzpflicht nicht dazu, daß sich der Staat das Verhalten des privaten Störers nunmehr als eigenen staatlichen Grundrechtseingriff zurechnen lassen müßte.3

1

Vereinzelt wird dagegen versucht, dem Staat die Folgen des "Nicht-Verbietens" privater Störungen als Eingriff zuzurechnen. Zurechnungskriterium ist hierbei die Pflicht des Staates, Beeinträchtigungen zwischen Privaten zu verhindern. In diese Richtung Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 66 f., 92, 104. 2 Zutreffend Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 97 f.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 129. 3 So offenbar auch Klein, DVB1. 1994, 496, der zwischen "Grundrechtseingriff ' und "Schutzpflichtverletzung" differenziert.

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2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

B. Staatliches Verhalten als Anknüpfungspunkt Anknüpfungspunkt für mögliche Grundrechtsbeeinträchtigungen des Staates muß daher das staatliche Verhalten selbst bleiben. Die herkömmlichen "Eingriffskategorien" helfen für die Situation der Zeugengefahrdung jedoch nicht weiter. Nicht ein Verhalten des Staates, sondern das Verhalten des privaten Störers schädigt den Zeugen. Das schädigende Verhalten ist auch nicht zweckgerichtet i n einem staatlichen Verhalten angelegt, so daß sich aus dem staatlichen Verhalten - wie etwa bei der Gewährung der Akteneinsicht 4 - eine konkludente Duldungsanordnung gegenüber dem Zeugen entnehmen lassen könnte. Kein Strafverfolgungsorgan handelt mit der Intention, den Zeugen durch das rechtswidrige Verhalten Dritter schädigen zu lassen. Wenn feststeht, daß das Verhalten des privaten Schädigers dem Staat nicht wie eigenes hoheitliches Handeln zugerechnet werden kann und die Schädigung des Zeugen auch nicht zweckgerichtet in einem staatlichen Verhalten angelegt ist, so kann die staatliche Grundrechtsbeeinträchtigung allein in einem Verhalten gesehen werden, das für sich genommen noch zu keinem "Schaden" bei dem Zeugen führt. Angesprochen ist damit die Erweiterung des grundrechtlichen Rechtsgüterschutzes vom Schaden auf die Gefährdung. C. Vorverlagerung des Grundrechtsschutzes I. Schutzbereich der Grundrechte Die Grundrechte konkretisieren das Postulat der Menschenwürde i m Verhältnis des Bürgers zum Staat. Die Menschenwürde ist die Würde, die dem Menschen kraft seines Menschseins zukommt. Das Menschsein wiederum wird wesentlich durch zwei Kriterien bestimmt: Selbstverantwortung, d.h. Fähigkeit, sein Verhalten zu bestimmen, und Selbstverständnis, d.h. Fähigkeit, sich des eigenen Seiens bewußt zu werden: "In der Achtung der Menschenwürde findet die Anerkennung des Menschen als Person ihren Ausdruck, d.h. als eines Wesens, das sich seiner selbst in seiner Eigenart bewußt ist, in Freiheit über sich bestimmen, seine Umwelt gestalten und mit anderen Menschen Gemeinschaft bilden kann." 5

4

Vgl. hierzu auch Grandel, Strafakteneinsicht, S. 36. Allgemein zum möglichen Eingriffscharakter staatlicher Genehmigungen Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 96. 5 Otto, Kleinknecht-FS, S. 324. Vgl. auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 116: "... zu freier Entfaltung bestimmt, zugleich aber auch Glied von Gemeinschaften".

1. Abschnitt: Eingriffscharakter der Zeugengefahrdung

105

Wenn nun die Grundrechte die Aufgabe haben, die Menschenwürde im Verhältnis des Bürgers zum Staat zu konkretisieren 6, ist das Schutzgut der Grundrechte damit festgelegt: Schutzgut aller Grundrechte ist die freie Entfaltung des "Menschseins" der Person, d.h. seine Fähigkeit zu Selbstverantwortung und zu Selbstverständnis, zu "Tun" und zu "Sein", zu "Handeln" und zu "Persönlichkeit". Der Schutzbereich der einzelnen Grundrechtsnormen erstreckt sich jeweils umfassend auf die personale Entfaltung in Beziehung zu einem bestimmten Wert 7 . Als Beeinträchtigung des grundrechtlichen Schutzbereiches ist daher jedes staatliche Verhalten zu verstehen, durch das die Entfaltungsmöglichkeiten der Person in Bezug auf den von dem jeweiligen Grundrechtstatbestand geschützten Wert betroffen werden. 8 Dies entspricht einem schutzbereichsorientierten Eingriffsbegriff der herrschenden Meinung. 9 Der "klassische" Eingriffsbegriff, der eine Grundrechtsbeeinträchtigung nur in einer zweckgerichteten, unmittelbaren Beeinträchtigung durch einen Rechtsakt mit Außenwirkung sah 1 0 , ist mit dem Schutzgut der personalen Entfaltungsmöglichkeit nicht zu vereinbaren. Ihm kam auch nie die Bedeutung zu, den Schutzbereich der Grundrechte abschließend zu beschreiben. Seine Bedeutung lag vielmehr darin, die rechtsschutzrelevanten Merkmale eines Verwaltungsaktes zu bestimmen, solange dieser noch Voraussetzung für die Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges war. 1 1 IL Schutz vor staatlichen Gefährdungsakten Die Erkenntnis, daß sich der Schutzbereich der Grundrechte auch auf die "Freiheit von Risiken für das geschützte Gut" 1 2 erstreckt, hat sich in der Rechtsprechung des BVerfG seit langem durchgesetzt: Das jeweilige Grundrecht wird "nicht erst durch die faktische Verletzung der geschützten Rechts6

BVerfGE 27, 1, 6. Vgl. auch Dürig in Maunz/Dürig,

Art. 1 Abs. 1 Rdn. 5. Hesse,

Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn-. 362, verzichtet daher insoweit auf die Darstellung des Art. 1 GG. 7 "Werte" können auch umschrieben werden als "soziale Funktionseinheit", vgl. hierzu Otto, Strafrecht, A.T., § 1 Π 3. 8 Zum Schutzbereich der Grundrechte vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 310; v. Münch in v. Münch/Kunig, GG, Vorb. Art. 1-19 Rdn. 48 ff 9 Zum Eingriffsbegriff der herrschenden Meinung vgl. die Definition bei Pieroth/Schlink, Grundrechte - Staatsrecht Π, Rdn. 259: "Eingriff ist jedes staatliche Handeln, das dem einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, unmöglich macht". Hierzu auch Hufen, JZ 1984, 1074 f.; Weßlau, Vorfeldermittlungen, S. 162 ff. Zur strafprozessualen Literatur vgl. die Nachweise bei Ernst, Informationen im Strafprozeß, S. 66 ff. 10 Vgl. hierzu Steinke, MDR 1980, 457 11 So zutreffend Di Fabio, JZ 1993, 694 Fn. 44. 12 Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 131.

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2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

güter beeinträchtigt; es soll einer faktischen Verletzung der geschützten Rechtsgüter vielmehr vorbeugen". 13 Auch i n der Literatur wird die Vorverlagerung des Grundrechtsschutzes zunehmend anerkannt. 14 Wie bereits dargelegt, schützen die Grundrechte die ihnen zu Grunde liegenden Rechtsgüter umfassend. Der Begriff des Rechtsgutes ist dabei zu verstehen als die Beziehung einer Person zu einem bestimmten Wert, d.h. als die personale "Chance", diesen Wert zu verwirklichen. "Schutzwürdig ist das Rechtssubjekt nicht nur i n dem, was es hat, schutzwürdig ist es auch i n dem, was es wird, nämlich i n der Entfaltung von Möglichkeiten in seiner Entwicklung zum mündigen Rechtsgenossen."15 Geschützt ist damit nicht nur die Entfaltungsbzw. Verfügungsfreiheit des Betroffenen i n der konkreten Situation, sondern bereits die Möglichkeit, sich zukünftig frei entfalten bzw. frei verfügen zu können. Der Schutzbereich der einzelnen Grundrechtsnormen erstreckt sich somit jeweils umfassend auf die personale Entfaltung i n Beziehung zu einem bestimmten Wert. Ob der Eintritt des Schadens von einem weiteren staatlichen Akt, von dem Verhalten Dritter oder gar des Betroffenen selbst 16 , bzw. allein vom Zufall abhängt, ist irrelevant, da bereits der staatliche Gefahrschaffungsoder -erhöhungsakt eine Grundrechtsbeeinträchtigung darstellt. 17 Ermöglicht das staatliche Verhalten Dritten, über die Verwirklichung von Rechtsgütern durch den Zeugen zu verfügen, so ist das jeweilige Rechtsgut bereits durch das staatliche Verhalten beeinträchtigt, und zwar unabhängig davon, ob der Dritte tatsächlich schon i n Aktion getreten ist oder nicht. 1 8

13

BVerfGE 53, 30, 51 (Mühlheim-Kärlich). Vgl. auch BVerfGE 49, 89, 141 f. (Kalkar); 51, 324, 346 f.; 56, 54, 76 (Fluglärm). 14 Vgl. Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 88; Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 129 ff; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 152. Aus der strafprozessualen Literatur vgl. z.B. Wolter, Meyer-GedS, S. 495. 15 Otto, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 5. 16 In seinem Beschluß vom 2.5.1994 hat das BVerfG einen staatlichen Eingriff in das Grundrecht auf Leben darin gesehen, daß ein Gericht dem Betroffenen Räumungsvollstreckungsschutz versagt, obwohl der Betroffene mit Selbstmord gedroht hat, vgl. BVerfG, NJW 1994, 1719; kritisch hierzu Walker/Gruss, NJW 1996, 353 ff 17 Von daher war es nur konsequent, daß Gerichte die hoheitliche Anordnung, zu einer Veranstaltung zu erscheinen, bei der der Betroffene durch den Tabakqualm anderer Teilnehmer belästigt wird, als einen staatlichen Eingriff in das Grundrecht auf Gesundheit bewertet haben; vgl. z.B. BVerwG, NVwZ 1990, 165; VG Schleswig, NJW 1975, 275; vgl. auch OLG Hamm, NJW 1983, 583. Zustimmend Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 83; a.A Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 165. 18 Auch die strafprozessuale Literatur erkennt seit langem an, daß bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen auch deren unbeabsichtigte Nebenfolgen mitzuberücksichtigen sind, vgl. die Nachweise bei Degener, Verhältnismäßigkeit, S. 68 ff. mit Fn. 73. Die Gefahrdungslage des Zeugen gewinnt damit auch dann Bedeutung für den Umfang der Zeugenpflicht, wenn der Begriff der Grundrechtsbeeinträchti-

1. Abschnitt: Eingriffscharakter der Zeugengefahrdung

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Die Konsequenzen, die sich aus dem umfassenden Schutzbereich der Grundrechte für die Situation gefährdeter Zeugen ergeben, hat Dietlein zutreffend zusammengefaßt: "Soweit der Staat den Grundrechtsträger zu der nicht anonymisierten und selbstgefährdenden Aussage zwingt, liegt hierin zweifellos ein Grundrechtseingriff" 19 Das gleiche gilt für die staatliche Weitergabe von Informationen, durch die sich die Gefährdungslage für ein Rechtsgut des Betroffenen spürbar verschlechtert. 20 "Zeugenschutz ist damit nicht nur eine Frage der Kriminaltaktik und ein Problem der Wahrheitsermittlung i m Strafprozeß, sondern darüber hinaus ein Gebot des Grundgesetzes". 21 III. Schutz vor Maßnahmen, die Angst auslösen Schutzgut der Grundrechte ist die freie Entfaltung des Individuums i m Hinblick auf einen bestimmten Wert. Die Möglichkeit, sich frei zu entfalten, setzt voraus, daß der einzelne i n seiner Entscheidung nicht durch Angst determiniert ist. Staatliche Maßnahmen, die den Betroffenen i n Angst versetzen, stellen Eingriffe i n das grundrechtlich geschützte Rechtsgut dar, dessen freie Entfaltung durch Angst beeinträchtigt w i r d . 2 2 Auch das BVerfG mißt der subjektiven Angst des einzelnen grundrechtliche Relevanz zu. So hat es i n seiner Volkszählungsentscheidung bereits das Erheben personenbezogener Daten als einen Eingriff i n das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewertet. 23 Das BVerfG argumentiert, daß angesichts der "Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung" die Gefahr, daß die erhobenen Einzelinformationen zu einem Persönlichkeitsbild zusammengefügt werden, für den betroffenen Grundrechtsträger nicht mehr kontrollierbar sei. "Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffenden Informationen i n bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag,

gung nicht auf den Gefahrdungsbereich erstreckt wird. Degener selbst bezeichnet "die sogenannten unbeabsichtigten mittelbaren Nebenfolgen strafprozessualer Zwangsmaßnahmen als konstitutives Element der individuellen Freiheitsbelange", S. 71. 19 Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 164. 20 Zu Unrecht spricht Emst, Informationen im Strafprozeß, S. 59, daher nur von einer "eingriffsgleichen Gefahrdung", "wenn eine derart signifikante Gefahrerhöhung für das geschützte Rechtsgut vorliegt, die das allgemeine Lebensrisiko übersteigt". 21 Scholz, Organisierte Kriminalität, S. 83; vgl. auch SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 68. 22

Zu der Frage, inwieweit sich aus dem Grundrecht auf Freiheit von Angst ein Recht auf staatlichen Schutz ergeben kann, eingehend Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 195 ff; 223 ff. 23 BVerfGE 65, 1, 3 f. sowie 24 ff.

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2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden." 24 Staatliche Maßnahmen, welche die Person des Zeugen in Angst versetzen, sind danach jedenfalls dann als Beeinträchtigung der grundrechtlich geschützten Entfaltungsfreiheit des Zeugen zu bewerten, wenn von der Person des Zeugen in ihrer individuellen Lage nicht erwartet werden kann, daß sie der Situation "in besonnener Selbstbehauptung" standhält, ohne sich in der personalen Entfaltung einzuschränken. Dies gilt unabhängig davon, ob eine tatsächliche Gefährdungslage vorliegt oder nicht. Als Beispiel kann der von Stratmann 25 geschilderte Fall dienen, in dem zwei 16-jährige Mädchen auf dem Nachhauseweg zufällig miterleben, wie ein Mann versucht, ein 9-jähriges Mädchen auf sadistische Weise umzubringen. Die Verpflichtung, als Zeuginnen in der Hauptverhandlung aufzutreten und vor den Augen des Angeklagten auszusagen, führte zu massiven Angstzuständen mit Krankheitswert. Der Umstand, daß der Angeklagte in einer geschlossenen Anstalt untergebracht war und dort auch für die nächsten Jahre bleiben wird, war für das subjektive Angsterlebnis ohne Bedeutung.

2. Kapitel: Das eingreifende staatliche Verhalten Durch die Verknüpfung der Beeinträchtigungen des Zeugen mit einem staatlichen Verhalten wird klar, daß Einschüchterungen und Racheakte unter Eingriffsgesichtspunkten außer Betracht bleiben, denen eine Person unabhängig von ihrer Verfahrensrolle als Zeuge ausgesetzt ist. Dies gilt z.B. für das Opfer, das vom Zeitpunkt der Tat an eingeschüchtert wird, damit es keine Anzeige erstattet, aber auch für das Mitglied einer kriminellen Organisation, das von dem Zeitpunkt seines Eintrittes an latent bedroht ist. In diesen Gefahrenlagen sind keine staatlichen Grundrechtsbeeinträchtigungen zu sehen. A. Staatliche Gefährdungsakte Gefährdungsrelevant sind staatliche Maßnahmen, die es Dritten ermöglichen, sich das für eine Einschüchterung des Zeugen oder für Racheakte erforderliche Wissen zu verschaffen. Bedeutung erlangen vor allem Informationen über die Identität des Zeugen, über seinen Aufenthalt, seine Wohnanschrift, Arbeitsstelle, oder Telefonnummer. Gefährdungsrelevant sind aber auch personenbezogene Informationen über die Lebensverhältnisse, Beruf und Lebensgewohnheiten des Zeugen, da sie Voraussetzung einer wirksamen Einschüchterung sein können (z.B. Kinder, verheiratet etc.). 24 25

BVerfGE 65, 1, 43. Stratmann, Kriminalistik 1992, 788

1. Abschnitt: Eingriffscharakter der Zeugengefahrdung

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L Informationsweitergabe Das gefährdende staatliche Verhalten liegt grundsätzlich in einer Informationsweitergabe. Besonders gefährdungsrelevant ist die Informationsweitergabe an den Beschuldigten/Angeklagten bzw. seinen Verteidiger. Auch wenn nicht unterstellt werden kann, daß der Verteidiger die Gefährdung des Zeugen unterstützen möchte 26 , bleibt bei der Informationsweitergabe an den Verteidiger das Risiko der Zeugengefährdung, denn der Verteidiger hat seinem Mandanten grundsätzlich die erhaltenen Informationen weiterzugeben. Als grundrechtsbeeinträchtigende Gefährdungsakte kommen z.B. in Betracht die Gewährung der Anwesenheit des Verteidigers oder gar des Beschuldigten während der Vernehmung des Zeugen im Ermittlungsverfahren, die Gewährung von Akteneinsicht an den Verteidiger, die Mitteilung der Personalien des Zeugen an den Angeschuldigten in der Anklageschrift und in der Ladung zur Hauptverhandlung, die Anwesenheit des Angeklagten, des Verteidigers und der Öffentlichkeit während der Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung und insbesondere während seiner Vernehmung zur Person. Die gefährdungsrelevanten Informationen über die Person des Zeugen (Personalien, Erreichbarkeit) müssen dabei nicht unmittelbar von dem gefährdeten Zeugen selbst stammen. Auch die Weitergabe von Informationen, die über die Person des Zeugen erhoben wurden - zu denken ist z.B. an Befragung weiterer Personen über die Personalien eines Zeugen, der entsprechende Angaben in der Hauptverhandlung verweigert - gefährdet diesen Zeugen. Darüber hinaus kann der Zeuge durch jede sonstige Art der Informationsweitergabe, z.B. die Gewährung von Akteneinsicht an Dritte, die Preisgabe seiner Personalien in einer Pressemitteilung etc., gefährdet werden. Durch diese gefährdenden staatlichen Informationsmaßnahmen werden die Grundrechte des Zeugen beeinträchtigt, und zwar unabhängig davon, ob die Informationsweitergabe oder die Gewährung der Anwesenheit gesetzlich vorgeschrieben ist oder im Ermessen des Strafverfolgungsorganes steht. Die Frage nach dem rechtlichen Grund der gefahrrelevanten staatlichen Maßnahme ist eine Frage der Rechtswidrigkeit der Beeinträchtigung, stellt aber das Vorliegen der Beeinträchtigung selbst nicht in Frage. IL Anordnungen gegenüber dem Zeugen In bestimmten Konstellationen besteht die Gefahr für den Zeugen unabhängig von dem Informationsverhalten der Strafverfolgungsorgane. Dies ist

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Zu gegenteiligen Erfahrungen aus dem Bereich der organisierten Kriminalität Sieber/Bögel, Logistik, S. 123 f. (Kfz-Verschiebung), 192 ff. (Prostitution), 229 (Menschenhandel), 278 f. (Glücksspiel).

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2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

insbesondere dann der Fall, wenn der Beschuldigte Identität, Aufenthaltsort und den Inhalt der Aussage des Zeugen kennt oder aus den Umständen des konkreten Falles erschließen kann. Zu denken ist etwa an Fälle, in denen die Person des Zeugen dem Täter als Opfer oder auch Beteiligter der Tat persönlich bekannt ist. In diesen Fällen hängt die Gefährdungssituation des Zeugen vor allem von seinem Aussageverhalten ab. Der Umstand, ob der Zeuge eine den Beschuldigten belastende Aussage abgegeben hat, erschließt sich dem Beschuldigten regelmäßig durch den weiteren Verfahrensverlauf - spätestens durch das Urteil. In diesen Fällen, in denen der private Störer bereits vor der Aussage über alle weiteren gefährdungsrelevanten Informationen verfügt, verschlechtert die staatliche Anordnung an den Zeugen, wahrheitsgemäß auszusagen, dessen Gefährdungssituation. Die Gefahr von Racheakten gegenüber dem Zeugen ist an die Bedingung geknüpft, daß der Zeuge den Inhalt seiner Aussage nicht im Sinne des Gefährdenden korrigiert. Mit der staatlichen Anordnung, wahrheitsgemäß auszusagen, tritt diese Bedingung ein. B. Staatliche Maßnahmen, die Angst auslösen Im Hinblick auf staatliche Grundrechtsbeeinträchtigungen durch das Auslösen von Angst kommt der staatlichen Maßnahme entscheidendes Gewicht zu, mit der der betroffene Bürger zum ersten Mal mit seiner Zeugenstellung konfrontiert wird. 2 7 Dies wird regelmäßig die Anordnung sein, zur Vernehmung als Zeuge zu erscheinen und auszusagen. Ab diesem Zeitpunkt entsteht bei dem betroffenen Bürger das beängstigende Gefühl, durch staatliche Maßnahmen in Beziehung zu Personen gebracht zu werden, die ihm u.U. feindlich gesonnen sind und deren Verhalten er nicht einschätzen kann.

3. Kapitel: Die relevanten Grundrechte Die Einschüchterungen und vor allem die angedrohten Racheakte können z.B. die Rechtsgüter Leben, Gesundheit, Bewegungsfreiheit, Familie, Freizügigkeit, Eigentum und freie Berufsausübung beeinträchtigen. Diese Rechtsgüter werden durch die Grundrechte der Art. 2 Abs. 2, Art. 6, 12 und 14 GG bereits vor staatlichen Gefahrschafiungs- oder -erhöhungsakten geschützt. Gerade bei Opfern kommt mit der Zeugenstellung und insbesondere der Ladung zur Hauptverhandlung die Angst vor dem oder den Täter(n), vor Racheakten und davor, erneut Opfer von Straftaten zu werden, zurück. 28 Je nach der psychischen Verfassung der Person des Zeugen kann es zu Schlafstörungen, Alpträumen, Verfolgungsängsten bis hin zu schweren gesundheitlichen Gefahren,

27 28

Hierzu auch Stratmann, Kriminalistik 1995, 743 f. Vgl. nur Stratmann, Kriminalistik 1995, 744.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

111

insbesondere Herz- und Kreislauferkrankungen, kommen. Aber auch dann, wenn es zu keiner Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 GG, kommt, kann die Angst zu schwerwiegenden sozialen Problemen fuhren, denen durchaus Grundrechtsrelevanz zukommt. Zu denken ist daran, daß sich die Person des Zeugen nicht mehr traut, sich frei zu bewegen (Art. 2 Abs. 2 GG), daß sie sich aus ihrem bisherigen gesellschaftlichen Leben zurückzieht, ihren Wohnort wechselt oder ihren Arbeitsplatz und damit ihre finanzielle Einnahmequelle verliert. 29 Der Zustand der Angst beeinträchtigt daher stets das Recht des Zeugen auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, und zwar sowohl im Hinblick auf die freie Entfaltung von Privatheit als auch i m Hinblick auf das Recht auf Selbstdarstellungsfreiheit. Sieht sich der Zeuge zu besonderen Schutzvorkehrungen veranlaßt, so liegt hierin schließlich eine (mittelbare) Beeinträchtigung seiner allgemeinen Handlungsfreiheit, die durch Art. 2 Abs. 1 GG auch vor staatlichen Gefahrschaffungs- oder -erhöhungsakten geschützt wird.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates 1. Kapitel: Grundlagen A. Grundrechte als primär subjektive Abwehrrechte Die Grundrechte der Verfassung sind ihrem Wortlaut nach überwiegend als Abwehrrechte gegen den Staat formuliert. 30 Dies entsprach dem liberalen Grundrechtsverständnis und war Ausfluß der aktuellen Erfahrungen des nationalsozialistischen Unrechtsstaates. Die Grundrechte dienen primär dazu, Einwirkungen staatlicher Gewalten in den Schutzbereich des jeweiligen Grundrechts auszuschließen bzw. einer gesetzlichen Grundlage zu unterstellen, also eine staatsfreie Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft verfassungsrechtlich abzusichern. 31 Dagegen wäre es verfehlt, das traditionelle Verständnis der Grundrechte ausschließlich in ihrer Funktion als staatsgerichtete Abwehrrechte zu sehen. 32 Die Grundrechtskataloge der deutschen Verfassun-

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Die Aufgabe des Arbeitsplatzes ist häufig dann festzustellen, wenn sich die Tat am Arbeitsplatz des Opfers ereignet hat. Beispiele hierzu bei Stratmann, Kriminalistik 1995, 743 f. 30 "Jeder hat das Recht,...". 31 So das BVerfG in ständiger Rechtsprechung, vgl. BVerfGE 7, 198, 204 f.; 69, 315,343.

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2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

gen enthielten "traditionell" neben subjektiven Abwehrrechten stets auch Aussagen und Vorgaben zur objektiv-rechtlichen Gestaltung des Gemeinwesens. 33 Auch der Grundrechtsteil des Grundgesetzes kennt Bestimmungen, die keine Abwehrrechte, sondern institutionelle Vorgaben enthalten. 34 B. Die objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte In der heutigen Gesellschaft hängt die Möglichkeit des einzelnen, seine Grundrechte zu verwirklichen, weniger von dem Ausbleiben staatlicher Eingriffe ab, als vielmehr von der Erfüllung staatlicher Handlungs- und Gestaltungspflichten. Die fortschreitende "Vergesellschaftung" hat dazu geführt, daß der Gebrauch der meisten Grundrechte nicht mehr auf Grund der selbstbestimmten Handlungsfreiheit des einzelnen möglich ist, sondern i n wachsendem Maß von staatlichen oder gesellschaftlichen Vorleistungen abhängt bzw. nur noch i m Rahmen staatlicher oder gesellschaftlicher Institutionen erfolgen kann. Ohne staatliche Handlungs- und Gestaltungspflichten würde der Grundrechtsschutz allmählich auf einige "Residualzonen" zurückgedrängt. Für die Entfaltung der Persönlichkeit und die Wahrnehmung von Lebenschancen i n heute relevanten Bereichen fiele er dagegen aus. 3 5 Dieser Befund wird bestätigt durch die schnelle Zunahme der Risiken der modernen Industriegesellschaft, die mit einer sinkenden Chance des einzelnen einhergeht, sich durch entsprechende Umsicht vor ihnen zu schützen. Darüber hinaus haben sich gesellschaftliche Machtzentren herausgebildet, die ihrer Struktur und ihrem freiheitsgefährdenden Potential nach jeder staatlichen Gewalt überlegen sind, ohne auch nur annähernd denselben Beschränkungen unterworfen zu sein. /. Werte Daß sich die Grundrechte der Verfassung nicht in ihrem abwehrrechtlichen Gehalt erschöpfen, zeigt sich bereits daran, daß jedes Abwehrrecht seinem Wesen nach darauf gerichtet ist, ein rechtlich geschütztes "Gut" zu verteidigen. Dieses Rechtsgut ist bezogen auf einen objektiv-rechtlichen "Wert" und

32 Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 52, sieht in einem solchen Verständnis nur "die halbe Wahrheit". 33 Vgl. zu den Beispielen der Paulskirchenverfassung von 1849 sowie zur Weimarer Verfassung Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 53 sowie Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 178 ff. 34 Vgl. z.B. Art. 6 Abs. 1 GG: "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung" bzw. Art. 14 Abs. 1 S. 1: "Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet." 35 Eingehend zum ganzen Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 415 f.; Ders, NJW 1989, 1308 f., vgl. auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 210, 349.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

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damit auf ein Element der objektiv-rechtlichen Ordnung. Ein Abwehrrecht ohne einen korrespondierenden objektiv-rechtlichen Wert wäre i m wahrsten Sinne des Wortes "wertlos". Rechtsmethodisch lassen sich die objektiv-rechtlichen "Werte" durch Abstraktion, d.h. durch Loslösen des Rechtssatzes von einem individuellen Rechtsgutsträger und dem Rechtsverpflichteten, gewinnen. 3 6 IL Gebote Die Grundrechte erschöpfen sich damit nicht i n ihrer Funktion als subjektive Abwehrrechte gegen den Staat, sondern beinhalten zugleich Grundelemente einer objektiv-rechtlichen Wertordnung. 37 Ebenso wie die grundrechtlichen Abwehrrechte i n einer rechtlichen Ordnung leer laufen würden, die die grundrechtlichen Werte nicht berücksichtigt, bliebe auch die staatlich geschaffene Verwirklichungsmöglichkeit (Rechtsordnung) leer und leblos, wenn die subjektiven Rechte des einzelnen fehlten. Abwehrrecht und objektiv-rechtliche Ordnung stehen damit i n einem Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit. 3 8 Diese gegenseitige Bedingtheit verpflichtet den Staat. Liegen den grundrechtlichen Abwehrrechten objektiv-rechtliche Wertentscheidungen zugrunde, so sind alle staatlichen Gewalten verpflichtet, diese Vorgaben i m Rahmen ihrer Aufgaben zu beachten und zu verwirklichen. 3 9 Die Verfassung selbst bringt diese Verpflichtung durch die i n Art. 1 Abs. 3 G G 4 0 sowie Art. 20 Abs. 3 GG ausgesprochene Bindung der staatlichen Gewalten an die Grundrechte und die verfassungsmäßige Ordnung 4 1 zum Ausdruck. Durch die von ihnen verkörperten Werte begründen die Grundrechte Handlungs- und Gestaltungsgebote. Der Staat des Grundgesetzes hat den Auftrag, die tatsächlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit jeder die Chance erhält, seine Grundrechts-

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Hierzu eingehend Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 478; Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 61. 37 Seit dem Lüth - Urteil, BVerfGE 7, 198, 208, ständige Rechtsprechung des BVerfG zu den durch Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Werten. Zusammenfassend Lorenz, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, § 128 Rdn. 43. Daß den Grundrechten im übrigen ebenfalls ein objektiver Gehalt zukommt, ist in der Literatur - wenn auch mit unterschiedlicher Begründung - weitgehend anerkannt, vgl. nur Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 60 ff, 64; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 279 ff. 38

Hierzu Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 12; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 290. 39 Vgl. nur BVerfGE 88, 203, 251 ff. 40 Hierzu Stern, Staatsrecht Bd. m/1, S. 948. 41 Zum Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung vgl. Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 231 (zu Art. 2 Abs. 1 GG); Herzog in Maunz/Dürig, Art. 20 Abs. 4 Rdn. 9. 8 Zacharias

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2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

Rechtsgüter zu verwirklichen bzw. i n Funktion zu setzen. U m den deontologischen Bezug der grundrechtlichen Wertvorgaben zu verdeutlichen, verwendet Alexy den Begriff des "Prinzips". Prinzipien sind an den Staat gerichtete "Optimierungsgebote mit Verwirklichungstendenz". 42 Derartige Prinzipien i m Sinne grundrechtlicher Optimierungsgebote können sich sowohl auf individuelle grundrechtliche Rechte 43 als auch auf kollektive grundrechtliche Güt e r 4 4 beziehen. A n der hier dargestellten "Werttheorie der Grundrechte" wurde kritisiert, sie sei eine bloße "Verhüllungsformel für interpretatorischen Dezisionismus". 4 5 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß alle materialen Grundrechtstheorien 4 6 letztlich auf Wertungen und Werten basieren 47 . So beruht die Aussage der sog. liberalen Grundrechtstheorien darauf, daß sie den grundrechtlichen Wert - bzw. das grundrechtliche Prinzip - der abwehrrechtlichen Freiheit höher bewerten als das kollektive Prinzip der faktischen Freiheit, während den sozialen Grundrechtstheorien die Wertung zugrunde liegt, beide Prinzipien seien zumindest gleichrangig. 48 Die Werttheorie bildet zu diesen inhaltlichen Grundrechtstheorien deshalb keinen Gegensatz. 49 Ihre Legitimation liegt vielmehr darin, den - jeder Grundrechtstheorie immanenten - argumentativen Rückgriff auf grundrechtliche Werte gerade nicht zu verschleiern, sondern ihn offenzulegen. Dadurch zwingt sie den Verfassungsinterpreten dazu, diejenigen Werte, auf die er argumentativ zurückgreift, rational zu begründen. Mehr vermag und braucht die grundrechtliche "Werttheorie" nicht zu leisten. Es bleibt daher festzustellen, daß die Grundrechte, indem sie "besonders sensible Bereiche menschlicher Persönlichkeitsentfaltung vor dem ungerecht42

Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 f., 125 ff; zustimmend Lorenz, JZ

1992, 1004 f; Wahl/Masing,

JZ 1990, 556.

43

Individuelle Prinzipien lassen sich all jenen Grundrechtsgehalten entnehmen, die subjektive Rechte gewähren, also z.B. die grundrechtlichen Freiheitsrechte, aber auch die subjektiven Rechte auf staatlichen Schutz. 44 Kollektive Prinzipien sind darauf gerichtet, solche Zustände herzustellen, in denen bestimmte überindividuelle Güter möglichst optimal verwirklicht werden können. Als kollektive Güter wurde vom BVerfG z.B. die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege (BVerfGE 16, 194, 202) anerkannt. Ausfuhrlich zum Ganzen Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 98 f , 117 ff. 45

46

Böckenförde, NJW 1974, 1534.

Böckenförde, NJW 1974, 1529 ff, unterteilt die Grundrechtstheorien in fünf Hauptgruppen: Neben die Werttheorie stellt er die liberale, die institutionelle, die demokratisch funktionale sowie die sozialstaatliche Grundrechtstheorie. 47 Vgl. hierzu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 509 ff. 48 Vgl. hierzu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 510 f. 49 Auch "das BVerfG war klug genug, sich nicht auf eine bestimmte Theorie festzulegen", Häberle, JZ 1989, 918.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

115

fertigten Zugriff des Staates absichern" 50 , zugleich deren generelle Schutzbedürftigkeit definieren und dadurch die Pflicht des Staates begründen, seinen Bürgern die Möglichkeit zu gewähren, diese Werte "in Funktion zu setzen". M i t der Anerkennung grundrechtlicher Schutzpflichten verlieren die Grundrechte nicht ihre primär abwehrrechtliche Dimension, ihnen wird vielmehr die von der Verfassung vorausgesetzte, zur Grundrechtseffektuierung notwendige, komplementäre, institutionelle Komponente hinzugefügt. 51 Der abwehrrechtliche Charakter wird hierdurch nicht beseitigt. Subjektives Abwehrrecht und staatliche Schutzpflicht bilden keinen Gegensatz, das Abwehrrecht bedingt vielmehr die Schutzpflicht. 52 Erfüllt der Staat seine Pflicht nicht, die Voraussetzungen zur Verwirklichung der Grundrechtswerte zu schaffen, würde das Abwehrrecht leerlaufen und zwar nicht mangels Eingriff, sondern mangels eingreifbarem Rechtsgut. Die Herleitung staatlicher Schutzpflichten aus den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten entspricht mittlerweile einer gefestigten Rechtsprechung des BVerfG; sie wird auch i n der Literatur weitgehend anerkannt. 53 C. Gesetzgeber als primärer Adressat Der verfassungsrechtliche Schutzauftrag verpflichtet alle staatlichen Gewalten, die grundrechtlich garantierte Freiheitssphäre des einzelnen gegen Übergriffe privater Störer zu schützen. 54 Primärer Adressat der staatlichen Handlungs- und Gestaltungsgebote ist der Gesetzgeber. 55 Ihm kommt bei der normativen Umsetzung der grundrechtlichen Wert-Vorgaben ein weiter "Einschätzungs-, Wertungs-, und Gestaltungsspielraum" zu, wobei er sich um einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Interesse des konkret Betroffenen und den gegenläufigen öffentlichen und privaten Interessen zu bemühen h a t . 5 6 Aufgabe der Exekutive und der Jurisdiktion ist es, innerhalb des vom 50

Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 65. Hub er, Grundrechtsschutz, S. 23; Stern, Staatsrecht Bd. LO/1, S. 946. 52 Vgl. hierzu auch Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 206. 53 Vgl. nur die beiden Abtreibungsentscheidungen BVerfGE 39, 1, 41 f.; 88, 203, 251 ff. - Aus der Literatur vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410 ff; Häberle, JZ 1993, 246 f.; Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 63, m.w.N. in Fn. 134; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 349 ff; Klein, NJW 1989, 1633 ff; Lorenz, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, § 128 Rdn. 44 ff; Ossenbühl, Eichenberger-FS, S. 184; Stern, Staatsrecht, Bd. m/1, S. 931, m.w.N. in Fn. 206 bis 209; Wahl/Masing, JZ 1990, 556. 54 Zur Systematik staatlicher Schutzpflichten im einzelnen vgl. Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 128 ff. 55 BVerfGE 88, 203, 254; Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 111 ff 56 Vgl. BVerfGE 77, 170, 214 f.; 79, 174, 202; 88, 203, 262; 90, 107, 116 f.; Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 201; Stern, Staatsrecht, Bd. m/1, S. 951 f. - Es 51

8*

116

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

Gesetzgeber gesteckten Rahmens eine wirksame Umsetzung der staatlichen Schutzverpflichtung zu gewährleisten. 57 Hier gewinnt das Gebot des Grundrechtsschutzes vor allem bei der Ermessensausübung und der verfassungskonformen Gesetzesauslegung Bedeutung. 58

2. Kapitel: Schutzpflicht der gefahrenabwehrenden Polizei Der Staat ist i m Hinblick auf seinen grundrechtlichen Schutzauftrag nicht nur verpflichtet, die Handlungsspielräume der einzelnen Individuen normativ abzugrenzen und Überschreitungen zu ahnden. Der Staat hat auch und vor allem die Pflicht, Grundrechtseingriffen durch Dritte durch entsprechende Überwachungs- und Gefahrabwendungstätigkeiten vorzubeugen. Es ist daher selbstverständlich, daß der Staat grundsätzlich verpflichtet ist, den Zeugen vor Gefährdungen durch Dritte zu schützen. 59 Die staatliche Gefahrenabwehr ist Aufgabe der Polizei. 60 Die Frage, "ob" und "wie" sie den einzelnen Bürger vor nichtstaatlichen Grundrechtsbeeinträchtigungen schützen will, liegt in ihrem pflichtgemäßen Ermessen (sog. Entschließungs- und Auswahlermessen). 61 Ausschlaggebend für die Entscheidung, ob polizeiliches Einschreiten geboten ist, sind insbesondere das Gewicht des gefährdeten Rechtsgutes und der Grad seiner Gefährdung. Im Hinblick auf den Kronzeugen in einem Mafia-Prozeß, auf dessen Leben ein Kopfgeld ausgesetzt worden ist, wird z.B. allein schon wegen des Gewichtes des bedrohten Rechtsgutes von einer Reduzierung des polizeilichen Entschließungsermessens auf Null auszugehen sein. Auch wenn der Staat gegenüber demjenigen Bürger, den er dazu zwingt, sich in eine Situation zu begeben, in der er Gefährdungen durch Dritte ausgesetzt ist, zum Schutz vor Schädigungen verpflichtet ist, sollte man den praktischen Gewinn dieser grundrechtlichen Schutzpflicht angesichts der unterwäre daher grundlegend verfehlt, die Wertordnung des Grundgesetzes als eine starre Wert-Rangordnung zu interpretieren, aus der sich für jede anstehende Entscheidung eine verbindliche Vorgabe entnehmen ließe. 57 Eingehend hierzu Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 71 f.; Hesse, Grundzüge des Veifassungsrechts, Rdn. 303flf. - Zu dem "öffentlichen Interesse an der Effizienz des (Straf-) Verfahrens" vgl. BVerfG, StV 1993, 315. 58 Hierzu unten SS. . 59 Eingehend Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 121 fF. 60 Vgl. z.B. Art. 2 Abs. 1 BayPAG: "Die Polizei hat die Aufgabe, die allgemein oder im Einzelfall bestehenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren." 61 Hierzu Robb er sy Sicherheit als Menschenrecht, S. 246 flf.; vgl. auch Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 10.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

117

schiedlichen denkbaren Gefahrdungslagen und insbesondere des Grades der drohenden Gefahren nicht überbewerten. Die Ausgestaltung der Schutzpflicht kann auch weiterhin allein dem Ermessen der Polizei unterliegen. 62 Das Spektrum, das der Polizei zur Erfüllung dieser Schutzpflicht zur Verfügung steht, reicht damit von allgemeinen Ratschlägen zum Selbstschutz bis zum Personenschutz rund um die Uhr. 6 3 Bei dem polizeilichen Schutz gefährdeter Zeugen geht es jedoch nicht nur um die Abwehr privater Grundrechtsbeeinträchtigungen, sondern auch und vor allem um die Kompensation einer durch staatliches Verhalten ausgelösten Gefahrenlage. Dies kann bei der Ausgestaltung des polizeilichen Schutzes nicht unberücksichtigt bleiben. Der Staat ruft eine Schwächung der grundrechtlichen Position des Zeugen und die Gefahr von rechtswidrigen Übergriffen von Seiten anderer, nichtstaatlicher Dritter durch sein rechtmäßiges Verhalten im Rahmen des Zeugenverfahrens hervor. Dann aber ist der Staat grundrechtlich verpflichtet, den Zeugen, nachdem er ihm die gefährdende Aussage abverlangt hat, nicht hilflos den zu befürchtenden Racheakten auszuliefern. 64 Es ist daher wichtig zu erkennen, daß das gefährdende Vorverhalten des Staates ein gewichtiger Faktor bei der Ausübung des polizeilichen Gestaltungsermessens zum Schutz gefährdeter Zeugen ist. 6 5 Der Umstand, daß der gefährliche Zustand auf ein staatliches Verhalten zurückzuführen ist, kann sogar dazu führen, daß bei mehreren denkbaren Schutzmöglichkeiten bestimmte Entscheidungen nicht mehr ermessensfehlerfrei getroffen werden können mit der Folge, daß der gefährdete Zeuge einen Anspruch auf konkrete Schutzmaßnahmen hat. 6 6 Dietlein ist daher zuzustimmen, wenn er für die Situation des gefährdeten Zeugen feststellt, daß sich der ursprünglich negatorische grundrechtliche Abwehranspruch des Grund-

62 Unter den konkreten Umständen des Einzelfalles kann sich jedoch selbst das Auswahlermessen auf ein einziges Mittel reduzieren, vgl. Lorenz, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, § 128 Rdn. 53, unter Hinweis auf die gesteigerte staatliche Fürsorgepflicht gegenüber dem gefährdeten Zeugen. 63 Eingehend zu den Maßnahmen polizeilicher Zeugenschutzprogramme S. 161 ff 64 Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1188; Schnarr, Kriminalistik 1990, 293. 65 Zur Zumutbarkeit polizeilicher Zeugenschutzmaßnahmen vgl. jedoch S. 178. 66 Aufschlußreich hierzu VGH Mannheim, NVwZ 1987, 1101, wonach der Wohnungsinhaber aus der polizeilichen Generalklausel einen Anspruch auf Räumung - also auf eine konkrete Maßnahme - ableiten kann, wenn die Behörde vorher einen Bewohner eingewiesen hat, der Zustand also auf das Verhalten der Behörde zurückzufuhren ist. Zu einer Ermessensreduzierung auf "Null" vgl. auch das "Schleyer-Urteil" BVerfGE 46, 160, 164 f.: Die staatliche "Freiheit in der Wahl der Mittel zum Schutz des Lebens kann sich in besonders gelagerten Fällen auch auf die Wahl eines bestimmten Mittels verengen, wenn ein effektiver Lebensschutz auf andere Weise nicht zu erreichen ist."

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2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

rechtsinhäbers gegen die Überbürdung der Zeugenpflicht "mit Vollzug des staatlichen Grundrechtseingriffs i n einen grundrechtsunmittelbaren, positiven, kompensatorischen Leistungsanspruch auf staatliche Schutzgewährung verwandeln k a n n " . 6 7 3. Kapitel: Schutzpflicht der StrafVerfolgungsorgane A. Grundlagen der Schutzpflicht I. Der Zeuge als Verfahrenssubjekt W i r d staatliches Verfahren umschrieben als die nach außen wirkende staatliche Tätigkeit, die auf das Herbeiführen einer Entscheidung gerichtet i s t 6 8 , so wird offensichtlich, daß der Staat dem Zeugen durch Verfahren entgegentritt. I n diesem Verfahren ist der Zeuge das Verfahrenssubjekt. Da dieses Verfahren - allein schon wegen der unterschiedlichen Adressaten - nicht identisch sein kann mit dem Strafverfahren gegen den Beschuldigten, greift der Einwand, der Zeuge nehme i n diesem Verfahren nur eine Nebenrolle ein, von vornherein nicht durch. Natürlich w i l l der Staat den Zweck, der mit der Durchführung des Strafverfahrens erreicht werden soll (Rechtsfrieden durch gerechtes Urteil, Prävention), nicht an dem Zeugen, sondern an dem Beschuldigten realisieren. Zur Erreichung dieses Zweckes gegenüber dem Beschuldigten bedient sich der Staat des Zeugen lediglich als Hilfsmittel. 6 9

67

Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 165. Allgemein zu dem (Grund)Recht auf Schutz vgl. BVerfGE 77, 170, 214 f.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410 ff; Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 52 f., 70 f., 208 ff; Klein, NJW 1989, 1636 f.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 133 ff; Wahl/Masing, JZ 1990, 562. Zur Problematik der subjektiv-rechtlichen Relevanz objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte Stern, Staatsrecht, Bd. ΠΙ/1, S. 978 ff, zur Subjektivierung von Schutzpflichten S. 984 f. 68 Zum Begriff des Verfahrens vgl. z.B. die Legaldefinition für das behördliche Verwaltungsverfahren in § 9 VwVfG. Allgemein Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 431, Schmidt-Aßmann in Lerche/ Schmitt Glaeser/ Schmidt-Aßmann, Verfahren,

S. 11: "Verfahren als Instrument, nicht um feste Positionen noch fester zu machen, sondern um Positionen im Vorfeld grundrechtlicher Verfestigung mit gegenläufigen verfassungsrechtlichen Postulaten zu konfrontieren, die Existenz von Kollisionen erkennbar zu machen und abzugleichen". 69 Anschaulich Jung, ZStW 93 (1981), S. 1150; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Teil. I Rdn. 79.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

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Genauso wie es verfehlt wäre, den Zeugen i m Hinblick auf das gegen den Beschuldigten gerichtete Verfahren als ein diesem gleichgestelltes Prozeßsubjekt anzusehen 70 , wäre es verfehlt, die Rechtsposition des Zeugen allein danach zu bestimmen, daß er in dem gegen den Beschuldigten gerichteten Strafverfahren nicht das Verfahrenssubjekt sei. Abgesehen davon, daß mit einer solchen Argumentation der unzulässige Schluß gezogen würde, daß die Randstellung, die der Zeuge i m Strafverfahren einnimmt, mit einer ebenfalls nur marginalen Beeinträchtigung seiner Grundrechtspositionen einherginge 71 , verkennt diese Ansicht die grundsätzliche Struktur der Beziehung zwischen der Person des Zeugen und den staatlichen Stellen, die seine Zeugenpflicht hoheitlich anordnen. Genauso wie die Beziehung des Beschuldigten zum Staat dadurch geprägt wird, daß sich der Beschuldigte mit einem Verfahren konfrontiert sieht, in dem der Staat versucht, ein hoheitliches Ziel an seiner Person zu verwirklichen, ist die Beziehung des Zeugen zum Staat dadurch bestimmt, daß der Staat sein Ziel "Erforschung des tatsächlichen Sachverhalts" durch die Person des Zeugen verwirklichen will. Grundrechtseingreifendes staatliches Handeln setzt aber stets ein - auf Herstellung praktischer Konkordanz gerichtetes - Verfahren voraus. 72 In diesem Verfahren ist die Person des Zeugen das Verfahrenssubjekt. 73 Das Zeugenverfahren umfaßt damit alle Entscheidungen der Strafverfolgungsorgane, durch die grundrechtlich verbürgte Freiheiten beeinträchtigt werden, also insbesondere alle Entscheidungen, durch die die Gefährdungssituation des Zeugen verschlechtert wird. Gegenstand des Zeugenverfahrens sind damit insbesondere die Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht, über die Ladung sowie über den äußeren Rahmen und den Inhalt der Zeugenvernehmung. Das Zeugenverfahren läßt sich demnach umschreiben als eine zeitlich gestaffelte Vielzahl von Entscheidungsprozessen, durch deren Realisierung Grundrechte des Zeugen betroffen werden können. Das Rechtsbehelfsverfahren, mit dem sich der Zeuge gegen ein gegen ihn wegen Nichterfüllung seiner Zeugenpflicht verhängtes Ordnungsmittel zur Wehr setzt, stellt dagegen ein eigenständiges gerichtliches Verfahren dar. 7 4

70

Hierzu bereits Humborg, JR 1966, 448. In diese Richtung Hübner, Verfahrensgrundsätze, S. 28 f. 72 Hub er y Grundrechtsschutz, S. 74; für den Bereich der Leistungsverwaltung bereits Häberle y WDStRL 30 (1972), 88: "Auf längere Sicht wird man es zum 'Wesen' des betroffenen Grundrechts ... rechnen dürfen, daß solche Verfahren bestehen." 73 Die verfahrensrechtliche Selbständigkeit des Zeugen wird auch in der Literatur z.T. anerkannt, vgl. Humborg, JR 1966, 448; Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 130 f. (Beteiligter eigener Art); KMR/Paulus, Vor § 48 Rdn. 25; SK/Rogall y Vor § 48 Rdn. 66 f.; Thomas, NStZ 1982, 490 ("Prozeßsubjekt sui generis") . 74 Vgl. §§ 161 a Abs. 3; 304 Abs. 2 StPO. 71

120

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

II. Grundrechtsschutz

in Verfahren

1. Die Lehre vom Grundrechtsschutz

in Verfahren

Die Einsicht, daß sich die Grundrechte nicht auf ihre Bedeutung als subjektive Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe beschränken, sondern zugleich Wertvorgaben enthalten, die von allen staatlichen Organen zu beachten sind, führte zu der Erkenntnis, daß die Grundrechte auch in die Gestaltung staatlicher Verfahren, durch die Grundrechte beeinträchtigt werden, hineinwirken. 7 5 Danach haben die staatlichen Organe "nicht nur die Pflicht, die materiellen Grundrechte zu beachten, sondern sie müssen ihnen auch durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung Wirksamkeit verschaffen. Wenn das Verfahrensrecht nicht auf die Effektuierung der Grundrechte ausgerichtet ist, kann deren substantieller Gehalt beeinträchtigt werden." 7 6 Diesen "Grundrechtsschutzauftrag" 77 staatlicher Verfahren, der neben die staatliche Pflicht zur effizienten Umsetzung der angestrebten staatlichen Zwecke tritt, hat das BVerfG in seinem Mühlheim-Kärlich-Beschluß zum atomrechtlichen Genehmigungsverfahren herausgestellt, in dem es betont, "daß Grundrechtsschutz weitgehend auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken ist und daß die Grundrechte demgemäß nicht nur das gesamte materielle, sondern auch das Verfahrensrecht beeinflussen, soweit dieses für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung i s t . " 7 8 Das Gebot verfassungskonformer Gestaltung und Anwendung des Verfahrensrechts folgt dabei unmittelbar aus dem jeweiligen Grundrecht, etwa aus Art. 2 Abs. 2 G G . 7 9 2. Der Grundsatz fairer

Verfahrensgestaltung

Die Ausgestaltung des Strafverfahrens hat Grundrechtsrelevanz i m Hinblick auf den Beschuldigten wie auch den Zeugen. Noch weniger als anderes Verfahrensrecht kann daher das Strafverfahrensrecht als rein formelles Recht angesehen werden. Die Ausgestaltung des Strafverfahrens ist vielmehr dem "Gebot des Grundrechtsschutzes i m Verfahren" unterworfen. Dieses Gebot er-

7 5

Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 258 ff; Ossenbühl, Eichenberger-FS, 1982, S. 191; Stern, Staatsrecht, Bd. m/1, S. 967 ff. 76 Sondervotum Böhmer zu BVerfGE 49, 220, 235. 77 Vgl. hierzu Tettinger, Fairneß, S. 46. 78 BVerfGE 53, 30, 65; vgl. auch BVerfGE 90, 60, 96. Zur Entwicklung der Rechtsprechung vgl. Laubinger; VerwArch 73 (1982), 62 ff. 79 Beispielhaft hierzu BVerfG, NJW 1994, 1719: "Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidung der Grundrechte zu berücksichtigen." Vgl. auch Sondervotum Böhmer zu BVerfGE 49, 220, 235.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

121

fordert aber Einzelfallgerechtigkeit. Deshalb hat der Grundsatz des fairen Verfahrens gerade i n dem formellen Strafverfahren besondere Bedeutung erlangt, um Einzelfallgerechtigkeit zu verwirklichen. 8 0 Als spezielle Ausprägung der Lehre vom Grundrechtsschutz i n Verfahren fußt dieser Rechtsgrundsatz auf den i n den Grundrechten zum Ausdruck gekommenen objektiven Wertentscheidungen der Verfassung. 81 Er faßt als Oberbegriff die bislang von Gesetzgeber und Gerichten vorgenommenen Wertungen zur Bedeutung der Grundrechte des Betroffenen für die Ausgestaltung des Strafverfahrens zusammen. I m Laufe der Jahre ist so ein dichtes Geflecht von verfassungskonkretisierenden Einzelwertungen entstanden. Der Gesamtheit dieser Verfassungskonkretisierungen läßt sich eine Struktur entnehmen, die abstrahiert einen Grundsatz zur Berücksichtigung der grundrechtlichen Interessen des Betroffenen i m Strafverfahren bildet 8 2 . Der Grundsatz des fairen Verfahrens ist damit als ein Verfassungskonkretisierendes Verfahrensprinzip zu verstehen, das den Wertungsrahmen zur einzelfallgerechten Ausgestaltung des Strafverfahrens präzisiert. 83 Er gilt sowohl i n dem Verfahren gegenüber dem Beschuldigten als auch i n dem Verfahren gegenüber dem Zeugen. 8 4 Kielwein kann daher nur zugestimmt werden, wenn er formuliert: "Die innerprozessualen Wertkategorien (sind) nicht mehr allein aus dem Bezug zu einem formalen Prinzip, nämlich der Justizförmigkeit i m Sinne bloßer Gesetzesbindung, zu erklären. Die traditionell strikte Trennung von formal-prozessualem und materiellem Recht i m Prozeß ist aufgehoben. ... I m Verfahren und durch Verfahren werden die Grundentscheidungen der Rechtsordnung verwirklicht. ... Die Ju-

80

Allgemein zu diesem Rechtsgrundsatz BVerfGE 26, 66, 71. Seither ständige Terminologie des BVerfG, vgl. nur BVerfGE 78, 123, 126; 83, 182, 194; 89, 121, 129. 81 Des teilweisen argumentativen Rückgriffes auf das Rechtsstaatsgebot bedarf es daher nicht. Zu diesem Ergebnis kommt auch das BVerfG, wenn es für das Verwaltungsverfahren in ständiger Rechtsprechung den Anspruch auf eine "faire Verfahrensführung" unmittelbar aus den Grundrechten herleitet; vgl. BVerfGE 35, 348, 361 f.; 37, 132, 141 und 148; 46, 325, 334; 49, 220, 225 und 242 f.; 50, 16, 30; 51, 150, 156; 52, 380, 389. 82 Hill, Handbuch des Staatsrechts Bd. VI, § 156 Rdn. 32, 35 ff. spricht von "Verfassungsprinzipien mittlerer Abstraktion". 83 Ähnlich Geädert-St einacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 160. Von daher ist die Kritik von Heubel, Der "fair trial", S. 73, 122 f., 143 ff. unbegründet. Zum Meinungsstand vgl. auch den Überblick bei Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 192. 84 Vgl. nur BVerfGE 38, 105, 111.

122

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

stizformigkeit wird gleichsam von Verfassungs wegen materialisiert. 11,85 Diese Offenheit zur Einzelfallgerechtigkeit ist damit zugleich der Weg zur materiellen Rechtsanwendungsgleichheit.86 Beeinträchtigungen der Interessen des Zeugen können also nicht mit dem Hinweis auf die staatsbürgerliche Zeugenpflicht abgetan werden. Die formale Zeugenpflicht ist vielmehr unter dem materiellen Prinzip der strafprozessualen Schutzpflicht auszugestalten und zu begrenzen. 87 B. Schutzpflicht und Ermessensentscheidung Eine Vielzahl von Verfahrensvorschriften ist so formuliert, daß unter bestimmten Voraussetzungen von einer zeugenschützenden Rechtsfolge Gebrauch gemacht werden kann. Es steht damit i m Ermessen des jeweiligen Strafverfolgungsorgans, die zeugenschützende Vorschrift anzuwenden. Die Grundlage dieser Ermessensentscheidung bildet die Abwägung der kollidierenden Interessen. Abzuwägen sind dabei nicht nur das staatliche Interesse an der Aufklärung des Sachverhaltes mit dem Verteidigungsinteresse des Beschuldigten. Einzubeziehen sind vielmehr auch Fürsorgegesichtspunkte gegenüber dem Zeugen, denen das Interesse des Zeugen zugrunde liegt, vor Beeinträchtigungen i m Zusammenhang mit seiner Zeugenstellung verschont zu werden. Im folgenden soll gezeigt werden, nach welchen Grundsätzen die Abwägungsentscheidung zu finden ist und welche Kriterien hierbei Bedeutung erlangen. I. Das Prinzip der Abwägung 1. Die einzelnen Schritte der Abwägung In einem ersten Schritt 8 8 ist die erkannte Spannungslage auf die ihr zugrundeliegenden Interessen zurückzuführen. 89 Die einzelnen Interessen sind

85

Kielwein, Fürsorgepflicht, S. 164. Kirchhof,\ Universität Heidelberg-FS, S. 26. Hierzu auch Ziegler, Selbstbindung der Dritten Gewalt, S. 202 Fn. 3. 87 Weiss, Duldungs- und Mitwirkungspflichten, S. 203 ff, 207 fordert insoweit vom Gesetzgeber, sämtliche Eingriffe unter den Vorbehalt ihrer Zumutbarkeit zu stellen. 88 Zusammenfassend zu den einzelnen Gedankenschritten der Abwägung Langer, Informationsfreiheit, S. 175. 86

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

123

sodann - ohne Rücksicht auf die konkrete Intensität der Beeinträchtigung i m Einzelfall - auf ihre Bedeutung für die personale Entfaltungsmöglichkeit des einzelnen oder der Gemeinschaft aller einzelner hin zu untersuchen. 90 Hierbei lassen sich, durch die Art der den Interessen zugrundeliegenden Grundrechts"Werte" bedingte, erste grobe normative Abstufungen treffen. 91 Von besonderer Bedeutung sind die Werte, deren Beziehung zu dem einzelnen die physische Basis jeder personalen Entfaltungsmöglichkeit bilden. Die Beziehung des einzelnen zu dem Wert Leben nimmt als Grundvoraussetzung jeder personalen Entfaltung zwingend eine Sonderstellung ein. 9 2 Für die physische Basis personaler Entfaltungsmöglichkeit kommt darüber hinaus der Beziehung zu den Werten körperliche Unversehrtheit und persönliche Freiheit eine wesentliche Bedeutung zu. Allgemein wird den Personenwerten der Vorrang gegenüber Sachgüterwerten einzuräumen sein 9 3 . Dies gilt entsprechend für kollektive, staatliche Interessen, die diesen Gütern zuzurechnen sind. Nach dem Auffinden und der abstrakten Gewichtung der betroffenen Interessen ist eine Mittel-Zweck-Relation zu formulieren und zu untersuchen, ob die Beeinträchtigung des einen Interesses geeignet und erforderlich ist, um ein anderes Interesse zu verwirklichen. Fehlt es bereits hieran, was i n dem fein ausbalancierten strafprozessualen Spannungsverhältnis selten der Fall sein dürfte, dann ist die Beeinträchtigung dieses Interesses unzulässig. Sodann sind für jedes der kollidierenden Interessen diejenigen Gründe anzugeben, die für die Wichtigkeit der Geltung des jeweiligen Interesses i n der konkreten Situation maßgeblich sind. Es geht hierbei also um Bedingungen, die geeignet sind, Aussagen über das Gewicht des jeweiligen Interesses in der konkreten Situation zu machen. In Betracht kommen hierbei vor allem die Art und Schwere der drohenden Beeinträchtigung sowie die Beziehung des betroffenen Rechtssubjektes zu der Gefährdungslage. In einem letzten Schritt ist das so gewonnene Gewicht der einzelnen Interessen i n Beziehung zueinander zu setzen und für die Bedingungen der konkreten Situation eine Vorrangrelation auszusprechen. 89

Zu dem Wertungsaspekt dieses Schrittes Alexy, Theorie der Grundrechte,

S. 139. 90

Vgl. z.B. für die individuellen Freiheitsinteressen BVerfGE 44, 353, 372. Die Theorie einer starren wertmäßigen Rangordnung der grundrechtlichen Schutzgüter ist dagegen abzulehnen, vgl. Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 86 f.; Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 167 ff. Zu den untauglichen Versuchen einer numerisch faßbaren Rangordnung Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 138 ff. ; Larenz, Methodenlehre, S. 404 ff. 92 Vgl. nur BVerfGE 39, 1, 42: "Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muß, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar." 93 Vgl. Dürig in Maunz/Dürig, Art. 1 Rdn. 33; Larenz, Methodenlehre, S. 412. 91

124

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

2. Rationalität der Abwägung Das Abwägungsmodell ist ein Wertungsmodell. Es überrascht daher nicht, daß es dem Vorwurf fehlender Rationalität ausgesetzt i s t . 9 4 Da jeder einzelne Schritt zur Feststellung des Abwägungsergebnisses auf einer Wertung beruht, erscheint das Abwägungsmodell als eine Aneinanderreihung aufeinander basierender subjektiv-intuitiver Entscheidungen, die sich i n ihrer Irrationalität von Schritt zu Schritt potenzieren. Das Ergebnis wäre damit weder rational nachvollziehbar noch kontrollierbar. Daß das Abwägungsmodell einen weiten Raum für subjektive Wertungen eröffnet, kann nicht bestritten werden. Wer aus diesem Grund gegen die subjektive Natur der Wertung argumentiert, argumentiert gegen die dem Menschen eigenen Fähigkeiten, denn solange dem Menschen die Fähigkeit zur Erkenntnis der Wahrheit an sich fehlt, ist er für die Ordnung des Zusammenlebens i n einem Gemeinwesen auf Wertungen angewiesen. Argumentiert werden kann daher nur gegen die fehlende Rationalität. Das Problem der Rationalität der Abwägung reduziert sich damit auf das Problem der rationalen Begründung von Sätzen, die für konkrete Situationen Präferenzen zwischen gegenläufigen Interessen festlegen. 95 Eine Abwägung ist demnach rational, wenn das Ergebnis, zu dem sie führt, rational begründet werden k a n n . 9 6 Rational ist eine Begründung, wenn sie sich der Mittel der juristischen Argumentation bedient und deshalb - unabhängig von ihrem Inhalt - nachvollzogen werden kann. Argumentiert werden kann mit der Dogmatik sowie mit allen Elementen der juristischen Methodenlehre. Argumentiert werden kann ferner mit tatsächlichen Begebenheiten, praktischen Notwendigkeiten und empirischen Belegen. 3. Abwägung staatlicher und individueller

Interessen

a) Vorrang des staatlichen Interesses? M i t der Durchsetzung des Strafrechts erfüllt der Staat eine Aufgabe, die i h m i m Interesse der Grundrechtsverwirklichung aller einzelnen von Verfassungs wegen auferlegt i s t . 9 7 Die Erfüllung dieser Aufgabe kann nicht schon dann zurücktreten, wenn bei ihrer Erfüllung Freiheitsinteressen einzelner In-

94 Aus strafprozessualer Sicht vgl. Rieß, Strafverteidigerforum 1994, 79 f. (Abwägung hat allenfalls Anspruch auf inter subjektive Plausibilität); Eb. Schmidt, NJW 1969, 1142 ("subjektiv gefühlsmäßiger, völlig unkontrollierbarer, irrationaler Dezisionismus"). 95 Hierzu und zum folgenden Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 144 ff. Zur Rationalität der Abwägung vgl. auch Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 331. 96 harem, , Methodenlehre, S. 412 f. 97 Vgl. nur BVerfGE 19, 342, 347; 77, 65, 76; 80, 367, 378 ff

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

125

dividuen tangiert werden. Die Pflicht zur Durchsetzung des Strafrechts genießt vielmehr grundsätzlich Vorrang vor dem negatorischen Individualinteresse des betroffenen Bürgers: "Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft i m Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. ... der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt w i r d . " 9 8 Das Interesse des einzelnen an grundrechtlichem "Schutz vor dem Staat" würde optimiert zu Anarchie und Chaos führen. Grundrechtliche Freiheiten sind daher stets rechtlich begrenzte Freiheiten. Diese rechtlichen Grenzen zu ziehen und zu verteidigen, ist Inhalt der staatlichen Pflicht zur Schaffung und Durchsetzung des Strafrechts. Die Gewährleistung grundrechtlicher Freiheiten für alle Individuen setzt die Existenz von "Staat" voraus. Die Existenz des Staates darf durch die grundrechtlichen Freiheiten des einzelnen deshalb nicht i n Frage gestellt werden, weil die grundrechtlichen Freiheiten aller einzelnen nicht ohne "Schutz durch den Staat" verwirklicht werden können. Dem tragen die Eingriffsvorbehalte Rechnung, mit denen die Individualgrundrechte versehen sind, und die es dem Staat ermöglichen, zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben den grundrechtlichen Freiheitsbereich des einzelnen zu begrenzen. Zu beachten ist jedoch, daß das staatliche Interesse auf die Durchsetzung des Strafrechts insgesamt, also auf die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege als Institution gerichtet ist. Die Institution der funktionstüchtigen Strafrechtspflege wird jedoch nur geringfügig beeinträchtigt, wenn die Durchsetzung des Strafrechts in einem konkreten Verfahren gestört oder gar vereitelt w i r d . 9 9 Von daher ist dem BVerfG zuzustimmen, wenn es für das strafprozessuale Spannungsverhältnis festgestellt hat, daß keiner der betroffenen Belange schlechthin 100 den Vorrang vor den anderen genießt. 1 0 1 Bei der Gewichtung der kollidierenden Interessen sind i m Laufe der Zeit Veränderungen festzustellen. Angesichts einer zunehmenden Professionalisierung der Kriminalität und der damit zusammenhängenden logistischen Unter98 99 100 101

BVerfGE 4, 7, 15 f.; vgl. auch BVerfG, NJW 1984, 1451, 1452. Eingehend hierzu Lang, Der Verlust von Verfahrensrügen, S. 159 ff. Hervorhebung im Original. BVerfGE 51, 324, 345 f.

126

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

legenheit der Strafverfolgungsbehörden hat das staatliche Interesse der wirksamen Durchsetzung des Strafrechts gerade in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Über die Tragfähigkeit der Begründungen hierfür im einzelnen läßt sich streiten. Der Vorgang der Veränderung selbst ist jedoch kein Indiz für eine schleichende "Unterminierung" der individuellen Freiheit, er ist vielmehr im Wesen der Abwägung angelegt. Der Vorgang der Abwägung ist nicht statisch, sondern dynamisch und damit offen für Veränderungen der tatsächlichen Situation. 102 Davon, daß - wie Lisken befürchtet - die Abwägung staatlicher und individueller Interessen im Rahmen des strafprozessualen Spannungsverhältnisses unweigerlich dazu führt, daß "die Grundrechte nach dem Prinzip 'Du bist nichts, Dein Volk ist alles' wie selbstverständlich dem 'Recht der Allgemeinheit' unterzuordnen s i n d " 1 0 3 , kann keine Rede sein. b) Der Grundsatz "in dubio pro übertäte" Die Besonderheit bei der Abwägung staatlicher und individueller Interessen liegt darin, daß die Argumentationslast für seinen Vorrang nicht das individuelle Interesse, sondern das staatliche Interesse trägt. 1 0 4 Nicht der Vorrang der individuellen Freiheit, sondern der Vorrang der wirksamen Durchsetzung des Strafrechts muß positiv begründet werden. Dieser Grundsatz "in dubio pro übertäte" läßt sich auf die bewußte Entscheidung des Grundgesetzgebers zurückführen, die Grundrechte als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe zu formulieren. Diese Betonung der abwehrrechtüchen Grundrechtsgehalte dient dem Schutz grundrechtücher Freiheiten vor der Gefahr eines staatlichen Machtmißbrauchs. Die Abwägung kollektiver und individueller Prinzipien birgt unbestreitbar die Gefahr, daß der Staat den ihm eingeräumten argumentativen Spielraum nutzt, um seine eigenen - die Staatsmacht sichernden - Interessen durch das "Mäntelchen des kollektiven Grundrechtsschützers" zu kaschieren. Der Grundsatz "in dubio pro übertäte" kann diese Mißbrauchsgefahr nicht beseitigen, sondern durch die einseitige Verteilung der Argumentationslast an den Staat nur reduzieren. Dieser Mißbrauchsgefahr kann jedoch nicht dadurch begegnet werden, daß die Existenz grundrechtücher Schutzpflichten des Staates negiert w i r d . 1 0 5 Ihr ist vielmehr mit den Mitteln zu begegnen, die die Verfassung hierfür vorsieht. Hierzu zählen die demokratische Legitimation des Gesetzgebers und die Kontrolle staatlicher Abwägungsentscheidungen durch das BVerfG. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Abwä-

102

So zutreffend Rilinger

103

Lisken, ZRP 1994, 269.

y

ZRP 1993, 488.

104 Vgl. nur Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 90; Hirsch, NJW 1990, 1445; Pietrzak, JuS 1994, 753. A A VGH Kassel in seinem heftig kritisierten GentechnikBeschluß, DVB1. 1990, 63, 66. 105 So aber Lämmer, Verdeckte Ermittlungen, S. 50; Lisken, ZRP 1990, 16; Wolter, Meyer-GedS, S. 506.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

127

gung staatlicher und individueller Interessen im Rahmen des strafprozessualen Spannungsverhältnisses zeigt, daß diese Institution nicht etwa blind gegenüber der Gefahr eines staatlichen Machtmißbrauches und der Bedeutung der grundrechtlichen Freiheit des einzelnen ist. IL Die Gewichtung der kollidierenden

Interessen

Wie gezeigt setzt jede Entscheidung darüber, ob von einer zeugenschützenden Ermessensvorschrift Gebrauch gemacht werden soll, zumindest eine Abwägung zwischen dem Aufklärungsinteresse der Strafverfolgungsorgane, dem Verteidigungsinteresse des Beschuldigten und dem Schutzinteresse des gefährdeten Zeugen voraus. Die für alle Entscheidungen maßgeblichen Gewichtungskriterien sollen daher kurz dargestellt werden. 1. Verfahrensinter

essen des Staates

a) Sachverhaltsaufklärungsinteresse Das Interesse des Staates an der Sachverhaltsaufklärung ist auf eine optimale Ermittlung des tatsächlichen Geschehens als Grundlage einer gerechten und Rechtsfrieden sichernden abschließenden Entscheidung über das Vorliegen einer Straftat und die staatliche Reaktion gegenüber dem Verantwortlichen gerichtet. aa) "Bedeutung der Sache" Das Aufklärungsinterresse ist ein Teilaspekt der staatlichen Pflicht zur Durchsetzung des Strafrechts. Von außen wird sein Gewicht determiniert durch die Bedeutung, die der Durchsetzung des Strafrechts in dem konkreten Fall für die Sicherung des Rechtsfriedens zukommt. Das Aufklärungsinteresse erhält ein um so stärkeres Gewicht, je weniger i m Interesse der Durchsetzung des Strafrechts darauf verzichtet werden kann, ein auf Aufklärung des Sachverhaltes gerichtetes Verfahren durchzuführen. Das hier maßgebliche Kriterium ist die sog. "Bedeutung der Sache", welches der Gesetzgeber als Abwägungskriterium in einzelne Vorschriften der StPO aufgenommen h a t . 1 0 6 Es faßt diejenigen Bedingungen zusammen, die die von der Tat ausgehende Störung des Rechtsfriedens charakterisieren. Die Bedeutung der Sache wird zum einen von der Schwere der Tat, also dem Rang des beeinträchtigten Rechtsgutes, der Intensität des Eingriffes, dem konkreten Geschehensablauf und dem darin zum Ausdruck kommenden Tatunrecht bestimmt. 1 0 7 Wird z.B. die Verbindlichkeit einer zum Schutz von Le106

Vgl. z.B. §§ 81 Abs. 2 S. 2; 112 Abs. 1 S. 2 StPO. Vgl. auch §§ 98 a Abs. 1, 110 a Abs. 1 S. 1: "Straftat von erheblicher Bedeutung". 107 Anschaulich hierzu OLG Düsseldorf, NStZ 1993, 554.

128

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

ben und Gesundheit des einzelnen erlassene Norm in Frage gestellt, so ist die Pflicht des Staates zur Durchsetzung des Strafrechts dringlicher als bei dem Verstoß gegen eine Verhaltensnorm, die lediglich Vermögenspositionen absichert. Die Intensität des Eingriffes bestimmt sich nach der Schwere der unmittelbaren und mittelbaren Schäden durch die begangene Straftat. 108 Einen Hinweis auf die Schwere der Tat gibt die abstrakte Strafandrohung des verwirklichten Deliktes. Darüber hinaus gewinnen aber auch Kriterien Gewicht, die das "öffentliche Verfolgungsinteresse" im Sinne § 153 StPO ausmachen. Zu berücksichtigen ist daher auch das Ausmaß, in dem das Vertrauen in die Verbindlichkeit einer bestimmten Strafhorm durch die bisherige Kriminalitätsentwicklung bereits erschüttert wurde. So kann der Staat aus diesem Grunde gegen sich verstärkt ausbreitende Kriminalitätsformen und insbesondere bei Massendelikten (wie z.B. Kaufhausdiebstahl 109 , "Versicherungsbetrug" oder Trunkenheitsfahrten) in besonderem Maße zur Durchsetzung des Strafrechts verpflichtet sein. bb) Bedeutung des Zeugenbeweises — Bedeutung der Beweistatsache Innerhalb des Verfahrens richtet sich das Gewicht des Prinzips der Sachverhaltsaufklärung vor allem nach der Bedeutung der Beweistatsache für die Klärung des Schuldvorwurfs. Die Bedeutung der Beweistatsache bestimmt sich nach ihrer Tatnähe. A m tatnächsten sind diejenigen Beweistatsachen, die sich unmittelbar unter ein Merkmal des Straftatbestandes subsumieren lassen oder dieses Merkmal i m konkreten Fall ausschließen. Sie können als (negative) Tatbestandstatsachen bezeichnet werden. Für den Tatbestand des § 212 StGB bedeutet dies z.B., daß die Beweistatsache "A hat Β getötet" unmittelbar unter den Tatbestand des § 212 StGB "wer einen Menschen tötet" zu subsumieren ist. Ein geringeres Gewicht haben sog. Tatbestandsindizien, d.h. Tatsachen, deren Vorliegen lediglich in Verbindung mit Erfahrungssätzen einen Schluß auf das Vorliegen der Tatbestandstatsache erlauben. Ein Indiz für die Tatbestandstatsache "A hat Β getötet" kann z.B. die Tatsache sein "A war zur Tatzeit am Tatort". Dieser Tatsache kommt deshalb ein geringes Gewicht zur Klärung des Sachverhaltes zu, weil es unendlich viele andere Gründe dafür geben kann, warum A zur Tatzeit am Tatort war, als den Grund, daß Α Β getötet hat. Ein noch geringeres Gewicht für die Sachverhaltsaufklärung haben sog. Indiz-Indizien, also Tatsachen, deren Vorliegen lediglich einen Schluß auf das Vorliegen eines Tatbestandsindizes erlaubt. Ein Indiz für die Indiztat-

108

Zu den mittelbaren Schäden durch Rauschgiftdelikte vgl. z.B. BVerfGE 44, 353, 373 ff. 109 Zu dem Gesichtspunkt der Verteidigung der Rechtsordnung gegenüber Bagatelldelikten (Kaufhausdiebstahl) vgl. Degener, Verhältnismäßigkeit, S. 135 f.; Wagner, NJW 1978, 2002 ff.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

129

sache "A war zur Tatzeit am Tatort" könnte z.B. sein, daß A in Richtung zum Tatort gefahren ist. Eine Beweistatsache hat daher um so größere Bedeutung, je näher sie dem tatbestandsmäßigen Verhalten zuzuordnen ist. Innerhalb des Verfahrens erhält das Prinzip der Sachverhaltsaufklärung daher um so größeres Gewicht, je wichtiger die mit Hilfe der Zeugenaussage zu beweisende Tatsache für die Ermittlung der Tat ist. —

Indizwirkung der Aussage

Der Umstand, daß der Zeuge aussagt, er habe bestimmte Wahrnehmungen über Tatsachen gemacht, ist für sich genommen kein Beweis für die Existenz der Tatsache. Es wurde bereits gezeigt, daß die Zeugenaussage immer nur ein Indiz für das Vorliegen bestimmter Beweistatsachen ist. Das Gewicht, das dem Indiz der Zeugenaussage für die richterliche Beweiswürdigung und damit für das Aufklärungsinteresse zukommt, bestimmt sich zum einen nach dem "Konnex" der Beweistatsache und der Wahrnehmung des Zeugen. 1 1 0 Die Aussage des Zeugen über eine unmittelbare Wahrnehmung der Beweistatsache bildet danach ein stärkeres Indiz als die Aussage des Zeugen über Wahrnehmungen Dritter, von denen er - als Zeuge vom Hörensagen - Kenntnis erlangt hat. Die Indizwirkung der Zeugenaussage bestimmt sich zum anderen nach der Glaubwürdigkeit der Person des Zeugen. Die Zeugenaussage zur Sache ist daher um so eher geeignet, zur richterlichen Überzeugungsbildung beizutragen, je mehr Glaubwürdigkeitskriterien ermittelt und Verfälschungskriterien widerlegt werden können. Als ein nach Optimierung strebendes Prinzip ist das Gebot der Sachverhaltsaufklärung darauf gerichtet, durch Befragen des Zeugen (sog. Generalfragen) und durch sonstige Beweiserhebungen ein möglichst umfassendes Persönlichkeitsbild von der Person des Zeugen zu erstellen, um so z.B. ihre individuelle Wahrnehmungsfähigkeit und ihre Aussagemotivation zu ermitteln und auf ihre Relevanz für die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage hin zu untersuchen. Die Aussage eines Zeugen ist daher zur Sachverhaltsaufklärung um so weniger geeignet, je weniger Möglichkeiten bestehen, die Glaubhaftigkeit der Aussage zu hinterfragen. Würde die Erhebung der hier notwendigen Informationen allerdings dazu führen, daß der Zeuge gefährdet wird, so ist zu beachten, daß Angst eine der stärksten Motivationen zu einer falschen oder zumindest verfälschten Aussage ist. Der Beweiswert der Aussage eines Zeugen, dessen Persönlichkeitsbereich umfassend erforscht wurde, der nun aber um sein Leben fürchtet, ist wesentlich geringer als der Beweiswert eines Zeugen, von dem kein umfassendes Persönlichkeitsbild erstellt wurde, der aber bei seiner Aussage keine Angst um Leib und Leben zu haben braucht.

110

9 Zacharias

Hierzu auch BGHSt 40, 3, 6.

130

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

— Prognoseentscheidung Das Strafverfolgungsorgan hat die hier aufgeworfenen Fragen im Vorfeld der Ermessensentscheidung zu klären. Dies setzt regelmäßig eine Prognose über den möglichen Inhalt der Zeugenaussage sowie ihre Glaubhaftigkeit und ihre Bedeutung innerhalb der vorhandenen Beweismittel voraus. 111 Derartige Prognosen sind dem Strafverfahrensrecht keineswegs fremd. 1 1 2 Da die Prognose auf der Grundlage der bereits erlangten Informationen erfolgt, stellt sie auch keine Überforderung des zuständigen Richters oder Staatsanwaltes d a r . 1 1 3 Auf den Streit über die Zulässigkeit der Beweisantizipation im Rahmen der gerichtlichen Aufklärungspflicht 114 braucht hier nicht eingegangen zu werden, denn hier geht es nicht um die Antizipation eines Beweisergebnisses im Hinblick auf die Urteilsfeststellungen, sondern um prospektive Überlegungen zur Verfahrensgestaltung. b) Aufrechterhaltung der Aussagebereitschaft Strafrecht kann ohne Zeugen nicht durchgesetzt werden. In 90 % aller Fälle erhalten die Strafverfolgungsbehörden erst durch die Aussage eines (potentiellen) Zeugen Kenntnis von dem Vorliegen einer Straftat. 115 Das BVerfG hat angesichts dieser Zahl zu Recht betont: "Die Strafanzeige eines Bürgers liegt im allgemeinen Interesse an der Erhaltung des Rechtsfriedens und an der Aufklärung von Straftaten. Der Rechtsstaat kann darauf bei der Strafverfolgung nicht verzichten." 116 Es ist eine allgemeine Entwicklung der letzten Jahre, daß Bürger immer weniger bereit sind, als Zeugen bei der Durchsetzung des Strafrechts mitzuwirken. 1 1 7 Der Grund hierfür liegt nicht nur in der allgemein fehlenden Bereitschaft begründet, eigene Interessen zugunsten der Interessen der Allgemeinheit zurückzustellen, sondern auch in dem Ausmaß an Nachteilen, die eine Person in der Rolle als Zeuge erleidet und das von dem betroffenen Bürger als unverhältnismäßig empfunden wird.

111

Zur Zulässigkeit und Notwendigkeit einer derartigen Prognose vgl. BGH, NStZ 1994, 247, 248: "Im Rahmen des ihm von Gesetz und Recht eingeräumten Ermessens darf der Richter ... auch bedenken, wie bei gewissenhafter Verwirklichung des Aufklärungsgebotes die Wichtigkeit der Zeugenaussage oder einer sonstigen Beweiserhebung für die Wahrheitsfindung ... zu beurteilen ist." Kritisch gegenüber diesem hypothetischen Kriterium dagegen Degener, Verhältnismäßigkeit, S. 103 ff. 112 In § 244 Abs. 5 S. 2 StPO sowie § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG ist die Befugnis der Beweisantizipation ausdrücklich festgeschrieben. 113 Eingehend hierzu Herdegen, NStZ 1984, 97, 98. 114 Vgl. nur Frisier, ZStW 105 (1993), 340 ff. 115 Eingehend hierzu oben S. 44 ff. 116 BVerfGE 74, 257, 262. 117 Vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 34; Böttcher, Schüler-Springorum-FS, S. 543 und 553; Körner, Kriminalistik 1984, 340.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

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Es entspricht daher einem zur Durchsetzung des Strafrechts wesentlichen staatlichen Interesse, die Sachverhaltsaufklärung so zu gestalten, daß grundrechtlich schutzwürdige Interessen der Person des Zeugen möglichst wenig beeinträchtigt werden. Das Prinzip der Aufrechterhaltung der Aussagebereitschaft der Bevölkerung verlangt daher eine Verfahrensgestaltung, die geeignet ist, die mit der Zeugenstellung verbundenen Nachteile als hinnehmbar erscheinen zu lassen. Bei der Ermessensausübung gewinnt das Interesse an der Aufrechterhaltung der Aussagebereitschaft ein um so stärkeres Gewicht, je gravierender sich die konkrete Maßnahme auf die Gefährdungslage des Zeugen auswirken würde, je stärker also die "Abschreckungswirkung" ist, die von der konkreten Verfahrensgestaltung für das allgemeine Bewußtsein der Bevölkerung ausgeht. c) "Je-desto" Aussagen Unter dem Gesichtspunkt der Sachverhaltsaufklärung ist einem Zeugen eine Gefährdung um so eher zuzumuten, -

je wichtiger es zur Sicherung des Rechtsfriedens ist, daß der Verdacht einer Straftat aufgeklärt wird, je wichtiger es also ist, daß überhaupt ein auf Sachverhaltsaufklärung gerichtetes Verfahren durchgeführt wird;

-

je wichtiger die Tatsache für die Klärung des Schuldvorwurfes ist, die mit Hilfe der Zeugenaussage festgestellt werden soll;

-

je wichtiger die Zeugenaussage i m Verhältnis zu anderen Beweismitteln ist, um die Tatsache zu ermitteln, je "erforderlicher" also der Zeugenbeweis ist und

-

je geeigneter die Zeugenaussage ist, um dem Richter die Überzeugung vom Vorliegen der Beweistatsache zu verschaffen.

Demgegenüber verlangt der Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung der Aussagebereitschaft der Bevölkerung um so eher eine möglichst "schonende" Behandlung des Zeugen, -

je nachteiliger sich die konkrete Verfahrensgestaltung auf die Gefährdungslage des Zeugen auswirkt. 2. Verteidigungsinteresse

des Beschuldigten

Der Beschuldigte hat ein Interesse daran, das Ergebnis des Verfahrens möglichst weitgehend zu seinen Gunsten zu beeinflussen, sich also umfassend zu verteidigen. Maßgeblich für das Gewicht des Prinzips der Verfahrensteilhabe des Beschuldigten sind folgende Kriterien:

9*

132

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

a) Schwere der drohenden Nachteile Die Schwere des Eingriffes bestimmt sich nach der Bedeutung des betroffenen Rechtsgutes und der Intensität - d.h. der Dauer und Tiefe - seiner drohenden Beeinträchtigung. Durch das Strafverfahren und die abschließende Entscheidung können Grundrechte des Beschuldigten betroffen werden, die die Basis der personalen Entfaltungsmöglichkeit bilden und denen allein deshalb ein besonderes Gewicht zukommt. Dies gilt vor allem für den drohenden Entzug der persönlichen Freiheit durch eine u.U. lebenslange Freiheitsstrafe. b) Bedeutung des Zeugenbeweises Im Hinblick auf den Zeugenbeweis zielt das Verteidigungsinteresse des Beschuldigten einerseits darauf ab, möglichst viele für ihn günstige Beweistatsachen zu ermitteln, d.h. das Ergebnis der Beweisaufnahme in einem für ihn möglichst günstigen Licht erscheinen zu lassen, und andererseits, die Indizwirkung der Zeugenaussage möglichst zu seinen Gunsten zu beeinflussen, also die Glaubhaftigkeit von Aussagen, die ihn entlasten, zu stärken und die Glaubhaftigkeit von Aussagen, die ihn belasten, möglichst abzuschwächen. Das Verteidigungsinteresse ist darauf gerichtet, den Zeugenbeweis uneingeschränkt steuern zu können, d.h. über die Person des Zeugen umfassend informiert zu werden, ihn unmittelbar zur Beweistatsache zu befragen und Zeugen selbst zu laden. Im Hinblick auf den Zeugen bestimmt sich das Verteidigungsinteresse danach, inwieweit mit Hilfe des Zeugenbeweises bestimmte Tatsachen festgestellt werden können. Für das Gewicht des Verteidigungsinteresses kann auf die Kriterien zurückgegriffen werden, die soeben für das staatliche Aufklärungsinteresse entwickelt wurden. Maßgeblich ist daher auch hier die Bedeutung der Beweistatsache für das Ergebnis der Beweisaufnahme. Das Verteidigungsinteresse verlangt hier um so stärker die Vernehmung einer Person als Zeuge, je stärker die in das Wissen des Zeugen gestellte Tatsache geeignet ist, das Ergebnis der Beweisaufnahme zu Gunsten des Beschuldigten zu beeinflussen. Entscheidend ist weiter die Bedeutung der Zeugenaussage zur richterlichen Feststellung der Beweistatsache. Das Verteidigungsinteresse unterscheidet sich von dem Aufklärungsinteresse jedoch dadurch, daß es nicht zwingend auf die Ermittlung des "wahren" Sachverhaltes gerichtet ist, sondern auf die Feststellung eines für den Beschuldigten möglichst günstigen Sachverhaltes. Die Interessen des Beschuldigten zielen hierbei darauf ab, belastende Zeugenaussagen möglichst unglaubhaft erscheinen zu lassen, entlastende Aussagen dagegen möglichst glaubhaft. Die umfassende Information des Beschuldigten über die Person des Zeugen und den Inhalt ihrer Aussage erhält daher ein um so größeres Gewicht, je wichtiger die Information für den Beschuldigten ist, um den Ausgang des Verfahrens zu seinen Gunsten zu beeinflussen.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

133

c) Relativierungskriterium: Mißbrauch von Verteidigungsrechten Das Interesse des Beschuldigten ist darauf gerichtet, die Entscheidung möglichst zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Dieser Möglichkeit sind rechtliche Grenzen gesetzt. Der Beschuldigte darf die Entscheidung nicht auf rechtswidrige Weise beeinflussen. Das rechtlich anzuerkennende Verteidigungsinteresse ist also darauf beschränkt, von den eingeräumten Möglichkeiten nur i n den Grenzen des rechtlich Zulässigen Gebrauch zu machen. 1 1 8 Aus diesen Überlegungen läßt sich unschwer ableiten, daß einem auf rechtswidrige Einflußnahme gerichteten Verteidigungsinteresse bei der Abwägung kein Gewicht zukommt. Der Beschuldigte kann sein Verteidigungsinteresse selbst entwerten, indem er die ihm eingeräumten Möglichkeiten zu einer rechtswidrigen Einflußnahme auf den Zeugen zu mißbrauchen versucht. 1 1 9 I n diesem Falle ist sein Verteidigungsinteresse nicht mehr auf Mitwirkung i n einem Verfahren gerichtet, sondern auf Verfahrenssabotage durch rechtswidrige Einschüchterung. 120 Das Problem liegt jedoch darin, daß die rechtswidrige Absicht des Beschuldigten zu dem Zeitpunkt, zu dem sein Verteidigungsinteresse zu gewichten ist, kaum je sicher festgestellt werden kann. Auch die praktische Erkenntnis, daß Zeugengefährdungen i n der überwiegenden Zahl der Fälle von dem Beschuldigten oder seinem Umfeld ausgehen, vermag den Nachweis i n der konkreten Situation nicht zu ersetzen. So läßt sich i m konkreten Fall häufig schwer feststellen, ob die Gefährdung des Zeugen auf den Beschuldigten oder sein Umfeld zurückzuführen ist. Auch besteht die Möglichkeit, daß der Zeuge gegen den Willen des Beschuldigten von ehemaligen Komplizen bedroht w i r d . 1 2 1 Eine Relativierung des Verteidigungsinteresses kann daher nur dann i n Betracht kommen, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß der Beschuldigte die ihm einzuräumende Möglichkeit dazu nutzen wird, um auf rechtswidrige Weise auf die Person des Zeugen einzuwirken oder einwirken zu lassen. Ein so begründeter konkreter Verdacht genügt aber auch, um das Ge-

118 BGHSt 38, 111, 113; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Einl. Rdn. 111. Kritisch gegenüber einem allgemeinen Mißbrauchsvorbehalt dagegen Lang, Der Verlust von Verfahrensrügen, S. 81 flf. 119 Aus diesem Grunde soll der Angeklagte z.B. die Nachteile seiner Verteidigungsmöglichkeiten, die mit der behördlichen Geheimhaltung einer V-Person verbunden sind, hinzunehmen haben, wenn ihm die Gefahr für die V-Person zuzurechnen ist, vgl. nur BGHSt 33, 70, 75; Hoffmann, Der unerreichbare Zeuge, S. 200; J. Meyer, ZStW 95 (1983), 852; Seelmann, StV 1984, 483 mit Fn. 55; Taschke, StV 1985, 271. 120 Brause, NJW 1992, 2867. Allgemein dazu, daß mit dem Recht des Angeklagten, selbständig neben und gegenüber dem Gericht tätig zu werden, auch die Pflicht verbunden ist, ein gewisses Maß an Verantwortung im und für den Prozeß zu tragen,

Schmidt-Aßmann m Maunz/Dürig, 121

Art. 19 Abs. 4 Rdn. 8.

Hoffmann, Der unerreichbare Zeuge, S. 200; ähnlich Taschke, StV 1985, 271.

134

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

wicht des Verteidigungsinteresses zu relativieren. Dieses Relativierungskriterium dient allein der Sicherung des Verfahrens und darf daher an einen Verdacht anknüpfen, ohne dadurch die Unschuldsvermutung zu tangieren. 1 2 2 Ist diese Konstellation gegeben, liegt es bei dem Beschuldigten, Gründe vorzutragen, warum eine Gefahrdung des Zeugen nicht besteht oder die Gefahrdungslage i h m nicht zuzurechnen ist. d) "Je-desto" Aussagen Aufgrund der Besonderheiten des Strafverfahrens kommt dem Verteidigungsinteresse für die Ausgestaltung des Verfahrens besondere Bedeutung zu. I m Hinblick auf den Zeugenbeweis gewinnt es ein um so stärkeres Gewicht, -

je schwerer der Eingriff wiegt, der dem Beschuldigten durch die verfahrensabschließende Entscheidung droht,

-

je geeigneter die Beeinträchtigung der Grundrechte des Zeugen ist, die drohende Entscheidung zu Gunsten des Beschuldigten zu beeinflussen und

-

je erforderlicher die Weitergabe personenbezogener Informationen des Zeugen an den Beschuldigten ist, um diesen hierzu i n die Lage zu versetzen.

Das Interesse des Beschuldigten, sich umfassend gegen eine belastende oder mit Hilfe einer entlastenden - Zeugenaussage zu verteidigen, wird dagegen um so stärker relativiert, -

je stärker der Beschuldigte i n dem Verdacht steht, auf rechtswidrige Weise auf die Person des Zeugen einzuwirken. 3. Schutzinteresse des Zeugen

Das Interesse des gefährdeten Zeugen ist darauf gerichtet, daß der Staat Maßnahmen unterläßt, durch die seine Gefahrdungslage objektiv verschlechtert wird oder die jedenfalls subjektiv als gefährdend empfunden werden und daher Angst auslösen. a) Schwere der drohenden Nachteile Die möglichen Gefährdungssituationen eines Zeugen weisen ein Spektrum an Eingriffsschwere auf, das i n wohl keinem anderen staatlichen Verfahren anzutreffen ist. Diese Besonderheit zeigt sich bereits bei einem Blick auf die betroffenen Rechtsgüter und die Intensität ihrer Beeinträchtigung. Die Bandbreite der drohenden Nachteile reicht von geringfügigen Beeinträchtigungen

122

Seelmann, StV 1984, 483; eingehend dazu, daß der Tatverdacht als Eingriffskriterium nicht gegen die Unschuldsvermutung verstößt, auch Weiss, Duldungs- und Mitwirkungspflichten, S. 130 ff.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

135

der allgemeinen Handlungsfreiheit, z.B. durch Störanrufe, wirtschaftlichen Nachteilen, über z.T. schwerwiegende Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit oder Bewegungsfreiheit bis hin zur Tötung. Betroffen sind damit Rechtsgüter, denen als Grundlage jeder personalen Entfaltung ein besonderes Gewicht zukommt. b) Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts Das Gewicht des Schutzinteresses bestimmt sich des weiteren nach dem Wahrscheinlichkeitsgrad, mit dem die in das Ermessen gestellte Maßnahme die Gefahrdungssituation negativ beeinflußt. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad ist in zwei Schritten festzustellen. Zuerst ist i m Wege einer allgemeinen Gefahrenprognose zu ermitteln, wie wahrscheinlich es ist, daß von dritter Seite versucht werden wird, auf das Aussageverhalten des Zeugen durch Gewalt oder Drohung Einfluß zu nehmen. 1 2 3 Kriterien hierfür können sich aus der Person des Zeugen, der Person des Tatverdächtigen und dessen Umfeld sowie aus dem Gegenstand des Strafverfahrens selbst ergeben. Die Prognose kann hierbei sowohl auf tatsächlichen Umständen als auch auf kriminalistischen Erfahrungen beruhen. So sind Aussteiger aus dem Bereich der Banden- und der organisierten Kriminalität, die nunmehr als Belastungszeugen auftreten, in der Regel als gefährdet einzustufen. Zur Erstellung der erforderlichen Gefahrenprognose werden Staatsanwaltschaft und Gericht regelmäßig auf entsprechende polizeiliche Ermittlungen angewiesen sein. 1 2 4 Es entspricht dabei einem allgemeinen Grundsatz des Gefahrenabwehrrechts, daß die Anforderungen an die Gefahrenprognose mit der Schwere der drohenden Nachteile abnehmen: "Je größer das Ausmaß des potentiellen Schadens, desto geringer die Anforderungen an die Eintrittswahrscheinlichkeit". 125 In einem weiteren Schritt hat das zuständige Strafverfolgungsorgan zu untersuchen, wie sich die konkrete Maßnahme auf die Gefährdungslage des Zeugen auswirkt. Die Gefährdungsrelevanz einer prozessualen Maßnahme bestimmt sich dabei nach ihrem Informationswert für potentielle Schädiger, also dem Nutzen der Information für das Gelingen möglicherweise geplanter Übergriffe auf den Zeugen. Zu berücksichtigen ist hierbei auch der bisherige Informationsstand der potentiellen Schädiger. Erhält z.B. der Beschuldigte als potentieller Schädiger eine Information, die lediglich seine bisherigen Überlegungen bestätigt, so ist die Beeinträchtigung geringer als wenn die Informa-

123

Allgemein zu den Anforderungen, die das Gericht bei Erforschung der tatsächlichen Grundlagen der Zeugengefährdung zu erfüllen hat, BGH, StV 1993, 233 f. 124 Eingehend zur polizeilichen Gefahrenprognose im Rahmen polizeilicher Zeugenschutzprogramme unten S. 168 f. 125 Mit weiteren Nachweisen Habermehl, Polizei und Ordnungsrecht, Rdn. 65.

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2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

tion den Beschuldigten erstmals in die Lage versetzt, auf die Person des Zeugen einzuwirken. So ist die Kenntnis der Identität und des Aufenthaltsortes des Zeugen oder der ihm nahestehenden Personen, durch die er erpreßbar wird, Voraussetzung jeder Einflußnahme. Sind dem Schädiger diese Informationen aber bereits bekannt, so wird die Gefährdungslage des Zeugen nicht dadurch verschlechtert, daß er z.B. Angaben zur Person machen muß. c) Relativierungskriterien aa) Kompensation durch Schutz? Insbesondere von Seiten der Verteidigung wird oftmals argumentiert, die Gefährdungslage des Zeugen dürfe keinen Einfluß auf die Gestaltung des Strafverfahrens nehmen, da die Gefahrdung durch polizeilichen Schutz kompensiert werden könne. 1 2 6 Von einer Kompensation könnte jedoch nur gesprochen werden, wenn die Schutzmaßnahmen nicht selbst mit Eingriffen in die Freiheit der personalen Entfaltung verbunden wären. Ein wirksamer Schutz ist jedoch nur zu erreichen, wenn der Zeuge aus seinem bisherigen Lebenskreis vollständig herausgenommen wird und er an einem geheimen Ort - unter Umständen sogar mit neuer Identität - ein neues Leben beginnt. Diese Möglichkeiten sind mit gravierenden Beeinträchtigungen der personalen Entfaltungsmöglichkeit des Betroffenen verbunden. 127 Wirksame Schutzmaßnahmen können daher die Beeinträchtigungen durch die Gefährdung nicht ausgleichen, sondern allenfalls durch andere Beeinträchtigungen ersetzen. bb) Einwilligung Eine wirksame Einwilligung setzt voraus, daß sich der Zeuge in voller Kenntnis des Risikos freiwillig bereit erklärt, die Gefahr auf sich zu nehmen. Dies wird praktisch nie der Fall sein. Es mag zwar sein, daß ein nüchtern bilanzierender Aussteiger aus der kriminellen Szene die Übernahme der Gefahrenlage als kleineres Übel ansieht gegenüber den Gefahren einer weiteren Mitwirkung in der Szene. In derartigen Fällen beruht die Entscheidung des Zeugen jedoch auf einer Zwangslage, die nach der Rechtsprechung des BVerfG die Freiwilligkeit seiner Einwilligung ausschließen würde. 1 2 8

1 2 6

Plähn, StV 1981, 217; Taschke, StV 1985, 271, Fn. 33; Wächter, Sten. Proto-

koll der 31. Sitzung des Rechtsausschusses, S. 152. 127 Zum Eingriffscharakter polizeilicher Zeugenschutzprogramme vgl. S 178. 128 Vgl. z.B. die Lügendetektor-Entscheidung des BVerfG, NJW 1982, 375; hierzu auch Jung, MSchrKrim 1989, 105, der eine wirksame Einwilligung wegen der - der Situation des Beschuldigten immanenten - Pression verneint. Dazu, daß diese Erwägungen genauso für die Zwangslage des Zeugen gelten, Oberlies, StV 1990, 472.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

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cc) Mitverantwortung für Gefahrdungslage Bei der Gewichtung der Interessen des gefährdeten Zeugen ist auch zu berücksichtigen, ob der Betroffene die Gefährdungssituation durch vorangegangenes Verhalten mit hervorgerufen hat. Dieses Mitverursachen der Gefährdungssituation, das eine erhöhte Gefahrtragungspflicht des Zeugen begründen kann, kann allerdings nicht darin gesehen werden, daß sich eine Person bereit erklärt, als Zeuge auszusagen, obwohl sie weiß, daß sie sich hierdurch der Gefahr von Repressalien aussetzt. Dem Verbrechensopfer kommt nicht deshalb eine erhöhte Gefahrtragungspflicht zu, weil es sich zu einer Anzeige entschlossen hat. Anknüpfungspunkt für eine Relativierung des Schutzinteresses kann vielmehr nur ein Verhalten sein, das in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Übernahme der Zeugenpflicht selbst steht. Zu denken ist zum einen an ein Verhalten nach Begründung der Zeugenpflicht, durch welches sich der Zeuge schuldhaft selbst gefährdet. Wesentlich größere Relevanz haben in der Praxis dagegen diejenigen Fälle erlangt, in denen ein Zeuge gefährdet ist, weil er sich einer kriminellen Szene oder Organisation angeschlossen hat, die jede Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsorganen als schweren Regelverstoß streng bestraft. Diesem Zeugen ist vorzuhalten, daß sich in seiner Gefährdungslage ein Risiko realisiert, welches er bewußt eingegangen ist, als er sich dazu entschlossen hat, sich der entsprechenden Szene anzuschließen und sich ihren Regeln zu unterwerfen. Daß diese Person darauf vertraut hat, nie in die Situation zu geraten, als Zeuge aussagen zu müssen, ändert nichts daran, daß sie sich des eingegangen Risikos bewußt war. Von daher ist dem BGH zuzustimmen, wenn er feststellt: "Solchen Zeugen ist entgegenzuhalten, daß sie für die Risiken, in die sie sich durch ihre Beteiligung an der Betäubungsmittelkriminalität eingelassen haben, auch - in gewissen Grenzen - einstehen müssen; andernfalls könnten sie in einer Vielzahl von Fällen die Aussage verweigern. Was die Gefahr für Familienangehörige betrifft, gelten die Grundsätze eines selbstverschuldeten Risikos ... nicht." 1 2 9 Die Anerkennung dieses Relativierungskriteriums kann nicht dazu führen, den betroffenen Zeugen allen Gefahren schutzlos preiszugeben. Bedeutung erlangt dieser Aspekt im Rahmen der Ermessensausübung jedoch insoweit, als es diesen Zeugen - aufgrund ihres Vorverhaltens - zumutbar ist, polizeilichen 129 BGH, StV 1993, 233 f. - Kritisch dagegen Eisenberg, StV 1993, 626: "Die Fürsorgepflicht des Staates für einen gefährdeten Zeugen gebietet, das Leben des Zeugen bestmöglich zu schützen, und sie darf sich schwerlich am Vorverhalten des Zeugen orientieren." Übersehen wird dabei jedoch, daß der Fürsorgegesichtspunkt bei der Ermessensausübung nicht als starre Größe eingesetzt werden kann, sondern nur einen Abwägungsfaktor bildet, der gewichtet werden muß.

138

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

Schutz in Anspruch zu nehmen, um ihren strafprozessualen Pflichten nachzukommen. Dadurch, daß diese Zeugen bewußt ein Risiko eingegangen sind, daß sich in der Gefahrdung realisiert hat, ist es ihnen zumutbar, die drohenden Beeinträchtigungen durch Maßnahmen des polizeilichen Schutzes abzuwenden, auch wenn diese Maßnahmen ihrerseits mit - wenn auch weniger gravierenden - Nachteilen verbunden sind. d) "Je-desto" Aussagen Stehen strafprozessuale Maßnahmen, durch die sich die Gefährdungslage eines Zeugen verschlechtern kann, in dem Ermessen des zuständigen Strafverfolgungsorganes, so hat dieses die Schutzinteressen des Zeugen bei der vorzunehmenden Abwägung um so stärker zu gewichten, -

je gravierender die Nachteile sind, die dem Zeugen drohen,

-

je wahrscheinlicher es ist, daß sich diese Nachteile realisieren werden und je nachhaltiger die staatliche Maßnahme dieses Risiko erhöht.

Dagegen verliert das Interesse des Zeugen, vor strafprozessualen Gefährdungsakten verschont zu werden, um so stärker an Gewicht, -

je eher es dem Zeugen zumutbar ist, der hierdurch geschaffenen Gefahrenlage durch polizeilichen Schutz zu begegnen, je eher also dem Zeugen der Vorwurf zu machen ist, das Gefahrdungsrisiko bewußt eingegangen zu sein. III. Zeugenschutz contra Verteidigungsinteressen

Angesichts der Schwere der möglichen Beeinträchtigungen für den Zeugen ist ein grundsätzlicher Vorrang des Verteidigungsinteresses des Beschuldigten vor dem Eingriffsabwehrinteresse des Zeugen nicht begründbar. Die Befugnis des Beschuldigten zu einer Verfahrensteilhabe, die über das staatliche Verfahrensziel der Sachverhaltsaufklärung hinausreicht oder diesem sogar entgegensteht, hat seine Grundlage i n der staatlichen Anerkennung seines Menschseins und damit seiner Subjektstellung i m Verfahren. 130 Der Gesetzgeber kann dem Interesse des Beschuldigten an einer möglichst umfassenden Einflußnahme auf die Entscheidung den Vorrang einräumen vor dem Interesse aller einzelnen der Rechtsgemeinschaft an einer effizienten Durchführung des Verfahrens und auch vor einer umfassenden Aufklärung des Sach-

130

Zur Herleitung im einzelnen vgl. Spartiol, Das Recht auf Verteidigerbeistand, S. 205 ff.; speziell zur Bedeutung des Menschenwürdepostulates Hübner, Verfahrensgrundsätze, S. 235 ff.; Wolter, Meyer-GedS, S. 494 f.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

139

Verhaltes. 131 Stehen nur das Interesse des Beschuldigten an umfassender Verfahrensteilhabe und die Interessen aller einzelnen der Rechtsgemeinschaft auf dem Spiel, kann der Staat dem Beschuldigten auch das Recht einräumen, das Ergebnis der Beweisaufnahme zu verzerren und zu verfälschen. 132 Das so ausbalancierte Verhältnis zwischen den Interessen des Staates und den Interessen des Beschuldigten kann jedoch kein Argument sein für Grundrechtsbeeinträchtigungen des Zeugen. Der Zeuge dient als Beweisperson der Sachverhaltsaufklärung. Er ist nicht Spielball darüber hinausgehender oder dem gar entgegenstehender Verfahrensinteressen des Beschuldigten. Die Legitimation dafür, rein egoistische und verfahrenskontraproduktive Interessen i n den Entscheidungsprozeß mit einzubringen, endet generell dort, wo berechtigte Interessen eines Dritten beeinträchtigt werden. In dreiseitigen Spannungslagen wird die Verfahrensteilhabe des einen Betroffenen notwendigerweise durch das Abwehrrecht des anderen Betroffenen begrenzt. Wenn der Liberalität eines rechtsstaatlichen Verfahrens für den Grundrechtsschutz zentrale Bedeutung zukommt, dann kann es keinen Grund geben, die Liberalität allein für das Verfahren des Beschuldigten zu reservieren oder gar die Liberalität dieses Verfahrens auf Kosten des Grundrechtsschutzes des Zeugen auszuweiten. Dies bedeutet, daß die Interessen des Beschuldigten - die über das Verfahrensziel der Sachverhaltsaufklärung hinausgehen - keine Rechtfertigung dafür sein können, berechtigte Schutzinteressen des Zeugen zu verletzen. C. Schutzpflicht und Gesetzesauslegung Die grundrechtliche Schutzpflicht der Strafverfolgungsorgane gebietet, Verfahrensvorschriften so anzuwenden, daß der Zeuge nicht unverhältnismäßig beeinträchtigt wird. Dieses Gebot ist nicht nur bei der Ermessensausübung, sondern auch i m Rahmen der verfassungskonformen - d.h. hier schutzpflichtorientierten - Auslegung und Rechtsfortbildung 133 zu berücksichtigen. Die verfassungskonforme Auslegung erfordert, daß unter mehreren - innerhalb der Grenzen von Wort131

Für eine Reduktion des Beweisantragsrechts auf die Reichweite der Amtsaufklärungspflicht dagegen Gössel, Gutachten, C. 64 flf.; vgl. hierzu auch Schlucht er, GA 1994, 411 f., 418. 132 Zum "Recht" des Angeklagten zur "Obstruktion der Rechtspflege" vgl. Prittwitz, StV 1995, 270, 273; sowie Seelmann, StV 1984, 481: "Der Angeklagte soll in unserem Strafverfahren die Möglichkeit haben, den Prozeß der Tatzuschreibung durch seine aktive Beteiligung am Verfahren zu konterkarieren". 133 Demgegenüber differenziert das BVerfG häufig nicht zwischen beiden Rechtsmethoden, sondern faßt sie unter den Begriff der verfassungskonformen Auslegung zusammen, vgl. BVerfGE 2, 336, 341; 22, 28, 35 flf.; 33, 52, 70. Hierzu auch Larenz, Methodenlehre, S. 340.

140

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

laut und Gesetzeszweck möglichen - Auslegungen einer Vorschrift derjenigen der Vorzug zu geben ist, die mit den Prinzipien der Verfassung am besten übereinstimmt. 1 3 4 Die Grenze der Auslegung ist überschritten, wenn eine Norm einen neuen Sinn bekommen würde, der dem Wortlaut und dem gesetzgeberischen Sinn der Regelung entgegensteht 135 . Sind mehrere Interpretationen möglich, ist die verfassungskonforme zu wählen, selbst wenn sie dem Willen des historischen Gesetzgebers widerspricht. 1 3 6 Zur Zulässigkeit der verfassungskonformen Rechtsfortbildung hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt: "Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen i n den Grenzen des möglichen Wortsinnes auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen, ein Zustand, der als prinzipielles Postulat der Rechtssicherheit vertretbar, aber praktisch unerreichbar ist. Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur i m Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber i n den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, i n einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und i n Entscheidungen zu realisieren. ... Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft. Diese Aufgabe und Befugnis zu schöpferischer Rechtsfindung

134

Zur verfassungskonformen Auslegung BVerfGE 2, 266, 282; 86, 288, 320; 90, 263, 275; für das Strafverfahrensrecht z.B. BVerfGE 16, 194 ff; 19, 342 ff; 32, 373, 383 f. Aus der Literatur Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 79 ff. m.w.N. ; Heubel, Der "fair trial", S. 84 ff. m.w.N., S. 133; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Einl. Rdn. 193; Larenz, Methodenlehre, S. 339 ff 135 BVerfGE 2, 380, 398. 136 Vgl. BVerfGE 32, 373, 383 f. Der historischen, d.h. am Willen des Gesetzgebers orientierten, Gesetzesauslegung kommt daher nach wohl überwiegender Ansicht nur subsidiäre Bedeutung zu, vgl. Ziegler, Selbstbindung der Dritten Gewalt, S. 38 m.w.N. in Fn. 10 sowie S. 65, sowie Langer, Informationsfreiheit, S. 68.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

141

ist dem Richter - jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes - im Grundsatz nie bestritten worden." 1 3 7 Voraussetzung jeder Rechtsfortbildung ist das Bestehen einer Regelungslücke i m Gesetz. Eine Lücke kann dabei sowohl darin gesehen werden, daß dem Gesetz für einen bestimmten Sachverhalt eine Regelung fehlt, als auch darin, daß einer bestehenden Regelung für einen bestimmten Sachverhalt eine bisher fehlende Einschränkung hinzuzufügen i s t . 1 3 8 Bei diesen Formen der Rechtsfortbildung hat das Strafverfolgungsorgan jeweils nachzuweisen, daß das gewünschte Ergebnis nicht durch die Rechtsmethode der Auslegung zu erreichen ist, daß die strikte Anwendung der Norm im Einzelfall nicht mit den Wertentscheidungen der Verfassung, wie sie auch in den verfassungskonkretisierenden Verfahrensgrundsätzen ihren Ausdruck gefunden haben, zu vereinbaren ist, und schließlich, daß die Nichtanwendung der Norm im Einzelfall dieser Norm nicht den vom Gesetzgeber vorgesehenen allgemeinen Regelungsinhalt nimmt. Der Gesetzesanwender hat weiterhin genau darzulegen, auf welche Verfassungsprinzipien er argumentativ zurückgreift und auf welche Weise er eine bestimmte Rechtsfolge aus diesen Verfassungsprinzipien herleitet. Der Rahmen einer schutzpflichtorientierten Rechtsfortbildung wird somit dadurch bestimmt, daß die Geltung der Norm als rechtspolitische Entscheidung des Gesetzgebers im Grundsatz anerkannt wird, ihr jedoch für konkrete, vom Gesetzgeber nicht ausformulierte Einzelfalle Ausnahmen oder Ergänzungen hinzuzufügen sind, weil nur so ein Widerspruch zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Ausgestaltung des (Straf-) Verfahrens vermieden werden kann. D. Schutzpflicht und Grenzen der Zeugenpflicht Die Zeugenpflichten gelten nicht unbegrenzt. Der Gesetzgeber hat der Zeugenpflicht zur Aussage z.B. mit der Statuierung von Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechten Grenzen gesetzt. Er hat damit zum Ausdruck gebracht, daß er in bestimmten Konstellationen den Interessen, die gegen eine Aussage sprechen, den Vorrang einräumt gegenüber dem staatlichen Aufklärungsinteresse und dem Verteidigungsinteresse des Beschuldigten. Die Gefährdung des Zeugen ist dagegen vom Gesetzgeber nicht generell als Grund zur Begrenzung der Zeugenpflichten und insbesondere der Aussage-

137 BVerfGE 34, 269, 287. Zur verfassungsgemäßen Rechtsfortbildung vgl. auch Hillgruber, JZ 1996, 118 ff., 121; Larenz, Methodenlehre, S. 340 Fn. 58; Redeker, NJW 1972, 412. 138 Zur Unterscheidung zwischen Norm-, Regelungs-, Wertungs-, Formulierungs-, sowie echten und unechten Lücken vgl. den Überblick bei Ziegler, Selbstbindung der Dritten Gewalt, S. 40 ff.

142

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

pflicht anerkannt. 139 Es stellt sich daher die Frage, inwieweit sich aus der strafprozessualen Schutzpflicht der Strafverfolgungsorgane eine - verfassungsrechtliche - Begrenzung der Zeugenpflichten ergeben kann. Rechtsmethodisch würde es sich hierbei um eine Rechtsfortbildung i m Wege verfassungskonformer Reduktion der Zeugenpflichten handeln. 1 4 0 I. Meinungsstand In der Sache besteht ein breiter Konsens in Rechtsprechung und Literatur, daß die Zeugenpflicht unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne einen gesetzlichen Ausnahmegrund zu begrenzen ist. Das BVerfG bejaht eine Begrenzung der Zeugenpflicht, "wenn keiner der einfachrechtlich geregelten Tatbestände erfüllt ist, wenn sich aber die Einschränkung des Zeugniszwangs unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit unmittelbar aus Grundrechten ergibt". 1 4 1 Die gesetzlich normierten Zeugnisverweigerungsgründe enthielten lediglich eine generalisierende Aussage darüber, in welchen Situationen bestimmte Interessen das Allgemeininteresse an der Aufklärung von Straftaten überwiege. Dies hindere den Richter jedoch nicht, den Schutz der Grundrechte des Betroffenen i m konkreten Fall ausnahmsweise stärker zu berücksichtigen, als dies dem an typischen Fallgruppen orientierten Gesetzgeber möglich sei. 1 4 2 Nach der Rechtsprechung des BGH soll die in § 70 StPO festgeschriebene Pflicht, Zwangsmaßnahmen gegen einen die Aussage ohne gesetzlichen Grund verweigernden Zeugen zu verhängen, entfallen, wenn der Vernehmende "ernsthaft befürchten muß, daß ein Zeuge durch wahrheitsgemäße Aussage in Lebensgefahr geraten würde", und wenn er keine ausreichenden Schutzmöglichkeiten sieht. 1 4 3 Darüber hinaus wird dem Vernehmenden von der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Ausnahmefällen das Recht eingeräumt, den Zeugen - contra legem - von der Pflicht zur Aussage zu befreien. Ein derartiger Ausnahmefall wird neben Fällen, in denen die Aussage das allgemeine

139

§ 68 StPO sieht lediglich eine Begrenzung der Pflicht zur Angabe der Personalien vor, falls der Zeuge hierdurch gefährdet würde. 140 Dies übersieht Kühne, JuS 1973, 687 f. 141 BVerfGE 64, 108, 116 (zu Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG); BVerfGE 33, 367, 374 f. (von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützter Bereich privater Lebensgestaltung). 142 Vgl. BVerfG 33, 367, 374 f. - Kritisch hierzu Kühne, JuS 1973, 687. 143 BGH, NStZ 1984, 31; vgl. auch BGH, StV 1993, 233, wo ausdrücklich klargestellt wird, daß die Aussage eines solchen Zeugen verfahrensrechtlich "an sich" zulässig und möglich sei.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

143

Persönlichkeitsrecht des Zeugen gravierend beeinträchtigen w ü r d e 1 4 4 , auch darin gesehen, daß dem Zeugen durch seine Aussage Gefähr für Leib oder Leben d r o h t . 1 4 5 Der Vernehmende habe i n diesem Fall mit den Mitteln des Freibeweises festzustellen, ob die Vernehmung zu einer Gefährdung des Zeugen führt, wobei er zu beachten habe, "daß durch die Aufklärung der Gefahrenlage nicht Umstände aufgedeckt werden, die für sich allein schon zu einer Gefahr für Leib und Leben des Zeugen führen." 1 4 6 Sodann sei als Ergebnis einer Abwägung festzustellen, ob der Zeuge wegen der Gefährdung von Verfassungs wegen nicht vernommen werden k a n n . 1 4 7 Auch i n der Literatur wird die Pflicht des die Vernehmung leitenden Strafverfolgungsorganes anerkannt, von Amts wegen eine Beweisaufnahme zu verhindern, wenn der Zeuge hierdurch unzumutbar gefährdet würde. Einer Vernehmung des Zeuge stehe i n diesen Fällen ein (grundrechtliches) Beweisverbot entgegen. 148 IL Voraussetzungen Zu beantworten bleibt damit die Frage, unter welchen Voraussetzungen davon ausgegangen werden kann, daß die Schutzinteressen des Zeugen gegenüber dem staatlichen Sachverhaltsaufklärungsinteresse und dem Verteidigungsinteresse des Beschuldigten überwiegen. Da sich die Begrenzung der Zeugenpflicht letztlich auf das allgemeine Prinzip des Interessenvorranges zurückführen läßt, welches i n § 34 StGB für den Bereich der strafrechtlichen Rechtfertigung positiviert wurde, können die dort formulierten Kriterien entsprechend herangezogen werden. Voraussetzung für ein gesetzlich nicht geregeltes Aussageverweigerungsrecht des Zeugen ist demnach eine Gefahrensituation für den Zeugen, i n der die Nachteile, die durch die Aussage zu befürchten sind, i n keinem Verhältnis mehr stehen zu den Nachteilen, die dem staatlichen Sachverhaltsaufklärungsinteresse durch die Verweigerung der Aussage drohen, und daß die dem Zeugen drohenden Nachteile nicht auf andere Weise auf ein zumutbares Maß reduziert werden können.

144

BVerfGE 33, 367, 374 f.; BayObLG, NJW 1979, 2624 ff; vgl. auch Jung, ZStW 93 (1981), 1173. 145 BGHSt 17, 337, 348 f.; 30, 34, 37; 33, 70, 74 f.; 39,141, 145. 146 BGHSt 39, 141, 145; sowie BGH, NStZ 1984, 31 f. 147 BGHSt 39, 141, 145. 148 Beulke/Satzger, JZ 1993, 1015; Fezer, ZStW 103 (1991), 210; ders., JuS 1987, 359; Geißer, GA 1985, 259; Rebmann/Schnarr,

§ 151 Rdn. 90.

NJW 1989, 1190; SK/Wolter,

Vor

144

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

1. Gegenwärtige Gefahr Eine Gefahrensituation ist gegeben, wenn nicht nur die gedankliche Möglichkeit, sondern eine auf tatsächliche Umstände oder kriminologische Erfahrungen gegründete Wahrscheinlichkeit einer Schädigung des Zeugen oder eines anderen besteht. 1 4 9 Eine mögliche Begrenzung der Zeugenpflicht ist daher nicht von vornherein an die Gefahr für bestimmte Rechtsgüter, wie z.B. Leben und Gesundheit, gebunden. Es kann vielmehr die drohende Beeinträchtigung irgendeines Rechtsgutes genügen. Die Gefahr derartiger Beeinträchtigungen wird jedoch regelmäßig nicht geeignet sein, die gegenläufigen Interessen an einer Aussage zu überwiegen. Die Gefährdungslage muß durch die Aussage hervorgerufen werden. Dabei genügt es, wenn eine bereits bestehende Gefahrenlage durch die Aussage verschlechtert wird. Ist der Zeuge dagegen völlig unabhängig von dem Inhalt seiner Aussage gefährdet, besteht i m Hinblick auf diese Gefährdung kein Grund, die Aussage zu verweigern. Gegenwärtig ist eine Gefahr i m Sinne des § 34 StGB, wenn der Schadenseintritt ohne Gegenmaßnahmen höchstwahrscheinlich i s t . 1 5 0 A n der Gegenwärtigkeit könnten insoweit Zweifel bestehen, als häufig ungewiß bleibt, wann der befürchtete Schaden eintreten wird. Die fehlende Möglichkeit, den Schadenseintritt exakt zu bestimmen, ändert jedoch nach allgemeiner Ansicht nichts an der Gegenwärtigkeit der Gefahr i m Sinne des § 34 StGB. Gegenwärtig ist danach auch die sog. Dauergefahr, die über einen längeren Zeitraum andauert und jederzeit i n einen Schaden umschlagen kann, mag auch die Möglichkeit offen bleiben, daß der Schaden noch eine Zeit lang auf sich warten l ä ß t . 1 5 1 Gerade i n Fällen der Zeugengefährdung hat die Rechtsprechung die Gegenwärtigkeit der Gefahr bereits zum Zeitpunkt der Zeugenaussage bejaht, auch wenn ungewiß bleibt, wann der Schädiger sein Vorhaben oder seine Drohung realisiert. 1 5 2 Damit kann für einen Zeugen bereits zum Zeitpunkt seiner staatsanwaltschaftlichen Vernehmung eine gegenwärtige Gefahr bestehen. Bei Zeugenvernehmungen i m Ermittlungsverfahren könnte des weiteren eingewandt werden, daß die Aussage des Zeugen vor der Staatsanwaltschaft

149 Vgl. z.B. Eisenberg, StV 1993, 626; Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 58. Allgemein zum Gefahrenbegriff des § 34 StGB vgl. Otto, Strafrecht, A.T., § 8 VI 1 a unter Hinweis auf BGHSt 18, 272. Weiter Roxin, Strafrecht, A.T., § 16 Rdn. 12: "Eine Gefahr im Sinne des § 34 liegt schon dann vor, wenn der Eintritt einer Rechtsgut sVerletzung nicht ganz unwahrscheinlich ist." 1 5 0

Vgl. nur Dreher/Trändle,

151

Vgl. nur Otto, Strafrecht, A.T., § 8 VI 1 b, bb. Vgl. RGSt 66, 222; 225 f.; BGHSt 5, 371, 373.

152

§ 34 Rdn. 4.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

145

nicht unmittelbar zu einer Gefahrdung des Zeugen führt. Da der Beschuldigte ebenso wie sein Verteidiger bei der staatsanwaltschaftlichen Zeugenvernehmung i n aller Regel nicht anwesend sein wird, kann sich die Gefahrdung des Zeugen i n der Tat frühestens zu dem Zeitpunkt realisieren, zu dem der Beschuldigte von der Existenz der Aussage Kenntnis erhält. Die Existenz der Aussage wird sich dem Beschuldigten i n vielen Fällen - insbesondere, wenn es sich um die Aussage des Tatopfers handelt - bereits aus der Zielrichtung des Ermittlungsverfahrens erschließen. I m übrigen wird die Kenntnisnahme vom Gesetz spätestens nach Abschluß der Ermittlungen vorgesehen. 153 Der Eintritt der Gefährdungslage ist damit bereits zwingend in der Aussage angelegt. In einem derartigen Fall besteht aber für den Zeugen bereits zum Zeitpunkt seiner Aussage eine gegenwärtige Gefahr. Die Situation ist insoweit vergleichbar mit der sog. notwehrähnlichen Lage, für die anerkannt ist, daß eine Gefahr i m Sinne des § 34 StGB auch dann gegenwärtig ist, wenn ein Schadenseintritt zwar noch nicht unmittelbar bevorsteht, eine Abwehr aber später nicht mehr oder nur unter sehr viel größeren Risiken möglich w ä r e . 1 5 4 2. Keine andere Abwendbarkeit Die Aussageverweigerung muß das i m Hinblick auf die Nachteile für die kollidierenden Interessen mildeste Mittel sein, um die drohende Gefahr sicher abzuwenden. Die Gefahr läßt sich für den Zeugen dann anders abwenden, wenn sein Schutz auch durch strafprozessuale Vorkehrungen oder durch ihm zumutbare Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes sichergestellt werden kann. Die strafprozessualen Möglichkeiten eines Zeugenschutzes sind hierbei besonders sorgfältig zu prüfen. Bedeutung erlangt insbesondere die Möglichkeit, den Zeugen ganz oder teilweise von der Pflicht zur Angabe seiner Personalien zu befreien, § 68 StPO. Zu beachten ist jedoch, daß diese Möglichkeiten nur i n den Fällen wirksamen Schutz bieten, i n denen dem Beschuldigten die Identität des Zeugen nicht bereits bekannt ist und es ihm auch nicht möglich ist, auf den Zeugen ohne die geheimgehaltenen Personalangaben einzuwirken. Nur in diesen Fällen bleibt der Zeuge trotz seiner Aussage zur Sache für den Beschuldigten oder sonstige potentielle Schädiger unerreichbar. Als milderes Mittel wäre weiter denkbar, einer Person, die sich weigert, als Zeuge auszusagen, die vertrauliche Behandlung ihrer Angaben zuzusi-

153 Sei es über das dann unbeschränkte Akteneinsichtsrecht des Verteidigers (§147 Abs. 6 StPO), sei es mit der Zustellung der Anklage an den Angeschuldigten selbst (§ 201 Abs. 1 StPO). 154 So Roxin, Strafrecht, A.T., § 16 Rdn. 17; vgl. auch Otto, Strafrecht, A.T., § 8 VI 1 b, cc, m.w.N.

10 Zacharias

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2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

ehern. 1 5 5 Auch die Vertraulichkeitszusage bietet jedoch in den Fällen keinen wirksamen Schutz, in denen bereits die Durchführung des Ermittlungsverfahrens auf die Identität der Auskunftsperson schließen läßt, wie dies oftmals bei Tatopfern oder Tatbeteiligten als Zeugen der Fall ist. Zu beachten ist darüber hinaus, daß eine Auskunftsperson, der Vertraulichkeit zugesagt wurde, für das Strafverfahren als Zeuge ausscheidet. Ihr Wissen soll dann gerade nicht mehr unmittelbar nach den Vorschriften über den Zeugenbeweis, sondern - wenn überhaupt - durch Beweissurrogate in das weitere Verfahren eingeführt werden. Als milderes Mittel, um das Wissen einer Person als Zeuge in das Verfahren einzuführen, kommt die Zusage von Vertraulichkeit insoweit nicht in Betracht. Im Hinblick auf Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes ist insbesondere zu untersuchen, inwieweit der Person des Zeugen die hiermit verbunden Nachteile zuzumuten sind. 1 5 6 Richten sich die Repressalien gegen i m Ausland lebende Angehörige des Zeugen, scheidet diese Schutzmöglichkeit von vornherein aus. 3. Interessenabwägung Abzuwägen ist das Interesse daran, das Wissen einer Person im Wege des unmittelbaren Zeugenbeweises in das Verfahren einzuführen, mit dem Interesse des Zeugen, sich durch die Aussage nicht in Gefahr zu begeben. Zur Methode der Abwägung und zur Gewichtung der einzelnen Abwägungsbedingungen im einzelnen kann auf die Ausführungen zur Abwägung innerhalb des strafprozessualen Spannungsverhältnisses verwiesen werden. 1 5 7 Zusammenfassend kann hierzu festgestellt werden: Für die Gewichtung des staatlichen Interesses, das Wissen des Betroffenen im Wege des unmittelbaren Zeugenbeweises in das Verfahren einzuführen, sind vor allem die "Bedeutung der Sache", die Bedeutung der Beweistatsache zur Klärung des Schuldvorwurfs sowie die Eignung und Erforderlichkeit der Zeugenaussage zur Feststellung dieser Beweistatsache zu berücksichtigen. Das Verteidigungsinteresse an der Aussage des Zeugen wird im wesentlichen bestimmt durch die Schwere der Nachteile, die dem Beschuldigten im Falle einer Verurteilung drohen, sowie nach der Bedeutung, der die Zeugenvernehmung zukommt, um das Ergebnis der Beweisaufnahme zu Gunsten des Beschuldigten zu beeinflussen. Die Verteidigungsinteressen können entwertet werden, falls dem Beschuldigten die Gefährdungslage des Zeugen zuzurechnen ist. Das Gewicht des Abwehrinteresses des gefährdeten Zeugen richtet sich nach der Schwere des drohenden Schadens, also nach dem gefährdeten Rechtsgut und der Intensität seiner Be-

155 156 157

Hierzu auch Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 59 f. Eingehend hierzu S. 178 ff. Siehe hierzu oben S. 122 ff.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

147

einträchtigung, sowie nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit, mit der sich der Schaden zu realisieren droht. Zu berücksichtigen ist weiter, ob Umstände i n der Person des Zeugen vorliegen, die ihn i n erhöhtem Maße gefahrtragungspflichtig erscheinen lassen. III. Aussagen zu den Grenzen der Zeugenpflicht Bei der Entscheidung, welchem Interesse i n der konkreten Situation der Vorrang einzuräumen ist, kann auf bereits vorgenommene Abwägungsentscheidungen des Gesetzgebers und der höchstrichterlichen Rechtsprechung Bezug genommen werden. So hat der Gesetzgeber mit der Normierung von Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechten Entscheidungen darüber getroffen, i n welchen Konfliktsituationen die Interessen eines Zeugen dem staatlichen Aufklärungsinteresse vorgehen. Für die Situation des gefährdeten Zeugen bietet sich hierbei vor allem ein Vergleich mit dem Auskunftsverweigerungsrecht aus § 55 StPO an. Danach kann ein Zeuge die Auskunft auf Fragen verweigern, wenn er sich oder einen Angehörigen hierdurch i n die Gefahr brächte, wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden. M i t dieser Regelung hat der Gesetzgeber den Schutz des Zeugen vor der mit der Aussage verbundenen seelischen Zwangslage höher bewertet als das staatliche Sachverhaltsaufklärungsinteresse. 158 Wenn aber nach dem Willen des Gesetzgebers bereits die Gefahr einer geringen Geldstrafe genügt, um das staatliche Aufklärungsinteresse und die Verteidigungsinteressen zurückzudrängen, so muß dies erst recht gelten, wenn die Zwangslage für den Zeugen nicht von einem drohenden rechtsstaatlichen Strafverfahren ausgeht, sondern von unkontrollierbaren Gewalttaten Krimineller. 159 Für Fälle, in denen das staatliche Strafverfolgungsinteresse in Konflikt gerät mit dem Schutz des Rechtsgutes Leben, hat das BVerfG eine ebenso eindeutige wie weitreichende Abwägungsentscheidung getroffen: "Besteht die ernsthafte Befürchtung, daß der Beschuldigte bei Durchführung der Hauptverhandlung einen schwerwiegenden, irreparablen gesundheitlichen Schaden erleiden würde, so ist das Strafverfahren i n jedem Fall einzustellen." 1 6 0

158

Vgl. nur Kleinknecht/Meyer-Goßner, Otto, GA 1970, 301.

§ 55 Rdn. 1; KMR/Paulus,

§ 55 Rdn. 2;

159 In diese Richtung auch BGHSt 17, 337, 348; Böttcher, Schüler-SpringorumFS, S. 544 Fn. 21; Krey, Meyer-GedS, S. 259; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 26 Rdn. 13. 160 BVerfGE 51, 324, 347; vgl. auch BVerfGE 89, 120, 130 f. Beide Entscheidungen bezogen sich immerhin auf ein Strafverfahren wegen Mordes.

10*

148

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

Diese Überlegung führte auch zur Einstellung des sog. Honecker-Verfahrens. 1 6 1 In diesen Fällen wurde also den Rechtsgütern Leib und Leben des Angeklagten der Vorrang vor der Durchführung des gesamten Strafverfahrens eingeräumt. Die Rechtsgüter der Person des Zeugen verdienen aber keinen geringeren Schutz als die Rechtsgüter des Angeklagten. Im übrigen ist zu berücksichtigen, daß bei einem Schutz der Rechtsgüter des Zeugen - anders als bei einem entsprechenden Schutz des Angeklagten - keineswegs das gesamte Strafverfahren auf dem Spiele steht, sondern lediglich die Möglichkeit, sich zur Sachverhaltsaufklärung eines bestimmten Beweismittels zu bedienen. Für die Frage, ob die Zeugenpflicht im Hinblick auf die Gefährdungslage des Zeugen von Verfassungs wegen zu begrenzen ist, kann damit festgestellt werden: Besteht die Gefahr, daß eine Person i m Falle des Bekanntwerdens der Zeugenaussage ihr Leben verliert, schwere Gesundheitsschäden erleidet oder auf Dauer ihrer persönlichen Freiheit beraubt wird, so ist die Zeugenpflicht in jedem Falle begrenzt. 162 Wie ein Vergleich mit den Vorgaben, die Gesetzgeber und höchstrichterliche Rechtsprechung zu vergleichbaren Konfliktlagen getroffen haben, zeigt, genügt es, daß der Eintritt des Schadens in diesen Fällen nicht ganz unwahrscheinlich ist. Stehen weniger gravierende Beeinträchtigungen für Gesundheit und Freiheit auf dem Spiele, so wird der Grad der Gefahr verstärkt Bedeutung gewinnen sowie die Frage, inwieweit die Gefahrenlage durch zumutbare polizeiliche Schutzmaßnahmen auf ein für den Zeugen hinnehmbares Maß reduziert werden kann. Auf dieser Grundlage spricht das BVerfG dem Zeugen dann ein - grundrechtliches - Zeugnisverweigerungsrec/tf zu, "wenn keiner der einfachrechtlich geregelten Tatbestände erfüllt ist, wenn sich aber die Einschränkung des Zeugniszwangs unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit unmittelbar aus Grundrechten ergibt". 1 6 3 Im Ergebnis entspricht dies 161 Der Berliner VerfGH hat in seinem "Honecker-Beschluß", StV 1993, 84, aus der Wahrscheinlichkeit, daß der Beschuldigte das Ende des Verfahrens nicht mehr erleben wird, einen absoluten Aufhebungsgrund für die Untersuchungshaft gesehen, und im "Mielke-Beschluß", NJW 1994, 436, 439, festgestellt: "Muß der Beschuldigte bei der Fortdauer der Untersuchungshaft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit irreversiblen und schwerwiegenden Schäden an seiner Gesundheit oder dem Tode rechnen, verletzt die Aufrechterhaltung eines Haftbefehls nicht nur das Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten, sondern möglicherweise auch seinen Anspruch auf Achtung der Menschenwürde." Zur Kritik an dem sog. "Honecker-Beschluß" vgl. den Überblick bei

Koppernock/Staechlin, 162

StV 1993, 433 Fn. 2.

So im Ergebnis auch Kr ehi, GA 1990, 561: "Die Geheimhaltungsinteressen des Zeugen überwiegen ... dermaßen, daß unabhängig von Art und Schwere der Straftat, Höhe der Straferwartung oder Vorhandensein anderer Aufklärungsmöglichkeiten ein anderes Ergebnis als die Annahme eines Zeugnisverweigerungsrechts grundgesetzwidrig erscheint." 163 BVerfGE 64, 108, 116.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

149

auch der herrschenden Meinung i n der Literatur. Die rechtliche Grundlage dieses Weigerungsrechtes wird hier jedoch nur zum Teil i n den Grundrechten selbst gesehen 1 6 4 , während andere das Weigerungsrecht des Zeugen unmittelbar aus § 34 S t G B 1 6 5 oder aus einer Analogie zu § 5 5 1 6 6 bzw. § 68 Abs. 3 S t P O 1 6 7 herleiten. Der Zeuge hat danach - i m Ergebnis unstreitig - das Recht, staatlichen Anordnungen nicht nachzukommen, falls er hierdurch i n unzulässiger Weise gefährdet werden würde und die Bindungswirkung der Anordnung nicht durch Rechtsbehelfe anfechten kann. £ . Schutzpflicht und Verfahrensteilhabe Die Frage, ob die Grundrechte überhaupt geeignet sind, aktive Verfahrensrechte des Betroffenen auszulösen 168 , bejahte das BVerfG zunächst für das gerichtliche Verfahren. In einer Entscheidung aus dem Jahre 1 9 6 8 1 6 9 stellt das BVerfG erstmals für den Anwendungsbereich des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG fest, daß ein effektiver, den Bestand des Eigentums sichernder Rechtsschutz ein wesentliches Element des Grundrechts selbst sei. Der Anwendungsbereich dieses dogmatischen Ansatzes, das Recht auf effektiven Rechtsschutz i n den einzelnen Grundrechten anzusiedeln, hat sich in der Folgezeit auf immer mehr grundrechtliche Verbürgungen erstreckt 1 7 0 und wurde vom BVerfG i n seiner

164 Fezer, ZStW 103 (1991), 210; Kr ehi, GA 1990, 561; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 152 ff.; Wolter, Meyer-GedS, S. 495. 165 Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 599; Gommolla, Der Schutz des Zeugen im Strafprozeß, S. 57 ff, 59; KK/Pelchen, § 70 Rdn. 2; Kleinknecht/Meyer-

Goßner, § 70 Rdn. 6; KMR/Paulus,

§ 70 Rdn. 8 (§ 34 StGB analog); LR/Dahs, § 70

Rdn. 5; Molketin, DRiZ 1981, 385; Taschke, Zurückhaltung von Beweismitteln, S. 183; Velten, Befugnisse der Ermittlungsbehörden, S. 63. 166 In diese Richtung Krey, Meyer-GedS, S. 260; Roxi η, Strafverfahrensrecht, § 26 Rdn. 13. 167 Lesch, StV 1995, 545, der jedoch verkennt, daß (1) § 68 Abs. 3 StPO mangels planwidriger Lücke nicht analogiefahig ist; (2) § 68 Abs. 3 StPO überhaupt kein Recht des Zeugen normiert und (3) das Vorliegen der Voraussetzungen des § 68 Abs. 3 StPO nach dem Wortlaut nicht zwingend zu einer Befreiung führt, sondern lediglich die Möglichkeit einer Ermessensentscheidung eröffnet. 168 Zu der dahinterstehenden Problematik der Subjektivierung verfahrensrechtlicher Schutzpflichten des Staates vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 432 ff. 169 BVerfGE 24, 367, 401. Vgl. femer BVerfGE 37, 132, 141 f.; 49, 244, 247 ff; 53, 352, 357 f.; 89, 340, 342. 170 Vgl. z.B. zu Art. 2 Abs. 1 GG: BVerfGE 53, 30, 65; za Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG: BVerfGE 51, 324, 345; 52, 214, 219; zu Art. 12 GG: BVerfGE 39, 276, 294; 41, 251, 265; 84, 34, 45 ff; 84, 59, 73; BVerwG, NVwZ 1993, 677, BVerwG, NVwZ 1993, 681; za Art. 13 GG: BVerfG, DVB1. 1987, 1062 f., und zu Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG: BVerfGE 52, 391, 407.

150

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

Mühlheim-Kärlich-Entscheidung zu einem Recht auf Grundrechtsschutz durch Verfahren schlechthin verallgemeinert 171 . In diesem Beschluß statuierte das BVerfG die generelle Maxime, daß denjenigen Personen, deren Grundrechte durch den Ausgang eines Verfahrens beeinträchtigt werden können, in dem Verfahren alle diejenigen Verfährensrechte eingeräumt werden müssen, derer sie bedürfen, um ihre grundrechtlich geschützten Rechtsgüter wirksam verteidigen zu können. 1 7 2 Das subjektive Recht auf Grundrechtsschutz durch Verfahren gehört heute zu den anerkannten Bestandteilen der Grundrechtsdogmatik. 1 7 3 Für die Verfahrensstellung des gefährdeten Zeugen ergibt sich hieraus: Genausowenig wie der Zeuge ein absolutes Abwehrrecht gegen staatliche Grundrechtseingriffe hat, hat der Staat das uneingeschränkte Recht, zur Erfüllung staatlicher Zwecke in Grundrechte des Zeugen einzugreifen. Abwehrinteresse des Zeugen und Effektivitätsinteresse des Staates fließen vielmehr gemeinsam in das Beziehungssystem "Verfahren" ein. In dem Verfahren wird das Eingriffsrecht des Staates durch das Gebot zur Beachtung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte modifiziert zu einem Recht auf Eingriff unter größtmöglicher Schonung der Grundrechte des Betroffenen, während sich das Abwehrrecht des Zeugen zu einem Recht auf Verfahrensmitgestaltung wandelt. 1 7 4 I. Mitgestaltungsrechte 1. Aussagen zum Umfang der Verfahrensteilhabe Verfahrensteilhabe kann ganz unterschiedlich ausgestaltet werden. So sind dem Angeklagten sehr weitreichende Verfahrensrechte eingeräumt worden, um die Entscheidung über seinen Tatvorwurf zu beeinflussen (z.B. neben dem Anhörungsrecht das Recht auf Wahl eines Verteidigers, Recht auf Anwesenheit, Recht auf Stellung von Beweisanträgen, Recht auf Ladung und Befragung von Zeugen, Recht auf Ablehnung der Richter, Recht auf Rechtsmittel). Wie intensiv die Teilhabe des gefährdeten Zeugen hinsichtlich der ihn betref-

171 BVerfGE 53, 30, 65. Vgl. auch das Sondervotum der Richter Simon und Heussner, S. 74: "Die Auswirkungen der Grundrechte erschöpfen sich nach der Rechtsprechung nicht in der Garantie effektiven Rechtsschutzes in Gestalt einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unter fairer Veifahrensfuhrung. Wenn diese Garantie bereits unmittelbar aus den Einzelgrundrechten folgt, dann kann dies auch auf die Gestaltung des vorherigen behördlichen Verfahrens nicht ohne Einfluß bleiben, soweit die behördliche Entscheidung diese Grundrechte berührt." 172 Eingehend hierzu Laubinger, VerwArch 73 (1982), 68 ff, 74. 173 Hierzu Hub er, Grundrechtsschutz, S. 68; Laubinger, VerwArch 73 (1982), 62 ff., jeweils mit ausfuhrlichen Nachweisen. 174 Vgl auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 298.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

151

fenden Entscheidungen zu gestalten ist, läßt sich nicht unmittelbar aus den Grundrechten ableiten. Es lassen sich jedoch allgemeine Kriterien ermitteln, an Hand derer Aussagen getroffen werden können, welches Gewicht den Mitgestaltungsmöglichkeiten eines Betroffenen in einem Verfahren zukommt. a) Die maßgeblichen Kriterien aa) Gewicht der drohenden Nachteile Von Bedeutung ist hierfür zum einen die Schwere der durch die Entscheidung drohenden Nachteile. Ein Betroffener muß um so weiterreichende Möglichkeiten der Einflußnahme erhalten, je schwerer die Nachteile wiegen, die ihm durch die Entscheidung drohen. 1 7 5 Dem gefährdeten Zeugen drohen mitunter der Verlust des Lebens oder schwere körperliche Schäden. Durch die staatliche Entscheidung kann seine gesamte physische und wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel stehen. Eine Besonderheit der Situation des gefährdeten Zeugen liegt zudem darin, daß sich der Zeuge im Falle der Realisierung der Rechtsgutsgefahrdung nicht etwa wie der Angeklagte mit einem rechtsstaatlichen (Strafvollstreckungs-) Verfahren konfrontiert sieht, sondern mit der unkontrollierten Willkür gewaltbereiter Rechtsbrecher. bb) Objektstellung des Betroffenen Die Objektstellung des Betroffenen umschreibt in diesem Zusammenhang die Beziehung des Betroffenen zu dem Verfahrensziel. Dient das Verfahren dazu, an dem Betroffenen und auf Kosten seiner Grundrechte staatliche Ziele zu realisieren, so wird der Betroffene zum Objekt staatlicher Verfahrensziele. Das Menschenwürdepostulat verlangt um so mehr eine aktive Mitgestaltungsmöglichkeit des Betroffenen an dem Ausgang des gegen ihn gerichteten Verfahrens, je mehr die Beeinträchtigungen des Grundrechtsträgers nur als Mittel zum Zweck des staatlichen Verfahrenszieles erscheinen. 176 Die Stellung des Zeugen ist hier - ebenso wie die Stellung des Beschuldigten - dadurch geprägt, daß an ihm die vom Staat erwünschten Verfahrenszwecke realisiert werden. Der Zeuge als "Beweismittel" ist daher in besonderem Maße auch das Objekt staatlicher Zweckerreichung. Auch der gefährdete Zeuge ist nur ein Mittel der Sachverhaltsaufklärung bzw. zur Verwirklichung der Verfahrensteilhabe des Beschuldigten. Eingriffe in seine Grundrechtspositionen dienen ausschließlich dazu, fremde Interessen zu verwirklichen. cc) Gesetzliche Determination der Entscheidung Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des BVerfG, daß die verfahrensrechtliche Position desjenigen, dessen Grundrechte durch eine staatliche Entscheidung auf dem Spiel stehen, um so stärker ausgebildet sein muß, je 175 176

Vgl. für das Verwaltungsverfahren BVerfGE 84, 34, 46. BVerfGE 38, 105, 114.

152

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

größer der Ermessensspielraum des Entscheidungsträgers ist und je mehr sich der Gesetzgeber unbestimmter Gesetzesbegriffe bedient. 1 7 7 Die Beurteilung der tatsächlichen Gefährdungslage des Zeugen unterliegt allein der freien Überzeugung des entscheidenden Strafverfolgungsorgans. Die Normen, die Strafverfolgungsorgane zu staatlichen Gefährdungsakten ermächtigen, wie z.B. die Vorschriften über die Akteneinsicht, die Angabe der Personalien, die Öffentlichkeit des Verfahrens etc., räumen dem Entscheidungsträger ein uneingeschränktes Ermessen hinsichtlich der Zulässigkeit des Eingriffes e i n . 1 7 8 Beruht die staatliche Entscheidung, die Person des Zeugen unter Umständen in die Gefahr lebensgefährlicher Übergriffe krimineller Gewalttäter zu bringen, allein auf der Gefahrenbeurteilung und dem Ermessen des Gesetzesanwenders, dann ergeben sich hieraus besondere Anforderungen an die grundrechtlich gebotene Verfahrensteilhabe des betroffenen Zeugen. b) Zusammenfassung Es bleibt daher festzustellen, daß die Situation des gefährdeten Zeugen Umstände aufweist, die seinem grundrechtlich verbürgten Anspruch auf Verfahrensteilhabe ein besonderes Gewicht zukommen lassen. 179 Inwieweit diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben im derzeitigen Strafverfahren entsprochen wird, soll im Zusammenhang mit den jeweiligen strafprozessualen Vorschriften dargestellt werden. Hier kann es nur darum gehen, Aussagen zu den Mindestanforderungen an die Verfahrensstellung des gefährdeten Zeugen zu treffen. 2. Anhörungsrecht als Mindestforderung Das Recht eines Betroffenen, vor Entscheidungen, die seine Grundrechtssphäre berühren, seinen Standpunkt vertreten zu dürfen, und zwar zu einer Zeit und auf eine Art, die seine Stellungnahme für die Entscheidung noch folgenreich macht, gehört zum Kern grundrechtlicher Verfahrensgarantien. 180 Einen Verstoß gegen die Grundrechte der von einer Entscheidung Betroffenen hat das BVerfG z.B. darin gesehen, daß nicht durch eine ausreichende vorhe-

177

Vgl. nur BVerfGE 33, 303, 341; 41, 251, 265; 44, 105, 116; 53, 69, 75; 84, 34,

49 ff. 178 Vgl. hierzu die "Kann"-Vorschriften zur Akteneinsicht § 147 Abs. 2, zur Angabe der Personalien § 68 Abs. 2 und 3, sowie zum Ausschluß der Öffentlichkeit § 172 GVG. 179 Hierzu auch Kielwein, Fürsorgepflicht, S. 148; Thomas, NStZ 1982, 490; 180 BVerfGE 84, 34, 46 f.;Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 439 f.; Bonk in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 28 Rdn. 7; Bull, Allgemeines Verwaltungsverfahren, § 8, Rdn. 518 ("Quasi-Grundrecht"); Grimm, NVwZ 1985, 869; Laubinger, VerwArch 73 (1982), 74. Das Recht auf Anhörung ergibt sich dabei bereits aus dem jeweils betroffenen Grundrecht, so daß ein Rückgriff auf Art. 103 Abs. 1 GG nicht notwendig ist.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

153

rige Anhörung sichergestellt sei, "daß diesen nur diejenigen Beeinträchtigungen ihrer Persönlichkeitssphäre zugemutet werden, die ihnen bei Beachtung der berechtigten Anforderungen einer geregelten Rechtspflege nach ihren eigenen Bedürfnissen als die geringfügigste erscheint." 181 Das Recht auf Anhörung setzt die vorherige Information über die anstehende Entscheidung voraus. Es umfaßt auch das Recht, Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen, die von der entscheidenden Stelle zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen sind. 1 8 2 Übertragen auf die Situation des gefährdeten Zeugen bedeutet dies, daß der Zeuge von Verfassungs wegen jedenfalls dann zwingend vor einer Entscheidung angehört werden muß, wenn die Entscheidung auf der Tatbestandsseite eine Gefahrenprognose voraussetzt, wenn sie als Rechtsfolge ein Ermessen ausspricht oder wenn der Zeuge durch eine an sich zwingend vom Gesetz vorgesehene Entscheidung - z.B. die Ladung als Zeuge - konkret an Leib oder Leben gefährdet werden könnte. 1 8 3 Im letzteren Falle ergibt sich das Anhörungsrecht des Zeugen aus der Möglichkeit, den Anwendungsbereich der Norm im Wege verfassungskonformer Reduktion zu begrenzen. IL Rechtsbehelfe 1. Maßnahmen der Staatsanwaltschaft Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG gehört ein effektiver, den Bestand des Rechtsgutes sichernder Rechtsschutz zu den wesentlichen Elementen des jeweils betroffenen materiellen Grundrechtes selbst. 184 Von dieser Rechtsschutzgarantie werden alle Entscheidungen der Strafverfolgungsbehörden im Rahmen des Zeugenverfahrens erfaßt, die den Zeugen in seinen materiellen Grundrechten verletzen können. Diese Rechtsschutzgarantie wird in Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG ausdrücklich klargestellt. Danach hat jeder Zeuge, der glaubt, durch eine Entscheidung einer Strafverfolgungsbehörde unzulässig in seinen Grundrechten, insbesondere aus Art. 2 Abs. 1 oder Abs. 2 GG, beeinträchtigt zu sein, Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz. 185 Maßnahmen der Staatsanwaltschaft, welche die Gefährdungslage für den Zeugen begründen oder verschlechtern, stellen Grundrechtsbeeinträchtigungen d a r . 1 8 6 Der gefährdete

181

BVerfG, DVB1. 1987, 1062, 1063. Vgl. nur BVerfGE 84, 188, 189 f.; 86, 133, 144 ff. 183 Hierzu auch Siegismund, JR 1994, 253. 184 Vgl. hierzu oben S. 120 f. 185 Zur grundsätzlichen Anfechtbarkeit strafprozessualer Grundrechtseingriffe auch Bachmann, Probleme des Rechtsschutzes, S. 110 f. 186 Hierzu oben S. 103 ff. 182

154

2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

Zeuge muß daher die rechtliche Möglichkeit erhalten, gegen Gefahrdungsakte der Staatsanwaltschaft gerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen. Der gerichtliche Rechtsschutz muß so gestaltet sein, daß die Gerichtskontrolle wirksam, lückenlos und rechtzeitig erfolgen k a n n . 1 8 7 2. Maßnahmen des Gerichts Gegen Maßnahmen des Gerichts läßt sich aus Art. 19 Abs. 4 GG kein Rechtsschutzanspruch herleiten, da diese Norm nur den Schutz durch eine gerichtliche Entscheidung gewährt, nicht aber gegen eine solche Entscheid u n g . 1 8 8 Hieraus ergibt sich als Grundsatz, daß ein Rechtsmittel gegen richterliche Entscheidungen nur dann statthaft ist, wenn es vom Gesetz zur Verfügung gestellt i s t . 1 8 9 I n den letzten Jahren hat sich jedoch zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, daß es der Grundsatz fairer Verfahrensgestaltung - und damit die betroffenen Grundrechte selbst 1 9 0 - ausnahmsweise gebieten können, auch dort einen Rechtsbehelf zur Verfügung zu stellen, wo ihn das Gesetz nicht vorsieht. Danach ist das Rechtsmittel der Beschwerde "ausnahmsweise statthaft, wenn eine i n rechtsfehlerhafter Ermessensausübung getroffene Entscheidung für Verfahrensbeteiligte eine besondere selbständige Beschwer bew i r k t " . 1 9 1 Übertragen auf die Situation des gefährdeten Zeugen bedeutet dies, daß der Zeuge von Verfassungs wegen jedenfalls dann ein Recht auf Rechtsschutz gegen eine gerichtliche Entscheidung hat, wenn seine Gefährdungslage hierdurch begründet oder verschlechtert wird und die Entscheidung auf einer rechtsfehlerhaften Ermessensausübung beruht. 1 9 2 III\ Recht auf Zeugenbeistand Zur wirksamen Durchsetzung seiner grundrechtlich verbürgten Mitgestaltungsrechte bedarf der gefährdete Zeuge, der i n aller Regel nicht über eigene Rechtskenntnisse verfügt, eines Rechtsbeistandes. Von daher umfaßt das

187 Eingehend Stern, Staatsrecht, Bd. m/1, S. 962 ff. Zu den Konsequenzen für die Ausgestaltung des Rechtsschutzes des Zeugen im geltenden Recht siehe S 346 ff. 188 Rechtsschutzansprüche lassen sich hier nur aus den materiellen Grundrechten ableiten, vgl. Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 4 Rdn. 99. 18 9

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

Vor § 296 Rdn. 3 m.N.

190

Zur Verankerung dieses Verfahrensgrundsatzes in den Grundrechten S. 121. 191 OLG München, NStZ 1994, 451; ebenso OLG Frankfurt, StV 1995, 9 f.; OLG Hamburg, StV 1995, 11; OLG Hamm, MDR 1975, 245; OLG Karlsruhe, StV 1991, 509; KK/Treier,,

§ 213 Rdn. 6; KMR/Paulus,

§ 213 Rdn. 19; LR/Gollwitzer,

§ 213 Rdn.

16; a.A Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 213 Rdn. 8; jeweils zur Beschwerde des Angeklagten gegen die Ablehnung eines Antrags auf Terminsverlegung. 192 Eingehend zu den Konsequenzen hinsichtlich des Beschwerderechts des Zeugen nach §§ 304 Abs. 2, 305 S. 2 StPO unten S. 334 ff.

2. Abschnitt: Schutzpflicht des Staates

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grundrechtliche Mitgestaltungsrecht auch das Recht, einen Rechtsanwalt in dem Verfahren zur Entscheidungsfindung hinzuzuziehen. Das BVerfG hat die verfassungsrechtliche Verankerung des Zeugenrechtes, einen Rechtsbeistand hinzuzuziehen, in seiner Entscheidung BVerfGE 38, 105, 112, in einem Satz dargelegt: "Die einem fairen Verfahren immanente Forderung nach verfahrensmäßiger Selbständigkeit des in ein justizförmiges Verfahren hineingezogenen Bürgers bei der Wahrnehmung ihm eingeräumter prozessualer Rechte und Möglichkeiten gegenüber anderen Verfahrensbeteiligten gebietet es, auch dem Zeugen grundsätzlich das Recht zuzubilligen, einen Rechtsbeistand seines Vertrauens zur Vernehmung hinzuzuziehen, wenn er das für erforderlich hält, um von seinen prozessualen Befugnissen selbständig und seinen Interessen entsprechend sachgerecht Gebrauch zu machen." 193 Ein Ausschluß des Rechtsbeistandes kommt nur in Betracht, "wenn er unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen, wirksamen Rechtspflege erforderlich i s t " . 1 9 4 Die Ausgestaltung der Rechtsstellung des Zeugenbeistandes im einzelnen ist lebhaft umstritten, hierauf soll jedoch erst im Zusammenhang mit dem strafprozessualen Zeugenschutz eingegangen werden. 1 9 5 F. Zusammenfassung Eingriffe der Strafverfolgungsorgane in Grundrechte des Zeugen setzen ein geordnetes Verfahren voraus. In diesem Verfahren ist der Zeuge das Verfahrenssubjekt. Die Strafverfolgungsorgane sind aufgrund ihrer Grundrechtsbindung, Art. 1 Abs. 3 GG, verpflichtet, den Zeugen vor unverhältnismäßigen Gefährdungen zu schützen. Diese Schutzpflicht hat Auswirkungen auf die Gestaltung des Strafverfahrens. Bei gefährdungsrelevanten Ermessensentscheidungen hat das zuständige Strafverfolgungsorgan auch das Schutzinteresse des Zeugen i n die Abwägung mit einzubeziehen. Hierbei ist insbesondere zu beachten, daß Verteidigungsinteressen des Beschuldigten, die über die Sachverhaltsaufklärung hinausgehen, nicht auf Kosten der Grundrechte des Zeugen verwirklicht werden dürfen. Die Zeugenpflichten sind zudem im Wege verfassungskonformer Reduktion zu beschränken, sofern der Zeuge andernfalls an 193

Methodisch handelt es sich bei diesem gesetzlich nicht vorgesehenen Beistandsrecht des Zeugen um eine Verfassungskonkretisierende Rechtsfortbildung, bei der eine Lücke in der Ausgestaltung der Rechtsstellung des Zeugen durch Rückgriff auf Veifassungsprinzipien geschlossen wurde. 194 BVerfGE 38, 105 (1. Leitsatz); vgl. auch BVerfG, StV 1993, 313. 195 Im einzelnen hierzu S. 354 ff.

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2. Teil: Die Pflicht des Staates zum Schutz des Zeugen

Leben, Gesundheit oder Freiheit gefährdet werden würde. Neben diesen Pflichten der Strafverfolgungsorgane ergibt sich aus den betroffenen Grundrechten auch ein Recht des Zeugen auf Verfahrensteilhabe. Der Zeuge ist vor allen Entscheidungen anzuhören, die seine Gefahrdungslage verschlechtern können. Zudem hat er Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gegen ihn gefährdende Maßnahmen. Sein (Grund-)Recht auf Verfahrensteilhabe umfaßt auch die Befugnis, einen Rechtsanwalt als Beistand zur Vernehmung hinzuzuziehen.

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz 1. Abschnitt: Polizeiliche Zeugenschutzprogramme

1. Kapitel: Entstehung Polizeilicher Zeugenschutz ist so alt wie die Zeugengefährdung selbst. Neu ist jedoch die über den Einzelfall hinausgehende Organisation des Zeugenschutzes durch die Polizei. Vorbild für diese Entwicklung war der "USMarshals-Service", der i n den Vereinigten Staaten durch den "Organized Crime Control Act of 1970" etabliert wurde. 1 Durch dieses Gesetz wurde der Bundesjustizminister ermächtigt, die erforderlichen Maßnahmen anzuordnen, um einen gefährdeten Zeugen und seine Familie zu schützen. Die Maßnahmen konzentrieren sich darauf, den gefährdeten Zeugen und seine Familie umzusiedeln, ihnen eine neue Identität zu verschaffen und ihnen zu helfen, sich i n ihr neues Umfeld wirtschaftlich und sozial einzugliedern. 2 Die Möglichkeit einer derartigen Identitätsänderung ist i n den einzelnen Bundesstaaten gesetzlich geregelt worden. 3 Sie wird von einem Richter angeordnet, die entsprechenden Unterlagen werden versiegelt. 4 Voraussetzung für diese Maßnahmen ist jedoch, daß die Person des Zeugen i n einem Verfahren gegen die organisierte Kriminalität aussagt. Zuständig für die Durchführung der einzelnen Zeugenschutzmaßnahmen ist eine eigene Bundespolizeibehörde, der sog. US-Marshals-Service. 5 Während die Zentralbehörde über das Ob und Wie des Zeugenschutzes zu entscheiden hat und die einzelnen Maßnahmen koordiniert, sind die speziell geschulten

1 2 3 4 5

Public Law No. 91-452, §§ 501-504, 84 Stat. 922, 933 f. (1970). So insbesondere § 502 des angeführten Gesetzes. Safir, Zeugenschutz, S. 103. Safir, Zeugenschutz, S. 101 f. Eider, Zeugenschutz, S. 131.

158

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

"Witness Security Field Inspectors" für die Betreuung der Zeugen und ihrer Familien vor Ort zuständig. 6 Stellt sich i n einem Verfahren gegen die organisierte Kriminalität die Gefährdung eines Zeugen heraus, so kann der ermittelnde Staatsanwalt die Aufnahme des Zeugen i n das Witness Security Program beantragen. Vor der Aufnahme in das Programm hat ein Field Inspector vor Ort i n einem Gespräch mit dem Zeugen und seiner Familie die Eignung für die Aufnahme i n das Programm festzustellen. 7 Jede Person, die i n das Zeugenschutzprogramm aufgenommen wird, hat ein "Memorandum of Understanding" zu unterzeichnen, in dem die vom Marshals-Service zu erbringenden Leistungen sowie die Verhaltenspflichten der zu schützenden Personen schriftlich festgelegt werden. 8 Nach den Angaben von Ahrens wurden i m Jahre 1985 14 000 Personen von 300 Marshals mit einem Aufwand von ca. 100 000 Dollar je Zeugenfamilie betreut. 9 Ca. 95 % der geschützten Zeugen waren als sog. Aussteiger selbst i n Strafverfahren involviert. 1 0

6 Kritisch zum Ausbildungsstandard und der Zuverlässigkeit der Marshals dagegen Graham, Witness Intimidation, S. 88. 7 Hierzu und zum folgenden eingehend Safir, Zeugenschutz, S. 99 flf. 8 Nach den Angaben von Eider, Zeugenschutz, S. 132, hat sich jeder Zeuge vor der Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm einem Lügendetektortest zu unterziehen. Auf diese Weise soll vor allem verhindert werden, daß sich Mitglieder einer kriminellen Organisation in das Schutzprogramm einschleusen lassen, um so andere geschützte Zeugen aufzudecken. Darüber hinaus werden seine Fingerabdrücke im Hauptquartier der US-Marshals hinterlegt, um seine Beteiligung an späteren Straftaten sofort aufdecken zu können, vgl. Eider, Zeugenschutz, S. 133. 9 Ahrens, DRiZ 1986, 355. Ebenso Scholz, Organisierte Kriminalität, S. 83. Die hier wiedergegebenen Zahlen lassen sich jedoch kaum mit anderen hierzu gemachten Angaben in Einklang bringen. So sind nach Rebscher> Gewalt und Kriminalität, S. 158, in den Jahren 1970 bis 1980 3000 Zeugen und mit den Angehörigen insgesamt 8000 Personen in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen worden. Adam, DRiZ 1978, 369 nennt hierfür Kosten von jeweils 16 000 Dollar. Nach wieder anderen Angaben wurden in der Zeit von 1970 bis 1987 insgesamt 5500 Zeugen mit einem durchschnittlichen Aufwand von 50 000 Dollar betreut, vgl. den Bericht in DRiZ 1988, 474. Graham, Witness Intimidation, S. 88, berichtet davon, daß 1982 4000 Personen an dem Zeugenschutzprogramm beteiligt waren mit durchschnittlichen Kosten von 36 000 Dollar je Zeugenschutzfamilie. Lenhard, Kriminalistik 1989, 198, wiederum teilt mit, daß zwischen dem 1.1.1985 und dem 21.9.1987 243 Zeugen "zum Vollschutz zugeführt" wurden. "Die finanziellen Aufwendungen für die einzelnen Schutzpersonen lagen zwischen 50 000 und 400 000 Dollar pro Jahr". 10 Graham , Witness Intimidation, S. 88.

1. Abschnitt: Polizeiliche Zeugenschutzprogramme

159

In Deutschland wurden polizeiliche Zeugenschutzprogramme erstmals im Herbst 1984 organisiert, als vor dem Landgericht Hamburg die sog. "Hell'sAngels"-Prozesse durchgeführt wurden. Bei den "Hell's Angels" handelte es sich um eine Rockergruppe, die u.a. Lokale terrorisiert und Schutzgelder erpreßt hat. In fünf großen Strafverfahren mit über 20 Angeklagten waren 320 Zeugen zu vernehmen. Von der Polizei wurden 80 dieser Zeugen als gefährdet und 27 als erheblich gefährdet eingestuft. Um einen wirksamen Schutz dieser Zeugen zu ermöglichen, wurde bei der Hamburger Polizei eine eigene Zeugenschutzabteilung 11 geschaffen, aus der 1986 die Dienststelle "Zeugenschutz" ( L K A 422) hervorging. 12 Zwei Jahre später, am 26.1.1988, unterbreitete eine Arbeitsgruppe der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamtes (AG Kripo) einen Vorschlag zur bundeseinheitlichen Organisation von Zeugenschutzmaßnahmen, die sog. "Konzeption Zeugenschutz". 13 Noch im gleichen Jahr hat der Arbeitskreis Öffentliche Sicherheit und Ordnung der Innenminister/-senatoren (AK II) diesem Konzept zugestimmt. 14 Weitere zwei Jahre später, am 29.6.1990, wurden von der Innenministerkonferenz die "gemeinsamen Richtlinien der Innenminister und Senatoren der Länder zum Schutz gefährdeter Zeugen" beschlossen.15 Diese Richtlinie wurde in der Zwischenzeit von den meisten Bundesländern in gemeinsame Verwaltungsvorschriften der Innen- und Justizminister, die sog. "Richtlinien zum Schutz gefährdeter Zeugen", umgesetzt und bekanntgegeben. 1 6 Seit 1988 gibt es bei dem Bundeskriminalamt eine dem Grundsatz-Referat zugeordnete Zeugenschutzabteilung.17 Mittlerweile verfügen auch sämtliche Landeskriminalämter über spezielle Zeugenschutzabteilungen.18 In einigen Bundesländern wurden darüber hinaus bei den Polizeipräsidien Zeugenschutzdienststellen eingerichtet. 1990 wurden vom Bundeskriminalamt 330 Zeugenschutzfalle betreut. Betroffen waren davon ca. 500 Personen, wobei sich das Verhältnis männ-

11 12 13 14 15

16

Plewka, Zeugenschutz, S. 51 ; Sielaff, Kriminalistik 1986, 60. Sielaff, Mafia-Syndrom, S. 294. Hierzu Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1187 Fn. 20. Weigand, Kriminalistik 1992, 144. Steinke, ZRP 1995, 216.

Vgl. z.B. Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien des Inneren und der Justiz vom 29.11.1994, A11MB1. 1994, S. 1005 ff. 17 Zur Problematik der Rechtsgrundlage für Zeugenschutzmaßnahmen des Bundeskriminalamtes siehe unten S. 172 ff. 18 Allgemein Eisenberg, StV 1993, 627 mit Fn. 33. Für Baden-Württemberg vgl. Weigand, Kriminalistik 1992, 144 ff; für Hamburg Plewka, Zeugenschutz, S. 51 ff; Sielaff, Mafia-Syndrom, S. 294; für Hessen Kr ehi, NJW 1991, 85 f.

160

3. Teil: PolizeilicherZeugenschutz

lich/weiblich in etwa die Waage hielt. 40 % dieser Personen waren Ausländer, das Gros entfiel auf türkische Staatsangehörige. 19 1992 wurden in Bund und Ländern 372 Zeugenschutzfälle mit 657 Betroffenen betreut, 1993 waren es bundesweit 544 Fälle mit 731 Betroffenen, von denen 43 % Ausländer waren. 2 0 1994 ist die Zahl der Fälle um 14, 1 Prozent gestiegen.21 Bei den Zeugen handelte es sich größtenteils um Personen, die selbst dem Milieu bzw. der kriminellen Szene zuzurechnen sind; viele von ihnen waren Beschuldigte in Verfahren der Rauschgift- und sonstigen organisierten Kriminalität. 2 2 Der "klassische" Zufallszeuge stellt im Rahmen polizeilicher Zeugenschutzprogramme die seltene Ausnahme dar. 2 3

2. Kapitel: Inhalt und Organisation Ziel der Zeugenschutzprogramme ist es, die Aussagefähigkeit und -bereitschaft einer Auskunftsperson bis zu deren Vernehmung in der Hauptverhandlung aufrechtzuerhalten. Es geht daher um Gefahrenabwehr zum Zweck der Verfahrenssicherung. 24 Primär dem Bereich der Gefahrenabwehr zuzurechnen sind die Aufgaben der Gefahrermittlung und der Schutz vor physischen und psychischen Einwirkungen auf die Schutzperson. Dem Ziel der Verfahrenssicherung dient insbesondere die Betreuung des Zeugen. Hierdurch sollen die Nachteile für die Sachverhaltsaufklärung kompensiert werden, die durch die Einschüchterung und die Angst des Zeugen hervorgerufen wurden. Auch soll die psychische Konstitution des Zeugen in der Aussagesituation gestärkt werden. Neben der Sicherung eines konkreten Strafverfahrens verfolgen polizeiliche Zeugenschutzprogramme auch eine kriminaltaktische Strategie 25 : Sie sollen bei potentiellen Zeugen Vertrauen schaffen und ihnen so Mut zu einer Aussage oder gar zu einem Ausstieg aus der kriminellen Szene machen. Darüber hinaus soll der kriminellen Szene verdeutlicht werden, daß die Zeugenein19

Diederichs, CILIP, Heft 39 (2/91), 41 unter Hinweis auf eine BKA-Statistik. Soiné/Soukup , ZRP 1994, 466. Nach Angaben des BKA-Präsidenten Zachert wurden 1993 dagegen nur etwa 400 Zeugenschutzprogramme betrieben, vgl. Zachert, Kriminalistik 1994, 21. 21 Zachert, Kriminalistik 1995, 695. 22 Hierzu Diederichs, CILIP, Heft 39 (2/91), 40; Soiné/Soukup , ZRP 1994, 466; Weigand, Kriminalistik 1992, 144. 20

2 3

24

Soiné/Soukup , ZRP 1994, 468.

Vgl. z.B. Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien des Inneren und der Justiz vom 29.11.1994, A11MB1. 1994, S. 1005; Krehl, NJW 1991, 85; Plewka, Zeugenschutz, S. 60; Freiberg/Thamm, Das Mafia-Syndrom, S. 230. 25 Hierzu Sielaff, Mafia-Syndrom, S. 293.

1. Abschnitt: Polizeiliche Zeugenschutzprogramme

161

schüchterung kein effektives Mittel (mehr) zur Minimierung des Strafverfolgungsrisikos ist. Der polizeiliche Zeugenschutz hat sich i n den USA und i n Italien als eine der wirksamsten Strategien zur Bekämpfung krimineller Organisationen herausgestellt. 26 A. Inhalt I. Maßnahmen A u f der Grundlage der Richtlinien zum Schutz gefährdeter Zeugen 2 7 sowie des hierzu vorhandenen Schrifttums 28 können die wesentlichen Maßnahmen polizeilicher Zeugenschutzprogramme wie folgt zusammengefaßt werden, wobei jedoch zu beachten ist, daß die polizeilichen Zeugenschutzprogramme keinen abschließenden Katalog von Schutzmaßnahmen enthalten. 7. Allgemeine Beratung Eine ganz wesentliche Maßnahme der Zeugenschutzprogramme besteht darin, dem gefährdeten Zeugen einen Ansprechpartner zur Verfügung zu stellen, mit dem er über seine Gefährdungslage reden kann. 2 9 Hierdurch kann das bei Zeugen häufig anzutreffende irrational übersteigerte Angstgefühl abgebaut werden. Zum anderen können leichtfertige Zeugen für die tatsächliche Gefahrenlage sensibilisiert werden. Der Zeugenschutzbeamte berät darüber hinaus, wie Gefahrenlagen für den Zeugen und seine Familie frühzeitig erkannt werden können und welche Schutzmöglichkeiten i m konkreten Fall bestehen, z.B. vorübergehender Umzug zu Freunden, Verwandten. Wird die Person des Zeugen durch Telefonanrufe eingeschüchtert, kann der Zeugenschutzbeamte helfen, eine neue Telefonnummer zu beschaffen oder eine Telefonfangschaltung einzurichten und zu unterhalten. Unter Umständen wird dem Zeugen ein Rechtsanwalt als Zeugenbeistand vermittelt und auch finanziert.

26

Vgl. z.B. Graham, Witness Intimidation, S. 88. Zur Situation der italienischen "pentiti" vgl. Maiwald, Kriminalistik 1996, 84 f.; Orlandi , Zeugenschutz, S. 90 ff. 27 Vgl. z.B. Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien des Inneren und der Justiz vom 29.11.1994, A11MB1. 1994, S. 1006. 28 Vgl. Boll, Kriminalistik 1992, 70; Krehl, NJW 1991, 85; Plewka, Zeugenschutz, S. 56 ff; Sielaff, Kriminalistik 1986, 62; Weigand, Kriminalistik 1992, 144; Zieger, Berliner Anwaltsblatt 1992, 3; vgl. hierzu auch Der Spiegel v. 6.7.1992, Nr. 28, S. 40 ff 29 Sielaff, Kriminalistik 1986, 59. 11 Zacharias

162

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

2. Hilfe zum Selbstschutz Ein Zeuge, der trotz der Gefahrdung darauf besteht, in seinem bisherigen Umfeld weiterzuleben, kann dabei unterstützt werden, seine Wohnung, sein Geschäftslokal oder seinen PKW gegen mögliche Anschläge zu sichern. In geeigneten Fällen kann i m Rahmen des Zeugenschutzprogrammes der Einbau von Alarmanlagen, Sicherheitsfenstern und -türen etc. mitfinanziert werden. Um in Notfallen einen sofortigen Kontakt der Polizei sicherzustellen, kann die Schutzperson mit einem Handtelefon, Funkgerät oder ähnlichen Hilfsmitteln ausgestattet werden. 3. Begleit- und Objektschutz Personen- und Objektschutz wird der gefährdeten Person entsprechend der PDV 100 Nr. 2.5.2.4. gewährt. Der Umfang reicht von der "Bestreifung" des Wohnortes, der Arbeitsstelle etc. im Rahmen des Streifendienstes über stündliche "Bestreifungen" bis hin zu einer ständigen Begleitung der gefährdeten Personen. Ein umfassender Personenschutz kommt in der Regel nur für kurze Zeiträume und akute Gefährdungslagen in Betracht. Begleitschutz wird insbesondere dann gewährt, wenn eine gefährdete Person nach einer Umsiedlung in ein Gefahrengebiet zurückkehren muß, z.B. um dort als Zeuge vor Gericht auszusagen. 4. Operative Maßnahmen gegen potentielle Schädiger Der Schutz des Zeugen kann entscheidend davon abhängen, daß die Polizei über geplante Angriffe rechtzeitig informiert wird. Zu den Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes gehört es daher auch, das Umfeld des Angeklagten und sonstiger potentielle Schädiger abzuklären, mögliche Angreifer zu observieren und ihre Identität festzustellen. Dies gilt insbesondere gegenüber Personen, die ihrerseits die Schutzperson observieren oder sonst versuchen, ihren Aufenthaltsort zu ermitteln. Bei inhaftierten Tatverdächtigen kann die Zeugenschutzdienststelle bei der Gefangnisleitung darauf hinwirken, daß die Besuchsgespräche besonders sorgfältig darauf überwacht werden, ob sie versteckte Hinweise des Inhaftierten oder des Besuchers auf geplante Übergriffe auf den Zeugen enthalten. 5. Neuer Aufenthaltsort Die klassische Maßnahme der polizeilichen Zeugenschutzprogramme ist jedoch die Umsiedlung. Zeugen und ihre Familien, deren Aufenthaltsort den potentiellen Schädigern bereits bekannt ist, können nur dadurch wirksam vor Übergriffen geschützt werden, daß sie dem Zugriff entzogen und an einem sicheren Ort untergebracht werden. Als Sofortmaßnahme werden die gefährdeten Personen in Hotels oder Pensionen umquartiert. Um auf Dauer geschützt werden zu können, muß der Zeuge - u.U. mit seiner Familie - in ein "sicheres

1. Abschnitt: Polizeiliche Zeugenschutzprogramme

163

Gebiet" umsiedeln. Ein solches sicheres Gebiet wird regelmäßig nur in einem anderen Bundesland oder i m Ausland zu finden sein. Eine Umsiedlung ist mit einem erheblichen organisatorischen Aufwand verbunden, da es nicht nur darum geht, das Umzugsgut auf verdecktem Wege zu transportieren, sondern auch darum, für den Zeugen und seine Familie eine neue Wohnung zu finden und einen neuen, geeigneten Ausbildungs-, Umschulungs- und Arbeitsplatz zu vermitteln. Ein weiteres Problem stellt die finanzielle Situation des Zeugen dar, der seine bisherige Arbeitsstelle bzw. sein Geschäft aufgeben muß und weitgehend mittellos auf die Unterstützung des Staates angewiesen ist. Im Rahmen der Zeugenschutzprogramme wird hier finanzielle Unterstützung in Form sog. Überbrückungshilfen gewährt 30 , deren Höhe sich grundsätzlich an den Sozialhilfesätzen orientiert. In Einzelfällen werden aber auch weiterreichende finanzielle Hilfen geleistet, z.B. Mittel zur Wohnungseinrichtung oder zur Erfüllung bestehender Zahlungsverpflichtungen. Bei den seltenen Opfern von Schutzgelderpressungen, die sich zu einer Zeugenaussage bereit erklären 31 , werden mitunter auch die Umsatzeinbußen bzw. der Verdienstausfall ausgeglichen. 3 2 Das Zeugenschutzprogramm beschränkt sich nicht darauf, die Umsiedlung der gefährdeten Personen zu organisieren und zu finanzieren. Gerade für Zeugen, die aus ihrem bisherigen Lebensumfeld herausgerissen wurden und sich i n einem völlig neuen Umfeld behaupten müssen, ist es wichtig, einen Ansprechpartner für ihre Probleme zu finden. Aufgabe des Zeugenschutzbeamten vor Ort ist es daher auch, den Zeugen bei Behördengängen zu begleiten und ihm die Kontaktaufnahme zu sozialen Einrichtungen zu erleichtern. Um den Kontakt mit Angehörigen aufrechtzuerhalten, werden der Versand und der Empfang der Post koordiniert, sowie Fernsprechweiterwahlgeräte zur Verfügung gestellt, die ein Umleiten von Telefonanrufen und damit ein sicheres Telefonieren ermöglichen. Gleichsam als flankierende Maßnahmen sucht die Zeugenschutzdienstelle bei den zuständigen Behörden, insbesondere dem Einwohnermeldeamt und der Kfz-Zulassungsstelle, darum nach, daß die Daten des Zeugen mit einem Sperrvermerk versehen werden. Die entsprechenden Unterlagen werden in diesen Fällen verschlossen und nur für die sog. VS-Sachbearbeiter zugänglich

30 31 32

11*

Hierzu auch BT-Drucks. 12/989, S.35. Fallbeispiel hierzu bei Podolsky, Kriminalitätsformen, S. 382 f. AG Kripo, Kriminalistik 1995, 320.

164

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

aufbewahrt. Auskünfte können dann - auch bei computermäßiger Abfrage nicht erteilt werden. 33 6. Neue Identität Wesentlich seltener sind sog. Identitätsänderungen, auch wenn der Bundesrat hierzu festgestellt hat: "Insbesondere im Bereich der organisierten Rauschgiftkriminalität und des Terrorismus hat sich in der Vergangenheit gezeigt, daß ein wirksamer, nachgerichtlicher Schutz des 'Kronzeugen' oder 'Aussteigers' staatlicherseits nur durch die Beschaffung einer vollständig neuen Identität gewährt werden kann." 3 4 Praktisch kann ein Identitätswechsel entweder dadurch herbeigeführt werden, daß die entsprechenden Personenstandsbücher geändert werden und der Betroffene danach die nach der Änderung "richtigen" Dokumente erhält oder dadurch, daß die betroffene Person lediglich neue - und damit "falsche" - Dokumente ausgehändigt bekommt. Grundsätzlich wird ein Identitätswechsel erst durchgeführt, nachdem der Zeuge vor Gericht ausgesagt hat. Abgesehen von der Frage der Rechtsgrundlage 35 ist ein Identitätswechsel auch mit erheblichen praktischen Problemen verbunden. Dies zeigt sich schon daran, daß unter Umständen eine Vielzahl von Dokumenten neu erstellt werden muß (neben Personalausweis und Führerschein z.B. auch Schulzeugnisse, Berufszeugnisse, Sozialversicherungsnachweise etc.), was zwangsläufig dazu führt, daß auch eine Vielzahl von Behörden hiervon Kenntnis erlangt. Zudem müssen Probleme bei Eigentums-, Erbschafts- und sonstigen Familienfragen gelöst werden. 36 Schließlich muß sichergestellt werden, daß der Zeuge die neue Identität nicht dazu nutzt, sich von Altgläubigern zu befreien. In vielen Fällen bedarf es eines intensiven Trainings, bis sich der Zeuge und seine Familie an das Leben unter der neuen Identität gewöhnt haben. Nach dem Identitätswechsel darf der Zeuge auf keinen Fall an irgendeinen Ort reisen, an dem er unter seiner alten Identität erkannt werden könnte, oder sonst mit Per-

33 Skeptisch gegenüber der Schutzwirkung von Sperrvermerken dagegen die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum Entwurf des Bundesrates zum OrgKG, BTDrucks. 12/989, S. 61: "Auch bei Eintragung von Sperrvermerken würden kriminelle Organisationen mit den in der Begründung beschriebenen Organisationsstrukturen Gelegenheit finden, sich die gewünschten Informationen zu beschaffen, zumal der Weg dorthin jederzeit aus dem geltenden Recht nachvollziehbar wäre." 34 Begründung des Entwurfs des Bundesrates zum OrgKG, BT-Drucks. 12/989, S. 49. 35 Dazu unten S. 173 ff. 36 Vgl. BT-Drucks. 12/49.

1. Abschnitt: Polizeiliche Zeugenschutzprogramme

165

sonen in Kontakt treten, die ihn identifizieren könnten. Die Identitätsänderung kann daher als ultima ratio des Zeugenschutzes bezeichnet werden. 37 7. Veränderung des äußeren Erscheinens Unter Umständen ist es für einen wirksamen Schutz des Betroffenen zusätzlich zu den genannten Maßnahmen erforderlich, sein äußeres Erscheinen nach Abschluß seiner Zeugeneigenschaft - zu verändern. In diesen Fällen finanziert das Zeugenschutzprogramm die notwendigen Maßnahmen bis hin zu einer Gesichtsoperation. 8. Schutz inhaftierter

Zeugen

Der Schutz inhaftierter Zeugen ist Aufgabe des zuständigen Anstaltsleiters, bei U-Haft Aufgabe der Staatsanwaltschaft. Die Zeugenschutzdienststelle hat jedoch den jeweils Verantwortlichen sofort zu informieren, wenn sich ein Betroffener in Haft befindet. 38 Sie kann ferner darauf hinwirken, daß der gefährdete Strafgefangene von potentiell gefährlichen Mithäftlingen ferngehalten oder in eine andere Haftanstalt verlegt wird. Bei einem Transport des Zeugen von einer Anstalt zu einer anderen oder zum Gericht können besondere Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden. IL Geschützter Personenkreis Polizeiliche Zeugenschutzprogramme umfassen alle Auskunftspersonen, bei denen zu befürchten ist, daß sie im Zusammenhang mit ihrem Aussageverhalten durch Dritte bedroht oder gefährdet werden. Die Auskunftsperson muß nicht Zeuge i m strafprozessualen Sinne sein, sie kann z.B. auch ein aussagebereiter Mitbeschuldigter sein. 39 Neben der Auskunftsperson werden auch deren gefährdete Angehörige und sonstige ihr nahestehende Personen, mithin ganze Familien, in das Schutzprogramm aufgenommen. 40 Aus der Zielrichtung polizeilicher Zeugenschutzprogramme, die Aussage der Schutzperson zu Beweiszwecken vor Gericht zu ermöglichen, ergibt sich, daß V-Personen und polizeiliche Informanten, denen Vertraulichkeit zugesagt

37

So auch Köhnke, Sten. Protokoll der 31. Sitzung des Rechtsausschusses am 22.1.1992, S. 97. 38 So die Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien des Inneren und der Justiz vom 29.11.1994, A11MB1. 1994, S. 1007. 39 Zum Begriff des Zeugen im Sinne der polizeilichen Zeugenschutzprogramme vgl. auch oben S 35. 4 0

Schulz/Händel,

§ 68 Rdn. 13.

166

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

wurde, nicht in das Zeugenschutzprogramm aufzunehmen sind. 4 1 Inhalt der Vertraulichkeitszusage ist gerade das Versprechen, die Auskunftsperson dem Gericht nicht als Zeugen zu präsentieren. 42 Die beiden einschneidendsten Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes, die Umsiedlung und die Identitätsänderung, wären weder wirksam noch überhaupt durchführbar, wenn die betroffene Person hieran nicht freiwillig mitwirkte. 4 3 Personen- und Objektschutz kann dagegen - praktisch - auch Zeugen gewährt werden, die sich selbst nicht gefährdet fühlen und daher die Notwendigkeit ihres Schutzes nicht einzusehen vermögen. Jedoch ist auch hier möglichst ein Einvernehmen herzustellen. Jede Schutzperson hat eine "Unterweisung" zu unterschreiben, in der sie mit den Leistungen des Zeugenschutzprogrammes und den ihr - aus Sicherheitsgründen - obliegenden Verhaltenspflichten vertraut gemacht w i r d . 4 4 Hierbei handelt es sich nicht etwa um einen gegenseitigen Vertrag, sondern um einen Verwaltungsakt (Schutzzusage), der unter bestimmten Auflagen steht. Mit ihrer Unterschrift bestätigt die Schutzperson die Bekanntgabe des Verwaltungsaktes. III. Beendigung Zeugenschutzmaßnahmen enden unabhängig von dem Stand des Strafverfahrens grundsätzlich erst dann, wenn die Gefährdung wegfallt. 45 Ändert sich die Gefährdungslage, z.B. weil der Zeuge oder ein Familienangehöriger nach einer Umsiedlung zufallig wiedererkannt wurde, so lebt der Zeugenschutz sofort wieder auf. Der Zeuge ist u.U. erneut umzusiedeln und mit einer neuen Identität auszustatten.

41

Zur Bestimmung der Begriffe V-Person und Informant vgl. Nr. 2 der bei Kleinknecht/Meyer-Goßner als Anlage D zu den RiStBV abgedruckten Richtlinie. 42 In der Praxis wird auch Informanten und V-Personen Schutz gewährt, denen Vertraulichkeit zugesagt wurde. Diese Schutzmaßnahmen, die darauf hinauslaufen, eine Auskunftsperson vor der Zeugenstellung zu schützen, sind mit dem oben dargestellten Ziel der Zeugenschutzprogramme nicht vereinbar und können daher auch nicht auf diese gestützt werden. Von daher geht der Einwand von Zieger, Berliner Anwaltsblatt 1992, 4, fehl, daß es bei den Zeugenschutzprogrammen nicht nur um den Schutz von Leben und Gesundheit, sondern um die Abwehr kritischer Überprüfung der von Polizei oder Staatsanwaltschaft in Abschlußbericht oder Anklageschrift präsentierten Ermittlungsergebnisse geht. 43 Hierzu auch Plewka, Zeugenschutz, S. 62; Sielaff,\ Mafia-Syndrom, S. 294. 44 Vgl. auch Eisenberg,, StV 1993, 627. 45 Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien des Inneren und der Justiz vom 29.11.1994, A11MB1. 1994, S. 1006.

1. Abschnitt: Polizeiliche Zeugenschutzprogramme

167

Eine vorzeitige Beendigung des Zeugenschutzes ist möglich, wenn der Zeuge von sich aus aus dem Zeugenschutzprogramm aussteigen möchte. 46 Das Zeugenschutzprogramm kann darüber hinaus - unabhängig von der Gefährdungslage - enden, wenn der Zeuge vorsätzlich gegen die Vorgaben des Programms verstößt. Einen Grund für die Beendigung des Schutzes bilden z.B. die Aufnahme krimineller Aktivitäten, aber auch grobe Verstöße gegen die dem Zeugen auferlegten Sicherheitsrichtlinien, z.B. die Preisgabe der neuen Identität oder seines neuen Wohnsitzes an Personen aus einem "Gefahrengebiet", die Rückkehr i n ein Gefahrengebiet oder die Preisgabe der alten Identität an Personen i n der neuen Umgebung. Besondere Probleme bereiten i n diesem Zusammenhang Personen, die i m Rotlichtmilieu gearbeitet haben und an ihrem neuen Wohnort wiederum Kontakt mit dem dortigen Rotlichtmilieu aufnehmen, ohne zu beachten, daß innerhalb der Szene ein reger Informationsaustausch besteht. In keinem Falle darf der Zeuge jedoch seinen Schädigern schutzlos ausgeliefert werden. Praktiziert wird daher bei Pflichtverstößen die sog. "sanfte Landung", bei der der Zeuge für einen Übergangszeitraum weiter in das Programm einbezogen bleibt. 4 7 Das Zeugenschutzprogramm kann auch dann enden, wenn sich ein Zeuge weigert, seine belastenden Angaben vor Gericht zu wiederholen. 48 Das Ende der Unterstützung ist in diesen Fällen nicht etwa darauf zurückzuführen, daß der Zeuge die von ihm verlangte "Gegenleistung" nicht erbringt, sondern beruht auf Gründen, die unmittelbar den Zeugenschutz berühren. Unterstellt man nämlich, daß die ursprünglichen Angaben des Zeugen falsch waren, so hat der Zeuge zugleich über Umstände getäuscht, die für die Beurteilung seiner Gefahrenlage maßgeblich waren. Er hat sich damit den Zugang zu dem Zeugenschutzprogramm mißbräuchlich erschlichen. Der Zeugenschutzdienststelle ist in diesem Falle eine weitere Unterstützung nicht zumutbar. Zudem beruht die Gefährdungslage nun nicht mehr auf der Mitwirkung des Zeugen bei der Aufklärung des wahren Sachverhaltes, sondern allenfalls auf seiner "Verrätereigenschaft". - Unterstellt man dagegen, daß die ursprüngliche Anschuldigung der Wahrheit entsprochen hat und der Zeuge nunmehr vor Gericht die Anschuldigungen der Wahrheit zuwider relativiert, so hat sich der Zeuge während seiner Aufnahme i n das Zeugenschutzprogramm wegen eines Aussagedeliktes strafbar gemacht. Die Begehung von Straftaten während des Zeugenschutzes stellt - wie bereits gezeigt - einen Beendigungsgrund dar. Abgesehen davon kann sich eine Beendigung des Zeugenschutzes auch aus der veränderten Gefährdungslage ergeben. Mit seiner Falschaussage gegenüber dem Gericht hat sich der Zeuge so verhalten, wie es die potentiellen Schädiger 46

Sielaff, Mafia-Syndrom, S. 294. Vgl. für das amerikanische Schutzprogramm Safir, Zeugenschutz, S. 108. 48 Eisenberg, StV 1993, 627. Zu den strafprozessualen Konsequenzen der hieraus resultierenden Zwangslage des Zeugen, vgl. S. 185. 47

168

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

von ihm verlangt haben. Damit entfallt ein wesentlicher Grund für die "Sanktionierung" des Zeugen durch die Szene. B. Organisation A n Zeugenschutzmaßnahmen sind mindestens zwei Polizeidienststellen beteiligt: Die kriminalpolizeilich ermittelnde Stelle, die mit dem gefährdeten Zeugen konfrontiert wird, sowie die Zeugenschutzdienststellen, die beim Bundeskriminalamt, den jeweiligen Landeskriminalämtern bzw. den Polizeipräsidien eingerichtet wurden. 49 /. Gefahrenprognose Aufgabe der ermittelnden Polizeidienststelle als der sachnächsten Behörde ist es, die Gefahrenlage zu erfassen und eine Gefährdungsstufe festzulegen. 50 Für die Gefährdungsstufen wurde in Anlehnung an die PDV 100 Nr. 2.5.2.3. folgende Abstufung vorgeschlagen 51: Stufe 1: Mit einem Angriff auf Leib oder Leben der Person ist zu rechnen. Stufe 2: Ein Angriff auf Leib oder Leben ist nicht auszuschließen. Stufe 3: Ein Angriff auf sonstige Rechtsgüter der Person ist nicht auszuschließen. Erste Anhaltspunkte für die Gefahrenprognose liefert regelmäßig die subjektive Gefährdungsvermutung des Zeugen, wobei seiner psychischen Konstitution (Belastbarkeit, Labilität, Neigung zu Hysterie etc.) besondere Beachtung zu schenken ist. Eine Aussage zur Gefährdungslage des Zeugen ist jedoch erst möglich, nachdem der Sachverhalt auf objektive Gefährdungsindikatoren hin untersucht wurde. Hierbei kann zwischen Kriterien in der Person des Zeugen bzw. seines Umfeldes, Kriterien in der Person des Tatverdächtigen bzw. seines Umfeldes sowie Kriterien, die sich aus dem Strafverfahren heraus ergeben, unterschieden werden. 52

49

In Einzelfallen können auch die Behörden des Bundesgrenzschutzes und des Zolles mit Zeugenschutzmaßnahmen befaßt sein. 50 Vgl. Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien des Inneren und der Justiz vom 29.11.1994, A11MB1. 1994, S. 1006; Krehl, NJW 1991, 85. 51 Plewka, Zeugenschutz, S. 52; Sielaff Kriminalistik 1986, 62. 52 Eingehend hierzu und zum folgenden Plewka, Zeugenschutz, S. 48 ff; Sielaff Kriminalistik 1986, 60 f.

1. Abschnitt: Polizeiliche Zeugenschutzprogramme

1. Kriterien

169

in der Person des Zeugen

Gefährdungsrelevante Kriterien in der Person des Zeugen bzw. seines Umfeldes können sich aus dem Wohnort, Beruf und Arbeitsplatz des Zeugen ergeben (z.B. Aufenthalt im Milieubereich, räumliche oder soziale Nähe zum Verdächtigen, oder Bezug zu der gemachten Wahrnehmung). Ein weitere Anhaltspunkt ist die "Erpreßbarkeit" des Zeugen. Besondere Bedeutung kommt hier der persönlichen Beziehung zu dem Tatverdächtigen und dessen Umfeld zu. Zu denken ist an Abhängigkeitsverhältnisse oder die "Verräter-Eigenschaft" des Zeugen. Ein Indiz kann aber auch die Familiensituation oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe sein. 2. Kriterien

in der Person des Tatverdächtigen

Hier geht es um die Beurteilung der Gefährlichkeit des Tatverdächtigen bzw. seines Umfeldes. Anhaltspunkte bilden z.B. die Gewaltbereitschaft oder bereits vorangegangene Einschüchterungsversuche. Ein weiterer Indikator ist die Zugehörigkeit des Tatverdächtigen zu einer Gruppe, die sich bekanntermaßen der Zeugeneinschüchterung als Mittel zur Risikominimierung bedient. Von Bedeutung sind darüber hinaus Indizien, die Rückschlüsse auf ein besonderes Interesse des Tatverdächtigen oder seines Umfeldes daran zulassen, den Zeugen "zum Schweigen" zu bringen. Hier geht es vor allem um die dem Tatverdächtigen drohende Strafe, aber auch um die Frage, ob hinter dem Tatverdächtigen eine Gruppe steht, die aus generalpräventiven Gründen an einer Sanktionierung des Zeugen (z.B. als "Verräter") interessiert ist. 3. Verfahrensbezogene

Kriterien

Bereits der Gegenstand des Ermittlungsverfahrens kann Hinweise auf die Gefährdungslage des Zeugen liefern, insbesondere dann, wenn die Person des Tatverdächtigen nicht bekannt ist. Als gefährdungsrelevant einzustufen sind z.B. Straftaten aus dem Bereich der organisierten Kriminalität, i m Zusammenhang mit dem Nachtleben sowie Gewaltdelikte, insbesondere dann, wenn sie sich durch Brutalität und rücksichtsloses Vorgehen auszeichnen, von einer Gruppe begangen wurden und wenn es sich bei der Person des Zeugen um das Opfer handelt. Zu beachten ist darüber hinaus die Höhe der dem Tatverdächtigen drohenden Strafe. Als weiteres verfahrensbezogenes Kriterium hat die Polizei bei ihrer Gefahrenprognose den Beweiswert der Zeugenaussage und ihre Bedeutung für den Tatnachweis mit einzubeziehen. IL Anordnung und Durchführung Auf der Grundlage der Gefahrenprognose der ermittelnden Dienststelle entscheiden die Zeugenschutzdienststellen über das Ob und Wie des Zeugen-

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

170

schutzes. 53 Bei der Wahl der zu treffenden Maßnahmen sind die Vorteile einer Schutzmaßnahme für die Sicherheit der Auskunftsperson und die Beweisführung i m Strafverfahren abzuwägen gegen die damit verbunden finanziellen und sonstigen Belastungen der Polizeiarbeit sowie die Nachteile, die der Auskunftsperson durch die Schutzmaßnahme erwachsen. I n vielen Fällen und insbesondere bei einer Wohnsitzverlegung ist eine länderübergreifende bzw. internationale Zusammenarbeit der Polizeibehörden von Bund und Ländern bzw. mit ausländischen Behörden erforderlich. Zu diesem Zwecke unterhält das Bundeskriminalamt eine Koordinationsstelle für Zeugenschutzmaßnahmen. Verantwortlich für den Zeugenschutz bleibt jedoch stets die "veranlassende Behörde". I n Ermittlungsverfahren, die vom Bundeskriminalamt geführt werden, ist das Bundeskriminalamt auch für die Organisation des Zeugenschutzes zuständig und führt diese Maßnahmen - wenn auch derzeit noch i m rechtsfreien R a u m 5 4 - selbst durch. Ausgeführt werden die Maßnahmen regelmäßig von den Beamten der Zeugenschutzdienststelle des Bundeskriminalamtes bzw. der Landeskriminalämter, die hierbei auf die Mithilfe sonstiger Polizeikräfte, z.B. der Bereitschaftsoder allgemeinen Schutzpolizei, unter Umständen aber auch von Sondereinsatzkommandos angewiesen sind. 5 5 III. Trennung von der Ermittlungsarbeit Die Richtlinien zum Schutz gefährdeter Zeugen betonen, daß bei der Durchführung von Zeugenschutzmaßnahmen aus Gründen der Objektivität und zur Vermeidung des Vorwurfes der Beeinflussung des Zeugen durch die Polizei stets darauf zu achten sei, daß diese Maßnahmen nicht von den Polizeibeamten durchgeführt werden, die zu dem Ausgangssachverhalt i n unmit-

53 Vgl. z.B. Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien des Inneren und der Justiz vom 29.11.1994, A11MB1. 1994, S. 1006. Bei besonders zeit-, kosten- oder personalintensiven Maßnahmen, wie z.B. dem Einsatz von Spezialkommandos, wird die Entscheidung z.T. dem Innenministerium übertragen, vgl. hierzu Krehl, NJW 1991, 85. 54 Zu dem Problem der Rechtsgrundlage zur Durchführung der Schutzmaßnahmen durch das Bundeskriminalamt vgl. unten V. Eindringlich hierzu Zachert, Sten. Protokoll der 31. Sitzung des Rechtsausschusses am 22.1.1992, S. 111: "Wir haben überhaupt keine Möglichkeit, aus eigenem Recht Zeugenschutz zu gewährleisten, obwohl wir so knallige Verfahren wie PKK, wie Terrorismus usw. haben. Wir behelfen uns hier mit allen möglichen Rechtskrücken, und ich glaube, das ist in Ansehung der Wichtigkeit dieser geführten Verfahren nicht angemessen." Vgl. aber § 6 des BKAGEntwurfs der Bundesregierung, BR-Drucks. 94/95, S. 6. 55

Vgl. nur Sielaff

Mafia-Syndrom, S. 294.

1. Abschnitt: Polizeiliche Zeugenschutzprogramme

171

telbarer Beziehung stehen, etwa dort bereits ermittelnd tätig geworden sind. 5 6 Die hier geforderte strikte Trennung zwischen der Arbeit der Zeugenschutzdienststelle und der kriminalpolizeilichen Sachbearbeitung wird jedoch in Zweifel gezogen, wenn i n einigen Bundesländern die Zeugenschutzdienststelle in das OK-Referat des jeweiligen Landeskriminalamtes eingegliedert ist. 5 7 Die zum Schutz eingesetzten Beamten sind angewiesen, sich auf ihre Schutzaufgaben zu beschränken. 58 Sie haben alles zu unterlassen, was den Vorwurf der Zeugenbeeinflussung rechtfertigen könnte. Ihnen ist es untersagt, mit dem Zeugen über sein Aussageverhalten, seinen Aussageinhalt und über sonstige Verfahrensinhalte zu reden. 59 Diese Vorgaben dürften in der Praxis jedoch schwierig einzuhalten sein, wenn die Person des Zeugen unter Begleitschutz steht und naturgemäß ein starkes Bedürfnis hat, über die sie existentiell belastende Aussagesituation zu sprechen. 60 IV Beteiligung von Staatsanwaltschaft/Gericht Die ermittlungsführende Staatsanwaltschaft ist von der geplanten Aufnahme eines Zeugen i n ein polizeiliches Zeugenschutzprogramm zu unterrichten. Sämtliche Maßnahmen, die sich auf die Durchführung des Strafverfahrens auswirken können, sind mit ihr abzustimmen. 61 Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft ist damit insbesondere vor jeder Umsiedlung, Identitätsänderung, aber auch vor finanziellen Zuwendungen an den Zeugen herzustellen. Einzelheiten, wie z.B. der neue Aufenthaltsort oder die neue Identität, sind dagegen nicht mitzuteilen. Die Staatsanwaltschaft fertigt entsprechende Vermerke an, die allerdings nicht zu den Verfahrensakten genommen werden. 62

56 Vgl. Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien des Inneren und der Justiz vom 29.11.1994, A11MB1. 1994, S. 1006; sowie Diederichs, CILIP Heft 39 (2/91), 40; Freiberg/Thamm, Das Mafia-Syndrom, S. 230; Kr ehi y NJW 1991, 85; vgl. bereits Hammes, Kriminalistik 1986, 57; Plewka, Zeugenschutz, S. 54; sowie BRDrucks. 74/90, S. 68. 57 Demgegenüber wird der Grundsatz der strikten Trennung nicht - wie Eisenberg, StV 1993, 627, meint - dadurch in Frage gestellt, daß die ermittelnde Dienststelle für die Gefahrermittlung und -beurteilung zuständig ist. 58 Plewka, Zeugenschutz, S. 53. 59 Siel äff, Mafia-Syndrom, S. 294. 60 Zu der strafprozessualen Problematik der Zeugenbetreuung siehe S. 182 ff. 61 Vgl. z.B. Bekanntmachung der Bayerischen Staatsministerien des Inneren und der Justiz vom 29.11.1994, A11MB1. 1994, S. 1007; Eisenberg, StV 1993, 627; Krehl, NJW 1991, 85. 6 2

Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1190.

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

172

Das Gericht der Hauptverhandlung wird dagegen weder an der Entscheidung über einzelne Maßnahmen beteiligt noch ist es zwingend über Art und Umfang der Schutzmaßnahmen zu informieren. 63 Unter Umständen erfährt es aus den Akten nur, auf welchem Wege eine Ladung des Zeugen zur Hauptverhandlung bewirkt werden kann. Bei Zeugenschutzmaßnahmen innerhalb des Gerichtsgebäudes ist das Einvernehmen des Gerichtspräsidenten und bei Maßnahmen innerhalb des Verhandlungsortes das Einvernehmen des Gerichtsvorsitzenden herzustellen. 64 I n jedem Falle können Staatsanwaltschaft und Gericht selbst die Zeugenschutzdienststelle einschalten, wenn sie von der Gefährdung eines Zeugen erfahren. 6 5

3. Kapitel: Rechtsgrundlage Anders als z.B. i n den USA und in Italien gibt es i n Deutschland keine eigenständige gesetzliche Regelung der polizeilichen Zeugenschutzprogramme. 6 6 Nach einhelliger Ansicht der Praxis bilden die Polizeigesetze der Länder die Grundlage für deren Maßnahmen. 67 Die Frage nach der Rechtsgrundlage bedarf jedoch einer differenzierten Betrachtung. A. Polizeischutz Bei den reinen Schutzmaßnahmen, wie z.B. Objekt- oder Personenschutz, handelt sich um Maßnahmen der Gefahrenabwehr. Sie finden ihre Grundlage unproblematisch i n den Polizeigesetzen der Länder. 6 8 Für derartige Zeugenschutzmaßnahmen des Bundeskriminalamtes fehlt es dagegen nach derzeitigem Recht an einer gesetzlichen Grundlage. Nach §§5 Abs. 1, 9 B K A G fallt der Schutz gefährdeter Zeugen heute immer noch als präventivpolizeiliche Aufgabe allein in den Zuständigkeitsbereich der Län63

Vgl. aber § 26 Abs. 2 S. 2 des BKAG-Entwurfes der Bundesregierung, BRDrucks. 94/95, S. 29. 64 Vgl. hierzu auch die Begründung des BKAG-Entwurfes der Bundesregierung, BR-Drucks. 94/95, S. 84. 6 5

66

Schulz/Händel,

§ 68 Rdn. 13.

Zur Rechtslage in den USA vgl. Graham, Witness Intimidation, S. 16 ff, 85 ff; zur Rechtslage in Italien vgl. Orlandi , Zeugenschutz, S. 102 f. 67 Vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 55; Ahrens, DRiZ 1986, 356; Böttcher, SchülerSpringorum-FS, S. 541; Boll, Kriminalistik 1992, 70; Hilger, NStZ 1992, 458 Fn. 27; Krehl, NJW 1991, 85; Rebscher, Gewalt und Kriminalität, S. 160; Rieß, Gutachten, C. 114; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 70; Weigand, Kriminalistik 1992, 144. 68 Vgl. auch BT-Drucks. 12/989, S. 35, sowie Soiné/Soukup, ZRP 1994, 466 f.

1. Abschnitt: Polizeiliche Zeugenschutzprogramme

173

der. 6 9 Dem "dringenden Bedürfnis" einer eigenen Zeugenschutzkompetenz des Bundeskriminalamtes trägt der Entwurf eines neuen BKA-Gesetzes Rechnung, den das Bundeskabinett am 7.2.1995 beschlossen und am 17.2.1995 dem Bundesrat zugeleitet h a t . 7 0 Nach § 6 des BKAG-Entwurfes soll das Bundeskriminalamt nunmehr i n eigener Zuständigkeit die notwendigen Maßnahmen treffen, um zur Erfüllung seiner Zeugenschutzaufgabe eine i m Einzelfall bestehende Gefahr für Leib, Leben, Gesundheit, Freiheit der Willensentschließung und -betätigung oder wesentliche Vermögenswerte der angeführten Personen abzuwehren. B. Beratung und Unterstützung Die sozialen und finanziellen Hilfen bedürfen nicht zwingend einer gesetzlichen Regelung 71 , da sie keine staatlichen Eingriffe in die Rechtssphäre des Bürgers begründen und auch - entsprechend der Wesentlichkeitstheorie des B V e r f G 7 2 - keine "wesentlichen Entscheidungen i n der Ordnung eines Lebensbereiches" darstellen. C. Änderungen der Identität Die Zulässigkeit einer Identitätsänderung wird von Rechtsprechung 73 , Literatur 7 4 und Gesetzgeber 75 allgemein vorausgesetzt. Völlig offen bleibt dabei jedoch, auf welche Rechtsgrundlage die i m Rahmen des polizeilichen Zeugenschutzes praktizierte Änderung der Identität gestützt werden k a n n . 7 6

69

Hierzu bereits Jaeger , Der Kronzeuge, S. 98; vgl. auch Lersch, Kriminalistik 1995, 182. 70 BT-Drucks. 94/95. Eingehend zu diesem Gesetzentwurf Lersch, Kriminalistik 1995, 179 ff; Steinke, ZRP 1995, 212 ff. 71

So auch SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 70. Hierzu Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 509. 73 BVerfGE 57, 250, 286; BGHSt 29, 109, 112 f.; 32, 115, 128. 74 Beispielhaft Seelmann, StV 1984, 483. 75 Vgl. § 68 Abs. 3 S. 1, wonach dem Zeugen gestattet werden kann, nur Angaben über seinefrühere Identität zu machen. 76 So fordert Zachert, Kriminalistik 1994, 26 f., "die Ergänzung bzw. Schaffung von Rechtsgrundlagen zur Anfertigung und Nutzung von Tarnpapieren". 72

174

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

L Verändern

von Personenstandsbüchern

1. Personenstandsgesetz Das Personenstandsgesetz sieht nach geltendem Recht keine Möglichkeit vor, die bisherige Identität zu ändern. Der Bundesrat hatte vorgeschlagen, das Personenstandsgesetz wie folgt zu ergänzen: "§ 27 a: Wenn und soweit der Schutz einer Person, die Zeuge ist oder war, oder einer anderen Person vor einer konkreten Gefährdung ihres Lebens, einer erheblichen Beeinträchtigung der Gesundheit oder der persönlichen Freiheit nicht durch andere Maßnahmen möglich ist, kann die von der Landesregierung bestimmte Stelle den Geburtsort, das Geburtsdatum, die Abstammung oder einzelne Bestandteile des Personenstands sowie Vor- und Familienname neu bestimmen. Der Standesbeamte nimmt auf ihre Anordnung i n dem jeweils bestimmten Personenstandsbuch die Eintragungen vor. Die nach Satz 2 vorgenommenen Eintragungen in Personenstandbüchern können nur auf Anordnung der in Satz 1 genannten Stelle geändert oder gelöscht werden. Mitteilungen sind nur vorzunehmen, wenn sie von dieser Stelle angeordnet werden." § 61 sollte um den folgenden Absatz 5 ergänzt werden: "(5) Für in § 27 a genannte Personen kann die von der Landesregierung bestimmte Stelle anordnen, daß in Personenstandsbüchern von dieser bestimmte Sperrvermerke eingetragen werden." 77 Dieses Vorhaben wurde von der Bundesregierung abgelehnt, die sich mit ihrer Ansicht i m Gesetzgebungsverfahren durchgesetzt hat. 7 8 Die Festschreibung einer neuen und damit unwahren Identität wäre mit dem Zweck der Personenstandsbücher, den Nachweis über die wahre Identität zu erbringen, unvereinbar. Der Schutz des Zeugen könne diese gravierenden Beeinträchtigungen nicht rechtfertigen, da ein solcher Schutz durch die Änderungen des Personenstandswesens gar nicht erreichbar sei. Eine vollständige Löschung und Neuanlegung eines Personenstandseintrages sei in keinem Falle zulässig. Alle Änderungen aber müssen durch entsprechende Randvermerke lückenlos und nachvollziehbar dokumentiert werden, wodurch die Schutzwirkung stark ver77

Vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 16. BT-Drucks. 12/989, S. 60 f. Vgl. auch die Warnung des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins zum E-OrgKG, Sten. Protokoll der 31 Sitzung des Rechtsausschusses am 22.1.1992, Anhang S. 159: "Gesetzesvorschriften, die dies (gemeint sind Verfälschungen amtlicher Unterlagen) zulassen, üben auf die Rechtsordnung eine bedenkliche und nachteilige Wirkung aus." 78

1. Abschnitt: Polizeiliche Zeugenschutzprogramme

175

ringert wird: "Für die hier zu behandelnden Fälle bedeutet dies, daß bei einer Änderung von Angaben in den in Frage kommenden Personenstandsbüchern aus den Einträgen selbst immer die frühere Identität ersichtlich wäre." 7 9 Sofern Standesbeamte dennoch dem Ersuchen der Zeugenschutzdienststellen nachkommen und Standesbücher fälschen, machen sie sich strafbar, § 348 StGB. 2. Namensänderungsgesetz Nach §§3 und 11 des Namensänderungsgesetzes vom 5.1.193 8 8 0 kann die Änderung des Vor- und Nachnamens gestattet werden, wenn ein wichtiger Grund hierfür vorliegt und wenn es sich bei dem Antragsteller um einen deutschen Staatsangehörigen handelt. Ein wirksamer Schutz läßt sich auf dieser Grundlage jedoch nicht erreichen. Dies allein schon deshalb, weil die Namensänderung in den Personenstandsbüchern nachvollziehbar dokumentiert werden muß. 8 1 Darüber hinaus kann die Identität des Zeugen auch aus den verbleibenden Informationen (z.B. Geburtsort, Geburtsdatum) "herausgerastert" werden. 82 Schließlich kommt das Namensänderungsgesetz bei ausländischen Zeugen von vornherein nicht zum Tragen. IL Ausstellen von Tarnpapieren In ihrer Stellungnahme zu dem Entwurf des OrgKG schlägt die Bundesregierung statt einer Änderung der Personenstandsbücher vor, die zu schützende Person mit Dokumenten auszustatten, die die gewünschten Angaben enthalten. 8 3 Derartige Tarnpapiere können sich beziehen auf Name, Nationalität, Anschrift, familiäre und sonstige persönliche Umstände sowie Beruf und Funktion der zu schützenden Person. 84 Unklar bleibt die Frage, auf welcher gesetzlichen Grundlage diese Tarnpapiere erstellt werden und in wessen Zuständigkeit dies geschieht. In der Straiprozeßordnung findet sich in § 110 a Abs. 3 eine Ermächtigung zur Erstellung von Tarnpapieren für Verdeckte Ermittler: "Soweit es für den Aufbau oder die Aufrechterhaltung der Legende unerläßlich ist, dürfen ent79 80 81

82

BT-Drucks. 12/989, S. 61. RGBl. I, S. 9; BGBl, m Nr. 401-1. Soiné/Soukup , ZRP 1994, 467.

Hierzu Jung/Krüger; Gefährdete Zeugen, S. 29. Lenhard, Kriminalistik 1989, 198, fordert denn auch eine Erweiterung der Vorschriften des Namensänderungsgesetzes hinsichtlich der Änderung der Geburtsdaten, ohne die eine völlige Änderung der Identität eines Zeugen nicht möglich sei. 83 BT-Drucks. 12/989, S. 61. 84 So KK/Nack y § 110 a Rdn. 7, zu den Tarnpapieren für Verdeckte Ermittler.

176

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

sprechende Urkunden hergestellt, verändert und gebraucht werden." 85 Eine analoge Anwendung dieser Norm als Ermächtigungsgrundlage für die Herstellung von Zeugen-Tarnpapieren scheidet rechtsmethodisch aus. Zum einen ist die Situation eines Polizeibeamten, der für seine verdeckten Ermittlungen einer Legende bedarf, nicht vergleichbar mit der Situation einer als Zeuge gefährdeten Person. Zum anderen kann die fehlende gesetzliche Regelung angesichts der ausdrücklichen Diskussion im Gesetzgebungsverfahren nicht als "planwidrige Lücke" angesehen werden. - Das sog. Sicherheitspaket '94 des Bundesinnenministers vom 30.9.1993 sah unter Nr. 1.11 eine gesetzliche Regelung der BKA-Befugnis zu Schutzmaßnahmen für Zeugen (Tarnung, Identitätsänderung, Legendenvergabe) vor. 8 6 Diese Regelung ist auch Gegenstand des Entwurfes der Bundesregierung für ein neues BKA-Gesetz. Es bleibt daher festzustellen, daß das "Verleihen" einer neuen Identität im Rahmen der Zeugenschutzprogramme nach derzeitiger Rechtslage eindeutig gesetzwidrig ist. 8 7 Dieses Ergebnis ist geradezu kurios, wenn man bedenkt, daß der Gesetzgeber des OrgKG in § 68 Abs. 3 StPO die Zulässigkeit derartiger Maßnahmen voraussetzt, es aber gleichzeitig abgelehnt hat, die erforderliche gesetzliche Grundlage hierfür zu schaffen. Ohne eine gesetzliche Befugnisnorm bleibt das Herstellen von unwahren Dokumenten strafbar, für den Antragsteller als mittelbare Falschbeurkundung nach § 271 StGB, für den Aussteller als Falschbeurkundung i m Amt nach § 348 StGB und für den Benutzer als Gebrauch falscher Beurkundungen nach § 273 StGB. Das strafrechtlich relevante Verhalten der beteiligten Personen kann im Einzelfall allenfalls unter Notstandsgesichtspunkten gerechtfertigt sein. 88 Das Fehlen einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage zur Herstellung falscher Ausweise kann mit Hinweis auf § 34 StGB jedoch nicht überspielt werden. 89

85

Das Erstellen von Tarnpapieren für den Aufbau einer Legende eines Verdeckten Ermittlers stellt nach allgemeiner Ansicht eine "polizei-taktische Angelegenheit" dar, die in den Zuständigkeitsbereich der Kriminalpolizei fallt, so ausdrücklich Soiné/Soukup , ZRP 1994, 467 f.; vgl. auch Hilger, NStZ 1992, 523 Fn. 143; Klein-

knecht/Meyer-Goßner, § 110 a Rdn. 8. Darüber Hinaus enthalten auch landesrechtliche Polizeigesetze besondere Vorschriften zum Einsatz Verdeckter Ermittler und zur Verwendung von Tampapieren, vgl. z.B. Art. 35 BayPAG. 86 Hierzu Bandisch, StV 1994, 153. 87 So auch Soiné/Soukup, ZRP 1994, 468. 88 Zur umstrittenen Frage, inwieweit sich Hoheitsträger zur Rechtfertigung ihres Verhaltens überhaupt auf § 34 StGB berufen können, vgl. Dreher/Tröndle, § 34 Rdn. 24 f. m.w.N. 89 Hierzu auch Jung/Krüger, Gefährdete Zeugen, S. 28 f. A.A. LK/Hirsch (11. Aufl.), § 34 Rdn. 20 a.E. Allgemein zur Ablehnung des § 34 StGB als hoheitliche Befugnisnorm Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 367 f.; W. Lange, MDR 1974, 358;

1. Abschnitt: Polizeiliche Zeugenschutzprogramme

177

Der hier relevante Interessenkonflikt muß durch die öffentlich-rechtlichen Vorschriften des Personenstandsgesetzes sowie des Namensänderungsgesetzes als abschließend geregelt angesehen werden. 9 0 Der Bundesrat vertrat i n seinem Entwurf des OrgKG die Ansicht, daß sich die Zulässigkeit derartiger Maßnahmen "aus der Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Bürger und der Pflicht der Polizei zur Gefahrenabwehr" ergebe. 91 Die Pflicht des Staates zum Schutz gefährdeter Zeugen erfordere einen umfassenden Zeugenschutz und damit auch Maßnahmen, die über polizeilichen Schutz hinausgehen, wie z.B. die Beschaffung einer anderen Identität. 9 2 Auch wenn diese Argumentation i n der Sache richtig ist, darf nicht übersehen werden, daß weder staatliche Schutzpflichten noch polizeiliche Generalbefugnisse 93 ein Handeln legitimieren können, mit dem der Staat gegen eindeutige gesetzliche Vorschriften verstößt. D. Operative Maßnahmen Die operativen Maßnahmen (Abhören, Observationen) gegen den Tatverdächtigen und sein Umfeld stellen Eingriffe i n das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG, dar. Die insoweit erforderlichen Rechtsgrundlagen ergeben sich aus den jeweiligen Polizeigesetzen. 94 Auch hier gilt, daß das Bundeskriminalamt nach derzeitiger Rechtslage nicht befugt ist, derartige Maßnahmen zum Schutz der von ihm betreuten Zeugen i n eigener Zuständigkeit durchzuführen. Der Entwurf eines neuen BKA-Gesetzes sieht eine Rechtsgrundlage vor, indem er auf die Befugnisse verweist, die dem B K A nach § 9 Abs. 3 B K A G für die Wahrnehmung seiner Aufgabe des Perso-

Schmidhäuser, Aktuelle Probleme, S. 60; Seebode, Klug-FS, S. 367 f.; Wilhelm, Eingriffsbefugnisse, S 94 f. 90 Dazu, daß § 34 StGB staatliche Eingriffsbefugnisse jedenfalls dort nicht erweitem kann, wo der Interessenkonflikt bereits abschließend geregelt ist, vgl. Dreher/Tröndle, 91

§ 34 Rdn. 24 a; Otto, NJW 1973, 668.

BT-Drucks. 12/989, S. 35. 92 BT-Drucks. 12/989, 48; vgl. auch Soiné/Soukup , ZRP 1994, 466 f. 93 Für die Anwendung der jeweiligen Polizeigesetze der Länder Schulz/Händel, § 68 Rdn. 13. 94 Vgl. z.B. Art. 33 Abs. 3 BayPAG: "Die Polizei kann durch den verdeckten Einsatz technischer Mittel zum Abhören und zur Aufzeichnung des nichtöffentlich gesprochenen Wortes oder durch Verdeckte Ermittler personenbezogene Daten erheben, ... (Nr. 1) wenn dies für Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person ... geboten erscheint ... ." - Der Entwurf des Bundesrates zu dem OrgKG sah eine bundeseinheitliche Regelung durch Änderung des Fernmeldeanlagengesetzes vor, BT-Drucks. 12/989, S. 49. Dieser Vorschlag hat sich im Gesetzgebungsverfahren jedoch nicht durchsetzten können. 1 Zacharias

178

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

nenschutzes eingeräumt wurden (z.B. Identitätsfeststellung, Durchsuchung, Ingewahrsamnahme, Informationserhebungen durch längerfristige Observationen, Einsatz technischer Abhörmittel und V-Personen). 95

2. Abschnitt: Stellungnahme

1. Kapitel: Begrenzte Schutzmöglichkeit A. Zumutbarkeit polizeilichen Zeugenschutzes /. Eingriffscharakter

der Schutzmaßnahmen

Jede Person, die an einem polizeilichen Zeugenschutzprogramm teilnimmt, hat sich einer Vielzahl grundrechtsbeeinträchtigender Auflagen zu unterwerfen, sobald sie unter Personenschutz steht, umgesiedelt wird oder gar eine neue Identität erhält. 9 6 Nahezu der gesamte Grundrechtskatalog des Grundrechtsgesetzes steht für den Betroffenen unter dem Vorbehalt polizeilicher Genehmigung: Der Zeuge kann sich nicht mehr frei bewegen (Art. 2 Abs. 2 GG), er kann nicht mehr frei entscheiden, wo er seinen Wohnsitz nehmen, an welchen Orten er sich aufhalten und wann er sich wohin begeben möchte (Art. 11 Abs. 1 GG). Ebenso verhält es sich mit dem Grundrecht des Zeugen, seine Meinung öffentlich zu verbreiten (Art. 5 Abs. 1 GG), sich ohne Erlaubnis zu versammeln (Art. 8 Abs. 1 GG) oder sich an Vereinen oder Gesellschaften zu beteiligen (Art. 9 Abs. 1 GG). Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte (Art. 12 Abs. 1 GG) müssen aufgegeben und können für die Zukunft nicht mehr frei gewählt werden. Auch Eigentum und Erbrecht (Art. 14 Abs. 1 GG) können von einer Person, die i m Rahmen polizeilicher Zeugenschutzprogramme eine neue Identität erhalten hat und umgesiedelt wurde, nicht mehr unbeschränkt wahrgenommen werden. Die Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) ist keineswegs mehr unverletzlich, sondern ist mit den zum Personenschutz abgestellten Polizeibeamten zu teilen. Bei einer Umsiedlung wird der Zeuge unter Umständen aus seiner Ehe und Familie (Art. 6 GG) herausgerissen, er kann seine Kinder nach einer Umsiedlung nur noch selten und unter polizeilichen Auflagen sehen, zudem hat jede Kontaktaufhahme (Briefe, Telefonate) über die Polizei zu 95

Hierzu Lersch, Kriminalistik 1995, 182. Zu dem Eingriffscharakter der Zeugenschutzmaßnahmen vgl. AG Kripo, Kriminalistik 1995, 320; Böttcher, Schüler-Springorum-FS, S. 553; Eisenberg, StV 1993, 627 Fn. 37; Jaeger , Der Kronzeuge, S. 249; Köhnke, Stenograph. Protokoll der 31. Sitzung des Rechtsausschusses am 22.1.1992, S. 96 f.; Krehl, NJW 1991, 85; Seelmann, StV 1984, 483; Weigend, Jescheck-FS, S. 1348 mit Fn. 69. 96

2. Abschnitt: Stellungnahme

179

erfolgen. Darüber hinaus stellen die grundrechtsrelevanten Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes einen einzigen dauerhaften Eingriff i n das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 i. V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) des Betroffenen dar. Nicht nur, daß der Zeuge gezwungen wird, seine Beschützer an seiner Privatsphäre teilhaben zu lassen, auch sein Recht, sich in der Gemeinschaft mit anderen selbst zu entfalten, wird ihm zu einem großen Teil genommen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, als Unterfall des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, wird bei der Aufnahme i n das polizeiliche Zeugenschutzprogramm ebenfalls weitgehend an die Polizei "abgetreten". 9 7 Die mit dem polizeilichen Zeugenschutz verbundenen Grundrechtsbeeinträchtigungen stellen sich als derart gravierend dar, daß sie in ihrem Ausmaß allein noch von der staatlich verhängten Strafhaft übertroffen werden. Zu beachten ist hierbei, daß die Strafhaft als das letzte und einschneidendste Mittel des Staates gegen kriminelle Rechtsbrecher verhängt wird, während von den Maßnahmen des Zeugenschutz jeder Bürger betroffen sein kann, der seiner öffentlich-rechtlichen Zeugenpflicht nachkommt. IL Einwilligung Ein wirksamer Zeugenschutz ist ohne die Bereitschaft der betroffenen Person, an dem Zeugenschutzprogramm teilzunehmen, nicht möglich. Diese Bereitschaft ist jedoch nicht geeignet, den Eingriffscharakter der getroffenen Maßnahmen zu relativieren. Die betroffene Person befindet sich in aller Regel i n einer Zwangslage, so daß ihre Bereitschaftserklärung nicht auf der Grundlage einer "freien" Willensentscheidung beruht. Die Zwangslage geht dabei zum einen von den Repressalien aus, die dem Zeugen von dem Tatverdächtigen bzw. seinem Umfeld im Falle einer wahrheitsgemäßen Aussage drohen. Sie beruht aber auch darauf, daß der Staat ihn zur wahrheitsgemäßen Aussage verpflichtet und die Erfüllung dieser Pflicht mit Zwangsmitteln (§§51, 70 StPO) und massiven Strafen (§§ 153 ff. StGB) durchzusetzen droht. Ein Zeuge aber, der vor der Wahl steht, sich entweder den Repressalien Krimineller oder staatlicher Strafe auszusetzen, kann sich nicht mehr unbefangen und "frei" für die Teilnahme an grundrechtsbeeinträchtigenden Zeugenschutzmaßnahmen entscheiden.98

97

Soiné/Soukup, ZRP 1994, 468, sehen bereits in dem Bereitstellen von Tampapieren einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Schutzperson. 98 Zu den Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung siehe bereits oben S. 136. 12*

180

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

III. Konsequenzen für einzelne Zeugentypen 1. Zufallszeuge Es liegt auf der Hand, daß die Durchsetzung der Zeugenpflicht allein nicht geeignet ist, die Eingriffe, die mit polizeilichen Zeugenschutzmaßnahmen verbunden sind, zu rechtfertigen. Keinem Bürger ist es zuzumuten, seinen erlernten Beruf aufzugeben, sämtliche Kontakte zu seiner Familie, seinem Freundes- und Bekanntenkreis abzubrechen, in eine möglichst entfernte Gegend umzusiedeln und fortan unter einer falschen Identität zu leben, nur um ihm die Rolle einer Beweisperson in einem Strafverfahren auferlegen zu können. Grundrechtsbeeinträchtigende Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes sind somit jedenfalls gegenüber Zufallszeugen, die selbst nicht in die Tat verstrickt sind und deren Gefährdung ausschließlich darauf beruht, daß der Staat ihnen die Zeugenpflicht auferlegt, unverhältnismäßig und scheiden daher aus. Ein wirksamer Schutz des Zeugen muß hier durch die strafprozessuale Verfahrensgestaltung bewirkt werden. Ist dies aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht möglich, so darf der betroffene Bürger von Verfassungs wegen nicht als Zeuge in die Pflicht genommen werden." 2. Aussteiger und sonstige Szenemitglieder Anders verhält es dagegen bei Personen, die in eine kriminelle Szene eingebunden waren und sich nunmehr - aus welchen Gründen auch immer - bereit erklären, diese Bindung aufzugeben und mit den Ermittlungsbehörden zusammenzuarbeiten. Die Gefährdung eines solchen "Aussteigers" ergibt sich aus seinem "Verrat", der von der kriminellen Szene, aus der er stammt, aus Gründen der Generalprävention nicht sanktionslos hingenommen wird. Unabhängig davon, ob der Staat ihn als Zeugen in die Pflicht nimmt oder nicht, hat der Aussteiger nur die Wahl zwischen den Beeinträchtigungen durch Übergriffe Dritter oder den Beeinträchtigungen im Zusammenhang mit einem wirksamen polizeilichen Schutz. Polizeilicher Zeugenschutz bildet hier das mildere Mittel, die Frage der Zumutbarkeit hat der Betroffene bereits mit seinem bewußten Ausstieg beantwortet. Die Zeugenpflicht trifft den Aussteiger erst, nachdem er sich durch seinen Ausstieg bewußt einer Gefährdung ausgesetzt hat. Aber auch in den Fällen, in denen ein Szenemitglied unfreiwillig Zeuge wird, ist zu berücksichtigen, daß sich in der Gefahrdung ein Risiko realisiert, daß der Zeuge bewußt eingegangen ist, als er sich dazu entschlossen hat, in eine kriminelle Szene einzusteigen und sich deren Regeln zu unterwerfen. Diese Mitverantwortung für die Gefahrschaffung begründet eine erhöhte

99

Zu den Grenzen der Zeugenpflicht oben S. 141 ff.

2. Abschnitt: Stellungnahme

181

Gefahrtragungspflicht und damit die Zumutbarkeit von Maßnahmen zur Gefahren^ we/zr. 100 Als Ergebnis kann daher festgestellt werden, daß polizeiliche Zeugenschutzprogramme lediglich dann in Betracht kommen, wenn es sich bei der Person des Zeugen um einen sog. Aussteiger oder ein sonstiges Mitglied einer kriminellen Szene handelt. Dem bloßen Zufallszeugen ist die Teilnahme an derartigen Schutzprogrammen nicht zuzumuten. B. Geographische Grenzen Die Schutzmöglichkeiten der Polizei enden in der Regel an den deutschen Grenzen. Polizeilicher Zeugenschutz stellt damit für ausländische Betroffene, die von Landsleuten bedroht werden, keine Lösung dar. Gefährdet sind in diesen Fällen nämlich auch die in der Heimat befindlichen Angehörigen des Zeugen. Unabhängig von der Frage, ob diesen unbeteiligten Personen polizeiliche Zeugenschutzmaßnahmen zumutbar wären, fehlt es der deutschen Polizei an Möglichkeiten, auf einen wirksamen Schutz dieser Personen Einfluß zu nehmen.101 C. Finanzielle und personelle Grenzen Wenn über die Grenzen polizeilicher Zeugenschutzprogramme gesprochen wird, so muß auch auf die begrenzten personellen und finanziellen Mittel, die hierfür zur Verfügung stehen, hingewiesen werden. Ein wirksamer Zeugenschutz ist nicht nur mit erheblichem Zeit- und Organisationsaufwand, sondern auch mit erheblichen Kosten verbunden. 102 Die finanziellen Grenzen des Zeugenschutzes können sehr schnell erreicht werden, wenn ein Zeuge umgesiedelt werden muß, kosmetische Operationen vorgenommen werden müssen oder wenn eine neue Existenzgrundlage für den Zeugen und seine Familie aufzubauen ist. Besondere Kosten fallen an, wenn selbständige Unternehmer - z.B. als Opfer von Schutzgelderpressungen - in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden. In den meisten Fällen hat der Betroffene seine geschäftlichen Aktivitäten erheblich einzuschränken oder ganz einzustellen. "In Ermangelung anderer Kostenträger wird die Polizei Adressat für den Ausgleich derartiger Verluste." 1 0 3

100 101

Zum Kriterium der Mitverantwortung für die Gefahrdungslage vgl. S. 137. AG Kripo, Kriminalistik 1995, 319; ebenso Fätkinhäuer, Kriminalistik 1994,

263. 102 Vgl. nur Freiberg/Thamm, Das Mafia-Syndrom, S. 232; Kr ehi, NJW 1991, 86; Lenhard, Politische Studien, Sonderheft 3/1993, S. 50. 103 AG Kripo, Kriminalistik 1995, 320.

182

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

Häufig stehen den Zeugenschutzdienststellen keine eigenen Mittel zur Verfugung, die Maßnahmen werden aus anderen Kostenstellen, z.B. "Personenfahndung", mitfinanziert. Krehl gibt daher zu Recht zu bedenken, daß es fraglich erscheint, ob die Vorgaben der Zeugenschutzrichtlinien tatsächlich umgesetzt werden, solange nicht besondere Kostenstellen für den zusätzlichen (Gefahr-)Ermittlungsaufwand von Beamten und die Durchführung personalund kostenintensiver Schutzvorkehrungen, wie z.B. eines Wohnungswechsels, zur Verfügung stehen. 104 Insgesamt zeigt sich damit, daß polizeiliche Zeugenschutzprogramme nur den Schutz einer kleinen Gruppe von Zeugen gewährleisten können. 1 0 5 Polizeilicher Zeugenschutz ist also kein Allheilmittel, um die Probleme, die sich aus der Gefahrdung von Zeugen ergeben, zu lösen. Geradezu zynisch mutet es daher an, wenn zum Teil die Ansicht vertreten wird, das Problem der Zeugengefährdung sei ausschließlich ein Problem effektiven Zeugenschutzes, was bereits der Umstand zeige, daß eine Reihe von Politikern und hoher Beamter stark gefährdet seien, aber dennoch weiterhin ihrer Tätigkeit nachgingen. 106

2. Kapitel: Strafprozessuale Problematik A. Zeugenschutz als Vorteil im Sinne § 136 a StPO Nach § 136 a Abs. 1 S. 3, 2. Alt. i.V.m. § 69 Abs. 3 StPO ist es verboten, einem Zeugen als Gegenleistung für seine Aussage einen gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteil zu versprechen. Da der polizeiliche Zeugenschutz gesetzlich nicht geregelt ist, liegt der Einwand nahe, die Schutzzusage sei ein unzulässiges Vorteilsversprechen. Wie sich zeigen wird, ist die Problematik des § 136 a StPO jedoch von vornherein auf einen bestimmten Zeugentyp beschränkt.

104 Krehl, NJW 1991, 86. Kritisch zur derzeitigen personellen und finanziellen Lage der Zeugenschutzdienststellen auch Freiberg/Thamm, Das Mafia-Syndrom, S. 230 f. 105 Graham , Witness Intimidation, S. 88 f. zieht hierzu folgendes Fazit: "Thus although the Witness Protection Program ist of great help to a few potentially intimidated witnesses who find themselves in particularly threatening circumstances, it is of no help at all to the overwhelming majority of witnesses whose cooperation is essential to the day-to-day operations of the criminal justice system." 1 0 6

Plähn, StV 1981, 217; Taschke , StV 1985, 271, Fn. 33.

2. Abschnitt: Stellungnahme

183

I. Vorteilsversprechen Für den "normalen" Zeugen, der selbst nicht in die Tat verstrickt ist und dessen Gefahrdung ausschließlich darauf beruht, daß der Staat ihn als Beweisperson in die Pflicht nimmt, stellen die Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes schon keinen "Vorteil" dar. Denn Vorteil im Sinne § 136 a StPO ist nur ein als Vergünstigung erlebter Umstand, dessen Inaussichtstellung die Entscheidung über das Ob und Wie der Aussage beeinflußt. 107 Für diese Person führen die durch die Aussage hervorgerufene Gefahrdungslage und die damit verbundenen Maßnahmen, wie z.B. Begleitschutz, Umsiedlung und Identitätsänderung, zu einer eklatanten Verschlechterung ihrer Situation. Wird einem derartigen Zeugen polizeilicher Schutz angeboten, so wird er nicht mit einem Vorteil zu seiner Aussage gelockt, es wird vielmehr versucht, die Nachteile, die ihm aus der Aussage erwachsen, so gut wie möglich zu kompensieren. 108 In Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes hier einen Vorteil zu sehen, wäre genauso widersinnig wie die Entschädigung des Zeugen nach dem ZSEG als Vorteil zu bewerten. 109 Anders verhält es sich dagegen bei Personen, die aus eigenem Antrieb den Schutz der Polizei suchen, z.B. weil sie aus einer kriminellen Szene aussteigen wollen oder aus anderen Gründen Racheakte zu befürchten haben. Als Beispiel kann das Mitglied eines Rauschgiftringes angeführt werden, das sich hilfesuchend an die Polizei wendet, weil es nach der Unterschlagung von Drogengeldern um sein Leben fürchtet. Hier kann die Aussage das Mittel sein, um den angestrebten Schutz zu erhalten. Der Umstand, auf Kosten des Staates umgesiedelt zu werden und eine neue Identität zu erhalten, stellt für diese Personen eine Vergünstigung dar, die die Entscheidung über das Ob und Wie der Aussage beeinflußt. Für diese Personen ist das polizeiliche Schutzversprechen ein Vorteil i m Sinne § 136 a StPO. Dieser Vorteil muß dem Aussteiger als Gegenleistung für seine Aussage versprochen werden. Hier ließe sich argumentieren, daß die betroffenen Zeugen nicht geschützt werden, weil sie aussagen, sondern weil sie gefährdet sind und die Schutzzusage schon aus diesem Grunde nicht als Gegenleistung für die Aussage in Betracht kommt. Damit wird jedoch nur ein Aspekt der poli10 7

108

AK/Kühne,

§ 136 a Rdn. 49; LR/Hanack, § 136 a Rdn. 50.

Dies gilt auch für die Opfer von Schutzgelderpressungen, die sich durch ihre Aussage und die damit verbunden Schutzmaßnahmen u.U. von der Geißel der Erpressung befreien können. Die persönlichen und wirtschaftlichen Nachteile, die sie durch ihre Aussage erleiden, stehen in keinem Verhältnis zu der Zahlungsverpflichtung gegenüber der Erpresserorganisation. 109 Dazu, daß die Kompensation von Nachteilen, die durch die Zeugenrolle entstehen, keinen Vorteil im Sinne § 136 a StPO darstellt, vgl. bereits BVerfG, NJW 1984, 428, 429.

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

184

zeilichen Zeugenschutzprogramme in den Blick genommen, wie das oben angeführte Beispiel des Bandenmitgliedes zeigt, das sich hilfesuchend an die Polizei wendet, weil es nach der Unterschlagung von Drogengeldern um sein Leben fürchtet. Dieses Bandenmitglied würde ohne seine Aussage vielleicht den Rat bekommen, zu Bekannten zu ziehen und in Zukunft gut auf sich aufzupassen. Auf Polizeikosten zusammen mit seiner Familie sicher untergebracht und mit neuer Identität versehen, wird das Bandenmitglied nur, wenn es bereit ist auszusagen. Da die Schutzzusage mit der Aussagebereitschaft verknüpft ist, ist sie als Gegenleistung für die Aussage zu bewerten. II. Vorteil gesetzlich nicht vorgesehen Der Wortlaut des § 136 a Abs. 1 S. 3 StPO, "das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehen Vorteils ist verboten", legt es nahe, alle Vorteilsversprechungen als verboten anzusehen, die von der Strafprozeßordnung oder anderen Gesetzen nicht ausdrücklich zugelassen sind. 1 1 0 Da eine gesetzliche Regelung des polizeilichen Zeugenschutzes fehlt, handelt es sich nach dieser Ansicht bei den von der Auskunftsperson erstrebten Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes um gesetzlich nicht vorgesehene Vorteile. Demgegenüber wird von der wohl inzwischen herrschenden Meinung der Wortsinn des § 136 a StPO umgekehrt und als "gesetzlich nicht vorgesehen" nicht mehr das anerkannt, was von dem Gesetz nicht vorgesehen ist, sondern nur das, was gesetzlich verboten i s t . 1 1 1 Wird dieser Schritt vollzogen, so ist das Ergebnis vorgegeben: "Da die Gewährung finanzieller Unterstützung keiner gesetzlichen Grundlage bedarf, verstößt sie nicht gegen das Verbot der Gewährung gesetzlich nicht vorgesehener Vorteile." 1 1 2 Es handelt sich vielmehr "um gesetzlich nicht geregelte, aber gesetzlich nicht unzulässige Vorteile". 1 1 3 Begründet wird diese einschränkende Interpretation damit, daß der

1 1 0

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 136 a Rdn. 23; KMR/Müller,

§ 136 a Rdn. 15.

Anschaulich^. Schmidt, Lehrkommentar, § 136 a Rdn. 18: Um zu klären, was unter dem Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils zu verstehen ist, ist die Gegenfrage zu stellen, was denn insoweit erlaubt sei. Die StPO sieht aber keine obligatorisch oder fakultativ zu gewährenden Vorteile vor. 111

LR/Hanack,

§ 136 a Rdn. 52; AK/Kühne, § 136 a Rdn. 51 macht die Ein-

schränkung, daß zwischen dem nicht verbotenen Vorteil und der Aussage ein sachlicher Zusammenhang bestehen muß. 112

113

SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 70.

Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1191, unter Hinweis auf LG Frankfurt, Beschl. v. 7.7.1987, 80 Js 21700/86 Kls. Auch der Bundesrat sah in der Begründung seines Entwurfs zum OrgKG hierin offenbar kein Problem, sondern stellte lapidar fest: "Solche Maßnahmen sind keine unzulässigen Vorteile im Sinne der § 69 Abs. 3, § 136 a Abs. 1 Satz 3. Sie ergeben sich aus der Schutzpflicht des Staates gegenüber

2. Abschnitt: Stellungnahme

185

Sinn des § 136 a StPO nicht darin liege, jede Willensbeeinflussung zu verhindern, sondern nur den Druck, der von Gesetzes wegen untersagt i s t . 1 1 4 Das Versprechen eines nicht verbotenen Vorteils enthalte keine unlautere Beeinflussung, also nichts, was das Gesetz sinnvollerweise verbieten könnte. 1 1 5 Von der StPO nicht vorgesehen sind danach nur die Vorteile, die gegen Gesetze verstoßen. Alle Vorteile, die nicht gegen Gesetze verstoßen und auch nicht willkürlich sind, sind dagegen auch von der StPO vorgesehen. 116 In der Tat mag man sich darüber streiten, ob es sinnvoll ist, alle Vorteilsversprechungen zu verbieten, die vom Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen sind. Der Gesetzgeber jedoch hat diesen Streit durch die Formulierung des § 136 a Abs. 1 S. 3 StPO entschieden. Für die Situation des Aussteigers ist damit festzuhalten, daß es sich bei den Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes um gesetzlich nicht geregelte, also vom Gesetz nicht vorgesehene Vorteile handelt, die nach § 69 Abs. 3 i.V.m. § 136 a Abs. 1 S. 3 StPO verboten sind. Der Vorschlag von Rebmann/Schnarr 117 , § 69 Abs. 3 StPO dahin zu ändern, daß Leistungen i m Rahmen von erforderlichen Zeugenschutzmaßnahmen keine unzulässigen Vorteile i m Sinne § 136 a StPO sind, zeigt, daß sich die Praxis der Problematik durchaus bewußt ist. Wesentlich sinnvoller erscheint es dann aber, die Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes selbst gesetzlich vorzusehen. B. Glaubwürdigkeitsproblematik Die besondere Situation, in der sich ein unter polizeilichem Schutz stehender Zeuge befindet, kann Bedenken gegen seine Glaubwürdigkeit begründen. I. Aussagemotivation Verfälschungsgefahren können sich hierbei aus unterschiedlichen Motivationslagen ergeben. Bedeutung erlangen kann z.B. die Schutzmotivation des Zeugen. Wer von seiner Aussage Vorteile erhoffen kann, sagt gern, was ge-

dem Bürger und der Pflicht der Polizei zur Gefahrenabwehr", vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 35. 114

AK/Kühne,

115

LR/Hanack, § 136 a Rdn. 52.

§ 136 a Rdn. 51 a.

116

Vgl. z.B. Beulke, Strafprozeßrecht, Rdn. 140: "Soweit die Gewährung von Vorteilen im Ermessen der Strafveifolgungsbehörden steht, sind diese 'gesetzlich vorgesehen', auch wenn von dem eingeräumten Ermessen taktisch Gebrauch gemacht wird, um den Beschuldigten zu einem Geständnis zu veranlassen." 117

Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1191.

186

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

f a l l t . 1 1 8 Nicht von der Hand zu weisen ist daher die Gefahr, daß ein Zeuge, der - aus welchen Gründen auch immer - ein persönliches Interesse an polizeilichem Schutz hat, einen Beschuldigten übermäßig belastet, um überhaupt i n das Programm zu k o m m e n . 1 1 9 Verfälschungsgefahren können weiter dadurch entstehen, daß sich die Schutzperson "der Polizei" gegenüber verpflichtet fühlt, da diese auch ihr geholfen hat. Aus der Sicht des Zeugen kann sich auch eine falsche oder übertriebene Anschuldigung als eine Unterstützung der Polizeiarbeit darstellen, insbesondere wenn die Polizei erst auf Grund dieser Aussage Einblicke i n eine kriminelle Szene erhält. 1 2 0 Nicht übersehen werden darf weiter, daß sich der Zeuge i n einer Zwangslage befinden kann, die es ihm geradezu unmöglich macht, eine unrichtige belastende Angabe, durch die er sich Zugang zum Zeugenschutzprogramm verschafft hat, vor Gericht zu korrigieren. 1 2 1 Ein Widerruf der vor der Polizei gemachten Anschuldigungen kann das Ende der polizeilichen Unterstützung bedeuten, während die Möglichkeit, i n das bisherige Milieu zurückzukehren, durch die Zusammenarbeit mit der Polizei ausgeschlossen i s t . 1 2 2 Nicht unterschätzt werden darf schließlich die psychologische Wirkung, die der polizeiliche Begleitschutz auf das Aussageverhalten des Zeugen ausüben kann. Ein Zeuge, der eingerahmt von Leibwächtern seine Aussage macht oder seine Beschützer sonst i n seiner Nähe weiß, fühlt sich nicht nur gegenüber potentiellen Angreifern sicher, sondern auch gegenüber den Fragen des Gerichts und der Verteidigung. IL Aussageabsprachen Ein weiteres Problem stellt die Gefahr dar, daß Zeugenschutzbeamte - bewußt oder unbewußt - Einfluß auf das Verhalten des Zeugen i m Prozeß nehm e n . 1 2 3 Diesem Problem kann nicht mit dem Hinweis begegnet werden, daß die Zeugenschutzbeamten angewiesen sind, mit ihrer Schutzperson nicht über den Gegenstand der Zeugenaussage zu sprechen. Die Gefahr, daß ein Beamter diese Anweisung nicht oder nicht ausreichend beherzigt, bleibt bestehen und

118

Jaeger , Der Kronzeuge, S. 89. Zur ähnlich gelagerten Glaubwürdigkeitsproblematik der Kronzeugenregelung vgl. Behrendt, GA 1991, 357 ff; Denny , ZStW 103 (1991), 302 ff; Hassemer, StV 1986, 552; Hoyer, JZ 1994, 237; Lammer, ZRP 1989, 252. Zur Aussagemotivation von Zeugen in Rauschgift-Verfahren eingehend Beck, Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, S. 65 ff, 81 ff. 119 Hierzu Eisenberg, StV 1993, 627. 12 0

Eisenberg, StV 1993, 627.

121

Zieger, Berliner Anwaltsblatt 1992, 8.

12 2

Eisenberg, StV 1993, 627.

123

Eisenberg, StV 1993, 627; Zieger, Berliner Anwaltsblatt 1992, 6. - Zu den Bedenken gegen Trainingsprogramme für Polizeibeamte als Zeugen vgl. Maejfert, Zeugenbetreuung, sowie zuletzt Mai/Köpcke, Kriminalistik 1995, 269.

2. Abschnitt: Stellungnahme

187

ist geradezu in der Situation des Zeugenschutzbeamten, insbesondere des zum Personenschutz eingesetzten Beamten, angelegt. Über was - so fragt zutreffend Hammes - soll sich ein zum Personenschutz abgestellter Beamter mit seinem Schützling unterhalten, wenn nicht über den bevorstehenden Prozeß? 124 Im Rahmen der erforderlichen intensiven persönlichen Betreuung eines Zeugen, der von allen Freunden und Verwandten abgeschottet wird, können sich die Grenzen zwischen Ermittlung und Zeugenschutz für den Beamten nahezu unmerklich verschieben. III. Freie Beweiswürdigung

als Korrektiv?

Diese nicht zu bestreitenden Verfalschungsgefahren sind jedoch kein Grund, auf den geschützten Zeugen als Beweisperson zu verzichten. Wer weiß, wie wenig Wahrheitswert sogar Aussagen von Menschen haben können, deren Wahrhaftigkeit über jeden Zweifel erhaben ist, kann bei einem unter Polizeischutz stehenden Zeugen allenfalls eine gesteigerte Sorgfalt bei der richterlichen Beweiserhebung und -Würdigung fordern, aber keinen Grund sehen, eine entsprechende Beweisaufnahme zu verbieten. Die Glaubwürdigkeit eines unter polizeilichem Schutz stehenden Zeugen ist ein Problem der freien Beweiswürdigung und nicht des polizeilichen Zeugenschutzes.125 In entsprechenden Fällen wird es daher geboten sein, neben dem eigentlichen Zeugen auch den Beamten der Zeugenschutzdienststelle zu vernehmen und ihn zu den Hintergründen der Gefahrenbeurteilung, den im Rahmen des Schutzprogramms erbrachten Leistungen sowie darüber zu befragen, ob und in welcher Weise er mit dem zu schützenden Zeugen über Aussageinhalte gesprochen hat. Eine besondere Brisanz erhält die Glaubwürdigkeitsproblematik dadurch, daß bei der derzeitigen Verfahrensweise keineswegs gewährleistet ist, daß das Gericht von den Ermittlungsbehörden über die Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes unterrichtet wird. Die Aktenvorgänge, die im Zusammenhang mit der Durchführung konkreter Zeugenschutzmaßnahmen anfallen, werden nicht zu den Ermittlungsakten genommen. Das Gericht erfährt nur, auf welchem Wege eine Ladung des Zeugen zur Hauptverhandlung zu bewirken ist. Auf diese Weise kann es passieren, daß das Korrektiv der freien Beweiswürdigung gar nicht zum Zuge kommen kann, weil die Umstände, die frei zu würdigen wären, dem Gericht gar nicht zur Kenntnis gelangen. Für die Zukunft 124

Hammes, Kriminalistik 1986, 57. Für die Situation des Kronzeugen anschaulich Jaeger , Der Kronzeuge, S. 91. Kritisch dagegen Zieger, Berliner Anwaltsblatt, 1992, 8, der die richterlichen Fähigkeiten jedoch unterschätzt, wenn er meint, bereits der Anblick eines von Polizeibeamten zum Gericht begleiteten Zeugen könne selbst den neutralsten Richter befangen machen. 125

188

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

sollte daher die Unterrichtung des Gerichts über polizeiliche Maßnahmen zwingend vorgeschrieben werden. 1 2 6 Einzelheiten, deren Bekanntwerden die Gefahrdungslage des Zeugen verschlechtern würden, wie z.B. der neue Aufenthaltsort oder die neue Identität, sind auszunehmen. 127 Bei allen Bedenken darf jedoch nicht übersehen werden, daß durch den polizeilichen Zeugenschutz in keinem Falle die bestehenden Möglichkeiten der Sachverhaltsaufklärung verschlechtert werden. Die Beweislage wäre ohne Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes vielmehr eine wesentlich schlechtere, weil dann entweder auf den unmittelbaren Zeugenbeweis ganz verzichtet werden müßte oder die Aussage des Zeugen durch eine existentielle Angst bestimmt würde, die eine viel tiefergreifende Verfälschungsgefahr begründet als die Leistungen des Zeugenschutzprogrammes. C. Beschränkung von Verteidigungsrechten Das Interesse des Angeklagten, sich gegen die Aussage eines Zeugen möglichst umfassend zu verteidigen, kann beeinträchtigt werden, wenn dieser Zeuge von der Polizei geschützt wird. Diese Beeinträchtigungen ergeben sich jedoch in den meisten Fällen nicht aus dem Umstand, daß der Zeuge geschützt wird, sondern daraus, daß er an Leib und Leben gefährdet ist, vgl. z.B. §§ 68, 96 StPO. Aufgabe des polizeilichen Zeugenschutzes ist es gerade, die Beeinträchtigungen, die sich aus der Gefahrenlage des Zeugen ergeben, so gering wie möglich zu halten und eine möglichst umfassende und unverfälschte Aussage der gefährdeten Person vor Gericht zu ermöglichen. 128 Dennoch können sich aus den polizeilichen Schutzmaßnahmen spezifische Beeinträchtigungen der Verteidigungsinteressen des Angeklagten ergeben. Die Verteidigungsinteressen eines Angeklagten werden dadurch beeinträchtigt, daß ihm der Umstand verschwiegen wird, daß ein Zeuge in ein poli-

126

Vgl. hierzu § 26 Abs. 2 S. 2 des BKAG-Entwurfes der Bundesregierung, BRDrucks. 94/95, S. 29: "Nach Erhebung der öffentlichen Klage ist das Gericht unverzüglich zu unterrichten, ob das Bundeskriminalamt Maßnahmen nach Absatz 1 durchführt." 127 Eisenberg, StV 1993, 627 Fn. 38, fordert weiter, daß zur Eingrenzung von Mißbrauch bereits vor der Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm überprüft werden sollte, "aus welchen Motiven eine Person 'aussteigen' und aussagen will. Insofern könnte z.B. ermittelt werden, ob es sich um Racheakte der Zeugenperson handelt, die Falsch- und Mehrbelastungen zur Folge haben". 128 Wenn es in der Praxis vorkommt, daß die Polizei Informanten, denen sie Vertraulichkeit zugesagt hat, vor dem Gericht oder der Verteidigung versteckt, so handelt es sich hierbei jedenfalls nicht um eine Maßnahme des Zewgewschutzes. Die mit diesem Vorgehen verbundenen Beeinträchtigungen der Verteidigung sind daher hier nicht zu erörtern, vgl. aber unten S. 312 ff.

2. Abschnitt: Stellungnahme

189

zeiliches Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurde. Die Kenntnis des Leistungsumfanges an den Zeugen versetzt den Angeklagten in die Lage, berechtigte Zweifel an der Zeugenaussage vorzubringen und auf entsprechende Verfälschungskriterien hinzuweisen. Wie bereits im Zusammenhang mit der Glaubwürdigkeitsbeurteilung dargestellt, ist die derzeitige Praxis insoweit unbefriedigend, als nicht sichergestellt ist, daß das Gericht und der Angeklagte über den Hintergrund und den Umfang des polizeilichen Zeugenschutzes informiert werden, wobei es selbstverständlich ist, daß Einzelheiten, deren Bekanntwerden den Zeugen gefährden würden, nicht mitzuteilen sind. Abzulehnen sind dagegen Forderungen, die Unterlagen und Aktenvorgänge des polizeilichen Zeugenschutzes umfassend zu den Verfahrensakten zu nehmen, so daß sich das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers, § 147 StPO, auch auf diese Unterlagen erstreckt. Der Umstand, daß ein Zeuge geschützt wird, ist weder Gegenstand des Strafverfahrens 129 , noch handelt es sich um einen Vorgang, der im Rahmen eines durch die Tat konkretisierten Sachverhaltes angefallen ist. Auslöser des Zeugenschutzes ist nicht das Strafverfahren, sondern die persönliche Gefährdung des Zeugen. Die Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes verhindern, daß auf den Zeugen von Seiten des Beschuldigten oder seines Umfeldes in unredlicher und krimineller Weise eingewirkt wird. Insoweit ist kein anerkennenswertes Verteidigungsinteresse tangiert. Der Verteidiger hat aber regelmäßig auch keine Möglichkeit, sich in redlicher Absicht mit dem versteckt gehaltenen Zeugen vor der Hauptverhandlung zu treffen. Das Gewicht dieser Beeinträchtigung erscheint jedoch gering, wenn man bedenkt, daß der Verteidiger den Inhalt der Aussage aus den Akten erfährt und er den Zeugen in der Hauptverhandlung umfassend befragen kann. Wird ein Zeuge an einen geheimen Ort umgesiedelt, so ist der Verteidigung bereits aus diesem Grunde die Möglichkeit verwehrt, an dem jeweiligen Aufenthaltsort Nachforschungen über die Person des Zeugen anzustellen. Die Verteidigungsinteressen werden hierdurch jedoch in aller Regel nicht beeinträchtigt, da es sich bei den polizeilich umgesiedelten Zeugen fast ausschließlich um Aussteiger aus einer kriminellen Szene handelt. Der Beschuldigte kennt die Person des geschützten Zeugen daher meist besser als jeder sonstige Verfahrensbeteiligte.

3. Kapitel: Zeugenschutz de lege ferenda Polizeiliche Zeugenschutzprogramme sind keine Wunderwaffe, um die Probleme der Zeugengefährdung zu lösen. Sie stellen aber ein wirksames Mit129

Dies übersieht Zieger, Berliner Anwaltsblatt 1992, 5, wenn er fragt: "Woher nimmt die Polizei das Recht, wesentliche Verfahrensgegenstände und Verfahrensakten dem Gericht vorzuenthalten?"

190

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

tei dar, um Personen, die in eine kriminelle Szene verstrickt sind, als Beweispersonen zur Sachverhaltsaufklärung in einem Strafverfahren zu gewinnen. Die derzeitige Praxis des polizeilichen Zeugenschutzes leidet jedoch an erheblichen Mängeln. Zu kritisieren sind insbesondere das derzeitige Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für Zeugenschutzmaßnahmen des Bundeskriminalamtes sowie die fehlende gesetzliche Grundlage für Identitätsänderungen. Verbesserungsbedürftig erscheint darüber hinaus die personelle und organisatorische Trennung von allen Ermittlungsaufgaben sowie die nötige Transparenz gegenüber allen Organen der Rechtspflege. 130 A. Einheitliches "Zeugenschutzgesetz" Der Zeugenschutz in Deutschland sollte bundeseinheitlich geregelt werden. Die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers ergibt sich hierbei aus Art. 72 i.V.m. Art. 74 Nr. 1 GG. Eine Regelung des polizeilichen Zeugenschutzes allein im Bereich der (länder-)polizeilichen Gefahrenabwehr würde der strafprozessualen Bedeutung der Schutzprogramme nicht gerecht. 131 Das Ziel der Zeugenschutzprogramme ist die Sicherung des Strafverfahrens unter anderem durch Gefahrenabwehr. Auslöser des Zewgeflschutzes ist nicht die Gefährdung der Person, sondern ihre Bedeutung als Auskunftsperson. 132 Dies wird deutlich, wenn man sich das Achselzucken vor Augen hält, mit dem die Polizei auf die Mitteilung sonstiger persönlicher Gefährdungslagen reagiert. 133 Die Leistungen werden gegenüber gefährdeten Zeugen erbracht, um deren grundsätzliche Aussagebereitschaft im Hinblick auf ein Strafverfahren herbeizuführen und aufrechtzuerhalten. Aus Gründen der Übersichtlichkeit sollte eine umfassende Regelung des Zeugenschutzes nicht in der StPO, sondern in einem eigenen Zeugenschutzgesetz erfolgen. In die StPO sollte daher nur ein Hinweis auf das Zeugenschutzgesetz aufgenommen werden, z.B. § 69 Abs. 4 StPO: "Steht zu befürchten, daß auf die Aussagefähigkeit oder -bereitschaft einer Auskunftsperson von dritter Seite durch 130

Hierzu auch Plewka y Zeugenschutz, S. 63. Freiberg/Thamm, Das Mafia-Syndrom, S. 231; Plewka, Zeugenschutz, S. 60; Sielaff, Kriminalistik 1986, 60; Soiné/Soukup , ZRP 1994, 469. 132 Schnarr, Kriminalistik 1990, 296: "Der Zeuge ist nicht nur ein gefährdeter Bürger, dem aus Gründen der Gefahrenabwehr Schutz zu gewähren ist. Er ist in erster Linie ein Beweismittel... ." 133 Davon, daß tyrannisierte Ehefrauen auf Kosten der Polizei in Hotels untergebracht, mit ihren Kindern an einen sicheren Ort umgesiedelt oder von der Polizei mit einem neuen Arbeitsplatz versorgt werden, ist nichts bekannt. 131

2. Abschnitt: Stellungnahme

191

Gewalt oder Drohung Einfluß genommen wird, können zu ihrem Schutz Maßnahmen getroffen werden. Das Nähere regelt das Zeugenschutzgesetz." B. Regelungsgegenstand L Ziele In Anlehnung an die Richtlinien zum Schutz gefährdeter Zeugen sollte das Ziel der Zeugenschutzprogramme, die Aussagefähigkeit und -bereitschaft einer Auskunftsperson bis zu deren Vernehmung in der Hauptverhandlung aufrechtzuerhalten, gesetzlich festgeschrieben werden. Hierbei sollte klargestellt werden, daß polizeiliche Informanten und V-Personen, deren Auftreten vor Gericht aus polizeitaktischen Gründen verhindert werden soll und denen Vertraulichkeit zugesagt wurde, nicht unter das Zeugenschutzgesetz fallen. Geregelt werden sollten ferner die Gründe für eine Beendigung des Zeugenschutzprogrammes (zwingend bei Wegfall der Gefahr, in das Ermessen gestellt bei Verstößen gegen Auflagen). IL Maßnahmen Es erscheint nicht sinnvoll, die Maßnahmen der polizeilichen Zeugenschutzprogramme abschließend zu regeln, da gerade hier auf die Besonderheiten des jeweiligen Gefährdungsfalles eingegangen werden muß. Zwingend gesetzlich geregelt werden müssen aber sämtliche Maßnahmen einer Identitätsänderung. Von einer Änderung der Personenstandsbücher, wie sie vom Bundesrat vorgeschlagen wurde 1 3 4 , sollte Abstand genommen werden, da hierdurch der öffentliche Glaube der Personenbücher beeinträchtigt würde, ohne daß dies für den Schutz des Zeugen unbedingt erforderlich wäre. Damit ein Zeuge unter einer neuen Identität sicher leben kann, genügt es in aller Regel, ihn mit falschen Personalien und entsprechenden Dokumenten auszustatt e n . 1 3 5 Vorgeschlagen wird folgende Regelung: "Soweit der Schutz eines Zeugen oder einer ihm nahestehenden Person vor einer konkreten Gefährdung des Lebens oder einer erheblichen Beeinträchtigung der Gesundheit oder der persönlichen Freiheit nicht durch andere Maßnahmen möglich ist, kann die von der Landesregierung bestimmte Stelle diesen Personen eine auf Dauer angelegte, veränderte Identität (Legende) verleihen. Soweit es für den 134

Vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 16. Für ein Ausstellen, aber gegen die Verwendung solcher Urkunden im Rechtsverkehr Schmoller, ÖJZ 1996, 29. 135

192

3. Teil: Polizeilicher Zeugenschutz

Aufbau oder die Aufrechterhaltung der Legende unerläßlich ist, dürfen entsprechende Urkunden hergestellt, verändert und gebraucht werden." 1 3 6 Empfehlenswert erscheint darüber hinaus eine Regelung hinsichtlich des Rahmens von finanziellen Unterstützungen (z.B. Überbrückungshilfe, Zuschüsse zur Beschaffung einer neuen Wohnung) und sonstiger geldwerter Zuwendungen (z.B. Übernahme der Kosten einer Umsiedlung). Durch eine derartige Regelung würde jeder Zweifel darüber beseitigt, daß es sich bei den Zuwendungen um gesetzlich vorgesehene Vorteile i m Sinne § 136 a StPO handelt. III. Organisation 1. Trennungsprinzip Das oben dargestellte Verfahren zur Aufnahme und Durchführung von Zeugenschutzmaßnahmen ist sachgerecht und sollte entsprechend den Richtlinien zum Schutz gefährdeter Zeugen in das Zeugenschutzgesetz übernommen werden. Das Gesetz sollte den Grundsatz der Trennung von zeugenschützender und ermittelnder Polizeitätigkeit ausdrücklich normieren: "Die Zeugenschutzdienststellen sind organisatorisch selbständig zu führen. Sie dürfen ermittelnden Polizeistellen auch nicht zugeordnet sein. Die Beamten sind von Ermittlungstätigkeiten in allen Verfahren, die die Schutzperson als Auskunftsperson betreffen, freizustellen." 2. Beteiligung von Staatsanwaltschaft

und Gericht

Die Staatsanwaltschaft ist über alle Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes zu informieren, die Auswirkungen auf das Strafverfahren zeitigen können. In Anlehnung an die Regelung der gemeinsamen Richtlinien über die

136

Ähnlich der Vorschlag von Soiné/Soukup , ZRP 1994, 470, für eine Neufassung des § 68 Abs. 5 StPO: "Besteht Anlaß zur Besorgnis, daß durch die Offenbarung der wahren Identität Leib, Leben oder Freiheit des Zeugen oder einer anderen Person gefährdet wird, dürfen die zuständigen Behörden zur Geheimhaltung der Identität oder des Wohn- oder Aufenthaltsortes geeignete Urkunden herstellen oder verändern. Die Teilnahme am Rechtsverkehr und der Gebrauch solcher Urkunden ist zulässig." - Zur Rechtslage in Italien vgl. Orlandi , Zeugenschutz, S. 102 f. Durch das Gesetz Nr. 82/1991 wird die Regierung verpflichtet, den rechtlichen Rahmen für einen Identitätswechsel festzulegen. Über den Identitätswechsel entscheidet der Innenminister im Einvernehmen mit dem Justizminister.

2. Abschnitt: Stellungnahme

193

Inanspruchnahme von Informanten u . a . 1 3 7 wird für eine Regelung folgender Wortlaut vorgeschlagen: "Die ermittelnde Polizeidienststelle darf Maßnahmen des Zeugenschutzes nur mit Einwilligung der Staatsanwaltschaft beantragen. Bei Gefahr im Verzug ist die Staatsanwaltschaft unverzüglich zu unterrichten. Vor der Entscheidung über eine Umsiedlung, Identitätsänderung sowie über den Umfang der geldwerten Zuwendungen hat die Zeugenschutzdienststelle das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft herzustellen. Die ladungsfähige Anschrift, nicht aber der Aufenthaltsort oder die neue Identität, ist mitzuteilen." In einem Strafverfahren führt jede Art von staatlicher Geheimniskrämerei zu kaum widerlegbaren Spekulation, die bei der Urteilsfindung berücksichtigt werden müssen. Um den Beweiswert der Zeugenaussage nicht unnötig zu relativieren, sollten alle Organe der Rechtspflege davon Kenntnis erlangen, aus welchen Gründen ein Zeuge an einem Schutzprogramm teilnimmt und welche Zuwendungen er von polizeilicher Seite erhalten bzw. zu erwarten hat. "In den Ermittlungsakten ist zu vermerken, aus welchen Gründen der Zeuge in das Schutzprogramm aufgenommen wurde und in welchem Umfang er geldwerte Zuwendungen erhalten hat oder diese vorgesehen sind." 3. Aufgabenzuweisung fur Bundeskriminalamt Dringend erforderlich ist es, dem Bundeskriminalamt eine eigene Befugnis zum Zeugenschutz einzuräumen. Hierzu bietet sich die Übernahme des BKAG-Entwurfes der Bundesregierung a n 1 3 8 : "§ 6 Zeugenschutz Abs. 1: In den Fällen des § 4 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 und Abs. 2 Satz 1 obliegt dem Bundeskriminalamt der Schutz von Personen, deren Aussage zur Erforschung der Wahrheit von Bedeutung ist oder war. Gleiches gilt für deren Angehörige und sonstige ihnen nahestehende Personen. Das Bundeskriminalamt unterrichtet die zuständigen Landeskriminalämter unverzüglich von der Übernahme des Zeugenschutzes. Abs. 2: In Einzelfällen können Zeugenschutzmaßnahmen im Einvernehmen zwischen dem Bundeskriminalamt und einem Landes137 138

Vgl. Anlage D zur RiStBV, dort Nr. I. 5. BR-Drucks. 94/95, S. 6.

13 Zacharias

3. Teil: PolizeilicherZeugenschutz

kriminalamt durch Polizeibeamte dieses Landes durchgeführt werden. Die Verpflichtung anderer Polizeibehörden, die zur Abwehr von Gefahren erforderlichen unaufschiebbaren Maßnahmen zu treffen, bleibt unberührt."

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz Durch die Übernahme der Zeugenrolle kann eine Person auf dreierlei Weise gefährdet werden, und zwar -

durch die Informationen, die sie als Zeuge preiszugeben hat,

-

durch den äußeren Rahmen der Vernehmung sowie

-

durch die Art, wie mit den Zeugeninformationen umgegangen wird.

Im folgenden soll untersucht werden, welche Möglichkeiten das derzeitige Prozeßrecht bietet, um eine Person vor diesen - mit der Zeugenstellung verbundenen - Gefährdungen zu schützen.

1. Abschnitt: Schutz des Zeugen im Ermittlungsverfahren Das Thema "Zeugenschutz" wird überwiegend im Zusammenhang mit der Gestaltung des Hauptverfahrens diskutiert. Diese Schwerpunktsetzung erscheint insoweit berechtigt, als das Hauptverfahren seinem Wesen nach ein kontradiktorisches Verfahren ist und deshalb geprägt ist von weitreichenden Teilhaberechten des Angeklagten und von Verfahrensgrundsätzen, die sich negativ auf die Gefährdungslage des Zeugen auswirken können. Das Ermittlungsverfahren hat dagegen den Zweck, von staatlicher Seite aus den Tatverdacht zu klären und das Hauptverfahren vorzubereiten: "In seiner Natur liegt es, daß es nicht von Beginn an 'offen', d.h. unter Bekanntgabe aller ermittelten oder auch nur den Anfangsverdacht begründenden Tatsachen geführt werden kann. Sachverhaltserforschung und Wahrheitsfindung, zentrale Anliegen des Strafverfahrens, würden sonst von vornherein regelmäßig untragbaren Erschwernissen und Verdunklungsmöglichkeiten ausgesetzt. ... Von Rechtsstaats wegen ist es danach im Blick auf die Erfordernisse einer wirksamen und funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die Gerechtigkeit nicht durchgesetzt werden kann, nicht zu beanstanden, der

13*

196

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Staatsanwaltschaft i m Ermittlungsverfahren gleichsam einen Informationsvorsprung einzuräumen." 1 Für den Zeugenschutz ist die Gestaltung des Ermittlungsverfahrens dennoch von erheblicher Bedeutung, denn gerade in diesem Verfahrensabschnitt werden häufig die Weichen für den Zeugenschutz im weiteren Verfahren gestellt.

1. Kapitel: Der äußere Rahmen der Vernehmung A. Vernehmung durch Staatsanwaltschaft/Polizei Bei der Vernehmung des Zeugen durch die Polizei oder Staatsanwaltschaft haben weder der Beschuldigte noch der Verteidiger ein Recht auf Anwesenheit, vgl. § 163 sowie § 161 a StPO.2 Das bedeutet, daß ein Antrag des Beschuldigten oder seines Verteidigers auf Anwesenheit ohne weitere Begründung abgelehnt werden kann. Ebenso kann einem möglicherweise erschienen Beschuldigten oder Verteidiger die Anwesenheit versagt werden. Erfahrungsgemäß wird der Vernehmungsbeamte die Anwesenheit des Beschuldigten oder seines Verteidigers versagen, wenn er Anhaltspunkte dafür hat, daß der Zeuge hierdurch gefährdet werden könnte, insbesondere wenn die Person des Zeugen ihm ihre Sorge mitgeteilt hat. B. Vernehmung durch den Ermittlungsrichter I. Grundsatz der Anwesenheit § 168 c Abs. 2 StPO formuliert den Grundsatz, daß bei der richterlichen Vernehmung des Zeugen dem Beschuldigten und dem Verteidiger die Anwesenheit zu gestatten ist. Die richterliche Vernehmung eines Zeugen wird im Ermittlungsverfahren deshalb häufig vorgenommen, weil die Niederschrift über diese Vernehmung nach § 251 Abs. 1 StPO auch ohne das Einverständnis des Angeklagten und des Verteidigers verlesen werden kann. Aus diesem Grunde wurde dem Beschuldigten und dem Verteidiger auch die Anwesenheit gestattet.3 § 168 c Abs. 2 StPO verlagert somit das Recht des Angeklagten darauf, sich in der Hauptverhandlung umfassend gegen die Zeugenaussage zu 1 BVerfG, NJW 1984, 1451, 1452. Allgemein zur Gestaltung des Ermittlungsverfahrens Kleinknecht/Meyer-Goßner, Einl. Rdn. 60; LR/Rieß, § 160 Rdn. 35. 2 Zur Kritik an dieser Gesetzeslage vgl. die Nachweise bei Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 62 Fn. 2. 3 BT-Drucks. 7/551, S. 76.

1. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Ermittlungsverfahren

197

verteidigen, nach vorne in das Ermittlungsverfahren, weil zu erwarten ist, daß es in der Hauptverhandlung zu keiner Zeugenaussage mehr kommen wird. 4 Das Recht zur Anwesenheit umfaßt auch das Recht, Fragen an den Zeugen zu stellen. In der Sache handelt es sich daher um ein Teilnahmerecht. 5 Der Richter kann ungeeignete oder nicht zur Sache gehörende Fragen in entsprechender Anwendung des § 241 Abs. 2 StPO zurückweisen. 6 IL Gefährdungsrelevanz Die Gefährdungsrelevanz der Anwesenheit des Beschuldigten liegt vor allem darin, daß der Beschuldigte das äußere Erscheinungsbild des Zeugen kennenlernt. Die optische Wahrnehmung des Zeugen kann für den Beschuldigten die Grundlage möglicher Angriffe bilden. Dies gilt zum einen dann, wenn die Person des Zeugen - z.B. als Zufallszeuge - dem Beschuldigten bislang unbekannt war. 7 In der Praxis bedeutsamer sind dagegen die Fälle, in denen der Beschuldigte die Identität des Zeugen bereits kannte, ihm aber die Verfahrensrolle des Betroffenen als Zeuge unbekannt war. Der Beschuldigte kann die Person des Zeugen auf diese Weise als den bislang unerkannten "Verräter" identifizieren. Insbesondere Informanten aus der "Szene", V-Personen und Verdeckte Ermittler können in Gefahr für Leib und Leben geraten, falls der Angeklagte von ihrem Aussehen bzw. ihrer Eigenschaft als Zeuge Kenntnis erlangt. 8 Das Zusammentreffen mit dem Beschuldigten kann darüber hinaus für Aussteiger aus dem kriminellen Milieu gefährlich werden, die zu ihrem Schutz ihr Aussehen geändert haben.9 Hier wird dem Angeklagten durch seine Anwesenheit die Möglichkeit verschafft, den Zeugen später wiederzuerkennen und auf ihn einzuwirken oder einwirken zu lassen. Neben diesen Risiken hat die Gefahr von Angriffen des Beschuldigten auf den Zeugen während dessen Vernehmung in der Praxis keine Bedeutung erlangt. Auch die Gefahren, die sich für den Zeugen daraus ergeben, daß der Beschuldigte von dem Inhalt der Aussage Kenntnis erlangt, können an dieser Stelle vernachlässigt werden, denn diese Gefahren bestehen im deutschen Strafverfahrensrecht unabhängig davon, ob der Beschuldigte bei der Verneh-

4

Im einzelnen zu den Versuchen, das Anwesenheitsrecht des § 168 Abs. 2 StPO aus der Verfassung abzuleiten, KK/Wache, § 168 c Rdn. 1; Winter, Informationsrechte des Strafverteidigers, S. 76 f. 5 Winter, Informationsrechte des Strafverteidigers, S. 76 f. 6

KK/Wache,

§ 168 c Rdn. 15; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 168 c Rdn. 1. Zu den

Einzelheiten der Regelung des § 241 Abs. 2 StPO siehe unten S 278. 7 Vgl. auch Rieß/Hilger, NStZ 1987, 150. 8

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

9

Vgl. hierzu nur BGHSt 31, 290, 291; Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 104.

§ 247 Rdn. 12; Rieß/Hilger,

NStZ 1987, 150.

198

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

mung anwesend ist, da er spätestens während des Hauptverfahrens über den Inhalt informiert w i r d . 1 0 Für die Gefährdungsrelevanz der Anwesenheit des Verteidigers gilt grundsätzlich dasselbe wie für die Anwesenheit des Beschuldigten. Der Verteidiger erhält die Möglichkeit, die Person des Zeugen optisch wahrzunehmen. Durch Weitergabe dieser Informationen an den Beschuldigten oder sonstige Personen kann der Zeuge identifiziert und damit auch attackiert werden. III. Ausnahmen 1. Ausschluß des Beschuldigten Nach § 168 c Abs. 3 StPO kann der Richter den Beschuldigten von der Anwesenheit ausschließen, wenn "dessen Anwesenheit den Untersuchungszweck gefährden würde". Untersuchungszweck ist die möglichst umfassende und wirksame Aufklärung des tatsächlichen Sachverhaltes mit Hilfe einer Zeugenaussage, die der Wahrheit entspricht und i m Hauptverfahren verwertet werden kann. 1 1 Dieser Zweck kann durch die Anwesenheit des Beschuldigten auf dreierlei Weise gefährdet werden: Der Untersuchungszweck ist zum einen dann gefährdet, wenn eine Aussage der Auskunftsperson als Zeuge überhaupt nur in Abwesenheit des Beschuldigten zu erreichen ist. Dies ist der Fall, wenn eine behördliche Sperrerklärung die Auflage enthält, daß eine gefährdete Auskunftsperson nur unter Ausschluß des Beschuldigten vernommen wird oder wenn der Ermittlungsrichter selbst zu der Erkenntnis erlangt, daß der Zeuge durch die Anwesenheit des Beschuldigten unzumutbar gefährdet wird. Aber auch dann, wenn die Auskunftsperson mitteilt, daß sie im Hinblick auf ihre Gefährdungslage die Aussage verweigern oder sich aus diesem Grund auf ein gesetzlich normiertes Zeugnisverweigerungsrecht berufen w i r d 1 2 , ist eine Aussage nur in Abwesenheit des Beschuldigten zu erreichen. Der Untersuchungszweck ist darüber hinaus gefährdet, wenn - wie S. 2 ausdrücklich hervorhebt - die Gefahr besteht, daß der Zeuge in Anwesenheit des Beschuldigten nicht die Wahrheit sagen werde. Erforderlich sind "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte". In den Fällen, in denen der Zeuge gerade durch die Anwesenheit des Beschuldigten während seiner Vernehmung

10

Tiedemann/Sieber y NJW 1984, 756 halten den Ausschluß des Angeklagten wegen der anschließenden umfassenden Informationspflicht daher für sinnlos. 11 BGHSt 29, 1, 3; vgl. auch LR/Rieß, Vor § 158 Rdn. 7, sowie § 168 c Rdn. 15. 12 Hierzu BayObLG, JR 1978, 173; KK/Wache y § 168 c Rdn. 6 m.w.N.

1. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Ermittlungsverfahren

199

gefährdet wird, liegt die Befürchtung nahe, daß der Zeuge in Gegenwart des Beschuldigten die Wahrheit nicht sagen werde. Der Untersuchungszweck i m weiteren Sinne wird schließlich auch dadurch gefährdet, daß der Beschuldigte das erlangte Wissen dazu nutzt, die weitere Sachverhaltsaufklärung zu vereiteln oder zu erschweren. Für den Wahrscheinlichkeitsgrad einer solchen Gefährdung wird verlangt, daß eine Verdunkelungsmaßnahme des Beschuldigten "nach den Umständen des Einzelfalles in nicht geringem Maße zu erwarten ist" 1 3 . Eine typische Verdunkelungsmaßnahme ist die Einflußnahme auf die Person des Zeugen mit dem Ziel, die bereits gemachte (belastende) Aussage abzuschwächen oder zu widerrufen. Eine derartige Einflußnahme ist "nach den Umständen des Einzelfalles in nicht geringem Maße zu erwarten", wenn tatsächliche Anhaltspunkte für eine Einflußnahme bestehen oder die Einflußnahme nach kriminologischen Erfahrungen ernsthaft zu befürchten ist. Das Gesetz schreibt den Ausschluß des Beschuldigten in diesen Fällen jedoch nicht zwingend vor. Die Entscheidung steht vielmehr in dem Ermessen des Richters. 14 Bei der hier vorzunehmenden Abwägung zwischen dem staatlichen Aufklärungsinteresse und dem Verteidigungsinteresse ist zu berücksichtigen, daß dem Aufklärungsinteresse im Ermittlungsverfahren grundsätzlich der Vorrang einzuräumen ist vor dem Interesse des Beschuldigten, bereits i m vorbereitenden Verfahren den Ausgang des Hauptverfahrens zu determinieren. In der Regel wird der Beschuldigte daher auszuschließen sein, sofern nicht besondere Umstände vorliegen, die seinem Verteidigungsinteresse bereits in diesem Verfahrensabschnitt ein ganz besonderes Gewicht verleihen. 2. Ausschluß des Verteidigers Ein Verteidiger, der zur richterlichen Vernehmung des Zeugen erschienen ist, kann nach dem Gesetz nicht von der Teilnahme ausgeschlossen werden. 3. Nichtbenachrichtigung Der Beschuldigte und sein Verteidiger können ihr Anwesenheitsrecht in der Regel nur wahrnehmen, wenn sie von dem Vernehmungstermin benachrichtigt werden. Nach § 168 c Abs. 5 S. 2 hat die Benachrichtigung zu unterbleiben, "wenn sie den Untersuchungserfolg gefährden würde". Untersuchungserfolg ist die Gewinnung einer wahrheitsgemäßen Aussage, die in einem späteren Verfahrensabschnitt verwertet werden kann. 1 5 Durch die Benachrichti-

13

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 168 c Rdn. 3.

14

A.A LR/Rieß, § 168 c Rdn. 29, der dem Aufklärungsinteresse im Ermittlungsverfahren zwingend den Vorrang einräumen will. 15

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 168 c Rdn. 5.

200

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

gung des Beschuldigten oder dessen Verteidigers kann dieser Untersuchungserfolg zum einen dann vereitelt werden, wenn durch die hiermit verbundene Zeitverzögerung eine Vernehmung des Zeugen verhindert werden würde. Das Ziel, eine wahrheitsgemäße Aussage zu erlangen, wird aber auch dadurch gefährdet, daß der Beschuldigte oder sein Verteidiger die verbleibende Zeit bis zur Vernehmung dazu nutzen würden, um in unlauterer Weise auf die Person des Zeugen und ihr Aussageverhalten einzuwirken. Eine Benachrichtigung kann danach unterbleiben, wenn sie die Gefahr von Repressalien gegen den Zeugen begründet. 16 Es genügt dabei, daß Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß der Zeuge zu einer Falschaussage angehalten werden 1 7 oder unter Druck dazu gebracht werden soll, von einem bestehenden Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen. 1 8 Nach dem Gesetzeszweck unberücksichtigt bleiben muß dagegen die Gefahr, daß der Zeuge i n Anwesenheit des Beschuldigten oder des Verteidigers die Wahrheit nicht sagen werde. Wenn der Beschuldigte und sein Verteidiger tatsächlich ein Anwesenheitsrecht haben, so kann die Nichtbenachrichtigung nicht auf Gründe gestützt werden, die gegen die Anwesenheit dieser Personen sprechen würden, denn sonst würde durch die Nichtbenachrichtigung ein bestehendes Verfahrensrecht bewußt vereitelt. Derartige Versuche, auch den Verteidiger unter den Voraussetzungen des Abs. 3 von der Zeugenvernehmung faktisch auszuschließen, sind mit Wortlaut und Intention der derzeitigen Regelung nicht i n Einklang zu bringen. 1 9 IV. Stellungnahme § 168 c Abs. 3 StPO bietet nur einen mittelbaren Schutz des Zeugen vor Gefahren, die ihm durch die Anwesenheit des Beschuldigten drohen. Das Gesetz knüpft den Ausschluß des Beschuldigten nämlich nicht an die Gefährdung des Zeugen, sondern allein an die Gefährdung der Sachverhaltsaufklärung. Der Zeuge wird nur in den Fällen geschützt, i n denen zu befürchten ist, daß sich die Gefährdungslage negativ auf sein Aussageverhalten auswirkt. Ein wirksamer Schutz des Zeugen vor Gefahren, die sich aus der Anwesenheit des Verteidigers ergeben, ist nach der derzeitigen Gesetzeslage nicht möglich. Dies bedeutet jedoch nicht, daß der Richter den Zeugen i n jedem

16 17

Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 80 f. BGHSt 29, 1, 3; 32, 115, 129, Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 168 c Rdn. 5

m.w.N. 18

So BayObLG, JR 1978, 173 f. Kritisch auch Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 398. Weitergehend allein auf die zeitliche Verzögerung stellen ab LR/Rieß, § 168 c Rdn. 44; Winter, Informationsrechte des Strafverteidigers, S. 86 ff. jeweils m.w.N. 19

1. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Ermittlungsverfahren

201

Falle der Gefahrdungslage schutzlos auszuliefern hat. Würde die Person des Zeugen durch die Anwesenheit des Verteidigers unzumutbar gefährdet, so hat der Ermittlungsrichter aufgrund seiner Fürsorgepflicht gegenüber dem Zeugen von einer Vernehmung insgesamt abzusehen.20 Die Vernehmung wäre in diesen Fällen unverhältnismäßig und daher vom Richter nach § 162 Abs. 3 StPO abzulehnen. 21 Um diese Konsequenz zu vermeiden, sollte auch der Verteidiger von der Vernehmung eines gefährdeten Zeugen ausgeschlossen werden können. Das BVerfG hält einen solchen Ausschluß jedenfalls dann für verfassungsrechtlich unbedenklich, "wenn anders die einer richterlichen Vernehmung entgegenstehenden Gründe nicht ausgeräumt werden können". 22 Die fehlende Möglichkeit des Verteidigers, Fragen an den Zeugen zu stellen, ist von dem Gericht der Hauptverhandlung bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen, sofern das Gericht die Aussage des Zeugen durch Beweissurrogate in das Hauptverfahren einführt. 23 § 168 c Abs. 2 StPO sollte daher wie folgt ergänzt werden: Abs. 2 S. 2: Der Richter kann den Beschuldigten und seinen Verteidiger von der Vernehmung ausschließen, wenn Anlaß zu der Besorgnis besteht, daß ihre Anwesenheit zu einer Gefährdung des Zeugen oder einer anderen Person führt. Abs. 2 S. 3: Der Richter hat den Beschuldigten und seinen Verteidiger auszuschließen, wenn Anlaß zu der Besorgnis besteht, daß ihre Anwesenheit zu einer Gefährdung des Lebens, der Gesundheit oder der Freiheit des Zeugen oder einer anderen Person führt. 2 4

20 Zur Fürsorgepflicht gegenüber dem Zeugen vgl. S. 120 f, zu den Konsequenzen für die Beweisaufnahme S. 141 flf. 21 Hierzu wird es in der Praxis jedoch kaum kommen, da die Staatsanwaltschaft in diesen Fällen bereits den Antrag auf richterliche Vernehmung (§ 162 Abs. 1 S. 1 StPO) aus Fürsorgegesichtspunkten zu unterlassen hat. 22 BVerfGE 57, 250, 287, für den Ausschluß des Verteidigers von der kommissarischen Zeugenvernehmung nach § 223 StPO. Unentschlossen dagegen BT-Drucks. 12/989, S. 35. 23 Siegismund, JR 1994, 254, geht davon aus, daß der Beweiswert der Protokollverlesung einerrichterlichen Vernehmung, bei der der Verteidiger ausgeschlossen war, kaum höher sein wird, als bei der Verlesung eines polizeilichen Vernehmungsprotokolles. - Zu der Problematik der Verwertung einer solchen Aussage im Hauptverfahren vgl. unten S. 304 flf. 24 Zu entsprechenden Reformvorschlägen für die kommissarische Zeugenvernehmung nach § 223 StPO vgl. Soiné/Soukup , ZRP 1994, 466, Fn. 8; Zachert, Kriminalistik 1994, 26.

202

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

C. Sonderproblem: Gegenüberstellung L Vernehmungsgegenüberstellung Ein gefährdender Kontakt mit dem Beschuldigten ergibt sich für den Zeugen zwangsläufig, falls die Staatsanwaltschaft oder der Ermittlungsrichter von der Möglichkeit der Vernehmungsgegenüberstellung, § 58 Abs. 2 StPO, Gebrauch macht. Eine gegenseitige Befragung oder gar ein Streitgespräch zwischen dem Beschuldigten und der Person des Zeugen setzt - zumindest nach derzeitiger Rechtslage - voraus, daß beide räumlich anwesend sind und offen konfrontiert werden. Erfahrungsgemäß bringt ein Zeuge "unter den drohenden Augen des Beschuldigten schon um seiner eigenen Ruhe und Sicherheit willen häufig nur eine dürftige lendenlahme Aussage zustande" 25 , die allenfalls dem anderen Teil der Gegenüberstellung neuen Auftrieb gibt. 2 6 Eine Vernehmungsgegenüberstellung mit einem verängstigten Zeugen beeinträchtigt die Sachverhaltsaufklärung daher mehr, als daß sie ihr durch die Konfrontationsmöglichkeit nutzt. 2 7 Bereits aus diesem Grunde erscheint die Vernehmungsart für das weitere Verfahren nicht geboten und ist deshalb nach § 58 Abs. 2 StPO unzulässig. 28 IL Identifizierungsgegenüberstellung Erfolgt die Gegenüberstellung des Zeugen zu dem Zweck, den Beschuldigten zu identifizieren, so eröffnet die derzeitige Rechtslage eine Vielzahl von Möglichkeiten, um den Zeugen davor zu schützen, selbst identifiziert zu werden. Die Gegenüberstellung kann z.B. durch venezianische Spiegel so gestaltet werden, daß die dem Zeugen gegenübergestellten Personen keine Möglichkeit haben, den Zeugen wahrzunehmen. In geeigneten Fällen kommt die Vorlage von Lichtbildern i n Betracht. Etwas anderes gilt, falls der Zeuge selbst zum Objekt einer Identifizierung gemacht werden soll. In der Praxis werden die Zeugenpflichten darauf erstreckt, sich selbst durch Dritte identifizieren zu lassen, mit anderen Worten,

25

Geerds y Vemehmungstechnik, S. 124. Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 72. 27 In den allermeisten Fällen lassen sich Widersprüche in den Aussagen auch auf andere Weise als durch eine Gegenüberstellung klären, z.B. durch Vorhalte. Hierzu auch Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 73. 28 Im übrigen hat der Vernehmende auch hier die verfassungsrechtlichen Grenzen der Zeugenpflichten zu beachten, so daß eine Vemehmungsart, durch die der Zeuge unverhältnismäßig gefährdet wird, nicht gewählt werden darf. 26

1. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Ermittlungsverfahren

203

eine Identifizierungsgegenüberstellung zu dulden. 2 9 In diesem Fall besteht per se keine Möglichkeit, die äußere Erscheinung des Zeugen vor dem Identifizierenden, also dem Beschuldigten oder einem Dritten, geheim zu halten. Dieser Praxis ist jedoch entgegenzuhalten, daß für ein derartiges Vorgehen gegenüber dem Zeugen - anders als gegenüber dem Beschuldigten 30 - jede Rechtsgrundlage fehlt. § 58 Abs. 2 StPO betrifft lediglich die Vernehmungsgegenüberstellung. 31 Auch auf die allgemeine Aussagepflicht des Zeugen kann dieses Vorgehen nicht gestützt werden 3 2 , weil der Zeuge hier gerade keine Aussage über eine beweiserhebliche Tatsache machen soll. 3 3 Er wird vielmehr selbst zum Objekt der Beweisaufnahme. Die StPO enthält aber neben § 81 c keine Befugnisnorm, um nicht beschuldigte Personen als Objekte einer "Beweisaufnahme" i n die Pflicht zu nehmen. Der Zeuge ist daher genausowenig wie irgend eine andere unbeteiligte Person verpflichtet, sich vor den Strafverfolgungsorganen von anderen identifizieren zu lassen.

29

Vgl. hierzu Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 68 flf. Die wohl überwiegende Ansicht sieht die Befugnis zur Identifizierungsgegenüberstellung des Beschuldigten in § 81 a StPO, vgl. Odenthal, NStZ 1985, 434; andere in § 81 b StPO, vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 33 Rdn. 17. Eingehend zum Streitstand Odenthal, Die Gegenüberstellung im Strafverfahren, S. 64 flf., 69 flf. - Die Befugnis, einen Beschuldigten zur Teilnahme an einer Gegenüberstellung zu laden und evt. vorfuhren zu lassen, ergibt sich nach BGHSt 39, 96, 98 f. aus § 163 a Abs. 3 StPO, kritisch dazu Welp, JR 1994, 37 flf. - Grünwald, JZ 1981, 428, hält die Pflicht, sich als Objekt einer Gegenüberstellung zur Verfügung zu stellen, wegen der gravierenden Grundrechtseingriffe für bedenklich. Zum Eingriffscharakter der Gegenüberstellung vgl. auch Welp, JR 1994, 38. 30

31

Dies war zur Zeit der Entstehung der StPO unstreitig, vgl. nur Geyer, in Holtzendorff\ Handbuch des deutschen Strafprozesses (1879), S. 294: "Die Gegenüberstellung (Confrontation), von welcher der 2. Absatz des § 58 spricht, umfaßt nicht auch jene Gegenüberstellung im w.S., welche nur zu dem Zweck einer Wiedererkennung (Recognition) der Person des Beschuldigten durch den Zeugen stattfindet." Vgl. auch Grünwald, JZ 1981, 424; Odenthal, Die Gegenüberstellung im Strafverfahren, S. 66 f.; Welp, JR 1994, 38 f. Eindeutig insoweit auch die Regelung in § 394 ZPO: "Jeder Zeuge ist einzeln und in Abwesenheit der später abzuhörenden Zeugen zu vernehmen. Zeugen, deren Aussagen sich widersprechen, können einander gegenübergestellt werden." 32 Hierzu auch Odenthal, Die Gegenüberstellung im Strafverfahren, S. 64. A.A. LR/Dahs Vor § 48 Rdn. 7, wonach der Zeuge aufgrund seiner allgemeinen Zeugenstellung sogar verpflichtet sein soll, als Objekt einer Gegenüberstellung in einer bestimmten Bekleidung zu erscheinen (allerdings in Widerspruch zu § 58 Rdn. 13, wo ausdrücklich klargestellt wird, daß § 58 Abs. 2 StPO keine Eingriffsgrundlage darstellt). 33 So auch Bär, Zugriff auf Computerdaten, S. 372: "Wer vor Gericht nur deshalb geladen wird, um den Prozeßbeteiligten als Augenscheinsobjekt zu dienen, kann folglich nicht Zeuge sein."

204

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

2. Kapitel: Schutz vor Informationserhebung Der Informationserhebung kommt i m Ermittlungsverfahren keine eigenständige Gefährdungsrelevanz zu, sofern sich die Vernehmung allein zwischen Strafverfolgungsorganen und dem Zeugen vollzieht. Die Gefährdung des Zeugen beginnt, sobald die erhobenen Informationen - z.B. durch die Akteneinsicht des Verteidigers - nach "außen" gelangen. Für den Zeugen besteht vor der Polizei keine Aussagepflicht zur Sache, wohl aber zu den Personalien (§ 163 b Abs. 2 S. 1 StPO i.V.m. § 111 OWiG). Der vernehmende Polizeibeamte ist jedoch gesetzlich nicht zwingend verpflichtet, den Zeugen nach seinen Personalien zu befragen. 34 Die Vorschrift des § 68 StPO hat hier lediglich Richtliniencharakter. Dem vernehmenden Polizeibeamten steht insoweit ein Ermessen zu. 3 5 Bei gefährdeten Zeugen kann daher im Rahmen der polizeilichen Vernehmung auf die Angabe der Personalien verzichtet werden. Bei einer Vernehmung vor dem Staatsanwalt oder dem Ermittlungsrichter kann sich der Zeuge grundsätzlich einer Erhebung von Informationen über seine Personalien und seine Wahrnehmungen zur Sache nicht entziehen. Zum Schutz des Zeugen sieht das Strafverfahrensrecht Möglichkeiten vor, gefährdende Informationserhebungen zu unterlassen. Diese Möglichkeiten entsprechen im wesentlichen denen, die auch dem Gericht während der Hauptverhandlung zur Verfügung stehen. Dies gilt seit 1992 auch für die Möglichkeit, die Zeugenpflicht zur Angabe der Personalien zu beschränken, § 68 StPO. 36 Da die zentrale Bedeutung dieser Möglichkeiten gerade in der Hauptverhandlung liegt, soll hierauf auch erst im Zusammenhang mit dem Zeugenschutz während des Hauptverfahrens eingegangen werden. 37 3. Kapitel: Schutz vor Informationsweitergabe A. Das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers, § 147 StPO I. Grundsatz des Akteneinsichtsrechts Nach § 147 Abs. 1 StPO ist der Verteidiger befugt, "die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem i m Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen 34 35 36 37

Vgl. die fehlende Verweisung in § 163 a Abs. 5 StPO. BGHSt 33, 83. Vgl. BGBl. I, S. 1302, 1306. Hierzu S. 259 ff.

1. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Ermittlungsverfahren

205

wären, einzusehen". Das Akteneinsichtsrecht hat den Zweck, den Beschuldigten in die Lage zu versetzen, sich auf die Hauptverhandlung einzustellen und seine Verteidigung vorzubereiten. 38 Hierdurch soll gewährleistet werden, daß der Beschuldigte die ihm im Hauptverfahren eingeräumten Teilhaberechte wirksam nutzen kann. Das Akteneinsichtsrecht ist damit Ausfluß des grundrechtlich gebotenen aktiven Verfahrensstatus, der dem Beschuldigten als Subjekt des Hauptverfahrens zukommt. 39 Auf welche Unterlagen sich das Akteneinsichtsrecht danach bezieht, ist im einzelnen umstritten. 40 Die hier relevanten Niederschriften über die Vernehmung einer Person als Zeuge fallen jedoch unstreitig unter den Begriff der Akten im Sinne § 147 Abs. 1 StPO. 41 Der Verteidiger ist daher grundsätzlich befugt, die entsprechenden Vernehmungsprotokolle einzusehen. Da der Verteidiger das Akteneinsichtsrecht für den Beschuldigten ausübt 42 , ist er berechtigt und - sofern dies für eine sachgerechte Verteidigung erforderlich ist - auch verpflichtet, den Beschuldigten über den Akteninhalt zu informieren. 43 Der Verteidiger kann dem Beschuldigten auch eine Kopie des gesamten Akteninhaltes überlassen. 44 IL Gefährdungsrelevanz Die Gefährdungsrelevanz des Akteneinsichtsrechts liegt darin, daß der Beschuldigte über seinen Verteidiger die Informationen erhält, die er oder sein Umfeld benötigen, um auf den Zeugen einzuwirken. Durch die Akteneinsicht erfährt der Beschuldigte frühzeitig, ob - und wenn ja welche - Personen gegen ihn aussagen. Erfährt der Beschuldigte die Personalien dieser Personen, so wird er in die Lage versetzt, auf diese Zeugen einzuwirken. Ist dem Beschuldigten die Zeugeneigenschaft einer Person nicht bereits aus anderen Gründen, z.B. aus den Umständen des Ermittlungsverfahrens, bekannt, so stellt das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers den Beginn der Zeugengefährdung dar. Die Praxis zeigt, daß Rechtsanwälte immer wieder aus der kriminellen Szene angegangen werden, um Strafakten auf eine mögliche "Verräterrolle" bestimmter

3 8

Vgl. KK/Laufltütte,

§ 147 Rdn. 1.

39

Vgl. auch BVerfGE 63, 45, 61 f.; OLG Brandenburg, NJW 1996, 67, 68; Schneider, Jura 1995, 337. Auf Art. 103 Abs. 1 GG stützt das Akteneinsichtsrecht Eisenberg, NJW 1991, 1259 m.w.N. 40 Überblick über den Streitstand bei Eisenberg, NJW 1991, 1259. 41 Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, inwieweit die Ermittlungsbehörden verpflichtet sind, Auskunftspersonen förmlich als Zeugen zu vernehmen, hierzu unten S. 284 ff. 4 2

KK/Laufhiitte,

43

BGHSt 29, 99, 102; Kleinknecht/Meyer-Goßner, BGHSt 29, 99, 102.

44

§ 147 Rdn. 2 und 8.

§ 147 Rdn. 20 m.N.

206

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Personen hin zu überprüfen oder überhaupt Informationen über die Person eines Belastungszeugen zu erhalten. 45 Sind dem Beschuldigten die Identität und die Zeugenschaft der Person dagegen schon bekannt, so verschlechtert sich die bereits bestehende Gefährdungslage durch die Akteneinsicht kaum. Etwas anderes kann sich dann ergeben, wenn der Beschuldigte der Person des Zeugen vor deren Vernehmung bestimmte Vorgaben für ihr Aussageverhalten gemacht hat, deren Einhaltung er durch die Akteneinsicht überprüfen kann. III. Ausnahmen 1. Versagen der Akteneinsicht, § 147 Abs. 2 StPO Nach § 147 Abs. 2 StPO kann die Akteneinsicht während des Ermittlungsverfahrens versagt werden, wenn sie "den Untersuchungszweck gefährden kann". Untersuchungszweck im Sinne § 147 Abs. 2 StPO ist die möglichst weitgehende und unverfälschte Ermittlung des tatsächlichen Sachverhaltes. 46 Da während des Ermittlungsverfahrens alle Gefährdungen des Zeugen darauf abzielen, das Aussageverhalten des Zeugen zu beeinflussen oder ihn als Beweisperson auszuschalten, begründet die Gefährdung eines Zeugen zugleich eine Gefährdung des Untersuchungszweckes. Es besteht die Gefahr, daß sich die Gefährdungslage nachteilig auf das Aussageverhalten des Zeugen und damit auf die Aufklärung des tatsächlichen Sachverhaltes auswirkt. § 147 StPO setzt nicht voraus, daß der Untersuchungszweck durch die Akteneinsicht mit Sicherheit gefährdet wird. Es reicht aus, daß die Akteneinsicht zu einer Gefährdung des Untersuchungszweckes führen kann. Die Möglichkeit einer Gefährdung genügt daher nach dem Wortlaut des Gesetzes.47 Der Untersuchungszweck kann immer dann gefährdet werden, wenn die Möglichkeit besteht, daß die Auskunftsperson durch die Akteneinsicht gefährdet wird. Nach welchen Kriterien sich die Möglichkeit einer Gefährdung bestimmt, ist ungeklärt. Einigkeit besteht nur insoweit, daß die vage und entfernte Möglichkeit einer Gefährdung jedenfalls noch nicht genügt. 48 Um zu verhindern, daß die Akteneinsicht aus rein hypothetischen Erwägungen heraus ausgeschlossen wird, erscheint es sachgerecht, die Versagung der Akteneinsicht an das Vorliegen besonderer Umstände anzuknüpfen, die Anlaß zur Besorgnis einer Gefährdung des Zeugen geben. Diese Umstände können sich aus der Person des 45

Vgl. nur das Fallbeispiel bei Podolsky, Kriminalitätsformen, S. 415.

4 6

KK/Laufhütte,

4 7

KMR/Müller

48

§ 147 Rdn. 9; KMR/Müller, y

§ 147 Rdn. 5.

§ 147 Rdn. 5.

BGHSt 29, 99, 103; Kleinknecht/Meyer-Goßner, mationsrechte des Strafverteidigers, S. 35.

§ 147 Rdn. 25; Winter,

Infor-

1. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Ermittlungsverfahren

207

Beschuldigten oder des Zeugen, aus der Art des Deliktes sowie - z.B. im Bereich organisierter Kriminalitätsformen - aus kriminologischem Erfahrungswissen ergeben. 49 Liegen Anknüpfungstatsachen dafür vor, daß der Beschuldigte einer kriminellen Organisation angehört, zu deren Wesensmerkmalen die Einschüchterung von Belastungszeugen zählt, so wird stets von einer Gefährdung i m Sinne § 147 Abs. 2 StPO auszugehen sein. 50 Liegen die Voraussetzungen des § 147 Abs. 2 StPO vor, so hat der Staatsanwalt nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob er die Akteneinsicht versagt. 51 Er hat hierbei die drohenden Nachteile für die Ermittlungstätigkeit abzuwägen mit den Nachteilen, die sich für die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten i m Falle einer Versagung ergeben. 52 Angesichts der besonderen Bedeutung, die der ungestörten und unverfälschten Sachverhaltsaufklärung in dem - die Hauptverhandlung vorbereitenden - Ermittlungsverfahren zukommt, dürfte dem Verteidigungsinteresse nur unter ganz besonderen Umständen der Vorrang einzuräumen sein. 53 Verspricht sich der Staatsanwalt dagegen durch die Akteneinsicht anderweitige Vorteile für den Fortgang des Verfahrens, so steht § 147 Abs. 2 StPO einer Akteneinsicht nicht entgegen, auch wenn hierdurch ein Zeuge gefährdet wird. 2. Keine Weitergabe von Aktenkopien Der Verteidiger ist grundsätzlich befugt, dem Beschuldigten Aktenkopien auszuhändigen.54 Die Rechtsprechung erkennt hiervon Ausnahmen an, wenn hierdurch der Untersuchungszweck gefährdet würde, wenn es sich bei den Akten um Verschlußsachen handelt oder wenn der Beschuldigte die Aktenkopien zu verfahrensfremden Zwecken benutzen würde. 55 Hängt die Gefährdung des Zeugen davon ab, daß der Beschuldigte Kopien der Verfahrensakten erhält, so gefährdet die Überlassung der Kopien den Untersuchungszweck. Die Aktenüberlassung mit dem Ziel, auf kriminelle Weise auf den Zeugen einzuwirken, stellt zudem einen verfahrensfremden Zweck dar. Nach der Rechtsprechung besteht daher die Möglichkeit, in Fällen der Zeugengefährdung dem Verteidi-

49

Eingehend zur Gefahrenprognose S. 168 f. - Konkrete Anhaltspunkte für eine Gefahrdung des Untersuchungszweckes fordern Eisenberg, NJW 1991, 1260; Groh, DRiZ 1985, 53; LR/Lüderssen, § 147 Rdn. 137. 50 Hierzu auch Schneider, Jura 1995, S. 342 Fn. 75. 51

52

Vgl. LR/Lüderssen,

§ 147 Rdn. 137.

Im einzelnen hierzu oben S. 127 ff. 53 Hierzu BVerfG, NStZ 1984, 228; Groh, DRiZ 1985, 53; Schneider, Jura 1995, 342; Welp, Peters-FG, S. 311. 54 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 147 Rdn. 20 m.w.N. 55 Vgl. BGHSt 29, 99, 103 f., sowie eingehend Welp, Peters-FG, S. 318 m.w.N. in Fn. 35.

208

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

ger die Auflage zu erteilen, dem Beschuldigten keine Aktenkopien auszuhändigen. Für den Schutz des Zeugen ist hierdurch jedoch nichts gewonnen, da dem Verteidiger damit nicht untersagt wird, dem Beschuldigten die gefährdungsrelevanten Informationen auf andere Weise als durch Aushändigung von Aktenkopien zukommen zu lassen. 56 3. Verpflichtung

zur Verschwiegenheit

Ein Schutz für den Zeugen kann sich daraus ergeben, daß der Verteidiger zwar Einsicht in die gefährdungsrelevanten Informationen erhält, er jedoch verpflichtet wird, diese Informationen nicht an den Beschuldigten weiterzuleiten. 5 7 Die Möglichkeit einer förmlichen Verpflichtung des Verteidigers zur Geheimhaltung des Akteninhaltes muß hierbei von vornherein ausscheiden, denn dem Verteidiger darf nicht verboten werden, den Inhalt der geheimen Schriftstücke mit dem Beschuldigten zu erörtern. 58 Die Strafdrohung des § 353 b Abs. 2 StGB greift daher grundsätzlich nicht gegenüber der Informationsweitergabe an den Beschuldigten, abgesehen davon, daß eine Verpflichtung des Verteidigers mangels gesetzlicher Grundlage in den meisten Fällen nur freiwillig erfolgen könnte. 59 Auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen sich der Verteidiger nach allgemeinen Regeln strafbar macht, wenn er Informationen an den Beschuldigten weitergibt, von denen er weiß, daß der Beschuldigte sie nutzen wird, um auf den Zeugen i n unlauterer Weise einzuwirken, braucht hier nicht eingegangen zu werden. Für die Frage eines wirksamen Zeugenschutzes ist es irrelevant, ob ein bestimmtes Verteidigerverhalten strafrechtlich verfolgt werden kann. Relevant ist allein, daß Verstöße so gut wie nicht nachzuweisen und damit zu verfolgen sind und der strafrechtliche Schutz daher weitgehend leerläuft. Aus denselben Gründen ist es für die hier interessierende Frage ohne Belang, ob es Gründe gibt, die eine Informationsweitergabe des Verteidigers

56

BGHSt 18, 369, 372; BGHSt 29, 99, 103; KK/Laufhütte, § 147 Rdn. 7; Winter, Informationsrechte des Strafverteidigers, S. 37. 57 Vgl. hierzu den Referentenentwuif des BJM zum StVÄG 1983, v. 30.9.1982, wiedergegeben bei Welp, Peters-FG, S. 321 Fn. 48 : "Der Verteidiger darf den Beschuldigten über den Inhalt der Akten, die er einsehen kann, unterrichten und ihm Abschriften aushändigen, soweit ihm dies nicht untersagt worden ist. Die Untersagung ist nur zulässig, wenn die Unterrichtung oder Aushändigung den Untersuchungszweck gefährden würde oder wenn der Aushändigung andere wichtige Gründe entgegenstehen." 58 BGHSt 18, 369, 372. 5 9

Vgl. auch Dreher/Tröndle,

§ 353 b Rdn. 6; LK/Träger,

§ 353 b Rdn. 48. Zur

Akteneinsicht bei Verschlußsachen vgl. Nr. 213 RiStBV, sowie kritisch Zieger, StV 1995, 107.

1. Abschnitt: Schutz des Zeugen im Ermittlungsverfahren

209

an den Beschuldigten standesrechtlich verbieten. 60 Ein sicherer Zeugenschutz läßt sich durch derartige Verhaltensregeln jedenfalls nicht erreichen. 61 Wenn ein wirksamer Zeugenschutz "gegen" den Verteidiger nicht möglich ist, könnte daran gedacht werden, den Zeugen i m Zusammenwirken mit dem Verteidiger zu schützen. In der Praxis kommt es gelegentlich zu Absprachen zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidiger mit dem Ziel, daß der Verteidiger bestimmte Informationen nicht an den Beschuldigten weitergibt. 6 2 Die Schutzwirkung bleibt bei derartigen "Absprachen" wiederum allein abhängig vom guten Willen des jeweiligen Verteidigers. Ein Verstoß gegen die Absprache ist sanktionslos und praktisch nicht nachweisbar. Ein sicherer Schutz des Zeugen läßt sich auf diesem Wege daher nur in Einzelfällen erreichen. Zudem belastet jede Heimlichkeit des Verteidigers das Vertrauensverhältnis des Beschuldigten zu i h m . 6 3 Absprachen zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidiger, die Akten dem Beschuldigten nicht zur Kenntnis zu bringen, sind dem Verteidiger daher in der Regel nicht zumutbar. 64

60

Die wohl h.M. sieht eine Informationsweitergabe auch dann als unzulässig an, wenn der Verteidiger erkennt, daß hierdurch der Untersuchungszweck gefährdet würde und der Mißbrauch durch den Beschuldigten evident sowie das einzige Motiv seines Informationsverlangens ist, vgl. Welp, Peters-FG, S. 317; Winter, Informationsrechte des Strafverteidigers, S. 38. Nach § 14 RichtlRA ist die Bekanntgabe des Akteninhaltes soweit zu unterlassen, als eine mißbräuchliche Verwendung zu außerhalb des Verfahrens liegenden Zwecken zu befürchten ist. Nach § 15 Abs. 2 RichtlRA dürfen Aktenkopien nur an Personen ausgehändigt werden, die selbst ein Akteneinsichtsrecht haben. Diese Vorschrift ist jedoch von der Praxis überholt worden, vgl. hierzu auch LR/Lüderssen, § 147 Rdn. 129. 61

Vgl. auch Günther, NStZ 1984, 35: Es wäre blauäugig zu übersehen, "daß Mißbräuche der Verteidigerstellung angesichts einer sich verschlechternden Konkurrenzsituation mit ihren wirtschaftlichen Auswirkungen oder aus ideologischen Gründen an der Tagesordnung sein mögen". 62 Ein derartiges Vorgehen hatte offenbar auch der Gesetzgeber des OrgKG im Auge, als er die Vorenthaltung der Wohnanschrift des Zeugen gegenüber dem Beschuldigten damit begründete, daß es genüge, "dem Verteidiger auf Verlangen den Wohnort zu offenbaren, so daß die Erkundigungen von diesem eingezogen werden können", vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 35. 63 So auchE. Müller, NJW 1981, 1806; Welp, Peters-FG, S. 322 f.; Winter, Informationsrechte des Strafverteidigers, S. 55flf. m.w.N. 64 E. Müller, NJW 1981, 1806. Differenzierend Hanack, ZStW 93 (1981), 573 f.; KK/Laufhütte, § 147 Rdn. 9 (Geheimhaltungsverpflichtung besser als gar keine Akteneinsicht). 14 Zacharias

210

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

4. Nichtaufnahme von Informationen zu den Akten Die einzige Möglichkeit, bestimmte Informationen zum Schutz des Zeugen 6 5 aus den Verfahrensakten herauszuhalten, ist in § 68 Abs. 3 S. 3 und 4 StPO geregelt. Danach sind die Unterlagen, die die Feststellung der Identität eines Zeugen gewährleisten, solange nicht zu den Verfahrensakten zu nehmen, solange zu befurchten ist, daß die Offenbarung der Identität den Zeugen (oder eine andere Person) an Leben, Leib oder Freiheit gefährden w i r d . 6 6 Die Feststellung der Identität des Zeugen gewährleisten alle Unterlagen, aus denen sich die Identität des Zeugen ergibt. Hierzu gehören die Angaben des Zeugen zur Person 67 , unter Umständen aber auch z.B. Glaubwürdigkeitsgutachten oder Protokolle über die Vernehmung sonstiger Zeugen. Diese gefährdungsrelevanten Informationen werden von der Staatsanwaltschaft i n einer Sonderakte festgehalten. IV. Stellungnahme In vielen Fällen beginnt die Gefährdung des Zeugen mit der Akteneinsicht des Verteidigers. § 147 Abs. 2 StPO bietet insoweit nur einen temporären Schutz. Spätestens mit Abschluß der Ermittlungen hat der Verteidiger einen gesetzlich unbeschränkten Informationsanspruch, § 147 Abs. 6 StPO. Ein Zeuge, der dem Beschuldigten entweder schon bekannt ist, oder dessen Identität sich aus dem Tatvorwurf ergibt, kann strafprozessual nicht dauerhaft geschützt werden. Vom Schutz ausgenommen sind zudem die Protokolle einer richterlichen Vernehmung des Zeugen sowie Sachverständigengutachten über die Person des Zeugen, § 147 Abs. 3 StPO. In diese Unterlagen hat der Verteidiger auch während des Ermittlungsverfahrens ein uneingeschränktes Einsichtsrecht, auch wenn sich hierin gefährdungsrelevante Informationen befinden. Da § 147 Abs. 2 StPO keine Vorschrift zum Schutz des Zeugen ist, sondern den Zeugen nur insoweit schützt, als dies notwendig ist, um den Untersuchungszweck zu erreichen, bietet die Vorschrift selbst für die Zeit des Ermittlungsverfahrens keinen zuverlässigen Schutz der Person des Zeugen. Aus der Sicht des Zeugen ist die von § 147 Abs. 2 eröffnete Schutzmöglichkeit daher von vornherein mit Unwägbarkeiten belastet. 65

Davon zu unterscheiden sind die Möglichkeiten, eine Auskunftsperson gar nicht erst zu einem Zeugen zu machen, d.h. sie vollständig aus dem Strafverfahren herauszuhalten, hierzu unten 3. Abschnitt. 66 Zu den Voraussetzungen des § 68 Abs. 3 StPO im einzelnen vgl. S. 271 f. 67 Unter den Voraussetzungen des § 68 Abs. 3 sind die Personalien des Zeugen nicht in das Vernehmungsprotokoll aufzunehmen, vergleiche hierzu die Klarstellung in § 168 a Abs. 1 S. 2 StPO.

1. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Ermittlungsverfahren

211

Gegenüber einem Tatverdächtigen, der i n Untersuchungshaft genommen wurde, läuft die Schutzmöglichkeit des § 147 Abs. 2 StPO darüber hinaus aus anderen Gründen leer: Im Haftprüfungsverfahren erkennt die Rechtsprechung einen Anspruch des Tatverdächtigen auf Mitteilung des Inhaltes der Zeugenaussage an, auch wenn die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht nach § 147 Abs. 2 StPO versagt hat. 6 8 Das BVerfG hat hierzu klargestellt: "Im Haftbefehlsverfahren sind dem Beschuldigten der Vorwurf und die gegen ihn sprechenden Umstände derartig substantiiert bekanntzugeben, daß ihm die Gelegenheit eröffnet wird, die Verdachts- und Haftgründe zu entkräften und die Tatsachen geltend zu machen, die zu seinen Gunsten sprechen." 69 Bei einer komplexen Beweislage ist der Beschuldigte daher auch über die Aussage des Zeugen zu informieren. Belastende Informationen, die dem Beschuldigten von der Staatsanwaltschaft vorenthalten werden, dürfen von dem Gericht i m Haftprüfungsverfahren nicht berücksichtigt werden, so daß der Haftbefehl unter Umständen aufzuheben ist. 7 0 In der Praxis wurden darüber hinaus immer wieder Fälle bekannt, in denen der Beschuldigte versuchte, über das Akteneinsichtsrecht des Verletzten nach § 406 e StPO Informationen über die Person des Zeugen und sein Aussageverhalten zu erhalten. 71 Hierzu wird der Belastungszeuge von dem Beschuldigten oder dessen Umfeld wegen einer Straftat angezeigt und es wird sodann versucht, Einsicht in die Akten dieses Verfahrens zu erhalten, in dem der Zeuge als Beschuldigter j a mit seinen vollständigen Personalien und seinem bis dahin geheimen - Wohnort gefuhrt wird. Die von § 147 Abs. 2 StPO gewährte Möglichkeit, dem Verteidiger die Akteneinsicht zu versagen, bietet damit keinen wirksamen Zeugenschutz. Aber auch eine - wie auch immer geartete - Verpflichtung des Verteidigers zur Verschwiegenheit gewährleistet keine Sicherheit. Die einzige Möglichkeit, eine Auskunftsperson vor den Gefahren, die mit der Akteneinsicht des Verteidigers verbunden sind, zu schützen, besteht darin, die gefährdenden Informationen nicht zu den Verfahrensakten zu nehmen. Für die Vernehmung der Auskunftsperson als Zeuge schafft § 68 StPO die ent-

6 8

Vgl. BGH, StV 1996, 79; KG, StV 1993, 370 mit Anm. Schlothauer, StV 1993,

371; sowie KG, StV 1994, 318 f.; KG, StV 1994, 319 f. mit Anm. Schlothauer, StV 1994, 320. 69 BVerfG, StV 1994, 1; vgl. hierzu auch EGMR, StV 1993, 283 (Lamy) mit Anm. Zieger, StV 1993, 320 ff. 70 71

1*

Vgl. BVerfG, NJW 1994, 3219ff. ; eingehend hierzu Bohnert, GA 1995, 468 ff. Fallbeispiel bei Stratmann, Kriminalistik 1992, 788.

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

212

sprechenden Voraussetzungen. Schutz bietet ein solches Vorgehen freilich nur denjenigen Personen, deren Identität sich für den Beschuldigten nicht bereits aus dem Inhalt der Zeugenaussage zur Sache ableiten läßt. De lege ferenda sollte die Gefährdung des Zeugen als eigenständiger Grund für die vorübergehende Versagung der Akteneinsicht normiert werden. § 147 Abs. 2 StPO wäre dann wie folgt zu ergänzen: S. 2: "Die Akteneinsicht ist zu versagen, wenn Anlaß zu der Besorgnis besteht, daß durch die Akteneinsicht der Zeuge oder eine andere Person gefährdet wird." B. Namhaftmachung des Zeugen L Mitteilung der Anklageschrift 1. Grundsatz Nach § 201 Abs. 1 StPO hat der Vorsitzende dem Angeschuldigten die Anklageschrift mitzuteilen. Die Anklageschrift hat die Beweismittel sowie das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen anzugeben, § 200 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 S. 1 StPO. 72 Sinn der Vorschrift ist es, den Angeschuldigten darüber zu informieren, welche Beweismittel nach Auffassung der Staatsanwaltschaft zur Klärung des Tatverdachtes erforderlich sind. Dem Angeschuldigten soll damit die Möglichkeit gegeben werden, noch vor Eröffnung des Hauptverfahrens Einwände gegen den Zeugen zu erheben, weitere Beweiserhebungen zu beantragen (§ 201 sowie §§ 219, 220 StPO) und Gründe darzulegen, warum das Hauptverfahren nicht eröffnet werden soll. 7 3 Auch diese Informationsfunktion der Anklageschrift ist damit Ausfluß eines grundrechtlich gebotenen aktiven Verfahrensstatus des Angeschuldigten. 74 Aus diesem Sinn der Vorschrift ergibt sich, daß die Zeugen - entsprechend § 222 Abs. 1 StPO - mit ihren Personalien und ihrer ladungsfähigen Anschrift zu benennen sind. 7 5 Als wesentliches Ergebnis der Ermittlungen sind darüber

72

Nicht anzugeben ist das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen nur, wenn Anklage beim Strafrichter erhoben wird, § 200 Abs. 2 S. 2 StPO. 73 Vgl. OLG Schleswig, StV 1995, 455 f.; sowie LR/Rieß, § 200 Rdn. 32. 74 Speziell als Konkretisierung des Rechtes auf Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG, sehen diese Informationsweitergabe z.B. OLG Schleswig, StV 1995, 455; Kleinknecht/Meyer-Goßner, 75

§ 200 Rdn. 21.

Vgl. OLG Celle, NJW 1970, 580; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 200 Rdn. 16; LR/Rieß, § 200 Rdn. 35. Die Ansicht von Peters, Strafprozeß, § 50 Π lb, wonach die Wohnanschrift des Zeugen wegen der Gefahr der Belästigung des Zeugen oder einer

1. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Ermittlungsverfahren

213

hinaus die Angaben des Zeugen zur Sache wiederzugeben, auf die sich der Tatverdacht stützt. 76 2. Gefährdungsrelevanz Die Gefahrdungsrelevanz der Mitteilung der Anklageschrift ist im wesentlichen identisch mit der der Gewährung von Akteneinsicht, § 147 StPO. Da der Verteidiger nach Abschluß der Ermittlungen ein uneingeschränktes Akteneinsichtsrecht hat und befugt ist, alle Informationen an den Angeschuldigten weiterzugeben, kommt es durch die Mitteilung der Anklageschrift nur dann zu einer eigenständigen Gefährdung des Zeugen, wenn der Angeschuldigte bisher keinen Verteidiger hatte oder wenn der Zeuge erst nach der (letzten) Akteneinsicht des Verteidigers aktenmäßig erfaßt wurde. 3. Ausnahmen a) Verschweigen der Wohnanschrift des Zeugen Die Möglichkeit, die Wohnanschrift des Zeugen in der Anklageschrift zu verschweigen, wird durch § 200 Abs. 1 S. 3 StPO i.V.m. § 68 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 S. 1 StPO eröffnet. Hat der Zeuge seine Wahrnehmungen in amtlicher Eigenschaft gemacht, z.B. als Polizeibeamter, so hat er das Recht, statt seiner Wohnanschrift seine Dienstanschrift anzugeben. Seine Entscheidung ist auch für den Staatsanwalt, der die Anklageschrift verfaßt, verbindlich. Bei "normalen" Zeugen kann die Wohnanschrift durch eine andere ladungsfähige Anschrift ersetzt werden, wenn "Anlaß zur Besorgnis besteht, daß durch die Angabe des Wohnortes der Zeuge oder eine andere Person gefährdet wird". 7 7 Die Entscheidung hat der Staatsanwalt hier nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Gefahrenlage ist die Erstellung der Anklageschrift. Die Wohnanschrift des Zeugen braucht deshalb auch dann nicht angegeben zu werden, wenn der Zeuge sie bei einer früheren Vernehmung angegeben hat, jetzt aber von einer Gefährdung auszugehen ist. Im Rahmen seiner Fürsorgepflicht ist der Staatsanwalt in diesen Fällen verpflichtet, dem Zeugen nachträglich die Möglichkeit einzuräumen, eine andere ladungsfähige Anschrift beizubringen. Soll die Wohnanschrift des Zeugen auch während der Hauptverhandlung verschwiegen werden, so hat der Staatsanwalt hierauf in der Anklageschrift Verdunkelung nicht mitzuteilen sei, wurde durch den Gesetzgeber selbst widerlegt, der einen Verzicht auf diese Angaben nur in Ausnahmefallen für zulässig erklärt hat, vgl. § 200 Abs. 1 S. 3 StPO. 76 OLG Schleswig, StV 1995, 455; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 200 Rdn. 18. 77 Eingehend zu § 68 Abs. 2 StPO unten S. 263 ff.

214

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

hinzuweisen, § 200 Abs. 1 S. 4, 2. Hs. StPO. Mit diesem Hinweis sollen das Gericht und der Angeschuldigte frühzeitig darüber informiert werden, daß während der Hauptverhandlung strafprozessuale Maßnahmen zum Schutz des Zeugen notwendig werden können. 78 Darüber hinaus soll sich der Staatsanwalt bereits bei Anklageerhebung darüber schlüssig werden, ob und i n welcher Weise ihm der gefährdete Zeuge als Beweismittel zur Verfügung stehen wird.79 b) Verschweigen der Identität des Zeugen Neben der Wohnanschrift kann auch die gesamte Identität des Zeugen in der Anklageschrift verschwiegen werden. Diese Möglichkeit wird von § 200 Abs. 1 S. 4, 1. Hs. StPO vorausgesetzt, der festlegt, daß in der Anklageschrift darauf hinzuweisen ist, daß die Identität eines Zeugen auch während der Hauptverhandlung geheim gehalten werden soll. Unter welchen Voraussetzungen die Identität eines Zeugen in der Anklageschrift verschwiegen werden kann, ergibt sich dagegen nicht unmittelbar aus dem Gesetz. Auch ohne einen ausdrücklichen Verweis ist hierfür jedoch auf die Vorschrift des § 68 Abs. 3 StPO zurückzugreifen. Die Identität des Zeugen kann danach in der Anklageschrift verschwiegen werden, wenn Anlaß zu der Besorgnis besteht, daß durch die Angabe "Leben, Leib oder Freiheit des Zeugen oder einer anderen Person gefährdet w i r d " . 8 0 Auch hier steht die Entscheidung in dem pflichtgemäßen Ermessen des Staatsanwaltes. Zu Mißverständnissen Anlaß gegeben hat die Formulierung der Hinweispflicht in § 200 Abs. 1 S. 4, 1. Hs. StPO. In der Begründung des Gesetzentwurfes wird ausgeführt, daß nach dieser Vorschrift auch darauf hinzuweisen sei, welche Auskunftspersonen entsprechend § 96 StPO als Zeugen "gesperrt" sind. 8 1 Dieser Interpretation steht jedoch der eindeutige Wortlaut des Gesetzes entgegen. Die Hinweispflicht erstreckt sich danach ausdrücklich nur auf Personen, die als Zeugen benannt wurden. Die "Sperre" einer Auskunftsperson entsprechend § 96 StPO soll dagegen gerade verhindern, daß dieser Person die Verfahrensrolle eines Zeugen auferlegt wird. 8 2 Auf Personen, die gerade nicht als Zeugen benannt wurden, ist die Vorschrift des § 200 Abs. 1 S. 4 StPO daher nicht anzuwenden. 83

7 8 79 80 81 82 83

Hilger, NStZ 1992, 459. BT-Drucks. 12/989, S. 44. Zu den Einzelheiten dieser Vorschrift unten S. 271 ff. BT-Drucks. 12/989, S. 44, vgl. auch KK/Treier, § 200 Rdn. 20. Eingehend hierzu S. 297 ff. Zum Begriff des Zeugen im strafprozessualen Sinne vgl. S. 30 ff.

1. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Ermittlungsverfahren

215

c) Verschweigen eines Identitätswechsels Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Frage, inwieweit in der Anklageschrift auf einen Identitätswechsel der Person des Zeugen hinzuweisen ist. Diese Frage wird zum einen bedeutsam, wenn der Zeuge i m Rahmen eines Zeugenschutzprogrammes eine neue Identität erhalten hat. In der Anklageschrift braucht dieser Zeuge - entsprechend § 68 Abs. 3 S. 1 StPO - dann nur mit seiner alten (wahren) Identität angeführt zu werden. Da der Sinn der Hinweispflicht des § 200 Abs. 1 S. 4 StPO gerade darin besteht, den Angeschuldigten darüber zu informieren, daß in der Hauptverhandlung ein Zeuge auftritt, an den er aus Gründen des Zeugenschutzes "nicht herankommt", muß auch in der Anklageschrift darauf hingewiesen werden, daß die dort angegebene wahre Identität des Zeugen mittlerweile geändert wurde, der Zeuge also für ihn und seine möglichen Nachforschungen unerreichbar geworden ist. Die neue Identität selbst kann verschwiegen werden. Die Frage des Identitätswechsels kann zum anderen bei der Zeugenaussage eines unter einer Legende ermittelnden Polizeibeamten, eines sog. Verdeckten Ermittlers i m Sinne § 110 a Abs. 2 StPO, Bedeutung erlangen. 84 Um seine Eigenschaft als Polizeibeamter nicht aufzudecken, ist der Verdeckte Ermittler während seines Einsatzes befugt, als Zeuge nur Angaben zu seiner neuen (falschen) Identität zu machen, vgl. § 110 a Abs. 2 S. 2 StPO. Die Anklageschrift muß deshalb den Hinweis enthalten, daß die angegebene Identität des Zeugen nicht seine wahre ist. Auch hier muß die geheimgehaltene Identität selbst nicht preisgegeben werden. In der Anklageschrift muß deshalb auch nicht darauf hingewiesen werden, daß es sich bei dem Zeugen um einen verdeckt ermittelnden Polizeibeamten handelt. 85 4. Stellungnahme Das Strafverfahrensrecht geht davon aus, daß dem Angeschuldigten spätestens mit der Anklageschrift die Person des Zeugen und die wesentlichen Aspekte seiner Aussage bekanntzugeben sind. Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist der Zeuge für den Angeschuldigten oder seine Hintermänner "erreichbar" und damit unter Umständen gefährdet. Die Ausnahmen des § 200 Abs. 1 S. 3 und 4 StPO ermöglichen es, den Aufenthaltsort und die Identität eines gefährdeten Zeugen unter den Voraussetzungen des § 68 StPO weiterhin vor dem Angeschuldigten geheim zu halten. Wird hiervon Gebrauch gemacht, ist der Angeschuldigte davon in der Anklageschrift zu unterrichten. Erweisen sich diese Möglichkeiten als ungeeignet, einen Zeugen wirksam zu schützen, so 84

In der Praxis dürften Verdeckte Ermittler aber regelmäßig als Zeugen "gesperrt" werden, § 110 b Abs. 1 S. 3 StPO. 85 Dies hat der Beamte jedoch während seiner Vernehmung auf Befragen anzugeben, § 68 Abs. 3 S. 2 StPO.

216

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

bleibt allein die Möglichkeit, die Auskunftsperson unter den Voraussetzungen des § 96 StPO als Zeuge zu sperren, d.h. zu verhindern, daß die Person strafprozessual Zeuge wird. IL Mitteilung in der Ladung Das Gericht hat dem Angeklagten rechtzeitig vor der Hauptverhandlung die geladenen Zeugen mit ihrer Wohnanschrift bekannt zu geben, § 222 Abs. 1 S. 1 StPO. Eine eigenständige Gefährdungsrelevanz kommt dieser Information nur zu, wenn sich die Zeugenrolle der betroffenen Person erst in dem Zwischenverfahren ergeben hat. Für diese Person bestehen die gleichen Schutzmöglichkeiten wie für die bereits in der Anklageschrift benannten Zeugen, §§ 222 Abs. 1 S. 3 i.V.m. 200 Abs. 1 S. 3 und 4 StPO. 86 4. Kapitel: Schutz durch Untersuchungshaft? Geht die Gefährdung allein von dem Beschuldigten aus, so kann der Zeuge zumindest bis zum Urteil dadurch geschützt werden, daß der Beschuldigte in Untersuchungshaft genommen wird. Zu denken ist etwa an Fälle, in denen der Zeuge in einem Abhängigkeits- oder Näheverhältnis zu dem Beschuldigten steht. 87 Die Möglichkeit, den Beschuldigten zum Schutz des Zeugen zu inhaftieren, eröffnet § 112 Abs. 2 Nr. 3 b und c StPO. Danach kann ein Beschuldigter in Untersuchungshaft genommen werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und "wenn die Gefahr droht, daß die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde", weil bestimmte Tatsachen den dringenden Verdacht begründen, der Beschuldigte werde auf Zeugen in unlauterer Weise einwirken oder andere zu solchem Verhalten veranlassen. Die Tatsachen, die den dringenden Verdacht eines Einwirkens begründen, können sich aus dem Verhalten des Beschuldigten vor, während und nach der Tat ergeben, aus seiner Beziehung zu dem Zeugen sowie aus seiner Zugehörigkeit zu einer kriminellen oder gewaltbereiten Szene. 88 Maßgeblich für die Untersuchungshaft nach § 112 Abs. 2 Nr. 3 b undc StPO ist die Gefährdung der Sachverhaltsaufklärung, nicht die des Zeugen. Untersuchungshaft ist daher trotz einer Gefährdung des Zeugen dann nicht anzuordnen, wenn der Sachverhalt schon in vollem Umfang aufgeklärt ist und 86

Hierzu S. 212 ff. Ist der Beschuldigte dagegen Mitglied einer kriminellen Organisation, bleibt der Zeuge trotz der Haft durch die Organisation gefährdet. 87

8 8

YJeinknechtMeyer-Goßner,

Gefahrenprognose vgl. auch S. 169.

§ 112 Rdn. 28; SK/Paeffgen,

§ 112 Rdn. 30. Zur

. Abschnitt: Schutz des Zeugen im

uverfahren

217

die Beweise so gesichert sind, daß der Beschuldigte die Wahrheitsermittlung nicht behindern kann. 8 9 Vor Racheakten des Beschuldigten kann der aussagewillige Zeuge daher nicht geschützt werden. Als wirksames Mittel für einen dauerhaften Schutz des gefährdeten Zeugen kommt die Anordnung von Untersuchungshaft gegen den "gefahrlichen" Beschuldigten daher nicht in Betracht. 90

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen im Hauptverfahren

1. Kapitel: Der äußere Rahmen der Vernehmung A. Ausschluß der Öffentlichkeit I. Grundsatz der Öffentlichkeit Während des Hauptverfahrens wird der Zeuge grundsätzlich öffentlich vernommen, § 169 S. 1 GVG. Die Öffentlichkeit erstreckt sich auf das gesamte Verfahren vom Aufruf der Sache, § 243 Abs. 1 S. 1 StPO, bis zum Abschluß der Urteilsverkündung und der danach evt. noch zu treffenden Maßnahmen. 91 Die Öffentlichkeit des Verfahrens, die auch in Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK festgeschrieben ist, kann zu den grundlegenden Einrichtungen des demokratischen Rechtsstaates gezählt werden. 92 Sie dient der Kontrolle des Gerichts und dem Informationsinteresse der Allgemeinheit. 93 Die Kontrollfunktion, die ursprünglich im Vordergrund des Öffentlichkeitsgrundsatzes stand, zielt darauf ab, "daß die Bürger Theil nehmen und sich von der Art der Anklage, von den Mitteln, welche man angewendet hat, um das verborgene Verbrechen zu entdecken, von der Gestattung der ausgedehntesten Vertheidigung überzeugen können, damit daran die Ueberzeugung von der Gerechtigkeit des Urtheils sich knüpft". 9 4 Die Allgemeinheit "bildet sich ihr

89

90

Nix, StV 1992, 447.

Vgl. hierzu auch Wulf DRiZ 1981, 381. Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, § 169 GVG Rdn. 4. 92 BGHSt 40, 191, 192, vgl. auch BGHSt 9, 280, 281: "Die Überzeugung der Allgemeinheit, daß dieser Grundsatz streng durchgeführt wird und Ausnahmen nur aus zwingenden Gründen in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen gemacht werden, ist ein wesentlicher Bestandteil des Vertrauens in die Unabhängigkeit der Gerichte." 93 BGHSt 40, 191, 193. 94 Mittermaier, Die Mündlichkeit, S. 336. 91

218

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Urteil über die Stellung der Justiz im öffentlichen Leben überwiegend nach dem Geist, in dem Strafrecht und Strafverfahrensrecht von den Gerichten gehandhabt werden." 95 Das Informationsinteresse bezieht sich auf die Möglichkeit, den Ablauf der Hauptverhandlung mitzuerleben und "über das Gehörte und Gesehene Berichte an andere oder das Publikum gelangen zu lassen". 96 Eine darüber hinausgehende Medienöffentlichkeit kennt das deutsche Strafverfahrensrecht dagegen mit guten Gründen nicht, § 169 S. 2 G V G . 9 7 IL Gefährdungsrelevanz

der Öffentlichkeit

Die Gefahrdungsrelevanz der Öffentlichkeit liegt darin, daß Nichtverfahrensbeteiligten Einwirkungsmöglichkeiten auf den Zeugen eröffnet werden. Die Anwesenheit während der Zeugenvernehmung ermöglicht es potentiellen Schädigern, sich das für eine Einschüchterung des Zeugen oder für Racheakte erforderliche Wissen zu verschaffen. Durch die Aussage gelangen Informationen über die Person des Zeugen an die Öffentlichkeit, die rechtswidrige Angriffe ermöglichen oder zumindest erleichtern. Eine besondere Gefährdungsrelevanz kommt der öffentlichen Preisgabe der Personalien z u . 9 8 Die Kenntnis der Personalien des Zeugen ist eine Grundvoraussetzung, um auf den Zeugen oder seine Angehörigen zu einem späteren Zeitpunkt einwirken zu können. Ist den als potentielle Schädiger anwesenden Zuhörern die Identität des Zeugen bekannt, so hängt die Gefahr für den Zeugen wesentlich von seinem Aussageverhalten zur Sache ab. Gibt er den Einschüchterungen nach und macht unwahre Angaben, kann er vor weiteren Repressalien aus diesem Umfeld sicher sein. Hält er dagegen an seiner (wahren) Aussage festhält, so ist der Zeuge ab diesem Moment möglichen Racheakten durch Zuhörer ausgesetzt. Durch sein Erscheinen in der Hauptverhandlung erhalten alle Anwesenden die Möglichkeit, das Aussehen des Zeugen kennenzulernen und ihn auf diese Weise zu identifizieren. Die Möglichkeit einer Identifizierung birgt vor allem für Verdeckte Ermittler und V-Personen Gefahren, die in unterschiedlichen "Szenen" eingesetzt sind und durch ihr Auftreten in einem Verfahren von Zuhörern auch hinsichtlich anderer Einsätze als Polizisten oder Spitzel enttarnt werden können. Diese Gefahr kann durch die Anwesenheit der Presse noch potenziert werden.

95

BGHSt 9, 280, 282; ähnlich Odersky, Pfeiffer-FS, S. 334.

9 6

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

97

§ 169 GVG Rdn. 3.

Zur Unterscheidung von "personaler Öffentlichkeit" und "Massenöffentlichkeit" vgl. Alwart, JZ 1990, 892 ff.; Witzler, Personale Öffentlichkeit, S. 150, 151. 98 Für den Bereich der organisierten Kriminalität vgl. auch Ranft, Jura 1993, 450.

. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m

uverfahren

219

Die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung kann dem Zeugen aber auch unmittelbar gefahrlich werden, nämlich dann, wenn er i m Gerichtssaal von Zuhörern eingeschüchtert, bedroht und tätlich angegriffen w i r d . " Schließlich kann der Zeuge durch die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung auch außerhalb seiner Vernehmung gefährdet werden. Da für das Hauptverfahren die Grundsätze der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit gelten, werden den Zuhörern Informationen über die Person des Zeugen nicht nur im Rahmen seiner Vernehmung als Zeuge offenbart, sondern auch durch die Aussagen des Beschuldigten, weiterer Zeugen oder Sachverständiger sowie durch die Verlesung von Vernehmungsniederschriften, Gutachten oder anderen Schriftstücken. Eine besondere Gefahr stellt in diesem Zusammenhang die Zeugenaussage der Verhörsperson dar, durch die Informationen über die Identität und das Aussageverhalten der eigentlich gefährdeten Auskunftsperson an die Öffentlichkeit gelangen. III. Ausnahmen vom Öffentlichkeitsgrundsatz L§

171b

GVG

Nach § 171 b GVG kann - und muß auf Antrag des Zeugen, Abs. 2 - die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, soweit Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Zeugen (nicht eines Dritten) zur Sprache kommen, deren öffentliche Erörterung schutzwürdige Interessen verletzen würde. Mit dieser durch das Opferschutzgesetz 100 eingeführten Vorschrift sollte der Persönlichkeitsschutz gegenüber dem Öffentlichkeitsgrundsatz verstärkt werden. 1 0 1 Die Intention der Vorschrift zielt damit auf den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Betroffenen ab. Da die gefährdungsrelevanten Informationen in aller Regel nicht dem persönlichen Lebensbereich, sondern der sog. Öffentlichkeitssphäre zuzuordnen sind (Name, Anschrift, Aussehen, etc.), kommt dieser Vorschrift für den Schutz eines gefährdeten Zeugen keine eigenständige Bedeutung zu.

99

Vgl. z.B. die Fallschilderung bei Podolsky, Kriminalitätsformen, S. 380. Erstes Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren vom 18.12.1986 (BGBl. I, S. 2496). 101 Vgl. BT-Drucks. 10/5305. Zur Entstehungsgeschichte vgl. KK/Mctyr, § 171 b GVG, Rdn. 1. 100

220

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

2. § 172 Nr. 1, 1 a GVG a) Voraussetzungen aa) Gefahrdung der öffentlichen Ordnung § 172 Nr. 1 GVG ermöglicht es dem Gericht, die Öffentlichkeit auszuschließen, wenn eine Gefahrdung der öffentlichen Ordnung zu besorgen ist. Der Begriff der öffentlichen Ordnung umschreibt die Gesamtheit der Verhaltensregeln, deren Befolgung als unerläßlich für ein geordnetes menschliches Zusammenleben angesehen w i r d . 1 0 2 Im Hinblick auf das Strafverfahren kann die öffentliche Ordnung z.B. dadurch gestört werden, daß der Ablauf der gesamten Verhandlung oder die uneingeschränkte Möglichkeit der Sachverhaltsaufklärung beeinträchtigt w i r d . 1 0 3 Eine Gefährdung der Sachverhaltsaufklärung ist durch die Öffentlichkeit z.B. dann zu befürchten, wenn die Exekutive die "Freigabe" eines Zeugen an die Bedingung knüpft, daß er unter Ausschluß der Öffentlichkeit vernommen w i r d . 1 0 4 Steht zu befürchten, daß ein Zeuge in öffentlicher Vernehmung nicht die Wahrheit sagen werde, so wird hierdurch die Rechtsfindung gefährdet. Darin liegt zugleich eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung. 1 0 5 - Eine ganz andere Frage ist dagegen, ob diese Gefährdung der öffentlichen Ordnung in jedem Fall einen Ausschluß der Öffentlichkeit nach § 172 Nr. 1 GVG rechtfertigt. Die Rechtsprechung trennt jedoch nicht immer scharf zwischen der Gefährdung der öffentlichen Ordnung und der anschließend vorzunehmenden Abwägung der kollidierenden Interessen. Aus diesem Grunde wurde eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung - trotz der Gefahr einer Falschaussage - zu Unrecht abgelehnt, falls dem Zeugen zuzumuten sei, die drohenden Nachteile hinzunehmen. 106

102

BVerfGE 69, 315, 352. Eingehend LR/Schäfer, 23. Aufl., § 172 GVG Rdn. 10. 104 BGHSt 32, 115, 125. 105 BGHSt 3, 344. Offensichtlich liegt eine Störung der öffentlichen Ordnung in den Fällen vor, in denen aus dem Zuhörerraum heraus versucht wird, auf das Aussageverhalten des Zeugen durch Drohung oder sonstige Störungen (Pfiffe, Gebärden etc.) unmittelbar einzuwirken. Hierzu auch Kissel , GVG, § 172 Rdn. 25. 106 Vgl. BGHSt 3, 344, 345; BGHSt 30, 183, 195. Zutreffend als Frage der Interessenabwägung erkennen die Problematik dagegen BGHSt 9, 280, 283; Kissel , GVG, § 172 Rdn. 25; LR/Schäfer, 23. Aufl., § 172 GVG Rdn. 10. 103

. Abschnitt: Schutz des Zeugen im

uvefahren

221

bb) Insbesondere: Gefahrdung des Zeugen Die öffentliche Ordnung kann aber auch durch die Gefahr für Rechtsgüter des einzelnen gestört werden. 1 0 7 So hat der BGH bereits im Jahre 1952 betont, daß die öffentliche Ordnung auch dazu dient, es dem Zeugen zu ermöglichen, seine Zeugenpflicht tunlichst ungefährdet zu erfüllen. 1 0 8 Dies hat der Gesetzgeber in § 172 Nr. 1 a GVG für die Rechtsgüter Leben, Gesundheit und Freiheit besonders klargestellt. Nach dieser durch das O r g K G 1 0 9 eingefügten Regelung kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, wenn eine Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit eines Zeugen oder einer anderen Person zu besorgen ist. Eine Gefährdung dieser Rechtsgüter ist gegeben, wenn Umstände vorliegen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung den Eintritt eines Schadens - hier also rechtswidriger Übergriffe - befürchten lassen. Anhaltspunkte für eine allgemeine Gefährdungslage können sich aus der Person des Zeugen, der Person des Angeklagten und aus der angeklagten Tat selbst ergeben. 110 Als andere Personen, die durch die Öffentlichkeit gefährdet werden können, kommen vor allem die Angehörigen des Zeugen in Betracht. Betroffen sein können darüber hinaus aber auch all diejenigen Personen, über deren Verhalten oder Eigenschaften der Zeuge Angaben machen soll, also alle Personen, an die die möglichen Angreifer durch die Zeugenaussage herankommen wollen. Mit Freiheit ist - wie bei § 68 Abs. 3 StPO 1 1 1 - nicht die allgemeine Willensentfaltungs- und Willensbetätigungsfreiheit, sondern die Fortbewegungsfreiheit gemeint. Steht die Gefährdung anderer Rechtsgüter zu befürchten, z.B. durch Sachbeschädigungen, ist weiterhin auf die Ausschlußmöglichkeiten der Nr. 1 zurückzugreifen. 112 Aus der Vorschrift der Nr. 1 a ist nicht etwa der Umkehrschluß zu ziehen, daß nur bei einer Gefährdung der dort erwähnten Rechtsgüter ein Ausschluß zulässig i s t . 1 1 3

107

BVerfGE 57, 250, 286; vgl. auch Jung/Krüger, Gefährdete Zeugen, S. 33. BGHSt 3, 344, 345. Vgl. hierzu auch BGHSt 16, 111, 113; 30, 193, 194; BGH, GA 1978, 13, 14; BGH bei Holtz, MDR 1980, 273. 109 Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) vom 15.7.1992, BGBl. I, S. 1302. 110 Zu den Einzelheiten vgl. oben S. 168 ff. 111 Hierzu unten S. 271 ff. 108

112

113

Kissel, GVG, § 172 Rdn. 27; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 172 GVG Rdn. 7.

BT-Drucks. 12/989, S. 48: "Die Gefahr für Leib und Leben eines Zeugen wird von der Rechtsprechung in der Regel als Gefahrdung der öffentlichen Ordnung im Sinn

222

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

cc) Gefahrdung durch Öffentlichkeit Die Gefährdung muß durch die Öffentlichkeit der Verhandlung begründet werden. Die befürchteten Übergriffe müssen jedoch nicht von den Zuhörern drohen. Es genügt, wenn Zuhörer anderen die Kenntnis des Verfahrensvorganges vermitteln können und wenn von diesen eine Gefährdung für den Zeugen oder andere Personen ausgehen k a n n . 1 1 4 Gefährdungen für den Betroffenen, die in keinem Zusammenhang mit der Öffentlichkeit stehen, rechtfertigen deren Ausschluß nicht. 1 1 5 Es ist daher jeweils genau zu prüfen, inwieweit die Gefährdungslage für den Betroffenen durch die Öffentlichkeit der konkreten Verhandlung beeinflußt w i r d . 1 1 6 dd) Besorgnis der Gefährdung Zu besorgen ist eine solche Gefährdung, wenn für das Gericht nach dem Stand der bisherigen Erörterungen und des voraussehbaren weiteren Verhandlungsgeschehens das Entstehen einer Gefährdungslage in Betracht zu ziehen i s t . 1 1 7 Das Gesetz verlangt also nicht, daß bereits der Eintritt eines Schadens zu besorgen ist. b) Rechtsfolge Über den Ausschluß der Öffentlichkeit hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. 118 Inhaltlich geht es hierbei um eine Abwägung zwischen den Interessen an der Öffentlichkeit des Verfahrens auf der einen Seite und den durch die Öffentlichkeit des Verfahrens beeinträchtigten Interessen der staatlichen Sachverhaltsaufklärung 119 sowie der Eingriffsfreiheit des gefährdeten Zeugen auf der anderen Seite. Auch die Entscheidung über die Dauer des Öffentlichkeitsausschlusses steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Der Ausschluß der Öffentlichkeit zum Schutz des Zeugen ist nicht auf seine Vernehmung beschränkt. Er kann sich auf die Verhandlung insgesamt erstrecken, wenn während des gesamten Zeitraumes Informationen zur

des § 172 Nr. 1 angesehen. Der Entwurf stellt dies klar." Hierzu auch Hilger, NStZ 1992, 459. 114 BGHSt 3, 344, 345. 115 BGH, NStZ 1987, 86: "Der Beschluß des LG, der lediglich darauf abhebt, die Zeugin stehe unter erheblichem seelischem Druck und sei hochgradig erregt, läßt nicht erkennen, daß eine solche Gefahrdung gerade durch die Öffentlichkeit der Vernehmung bedingt gewesen sei." 116 Vgl. hierzu die obigen Ausführungen zur Gefahrdungsrelevanz der Öffentlichkeit. 117 Kissel, GVG, § 172 Rdn. 21. Vgl. hierzu auch BGHSt 30, 193, 194. 118 RGSt 66, 113; 69, 401, 402; BGH, GA 1978, 13; Kissel, GVG, § 172 Rdn. 2. 119 Kissel, GVG, § 172 Rdn. 27 a.E. Eingehend LR/Schäfer, 23. Aufl., § 172 GVG Rdn. 10.

. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m

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223

Sprache kommen, durch deren öffentliche Bekanntgabe der Zeuge gefährdet werden würde. Auch während der Bekanntgabe der Urteilsgründe kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, wenn sich aus der öffentlichen Würdigung der Zeugenaussage Gefahren ergeben würden, § 173 Abs. 2 GVG. Die Öffentlichkeit darf jedoch nur in dem Maße ausgeschlossen werden, in dem dies zur Wahrung der entgegenstehenden Interessen unabdingbar erforderlich ist.120 aa) Anderweitige Abwendbarkeit Bevor es aber überhaupt zu einer derartigen Abwägung kommt, ist genau zu prüfen, inwieweit sich die drohenden Nachteile für die Sachverhaltsaufklärung und für den Zeugen auf andere Weise als durch einen Ausschluß der Öffentlichkeit vermeiden lassen. Zu denken ist hierbei vor allem an Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes. Der BGH hat hierzu in einer Entscheidung aus dem Jahre 1956 klargestellt: "Selbst wenn die Möglichkeit besteht, daß ein Zeuge für den Fall der wahrheitsgemäßen Aussage in rechtswidriger Weise Nachteile erleiden könnte, kann nicht ohne weiteres angenommen werden, daß dieser Gefahr nur durch den Ausschluß der Öffentlichkeit begegnet werden könnte. Es ist die Aufgabe der öffentlichen Gewalt, den zur Bekundung der Wahrheit verpflichteten Zeugen vor rechtswidrigen Folgen, die wahrheitsgemäße Bekundungen haben könnten, zu schützen." 1 2 1 Ist die Gefährdung für den Zeugen auf die Zeit seines Erscheinens vor Gericht beschränkt, so kann der Zeuge durch polizeiliche Begleitung auf dem Weg zum Gericht und u.U. auch während der Vernehmung geschützt werden. Diese polizeilichen Schutzmaßnahmen sind dem Zeugen in aller Regel auch zuzumuten. Das Problem liegt jedoch darin, daß sich die Gefährdungslage für den Zeugen in den wenigsten Fällen auf den Zeitraum seines Erscheinens vor Gericht beschränkt. Führt die Anwesenheit der Öffentlichkeit dazu, daß die Person des Zeugen auf unabsehbare Zeit gefährdet ist, ist ein wirksamer Schutz durch die Polizei entweder überhaupt nicht zu erbringen, oder er ist mit derart gravierenden Beeinträchtigungen der persönlichen Freiheit des Zeugen verbunden, daß dem Zeugen dieser Schutz häufig nicht zuzumuten i s t . 1 2 2 Dann aber kann der Hinweis auf polizeilichen Schutz den Ausschluß der Öffentlichkeit nicht entbehrlich machen.

120

Kissel , GVG, § 172 Rdn. 3.

121

BGHSt 9, 280, 283 Zur Zumutbarkeit polizeilicher Zeugenschutzprogramme vgl. S. 178 ff.

122

224

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Zu denken ist weiter daran, den Ausschluß auf einzelne Zuhörer oder Zuhörergruppen, wie z.B. den Anhang des Angeklagten, zu beschränken. Zu derartigen Maßnahmen ist das Gericht entweder entsprechend § 172 G V G 1 2 3 oder, wenn Angriffe auf den Zeugen im Gerichtssaal drohen, der Vorsitzende nach §§ 176, 177 GVG befugt. 1 2 4 In letzterem Fall kann der Vorsitzende zudem weitere Maßnahmen der Sitzungspolizei, wie z.B. die Durchsuchung der Zuhörer nach Waffen etc., anordnen. Zu widersprechen ist dagegen der Ansicht, daß die Öffentlichkeit des Verfahrens deshalb aufrecht zu erhalten sei, weil der Gefahr für den Zeugen dadurch begegnet werden könne, daß auf die Zeugenvernehmung ganz verzichtet und statt dessen eine frühere Vernehmungsniederschrift verlesen w i r d . 1 2 5 Dieses Vorgehen mag zwar im Hinblick auf das Interessen an der Öffentlichkeit des Verfahrens das weniger einschneidende Mittel sein. Die mit einem solchen Vorgehen verbundenen Nachteile für die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung und die Verteidigungsinteressen des Angeklagten stehen hier jedoch in aller Regel der Durchsetzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes entgegen. bb) Gewichtungsbedingungen ( 1 ) Interesse an der Öffentlichkeit Wie bereits gezeigt, dient die Öffentlichkeit des Verfahrens der Kontrolle des Gerichts und dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit. 126 Die Kontrollfunktion wird um so stärker beeinträchtigt, je weitreichender die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausgeschlossen ist. Der Ausschluß eines Teiles der Zuhörer für die Vernehmung eines Zeugen beeinträchtigt die Kontrollmöglichkeiten weitaus weniger als ein vollständiger Ausschluß der Öffentlichkeit für das gesamte Verfahren. Von Bedeutung ist weiter der Stellenwert, der der Zeugenvernehmung für die Urteilsfindung zuzukommen scheint. Die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit wird daher bei einem Ausschluß während der Vernehmung des Hauptbelastungszeugen wesentlich gravierender beeinträchtigt als bei einer Zeugenaussage über Randgeschehnisse. Das Gewicht des Informationsinteresses der Öffentlichkeit bestimmt sich im wesentlichen nach dem Informationswert der Zeugenaussage für die Aufklärung der Tat und die Zumessung der Strafe. Tatbezogene Umstände verlei-

123

BGH bei Holtz, MDR 1980, 273.

1 2 4

Kissel, GVG, § 172 Rdn. 2, 27.

125

A.A. offenbar Kissel, GVG, § 172 Rdn. 27. Nach Kleinknecht, Schmidt-Leichner-FS, S. 113, hat dabei das Informationsinteresse die Kontrollfunktion weitgehend verdrängt. Vgl. auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 169 GVG Rdn. 1; Kissel, GVG, § 169, Rdn. 1. Kritisch Odersky, Pfeiffer-FS, 126

S. 334; Schmidt, JuS 1995, 111.

. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m

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225

hen dem Informationsinteresse hierbei regelmäßig mehr Gewicht als Umstände, die nur für die Rechtsfolgenentscheidung von Bedeutung s i n d . 1 2 7 Bei der Gewichtung ist weiter zu beachten, daß das Informationsinteresse auch bei einem Ausschluß der Öffentlichkeit berücksichtigt werden kann. So kann das Gericht den für den Zeugen ungefährlichen Inhalt der Aussage nach dem Ausschluß der Öffentlichkeit bekanntgeben, § 247 S. 4 StPO analog. 1 2 8 - Dem Aussehen des Zeugen sowie der Angabe seiner Personalien kommt dagegen in aller Regel kein anerkennenswerter Informationswert z u . 1 2 9 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß das Interesse an der Erhaltung der Öffentlichkeit mit der Bedeutung der Sache zunimmt, die wiederum wesentlich vom Gewicht des Tatvorwurfs, aber auch von dem durch die Tat in der Öffentlichkeit erregten Aufsehen abhängt. 130 (2) Interesse an der Sachverhaltsaufklärung Das staatliche Gebot zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung verlangt um so mehr einen Ausschluß der Öffentlichkeit, je stärker die Gefahr besteht, daß der Zeuge bei der gleichzeitigen Anwesenheit von Zuhörern seine Wahrnehmungen nicht wahrheitsgemäß wiedergeben wird. Wie bereits gezeigt wurde, ist Angst eine der bestimmendsten Motivationen zu einer falschen oder zumindest verfälschten Aussage. 131 Der Beweiswert der Aussage eines verängstigten Zeugen ist daher wesentlich geringer als die Aussage eines Zeugen, der keine Nachteile zu befürchten hat. Kriterien für die Gewichtung des Interesses an einer nicht von Angst verfälschten Aussage sind die Bedeutung der Aussage zur Sachverhaltsaufklärung, die Intensität der drohenden Verfälschung, also die Intensität der vom Zeugen empfundenen Angst, der Grad der Wahrscheinlichkeit, daß die Aussage des Zeugen tatsächlich durch die Angst beeinflußt wird sowie die Existenz anderer Möglichkeiten, um den Zeugen zu einer wahrheitsgemäßen Aussage zu veranlassen oder zumindest die Verfälschungen aufzudecken. (3) Interessen des gefährdeten Zeugen Das Gewicht des Abwehrinteresses des gefährdeten Zeugen richtet sich auch hier nach der Schwere des drohenden Schadens, also nach dem gefährdeten Rechtsgut und der Intensität seiner Beeinträchtigung, sowie nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit, mit der sich der Schaden zu realisieren droht. 127

Kleinknecht, Schmidt-Leichner-FS, S. 114.

1 2 8

Granderath, MDR 1983, 800.

129

Eingehend zu den hier maßgeblichen Kriterien BGH(Z), NJW 1994, 1950,

1952. 130

Klöhn, Der Schutz der Intimsphäre, S. 384; LR/Schäfer,

Rdn. 27. 131

Vgl. hierzu auch oben S. 46 ff.

1 Zacharias

23. Aufl., § 172 GVG

226

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Zu berücksichtigen ist weiter, ob Umstände in der Person des Zeugen vorliegen, die ihn in erhöhtem Maße gefahrtragungspflichtig erscheinen lassen. 132 Für die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Öffentlichkeitsgrundsatz hinter die Interessen der Sachverhaltsaufklärung bzw. die Interessen des gefährdeten Zeugen zurückzutreten habe, lassen sich der Rechtsprechung einige Vorgaben entnehmen. Der Öffentlichkeitsgrundsatz hat danach jedenfalls dann zurückzutreten, wenn aufgrund bestimmter Umstände Anlaß zu der Besorgnis besteht, daß der Zeuge oder eine andere Person durch die Öffentlichkeit an Leben, Gesundheit oder Freiheit gefährdet wird und die Gefahr nicht auf andere Weise angemessen abgewendet werden k a n n . 1 3 3 In den Fällen des § 172 Nr. 1 a GVG ist die Öffentlichkeit daher grundsätzlich auszuschließen.134 IV. Revisionsrisiko Das Verfahren zum Ausschluß der Öffentlichkeit ist umständlich und damit fehleranfallig. Inwieweit in der Praxis von den zeugenschützenden Möglichkeiten Gebrauch gemacht wird, richtet sich daher nach den Konsequenzen, die sich aus einem fehlerhaften Ausschluß oder Nichtausschluß der Öffentlichkeit für das weitere Verfahren ergeben. 7. Gesetzwidriger

Ausschluß der Öffentlichkeit

I m Zusammenhang mit Zeugengefahrdungen kann der Ausschluß der Öffentlichkeit vor allem in vier Konstellationen den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO begründen. Zum einen dann, wenn das Gericht die einschlägigen Begriffe Besorgnis, Gefahrdung oder öffentliche Ordnung verkannt h a t . 1 3 5 Zum anderen, wenn das Gericht von dem ihm eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch gemacht, die Grenzen seines Ermessens mißachtet oder sein Ermessen fehlgebraucht hat. Des weiteren ist die Entscheidung mit der Revision angreifbar, wenn dem Gericht während des Ausschließungsverfahrens formale Fehler unterlaufen sind. 1 3 6 Ein absoluter Revisionsgrund ist schließ132

Im einzelnen hierzu oben S. 134 ff BGHSt 3, 344, 345; 16, 111, 113; 30, 193, 194; BGH bei Holtz, MDR 1980, 273; sowie BGH, GA 1978, 13, 14, zu dem Fall, daß die Person des Zeugen durch das Verhalten der Zuhörer während ihrer Aussage zu einem Selbstmordversuch veranlaßt werden könnte. 134 Ähnlich Kissel, GVG, § 172 Rdn. 27; vgl. auch Hauser, Zeugenbeweis, S. 304. 133

1 3 5

136

Kissel, GVG, § 172 Rdn. 15.

Beispielhaft erwähnt werden soll nur die Problematik, wieweit die Begründung des Ausschließungsbeschlusses (§ 174 Abs. 1 S. 3 GVG) selbst gefahrdungsrelevante Informationen enthalten muß und inwieweit dieser Beschluß öffentlich verkündet werden muß (§ 174 Abs. 1 S. 2 GVG); eingehend hierzu Mösl, Pfeiffer-FS, S. 341 ff

. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m

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227

lieh dann gegeben, wenn - was während der Verhandlung leicht übersehen wird - die Öffentlichkeit weiter beschränkt wurde als es nach dem Ausschließungsbeschluß geschehen sollte 1 3 7 . Der Ausschluß der Öffentlichkeit zum Schutz des Zeugen ist damit stets mit einem erheblichen Revisionsrisiko verbunden; Dahs spricht i n diesem Zusammenhang von dem Damoklesschwert der Revision, das zu einem "horror revisionis" bei den Gerichten f ü h r e . 1 3 8 2. Gesetzwidriger

Nichtausschluß der Öffentlichkeit

Demgegenüber geht das Gericht ein vergleichsweise geringes Revisionsrisiko ein, wenn es die Öffentlichkeit - trotz einer möglichen Gefahrdung des Zeugen oder einer anderen Person - an der Verhandlung teilhaben läßt. I n den Fällen des § 172 GVG soll eine rechtsfehlerhafte Nichtausschließung der Öffentlichkeit nach einhelliger Ansicht nicht die Revision nach § 338 Nr. 6 StPO begründen. 1 3 9 Dies mag auf den ersten Blick überraschen, denn der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 setzt lediglich voraus, daß "das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind". Zur Begründung wird angeführt, daß die Beeinträchtigung der geschützten Interessen durch eine Wiederholung der Verhandlung unter Ausschluß der Öffentlichkeit nicht mehr beseitigt werden k ö n n e . 1 4 0 Auch wenn diese rein formale Begründung angreifbar erscheint 1 4 1 , so ist doch zuzugeben, daß anders als beim fehlerhaften Ausschluß der Öffentlichkeit - wo zumindest unter dem historischen Aspekt der Kontroll-

Durch die öffentliche Begründung des Ausschließungsbeschlusses kann nämlich selbst wiederum die Gefahr entstehen, daß Umstände bekannt werden, vor deren Bekanntgabe der Zeuge gerade geschützt werden sollte - sei dies auch nur die namentliche Bezeichnung des Zeugen. Die Angabe des abstrakten Gesetzeswortlautes soll dabei als Begründung genügen, wenn der Beschluß aus sich heraus verständlich bleibt, BGHSt 30, 212, 213. Die tatsächlichen Umstände, aus densi sich die Gefahrdung für den Zeugen ergibt, sollen dann nicht angeführt zu werden brauchen, BGHSt 30, 212, 213; BGH, wistra 1995, 274 f.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 174 GVG Rdn. 9 - A.A BGHSt 9, 280, 285. Fehlt dagegen eine Begründung oder genügt sie nicht den Anforderungen des § 174 Abs. 1 S. 3 GVG, so begründet dies nach der Rechtsprechung den absoluten Revisionsgrund des §338 Nr. 6 GVG; vgl. BGH, NStZ 1994, 591; LR/S chafer, 23. Aufl., § 174 GVG Rdn. 13. 137 Vgl. nur BGHSt 7, 218, 219. 138 Dahs, NJW 1984, 1924; vgl. auch Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 172 f.; Oder sky, Pfeiffer-FS, S. 327. 139

140

Vgl. nur Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 338 Rdn. 47.

BGHSt 23, 82, 85. 141 Zur Kritik Klöhn, Der Schutz der Intimsphäre, S. 392; vgl. auch Kissel, GVG, § 169 Rdn. 59; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 45 Rdn. 21. 1*

228

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

funktion der Öffentlichkeit ihr Ausschluß die Fiktion des Beruhens rechtfertigt - die Anwesenheit der Öffentlichkeit nicht prima facie dafür spricht, daß durch sie der Verlauf der Verhandlung oder die Urteilsfindung zu Lasten des Angeklagten verändert worden wäre. 1 4 2 Nimmt die Öffentlichkeit an der Verhandlung teil, obwohl sie nach § 172 GVG hätte ausgeschlossen werden müssen - Ermessensreduzierung auf Null -, so liegt hierin ein Verfahrensfehler, der nach § 337 StPO die Revision begründen kann. Die weitere Voraussetzung, daß die verfahrensfehlerhaft zugelassene Öffentlichkeit möglicherweise auf das Urteil Einfluß genommen hat, wird stets dann zu bejahen sein, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, daß der Zeuge unter Ausschluß der Öffentlichkeit anders ausgesagt hätte, die Wahrheitsfindung also möglicherweise beeinträchtigt wurde. 1 4 3 V. Stellungnahme § 172 GVG eröffnet die Möglichkeit, den Zeugen wirksam vor Gefahren zu schützen, die ihm durch die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung drohen. Daß von dieser Möglichkeit - zum Nachteil des Zeugen - in der Praxis nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht wird, liegt an dem damit verbundenen einseitigen Revisionsrisiko. Die Erstreckung des Revisionsgrundes des § 338 Nr. 6 StPO auf Fälle, i n denen die Öffentlichkeit entgegen § 172 GVG an der Verhandlung teilgenommen hat, erscheint dabei unter dem Gesichtspunkt der Rechtsfrieden sichernden Funktion des Strafverfahren nicht der richtige Weg zu sein, um den Schutz des gefährdeten Zeugen zu verbessern. Wesentlich sinnvoller wäre es hier, die Revision bei Verstößen gegen Öffentlichkeitsvorschriften generell einzuschränken, wie dies § 171 b Abs. 3 GVG für den Ausschluß der Öffentlichkeit zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes Betroffener vorsieht. 1 4 4 Darüber hinaus sollte der Ausschluß der Öffentlichkeit unter den Voraussetzungen des § 172 Nr. l a GVG (Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit) zwingend vorgeschrieben werden. Drohen derartige Beeinträchtigungen, dürften kaum Fälle denkbar sein, in denen das Interesse an der Öf142

Klöhn, Der Schutz der Intimsphäre, S. 392. Hierzu auch Kleinknecht, SchmidtLeichner-FS, S. 117 f. 1 4 3

Vgl. Dahs, NJW 1984, 1926 f.; Kissel , GVG, § 169 Rdn. 59; Kleinknecht,

Schmidt-Leichner-FS, S. 118; KMR/Paulus, § 338 Rdn. 73; Krey, Meyer-GedS, S. 253; wohl auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 338 Rdn. 47. 144 Zu Forderungen des 54. Deutschen Juristentages, die Revisibilität des § 172 GVG aufzuheben, vgl. Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 116 mit Fn. 1 ff. Dagegen Witzler, Personale Öffentlichkeit, S. 236 f.

. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m

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229

fentlichkeit des Verfahrens gegenüber den gegenläufigen Interessen überwiegen w i r d . 1 4 5 Von daher handelt es sich bei der vorgeschlagenen Änderung lediglich um eine - die Rechtsanwendung vereinfachende - Klarstellung. Es wird daher vorgeschlagen, § 172 GVG wie folgt zu ändern: Der bisherige § 172 GVG wird zu § 172 Abs. 1. Die bisherige Nr. l a erhält folgenden Wortlaut: (Das Gericht kann ... die Öffentlichkeit ausschließen wenn ...) "eine Gefährdung des Zeugen oder einer anderen Person zu besorgen i s t . " 1 4 6 Abs. 2: "Die Öffentlichkeit ist auszuschließen, wenn eine Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit des Zeugen oder einer anderen Person zu besorgen ist. Die Entscheidung ist unanfechtbar." B. Ausschluß des Angeklagten I. Grundsatz der Anwesenheit des Angeklagten Die Hauptverhandlung wird vom Grundsatz der Anwesenheit des Angeklagten bestimmt, § 230 StPO. 1 4 7 Die Anwesenheit soll dem Angeklagten die Möglichkeit sichern, sich allseitig und uneingeschränkt zu verteidigen und seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und aktive Verfahrensteilhabe zu verwirklichen. 1 4 8 Darüber hinaus dient sie aber auch dem Interesse des Gerichts an der vollständigen Aufklärung des Sachverhaltes, zumindest insoweit, als der Angeklagte die Möglichkeit erhält, Erklärungen abzugeben (§ 257 Abs. 1 StPO) und Fragen zu stellen (§ 240 Abs. 2 StPO). 1 4 9 Der Angeklagte ist nicht nur zur Anwesenheit berechtigt, er ist vielmehr verpflichtet, zu erscheinen, § 236 StPO, und während der Verhandlung anwesend zu bleiben, § 231 Abs. 1 StPO.

145

Hierzu auch Granderath, MDR 1983, 800. Hierbei handelt es sich wie schon bei der bisherigen Fassung - dazu BTDrucks. 12/989, S. 60 - lediglich um eine Klarstellung, um die individualrechtliche Komponente des Zeugenschutzes gegenüber § 172 Nr. 1 GVG deutlicher herauszustellen. 147 BGHSt 32, 32, 34. 146

1 4 8

LR/Gollwitzer

149

Ablehnend insoweit Hassemer, JuS 1986, 27 f.

y

§ 247 Rdn. 1.

230

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

IL Gefährdungsrelevanz

der Anwesenheit

Zur Gefahrdungsrelevanz der Anwesenheit des Angeklagten während der Vernehmung des Zeugen kann auf die Ausführungen zur richterlichen Vernehmung während des Ermittlungsverfahrens verwiesen werden. 1 5 0 III; Ausnahme, § 247 StPO Die einzige Möglichkeit, ein Zusammentreffen des Angeklagten mit dem Zeugen vor Gericht zu verhindern, bietet § 247 StPO. Danach kann der Angeklagte von der Anwesenheit während einer Zeugenvernehmung ausgeschlossen werden, wenn andernfalls die Sachverhaltsaufklärung oder Rechtsgüter des Zeugen gefährdet wären. 1. Voraussetzung a) § 247 S. 1 StPO § 247 S. 1 StPO ermöglicht den Ausschluß des Angeklagten während der Zeugenvernehmung, wenn zu befürchten ist, daß der Zeuge i n Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen werde. Die Regelung zielt damit auf den Schutz der gerichtlichen Sachverhaltsaufklärung ab. Zeugengefährdungen werden nur insoweit berücksichtigt, als sie die Gefahr einer Falschaussage oder eines Beweismittelverlustes begründen. 151 Der Angeklagte kann z.B. nach § 247 S. 1 StPO ausgeschlossen werden, wenn zu befürchten ist, ein Zeuge werde aus Furcht vor Rache oder anderen Nachteilen seine Aussage verfälschen oder beim Zusammentreffen mit dem Angeklagten einen Zusammenbruch erleiden und als Beweismittel ausfallen 152 . § 247 S.l StPO erfaßt auch die Fälle, i n denen die Gefahr besteht, der Zeuge werde bei Anwesenheit des Angeklagten gar nichts, und damit auch die Wahrheit nicht sagen. 153 Der Angeklagte kann daher ausgeschlossen werden, wenn ein gefährdeter Zeuge ankündigt, er werde i n Gegenwart des Angeklagten von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen 1 5 4 , oder wenn eine Auskunftsperson der Polizei von der obersten Dienstbehörde nur unter der Voraussetzung als Zeuge

150

Oben S. 197. Vgl. hierzu auch Böttcher, Kleinknecht-FS, S. 38; Rebmann/Schnarr, 1989,1189. 152 BGHSt 22, 289, 296. 153 So ausdrücklich BGHSt 22,18, 21. 154 BGH, StV 1995, 509; BGHSt 22, 18, 21. 151

NJW

. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m

uverfahren

231

freigegeben wird, daß die Zeugenvernehmung unter Ausschluß des Angeklagten stattfindet. 155 b) § 247 S. 2, 2. Alt. StPO Die Gefahrdung von Rechtsgütern des Zeugen wird von § 247 S. 2, 2. Alt. StPO als eigenständiger Ausschlußgrund anerkannt. Mit dieser erst durch das Opferschutzgesetz 156 1986 eingeführten Regelung werden zum einen die gesundheitlichen Beeinträchtigungen erfaßt, die der Person des Zeugen beim Anblick des Angeklagten drohen. 1 5 7 Erfaßt werden aber auch solche gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die der Zeugen dadurch zu befürchten hat, daß nicht er den Angeklagten, sondern der Angeklagte ihn optisch wahrnimmt. Der Angeklagte kann von der Zeugenvernehmung ausgeschlossen werden, wenn die Kenntnis des Angeklagten vom Aussehen und der Person des Zeugen zu einer Gesundheitsbeeinträchtigung des Zeugen führen k a n n . 1 5 8 Ein Ausschluß nach § 247 S. 2, 2. Alt. StPO ist jedoch nur möglich, wenn die "dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für die Gesundheit des Zeugen" bei einer Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten besteht. Das Gesetz fordert für den Ausschluß demnach eine auf tatsächliche Umstände gestützte hohe Wahrscheinlichkeit gravierender Beeinträchtigungen der körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheit des Zeugen. 1 5 9 Die Befürchtung kann sich auf konkrete, i m vorliegenden Einzelfall begründete Umstände, wie z.B. frühere Anschläge auf den Zeugen, aber auch auf kriminalistische oder kriminologische Erfahrungen, stützen. Maßgebend ist die Sachlage, wie sie sich dem Gericht bei der Entscheidung über den Ausschluß darstellt. 1 6 0 c) § 247 S. 2, 1. Alt. StPO Ist die Person des gefährdeten Zeugen unter 16 Jahre alt, so kann der Angeklagte nach § 247 S. 2, 1. Alt. StPO ausgeschlossen werden, auch wenn keine dringende Gefahr einer schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigung

155 § 247 S. 1 StPO ist auch in diesem Fall direkt und nicht etwa - wie offenbar BGHSt 32, 32, 37 m. Anm. Geerds, JZ 1984, 45; BGH, NStZ 1985, 136, meinen analog anzuwenden. Vgl. auch BGHSt 32,115,125. 156 Opferschutzgesetz vom 18.12.1986, BGBl. I, S. 2496. 157 Zur forensischen Bedeutung des § 247 S. 2 StPO vgl. Staiger-Allroggen, Auswirkungen des Opferschutzgesetzes, S. 90 ff. 158 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 247 Rdn. 12; Krey, Meyer-GedS, S. 247; LR/Gollwitzer, Nachtrag § 247 Rdn. 5; Rieß/Hilger, NStZ 1987, 150. 159 BT-Drucks. 10/6124; S. 14; Hanack, JR 1989, 255; KK/Mayr, § 247 Rdn. 11. Die Anforderungen für einen Ausschluß des Angeklagten sind damit erheblich strenger als für einen Ausschluß der Öffentlichkeit nach § 172 Nr. 1 und 1 a GVG, wo bereits die "Besorgnis einer Gefahrdung" genügt. 1 6 0

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 247 Rdn. 3

232

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

besteht. Für den Ausschluß des Angeklagten nach § 247 S. 2, 1. Alt. StPO genügt vielmehr bereits die Gefahr eines erheblichen Nachteiles für das körperliche oder seelische Wohl des jugendlichen Zeugen. 161 Auch hier ist der Ausschluß des Angeklagten nicht auf Beeinträchtigungen beschränkt, die dem Zeugen beim Anblick des Angeklagten drohen, erfaßt werden ebenfalls Beeinträchtigungen, die dem Zeugen dadurch drohen, daß der Angeklagte ihn erblickt. Der Wahrscheinlichkeitsgrad einer Schädigung sowie die Intensität der befürchteten Beeinträchtigung sind jedoch gegenüber gefährdeten Zeugen über 16 Jahren herabgesetzt. d) Dauer des Ausschlusses Der Ausschluß des Angeklagten kann sich auf die Dauer der gesamten Zeugenvernehmung erstrecken. 162 Die Formulierung "während einer Vernehmung" wird von der Rechtsprechung entsprechend den für den Öfifentlichkeitsausschluß entwickelten Grundsätzen erweiternd dahin interpretiert, daß auch Verfahrensvorgänge erfaßt werden, die mit der eigentlichen Vernehmung in enger Verbindung stehen oder sich daraus entwickeln, sofern ihnen keine selbständige verfahrensrechtliche Bedeutung zukommt. 1 6 3 Diese unbestimmte Umschreibung muß bei Fragen des Zeugenschutzes zwangsläufig zu Kontroversen führen 1 6 4 , denn hier ist es von entscheidender Bedeutung, ob es mit Hilfe des § 247 StPO möglich ist, eine Konfrontation des Zeugen mit dem Angeklagten während der gesamten Verhandlung sicher zu verhindern. Eine solche - über die eigentliche Vernehmung hinausgehende - Konfrontation kann sich z.B. während der Information des Angeklagten über den Inhalt der Aussage, während der Verhandlung über die Vereidigung bzw. die Entlassung oder während der Vereidigung selbst ergeben. Relevant wird die Frage darüber hinaus i m Falle der Augenscheinseinnahme z.B. von Verletzungen am Körper des Zeugen. Um eine gefährliche Konfrontation mit dem Angeklagten zu verhindern, ist es jedoch nicht in jedem Falle notwendig, diesen auszuschließen. Bei allen Verfahrensvorgängen, bei denen die Anwesenheit des Zeugen nicht unabding-

161

Erheblich ist der Nachteil, wenn er über die Vernehmung hinaus noch eine gewisse Zeit andauert; vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 247 Rdn. 11. 162 Also bereits auf die Vernehmung des Zeugen zur Person, RGSt 38, 10 f. 163 BGH bei Daliinger, MDR 1975, 544; BGH, StV 1987, 377. In seiner Entscheidung StV 1993, 343, 344, hält der BGH einen solchen Zusammenhang auch bei der Vernehmung eines anderen, selbst nicht gefährdeten Zeugen für möglich. 164 Eingehend hierzu Meyer-Goßner, Pfeiffer-FS, S. 311flf. Vgl. zuletzt BGH, StV 1995, 250: "Die Anordnung, daß sich der Angeklagte während der Vernehmung des Zeugen aus dem Gerichtssaal zu entfernen habe, umfaßt sinngemäß ... auch die Entscheidung über den Ausschluß der Öffentlichkeit." Kritisch hierzu Stein, StV 1995, 251 flf.

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bar ist, kann es genügen, anstelle des Angeklagten den Zeugen aus dem Sitzungssaal zu entfernen. Der Ausschluß des Zeugen richtet sich nicht nach § 247 StPO, sondern obliegt der allgemeinen Prozeßführungsbefugnis des Vorsitzenden. Hierbei ist zu beachten, daß das Gericht aufgrund seiner staatlichen Schutzpflicht gegenüber dem Zeugen sogar verpflichtet sein kann, ein Zusammentreffen des Zeugen mit dem Angeklagten auf diese Weise zu verhindern. 1 6 5 Der durch eine Konfrontation gefährdete Zeuge sollte daher aus dem Sitzungssaal entfernt werden, bevor der Angeklagte über den Inhalt der Zeugenaussage informiert wird bzw. bevor - in Anwesenheit des Angeklagten - über die Vereidigung des Zeugen oder über dessen Entlassung verhandelt wird.166 Problematisch bleiben damit allein die Fälle der Vereidigung des Zeugen und der Augenscheinseinnahme am Körper des Zeugen. Da hier die Anwesenheit des Zeugen unabdingbar ist, besteht der einzige Weg, eine gefährliche Konfrontation mit dem Angeklagten zu vermeiden, darin, den Angeklagten auch während dieser Verfahrensvorgänge auszuschließen. Nach der Rechtsprechung des BGH fallen weder die Vereidigung 1 6 7 noch die Augenscheinseinnahme, soweit sich die Körperbeschaffenheit des Zeugen nicht offen darbietet 1 6 8 , unter den Begriff der "Vernehmung" im Sinne § 247 StPO. Dennoch hat der BGH i m Wege der Analogie einen Ausschluß des Angeklagten während der Vereidigung für zulässig erachtet, wenn der Sinngehalt des § 247 S. 1 StPO nur durch eine entsprechende Erweiterung des Angeklagtenausschlusses zu verwirklichen sei. 1 6 9 Nachdem das Gesetz i n § 247 S. 2, 2. Alt. StPO einen eigenen Ausschlußgrund zum Schutze des Zeugen aufgenommen hat, bietet sich in Fällen der Zeugengefahrdung eher die analoge Anwendung dieser Vorschrift an, um eine den Zeugen gefährdende Konfrontation mit dem Angeklagten zu vermeiden. 170

16 5

166

Hanack, JR 1989, 256; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 247 Rdn. 8.

BGHSt 22, 289, 296 f.; BGH bei Kusch, NStZ 1993, 28 f.; Hassemer, JuS 1986, 26; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 247 Rdn. 15. - Die Fälle, in denen anders entschieden wurde, betrafen Vernehmungen von Mitangeklagten, vgl. RGSt 34, 332, 334; BGH bei Dallinger, MDR 1952, 18; auf die sich BGH, NStZ 1983, 181 und KMR/Paulus, § 247 Rdn. 24 daher zu Umecht berufen. Zum ganzen vgl. Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 109. 167 BGHSt 37, 48, 49; BGH, JR 1989, 254, 255. Zur Entwicklung der Rechtsprechung Meyer-Goßner, Pfeiffer-FS, S. 312 ff 168 Zu einem derartigen Fall vgl. BGH bei Dallinger, MDR 1974, 367 f. 169 BGHSt 37, 48, 50, im Anschluß an BGH, NStZ 1985, 136; vgl. auch BGH, NStZ 1987, 519. 170 Hierzu auch Krey, Meyer-GedS, S. 247 f. - Zum Vorhegen einer planwidrigen Gesetzeslücke als Voraussetzung einer Analogie vgl. Meyer-Goßner, Pfeiffer-FS,

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Auf diese Weise läßt sich auch eine Erweiterung des Ausschlusses auf die Augenscheinseinnahme bejahen. 171 Einer solchen am Schutzzweck der Vorschrift orientierten Erweiterung des Angeklagtenausschlusses kann auch nicht entgegengehalten werden, daß § 247 StPO als Ausnahmevorschrift eng auszulegen und einer analogen Anwendung nicht fähig sei. 1 7 2 Abgesehen davon, daß eine derartige Auslegungsregel - in ihrer Allgemeinheit - rechtsmethodisch nicht haltbar wäre 1 7 3 , muß hier gesehen werden, daß es sich bei § 247 StPO materiell nicht um eine Ausnahme, sondern um eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Einschränkung des Anwendungsbereichs des Anwesenheitsgrundsatzes handelt. Läßt sich daher der vom Gesetzgeber mit § 247 StPO intendierte Zweck nur durch eine Analogie verwirklichen, so ist dies rechtsmethodisch unbedenklich. 174 2. Rechtsfolge Die Entscheidung über den Ausschluß des Angeklagten steht i m pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Es hat hierbei das Interesse des Angeklagten "an vollem rechtlichen Gehör" 1 7 5 abzuwägen gegenüber dem Interesse des S. 322 Fn. 60: "In den Gesetzentwürfen der Bundesregierung war eine Änderung des § 247 StPO nicht vorgesehen (vgl. BR-Drucks. 51/86 und BT-Drucks. 10/5303, S. 32); sie wurde erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens auf Initiative Bayerns beschlossen (vgl. BT-Drucks. 10/6124, S. 13 f.). Das Problem, was bei der Vereidigung des Zeugen zu geschehen habe, wurde in den Beratungen - soweit ersichtlich - nicht behandelt." - Mit Einführung des § 247 S. 2, 2. Alt. StPO sind auch die Einwände Hassemers, JuS 1986, 27, gegen die Erweiterung des Angeklagtenausschlusses hinfallig geworden, wie Hassemer selber einräumt: "Wäre es das Ziel der Vorschrift, ... eine Gefahrdung des Zeugen zu verhindern, so wäre in der Tat nicht einzusehen, warum der gefahrliche Kontakt nur bei der Vernehmung, nicht aber auch sonst vermieden werden darf." 171 Auch der BGH hält sich in seiner Entscheidung NStZ 1988, 469, die Möglichkeit offen, § 247 S. 2 StPO im Wege der Analogie auf die Augenscheinseinnahme zu erstrecken. Vgl. hierzu auch Hanack, JR 1989, 257, der die Augenscheinseinnahme am Körper des Zeugen im Wege der teleologischen Auslegung unter den Begriff der "Vernehmung" zu erfassen versucht. 172 So aber BGHSt 15, 194, 195; 21, 332, 333 f.; 22, 18, 20; 26, 218, 220; BGH, NStZ 1988, 469; a.A Granderath, MDR 1983, 800; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 247 Rdn. 3. 173 BGHSt 39, 112,117; kritisch auch Larenz, Methodenlehre, S. 355 f. 174 Ebenso Meyer-Goßner, Pfeiffer-FS, S. 322. Hanack, JR 1989, 257, meint gar, die Beschränkung des § 247 S. 2 2. Alt. StPO auf "Vernehmungen" werde insoweit zwingend durch Verfassungsrecht überlagert. Der Gesetzgeber des OrgKG hat eine Erweiterung des § 247 StPO abgelehnt, da der Ausschluß des Angeklagten auch während der Vereidigung des Zeugen bereits nach geltendem Recht zulässig sei, vgl. BTDrucks. 12/989, S. 35. 17 5

KK/Mayr,

§ 247 Rdn. 1.

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235

Gerichts an einer vollständigen Aufklärung des Sachverhaltes bzw. - bei einem Ausschluß nach § 247 S. 2 StPO - gegenüber dem Integritätsinteresse des Zeugen. a) Anderweitige Abwendbarkeit Der Ausschluß des Angeklagten muß zur Abwendung der drohenden Gefahren "nötig und unvermeidbar" erscheinen. 176 Sofern es darum geht, den Zeugen vor einer Identifikation durch den Angeklagten zu schützen, könnte daran gedacht werden, den Ausschluß des Angeklagten durch eine optische Abschirmung des Zeugen entbehrlich zu machen. Ein solches Vorgehen würde dem Angeklagten die Möglichkeit belassen, die Vernehmung unmittelbar zu verfolgen und durch Ausübung seines Fragerechtes unmittelbar auf das Ergebnis der Vernehmung Einfluß zu nehmen. Seit der Entscheidung des Großen Senates in BGH 32, 115 ff., ist für die Praxis jedoch davon auszugehen, daß eine räumliche Abschirmung ein prozessual unzulässiges Mittel zum Schutz des Zeugen i s t . 1 7 7 Des weiteren könnte daran gedacht werden, den Ausschluß des Angeklagten dadurch entbehrlich zu machen, daß auf die Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung verzichtet wird. Das Wissen des Zeugen würde dann durch Beweissurrogate in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Ein solches Vorgehen wäre jedoch nicht geeignet, die Nachteile für den Angeklagten zu kompensieren, die mit seinem Ausschluß verbunden sind. Zur Wahl steht vielmehr nur entweder eine Beeinträchtigung des Anwesenheitsgrundsatzes oder eine Beeinträchtigung des Anwesenheitsgrundsatzes zusammen mit einer Beeinträchtigung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes, denn der Angeklagte hätte j a auch an der früheren Zeugenvernehmung unter den Voraussetzungen des § 247 StPO nicht teilnehmen dürfen. 1 7 8 Dem BGH ist daher zuzustimmen, wenn er feststellt, daß der Unmittelbarkeitsgrundsatz in dieser Konstellation dem Anwesenheitsgrundsatz vorgeht. 1 7 9 b) Gewichtungsbedingungen aa) Verteidigungsinteresse des Angeklagten Das Interesse des Angeklagten ist darauf gerichtet, an der Vernehmung des Zeugen unmittelbar teilzuhaben. Durch seinen Ausschluß wird ihm die Möglichkeit genommen, sich einen unmittelbaren Eindruck von dem Aussageverhalten des Zeugen zu machen und durch entsprechende Fragen hierauf unmit-

176

BGHSt 3, 384, 386. Eingehend zu den rechtlichen Möglichkeiten einer "Abschirmung" des Zeugen und zur Kritik an der derzeitigen Praxis unten S. 245 flf. 178 BGHSt 32, 32, 37. 179 BGHSt 32, 32, 36. 177

236

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

telbar zu reagieren. Die Beeinträchtigung seiner Verteidigungsmöglichkeiten beschränkt sich dabei jedoch auf die Unmittelbarkeit des Eindruckes und der Fragemöglichkeit, denn das für die Verteidigung wesentliche Sachwissen darf auch dem ausgeschlossenen Angeklagten nicht vorenthalten werden. 1 8 0 Der Vorsitzende hat den ausgeschlossenen Angeklagten vom Inhalt der Zeugenaussage zu unterrichten (§ 247 S. 4 StPO) und ihm das Recht einzuräumen, Erklärungen abzugeben (§ 257 Abs. 1 StPO) und dem Zeugen Fragen vorzulegen (§ 240 Abs. 2 StPO). Es kann daher festgestellt werden, daß das Interesse des Angeklagten an umfassender Verteidigung durch seinen Ausschluß von der Zeugenvernehmung zwar beschränkt wird, diese Beschränkung jedoch durch die ihm i m Anschluß eingeräumten Verteidigungsmöglichkeiten zu einem Teil ausgeglichen w i r d . 1 8 1 Die Beeinträchtigung der Verteidigungsmöglichkeiten kann im übrigen dann als gering angesehen werden, wenn der Angeklagte einen Verteidiger hat, der während der Zeugenvernehmung anwesend ist. Zu beachten ist darüber hinaus, daß der Angeklagte nur dann von der Vernehmung eines gefährdeten Zeugen ausgeschlossen werden kann, wenn von ihm selbst eine Gefahr für den Zeugen zu befürchten i s t . 1 8 2 Als Relativierungskriterium gewinnt hier die Beziehung des Angeklagten zu der Beschränkung seiner Verteidigungsmöglichkeiten Bedeutung. 183 Der Grundsatz, daß der Angeklagte während der Verhandlung anwesend zu sein hat, wird auch nach derzeitigem Recht in Fällen durchbrochen, in denen der Angeklagte sein Interesse an der Anwesenheit durch sein Verhalten selbst relativiert, vgl. §§ 231 Abs. 2, 231 a Abs. 1, 231 b Abs. 1, 232 Abs. 2 StPO. 1 8 4 Beispielhaft sei hier auf § 231 b Abs. 1 StPO verwiesen. Danach kann der Angeklagten von der weiteren Verhandlung ausgeschlossen werden, wenn er sich ordnungswidrig verhalten hat und zu befürchten ist, daß die Anwesenheit des Angeklagten den Ablauf der Hauptverhandlung in schwerwiegender Weise beeinträchtigen wird. Das hier zum Ausdruck kommende Relativierungskriterium kann ohne weiteres auf die Situation der Zeugengefährdung übertragen wer180

BGH, NStZ 1983, 181; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 247 Rdn. 16. Vgl. hierzu BT-Drucks. 10/6124, S. 13 f.; Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 111, verneint dagegen bereits eine Beeinträchtigung der Verteidigungsmöglichkeiten. 182 Dies ist auch dann der Fall, wenn der Angeklagte die erlangten Informationen zum Zweck der Einwirkung auf den Zeugen an Dritte weitergibt. 183 Allgemein zu diesem Relativierungskriterium siehe oben S. 133. Dies übersieht Hassemer, JuS 1986, 28, der meint, der Angeklagte sei bei § 247 StPO - anders als bei den anderen Ausschlußgründen - nicht mehr Täter, sondern Opfer. 184 Zu weitergehenden Forderungen, die Anwesenheit grundsätzlich zur Disposition des Angeklagten zu stellen, vgl. Julius, GA 1992, 295 ff., 305 f.; Stein, ZStW 97 (1985), 303 ff. 181

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den. Stellt sich z.B. heraus, daß der Angeklagte für eine vorherige Einschüchterung des Zeugen verantwortlich ist, und besteht infolgedessen die Gefahr einer verfälschten Zeugenaussage während der Hauptverhandlung, so hat der Angeklagte sein Interesse an der Anwesenheit während der Vernehmung dieses Zeugen durch sein vorangegangenes Verhalten selbst relativiert. bb) Aufklärungsinteresse des Gerichts Das Aufklärungsinteresse des Gerichts ist darauf gerichtet, durch den Ausschluß des Angeklagten einen Beweismittelverlust oder eine Falschaussage des Zeugen zu verhindern. Das Gewicht dieses Interesses bestimmt sich auch hier vor allem nach der Bedeutung der Zeugenaussage für die Feststellung des tatsächlichen Sachverhaltes. Im Hinblick auf die Gefahr einer Falschaussage ist weiter der Wahrscheinlichkeitsgrad zu berücksichtigen, mit dem die Anwesenheit des Angeklagten zu einer Verfälschung der Aussage führt. Maßgeblich ist hier die individuelle Situation des betroffenen Zeugen und insbesondere die Intensität der von ihm empfundenen Angst. cc) Schutzinteresse des Zeugen Das Interesse des gefährdeten Zeugen ist darauf gerichtet, vor Gefährdungen seiner Gesundheit (2. Alt.) oder seines "Wohles" (1. Alt.) verschont zu werden, die von einer Konfrontation mit dem Angeklagten ausgehen. Bei der Abwägung ist der hohe Rang zu berücksichtigen, der den von § 247 S. 2 StPO geschützten Rechtsgütern zukommt. Zu beachten ist darüber hinaus die Intensität der drohenden Beeinträchtigung und der Wahrscheinlichkeitsgrad, mit dem es zu einer Beeinträchtigung der bedrohten Rechtsgüter kommt. Schließlich haben auch hier Umstände in die Abwägung einzufließen, aus denen sich eine erhöhte Gefahrtragungspflicht des Zeugen ergibt. Verzichtet der Zeuge was in der Praxis selten der Fall sein dürfte - in voller Kenntnis des Risikos eigenverantwortlich auf einen Ausschluß des Angeklagten, so wird hierdurch sein Schutzinteresse aufgehoben. 185 IV. Revisionsrisiko Das Ausschlußverfahren ist außerordentlich fehlerträchtig und damit stark revisionsgefährdet, § 338 Nr. 5 i.V.m. § 230 StPO. 1 8 6 Das Gericht muß nicht nur eine dem Gesetz entsprechende Ausschließungsentscheidung treffen, es muß auch beachten, daß während der Ausschließung des Angeklagten keine Verfahrensschritte vorgenommen werden, auf die sich die Ausschließungsent-

185

Dies wird in BT-Drucks. 10/6124, S. 14, von dem Rechtsausschuß ausdrücklich klargestellt: "... freilich wird dies (ein Ausschluß von Amts wegen) nicht in Betracht kommen, wenn der Zeuge selbst auf diese Maßnahme keinen Wert legt." 186 Krey, Meyer-GedS, S. 249; Meyer-Goßner, Pfeiffer-FS, S. 311.

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Scheidung nicht bezieht oder bei denen der Angeklagte nicht hätte ausgeschlossen werden dürfen. Verzichtet das Gericht demgegenüber auf einen Ausschluß des Angeklagten, auch um den Preis einer Gefährdung des Zeugen, so geht es nahezu kein Revisionsrisiko e i n . 1 8 7 Nur in Ausnahmefällen wird hier mit dem Nichtausschluß des Angeklagten ein mit der Revision angreifbarer Verstoß gegen die richterliche Aufklärungspflicht zu begründen sein. 1 8 8 I m Zweifel wird das Gericht daher versucht sein, den Zeugen auch dann i n Anwesenheit des Angeklagten zu vernehmen, wenn die Voraussetzungen für einen Ausschluß vorliegen, die Anwesenheit also höherrangige Interessen des Zeugen oder der Sachverhaltsaufklärung verletzt. V. Stellungnahme § 247 StPO bietet eine Möglichkeit, eine für den Zeugen gefahrliche Konfrontation mit dem Angeklagten zu vermeiden. Die Formulierung des Gesetzes bringt den hier gebotenen Schutz jedoch nicht deutlich genug zum Ausdruck. Mißverständlich ist, daß der Ausschlußgrund des S. 2, 2. Alt durch seinen Bezug auf S. 1 als bloße "Kann-Vorschrift" ausformuliert ist. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des S. 2, 2. Alt. - dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für die Gesundheit des Zeugen - sind so eng gefaßt, daß es die Fürsorgepflicht des Gerichts in diesen Fällen grundsätzlich gebietet, die Vernehmung ohne den Angeklagten durchzuführen. Auch der Gesetzgeber ist hier von einer grundsätzlichen Ermessensreduzierung auf Null ausgegangen und hat lediglich in dem Verzicht des Zeugen einen Grund gesehen, von dem grundsätzlichen Ausschluß des Angeklagten Abstand zu nehmen. 1 8 9 Der Gesetzestext sollte daher klarstellen, daß der Angeklagte unter den Voraussetzungen des § 247 S. 2, 2. Alt. StPO auszuschließen ist} 90 Als Ermessensrege187

Kritisch zu diesem "Ungleichgewicht" Böttcher, Kleinknecht-FS, S. 39; Krey, Meyer-GedS, S. 249. 188 Böttcher, Kleinknecht-FS, S. 39; KKMayr, § 247 Rdn. 4. 189 So ausdrücklich der Rechtsausschuß des Bundestages zu der von ihm angeregten Regelung des § 247 S. 2, 2. Alt. StPO, vgl. BT-Drucks. 10/6124, S. 14. Ebenso Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 247 Rdn. 12; LR/Gollwitzer, Nachtrag § 247, Rdn. 2. 190 Der historische Gesetzgeber ging schon bei dem Ausschlußgrund des § 247 S. 1 StPO davon aus, den Interessenvorrang bereits mit der Formulierung des Ausschlußtatbestandes zum Ausdruck gebracht zu haben: Der Gesetzgeber, dem die Abwägung der kollidierenden Interessen obliegt, hat dajnit dem Gebot der umfassenden Sachverhaltsaufklärung den Vorrang vor der Gewährung des rechtlichen Gehörs in den Fällen eingeräumt, in denen die Anwesenheit des Angeklagten eine wahrheitsgemäße Aussage gefährdet; vgl. Hahn, Materiahen zur Straiprozeßordnung, Abt. 2, S. 1363. Die Anwesenheit des Angeklagten sollte kein Hindernis "für die ungetrübte Wahrheitserforschung" sein; RGSt 60, 179, 181. Im Ergebnis ebenso Granderath, MDR 1983, 800; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 247 Rdn. 3.

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lung sinnvoll wäre dagegen ein Ausschlußgrund, der nicht nur die dringende Gefahr einer schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigung erfaßt, sondern sich auf alle Rechtsgüter des Zeugen bezieht. Sachlich nicht gerechtfertigt ist darüber hinaus die Beschränkung der Ausschlußmöglichkeit auf Gefahrdungen des Zeugen. Führt die Identifikation des Zeugen durch den Angeklagten dazu, daß Übergriffe auf andere Personen, z.B. Familienangehörige, drohen, so muß auch diese Gefahrenlage einen Ausschluß des Angeklagten rechtfertigen. Sinnvoll erscheint weiter eine gesetzliche Klarstellung, daß sich der Ausschluß des Angeklagten über die Vernehmung i m engeren Sinne hinaus auch auf eine mögliche Augenscheinseinnahme am Körper des Zeugen und auf die Vereidigung erstreckt, wenn nur so der Zweck des Ausschlusses nach S. 1 und S. 2 erreicht werden k a n n . 1 9 1 Die Wirksamkeit des Schutzes wird schließlich durch das einseitige Revisionsrisiko stark beeinträchtigt. Angesichts des Umstandes, daß eine wirksame Verteidigung des Angeklagten trotz des Ausschlusses grundsätzlich gewährleistet bleibt 1 9 2 , erscheint es gerechtfertigt, in Fällen der Zeugengefährdung die Entscheidung über den Ausschluß der revisionsgerichtlichen Überprüfung zu entziehen. § 247 StPO sollte daher wie folgt geändert werden: S.2: Das gleiche gilt, wenn Anlaß zur Besorgnis besteht, daß durch die Vernehmung i n Anwesenheit des Angeklagten ein Zeuge oder eine andere Person gefährdet wird. S.3: Der Angeklagte ist auszuschließen, wenn die dringende Gefahr besteht, daß durch seine Anwesenheit während der Vernehmung der Zeuge oder eine andere Person an Leben, Leib oder Freiheit gefährdet wird. S.4: Das gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 16 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist. S.5: Unter den Voraussetzungen der Sätze 1 und 2 kann der Ausschluß auf die Vereidigung des Zeugen sowie die Augenscheinseinnahme am Körper des Zeugen erstreckt werden; unter den Voraussetzungen der Sätze 3 und 4 ist der Ausschluß hierauf zu erstrecken. S.6: Die Entscheidung über den Ausschluß zum Schutz des Zeugen oder einer anderen Person ist unanfechtbar.

191 192

Meyer-Goßner, Pfeiffer-FS, S. 323. Hierzu oben S. 235.

240

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

C. Ausschluß des Verteidigers I. Grundsatz der Anwesenheit des Verteidigers Das Recht des Angeklagten, zur Wahrung seiner Interessen auf den Gang und das Ergebnis des Strafverfahrens Einfluß zu nehmen, wird durch das Recht auf Beiziehung eines Verteidigers, § 137 Abs. 1 StPO 1 9 3 , abgesichert. 1 9 4 Aufgabe des Verteidigers ist es, die Rechte des Angeklagten "allseitig" zu wahren und auf die strenge Justizförmigkeit des Verfahrens hinzuwirken. 1 9 5 Der Verteidiger kann diese Aufgabe nur erfüllen, wenn ihm keine Informationen vorenthalten werden, die für das Verfahren und dessen Ausgang von Bedeutung sind. Mit dem Grundsatz der Anwesenheit des Verteidigers während der Hauptverhandlung wird die Erfüllbarkeit dieser Aufgabe auf unmittelbare Weise sichergestellt. Der Verteidiger ist - neben dem Angeklagten - berechtigt, den Zeugen zu befragen, § 240 Abs. 2 StPO, und nach jeder Vernehmung Erklärungen abzugeben, § 257 Abs. 2 StPO. Gerade i m Hinblick auf die Vernehmung von Zeugen treten die Verfahrensrechte des Angeklagten, insbesondere sein Fragerecht, in der Praxis hinter die Verfährensrechte des Verteidigers zurück. II. Gefährdungsrelevanz Zur Gefahrdungsrelevanz einer Konfrontation des Zeugen mit dem Verteidiger kann auf die Ausführungen zur Anwesenheit des Verteidigers während der richterlichen Vernehmung i m Ermittlungsverfahren verwiesen werden. 1 9 6 III. Ausnahmen von der Anwesenheit des Verteidigers Das Gesetz sieht keinerlei Möglichkeiten vor, einen Verteidiger zum Schutz des Zeugen von der Vernehmung in der Hauptverhandlung auszuschließen. 197

193

Vgl. auch Art. 6 Abs. 3 Buchst, c MRK. BVerfG, NJW 1984, 2403. Drohen dem Angeklagten durch den Ausgang des Verfahrens gravierende Nachteile, ist ihm von Amts wegen ein Verteidiger zur Seite zur stellen, § 140 StPO. 194

195

196

Siegismund, JR 1994, 254.

ObenS. 197. Zu unterscheiden ist diese Problematik von den Fällen eines Verteidigerausschlusses nach § 138 a StPO. Danach kann ein Verteidiger für das gesamte Verfahren ausgeschlossen werden, wenn er im Verdacht steht, den Verkehr mit dem inhaftierten Beschuldigten zur Bedrohung eines Zeugen zu mißbrauchen (§§ 138 a Abs. 1 Nr. 2 StPO i.V.m. § 241 StGB) - hierzu Lüdeice, Zeugenbeistand, S. 172; Wasserburg, Peters-FG, S. 295 - oder durch Einflußnahme auf den Zeugen eine Strafvereitelung be197

. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m

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241

I n der Praxis wurde z.T. versucht, diesen Befund mit Hilfe der Vorschriften über die kommissarische Zeugenvernehmung, §§ 223, 224 StPO, zu umgehen. Derartige Versuche sind bereits wegen des gesetzlich unbeschränkten Anwesenheitsrechts des Verteidigers, § 224 Abs. 1 S. 1 StPO, zum Scheitern verurt e i l t . 1 9 8 Darüberhinaus kann sich eine zur Entscheidung i n der Hauptverhandlung berufene Strafkammer nicht selbst i n voller Besetzung mit der Vernehmung eines Zeugen außerhalb der Hauptverhandlung beauftragen. 199 Die gewählte Form der kommissarischen Vernehmung kann i n diesen Fällen nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei der Vernehmung sachlich u m die Fortführung der Hauptverhandlung handelt. 2 0 0 I m übrigen kann dem Verteidiger auch nicht nach § 174 Abs. 3 GVG verboten werden, gefährdungsrelevante Informationen, die er während der Hauptverhandlung erlangt hat, an Dritte weiterzugeben. Das Schweigegebot des § 174 Abs. 3 GVG bezieht sich explizit nicht auf die hier relevanten Fälle, so daß diese Norm auch nicht entsprechend angewendet werden k a n n . 2 0 1 IV. Stellungnahme Nach geltendem Recht ist es nicht möglich, während des Hauptverfahrens eine gefährdende Konfrontation des Zeugen mit dem Verteidiger zu vermeiden. Aber auch de lege ferenda erscheint ein Ausschluß des Verteidigers von der Zeugenvernehmung i m Hauptverfahren nicht angebracht. 202 Es wäre bereits der Stellung des Verteidigers als eines Organs der Rechtspflege nicht angemessen, ihn wie den Angeklagten "abtreten" zu lassen, während i n seiner Abwesenheit wichtige Verfahrenshandlungen vorgenommen werden. Während der Ausschluß des Angeklagten noch damit gerechtfertigt werden kann, daß seine Teilhabeinteressen von seinem Verteidiger weiterhin wahrgenommen werden können, würde ein Ausschluß sowohl des Angeklagten als auch des Verteidigers von der Zeugenvernehmung die Teilhabeinteressen des Angeklagten unverhältnismäßig beeinträchtigen. gangen zu haben (§ 138 a Abs. 1 Nr. 3 StPO i.V.m. § 258 StGB), vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 138 a Rdn. 11.

198

Da das Gesetz von einem grundsätzlichen Anwesenheitsrecht des Verteidigers ausgeht, kann auch die von § 224 Abs. 1 S. 2 StPO vorgesehene Nichtbenachrichtigung nicht auf Gründe gestützt werden, die auf einen Ausschluß des Anwesenheitsrechtes hinausliefen, vgl. hierzu bereits S. 199 f. In diese Richtung auch BGHSt 32, 115, 129. 199 BGHSt 31, 236, 238; Meyer, JR 1983, 475. 20 0 KMR/Paulus, § 223 Rdn. 23, vgl. auch Wasserburg, Peters-FG, S. 303 f. 2 0 1

A A . Lesch, StV 1995, 545.

202

Vgl. auch Jung/Krüger,

1 Zacharias

Gefährdete Zeugen, S. 38; Siegismund, JR 1994, 254.

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

242

Gefährdete Zeugen sind - was die Sachverhaltsaufklärung angeht - immer auch gefährliche Zeugen. Gerade hier kommt der Möglichkeit zu einer unmittelbaren Befragung besondere Bedeutung zu. Durch die unmittelbare Wahrnehmung der gesamten Palette nonverbaler Informationen und durch den unmittelbaren Dialog können Verfalschungskriterien gezielt offengelegt, Widersprüche provoziert und Lügengebäude letztlich zum Einsturz gebracht werden. Diese Möglichkeiten werden dem Verteidiger durch seinen Ausschluß von der Zeugenvernehmung genommen und können durch die Möglichkeit, dem Zeugen Fragen vorlegen zu lassen, nicht kompensiert werden. Der die Art der Vernehmung oft entscheidende persönliche Eindruck von dem Aussageverhalten des Zeugen kann hier nicht wirksam werden. Beschränkt sich die Zeugenbefragung durch Gericht und Staatsanwaltschaft zudem auf "das Aktenabfragen zur Befestigung eines Vorurteils" 2 0 3 , so leidet unter dem Verteidigerausschluß nicht nur die Verteidigungsinteressen des Angeklagten, sondern auch die Sachverhaltsaufklärung. Von einem Ausschluß des Verteidigers von der Vernehmung eines gefährdeten Zeugen ist daher auch de lege ferenda abzusehen. D. Vernehmung an einem sicheren Ort I. Gefährdungsrelevanz

der Vernehmung im Gericht

Das Erscheinen im Gerichtsgebäude kann für den Zeugen mit besonderen Gefahren verbunden sein, die unabhängig davon bestehen, ob die Öffentlichkeit oder der Angeklagte während der Vernehmung anwesend sind. Solche Gefahren können von Personen ausgehen, die sich i m Gerichtsgebäude oder dessen Umgebung aufhalten und die Anwesenheit des Zeugen dazu nutzen, ihn vor Ort anzugreifen oder ihn zu verfolgen. Dadurch, daß der Ort der Sitzung für jedermann bekannt ist, ist ein Zeuge leicht aufspürbar. Personen, die sich an dem Zeugen rächen wollen, können ihn auf diese Weise leicht identifizieren bzw. bis zu seinem Aufenthaltsort verfolgen. 204 Bei Aussagen besonders gefährdeter "Kronzeugen" insbesondere im Bereich der organisierten Kriminalität und des Terrorismus können aber auch Anschläge auf das Gerichtsgebäude zu befürchten sein. IL Möglichkeit einer Verlegung der Hauptverhandlung Verfügt das Gerichtsgebäude nicht über entsprechende Schutzvorkehrungen, kann diesen Gefahren dadurch begegnet werden, daß die Hauptverhand-

2 0 3

Prüfer,

204

Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 143.

StV 1993, 605.

. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m

uvefahren

243

lung für die Dauer der Vernehmung eines gefährdeten Zeugen an einen besonders geschützten Ort verlegt und für diesen Teil der Verhandlung die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird. Der Ort, an dem die Hauptverhandlung fortgesetzt wird, wird in diesen Fällen auch nicht öffentlich bekanntgemacht. Zu denken ist insbesondere an Gebäude von Polizeibehörden, in denen durch entsprechende Zugangskontrollen gewährleistet werden kann, daß keine unbefugten Personen in das Gebäude gelangen. Der Zeuge kann vielfach unauffälliger i n ein solches Gebäude hinein und auch wieder hinaus gebracht werden und sich dort auch längere Zeit vor der Verhandlung geschützt aufhalten. Auf diese Weise wird es eventuellen Verfolgern erschwert, die Person des Zeugen zu identifizieren, sie zu verfolgen oder überhaupt erst auf ihre Spur zu kommen.205 Eine solche Verlegung der Hauptverhandlung steht nicht in Widerspruch zu dem geltenden Verfahrensrecht. Zeugenvernehmungen finden zwar regelmäßig im Gerichtsgebäude statt. 2 0 6 Wie andere Teile der Hauptverhandlung auch, kann eine Vernehmung an einem anderen Ort stattfinden, wenn hierfür sachliche Erwägungen, wie z.B. der Schutz des Zeugen, sprechen. 207 III. Entscheidung über die Verlegung Bei der Entscheidung, die Hauptverhandlung an einen Ort außerhalb des Gerichtsgebäudes zu verlegen, handelt es sich um eine prozeßleitende Verfügung des Vorsitzenden. 208 Im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens hat er die von einer Verlegung betroffenen Interessen gegeneinander abzuwägen. Die Verlegung der Hauptverhandlung an einen besonders gesicherten Ort beeinträchtigt für sich genommen allein das staatliche Effizienzinteresse. Das Gewicht von Nachteilen für dieses Interesse bestimmt sich dabei nach dem Ausmaß der mit der Verlegung verbundenen zeitlichen Verzögerung, der Höhe der zusätzlichen Kosten sowie dem Umfang der Arbeitsmehrbelastung für die Strafverfolgungsorgane. Für den Mehraufwand an Zeit und Kosten entscheidend sind die Entfernung zum Vernehmungsort und die Modalitäten des Transportes. 209

205

Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 142 f.; Rebmann, NStZ 1982, 319. Davon geht auch § 177 S. 1 GVG aus, wonach Personen, die die Vernehmung stören, aus dem "Sitzungssaal" entfernt werden können. 207 Allgemeine Meinung seit BGHSt 22, 311, 313. Auch die Begründung des OrgKG-Entwurfes des Bundesrates sieht hierin eine denkbare Zeugenschutzmaßnahme, vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 35. 206

2 0 8

209

KMR/Paulus

y

§ 213 Rdn. 12.

In einem Strafverfahren, in dem der extrem gefährdete Geheimagent "Stiller" als Zeuge aussagen sollte, wurde erwogen, sämtliche Veifahrensbeteiligte mit Hub16*

244

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Diese Beeinträchtigungen des staatlichen Effizienzinteresses sind abzuwägen gegenüber den Nachteilen, die sich für die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung und das Schutzinteresse des Zeugen bei einer Vernehmung i m Gerichtsgebäude ergeben. Das Aufklärungsinteresse ist in den Fällen unmittelbar betroffen, i n denen die Auskunftsperson von der Exekutive für eine Vernehmung im Gerichtsgebäude "gesperrt" wurde oder angekündigt hat, sich i n diesem Falle auf ein ihr zustehendes Aussageverweigerungsrecht zu berufen. Hierzu gehören aber auch die Fälle, in denen eine Auskunftsperson an Leib und Leben gefährdet ist und die Gefahrenlage durch einen Auftritt als Zeuge i m Gerichtsgebäude verschlechtert werden würde. Hier ist das Gericht durch seine Fürsorgepflicht gehindert, die Vernehmung des Zeugen im Gerichtsgebäude anzuordnen. 210 Zu berücksichtigen ist schließlich die Gefahr, der Zeuge werde bei einer Vernehmung unter weniger sicheren Umständen aus Angst vor Repressalien die Wahrheit nicht sagen. Das Gewicht des gerichtlichen Aufklärungsinteresses bestimmt sich auch hier vor allem nach der Schwere der Tat und der Bedeutung der Zeugenaussage für die Feststellung des tatsächlichen Sachverhaltes. IV. Revisionsrisiko Eine fehlerhafte Verlegung ist - sofern nicht zugleich die Öffentlichkeit oder der Angeklagte vorschriftswidrig ausgeschlossen wurde - nicht angreifbar und begründet auch nicht die Revision, da es ausgeschlossen erscheint, daß das Urteil auf der Verlegung beruhen könnte. Eine fehlerhafte Nichtveriegung kann mit der Revision angegriffen werden, wenn es hierdurch zu einem Beweismittelverlust (Sperrerklärung, Zeugnisverweigerung) kommt oder wenn das Aussageverhalten des Zeugen durch die NichtVerlegung beeinflußt wurde und hierauf das Urteil beruhen kann. V. Stellungnahme Als Ergebnis kann festgehalten werden, daß der Vorsitzende stets dann von der Möglichkeit, die Hauptverhandlung an einen sicheren Ort zu verlegen, Gebrauch zu machen hat, wenn nur hierdurch die gerichtliche Aufklärungspflicht, § 244 Abs. 2 StPO, erfüllt oder der angemessene Schutz eines gefährdeten Zeugen gewährleistet werden kann. 2 1 1

schraubern an den geheimgehaltenen Vernehmungsort bringen zu lassen. Wegen verbleibender Sicherheitsrisiken wurde dieser Plan jedoch wieder fallengelassen, vgl. hierzu Reb mann, NStZ 1982, 319 mit Fn. 41. 210 Hierzu oben S. 141 ff. 211 Vgl. auch BGHSt 32, 115,125.

. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m

uverfahren

245

E. Abschirmung I. Optische und akustische Abschirmung Bei der optischen und akustischen Abschirmung geht es darum, den Anblick des Zeugen während seiner Vernehmung durch künstliche Maßnahmen zu verdecken oder die Stimme durch technische Einrichtungen zu verzerren, um auf diese Weise ein Wiedererkennen durch Anwesende zu verhindern. 212 1. Derzeitige Rechtslage Vor allem zu Beginn der achtziger Jahre ließen einige Instanzgerichte derartige Maßnahmen zu, um der drohenden Sperrerklärung einer V-Person als Zeuge entgegenzuwirken und deren Vernehmung in Anwesenheit des Angeklagten bzw. der Öffentlichkeit zu ermöglichen. Insbesondere der zweite Senat des BGH hat diese Entwicklung tatkräftig unterstützt, indem er immer wieder erstinstanzliche Urteile aufgehoben hat, in denen von den Möglichkeiten einer optischen und akustischen Abschirmung kein Gebrauch gemacht wurde. 2 1 3 Als Konsequenz dieser Entwicklung wurde der Person des Zeugen gestattet, ihr Gesicht hinter einer Maske zu verbergen 214 oder ihre Angaben verborgen i n einer Kutte zu machen. 215 Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, daß die Person des Zeugen von keinem der Anwesenden - während der Vernehmung oder später - identifiziert werden kann. Wenigstens für das Gericht erkennbar bleiben konnte der Zeuge, wenn er hinter einem Wandschirm, in einer Kabine oder hinter einer dunklen Scheibe aussagte. 216 Die sog. akustische Abschirmung bestand darin, daß der Zeuge - zusätzlich zu der optischen Abschirmung - über ein mit einem sog. Stimmverzerrer verbundenes Mikrophon sprach. 2 1 7

212

Das Wiedererkennen bezieht sich dabei sowohl darauf, daß Anwesende den Zeugen als eine ihnen bereits bekannte Person wiedererkennen, als auch darauf, daß der bis zur Vernehmung unbekannte Zeuge von den Anwesenden bei einer späteren Begegnung wiedererkannt wird. 213 Vgl. hierzu die Entscheidungen des 2. Senats BGHSt 31, 149, 156; 31, 290, 293 f.; BGH, NStZ 1982, 42. 214 BGH, NStZ 1982, 42; LG Bremen, StV 1981,19. 215 BGHSt 31, 290, 293; BGH, NStZ 1984, 32, 33; BGH, StV 1984, 5 (V-Mann befindet sich im Beratungszimmer und beantwortet die Fragen durch die geöflnete Tür). 216 Rebmanriy NStZ 1982, 319. 217 Miebach, ZRP 1984, 85. Der BGH hält eine solches Vorgehen zu Recht dann für nicht praktikabel, wenn "nicht nur die Stimme des Zeugen, sondern auch die Ei-

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

246

A l l diesen Möglichkeiten, einen Zeugen optisch oder akustisch abzuschirmen, hat der Große Senat des BGH - auf eine Vorlage des zweiten Senates h i n 2 1 8 - i n seiner Entscheidung vom 17.10.1983 mit knappen Worten eine Absage erteilt: "Auch eine Beweisaufnahme unter optischer oder akustischer Abschirmung eines Zeugen sieht das geltende Recht nicht v o r . " 2 1 9 Diese Abkehr wurde von der Literatur nahezu einhellig begrüßt, wobei jedoch die eigentliche Feststellung des Großen Senates, daß es an einer gesetzlichen Regelung derartiger Maßnahmen fehle, i n den Hintergrund trat und statt dessen die - vom BGH mit keinem Wort erwähnte - grundsätzliche Unvereinbarkeit eines solchen Vorgehens mit den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens i n den Vordergrund gerückt w u r d e . 2 2 0 Verwundert wurde nun i n der Literatur die Frage gestellt, wie es überhaupt zu derartigen "prozessualen Entartungen" 2 2 1 , zu einem solchen "Mummenschanz" 2 2 2 und "unwürdigen Gerichtsspektakel" 223 , das offenbar dem "Rebmannschen Gruselkabinett" 2 2 4 entsprungen sei, kommen konnte. 2 2 5 Es entspricht heute der absolut herrschenden Meinung, daß optische und akustische Abschirmungen des Zeugen unzulässig s i n d . 2 2 6 Versuche, der Entscheidung des Großen Senates - Unzulässigkeit wegen fehlender gesetzlicher Regelung - dadurch Rechnung zu tragen, daß Maßnahmen der optischen und akustischen Abschirmung gesetzlich geregelt werden 2 2 7 , hat der Gesetzgeber bisher unberücksichtigt

genarten seiner Sprache (wie Dialekt, charakteristische Satzbildung und Wiederholungen, Sprachfehler usw.)" verborgen werden müssen, BGH, NStZ 1984, 32, 33. 2 1 8 BGH, NStZ 1984, 32. 219 BGHSt 32,115, 124 f. 2 2 0

Vgl. nur Bruns ? MDR 1984, 177; Engels, NJW 1983, 1530; Fezer, JZ 1984, 433; Seelmann, StV 1984, 477; Tiedemann/Sieber, NJW 1984, 753. - Auf das Fehlen

einer gesetzlichen Regelung beschränken ihre Kritik dagegen Frenzel, NStZ 1984, 39; Grünwald, StV 1984, 56. 2 2 1

Bruns, M D R 1984, 179.

2 2 2

Tiedemann/Sieber,

2 2 3

Weider, StV 1983, 229.

NJW 1984, 756.

224 So die in Der Spiegel v. 21.11.1983, Nr. 47, S. 64, wiedergegebene Äußerung Widmaiers in Anspielung auf denfrüheren Generalbundesanwalt Rebmann. 2 2 5

Fezer, JZ 1984, 433.

226 Vgl

n u r

Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 540; Kleinknecht/Meyer-

Goßner, § 68 Rdn. 18; Pfeiffer

in Pfeiffer/Fischer,

§ 68 Rdn. 3; Ranft, Strafprozeß-

recht, Rdn. 1409. 2 2 7 Vgl. die Vorschläge von Miebach, ZRP 1984, 85, und Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 246 f. Zustimmend Böttcher, Schüler-Springorum-FS, S. 551; Lesch, StV 1995, 545; Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1191; Steinke, ZRP 1993, 256.

. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m

uverfahren

247

gelassen und statt dessen zu erkennen gegeben, daß er derartige Maßnahmen auch materiell für unzulässig h ä l t . 2 2 8 2. Stellungnahme Der Feststellung des BGH, daß optische und akustische Schutzvorkehrungen vom geltenden Recht nicht erfaßt werden, ist zuzustimmen. Offen bleibt dabei aber die Frage, ob es zulässig ist, derartige Abschirmmaßnahmen gesetzlich zu regeln. Die grundsätzliche Ablehnung jeglicher Abschirmmaßnahmen ist von der Prämisse her konsequent, daß sämtliche strafprozessuale Zeugenschutzmaßnahmen, durch die Verteidigungsinteressen betroffen werden, unzulässig sind und zu einem Beweisverlust führen. Diese Prämisse führt zu einem klaren Ergebnis: Kann einem gefährdeten Zeugen ein unverdeckter Auftritt vor Gericht nicht zugemutet werden, so darf dieser Schutz nicht auf Kosten des Angeklagten gehen, belastende Tatsachen sind daher bei der Urteilsfindung unberücksichtigt zu lassen, entlastende Tatsachen dagegen als wahr zu unterstellen. Diese Ansicht wird von Rechtsprechung und herrschender Lehre mit der Begründung abgelehnt, daß das Strafverfahren damit zur Disposition des Angeklagten gestellt würde. 2 2 9 Zu prüfen ist daher, mit welchen Argumenten dann die Unzulässigkeit optischer und akustischer Schutzvorkehrungen zu begründen ist. a) Rechtliches Gehör Unproblematisch zu begründen ist die Unzulässigkeit einer optischen Abschirmung des Zeugen nur gegenüber dem Angeklagten und seinem Verteidiger. Ein solches Vorgehen würde zu einem unzulässigen Informationsvorsprung des Gerichts führen und damit gegen das Grundrecht des Angeklagten auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG, verstoßen. Der Angeklagte hat das Recht, zu allen der Entscheidung zugrunde liegenden Tatsachen selbst oder durch seinen Verteidiger Stellung zu nehmen. Hierzu können auch die körpersprachlichen Reaktionen des Zeugen gehören, von denen das Gericht einen

228 Wobei sich der Gesetzgeber des OrgKG für seine Untätigkeit kurioserweise auf die Entscheidung des Großen Senates berufen hat, in der die Unzulässigkeit derartiger Maßnahmen jedoch ausdrücklich mit dem Fehlen einer gesetzlichen Regelung begründet wurde. Vgl. hierzu den Entwurf des Bundesrates zum OrgKG, BT-Drucks. 12/989, S. 36: "In Übereinstimmung mit dem Großen Senat geht der Entwurf davon aus, daß ein solches Verfahren nicht zulässig ist." Dagegen hat es der Gesetzentwurf der SPDFraktion u.a. vom 10.11.1982, BT-Drucks. 9/2089, S. 3, noch ausdrücklich als zulässig angesehen, "für die Vernehmung Vorkehrungen vorzusehen, die die Anonymität der zu vernehmenden Person zu wahren geeignet sind" (§ 251 a Abs. 1 Nr. 3 StPO-E). 229 Eingehend hierzu unten S. 315 flf.

248

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

optischen Eindruck gewinnt und die für seine Beweiswürdigung bedeutsam sind.230 Wird dagegen ein unzulässiger Informationsvorsprung des Gerichts vermieden, indem der Zeuge auch gegenüber dem Gericht optisch abgeschirmt wird, so vermag die Ansicht, derartige Zeugenschutzmaßnahmen verstießen gegen Art. 103 Abs. 1 GG, nicht zu überzeugen. b) Sachverhaltsaufklärung und Verteidigung Das Argument, die optische und akustische Abschirmung des Zeugen beeinträchtige die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung und die Verteidigungsinteressen des Angeklagten, ist insofern berechtigt, als das nonverbale Aussageverhalten eines abgeschirmten Zeugen bei seiner Vernehmung und der anschließenden Beweiswürdigung nicht berücksichtigt werden kann. Dieses Argument erhält zusätzliches Gewicht durch die Bedeutung, die der Mimik und Gestik des Zeugen für die Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit zukommen kann.231 Ein Argument für die Unzulässigkeit dieser Form prozessualen Zeugenschutzes ließe sich aus diesen Nachteilen aber nur dann herleiten, wenn die Alternative lauten würde: Aussage des Zeugen abgeschirmt oder offen. Diese Alternative besteht in den hier relevanten Fällen jedoch gerade nicht. Ein Zeuge, der zu seinem Schutz optisch und akustisch abgeschirmt werden muß, ist in der Regel so gefährdet, daß er als Beweismittel ausfällt, sei es, daß er von der Exekutive gesperrt wird, sei es, daß das Gericht i m Rahmen seiner Fürsorgepflicht auf den Zeugen zu verzichten h a t . 2 3 2 Die aus einer optischen und akustischen Abschirmung erwachsenden Nachteile für die Sachverhaltsaufklärung und die Verteidigungsmöglichkeiten sind daher in Beziehung zu setzen zu den Nachteilen, die mit einem sonst drohenden Beweismittelverlust - und dem damit einhergehenden Rückgriff auf Beweissurrogate verbunden sind. In dieser Relation scheint der Vorzug einer optischen und akustischen Abschirmung des Zeugen gegenüber einem sonst drohenden Beweismittelverlust auf der Hand zu liegen:

230

So auch Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 540; J. Meyer, ZStW 95 (1983), 854; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 1409; Tiedemann/Sieber, NJW 1984, 756. 231 Bruns, MDR 1984, 177, hält eine Glaubwürdigkeitsbeurteilung des Zeugen sogar für unmöglich, wenn keine Möglichkeit besteht, ihn zu sehen. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß bei einer rein optischen Abschirmung immer noch die Sprechweise (unsicher werdend, zögernd etc.) berücksichtigt werden kann. Wird dagegen auch die Stimme digital bis zur völligen Verfremdung verzerrt, hat sich die Beweiswürdigung in der Tat auf den reinen Aussageinhalt zu beschränken. 232 Zu den Grenzen der Zeugenpflicht, die sich aus der staatlichen Schutz- und Fürsorgepflicht ergeben vgl. S. 141 ff.

. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m

uvefahren

2

"Die Vernehmung eines nicht identifizierten und den Blicken verborgenen Zeugen i m Gerichtssaal ist immer noch besser als die Vernehmung einer Verhörsperson, die berichtet, was ihr ein Anonymus über eine (angebliche) Wahrnehmung mitgeteilt habe - immer noch besser sowohl unter dem Gesichtspunkt der Wahrheitsfindung wie unter dem der Verteidigungsmöglichkeiten." 233 Auch in den höchstrichterlichen Entscheidungen, in denen Abschirmmaßnahmen gebilligt wurden, ging es stets um die Frage, inwieweit die Verteidigungsinteressen durch eine abgeschirmte Zeugenvernehmung besser hätten gewahrt werden können als durch den Rückgriff auf Beweissurrogate. 234 c) Würde des Gerichtsverfahrens Ein zentraler Einwand gegen optische und akustische Abschirmmaßnahmen ist, daß hierdurch die Würde des Gerichtsverfahrens verletzt wird, da das Gerichtsverfahren durch derartige Schutzvorkehrungen zu einem unwürdigen Gerichtsspektakel verkommt. Dem Vorwurf des "Spektakels" ist entgegenzuhalten, daß jede Innovation, die wegen ihrer Neuheit Aufmerksamkeit erregt, als Spektakel abqualifiziert werden kann. Eine sachliche Kritik verbirgt sich hinter diesem Vorwurf nicht. Schwerer zu argumentieren ist gegen den Vorwurf des unwürdigen Verfahrens, denn in der Tat wirkt die Vision eines Zeugen "mit Mickymausmaske und Mickymausstimme" 235 für ein Gerichtsverfahren unangebracht. Diese Kritik richtet sich indes nicht gegen die Abschirmung des Zeugen an sich, sondern gegen die Organisation der Abschirmung i m Einzelfall. 2 3 6 Die optische - und selbst die akustische - Abschirmung des Zeugen muß nicht zu einem Gerichtsspektakel ausarten, sondern kann sachlich und unspektakulär organisiert werden. Der Umstand allein, daß sich der Zeuge hinter einem Wandschirm aufhält und mit einer anderen als seiner natürlichen Stimme zu hören ist, beeinträchtigt weder die Würde des Gerichts noch die der anderen Verfahrensbeteiligten und des Zeugen selbst. 237

233 Grünwald, StV 1984, 56 f.; der im Ergebnis jedoch für ein Beweisverbot mit der Folge einer Wahrunterstellung zugunsten des Angeklagten plädiert. 234 Vgl. BVerfGE 57, 250, 285 f.; BGHSt 31, 149, 156; 31, 290, 293 f.; BGH, NStZ 1982, 42. Ebenso OLG Hamburg, StV 1983, 449. 235 V g l W e i d e r > stV 1983, 229; Tiedemann/Sieber, NJW 1984, 756. 236

Ein Beispiel, wie stark hier vom Einzelfall her argumentiert wird, zeigt Weider, StV 1983, 228: "Sowohl der Dialog mit einer mit Faschingsmaske verkleideten Person als auch mit einem Schrank ist für alle Verfahrensbeteiligten entwürdigend." 237 Hierzu auch Baumgartner, V-Mann-Einsatz, S. 332.

250

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

d) Mißbrauchsgefahr Ebenfalls kein Problem der Abschirmung, sondern der Organisation i m Einzelfall stellt der Einwand der Mißbrauchsgefahr d a r . 2 3 8 Natürlich kann Mißtrauen entstehen, wenn niemand weiß, wer sich hinter dem Wandschirm verbirgt und was sich dahinter abspielt. Zweifel können sich ergeben, ob die Aussagen nicht von einer anderen als der vermeintlichen Auskunftsperson stammen, ob der Zeuge i m Verborgenen einen vorbereiteten Texte abliest oder sich gar der Hilfe von "Souffleuren" bedient. Organisatorisch kann diesen Gefahren dadurch begegnet werden, daß sich z.B. ein Urkundsbeamter oder ein nicht am Verfahren beteiligter Richter von der Identität des Zeugen überzeugt und sich während der Vernehmung bei dem Zeugen befindet. Über seine Eindrücke vom Aussageverhalten des Zeugen kann er sodann selbst als Zeuge vernommen werden. 2 3 9 e) Schutzinteressen der Auskunftsperson Als weiteres Argument für die Unzulässigkeit optischer und akustischer Schutzvorkehrungen wurde schließlich angeführt, daß die Übernahme der abgeschirmten - Zeugenstellung für den Betroffenen immer noch gefährlicher sei als sein völliger Ausschluß durch Sperrerklärung. "Der Verzicht auf zweifelhafte Methoden der Abschirmung ist deswegen auch unter dem Gesichtspunkt der Fairneß gegenüber dem gefährdeten Zeugen zu begrüßen." 240 Richtig hieran ist, daß ein Auftritt der Auskunftsperson unter optischer und akustischer Abschirmimg dann nicht in Betracht kommt, wenn die Auskunftsperson trotz dieser Schutzvorkehrungen durch ihr Erscheinen vor Gericht an Leib und Leben gefährdet würde. Der Umstand, daß die Gefahren für die Auskunftsperson dann am geringsten sind, wenn sie vor der Zeugenrolle geschützt wird, ist i m Rahmen der Interessenabwägung von Exekutive und Gericht zu berücksichtigen. Führen diese Erwägungen jedoch dazu, daß die Auskunftsperson wenn auch unter Abschirmung - vor Gericht auszusagen hat, so bietet der Gesichtspunkt des Zeugenschutzes kein Argument mehr für die Unzulässigkeit optischer und akustischer Schutzvorkehrungen. f) Ergebnis Als Ergebnis ist daher festzustellen, daß die optische und akustische Abschirmung des Zeugen zwar vom geltenden Recht nicht vorgesehen ist, daß einer gesetzlichen Festschreibung derartiger Schutzmöglichkeiten jedoch keine durchgreifenden Bedenken entgegenstehen.

238

Zu diesen Bedenken Weider, StV 1983, 229: "Ein gut informierter V-MannFührer könnte ohne Schwierigkeiten die Rolle des V- Mannes selbst spielen, ohne daß die Veifahrensbeteiügten den Schwindel aufdecken könnten." 239 In diese Richtung auch Rebmann, NStZ 1982, 319. 2 4 0

Tiedemann/Sieber,

NJW 1984, 756.

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptveifahren

IL Veränderung

251

des Aussehens

Um zu verhindern, daß der Zeuge während seiner Vernehmung und zu einem späteren Zeitpunkt von dem Angeklagten oder von Zuhörern wiedererkannt wird, kann der Zeuge versuchen, sein äußeres Erscheinen während seiner Vernehmung zu verändern. 241 Der Zeuge kann sich z.B. die Haare färben, eine Perücke tragen, sich schminken, einen Bart wachsen lassen oder einen künstlichen Bart tragen. Im Rahmen polizeilicher Zeugenschutzprogramme wird das Aussehen eines Zeugen gelegentlich von einem Maskenbildner vor dem Erscheinen in der Hauptverhandlung verändert. 242 Gegenüber der optischen Abschirmung mittels Paravent hat das bloße Verändern des Aussehens den Vorteil, daß das gesamte nonverbale Aussageverhalten der Person des Zeugen für die Beweiswürdigung und die Verteidigungsmöglichkeiten berücksichtigt werden kann. Der Schutz des Zeugen durch Veränderung seines Aussehens ist bereits nach geltendem Recht zulässig. Die öffentlich-rechtliche Pflicht des Zeugen erstreckt sich darauf, zu erscheinen und auszusagen, nicht aber darauf, mit einem bestimmten Aussehen zu erscheinen. 243 Keinem Zeugen kann verwehrt werden, sich zu schminken, sein Haar zu färben oder sich einen Bart wachsen zu lassen. Das Gericht kann nur dann an dem äußeren Erscheinen Anstoß nehmen, wenn in dem Auftreten ein bewußtes "aus dem Rahmen fallen" i m Sinne eines Verstoßes gegen das Ansehen des Gerichts zu sehen ist, § 175 Abs. 1 G V G . 2 4 4 Dies wäre der Fall, wenn eine Zeugin z.B. mit angeklebtem Bart oder ein Zeuge mit einer bunten Perücke vor Gericht erscheint. Bei der Arbeit von Maskenbildnern dürfte die Grenze zu einer gesetzlich nicht vorgesehenen optischen Abschirmung erreicht sein, wenn das Aussehen des Zeugen auch physiognomisch verändert wird (z.B. andere Nase, andere Stirn, anderes Kinn etc.). In diesen Fällen tritt der Zeuge nicht lediglich geschminkt, sondern mit einer "Maske" auf. 2 4 5 III. Räumliche Abschirmung, Bildschirmvernehmung Anders als bei der optischen und akustischen Abschirmung ist der Zeuge bei der sog. räumlichen Abschirmung für alle Beteiligten erkennbar. Der Zeuge ist jedoch nicht am Ort der Hauptverhandlung anwesend, er wird viel241

Vgl. nur LG Frankfurt/M., StV 1994, 475, 476. Plewka, Zeugenschutz, S. 59. 243 Hierzu auch LR/Dahs, Vor § 48 Rdn. 7; Odenthal, Die Gegenüberstellung im Strafverfahren, S. 64. 244 OLG Düsseldorf, JZ 1985, 1012; OLG Koblenz, NJW 1995, 977. 245 Eine Maskierung für zulässig hält dagegen offenbar LG Frankfurt/M., StV 1994, 475, 476. 242

25

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

mehr über eine audiovisuelle Verbindung zugeschaltet. Er kann so über Monitore und Lautsprecher von allen Beteiligten gesehen und gehört werden sowie über Mikrofone unmittelbar befragt werden. 2 4 6 Derartige Bildschirmkonferenzen sind heute technisch problemlos m ö g l i c h . 2 4 7 I m österreichischen Strafverfahrensrecht ist die Vernehmung von Zeugen, insbesondere von Opfern, "unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung" seit 1993 sogar ausdrücklich vorgesehen. 248 Sie wird auch i n anderen Verfahrensordnungen, wie z.B. i m italienischen 2 4 9 , englischen 2 5 0 , amerikanischen 251 und australischen 252 Strafverfahren, seit Ende der achtziger Jahre praktiziert. Die Bildschirmvernehmung hat dabei eine andere Schutzrichtung als die optische oder akustische Abschirmung. Der Zeuge kann von allen i m Gerichtssaal anwesenden Personen (wieder-)erkannt werden. Durch den Verzicht auf seine körperliche Anwesenheit vor Gericht wird er jedoch vor möglichen Angriffen auf seine Person auf dem Weg zum Gericht, i m Gerichtsgebäude und auf dem Nachhauseweg geschützt. Vor allem aber wird es Angreifern unmöglich gemacht, die Spur zu der Person des Zeugen aufzunehmen, um sie oder ihr nahestehende Personen später zu schädigen. 253 Die räumliche Abschirmung bietet vor allem i n den Fällen Schutz, i n denen der Angeklagte die Person des Zeugen - z.B. aufgrund früherer krimineller Zusammenarbeit - be-

246 Rebmann, NStZ 1982, 319: "Hält sich der Zeuge an einem geheimgehaltenen Ort auf, so kann er über eine Femsehschaltung optisch und akustisch mit den Verfahrensbeteiligten verbunden und im Gerichtssaal in öffentlicher Hauptverhandlung vernommen werden. " 247 Hierzu bereits Unger , NJW 1984, 415, sowie den Entwurf des Bundesrates zum OrgKG, BT-Drucks. 12/989, S. 36; LG Mainz, StV 1995, 354 f.; Schlüchter y GA 1994, 419; Steinke, ZRP 1993, 256. Bedenken noch bei Rebmann, NStZ 1982, 319. 248 Vgl. §§ 162 Abs. 2, 250 Abs. 3 ÖStPO. Die Vorschriften wurden eingeführt durch das Strafprozeßänderungsgesetz 1993, BGBl. (Österreich) 526/1993. 249 Koch/Poerting/Störzer, Kriminalistik 1996, 13. 250 In England wurde durch den 32 Criminal Justice Act 1988 das "Closed circuit television" oder "Live link" System für die Vernehmung von Kindern oder Zeugen im Ausland eingeführt; eingehend zur praktischen Ausgestaltung Bohlander; ZStW 107 (1995), 89 f.; Volbert/Pieters, Zur Situation kindlicher Zeugen, S. 35 ff. In empirischen Untersuchungen wurde festgestellt, daß sich "die meisten Rechtsanwälte und Richter relativ rasch an die etwas anderen Vemehmungsmodalitäten gewöhnen" konnten; Einzelheiten hierzu bei Köhnken, StV 1995, 379. 251 In den USA sehen die Strafverfahrensordnüngen von 32 Bundesstaaten die Möglichkeit einer Zeugenvernehmung mittels Femsehschaltung in der Hauptverhandlung vor, hierzu Bohlander, ZStW 107 (1995), 96. 25 2 Bohlander, ZStW 107 (1995), 106. 253 Vgl hierzu auch die Begründung des Entwurfs des Freistaates Bayern zu dem späteren OrgKG, BR-Drucks. 74/90, S. 73.

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptvefahren

25

reits kennt, diese sich zu ihrem Schutz aber einen neuen Aufenthaltsort verschafft hat. 1. Derzeitige Rechtslage I n seiner Entscheidung vom 17.10.1983 hat der Große Senat des BGH zur Zulässigkeit von Bildschirmvernehmungen nicht Stellung genommen. 2 5 4 Dies wohl deshalb, weil solche Abschirmmaßnahmen zur damaligen Zeit nicht praktiziert wurden. Es ist jedoch davon auszugehen, daß derartige Vernehmungsmodalitäten i m geltenden Recht keine Grundlage finden 2 5 5 : Das Gesetz geht in §§ 243 Abs. 2 S. 1 und § 250 S. 1 StPO von der körperlichen Anwesenheit des Zeugen i m Gerichtssaal a u s . 2 5 6 Vorschläge, die Möglichkeit einer Bildschirmvernehmung i n die Strafprozeßordnung aufzunehmen 257 , hat der Gesetzgeber des OrgKG nicht berücksichtigt, da er ein derartiges Vorgehen für unzulässig h ä l t . 2 5 8 I m Zusammenhang mit dem Schutz mißbrauchter Kinder ist diese Möglichkeit einer Vernehmung i n letzter Zeit wieder i n die Diskussion geraten. 2 5 9

254

BGHSt 32, 115 flf. Vgl. nur Engels, NJW 1983, 1532; J. Meyer, ZStW 95 (1983), 854. In einer neueren Entscheidung läßt der BGH die Frage, "ob und gegebenenfalls wieweit solche Hilfsmittel schon nach geltendem Recht Anwendung finden können" dagegen ausdrücklich oflfen, vgl. BGH, NStZ 1995, 557, 558. 256 Entgegen Tiedemann/Sieber, NJW 1984, 756, kann ein derartiger Grundsatz nicht aus §§ 51, 243 Abs. 1 StPO abgeleitet werden, denn diese Vorschriften setzen ledigüch voraus, daß ein Zeuge auf Ladung zu erscheinen hat, enthalten aber keine Angaben, daß der Zeuge an den Ort der Hauptverhandlung zu laden ist. 257 Der Entwurf des Freistaates Bayern zu dem späteren OrgKG, BR-Drucks 74/90, S. 6, enthielt folgende Regelung: "§ 50 a Besteht Anlaß zu der Besorgnis, daß durch das Erscheinen des Zeugen Leben, Leib oder Freiheit des Zeugen oder einer anderen Person gefährdet wird, so kann die Vernehmung mittels einer Fernsehübertragung durchgeführt werden. Ist dies nicht möglich oder kann dadurch die Gefahrdung nicht beseitigt werden, so kann der Zeuge mittels Tonübertragung vernommen werden." Vgl. auch den Vorschlag Ungers, NJW 1984, 416 für einen neu zuschaffenden Absatz 4 in § 223 StPO: "Unter den Voraussetzungen der Absätze 1 und 2 ist das Prozeßgericht befugt, den Zeugen unter Einsatz von Bildschirmtelefon oder Videogerät zu vernehmen und die dafür erforderlichen Anordnungen zu treffen." 258 Entwurf des Bundesrates zum OrgKG, BT-Drucks. 12/989, S. 36. Dieser Begründung ist jedoch entgegenzuhalten, daß der Große Senat erstens zur Zulässigkeit von Bildschirmvernehmungen überhaupt nicht Stellung bezogen und zweitens lediglich festgestellt hat, daß es für sonstige Abschirmmaßnahmen nach derzeitigem Recht an einer gesetzlichen Grundlage fehlt. 259 Vgl. z.B. die bei Block, ZRP 1996, 29, wiedergegebenen Beschlüsse Nr. 1.18 und 2.1 der Justizministerkonferenz vom 20.11.1995, sowie Bohlander, ZStW 107 255

25

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Das L G Mainz hat in einem Mißbrauchsverfahren einem Antrag der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung stattgegeben, die Kinder außerhalb des Gerichtssaals durch den Vorsitzenden vernehmen zu lassen und dieses Vernehmung zeitgleich mittels Videoprojektion auf eine 2 χ 2 m große Leinwand i n den Gerichtssaal zu übertragen. Der vernehmende Richter war hierbei telefonisch mit den Verfahrensbeteiligten verbunden, so daß Anträge und Beanstandungen jederzeit mitgeteilt werden konnten. 2 6 0 2. Stellungnahme Auch die Zulässigkeit von Bildschirmvernehmungen ist i n der Literatur über das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage hinaus - grundsätzlichen Bedenken ausgesetzt. a) Der Grundsatz der körperlichen Anwesenheit Zum einen wird argumentiert, Bildschirmvernehmungen verstießen gegen den Grundsatz der körperlichen Anwesenheit des Zeugen. 2 6 1 Richtig ist hieran allein, daß der historische Gesetzgeber davon ausging, daß ein Zeuge während seiner Aussage am Ort der Vernehmung körperlich anwesend zu sein hat. Diese Vorstellung des historischen Gesetzgebers kann jedoch kein Argument gegen eine zukünftige gesetzliche Regelung von Bildschirmvernehmungen sein, alleine schon deshalb, weil dem historischen Gesetzgeber die Möglichkeiten der modernen audiovisuellen Übertragungstechniken gänzlich unbekannt waren. Die historische Vorstellung von der körperlichen Anwesenheit des Zeugen stellt für sich genommen keine starre Grenze für gesetzgeberische Innovationen dar. Für die polizeiliche Zeugenvernehmung hat der BGH den Grundsatz der körperlichen Anwesenheit bereits aufgegeben. 262 Auch vom Gegenstand des Zeugenbeweises her erscheint es unbedenklich, die räumliche Trennung durch eine audiovisuelle Verbindung zu überwinden. Der Zeuge kann hier - genauso wie bei seiner körperlichen Anwesenheit - unmittelbar befragt und sein gesamtes Aussageverhalten umfassend gewürdigt werden. b) Der Unmittelbarkeitsgrundsatz Zum anderen wird der Einwand erhoben, durch die Vernehmung eines Zeugen via Bildschirm werde der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Haupt-

(1995), 109 ff.; Hussels, ZRP 1995, 242 ff; Volbert/Pieters, Zur Situation kindlicher Zeugen, S. 50; kritisch Arntzen, ZRP 1995, 241 f. 260 Ygi die Anlage "Rahmenbedingungen" des Beschlusses des LG Mainz, abgedruckt in StV 1995, 355; eingehend hierzu Jansen, StV 1996, 123 ff; Wegner, ZRP 1995, 406 ff. 261 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 68 Rdn. 18; J. Meyer, ZStW 95 (1983), 854. 262 BGHSt 33, 83, 86.

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptveifahren

25

Verhandlung verletzt. 2 6 3 Im Hinblick auf den Wortlaut des § 250 S. 1 StPO "Beruht der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person, so ist diese in der Hauptverhandlung zu vernehmen" - kann jedoch argumentiert werden, die Bildschirmvernehmung trage dieser Vorschrift gerade Rechnung, denn durch Vermittlung eines technischen Mediums werde gewährleistet, daß der räumlich getrennte Zeuge dennoch in der Hauptverhandlung vernommen werden k a n n . 2 6 4 Aber auch wenn man dieser Argumentation nicht folgt, wäre es verfehlt, den Inhalt des § 250 StPO in seiner jetzigen Form mit dem Inhalt des ihm zugrundeliegenden Unmittelbarkeitsgrundsatzes gleich zu setzen und in dem Verstoß gegen den Wortlaut des § 250 StPO stets einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit zu sehen. § 250 StPO bringt lediglich die Vorstellung des historischen Gesetzgebers von den Möglichkeiten einer dem Unmittelbarkeitsgrundsatz gerecht werdenden Vernehmung zum Ausdruck. Dessen Inhalt läßt sich jedoch nicht auf diese Vorstellung des historischen Gesetzgebers verkürzen. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit besagt vielmehr, daß die Vernehmung so zu gestalten ist, daß das erkennende Gericht und die übrigen Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit haben, "das Beweismittel voll 'auszuschöpfen' und durch eigene Wahrnehmungen Eindrücke zu gewinnen, die für die umfassende Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen unerläßlich sind." 2 6 5 Der Grundsatz der Unmittelbarkeit wird daher bei einer Bildschirmvernehmung des Zeugen nicht beeinträchtigt, sondern - i m Vergleich zu einem sonst drohenden Beweismittelverlust - gerade verwirklicht. 2 6 6 Es sind vor allem drei Gründe, die dafür sprechen, die Unmittelbarkeit einer Beweisaufnahme durch die Möglichkeit einer Bildschirmvernehmung zu realisieren: 1. Die Bildschirmvernehmung ermöglicht die positive Feststellung der Glaubwürdigkeit des Zeugen und der Glaubhaftigkeit seiner Aussage. Aus dem Auftreten eines Zeugen, seiner Ausdrucksweise, Reaktion, Mimik und Gestik können Rückschlüsse auf seine Glaubwürdigkeit gezogen werden. Alles, was zur Urteilsbildung über die Glaubwürdigkeit eines Zeugen heran-

263

Vgl. Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 161; Hussels, ZRP 1995, 243;

Tiedemann/Sieber, 264

NJW 1984, 756.

In diese Richtung geht auch die Formulierung von Bohlander; ZStW 107 (1995), 110, wonach der Zeuge "seine Aussage direkt in der Hauptverhandlung durch Vermittlung eines technischen Mediums" mache. 265 BGHSt 32, 32, 36. 266 So auch LG Mainz, StV 1995, 354; Wegner, ZRP 1995, 407. '

25

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

zuziehen ist, ist bei der Bildschirmvernehmung so gut wahrnehmbar wie bei dessen körperlicher Präsenz. 267 2. Vernehmungsgegenüberstellungen mit anderen Zeugen oder ein Kreuzverhör sind möglich. 3. Führt die körperliche Anwesenheit des Zeugen dazu, daß der Angeklagte unter den Voraussetzungen des § 247 StPO von der Vernehmung auszuschließen wäre, so werden die Verteidigungsinteressen durch eine Bildschirmvernehmung besser gewahrt als durch eine Vernehmung des körperlich anwesenden Zeugen unter Ausschluß des Angeklagten. 2 6 8 Zusatzfragen und Vorhaltungen kann der Angeklagte dem Zeugen weiterhin unmittelbar stellen. c) Ergebnis Gegen die gesetzliche Zulassung von Bildschirmvernehmungen des gefährdeten Zeugen bestehen keinerlei Bedenken. Strafprozessual relevante Interessen werden durch diese Art der Vernehmung nicht beeinträchtigt. I n jedem Gerichtsbezirk sollte zumindest ein Gerichtsgebäude mit einem besonderen Vernehmungsraum für die Bildschirmvernehmung eingerichtet werden. U m Mißbrauchsgefahren und Mißtrauen vorzubeugen, sollte bei der Vernehmung via Bildschirm ein Urkundsbeamter am Ort des Zeugen anwesend sein und dessen Identität prüfen. 2 6 9 Sind die entsprechenden technischen Einrichtungen vorhanden, so ist das Gericht zur Nutzung der modernen Medien verpflichtet, wenn ansonsten ein Beweismittelverlust d r o h t . 2 7 0 IV. Optisch/akustische

und räumliche Abschirmung

Eine Kombination der räumlichen und der optisch/akustischen Abschirmung ist z.B. i n den Fällen gegeben, i n denen ein Zeuge sein Gesicht auch während der Bildschirmvernehmung verdeckt hält oder wenn der Zeuge allein über eine Telefonverbindung - u.U. mit verfremdeter Stimme - vernommen wird. Derartige Maßnahmen sind ebenso wie die optische und akustische Abschirmung eines körperlich anwesenden Zeugen mit Nachteilen für die Be-

2 6 7

26 8

Unger , NJW 1984, 416.

Bohlander, ZStW 107 (1995), 110; Rebmann, NStZ 1982, 319. 26 9 Unger , NJW 1984, 416. Zu entsprechenden Einwänden vgl. Engels, NJW 1983, 1532 Fn. 24. Im englischen Strafverfahren wird der Gefahr von Einflußnahme dadurch begegnet, daß die Bildschirme im Saal sowohl das Gesicht des Zeugen als auch eine Totale des Zeugenraumes zeigen, vgl. hierzu Bohlander, ZStW 107 (1995), 90. 270 So auch die Forderung im Entwurf des Freistaates Bayern zu dem späteren OrgKG, BR-Drucks 74/90, S. 74.

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptverfahren

257

weiswürdigung und die Verteidigungsmöglichkeiten verbunden. Aus den oben zu 2. dargestellten Gründen sind diese Schutzvorkehrungen jedenfalls für den Fall gesetzlich zuzulassen, daß die Auskunftsperson ansonsten als Zeuge ausscheidet. 271 V. Stellungnahme Nach derzeitigem Recht besteht allein die Möglichkeit, das Aussehen des Zeugen zu verändern, um ihn vor einem Wiedererkennen zu schützen. Für Maßnahmen der optischen, akustischen oder räumlichen Abschirmung fehlt es an einer gesetzlichen Regelung. Eine solche Regelung ist zum Schutz des Zeugen zulässig und bei einem sonst drohenden Beweismittelverlust sowohl i m Interesse der Sachverhaltsaufklärung als auch der Verteidigungsinteressen wünschenswert. Die nach wie vor hochaktuelle Problematik, wie das Wissen von "Aussteigern", von V-Personen und Verdeckten Ermittlern in das Strafverfahren eingeführt werden kann, läßt sich (nur) durch die gesetzliche Zulassung von Abschirmmaßnahmen auf eine für alle Betroffenen zumutbare Weise lösen. Vorgeschlagen werden die folgenden Regelungen. Optische/akustische Abschirmung: § 68 Abs. 3 S. 2 StPO: "Geht die Gefährdung von der Offenbarung der äußeren Erscheinung oder der Stimme des Zeugen aus, so kann der Vorsitzende eine optische oder akustische Abschirmung des Zeugen anordnen." Die bisherigen Sätze 2, 3 und 4 werden zu Sätzen 3, 4 und 5. Räumliche Abschirmung: § 250 S. 2 StPO: "Sind bei der Vernehmung eines Zeugen in der Hauptverhandlung erhebliche Nachteile für die Aufklärung des Sachverhaltes oder das Wohl des Zeugen oder einer anderen Person zu befürchten, so kann der Zeuge mittels technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung vernommen werden." Der bisherige S. 2 wird zu S. 3 F. Sonstige organisatorische Maßnahmen Über die bisher genannten Schutzmaßnahmen hinaus kann es notwendig werden, einen Zeugen auf dem Weg hin zum Gericht und zurück zu schüt-

271

So auch die Forderung von Bender/Nack,

17 Zacharias

Tatsachenfeststellung Π, Rdn. 922.

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

25

z e n . 2 7 2 Derartige Maßnahmen sind Teil der polizeilichen Zeugenschutzprogramme. 2 7 3 Der Vorsitzende kann i m Rahmen seiner sitzungspolizeilichen Zuständigkeit nach § 176 GVG Maßnahmen zum Schutz des Zeugen treffen. 2 7 4 In Absprache mit der Polizei kann er den polizeilichen Schutz des Zeugen auch während seiner Vernehmung veranlassen sowie durch Personenkontrollen und die Durchsuchung von Zuhörern auf Waffen und andere gefährliche Gegenstände sicherstellen, daß der Zeuge nicht von Zuhörern angegriffen w i r d . 2 7 5 Was den Schutz des gefährdeten Zeugen während seines Aufenthaltes i m Gerichtsgebäude betrifft, so kann auf die bekannten Forderungen zur Verbesserung des Opferschutzes zurückgegriffen werden. 2 7 6 So sollten die vorhandenen Örtlichkeiten und finanziellen Mittel auch zum Schutz gefährdeter Zeugen bestmöglich eingesetzt werden. In keinem Falle hinnehmbar erscheint es, daß ein Zeuge unter Umständen stundenlang schutzlos auf dem Gerichtsflur warten muß. Dringend erforderlich sind separate Warteräume, wenn möglich unter Aufsicht. 2 7 7 Zu denken ist weiterhin daran, getrennte Eingänge für Zeugen zur Verfügung zu stellen, um Übergriffe im Gericht selbst möglichst auszuschließen. 278 Nicht zuletzt sollte darauf geachtet werden, die Wartezeit für gefährdete Zeugen möglichst gering zu halten, sei es durch eine gestaffelte Ladung, § 214 Abs. 2 StPO, sei es durch eine Ladung auf Abruf, Nr. 116 Abs. 4 S. 2 RiStBV. Derartige Maßnahmen dienen nicht nur dem Schutzinteresse des Zeugen, sondern kommen auch der gerichtlichen Sachverhaltsaufklärung zugute. Die Aussage- und Kooperationsbereitschaft des Zeugen hängt bekanntlich wesent-

272

Vgl. nur BVerfGE 57, 250, 286; Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 117;

140 f. 273

Oben S. 162.

2 7 4

Krey, Meyer-GedS, S. 253; Rebmann/Schnarr,

NJW 1989, 1188; Schmidt, Die

Rechte des Zeugen, S. 53 ff; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 75. 275 BVerfGE 48, 118, 123; BGH bei Holtz, MDR 1983, 795 f.; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 75. 276 Vgl z.B. Staiger-Allroggen, Auswirkungen des Opferschutzgesetzes, S. 136 ff; Wulf, DRiZ 1981, 377. 277 Hiervon geht Nr. 135 Abs. 2 RiStBV hinsichtlich kindlicher und jugendlicher Zeugen aus, vgl. auch Böttcher, Kleinknecht-FS, S. 32 f. Speziell zum sog. "Limburger Modell" Schädler, ZRP 1989, 4 ff; Stratmann, Kriminalistik 1995, 744. Zu den Opferund Zeugenschutzprogrammen in den USA vgl. Graham, Witness Intimidation, S. 16 ff , 21 ff; Knudten/Knudten, Das Verbrechensopfer, S. 459 ff; Walther, Zeugenschutz, S. 239 ff 2 7 8

Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1188.

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptverfahren

259

lieh von dem äußeren Rahmen ab, in dem der Zeuge seine Pflichten zu erfüllen h a t . 2 7 9

2. Kapitel: Schutz vor Informatìonserhebung Α. Angaben zur Person I. Grundsatz, § 68 Abs. 1 S. 1 StPO Nach § 68 Abs. 1 S. 1 StPO beginnt die Vernehmung damit, daß der Zeuge über seinen Vornamen, Zunamen, Beruf und Wohnort befragt wird. Der Begriff des Wohnortes ist gleichzusetzen mit der Privatanschrift. Die Angabe der politischen Gemeinde genügt nicht, wie sich aus der Formulierung des Abs. 2 "... statt des Wohnortes ... eine andere ladungsfähige Anschrift anzugeben" ergibt. 2 8 0 Die Mitteilung dieser persönlichen Angaben geschieht einerseits zu dem Zweck, die ladungsfähige Anschrift der Person des Zeugen festzustellen sowie eine mögliche Verwechslung 281 auszuschließen.282 Zum anderen dienen die Personalangaben dazu, eine verläßliche Grundlage für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit zu schaffen. Den Beteiligten soll insbesondere die Möglichkeit offenstehen, Erkundigungen über die Person des Zeugen einzuholen, um so die Glaubhaftigkeit seiner Aussage - je nach Verteidigungsstrategie - angreifen oder untermauern zu können. 2 8 3 Diese Möglichkeit wird zudem durch § 246 Abs. 2 und 3 StPO abgesichert. II. Gefährdungsrelevanz

der Personalangaben

Die Gefährdungsrelevanz der Personalangaben liegt darin, daß der Zeuge und seine Angehörigen durch diese Angaben für potentielle Schädiger erreichbar werden. Die Problematik stellt sich dabei bei einzelnen Zeugentypen ganz unterschiedlich.

279 Vgl n u r Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 848. Dies übersieht KK/Pelchen, § 68 Rdn. 5. Zum Streit über den Wohnoitbegriff bei § 68 S. 2 StPO a.F. vgl. Überblick bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 68 Rdn. 8. 281 Zu einem Fall der Zeugenverwechslung vgl. RGSt 55, 22 f. 282 Vgl. nur RGSt 40, 157, 158; BGHSt 23, 244, 245; Schlund, NJW 1972, 1035; 280

Leineweber, M D R 1985, 636. 283

Hierzu BGHSt 32, 115, 128; KK/Pelchen,

Goßner, § 68 Rdn. 1; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 472. 17

§68 Rdn. 1; Kleinknecht/Meyer-

20

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Bei dem Zufallszeugen ist die Gefahrdungsrelevanz der Personalangaben offensichtlich. Ist der Zeuge den potentiellen Schädigern bisher nicht bekannt, so ermöglicht erst die Angabe der Identität des Zeugen einen Angriff. Sind die Personalien des Zeugen den potentiellen Schädigern bereits auf andere Weise bekannt geworden (z.B. durch das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers 284 ), so stellt die Preisgabe der Personalien in der Hauptverhandlung häufig keine neue Gefährdung dar. Etwas anderes gilt natürlich dann, wenn der Zeuge auf die bereits bestehende Gefährdungslage reagiert hat und zu seinem Schutz seine Wohnanschrift oder - i m Rahmen polizeilicher Zeugenschutzprogramme - gar seine Identität geändert hat. Ähnlich verhält es sich, wenn der Zeuge den potentiellen Schädigern zwar als Person bekannt ist, nicht aber in seiner Eigenschaft als Zeuge. Die Gefahr besteht hier darin, daß der Zeuge von einem der Anwesenden als eine bestimmte Person identifiziert wird. Betroffen sind hiervon insbesondere V-Personen und Verdeckte Ermittler, "Geschäftspartner", aber z.B. auch Opfer von Schutzgelderpressungen, Nachbarn oder sonstige Bekannte des Angeklagten bzw. seines Umfeldes. Eine eigenständige Gefährdung stellt die Pflicht zur Angabe der Personalien nur dann dar, wenn diese Zeugen zu ihrem Schutz zwischenzeitlich den Wohnort gewechselt bzw. eine andere Identität angenommen haben. III\ Ausnahmen In seiner ursprünglichen Fassung enthielt § 68 StPO 2 8 5 keine Ausnahmen von der Pflicht des Zeugen zur Angabe seiner Personalien. Dies wurde deshalb nicht als Mangel empfunden, weil § 68 StPO vom Reichsgericht als unverbindliche Ordnungsvorschrift interpretiert wurde. 2 8 6 Der Pflicht des Zeugen zur Aussage stand die Möglichkeit des Vernehmenden gegenüber, von den Vorgaben des § 68 nach Belieben abzuweichen. Begründet wurde dies damit, daß die Angäbe der Personalien vor allem dazu diene, eine Verwechslung des Zeugen zu vermeiden. Eine Verwechslung ließe sich aber auch ohne die genaue Vorlegung aller Fragen zur Person ausschließen. Die Notwendigkeit, Ausnahmen von der Pflicht zur Angabe der Personalien gesetzlich zu regeln, entstand erst dadurch, daß der BGH § 68 StPO zu einer zwingenden Verfahrensnorm aufwertete indem er die Möglichkeit der Verfah-

284

Diese Möglichkeit besteht dann, wenn bei der Vernehmung des Zeugen im Ermittlungsverfahren die Personalangaben zu den Verfahrensakten genommen wurden. 285 § 68 Abs. 1 S. 1 StPO entspricht § 67 StPO in der Fassung vom 1.2.1877, vgl. RGBl. S. 253. 286 Vgl. RGSt 2, 53, 54; 6, 267; 9, 69; 32, 321, 322; 40, 157, 158.

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptvefahren

21

rensbeteiligten in den Vordergrund rückte, Erkundigungen über die Person des Zeugen einzuholen. 287 Um die bei der Anwendung des § 68 StPO i n der Praxis aufgetretenen Schwierigkeiten zu beseitigen, wurde durch das StVÄG 1979 mit § 68 S. 2 StPO eine Ausnahmeregelung eingefügt. 288 Die dort geschaffene Möglichkeit, den Wohnort des Zeugen geheimzuhalten, galt jedoch ausschließlich für Vernehmungen während der Hauptverhandlung. Die Schutzwirkung beschränkte sich damit auf Gefährdungen, die von der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, also den Zuhörern, ausgingen. Erst mit dem OrgKG vom 15.7.1992 289 wurde von dem Gesetzgeber der Versuch unternommen, der grundsätzlichen Pflicht zur Feststellung der Personalien des Zeugen eine Ausnahmeregelung gegenüberzustellen, die auf einer differenzierten Abwägung der betroffenen Interessen beruht. 7. Dienstort bei "amtlichen Zeugen" Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Pflicht zur Personalangabe enthält § 68 Abs. 1 S. 2 StPO. Danach können Zeugen, die ihre Wahrnehmungen in amtlicher Eigenschaft gemacht haben, statt des Wohnortes ihren Dienstort angeben. a) Voraussetzungen aa) Amtliche Eigenschaft Der Begriff der amtlichen Eigenschaft wurde bisher in der StPO nicht verwendet. Da ein Handeln in amtlicher Eigenschaft dem Wortsinn nach voraussetzt, daß eine Person i m Auftrag einer staatlichen Stelle deren hoheitliche Aufgaben wahrnimmt, lassen sich die Grundsätze zur Bestimmung der Amtsträgereigenschaft im Sinne § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB entsprechend heranziehen. Als Amtsträger handelt, wer zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben bestellt wurde und hierfür in einem Dienst- oder Auftragsverhältnis zu einer öffentlichen Stelle steht. 2 9 0 Eine amtliche Eigenschaft haben somit Beamte, Richter sowie diejenigen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes inne, die sachlich Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen, d.h. nicht nur völlig untergeordnete Hilfstätigkeiten ausüben. 291

287 288 289 2 9 0

291

Vgl. bereits BGHSt 23, 244, 245, ausdrücklich BGHSt 32, 115, 128. Vgl. BGBl. I, S. 1645. BGBl. I, S. 1302, 1306. LK/Tröndle,

§ 11 Rdn. 17.

Die amtliche Eigenschaft fehlt demnach z.B. bei reinen Putz-, Fahr-, oder Schreibdiensten, vgl. auch Dreher/Tröndle y § 11 Rdn. 22.

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

2

Problematisch erscheint, ob auch eine V-Person 292 der Polizei ihre Wahrnehmungen i n amtlicher Eigenschaft macht und somit nach § 68 Abs. 1 S. 1 StPO von der Wohnortangabe befreit ist. Hierbei ist zu differenzieren. Besteht zwischen der V-Person und der Polizei ein öffentlich-rechtliches Auftragsverhältnis und nimmt die V-Person selbst Aufgaben der Polizei wahr, d.h. wird sie gezielt von der Polizei zur Informationsbeschaffung bzw. zur Ermittlung in einem konkreten Strafverfahren eingesetzt, so ist die V-Person Amtsträger i m Sinne § 11 Abs. 2 c StGB. 2 9 3 Im übrigen handeln V-Personen - ebenso wie bloße Informanten 294 und Tip-Geber der Polizei - nicht in amtlicher Eigenschaft. bb) Wahrnehmung in amtlicher Eigenschaft Der Zeuge muß die Wahrnehmung in amtlicher Eigenschaft gemacht haben. Zur Bestimmung des Zusammenhanges zwischen der Wahrnehmung und dem Innehaben der amtlichen Eigenschaft kann auf die Kriterien zurückgegriffen werden, die für das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 StPO entwickelt wurden. Das lediglich zeitliche Zusammentreffen der gemachten Wahrnehmung mit der amtlichen Tätigkeit genügt danach nicht. Die Kenntniserlangung muß vielmehr in einem sachlichen Zusammenhang mit einer Diensthandlung stehen. Die Regelung des § 68 Abs. 1 S. 2 StPO kommt damit i m wesentlichen Mitarbeitern von Strafverfolgungsorganen zugute, die infolge ihrer beruflichen Tätigkeit häufig das Ziel von Belästigungen und Bedrohungen geworden sind. 2 9 5 b) Rechtsfolge Hat der Zeuge Wahrnehmungen in amtlicher Eigenschaft gemacht, so steht es ihm nach der Regelung des § 68 Abs. 1 S. 2 StPO frei, statt des Wohnortes

292

Zur Bestimmung des Begriffs "V-Person" vgl. Nr. 2.2 der bei Kleinknecht/Meyer-Goßner als Anlage D zu den RiStBV abgedruckten Richtlinie. 293 So auch Wagner, JZ 1987, 595. Dem steht die Entscheidung des BGH, NJW 1980, 847, nicht entgegen, denn dort war die Auskunftsperson gerade nicht mit polizeilichen Aufgaben betraut. Zum öffentlich-rechtlichen Charakter des Auftragsverhältnisses zwischen Polizei und V-Person Schulte, Kriminalistik 1992, 684. - Zum Streitstand, inwieweit V-Personen als Personen des öffentlichen Dienstes zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, vgl. einerseits Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 54, Rdn. 11 (nur wenn hauptberuflich angestellt) und andererseits BGHSt 31, 148, 156 f.; OLG Celle, NStZ 1983; 570; Hans. OLG Hamburg, NStZ 1994, 98; LR/Dahs, § 54 Rdn. 9, Siegismund, JR 1994, 253; Steinke, Kriminalistik 1980, 490 (wenn nach dem Verpflichtungsgesetz verpflichtet). 294 Zur Bestimmung des Begriffs "Informant" vgl. Nr. 2.1 der bei Kleinknecht/Meyer-Goßner als Anlage D zu den RiStBV abgedruckten Richtlinie. 2 9 5 Hilger, NStZ 1992, 458; Krey/Haubrich, SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 78.

JR 1992, 310; Ranft, Jura 1993, 450;

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptvefahren

2

den Dienstort anzugeben. Sachliche Gründe hierfür braucht der Zeuge nicht zu nennen. Die Angabe des Dienstortes muß den Anforderungen an eine ladungsfähige Anschrift entsprechen, d.h., die postalische Anschrift der Dienststelle enthalten. 296 - Ob der Zeuge die Wahrnehmung in amtlicher Eigenschaft gemacht hat und somit die Voraussetzungen des § 68 Abs. 1 S. 2 StPO vorliegen, hat dagegen der Vorsitzende zu entscheiden. Die Regelung ist Ausdruck einer vom Gesetzgeber vorgenommenen Abwägung zwischen dem Interesse des "amtlichen Zeugen", vor möglichen Beeinträchtigungen i m Zusammenhang mit seiner Zeugenstellung verschont zu werden, und den Interessen des Gerichts und des Angeklagten daran, mit Hilfe der Wohnanschrift glaubwürdigkeitsrelevante Informationen über die Person des Zeugen zu erkunden. Der Gesetzgeber hat die Informationsinteressen des Gerichts und des Angeklagten hierbei als gering bewertet, weil die hier relevanten Erkundigungen zweckmäßigerweise über die Dienststelle erfolgen, der private Hintergrund für die Beurteilung der in amtlicher Eigenschaft gemachten Wahrnehmung also grundsätzlich unbeachtlich sei: "Die Einziehung von Erkundigungen über die Glaubwürdigkeit des Zeugen mittels des Wohnortes ist heute i n der Praxis ohne Bedeutung" 297 . Demgegenüber komme dem Schutzinteresse von Amtsträgern, die häufig - wie z.B. Polizeibeamte - geradezu berufsmäßig die Zeugenrolle zu übernehmen hätten, ein besonderes Gewicht zu. Deshalb sei es gerechtfertigt, Personen, die Wahrnehmungen in amtlicher Eigenschaft gemacht haben, generell von der Pflicht zur Angabe der Wohnanschrift zu befreien. 2. Verschweigen der Wohnanschrift Nach § 68 Abs. 2 StPO kann es jedem gefährdeten Zeugen gestattet werden, bei seiner Vernehmung statt des Wohnortes seinen Geschäfts- oder Dienstort bzw. eine andere ladungsfahige Anschrift anzugeben. Während § 68 S. 2 StPO a.F. den Schutz des Zeugen auf Gefahrdungen durch die Zuhörer des Hauptverfahrens beschränkte und damit i m Ermittlungsverfahren nicht zur Anwendung k a m 2 9 8 , schützt § 68 Abs. 2 StPO den Zeugen nunmehr während des gesamten Strafverfahrens. a) Voraussetzungen § 68 Abs. 2 StPO setzt voraus, daß Anlaß zur Besorgnis besteht, durch die Angabe des Wohnortes werde der Zeuge oder eine andere Person gefährdet. Als andere Personen kommen vor allem nahe Angehörige und Beziehungsper-

296 In der Begründung des Gesetzentwurfes wurden die Begriffe Dienstort und Dienstanschrift synonym verwendet, vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 35. 297 BT-Drucks. 12/989, S. 35. 298 Vgl. BT-Drucks. 8/976, S. 36 f.

2

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

sonen des Zeugen in Betracht, deren Bedrohung oft eine wirksamere Einwirkung auf den Zeugen ermöglicht als eine Bedrohung des Zeugen selbst. aa) Gefahrdung durch Wohnortangabe Unter einer Gefahrdung ist ein Zustand zu verstehen, der den Eintritt eines Schadens befürchten läßt. Da § 68 Abs. 2 StPO keine Beschränkung auf bestimmte Rechtsgüter enthält, erstreckt sich sein Schutz auf alle Rechtsgüter. Neben den Rechtsgütern Leben, Gesundheit und Freiheit werden daher auch Eigentum, Besitz und Hausfrieden erfaßt. Darüber hinaus fallen auch alle Beeinträchtigungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und insbesondere des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung 299 unter den Tatbestand des § 68 Abs. 2 StPO. 3 0 0 § 68 Abs. 2 StPO schützt deshalb auch den Zeugen, der Angst vor der Angabe seiner Wohnanschrift hat, sofern der Verängstigungszustand zu einer Beeinträchtigung von Rechtsgütern des Zeugen, insbesondere seiner Gesundheit, führt. Derartige Fälle sind in der Praxis gerade bei Zufallszeugen von schweren Gewalttaten nicht selten. 301 Bloße Belästigungen, die nicht geeignet sind, die personale Entfaltung des Betroffenen zu beeinträchtigen, scheiden dagegen aus. 3 0 2 Die Frage, ob ein störendes Verhalten Dritter bereits die personale Entfaltung beeinträchtigt, kann nur auf der Grundlage des subjektiven Empfindens des jeweils Betroffenen entschieden werden. So können z.B. wiederholte (nächtliche) Störanrufe von der betroffenen Person als so massiv ängstigend empfunden werden, daß hierdurch nicht nur die allgemeine personale Entfaltung, sondern sogar die körperliche Integrität beeinträchtigen werden. Ist also das wiederholte Behelligen durch Telefonanrufe zu befürchten, so kann eine Gefährdung im Sinne § 68 Abs. 2 StPO durchaus zu bejahen sein. 3 0 3 Die befürchtete Gefährdung muß durch die Angabe der Wohnanschrift eintreten. Von wem die Gefahrdung ausgeht, ist dagegen irrelevant. Besteht die Gefährdungslage unabhängig von der Wohnortangabe, z.B. weil den potentiel299

Vgl. BGHSt 37, 1, 4. Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 593. - Inwieweit diese Beeinträchtigungen geeignet sind, sich gegen die Interessen des Gerichts und des Angeklagten an der Preisgabe der Wohnanschrift durchzusetzen, ist dagegen eine Frage des richterlichen Ermessens. 301 Hierzu bereits oben S. 107. 302 Vgl. Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 591; KK/Pelchen, § 68 Rdn. 7; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 68 Rdn. 12; sowie zu § 68 S. 2 StPO (a.F.) KMR/300

Paulus, § 68 Rdn. 15; LR/Dahs, § 68 Rdn. 10. 303 Vgl. hierzu bereits OLG Celle, NJW 1988, 2751, 2752; a.A, wenn auch ohne Begründung, Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 68 Rdn. 12. - Malek, Verteidigung, Rdn. 331, meint sogar, daß ein Bürger als Zeuge auch befürchtete Schmierereien am eigenen Haus als bloße Belästigung hinzunehmen habe.

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptveifahren

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len Schädigern die Anschrift des Zeugen bereits bekannt ist, so besteht kein Grund, nach § 68 Abs. 2 StPO auf die Angabe der Wohnänschrift zu verzichten. bb) Anlaß zur Besorgnis § 68 Abs. 2 StPO verlangt nach seinem Wortlaut nicht das Vorliegen einer Gefährdung, es genügt vielmehr die Besorgnis einer solchen. Die Besorgnis einer Gefährdung besteht bereits dann, wenn eine Gefährdung selbst noch nicht eingetreten i s t . 3 0 4 Es müssen demnach noch keine Umstände vorliegen, die den Eintritt eines Schadens befürchten lassen. Es genügt vielmehr die Befürchtung, daß es zu einer "schadensgeneigten" Situation kommen könnte. Ohne diese vom Gesetzgeber vorgenommene Vorverlagerung der Gefährdungsprognose würde der erstrebte Schutz des Zeugen leerlaufen, denn häufig wird sich die als bedrohlich eingestufte Situation noch nicht nachweislich zu einer tatsächlichen Gefährdung verdichtet haben. Das Erfordernis konkreter Umstände würde regelmäßig dazu führen, daß erst von einer tatsächlichen Mißhandlung des Zeugen auf eine Gefährdung geschlossen werden könnte. 3 0 5 Έλη Anlaß zur Besorgnis liegt nicht erst dann vor, wenn konkrete Tatsachen eine Gefährdung befürchten lassen, sondern bereits dann, wenn aufgrund kriminalistischer Anhaltspunkte oder kriminologischer Erfahrungen die Möglichkeit einer Gefährdung in Betracht zu ziehen i s t . 3 0 6 Genügen können daher Ermittlungsergebnisse oder Hinweise aus dem entsprechenden Milieu sowie die Erfahrungstatsache, daß bestimmte Zeugentypen in bestimmten Kriminalitätsbereichen generell gefährdet sind. 3 0 7 Nach dem Gesetzeswortlaut genügt also die Prognose der Prognose einer Schädigung. Der Vorsitzende hat bei seiner Entscheidung unter Umständen im Wege des Freibeweises den Zeugen zu befragen oder eine Gefährdungsprognose durch die Polizei einzuholen. 308 b) Rechtsfolge Als Rechtsfolge kann der Vorsitzende dem Zeugen gemäß § 68 Abs. 2 S. 1 StPO gestatten, seine Wohnanschrift zu verschweigen und statt dessen seinen Geschäfts- oder Dienstort oder eine andere ladungsfähige Anschrift anzugeben. Geschäftsort ist dabei die Anschrift, unter der der Betroffene während 304

Hierzu Böttcher, Schüler-Springorum-FS, S. 549. Im Gesetzgebungsverfahren wurden hier Fälle von Gewalt gegen Frauen angesprochen, vgl. BT-Drucks. 12/989, S. 35; Hilger, NStZ 1992, 459 Fn. 33; Möhrenschlager, wistra 1992, 332. 306 Vgl. Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 591; Hilger, NStZ 1992, 459; KK/Pelchen, § 68 Rdn. 7; vgl. auch diefrühere h.M. zu § 68 S. 2 StPO OLG Koblenz, NStZ 1992, 95; Kube/Leineweber, Polizeibeamte als Zeugen, S. 129. 307 Zu den Einzelheiten oben S. 168 ff. 308 BGHSt 39, 141, 145. 305

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

seiner beruflichen Tätigkeit zu erreichen i s t . 3 0 9 Bei Arbeitnehmern wird dies i n der Regel die Anschrift des Arbeitgebers sein, bei Selbständigen die Anschrift ihres Geschäftslokales. Der Dienstort ist bei Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes die Postanschrift derjenigen Verwaltungseinheit, über die der Zeuge während seiner Berufsausübung erreichbar ist. Als andere ladungsfähige Anschrift kommt jede Anschrift in Betracht, durch die eine Ladung des Zeugen gewährleistet ist, also z.B. die Anschrift von Verwandten, Arbeitskollegen, die Anschrift eines Rechtsanwaltes oder einer Polizeibehörde. Der Vorsitzende kann dem Zeugen aber auch gestatten, überhaupt keine Angaben zu seiner Anschrift zu machen, § 68 Abs. 2 S. 2 StPO, sofern die Schutzmöglichkeiten nach Abs. 2 S. 1 als nicht ausreichend erscheinen. 310 Wird von der Möglichkeit des § 68 Abs. 2 StPO Gebrauch gemacht, so ist das Fragerecht der Prozeßbeteiligten, § 240 StPO, eingeschränkt. 311 Die Formulierung "gestatten" deutet darauf hin, daß die Befreiung von der Wohnortangabe einen entsprechenden Antrag des Zeugen voraussetzt. Liegen dem Vorsitzenden jedoch entsprechende Anhaltspunkte für eine Gefahrdung vor, so hat er aufgrund seiner Fürsorgepflicht von Amts wegen zu entscheiden. 3 1 2 Nach Nr. 130 a RiStBV kommt dem Staatsanwalt darüber hinaus die Aufgabe zu, auf eine Befreiung des Zeugen von der Pflicht zur Wohnortangabe hinzuwirken. Inhaltlich geht es bei der Entscheidung nach § 68 Abs. 2 StPO um die Abwägung zwischen den Belangen des Persönlichkeitsschutzes und den gegenläufigen Aufklärungs- und Verteidigungsinteressen. 313 Bei den Interessen an der Preisgabe der Wohnanschrift wird in der Literatur auch das Informationsinteresse der Öffentlichkeit, § 169 GVG, einbezogen. 314 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß sich das Informationsinteresse der Öffentlichkeit nur darauf beziehen kann, den Ablauf der Hauptverhandlung mitzuerleben. 315 Wird der Wohnort des Zeugen verschwiegen, so wird die Tatsache des Wohnortes gerade nicht in die Hauptverhandlung eingeführt und ist deshalb auch nicht Bestandteil des verwertbaren Inbegriffs der Hauptverhandlung (§ 261 StPO). 309

Hierzu auch KK/Peichen, § 68 Rdn. 7. Diese Möglichkeit besteht nur im Hauptverfahren, nicht bei Vernehmungen im Ermittlungsverfahren. 311 Vgl. nur Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 593; KK/Peichen, § 68 310

Rdn. 9; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 68 Rdn. 12.

312 ygi hierzu auch Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 593; Ranft, Jura 1993, 450. 3 1 3

Hilger, NStZ 1992, 459; Pfeiffer,

3 1 4

Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner,

in Pfeiffer/Fischer,

§ 68 Rdn. 2.

§ 68 Rdn. 11; Eisenberg, Persönliche Be-

weismittel, Rdn. 593; Hilger, NStZ 1992, 459; Ranft, Jura 1993, 450. 315 Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 169 GVG Rdn. 3, sowie oben S. 217.

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptvefahren

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Durch das Verschweigen der Wohnanschrift des Zeugen wird der Grundsatz der Öffentlichkeit und damit das Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht betroffen. 316 aa) Anderweitige Abwendbarkeit Vor der eigentlichen Abwägung hat der Vorsitzende festzustellen, ob sich die Gefährdungslage nicht durch andere, die gegenläufigen Interessen weniger beeinträchtigende strafprozessuale Maßnahmen abwenden läßt. Geht die Gefährdung z.B. ausschließlich von Zuhörern aus, so können diese während der Bekanntgabe der Wohnanschrift ausgeschlossen werden, § 172 Nr. 1 bzw. Nr. 1 a GVG. In diesen Fällen geht der Ausschluß der Öffentlichkeit einem Schutz des Zeugen über § 68 Abs. 2 StPO vor. bb) Gewichtungsbedingungen ( 1 ) Schutzinteressen des Gefährdeten Das Gewicht des Schutzinteresses des Zeugen oder des sonst Gefährdeten wird bestimmt durch die Schwere des drohenden Schadens, also nach dem gefährdeten Rechtsgut und der Intensität seiner Beeinträchtigung, sowie nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit, mit der sich der Schaden zu realisieren droht. Zu berücksichtigen ist weiter, ob Umstände in der Person des Zeugen vorliegen, die ihn in erhöhtem Maße gefahrtragungspflichtig erscheinen lassen, so daß ihm zuzumuten ist, den mit der Preisgabe der Wohnanschrift befürchteten Gefährdungen durch eigene Schutzmaßnahmen zu begegnen oder sich entsprechenden Maßnahmen der Polizei zu unterwerfen. 317 (2) Informationsinteresse des Gerichts Entsprechend dem Zweck, der mit der Angabe der Personalien des Zeugen verfolgt wird, zielt das staatliche Aufklärungsinteresse bei der Angabe der Wohnanschrift darauf ab, eine ladungsfähige Anschrift des Zeugen zu ermitteln, Verwechslungen auszuschließen sowie Erkundigungen über die Person des Zeugen einzuholen, die für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit seiner Aussage erforderlich sind. Die erstgenannten Zwecke lassen sich problemlos auch ohne die Angabe der Wohnanschrift verwirklichen. Bei der Anschrift, die der Zeuge anstelle seiner Wohnanschrift angeben darf, muß es sich ebenfalls um eine ladungsfähige Anschrift handeln. Das Interesse, eine ladungsfähige Anschrift des Zeugen zu ermitteln, bleibt also unberührt. Die Gefahr einer Verwechslung des Zeugen läßt sich auf andere Weise, z.B. durch Vorlage des Personalausweises, weitaus sicherer ausschließen als durch die Angabe der Wohnanschrift, so daß

316 317

So zutreffend KMR/Paulus, § 68 Rdn. 12. Im einzelnen hierzu oben S. 134 ff.

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

auch dieses Interesse durch das Verschweigen der Wohnanschrift nicht tangiert sein muß. Beeinträchtigt werden kann damit allein das Interesse, mittels der Wohnortangabe Erkundigungen über die Person des Zeugen einzuholen, die für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen und damit letztlich der Glaubhaftigkeit seiner Aussage erforderlich sind. Das gerichtliche Interesse ist insoweit darauf gerichtet, Umstände, die erkennbar für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage von Bedeutung sein können, aufzuklär e n . 3 1 8 Eine Ausforschung des Zeugen "ins Blaue hinein" wird von dem gerichtlichen Aufklärungsinteresse nicht umfaßt. 3 1 9 Durch das Verschweigen der Wohnanschrift ist das gerichtliche Aufklärungsinteresse erst dann betroffen, wenn sich aus dem Inhalt der Akten, aus Anträgen oder sonst aus dem Verfahrensverlauf sog. Anknüpfungstatsachen dafür ergeben, daß die Kenntnis der Wohnanschrift des Zeugen für die Sachverhaltsaufklärung relevant ist. Ergeben sich während der Hauptverhandlung Hinweise auf solche Umstände, die für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage bedeutsam werden können, so kann das Gericht diese Umständen in vielen Fällen durch eine direkte Befragung des Zeugen, § 68 Abs. 4 StPO, oder durch andere Beweiserhebungen unmittelbar in der Hauptverhandlung klären: "Im allgemeinen wird es bei Prüfung einer Zeugenaussage auf ihren Wahrheitsgehalt auf die Kenntnis des Wohnortes als Grundlage weiterer Ermittlungen nicht ankommen; die Aussage selbst und das Aussageverhalten liefern die wesentlichen Anknüpfungstatsachen." 3 2 0 Insbesondere die hinter einer Aussage stehende Motivation läßt sich am besten durch eine geschickte Befragung des Zeugen selbst aufdecken. 321 In diesen Fällen wird das gerichtliche Aufklärungsinteresse durch das Verschweigen der Wohnanschrift nicht betroffen. Es kann Situationen geben, in denen eine relevante Anknüpfungstatsache nur durch die Preisgabe der Wohnanschrift aufgeklärt werden kann. Zu denken ist an den Zeugen, der das Tatgeschehen von seiner Wohnung aus beobachtet hat. Ergeben sich Zweifel, ob der Zeuge das Tatgeschehen tatsächlich so wahrnehmen konnte, wie er es darstellt - z.B. den Angeklagten so beobachten

318

Allgemein zum Umfang der gerichtlichen Aufklärungspflicht BGHSt 3, 169, 175; 10, 116, 118; 23, 176, 187 f.; 30, 131, 140 f.; BGH, StV 1991, 337. 319 BGH, NStZ 1994, 247, 248 (insoweit nicht wiedergeben in BGHSt 40, 3 ff.). 320 BGHSt 37, 1, 3 f. 321 Zur Bedeutung der Motivation für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen vgl. auch S. 52.

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptvefahren

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konnte, daß ein Wiedererkennen möglich ist -, können diese Zweifel nur durch die Preisgabe der genauen Wohnanschrift geklärt werden. Nur in diesen Fällen wird das gerichtliche Aufklärungsinteresse durch das Verschweigen der Wohnanschrift betroffen. Das Gewicht dieses Interesses bestimmt sich hier nach der Bedeutung der angeklagten Tat, der Bedeutung der eigentlichen Beweistatsache, der Bedeutung der Zeugenaussage für die Aufklärung dieser Tatsache sowie der Bedeutung der Kenntnis der Wohnanschrift für die Würdigung der Zeugenaussage.322 Aber auch hier ist zu beachten, daß die Preisgabe der Wohnanschrift das gerichtliche Aufklärungsinteresse eher beeinträchtigen als fördern kann. Führt die Preisgabe dazu, daß der Zeuge nun massive Angst vor Repressalien hat, so bestimmt diese Angst den Inhalt seiner Aussage. Die mit einer Falschaussage verbundenen strafrechtlichen Sanktionen stellen für den Zeugen in seiner Situation das deutlich geringere Übel dar. Der Wert der Aussage eines verängstigten Zeugen für die Aufklärung des Sachverhaltes ist daher wesentlich geringer als der einer Aussage, durch die der Zeuge keine kriminellen Übergriffe zu befürchten h a t . 3 2 3 (3) Verteidigungsinteresse des Angeklagten Liegen Anknüpfungstatsachen vor, die es notwendig erscheinen lassen, die Wohnanschrift des Zeugen zu ermitteln, so werden die Verteidigungsinteressen in dem gleichen Maße beeinträchtigt wie das gerichtliche Aufklärungsinteresse. Diese Nachteile für die Verteidigung werden zu einem Teil dadurch kompensiert, daß das Gericht die ungeklärte Frage bei der Beweiswürdigung angemessen zu berücksichtigen hat, § 261 StPO. 3 2 4 Im Zweifel hat das Gericht von der für den Angeklagten günstigsten Antwort auf die ungeklärte Frage auszugehen. Anders verhält es sich dagegen, wenn bisher überhaupt keine Anknüpfungstatsachen vorliegen. Mit dem Verschweigen der Wohnanschrift wird dem Angeklagten die Möglichkeit genommen, aufs Geratewohl das Privatleben des Zeugen auszuforschen, um möglicherweise auf Informationen zu stoßen, die geeignet sind, die Glaubwürdigkeit des Zeugen bzw. die Glaubhaftigkeit seiner Aussage in der für den Angeklagten günstigen Weise zu beeinflussen. 325 Mit

322

Zu den Einzelheiten siehe oben S. 127 flf. Zur Gewichtung des gerichtlichen Interesses daran, daß der Zeuge seine Aussage möglichst frei von Angst machen kann, vgl. die Ausführungen zum Ausschluß der Öffentlichkeit S. 225. 324 Hierzu BT-Drucks. 12/989, S. 36; Krey/Haubrich, JR 1992, 311; Rebmann/Schnarr, NJW 1989,1191. 325 Vgl. nur Eisenberg, NJW 1993, 1036, der die Regelung des § 68 Abs. 2 StPO aus diesem Grunde für bedenklich hält. 323

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

diesem Interesse, auch Nachforschungen "ins Blaue hinein" anzustellen, um den Ausgang des Verfahrens möglichst zu eigenen Gunsten zu beeinflussen, geht das Verteidigungsinteresse des Angeklagten weit über das Aufklärungsinteresse des Gerichts hinaus und steht ihm unter Umständen sogar entgegen. 326 Die Beeinträchtigung dieses Verteidigungsinteresses kann auch nicht i m Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt werden, da das, was zu würdigen wäre, gerade nicht zum Vorschein k o m m t . 3 2 7 Auch wenn es in der Praxis nur selten vorkommt, daß die Verteidigung auf der Grundlage der Wohnanschrift des Zeugen beginnt, glaubwürdigkeitsrelevante Fakten über die Person des Zeugen zusammenzutragen 328 , ist i m folgenden zu untersuchen, inwieweit dieses Verteidigungsinteresse überhaupt geeignet ist, Eingriffe in Rechtspositionen des Zeugen zu legitimieren. 329 Die Antwort auf diese Frage wird vorgegeben durch die Funktion der Zeugenpflicht. Jedem Bürger werden die mit der Zeugenstellung verbundenen Eingriffe in seine Grundrechte und insbesondere sein allgemeines Persönlichkeitsrecht vom Staat zugemutet, damit er als Beweismittel "zur Wahrheitsfindung i m Strafprozeß" beiträgt. 3 3 0 Die Pflicht zur Preisgabe der Wohnanschrift stellt auch für den ungefährdeten Zeugen einen Eingriff in seinen durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Persönlichkeitsbereich, insbesondere i n sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung, d a r . 3 3 1 Fehlen Anhaltspunkte, daß sich aus dem Eingriff in die Privatsphäre des Zeugen Erkenntnisse ergeben, die für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage von Belang sind, so ist der Eingriff in die Privatsphäre des Zeugen auf der Grundlage der allgemeinen Zeugenpflicht nicht mehr zu rechtfertigen und damit unzulässig. Daraus wird klar, daß es ein starres Recht des Angeklagten zur Erkundigung über den Zeugen ins Blaue hinein nicht geben k a n n . 3 3 2 Der Zeuge ist Hilfsmittel zur Erforschung des wahren Sachverhaltes und nicht taktische Manövriermasse zur Verteidigung des Angeklagten über das zur Erforschung des wahren Sachverhaltes erforderliche Maß hinaus. Das Interesse des Angeklagten an der Angabe der Wohnanschrift des Zeugen ist deshalb grundsätz-

326

Hierzu auch Odenthal, StV 1990, 198. Zu der vergleichbaren Problematik bei der Verwertung von Beweissurrogaten vgl. unten S. 319. 328 Hierzu auch BT-Drucks. 12/989, S. 35; Steinke, ZRP 1993, 254. 329 Eingehend zu dem Verhältnis von Verteidigungsinteresse und Eingriffsabwehrinteresse des Zeugen oben S. 138. 330 BGHSt 37, 1, 4. 331 BGHSt 37, 1, 4. 327

3 3 2

A.A. Odenthal StV 1990, 198 a.E.

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptvefahren

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lieh nur dann beachtlich, wenn "Umstände dargetan oder erkennbar sind, die das Verlangen begründet erscheinen lassen" und damit dën Eingriff i n grundrechtlich geschützte Bereiche des Zeugen rechtfertigen können. 3 3 3 Dies gilt i n besonderem Maße, wenn nicht nur Beeinträchtigungen des Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung des Zeugen i m Räume stehen, sondern die Wohnortangabe zu einer eigenständigen Gefährdung des Zeugen oder einer anderen Person führen kann. Zu beachten ist darüber hinaus, daß es von vornherein an einem anerkennenswerten Verteidigungsinteresse an der Bekanntgabe der Wohnanschrift fehlt, wenn die Gefahrdungslage des Zeugen auf den Angeklagten zurückzuführen i s t . 3 3 4 I m Ergebnis ist daher festzustellen, daß Verteidigungsinteressen an der Preisgabe der Wohnanschrift nur insoweit beachtlich sind, als die hiervon hervorgerufene Gefährdungslage des Zeugen nicht auf den Angeklagten zurückzuführen ist und Anknüpfungstatsachen dafür vorliegen, daß die Kenntnis der Wohnanschrift des Zeugen für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit seiner Aussage von Bedeutung ist. 3. Verschweigen sämtlicher Personalangaben a) Voraussetzungen Die weitestreichende Schutzmöglichkeit für gefährdete Zeugen bietet § 68 Abs. 3 StPO. Danach kann einem Zeugen gestattet werden, Angaben zur Person nicht oder nur über eine frühere Identität zu machen. Voraussetzung ist der bestehende Anlaß zur Besorgnis, daß durch die Offenbarung der Identität oder des Wohn- oder Aufenthaltsortes des Zeugen Leben, Leib oder Freiheit des Zeugen oder einer anderen Person gefährdet wird. Die Gefahr einer Gesundheitsbeeinträchtigung ist - ebenso wie bei § 68 Abs. 2 StPO - auch dann zu besorgen, wenn objektiv keine Gefährdungslage vorliegt, der Zeuge sich aber gefährdet glaubt und zu befürchten ist, daß sein Angstzustand die Qualität einer Gesundheitsbeeinträchtigung erreichen wird. Die Aufnahme des Rechtsgutes Freiheit i n den Schutzbereich ist auf eine Entscheidung des BVerfG zurückzuführen. 335 I m Zusammenhang mit dem notwendigen Schutz des Zeugen vor drohenden Lebensgefahren hat das BVerfG hier ausgeführt: "Ähnliches gilt, wenn die Freiheit des Zeugen als Folge seiner Preisgabe ernstlich gefährdet ist." Ob der Begriff der Freiheit umfassend i m Sinne der allgemeinen Handlungsfreiheit zu verstehen, oder beschränkt ist, z.B. auf die körperliche Bewegungsfreiheit, haben weder das 333

BGHSt 37, 1, 3. Zu Forderungen, besondere Substantiierungspflichten einzuführen, vgl. Julius, Die Unerreichbarkeit von Zeugen, S. 245. 334 Eingehend hierzu oben S. 133. 335 BVerfGE 57, 250, 284 f.; vgl. hierzuKrey/Haubrich, JR 1992; 311.

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

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BVerfG noch der Gesetzgeber klargestellt. Aus der Systematik des § 68 StPO ergibt sich jedoch, daß der Begriff Freiheit hier nicht umfassend i m Sinne der allgemeinen Willensentschließungs- und -betätigungsfreiheit zu verstehen ist, sondern beschränkt auf die körperliche Bewegungsfreiheit. 336 Andernfalls würde die von dem Gesetzgeber angestrebte Differenzierung zwischen den "leichteren" Gefahrenlagen des Abs. 2 und den "schweren" Gefahrenlagen des Abs. 3 aufgehoben, denn jede Gefährdung des Zeugen ist zugleich mit einer Beeinträchtigung seiner Willensfreiheit verbunden. Die Gefährdung muß durch die Offenbarung der Identität, des Wohn- oder des Aufenthaltsortes des Zeugen bei seiner Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft zu besorgen sein. Auch hier genügt die mittelbare Gefährdung durch die mögliche Informationsweitergabe an den Beschuldigten oder sonstige Dritte. b) Rechtsfolge Sind die Voraussetzungen erfüllt, so kann dem Zeugen gestattet werden, überhaupt keine Angaben zur Person zu machen oder nur solche über eine frühere Identität. aa) Verschweigen der Personalien Die Identität des Zeugen umfaßt alle Angaben zur Person, also alle die Person kennzeichnenden Angaben wie Name, Anschrift, Beruf, Familienstand, A l t e r . 3 3 7 Mit Wohnort ist auch in Abs. 3 die postalische Anschrift des Ortes gemeint, an dem sich der Zeuge niedergelassen hat. Aufenthaltsort ist dagegen der Ort, an dem eine Person wohnt, Ohne sich dort niedergelassen zu haben.338 bb) Angabe einer früheren Identität Mit der von Abs. 3 S. 1, 2. Hs. eröffneten Möglichkeit, Angaben über eine frühere Identität zu machen, wurde eine bereits bestehende Praxis der Rechtsprechung gesetzlich festgeschrieben. 339 Ein Identitätswechsel kommt meist 336

A.A. Böttcher, Schüler-Springorum-FS, S. 549. Hierzu auch Hilger, NStZ 1992, 459 Fn. 37. 338 Warum § 68 Abs. 3 StPO eine Regelung dafür enthält, daß der Zeuge durch die Preisgabe des Aufenthaltsortes gefährdet wird, obwohl der Zeuge nach der Grundsatzregelung des § 68 Abs. 1 S. 1 StPO überhaupt nicht zur Preisgabe des Aufenthaltsortes verpflichtet ist, erklärt sich aus der Rechtsprechung, wonach in entsprechender Anwendung des § 222 Abs. 1 StPO der Zeuge bei seiner Vernehmung verpflichtet ist, seinen Aufenthaltsort anzugeben, falls er keinen Wohnort im Sinne § 68 Abs. 1 S. 1 hat. 339 In BGHSt 29, 109, 113 wird ohne Begründung davon ausgegangen, daß § 68 StPO a.F. dem Verschweigen des jetzigen Namens nicht entgegenstünde, sowie BVerfGE 57, 250, 286; BGHSt 32, 115, 128; OLG Frankfurt/M., NJW 1982, 1408, 1409. 337

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptverfahren

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nur bei Verdeckten Ermittlern oder als Maßnahme des polizeilichen Zeugenschutzes 340 i n Betracht. Verdeckte Ermittler sind Polizeibeamte, die unter einer neuen, d.h. falschen Identität ermitteln, § 110 a Abs. 2 S. 1 StPO. Für sie ist die Regelung des Abs. 3 S. 1, 2. Hs. kaum relevant, denn die frühere Identität ist hier j a regelmäßig die wahre - und damit gerade geheimzuhaltende Identität. Verdeckte Ermittler werden daher in der Regel keine Angaben über ihre frühere Identität machen, sondern unter ihrer neuen, falschen Identität als Zeugen auftreten, vgl. §§ 110 a Abs. 2 S. 2, 110 b Abs. 3 S. 1 StPO. 3 4 1 Bei Zeugen, die i m Rahmen polizeilicher Zeugenschutzprogramme eine neue Identität erhalten haben, kann die Angabe der früheren, wahren Identität gegenüber der vollständigen Geheimhaltung der Personalien i m Hinblick auf Sachverhaltsaufklärung und Verteidigungsinteressen ein milderes Mittel darstellen. Läßt sich in diesen Fällen eine Gefährdung des Aussagenden auch dadurch vermeiden, daß er statt seiner aktuellen Identität eine frühere Identität preisgibt, so besteht unter Gefährdungsgesichtspunkten kein Grund, auch die frühere Identität zu verschweigen. Der Beschuldigte kann auf diese Weise i n die Lage versetzt werden, den Inhalt der Aussage - von dem er z.B. nach der Akteneinsicht seines Verteidigers Kenntnis erlangt hat - einer ihm unter der früheren Identität bekannten Person zuzuordnen, ohne die Möglichkeit zu erhalten, auf diese Person einzuwirken. cc) Angabe der "Wahrnehmungseigenschaft" Der Zeuge hat auf Befragen anzugeben, "in welcher Eigenschaft ihm die Tatsachen, die er bekundet, bekanntgeworden sind", Abs. 3 S. 2. Diese Vorschrift muß insofern befremden, als § 68 Abs. 4 StPO bereits klarstellt, daß jeder Zeuge zu sämtlichen glaubwürdigkeitsrelevanten Eigenschaften befragt werden k a n n . 3 4 2 Welche speziellen Eigenschaften eines Zeugen der Gesetzgeber bei Abs. 3 S. 2 i m Blick hatte, ergibt sich aus der Begründung des Gesetzes: "Dies bedeutet, daß ein Verdeckter Ermittler, soweit er besondere einsatzbezogene Feststellungen getroffen hat, grundsätzlich offenbaren muß, daß er seine Beobachtungen in der Eigenschaft als Verdeckter Ermittler getroffen hat. Die Regelung betrifft jedoch nicht den Fall, daß er seine Beobachtungen nur zufällig, bei Gelegenheit des Einsatzes, getroffen h a t . " 3 4 3

340 341 342 343

Eingehend oben S. 164. Vgl. auch Lesch, StV 1995, 543 f. Vgl. Ranft, Jura 1993, 451. BT-Drucks. 12/989 S. 56.

18 Zacharias

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

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Wird der Anwendungsbereich der nebulösen Vorschrift 3 4 4 tatsächlich auf Verdeckte Ermittler und u.U. auch auf V-Personen 345 beschränkt, so kann ihr i n der Tat ein eigenständiger Sinn beigemessen werden: Die Regelung richtet sich dann nämlich zum einen an die Dienstbehörde des Ermittlers. Immer dann, wenn ein Verdeckter Ermittler als Zeuge aussagen soll, darf die Zugehörigkeit des Zeugen zu einer Ermittlungsbehörde nicht von der Aussagegenehmigung, § 54 StPO, ausgenommen werden. I n der Praxis hat dies dazu geführt, daß Verdeckte Ermittler von den Behörden wie bisher als Zeugen "gesperrt" werden, wenn diese Eigenschaft nicht offenbart werden s o l l . 3 4 6 Zum anderen statuiert die Norm dann ein partielles Auskunftsverweigerungsrecht des Zeugen. Dadurch, daß Abs. 3 S. 2 die Aussagepflicht ausdrücklich nur für die Befragung i n der Hauptverhandlung vorschreibt, wollte der Gesetzgeber nämlich der Gefahr begegnen, "daß ein Verdeckter Ermittler während eines laufenden Einsatzes enttarnt w i r d . " 3 4 7 Damit ergibt sich aus Abs. 3 S. 2 ein Auskunftsverweigerungsrecht dieser Person während des Ermittlungsverfahrens hinsichtlich Fragen nach ihrer Eigenschaft als Verdeckter Ermittler oder V-Person. Ob der Gesetzgeber dies allerdings intendiert hat, bleibt dunkel. dd) Gewichtungsbedingungen (1) Schutzinteresse des Gefährdeten Es wurde bereits gezeigt, daß die Zeugenpflichten dort enden, wo ihre Übernahme zu einer konkreten, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Gesundheit oder Freiheit f ü h r t . 3 4 8 Geht die Gefahr von der Angabe der Personalien des Zeugen aus, so ist es dem Vorsitzenden von Verfassungs wegen untersagt, die entsprechenden Angaben zu erheben. Das richterliche Ermessen des § 68 Abs. 3 StPO ist i n diesen Fällen auf Null reduziert. 3 4 9 Unterhalb der Schwelle der konkreten Gefahr hat der Vorsitzende das Schutzinteresse des Gefährdeten - wie i n den Fällen des § 68 Abs. 2 StPO - bei seiner Ermessensentscheidung angemessen zu berücksichtigen. Der Vorsitzende hat jedoch den besonderen verfassungsrechtlichen Rang zu beachten, den die bei § 68 Abs. 3 StPO betroffenen Rechtsgüter einnehmen. Das Rechtsgut Leben stellt ohne

344

Böttcher, Schüler-Springorum-FS, S. 549. Hilger, NStZ 1992, 459 Fn. 40. 346 Krey, Rechtsprobleme, Rdn. 428, kommt zu dem Ergebnis, daß § 68 Abs. 3 StPO für Verdeckte Ermittler und V-Personen keine nennenswerte Rolle spielt. Zu den Möglichkeiten der Ermittlungsbehörden, eine Auskunftsperson vor der Zeugenrolle zu schützen, siehe unten S. 284 ff. 347 BT-Drucks. 12/989, S. 56. 348 Eingehend hierzu oben S. 147 f. 345

3 4 9

Vgl. nur Krey/Haubrich,

JR 1992, 311; Lesch, StV 1995, 545.

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptverfahren

275

Frage den individuellen grundrechtlichen Höchstwert d a r . 3 5 0 Aber auch die Rechtsgüter Gesundheit und (Fortbewegungs-)Freiheit zählen zu den Grundvoraussetzungen personaler Entfaltung. (2) Informationsinteresse des Gerichts Der mit der Bekanntgabe der Personalien verfolgte Zweck, eine ladungsfähige Anschrift des Zeugen zu erhalten und Personenverwechslungen auszuschließen, läßt sich in den Fällen des § 68 Abs. 3 StPO durch die Mitwirkung der Ermittlungsbehörden erreichen. Der Zeuge ist über die Ermittlungsbehörde zu laden; ein Beamter, der den anonymen Zeugen kennt, kann als Zeuge bestätigen, daß die als Zeuge auftretende Person mit der identisch ist, die als anonymer Zeuge vernommen werden soll. - Das Aufklärungsinteresse wird durch die anonyme Vernehmung des Zeugen nur dann beeinträchtigt, wenn sich aus dem Verfahren Tatsachen ergeben, daß für die Beweiswürdigung relevante Umstände nur durch Kenntnis des Namens, des Alters und des Berufes des Zeugen geklärt werden können. Für das Gewicht des gerichtlichen Aufklärungsinteresses kann auf die obigen Ausführungen zu § 68 Abs. 2 StPO verwiesen werden. 3 5 1 (3) Verteidigungsinteresse des Angeklagten Für das Gewicht des Informationsinteresses des Angeklagten kann ebenfalls auf die Ausführungen zu § 68 Abs. 2 StPO Bezug genommen werden. 3 5 2 Von den Möglichkeiten des § 68 Abs. 3 StPO wird vorwiegend bei V-Personen und Verdeckten Ermittlern Gebrauch gemacht. Tritt eine solche Person als Zeuge auf, so hat der Angeklagte - unabhängig von der Kenntnis der Personalien - die Möglichkeit, die Verbindung dieser Person zu den Ermittlungsbehörden aufzudecken, § 68 Abs. 3 S. 2 StPO. 3 5 3 Handelt es sich bei dem Zeugen um einen früheren "Geschäftspartner" oder Vertrauten des Angeklagten, so kennt der Angeklagte die Persönlichkeit dieses Zeugen besser als jeder andere Verfahrensbeteiligte und kann sich daher auch ohne die Kenntnis der (wahren) Identität umfassend verteidigen.

350

Vgl. nur BVerfGE 39, 1, 42. Oben S. 267. 352 Oben S. 267. 353 Diese Regelung führt dazu, daß V-Personen und Verdeckte Ermittler weiterhin vollständig aus dem Strafverfahren herausgehalten werden, weil sie durch die von § 68 Abs. 3 S. 2 vorgesehenen Angaben auf jeden Fall enttarnt würden. Die Vernehmung dieser Personen als Zeugen wird dadurch nach wie vor verhindert. 351

18*

2

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

IV. Revisionsrisiko § 68 StPO ist durch die Rechtsprechung in der Sache von einer bloßen Ordnungsvorschrift zu einer zentralen Norm des Zeugenbeweisrechts aufgewertet worden. 3 5 4 Kommt das Revisionsgericht zu dem Ergebnis, daß das Tatgericht die zeugenschützenden Vorschriften des § 68 Abs. 2 und 3 StPO falsch angewandt hat, kann dies die Aufklärungsrüge, § 244 Abs. 2 StPO, begründ e n 3 5 5 oder als eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung i m Sinne § 338 Nr. 8 StPO gerügt werden 3 5 6 . Ein mit der Revision angreifbarer Fehler kann darin bestehen, daß das Gericht der Hauptverhandlung - nach Ansicht des Revisionsgerichts - die unbestimmten Rechtsbegriffe "Anlaß zur Besorgnis einer Gefährdung" falsch interpretiert oder von seinem Ermessen fehlerhaft Gebrauch gemacht hat. Auch hier zeigt sich das revisionsrechtliche Ungleichgewicht zwischen Zeugenschutz und Verteidigungsinteressen. 357 Den Zeugen "im Zweifel" zu wenig zu schützen, ist für das Tatgericht ohne jedes Risiko. Eine Berücksichtigung der Zeugeninteressen birgt dagegen das Risiko der Revision. V. Stellungnahme Die Möglichkeit, die Personalien geheim zu halten, ist kein Allheilmittel zum Schutz des Zeugen. Insbesondere V-Personen und Verdeckte Ermittler, "Geschäftspartner", aber auch Opfer von Schutzgelderpressungen, Nachbarn und sonstige Bekannte des Angeklagten bzw. seines Umfeldes sind nicht dadurch zu schützen, daß sie ihre Anschrift oder ihren Namen verschweigen dürfen. 3 5 8 Diese "klassischerweise" gefährdeten Zeugen können nur durch eine abgeschirmte Vernehmung, die jedes Wiedererkennen unmöglich macht, geschützt werden. Für den Bereich jedoch, in dem die Gefahrenlage allein von der Preisgabe der Personalien ausgelöst wird, eröffnet § 68 Abs. 3 StPO die Möglichkeit, die Schutzinteressen des Gefährdeten gegenüber den Informationsinteressen des Gerichts und des Angeklagten angemessen zu berücksichtigen. Die Schutzwirkung des § 68 Abs. 2 StPO ist dagegen in vielen Fällen gering, denn oftmals wird ein Blick in das Telefonbuch genügen, um die Wohnanschrift des namentlich bekannten Zeugen zu ermitteln.

354

Fremei, NStZ 1984, 39, im Anschluß an BGHSt 32, 115, 128. Vgl. nur Böttcher, Schüler-Springorum-FS, S. 549. 356 BGHSt 23, 244, 245; BGH, NJW 1989, 1230, f. Zum ganzen Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 595. 357 Hierzu auch Böttcher, Schüler-Springorum-FS, S. 549 f.; Krey, Meyer-GedS, 355

S. 244; Siegismund, JR 1994, 253. 358

Vgl. oben S. 260 sowie Ranft, Jura 1993, 451.

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptvefahren

2

Die Gewichtung der hiervon betroffenen Interessen hat gezeigt, daß bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der § 68 Abs. 2 und 3 StPO i n der Regel von der Ausnahmemöglichkeit Gebrauch zu machen ist. Die Formulierung "kann" ist daher in erster Linie als Aufforderung an den Vorsitzenden zu verstehen, die anderweitige Abwendbarkeit der Gefahrenlage durch weniger gravierende Schutzmaßnahmen genau zu untersuchen. Der Zeuge ist von der Angabe der Personalien zu befreien, wenn andernfalls eine konkrete, nicht anders abwendbare Gefahr für Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person eintritt. Dies sollte der Gesetzgeber durch ein einheitlich formuliertes Auskunftsverweigerungsrecht hinsichtlich Angaben zur Person und zur Sache klarstellen. 359 Forderungen, die mit dem Verweigern der Personalien des Zeugen verbundenen Nachteile für Sachverhaltsaufklärung und Verteidigung dadurch zu berücksichtigen, daß in diesen auch auf die Aussage des Zeugen zur Sache verzichtet w i r d 3 6 0 , sind nicht begründbar, solange die Strafprozeßordnung den Rückgriff auf Beweissurrogate zuläßt. 3 6 1 Sowohl unter dem Gesichtspunkt der Aufklärungspflicht wie auch der Verteidigungsinteressen ist ein präsenter Zeuge, auch wenn seine Identität nicht offenbart wird, das sachnähere und bessere Beweismittel, das jedem Beweissurrogat vorzuziehen i s t . 3 6 2 B. Angaben zur Sache L Grundsatz der Aussagepflicht Inhalt und Zweck des Zeugenbeweises ist die Aussage des Zeugen zur Sache. Die Aussagepflicht zur Sache ist daher die zentrale Zeugenpflicht. Der Gesetzgeber hat sich gleichwohl bei einer Vielzahl von Interessenkollisionen dafür entschieden, den Zeugen von der Aussagepflicht zu befreien, §§ 52 ff. StPO, oder dem Gericht eine Beschränkung der Aussagepflicht freizustellen, vgl. z.B. § 68 a StPO.

359

Hierzu unter B. In diese Richtung gehen die Bedenken des DAV in der Anhörung zum OrgKGEntwurf, vgl. Anlage zum Protokoll der 31. Sitzung des Rechtsausschusses vom 22.1.1992, S. 154. 361 Zur Zulässigkeit von Beweissurrogaten im Falle der behördlichen Geheimhaltung von Auskunftspersonen vgl. unten S. 304 ff. 362 Schnarr, Kriminalistik 1990, 296. 360

2

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

II. Gefährdungsrelevanz Die Pflicht, i n der Hauptverhandlung wahrheitsgemäß auszusagen, kann für jeden Zeugen gefahrlich werden, dessen Name und Anschrift potentiellen Schädigern bekannt ist. In besonderem Maße gefährlich ist die Aussagepflicht, wenn - in der Regel von seiten des Angeklagten oder dessen Umfeldes - bereits versucht wurde, den Zeugen zu einer bestimmten Aussage zu veranlassen. Dem gefährdeten Zeuge werden hierbei Vorgaben für sein Aussageverhalten gemacht, z.B. das Gebot, frühere Angaben zu widerrufen, eine entlastende Aussage zu machen, Erinnerungslücken vorzuschützen oder aber zum Tatvorwurf ganz zu schweigen. Für den Fall der Nichtbeachtung dieser Vorgaben werden dem Zeugen "Sanktionen" bis hin zu Angriffen auf sein Leben angedroht. 3 6 3 Bei einer wahrheitsgemäßen Aussage ist der Zeuge in der Gefahr, daß die angedrohten Racheakte auch vollstreckt werden. III. Ausnahmen 1. Schutzmöglichkeit des Gerichts Der Vorsitzende kann die Aussagepflicht zum Schutz des Zeugen beschränken, indem er ungeeignete oder nicht zur Sache gehörende Fragen zurückweist, § 241 Abs. 2 StPO. Ungeeignet sind Fragen, die in tatsächlicher Hinsicht nichts zur Wahrheitsfindung beitragen können oder aus rechtlichen Gründen nicht gestellt werden dürfen. 3 6 4 In tatsächlicher Hinsicht ungeeignet sind auch alle nicht zur Sache gehörenden Fragen 3 6 5 , also Fragen, die sich nicht einmal mittelbar auf die Tat und ihre Rechtsfolgen beziehen. 366 Für den Schutz gefährdeter Zeugen spielt die Möglichkeit, eine Frage wegen tatsächlicher Ungeeignetheit zurückzuweisen, jedoch so gut wie keine Rolle: Zur Wahrheitsfindung ungeeignet ist eine Frage bereits dann nicht, wenn ihre Beantwortung möglicherweise zur Feststellung materiell- oder prozeßrechtlich erheblicher Tatsachen fuhren k a n n . 3 6 7 Dies wird bei Tatsachen, wegen deren Preisgabe der Zeuge sogar gefährdet wird, stets der Fall sein.

363

Zu den Einzelheiten der hier denkbaren Einschüchterungsversuche vgl. oben S. 92ff., 98 ff. 3 6 4

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

365

§ 241 Rdn. 15; LR/Gollwitzer

9

§ 241 Rdn. 6.

Dazu, daß eine Trennung zwischen ungeeigneten und sachfremden Fragen nicht geboten ist, vgl. auch KMR/Paulus, § 241 Rdn. 8; Eb. Schmidt, Lehrkommentar (Nachträge I), § 241 Rdn. 2. 366 BGHSt 2, 284, 287; BGH, NStZ 1984, 133 f.; BGH, NStZ 1985, 183, 184. 3 6 7

KMR/Paulus,

§ 241 Rdn. 15.

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptvefahren

2

Für den Zeugenschutz bedeutsam ist dagegen die Möglichkeit, Fragen zurückzuweisen, weil über die relevante Tatsache aus Rechtsgründen kein Beweis erhoben werden darf. Derartige Rechtsgründe können sich aus den Normen der StPO ergeben, z.B. aus §§ 68, 68 a StPO, oder aus dem Verfassungsrecht und hierbei insbesondere aus den Grundrechten des Zeugen. 3 6 8 Das BVerfG hat klargestellt, daß auch dann Rechtsgründe einer Beweiserhebung entgegenstehen, "wenn keiner der einfachrechtlich geregelten Tatbestände erfüllt ist, wenn sich aber die Einschränkung des Zeugniszwangs unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit unmittelbar aus Grundrechten ergibt". 3 6 9 In Rechtsprechung und Literatur besteht daher ein breiter Konsens, daß die Gefahrdungslage des Zeugen ein Beweisverbot begründen kann.370 Rechtlich unzulässig - und damit ungeeignet i m Sinne § 241 Abs. 2 StPO, sind alle Fragen, deren Beantwortung den Zeugen - oder eine andere Person unverhältnismäßig gefährden würde. Eine Gefährdung ist in jedem Falle stets dann unverhältnismäßig, wenn Leben, Gesundheit oder Freiheit des Betroffenen konkret gefährdet werden und die Gefahr nicht auf andere Weise - z.B. durch zumutbare Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes - abgewendet werden k a n n . 3 7 1 In allen übrigen Fällen hat der Vorsitzende unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles abzuwägen, ob im konkreten Fall dem Schutzinteresse des Zeugen oder den Interessen an einer Preisgabe der Information der Vorrang gebührt. 3 7 2 Zu den Einzelheiten der hier vorzunehmenden Abwägungsentscheidung kann auf die Ausführungen zur Schutzpflicht der Strafverfolgungsorgane verwiesen werden. 3 7 3 Kommt der Vorsitzende zu dem Ergebnis, daß eine Frage aus Rechtsgründen ungeeignet ist, so hat er sie - wie jede andere rechtlich unzulässige Frage zwingend zurückzuweisen. Daß ihm entgegen des Wortlautes "kann" kein Ermessen zusteht, ergibt sich aus seiner Grundrechts- und Gesetzesbindung, Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG. § 241 Abs. 2 StPO bedeutet demnach für die Situation des gefährdeten Zeugen: Besteht Anlaß zur Besorgnis, daß der Zeuge durch die Beantwortung einer Frage unzumutbar gefährdet wird, so hat der Vorsitzende die Frage zurückzuweisen.

368 Eingehend zu den Auswirkungen der Grundrechte auf die Gestaltung des Strafverfahrens oben S. 120 f. 369 BVerfGE 33, 367, 374 f.; 64,108, 116. 370 Vgl. oben S. 142. 371 BGHSt 17, 337, 348 f.; 30, 34, 37; 33, 70, 74 f.; 39, 141, 145; vgl. auch

SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 72. 3 7 2

LR/Gollwitzer,

373

Oben S. 122 ff.

§ 241 Rdn. 8.

20

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

2. Schutzmöglichkeiten

des Zeugen

a) Aussageverweigerung Die Gefahrdungslage des Zeugen stellt keinen gesetzlich ausformulierten Grund dar, die Aussage zu verweigern. Die Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte der StPO bieten nur insoweit Schutz, als der gefährdete Zeuge zugleich die Voraussetzungen eines der gesetzlich anerkannten Verweigerungsgründe erfüllt, z.B. wenn ein besonderes persönliches Näheverhältnis zum Angeklagten (§ 52 StPO) oder die Gefahr eigener Strafverfolgung (§ 55 StPO) besteht. Letzteres wird bei Zeugen, die selbst in die kriminelle Szene verstrickt sind, häufig der Fall sein. Für Beamte und Personen, die förmlich zur Verschwiegenheit verpflichtet wurden 3 7 4 , kann § 54 StPO Schutz bieten. Diese Personen können die Aussage über Umstände verweigern, auf die sich ihre Pflicht zur Amtsverschwiegenheit bezieht, sofern ihnen von der obersten Dienstbehörde die Genehmigung zur Aussage versagt wurde. 3 7 5 Im Zusammenhang mit den verfassungsrechtlichen Grenzen der Zeugenpflicht wurde bereits gezeigt, daß dem Zeugen von Verfassungs wegen das Recht zustehen kann, die Aussage zu verweigern. 376 Dies ist auch in Rechtsprechung und Literatur anerkannt. 377 Voraussetzung dieses übergesetzlichen Auskunftsverweigerungsrechtes ist, daß der Zeuge durch die Anordnung zur Aussage unzumutbar gefährdet wird und die Bindungswirkung der Anordnung nicht durch Rechtsbehelfe beseitigt werden k a n n . 3 7 8 In all den Fällen, i n denen der Vorsitzende eine Frage nach § 241 Abs. 2 StPO zurückzuweisen hätte, ist der Zeuge danach berechtigt, die Aussage zu verweigern, sofern er vor Gericht erfolglos versucht hat, von der Pflicht zur Aussage entbunden zu werden. 3 7 9 b) Falschaussage Das Recht, die Aussage zu verweigern, hilft dem Zeugen dann nicht, wenn er gerade für den Fall bedroht wird, daß er keine Angaben macht, also zu einer bestimmten - in der Regel den Angeklagten entlastenden - Falschaussage er374

§ 1 des Gesetzes über die förmliche Verpflichtung nicht beamteter Personen vom 2.3.1974 (BGBl. I, S. 469, 547) i.d.F. des Gesetzes vom 15.8.1974 (BGBl. I, S. 1942). Zur förmlichen Verpflichtung von V-Personen Hans. OLG Hamburg, NStZ 1994, 98; Steinke, Kriminalistik 1980, 490. 375 Zu den Möglichkeiten der Behörde, eine Aussagegenehmigung zu verweigern, siehe unten S. 292 ff. 376 S. 147 f. 377 Zu den im einzelnen unterschiedlichen Begründungen vgl. S. 147 f. 378 Vgl. S. 147 f. 379 Zu den rechtlichen Möglichkeiten des Zeugen, gegen ihn gefährdende gerichtliche Anordnungen vorzugehen, vgl. unten S. 324 flf.

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptvefahren

21

preßt wird. Die Frage, ob der Zeuge i n der konkreten Bedrohungssituation befugt ist, falsch auszusagen, beantwortet die Notstandsregelung des § 34 StGB. Eine gegenwärtige Gefahr i m Sinne § 34 StGB liegt vor, wenn rechtswidrige Übergriffe auf den Zeugen ohne die Falschaussage sicher oder höchstwahrscheinlich gewesen wären; wenn also davon auszugehen ist, daß der potentielle Schädiger für den Fall einer wahrheitsgemäßen Aussage zu einem Angriff auf den Zeugen entschlossen w a r . 3 8 0 Nicht anders als durch die Falschaussage abwendbar ist die Gefahr, wenn ein wirksamer Schutz durch die Strafverfolgungsorgane 381 nicht möglich und ein wirksamer Polizeischutz dem Zeugen nicht zumutbar gewesen ist. Bei der i m Rahmen des § 34 StGB vorzunehmenden Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, daß die Interessen an Leben und Gesundheit dem staatlichen Interesse an der Durchsetzung des Strafrechts grundsätzlich vorgehen. Dies entspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Fällen einer Gefährdung des Angeklagten 3 8 2 , muß dann aber auch für den Zeugen g e l t e n 3 8 3 , zumal hier nicht die Durchsetzung des Strafirechts insgesamt verhindert, sondern die Aufklärung des tatsächlichen Sachverhaltes lediglich gefährdet wird. Der gefährdete Zeuge ist danach jedenfalls dann zu einer Falschaussage befugt, falls ihm oder einer anderen Person i m Falle einer wahrheitsgemäßen Aussage Angriffe auf Leben, Gesundheit oder die Fortbewegungsfreiheit drohen und diese Gefahr nicht anders abwendbar w a r . 3 8 4 IV. Revision Jedes Unterlassen einer Informationserhebung durch das Gericht ist mit der Aufklärungsrüge - Verstoß gegen § 244 Abs. 2 StPO - angreifbar. M i t der Aufklärungsrüge kann z.B. geltend gemacht werden, daß das Gericht eine Frage zu Unrecht zurückgewiesen h a t 3 8 5 oder Maßnahmen nach § 70 StPO nicht angewendet hat, um die Aussagepflicht des sich weigernden Zeugen 380

Zur Gegenwärtigkeit einer Gefahr im Sinne § 34 StGB bei einem noch nicht gegenwärtigen Angriff vgl. BGHSt 39, 133, 137, mit Anm. Otto, JK 1994, StGB § 32/19 und Roxin, NStZ 1993, 335; vgl. auch Dreher/Tröndle, § 34 Rdn. 4; Otto, Strafrecht, A.T., § 8 VI 1 b. 381 Zu denken ist insbesondere an die Möglichkeit der Untersuchungshaft des Angeklagten wegen Verdunkelungsgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO. Zu dieser Schutzmöglichkeit vgl. oben S. 216. 382 BVerfGE 51, 324, 347; vgl. auch Berliner VeifGH, StV 1993, 84. 383 Hierzu bereits oben S. 147 f. 384 Lediglich eine Entschuldigung nach § 35 StGB sehen in diesen Fällen Granderath, MDR 1983, 800; Schmidt, Die Rechte des Zeugen, S. 45 Fn. 45. 3 8 5

LR/Gollwitzer,

§ 241 Rdn. 33.

2

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

durchzusetzen 386 . Sind zum Schutz des Zeugen Fragen gemäß § 241 Abs. 2 StPO zurückgewiesen worden, kann die Revision zudem auf eine Verletzung des Fragerechts, § 240 Abs. 2 StPO, gestützt bzw. als unzulässige Beschränkung der Verteidigung nach § 338 Nr. 8 StPO 3 8 7 gerügt werden. Gerügt werden kann darüber hinaus, daß die Zurückweisung ungenügend begründet wurde. 3 8 8 Wird eine Frage dagegen nicht zurückgewiesen, obwohl der Zeuge durch ihre Beantwortung unzumutbar gefährdet wurde, so kann dieser Verstoß gegen § 241 Abs. 2 StPO nicht mit der Revision angegriffen werden. 3 8 9 Lediglich in den seltenen Fällen, in denen gegen einen die Auskunft verweigernden Zeugen Maßnahmen nach § 70 StPO angedroht oder angewendet wurden, obwohl seine Weigerung berechtigt war, und der Zeuge daraufhin aussagt, ist die Verletzung der Schutzinteressen des Zeugen mit der Revision angreifbar und zwar als Verstoß gegen §§ 69 Abs. 3 i.V.m. 136 a Abs. 1 StPO. 3 9 0 Die Staatsanwaltschaft kann diesen Verstoß auch dann rügen, wenn die durch Drohung bzw. Zwang erlangte Aussage für den Angeklagten günstig w a r . 3 9 1 V. Stellungnahme Die Pflicht des Zeugen, sich durch seine Aussage zur Sache in Gefahr zu begeben, ist von Verfassungs wegen beschränkt. Kein Zeuge darf durch die Aussagepflicht unverhältnismäßig gefährdet werden. Da sich diese Beschränkung der Zeugenpflicht nicht aus den Normen der Straiprozeßordnung ergibt, ist sie stets das Ergebnis einer auf der Ebene des Verfassungsrechts zu erfolgenden Abwägung. Für den Richter, der mit einem gefährdeten Zeugen konfrontiert wird, ist die Entscheidung über die verfassungsrechtlichen Grenzen der Zeugenpflicht mit großen Unsicherheiten, einem enormen Begründungsaufwand und einem noch größeren Revisionsrisiko verbunden. Dieser für alle Verfahrensbeteiligten und insbesondere den betroffenen Zeugen unerträgliche Rechtszustand sollte dringend beseitigt werden.

3 8 6

BGH, GA 1968, 305, 307; KMR&aulus, § 70 Rdn. 29.

387

BGH, NStZ 1982, 158.

3 8 8

LR/Gollwitzer,

§ 241 Rdn. 30.

389

Zu der auch hier anzutreffenden "asymmetrischen Verteilung der Revisionsgefahr", vgl. bereits Rieß, Gutachten, C. 110. 3 9 0

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

391

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

Rdn. 9.

§ 70 Rdn. 21; LR/Dahs, § 70 Rdn. 42.

§ 70 Rdn. 21; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, § 70

2. Abschnitt: Schutz des Zeugen i m Hauptvefahren

2

Als zweckmäßig erweist sich hierbei die Statuierung eines Auskunftsverweigerungsrechtes des gefährdeten Zeugen. 3 9 2 Vorgeschlagen wird eine Ergänzung des § 55 StPO. § 55 Abs. 1: (Jeder Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihm selbst oder einem der in § 52 Abs. 1 bezeichneten Angehörigen die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden) "oder deren Beantwortung ihn selbst oder eine ihm nahestehende Pers o n 3 9 3 an Leben, Gesundheit oder Freiheit gefährden würde". Das Auskunftsverweigerungsrecht des gefährdeten Zeugen bezieht sich damit sowohl auf seine Angaben zur Sache als auch zur Person. Die Einbindung in § 55 Abs. 1 StPO hat zur Folge, daß auch für den gefährdeten Zeugen die Vorschriften über die Belehrung, § 55 Abs. 2 StPO, und über die Glaubhaftmachung des Verweigerungsgrundes, § 56 StPO, gelten. C. Sonstige Informationserhebungen Der Zeuge kann nicht nur durch seine eigene Aussage gefährdet werden. Gefährdungsrelevante Informationen können auch auf anderem Wege in das Verfahren eingeführt werden, so z.B. durch die Vernehmung anderer Zeugen oder das Verlesen des Protokolls einer früheren Vernehmung. Auch hier hat der Vorsitzende vor der Informationserhebung zu prüfen, ob das Bekanntwerden der Information die Person des Zeugen unzumutbar gefährden würde. Die gerichtliche Informationserhebung würde in diesen Fällen einen unverhältnismäßigen und damit rechtswidrigen Eingriff in Grundrechte des Zeugen be-

392

A.A. SK/Rogall y Vor § 48 Rdn. 73, der jedoch zu Umecht "ein Mehr an Berechtigung" für den Zeugen darin sieht, daß das Gericht von Verfassungs wegen die Aussagepflicht zu begrenzen habe. - Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1190, schlagen dagegen eine gesetzliche Klarstellung in § 70 StPO vor, daß Zwangsmaßnahmen gegen einen derart gefährdeten Zeugen nicht verhängt werden dürfen. Diese Regelung trifft jedoch nicht den Kem der Problematik, sondern spricht die Konsequenz aus dem Auskunftsverweigerungsrecht aus. 393 Der Begriff der nahestehenden Person entspricht § 35 StGB. Eine nahestehende Person ist danach "ein Mensch, der dem Täter so verbunden ist, daß er eine Gefahr für jenen auch für sich selbst als Drucksituation empfinden kann", vgl. Dreher/Tröndle, § 35 Rdn. 7.

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

2

gründen. 3 9 4 Einer solchen rechtswidrigen Informationserhebung stünde ein grundrechtliches Beweisverbot entgegen. 395 Dies bedeutet: Alle Informationen, die ein Zeuge i m Hinblick auf seine Gefahrdungslage nicht preiszugeben hätte, dürfen auch nicht auf anderem Wege offenbart werden. Dies gilt sowohl dann, wenn die Aussagepflicht gemäß § 68 Abs. 2 S. 2 bzw. Abs. 3 S. 1 StPO begrenzt w ä r e 3 9 6 als auch dann, wenn sich der Zeuge auf ein grundrechtliches Auskunftsverweigerungsrecht berufen könnte.

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung 1. Kapitel: Ermitflungsverfaliren A m wirksamsten kann eine Auskunftsperson vor Übergriffen bewahrt werden, wenn die Ermittlungsbehörden darauf verzichten, dieser Person die Zeugenpflicht aufzuerlegen. Wird eine Auskunftsperson aus dem Strafverfahren herausgehalten, so wird sie nicht als Zeuge geschützt, sondern davor, als Zeuge i n die Pflicht genommen zu werden. I m folgenden ist zu untersuchen, welche verfahrensmäßigen Instrumentarien den Ermittlungsbehörden hierbei zur Verfügung stehen, inwieweit sie geeignet sind, die Auskunftsperson wirksam zu schützen, und welche Modifikationen notwendig und sinnvoll sind. A. Heraushalten aus den Ermittlungsakten I. Grundsatz der Akten vollständigkeit Für das Ermittlungsverfahren gilt der Grundsatz der Aktenvollständigkeit. Danach sind alle Umstände, die für den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch relevant werden können, i n den Ermittlungsakten zu dokumentieren. 397 Ak394

Zum Eingriffscharakter staatlicher Informationsakte, durch die die Gefahrdungslage des Zeugen verschlechtert wird, vgl. oben S. 109. 395 Allgemein dazu, daß unverhältnismäßige Grundrechtsbeeinträchtigungen ein Beweisverbot begründen, vgl. BVerfGE 34, 238, 249 f.; BGHSt 14, 358, 363; 19, 325, 329; BayObLG, NJW 1979, 2624 flf. Speziell zur Situation gefährdeter Zeugen BVerfGE 57, 250, 284 f.; BGHSt 17, 337, 348 f.; 30, 34, 37; 33, 70, 74 f.; 39, 141, 145; Beulke/Satzger, JZ 1993, 1015; Fezer, ZStW 103 (1991), 210; ders. y JuS 1987, 359; Geißer, GA 1985, 259; Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1190. 396

Hilger, NStZ 1992, 459 Fn. 35; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 68 Rdn. 10. Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 147 Rdn. 14 sowie § 168 b Rdn. 1.; LR/Lüderssen, § 147 Rdn. 29. Z.T. wird der Grundsatz der Aktenvollständigkeit auch 397

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

285

tenmäßig zu erfassen sind damit grundsätzlich auch alle ermittlungsrelevanten Angaben von und über Auskunftspersonen. 398 Mit dem "Aktenkundigmachen" der Auskunftsperson werden in der Regel die Weichen gestellt für die spätere Gefahrdung dieser Person als Zeuge. Über das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers erfährt der Angeklagte von der Auskunftsperson, und das Gericht wird die Person aufgrund der ihm vorliegenden Akten als Zeugen für das Hauptverfahren laden. II. Vertraulichkeitszusage

als Ausnahme

1. Rechtliche Grundlage In der Strafprozeßordnung gibt es keine Vorschrift, die es gestattet, verfahrensrelevante Aussagen von Auskunftspersonen nicht zu den Verfahrensakten zu nehmen. § 68 Abs. 3 S. 3 StPO erlaubt lediglich die Nichtaufnahme der Personalien eines Zeugen, die Aussage selbst muß jedoch aktenkundig gemacht werden. Auch § 96 StPO enthält keine Regelung darüber, welche Umstände aktenkundig zu machen sind, sondern nur darüber, unter welchen Voraussetzungen bestimmte Akten geheimgehalten werden können. Eine Regelung über die Nichtaufnahme von Informationen über eine Auskunftsperson findet sich jedoch in den Gemeinsamen Richtlinien der Justiz- und Innenminister aus dem Jahre 1986. 3 9 9 Unter Hinweis darauf, daß sich diese Richtlinien bewährt haben, hat der Gesetzgeber bislang von einer gesetzlichen Regelung abgesehen. 400 2. Inhalt der Vertraulichkeitszusage Die Vertraulichkeitszusage ist die bindende Zusage einer Strafverfolgungsbehörde gegenüber einer Auskunftsperson, bestimmte Informationen nicht preiszugeben, und zwar weder an den Beschuldigten bzw. dessen Verteidiger noch an das Gericht oder irgendeine andere Behörde. Die Zusage der Vertraulichkeit/Geheimhaltung umfaßt die Personalien der Auskunftsperson sowie alle Umstände, aus denen Rückschlüsse auf die Eigenschaft als Auskunftsperson gezogen werden können. 4 0 1

aus dem Legalitätsprinzip abgeleitet, vgl. Geerds, Krause-FS, S. 454; Geißer, GA 1985, 255 mit Fn. 36. 398 Vgl. auch § 168 b StPO: Abs. 1: "Das Ergebnis staatsanwaltschaftlicher Untersuchungshandlungen ist aktenkundig zu machen." Abs. 2: "Über die Vernehmung ... der Zeugen ... soll ein Protokoll... aufgenommen werden... ." 399 Abgedruckt als Anlage D zu den RiStBV bei Kleinknecht/Meyer-Goßner. 400 Vgl. hierzu den OrgKG-Entwuif des Bundesrates, BT-Drucks. 12/989, S. 34. 401 Vgl. Ziffer 1.5.5. der Richtlinien.

2

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Die Zusage der Vertraulichkeit hat zur Folge, daß die relevanten Informationen von dem entgegennehmenden Polizeibeamten oder Staatsanwalt nicht zu den Verfahrensakten genommen werden. Bezieht sich die Vertraulichkeitszusage nur auf die Personalien der Auskunftsperson, so genügt es, die für die Angaben zur Person vorgesehenen Spalten des Vernehmungsformblattes unausgefüllt zu lassen. Erstreckt sich die zugesagte Vertraulichkeit dagegen auch auf Teile der Aussage zur Sache, so wird nicht das Vernehmungsprotokoll selbst zu den Akten genommen, sondern lediglich ein Aktenvermerk über das sachliche Ergebnis der Vernehmung. 402 In Extremfallen, i n denen selbst ein derartiger Aktenvermerk Rückschlüsse auf die Person des Informanten zuließe, ist der gesamte Vorgang der Informationserhebung aus den Verfahrensakten herauszuhalten. 403 Ein solches Vorgehen kommt in Betracht, wenn aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles außer dem Täter nur noch die Auskunftsperson von bestimmten Tatsachen Kenntnis haben konnte und dem Täter dieses auch bekannt i s t . 4 0 4 3. Voraussetzungen und Verbindlichkeit Vertraulichkeit darf nur nach den Gemeinsamen Richtlinien der Justiz- und Innenminister zugesichert werden. 4 0 5 Im einzelnen müssen für die Zusage von Vertraulichkeit folgende Voraussetzungen vorliegen 4 0 6 : a) Gefährdung der Auskunftsperson Die Auskunftsperson muß bei Bekanntwerden ihrer Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden erhebliche Gefährdungen oder unzumutbare Nachteile zu erwarten haben. Die Gefährdung ist dabei nicht von vornherein auf bestimmte Rechtsgüter, wie z.B. Leben, Gesundheit, Bewegungsfreiheit, beschränkt. 407 Nachteile sind dabei im Gegensatz zu Gefährdungen alle Beeinträchtigungen, die nicht auf rechtswidrigen Angriffen beruhen. Zu denken ist hier z.B. an den Verlust des Arbeitsplatzes oder die Zerstörung der sozialen Gemeinschaft. Die Aktenaufnahme muß also ursächlich für die Gefährdungslage der Auskunftsperson sein. Besteht die Gefährdungslage unabhängig von einem Bekanntwerden der Informationen, so kommt die Zusage von Vertraulichkeit von vornherein nicht in Betracht.

4 0 2

Geißer, GA 1985, 248; vgl. auch Kleinknecht/Meyer-Goßner,

4 0 3

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

404

Hierzu Honigl, Vertraulichkeitszusage, S. 5. Ziffer 1.1.4. der Richtlinien. Vgl. hierzu Ziffer 1.3. der Richtlinien. Geerds, Krause-FS, S. 459 f.

405 406 407

§ 158 Rdn. 17.

§ 158 Rdn. 16.

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

28

b) Notwendigkeit der Information Die Aufklärung der Tat muß ohne die vertrauliche Information aussichtslos oder wesentlich erschwert erscheinen. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Strafverfolgungsbehörden ohne die Aussage von der aufzuklärenden Tat überhaupt keine Kenntnis erlangen würden. c) Schwere Straftat Die aufzuklärende Tat muß sich grundsätzlich auf den Bereich der organisierten Kriminalität, der Staatsschutzdelikte oder der sonstigen "schweren Kriminalität" beziehen. 408 Bei Straftaten aus dem Bereich der "mittleren Kriminalität" darf Vertraulichkeit nur ausnahmsweise - z.B. bei einer "Massierung gleichartiger Straftaten" - zugesagt werden. Bei Bagatelldelikten soll eine Vertraulichkeitszusage dagegen nicht in Betracht kommen. 4 0 9 Die Zusage der Vertraulichkeit ist grundsätzlich verbindlich. Nach Ziffer 4 der Richtlinien sind die Ermittlungsbehörden nur dann nicht mehr an die erteilte Zusage gebunden, wenn die Auskunftsperson entweder wissentlich oder leicht fahrlässig falsche Angaben gemacht hat, an der Tat selbst beteiligt war, sich als V-Person als unzuverlässig erweist oder während des Einsatzes selbst strafbar macht. Hierauf ist die Auskunftsperson vor der Zusage hinzuweisen. 4. Rechtsfolge Die Zulässigkeit einer Vertraulichkeitszusage wird von den Richtlinien als das Ergebnis einer Abwägung zwischen dem Informationsinteresse von Polizei und Staatsanwaltschaft einerseits und den Interessen des Gerichts und der Verteidigung an einer umfassenden und unmittelbaren Information i m Hauptverfahren andererseits gesehen. Das Schutzinteresse der Auskunftsperson wird nicht ausdrücklich genannt. Es ist deshalb jedoch nicht unbeachtlich, wie sich schon daraus ergibt, daß sich die Entscheidung nach den Richtlinien maßgeblich an der Gefahrdungslage der Auskunftsperson zu orientieren hat.410

408

Als Anhaltspunkt für die Einordnung einer Tat in die hier relevanten Kriminalitätsbereiche können die Katalogtaten des § 98 a StPO (Datenabgleich) herangezogen werden. 409 püj- di e Einordnung einer Tat in den Bereich der "Bagatellkriminalität" können die Kriterien herangezogen werden, die eine Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO rechtfertigen würden. 410 Dies übersieht Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 49. Die Bedeutung des Schutzinteresses für die Entscheidung über die Vertraulichkeitszusage betonen dagegen Geerds, Krause-FS, S. 459; Krüger, Die Polizei 1983, 80. - Im einzelnen zu den hier betroffenen Interessen und ihrer Abwägung oben S. 127 ff.

2

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Die von den Richtlinien angesprochenen Kriterien der Schwere der Tat und der Bedeutung der Aussage sind hierbei nicht so zu verstehen, daß einer Auskunftsperson die Gefahr rechtswidriger Angriffe dann zuzumuten wäre, wenn ihre Angaben für die Aufklärung nicht wesentlich sind oder wenn es sich um ein Bagatelldelikt handelt. In diesen Fällen ist vielmehr auf das Wissen der Auskunftsperson insgesamt zu verzichten und zwar auch um den Preis, daß die Verfolgung von Bagatellsachen hierdurch erschwert oder unmöglich wird. Bei der Entscheidung ist besonders zu berücksichtigen, welches Gewicht der Aussage für die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung zukommt. I n vielen Fällen und gerade i m Bereich der Rauschgiftkriminalität bildet die Aussage nur den Ausgangspunkt für die eigentliche Ermittlungstätigkeit, z.B. die Beschlagnahme des Rauschgiftes. 411 Wird die Auskunftsperson i n diesen Fällen aus den Verfahrensakten herausgehalten, wird hierdurch weder das staatliche Aufklärungsinteresse beeinträchtigt, noch werden berechtigte Verteidigungsinteressen berührt: Der Beschuldigte erfährt das gesamte auf die Aussage hin ermittelte Beweismaterial, gegen das allein er sich zu verteidigen h a t . 4 1 2 I m übrigen sind auch bei der Entscheidung über die Zusage vertraulicher Behandlung die bereits dargelegten verfassungsrechtlichen Grenzen der Zeugenpflicht zu beachten. 4 1 3 Danach ist es den Ermittlungsbehörden i n jedem Falle untersagt, Informationen zu den Verfahrensakten zu nehmen, wenn hierdurch die Gefahr begründet wird, daß die Auskunftsperson - oder eine andere Person - ihr Leben verliert oder erhebliche Gesundheitsschäden erleid e t . 4 1 4 Bei derartigen Gefahrenlagen findet die staatliche Pflicht zur Strafverfolgung ihre Grenze, was i m übrigen allgemein anerkannt wird, wenn nicht der Auskunftsperson, sondern dem Beschuldigten derartige Gefahren droh e n . 4 1 5 Es kann daher nur als Zynismus bezeichnet werden, wenn Wetterich meint, die Auskunftsperson habe die Gefährdungen hinzunehmen, weil von

411 Nach Angaben von Meyer, ZStW 95 (1983), 835, gelingt es in 90 % der vom BKA geführten V-Personen-Einsätze, aufgrund der erhaltenen Hinweise "handfeste Beweise" zu ermitteln. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangen Schmidtmann, Kriminalistik 1984, 595 ff; Steinke, Kriminalistik 1984, 287. 412 Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 43; Wetterich, Middendorf-FS, S. 276 f. Handelt es sich bei der Auskunftsperson dagegen um einen agent provocateur, so wird durch die Geheimhaltung das berechtigte Verteidigungsinteresse daran beeinträchtigt, diesen für die Strafzumessung bedeutsamen Umstand aufzuklären; so zutreffend

Keller, StV 1984, 525. 413 414 415

S. 141 ff. Hierzu auch Geißer, GA 1985, 259. Vgl. nur BVerfGE 51, 324, 347 sowie eingehend oben S. 147 f.

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

einem Bürger i m Kriegsfall sogar die Bereitschaft gefordert werde, sein Leben einzusetzen. 416 5. Zuständigkeit Die Entscheidung über die Zusage der Vertraulichkeit soll nach den Richtlinien auf "möglichst hoher Ebene" getroffen werden. Im Bereich der Polizei bedarf es hierfür mindestens der Entscheidung "des Leiters der sachbearbeitenden Organisationseinheit", im Bereich der Staatsanwaltschaft entscheidet grundsätzlich der Behördenleiter, bei Gefahr im Verzug der einzelne Dezernent. 4 1 7 Um einen "Wildwuchs" polizeilicher Vertraulichkeitszusagen 418 zu verhindern, hat der zuständige Polizeibeamte grundsätzlich vor der Zusage die Einwilligung der Staatsanwaltschaft herbeizuführen. Nur wenn durch eine zeitliche Verzögerung der Untersuchungszweck gefährdet wäre, genügt es, die Staatsanwaltschaft im Nachhinein zu unterrichten. 419 Über die Einwilligung bzw. Unterrichtung haben Polizei und Staatsanwaltschaft jeweils vertrauliche Vermerke zu fertigen und der jeweils anderen Behörde eine Durchschrift zuzusenden. 420 Die Identität der Auskunftsperson hat die Polizei jedoch nur in "begründeten Ausnahmefällen" gegenüber der Staatsanwaltschaft preiszugeben. 4 2 1 6. Schutzwirkung

im Hauptverfahren

Die Vertraulichkeitszusage schützt die Auskunftsperson nicht vor der Übernahme der Zeugenrolle i m gerichtlichen Verfahren, sondern lediglich davor, von den Ermittlungsbehörden zu einem Zeugen gemacht zu werden. Das Gericht selbst ist dagegen an die von den Ermittlungsbehörden gegebene Vertraulichkeitszusage nicht gebunden. Es darf "eine nach der Strafprozeßordnung gebotene Beweiserhebung nicht aus dem Grund ablehnen, weil Staatsanwaltschaft oder Polizei die Identität eines Informanten geheimhalten woll e n . " 4 2 2 Ergeben sich aus den Akten oder aus sonstigen Erkenntnisquellen - zu denken ist hier insbesondere an Beweisanträge der Verteidigung - Hinweise auf die Identität der Auskunftsperson, "kann es die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) erfordern, daß das Gericht von Amts wegen Bemühungen entfal-

416

Wetterich, Middendorf-FS, S. 283. Vgl. Ziffer 1.5.1. der Richtlinien. 418 Zu der unbefriedigenden Koordination vor Erlaß der Richtlinien vgl. Geißer, GA 1985, 248. 419 Ziffer 1.5.2. der Richtlinien 420 Ziffer 1.5.6. der Richtlinien. 421 Ziffer 1.5.4. der Richtlinien. 422 BGHSt 35, 82, 85. 417

19 Zacharias

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

tet, den Namen festzustellen und die Vernehmung i n der Hauptverhandlung zu ermöglichen". 4 2 3 III. Stellungnahme Die Regelungen über die Zusage vertraulicher Behandlung i n den Gemeinsamen Richtlinien bieten die Möglichkeit, den Grundsatz der Aktenvollständigkeit angemessen zu beschränken. Das Heraushalten von Informationen über eine Auskunftsperson aus den Verfahrensakten bildet das wirksamste Mittel, um die Person vor Gefährdungen zu schützen, die ihr i m Zusammenhang mit ihrem Aussageverhalten drohen. Die Regelung ist insoweit zu begrüßen, als hierdurch die Möglichkeit eröffnet wird, die Schutzinteressen der Auskunftsperson bei der Gestaltung des Ermittlungsverfahrens angemessen zu berücksichtigen. Zu kritisieren ist jedoch, daß es bisher an einer klaren Regelung i n der Straiprozeßordnung fehlt. B. Auskunftsverweigerung gegenüber dem Gericht I. Grundsatz der Auskunftspflicht Wie bereits gezeigt, schützt eine behördliche Vertraulichkeitszusage die Auskunftsperson nicht vor der Zeugenstellung i m gerichtlichen Verfahren. Wird bekannt, daß eine Auskunftsperson existiert, deren Angaben nicht zu den Verfahrensakten genommen wurden, so wird das Gericht von Amts wegen oder auf einen Antrag der Verteidigung hin versuchen, die Identität der Auskunftsperson zu ermitteln, um diese als Zeugen laden zu können. Das Gericht kann hierbei die geheimhaltende Behörde zum einen auffordern, schriftlich Auskunft über die Identität und die ladungsfahige Anschrift dieser Person zu erteilen. Die grundsätzliche Pflicht, diesem gerichtlichen Auskunftsersuchen nachzukommen, wird heute nicht mehr bestritten. 4 2 4 Die Auskunftspflicht jeder Behörde ergibt sich aus der allgemeinen staatsrechtlichen Amtshilfepflicht, Art. 35 Abs. 1 G G . 4 2 5 A u f der Ebene des einfachen Rechtes kann eine derartige Auskunftspflicht durch einen "erst recht" Schluß aus § 161 S. 1 StPO, der die Auskunftspflicht gegenüber der Staatsanwalt-

423

BGHSt 39, 141, 145. Nach der älteren Lehre bestand dagegen keine generelle Pflicht von Behörden, dem Gericht gegenüber Auskunftspersonen zu benennen, vgl. hierzu die Nachweise bei AJauche, NStZ 1988, 564. 425 BGHSt 29, 109, 112; 29, 390, 393; 32, 115, 124; Beulke/Satzger, JZ 1993, 1015; Haas, V-Leute, S. 196; Hilger, NStZ 1984, 146; SK/Rudolphi, § 96 Rdn. 2; Taschke, Zurückhaltung von Beweismitteln, S. 67. 424

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

schaft bestimmt, gewonnen werden. 4 2 6 Die Auskunftspflicht der Ermittlungsbehörden ergibt sich zudem aus ihrem strafprozessualen Ermittlungsauftrag, § 160 StPO. Die Ermittlungsbehörden haben ihre Tätigkeit am Ziel der materiellen Wahrheitserforschung auszurichten. 427 Es gehört daher zu ihren spezifischen Aufgaben, dem Gericht die hierfür notwendigen Beweise zu beschaffen und hierauf abzielenden Auskunftsersuchen nachzukommen. A n Stelle des Auskunftsersuchens kann das Gericht aber auch denjenigen Beamten, dem Identität und Aufenthaltsort der Auskunftsperson bekannt sind, als Zeugen hierüber befragen. In diesem Falle wird die behördliche Auskunftspflicht durch die Zeugenpflicht des Beamten konkretisiert. IL Ausnahmen In Rechtsprechung 428 und Literatur 4 2 9 ist allgemein anerkannt, daß die Ermittlungsbehörden berechtigt sind, eine Auskunftsperson auch gegenüber dem Gericht geheimzuhalten, falls ansonsten die Gefahr bestünde, daß diese oder eine andere Person in unzumutbarer Weise an Leben, Gesundheit oder Freiheit 4 3 0 gefährdet würden. Unklarheiten bestehen aber weiterhin über die rechtlichen Grundlagen und die formellen Anforderungen, die an eine solche Geheimhaltung zu stellen sind. 1. § 54 StPO a) Voraussetzungen Richtet sich das Auskunftersuchen in der Form an die Ermittlungsbehörde, daß ein Beamter als Zeuge Angaben über die Auskunftsperson machen soll, so bietet allein § 54 StPO die Möglichkeit, die Zeugenpflichten des um Auskunft ersuchten Beamten zu beschränken. Nach § 54 Abs. 1 StPO gelten die besonderen beamtenrechtlichen Vorschriften für die Vernehmung von Richtern, Beamten und anderen Personen des öffentlichen Dienstes als Zeugen über Umstände, auf die sich ihre Amtsverschwiegenheit bezieht, und für die Genehmi426

Zu diesem "erst-recht" Schluß BVerfGE 57, 250, 282; BGHSt 30, 34, 35; 35,

82, 85; 36, 328, 337; Kleinknecht/Meyer-Goßner, 4 2 7

§ 161 Rdn. 1.

Vgl. nur Geißer, GA 1985, 255; LR/Rieß, § 160 Rdn. 36.

428

BVerfGE 57, 250, 285; BGH bei Dallinger, MDR 1952, 659; BGHSt 22, 311, 313; 29, 109, 113; 30, 34, 37; 31, 148, 155; 31, 295; 33, 70, 74; 33, 83, 90; 33, 178, 180; 36, 159, 164; BVerwG, DVB1. 1986,1207, 1209. 4 2 9 Vgl. nur Arloth, Geheimhaltung, S. 37 ff; Geißer, GA 1985, 259; Haas, VLeute, S. 246 f.; Herdegen, NStZ 1984, 100; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 81; Taschke,

Zurückhaltung von Beweismitteln, S. 181. 430 Zweifelnd im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit des Rechtsgutes "Freiheit" Bruns, Neue Wege, S. 27 f. 19*

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

gung zur Aussage. Nach den insoweit einschlägigen §§62 Abs. 1 BBG, 39 Abs. 3 BRRG darf die Aussagegenehmigung "nur versagt werden, wenn die Aussage dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten oder die Erfüllung öffentlicher Aufgaben ernstlich gefährden würde". aa) Nachteile für das Bundes- oder Landeswohl Der Begriff "Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes" erfaßt hierbei staatliche Interessen, die i m Hinblick auf das übergeordnete Gesamtwohl des Staates von Bedeutung sind. Nachteile drohen dem Wohl des Bundes oder eines Landes, wenn durch die Auskunft die äußere oder innere Staatssicherheit gefährdet würde. 4 3 1 Danach würde die Gefährdungslage einer Auskunftsperson grundsätzlich keinen Nachteil für das Staatswohl begründen. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn die Auskunftsperson selbst, z.B. aufgrund ihrer politischen Stellung, für die äußere oder innere Sicherheit des Staates von Bedeutung ist. Versuche, in jeder Gefährdung einer Auskunftsperson zugleich einen Nachteil für das Staatswohl zu sehen, würden dem Begriff des Staatswohles jede Kontur nehmen. 4 3 2 Zudem würde hierdurch verkannt, daß der Gesetzgeber die Versagungsgründe seit dem Jahre 1937 erweitert hat auf Informationen, deren Preisgabe die Erfüllung öffentlicher Aufgaben ernstlich gefährden würde. 4 3 3 Diese Erweiterung wäre sinnlos, wenn die Erfüllung öffentlicher Aufgaben mit dem Staatswohl identisch wäre. 4 3 4 bb) Gefährdung öffentlicher Aufgaben Öffentliche Aufgaben sind alle Aufgaben, deren Erfüllung im Interesse der Allgemeinheit liegt und dem Gemeinwohl dient. 4 3 5 Bei der Geheimhaltung von Auskunftspersonen stellt sich das Problem, inwieweit das individuelle Schutzinteresse des Betroffenen zugleich als ein Interesse der Allgemeinheit bewertet werden kann. Das Problem löst sich auf, wenn beachtet wird, daß 431 Vgl. Müller, Behördliche Geheimhaltung, S. 26 f.; sowie eingehend Ziegler, Aussagegenehmigung, S. 124 ff. 432 Ablehnend auch Arloth, NStZ 1985, 281; ders., NStZ 1992, 96; Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 536; Franzheim, JR 1982, 437; Hoffmann, Der unerreichbare Zeuge, S. 142; Lüderssen, Klug-FS, S. 531; Taschke, Zurückhaltung von Beweismitteln, S. 182; auch BGHSt 31,148, 155 differenziert zwischen der Gefahr für das Leben der Zeugin und den Nachteilen für das Staatswohl. - Α Α., wenn auch ohne Begründung, Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 54 Rdn. 20. 433 § 9 Abs. 1 des Deutschen Beamtengesetzes vom 26.1.1937, zur Entstehungsgeschichte Arloth, Geheimhaltung, S. 32 f. 434 Von daher kann es auch nicht überzeugen, die Nachteile für das Staatswohl darin zu sehen, daß bei einer Gefahrdung des Zeugen stets auch die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege beeinträchtigt wird; so aber J. Meyer, JR 1983, 478;

SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 80.

435 Vgl nur Masson/Samper, Bayerische Kommunalgesetze, Art. 6 GO Rdn. 4.

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

2

dem Interesse der Auskunftsperson an Schutz die Pflicht des Staates gegenübersteht, Eingriffe zu unterlassen und den Betroffenen vor rechtswidrigen Angriffen Dritter zu schützen. 436 Hierbei handelt es sich um öffentliche Aufgaben, deren Erfüllung dem Staat unmittelbar von der Verfassung auferlegt ist 437 w i e bereits gezeigt, stellt die Weitergabe von Information, durch die eine Person an Leben, Gesundheit oder einem anderen Gut gefährdet wird, einen Eingriff i n die entsprechenden Grundrechte der betroffenen Person d a r . 4 3 8 Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben kann es den Ermittlungsbehörden somit gebieten, gefährdungsrelevante Informationen nicht an das Gericht weiterzugeben. 439 Eine derartige verfassungsrechtlich gebotene Geheimhaltung kann sich dabei selbst nur als Ergebnis einer umfassenden Abwägung der hiervon betroffenen Interessen ergeben. 440 Insoweit kann auf die Ausführungen zur Ermessensausübung i m Rahmen der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht verwiesen werden. 4 4 1 Besonders sorgfältig zu prüfen ist hierbei, ob den Gefahren nicht auch durch zumutbare Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes oder durch strafprozessuale Schutzmöglichkeiten begegnet werden kann.442 b) Rechtsfolge Nach den beamtenrechtlichen Vorschriften "kann" die Aussagegenehmigung versagt werden, wenn die Erfüllung öffentlicher Aufgaben ernstlich gefährdet würde. Da sich in den Fällen des Schutzes der Auskunftsperson bereits das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung "Gefährdung der Erfüllung öffentlicher Aufgaben" als das Ergebnis einer umfassenden Interessenabwägung darstellt, ist das Ergebnis dieser Abwägungsentscheidung für die Rechtsfolge des § 54 StPO i.V.m. den beamtenrechtlichen Vorschriften zwingend: In den Fällen, in denen eine Informationsweitergabe von Verfassungs wegen unzulässig wäre, "ist" die Aussagegenehmigung zu versagen bzw. zu beschränken.

436

Vgl. nur BVerfGE 57, 250, 285. Arlothy Geheimhaltung, S. 37 f.; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 80; Ziegler, Aussagegenehmigung, S. 128 f. 438 Eingehend hierzu oben S. 109. 439 Die Verweigerung der Aussagegenehmigung wird sich in diesen Fällen vor allem auf die Angabe der Identität der Auskunftsperson und deren Aufenthaltsort beziehen. 440 BVerfGE 57, 250, 283 ff; BGHSt 32, 32, 35; 32, 115, 124; BVerwGE 66, 39, 44; 75, 110 ff; 89, 14, 20. 441 Im einzelnen zu den hier betroffenen Interessen und ihrer Abwägung oben S. 127 ff. 442 Hierzu auch Zaczyk, StV 1993, 496. 437

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Soll die Aussagegenehmigung beschränkt werden, weil zu befürchten ist, daß die Auskunftsperson durch die Übernahme der Zeugenstellung gefährdet wird, so muß die Sperrerklärung die tatsächlichen Umstände benennen, aus denen sich die Gefährdungslage ergibt. 4 4 3 In der Regel muß also dargelegt werden, auf welche Tatsachen sich die Befürchtung rechtswidriger Angriffe i n dem konkreten Verfahren stützt. Begründet werden muß z.B. die besondere Gewalttätigkeit des Angeklagten oder seine Einbindung i n eine gewaltbereite Gruppe. I n vielen Bereichen der organisierten Kriminalität gehört die Bedrohung von Zeugen und insbesondere von "Verrätern" zu den selbstverständlichen Mitteln der Risikominimierung und der "Generalprävention". 444 Hier genügt es, das entsprechende kriminologische Erfahrungswissen darzustellen und auf den konkreten Sachverhalt anzuwenden. 445 Floskelhafte und pauschale Hinweise auf milieubedingte Gefährdungen ohne eine entsprechende "Subsumtionsleistung" reichen nicht a u s . 4 4 6 Es muß grundsätzlich angegeben werden, i n welcher Beziehung - sei es als Zufallszeuge, Tatopfer oder z.B. als Bandenmitglied - die Auskunftsperson zu der Gefahrenlage und insbesondere zu der kriminellen Organisation steht. Diese Information bildet für das Gericht und den Angeklagten nicht nur die Grundlage, um die Gefahrenprognose der Exekutive zu beurteilen, sondern auch, um die Sachgerechtigkeit des Abwägungsergebnisses insgesamt nachzuvollziehen. 447 Würde die Angabe der hier genannten Gründe die Auskunftsperson bereits gefährden - was angesichts der Tatsache, daß die Existenz der Aukunftsperson zum Zeitpunkt des gerichtlichen Auskunftsersuchens bereits verfahrensbekannt ist, nur i n Ausnahmefallen denkbar ist - so ist dies anzugeben und plausibel zu machen. 4 4 8 c) Zuständigkeit Die Entscheidung darüber, ob die Aussagegenehmigung für den Beamtenzeugen beschränkt wird, trifft i n der Regel die oberste Dienstbehörde als ober-

443 Inzwischen absolut herrschende Meinung, vgl. nur die Nachweise bei Hoffmann, Der unerreichbare Zeuge, S. 146 Fn. 341 und 342. A.A noch LR/Meyer, 23. Aufl., § 96 Rdn. 10. 444 Vgl. hierzu oben S. 96 f. 445 Auch der BGH geht hier von Erfahrungstatsachen aus, vgl. nur BGH, NStZ 1984, 32: "Im Bereich schwerwiegender Kriminalität (z.B. Terrorismus, Betäubungsmitteldelikte, Landesverrat) haben Personen, die ... der Polizei... Informationen aus dem Täterkreis liefern, Angriffe auf ihr Leben oder ihre Gesundheit zu befürchten." 446 Hierzu auch Geppert, Jura 1992, 250; Hilger, NStZ 1992, 459. 447 Zu dem Anspruch des Angeklagten, die Gründe der Geheimhaltung zu erfahren, vgl. BVerfGE 57, 250, 288; Arloth, Geheimhaltung, S. 82 f.; Fezer, KleinknechtFS, S. 114 ff; Taschke, Zurückhaltung von Beweismitteln, S. 268. 448 BVerfGE 57, 250, 288; SK-Rogall, Vor § 48 Rdn. 83 m.w.N.

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

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ste Aufsichtsbehörde. 449 Der insoweit zuständige Minister kann die Entscheidung an einen Mitarbeiter seines Hauses delegieren 4 5 0 Zuständig für die Versagung der Aussagegenehmigung eines Staatsanwalts ist der entsprechende Justizminister, bei Bundesanwälten oder beim Generalbundesanwalt der Bundesjustizminister, vgl. § 147 GVG. Handelt es sich bei der Auskunftsperson um eine V-Person, die von der Polizei zur Informationsgewinnung i m Bereich der Gefahrenabwehr eingesetzt wurde, so hat der um Auskunft ersuchte Polizeibeamte i m Rahmen präventiver Tätigkeit Kenntnis von der Identität und der ladungsfähigen Anschrift der Auskunftsperson erlangt. Zuständig für die Versagung der Aussagegenehmigung ist hier der Innenminister des jeweiligen Bundeslandes. Aber auch in den Fällen, in denen die Polizei während ihrer strafverfolgenden Tätigkeit mit der Auskunftsperson zusammentrifft und so die relevanten Informationen erhält, bleibt es bei der Zuständigkeit des Innenministers, auch wenn die Polizei funktional als Justizbehörde tätig wird. Für die Erteilung der Aussagegenehmigung von Beamten, die verschiedenen staatlichen Stellen unterstehen, ist unstreitig der Dienstvorgesetzte zuständig, der die Disziplinargewalt innehat. Für Polizeibeamte, die als "Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft" eingesetzt sind, ist daher der polizeiliche Dienstvorgesetzte zuständig, nicht der Leiter der Staatsanwaltschaft. 451 Dieser "Zuständigkeitsstrang" ist dann aber auch bei der Versagung weiterzuführen. 452 Für die Zuständigkeit des die Disziplinargewalt ausübenden obersten Dienstvorgesetzten spricht auch die Formulierung "Aufsichtsbehörde" in den entsprechenden Beamtengesetzen 4 5 3 d) Schutzwirkung i m Hauptverfahren Die Entscheidung der obersten Dienstbehörde ist insoweit bindend, als das Gericht keine Möglichkeiten besitzt, das abgelehnte Auskunftsersuchen in eigener Zuständigkeit durchzusetzen. Gegen einen Beamten, der die Zeugenaus449

§ 62 Abs. 4 BBG; sowie für Landesbeamten ζ Β. Art. 70 Abs. 3 BayBG. Diese Zuständigkeitsregelung wird auch vom BVerfG gefordert, vgl. BVerfGE 57, 250, 289. Zuständig für die Erteilung der Aussagegenehmigung ist dagegen der unmittelbare Dienstvorgesetzte, § 61 Abs. 2 S. 2 BBG; § 39 Abs. 2 S. 2 BRRG. 450 BGHSt 35, 82, 86. 45 1

KK/Peichen, § 54 Rdn. 14; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Paulus, § 54 Rdn. 30; LR/Dahs, § 54 Rdn. 14.

§ 54 Rdn. 19; KMRJ-

452 A A Taschke, StV 1988, 137; differenzierend Arloth, NStZ 1992, 96: "Wurde die V-Person von der Polizei in einem konkreten Ermittlungsverfahren eingesetzt und geht es nunmehr um dieses Verfahren, verbleibt es bei der Gesamtverantwortung der StA; zuständig für die Abgabe der Sperrerklärung ist als oberste Dienstbehörde das Justizressort. ... Hält die Polizei ein Beweismittel aus präventiven Gründen zurück, handelt sie nicht als Justizbehörde im funktionellen Sinn. Zuständig für die Sperrerklärung ist das Innenressort." 453 Eingehend hierzu BGHSt 41, 36, 38 ff.

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

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sage unter Hinweis auf die fehlende Aussagegenehmigung verweigert, sind Zwangsmittel nach § 70 StPO unzulässig. Der Beamte hat hier einen "gesetzlichen Grund" i m Sinne § 70 StPO zur Zeugnisverweigerung. 454 Das Gericht darf sich jedoch nicht in jedem Falle mit der behördlichen Weigerung begnügen. Hält es die Weigerung für unberechtigt, so hat es sich z.B. i m Wege einer Gegenvorstellung - zu bemühen, von der obersten Dienstbehörde eine Korrektur der Entscheidung zu erlangen. 455 Bleibt die oberste Dienstbehörde bei ihrer Entscheidung, so hat dies Auswirkungen auf die gerichtliche Aufklärungspflicht. Beantragt der Angeklagte trotz der verweigerten Aussagegenehmigung, den Beamten zur Identität der Auskunftsperson zu vernehmen, so hat das Gericht diesen Antrag abzulehnen. Die Erhebung dieses Beweises ist hier (beamten-) rechtlich unzulässig i m Sinne § 244 Abs. 3 S. 1 StPO. 4 5 6 Erhält das Gericht dagegen auf anderem Wege Kenntnis von der Identität der Auskunftsperson, so steht die behördliche Auskunftsverweigerung einer Ladung dieser Person als Zeuge nicht entgegen. Dies gilt auch dann, wenn die Kenntnis darauf beruht, daß der Beamte als Zeuge die Identität der Auskunftsperson weisungswidrig doch preisgibt. 457 Eine Begrenzung der Aufklärungspflicht kann sich in diesen Fällen jedoch aus der gerichtlichen Fürsorgepflicht gegenüber dem Zeugen ergeben. 458 Für die Situation der gefährdeten Auskunftsperson bedeutet ihr gerichtliches Bekanntwerden damit lediglich eine Veränderung der schutzpflichtigen staatlichen Stelle, nicht jedoch eine Reduktion des Schutzumfanges. Würde die Auskunftsperson durch die Verfahrensrolle als Zeuge in unzumutbarer Weise gefährdet, gebietet es die gerichtliche Fürsorgepflicht gegenüber dem Betroffenen, von einer Ladung bzw. Vernehmung als Zeuge abzusehen. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen, die die Erhebung des Beweises unzulässig im Sinne § 244 Abs. 3 S. 1 StPO machen würde, prüft das Gericht dann in eigener Verantwortung. 459

454

OLG Hamburg, NStZ 1994, 98 f. Ständige Rechtsprechung, vgl. BGHSt 17, 382, 384; 29, 109, 113; 32, 115, 125 f.; 36, 159, 161 f.; OLG Hamburg, NStZ 1994, 98, 99; vgl. auch Geppert, Jura 1992, 249; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 54 Rdn. 32; Taschke, Zurückhaltung von Beweismitteln, S. 269 f. 456 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 244 Rdn. 66; Müller, Behördliche Geheimhaltung, S. 40; Roxi η, Strafverfahrensrecht, § 43 Rdn. 13. 455

4 5 7

Kleinknecht/Meyer-Goßner,,

§ 54 Rdn. 32; LR/G. Schäfer, § 96 Rdn. 70; LR/K

Schäfer, Einl. 14 Rdn. 59. - A.A. KMR/Paulus, § 54 Rdn. 48. 458 BGHSt 39, 141, 145; BGH, StV 1993, 233. Eingehend oben S. 141 ff. 459 BGHSt 39, 141, 142 (Leitsatz 2).

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

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2. § 96 analog a) Voraussetzungen Fordert das Gericht die Ermittlungsbehörde im Wege der Amtshilfe auf, Auskunft über die Identität und die ladungsfähige Anschrift der Auskunftsperson zu erteilen, so fehlt es an einer - dem § 54 StPO entsprechenden - gesetzlichen Grundlage für eine Verweigerung der Auskunft. Die Lösung dieses Dilemmas wird von der Rechtsprechung seit Beginn der achtziger Jahre in einer analogen Anwendung des § 96 StPO gesehen. 460 Eine Auskunftsperson kann danach von der obersten Dienstbehörde für die Zeugemolle in der Hauptverhandlung "gesperrt" werden, indem die Behörde "in analoger Anwendung des § 96 StPO" jede Auskunft über die Identität der Person und ihre ladungsfähige Anschrift verweigert. Voraussetzung dieser Auskunftsverweigerung soll sein, daß der Betreffende oder eine andere Person durch die Preisgabe der Information an Leben, Gesundheit oder Freiheit gefährdet werden würde. Der Gesetzgeber hat sich dieser Ansicht zwischenzeitlich angeschlossen und in § 110 b Abs. 3 S. 3 StPO klargestellt, daß in einem Strafverfahren die Geheimhaltung der Identität eines Verdeckten Ermittlers "nach Maßgabe des § 96" zulässig ist, "insbesondere dann, wenn Anlaß zu der Besorgnis besteht, daß die Offenbarung Leben, Leib oder Freiheit des Verdeckten Ermittlers oder einer anderen Person ... gefährden würde." Dasselbe muß dann aber auch für sonstige Zeugen gelten. 4 6 1 Dem ist i m Ergebnis zuzustimmen, wenngleich der rechtsmethodische Weg einer Analogie zu der Vorschrift des § 96 StPO näherer Begründung bedurft hätte: § 96 StPO ist eine Ausnahmevorschrift des Rechts der Beschlagnahme. Er begrenzt die von § 95 StPO statuierte Pflicht der Behörde, Gegenstände, die als Beweismittel von Bedeutung sein können, auf Verlangen vorzulegen. Die oberste Dienstbehörde hat das Recht, die Vorlegung von Schriftstücken zu verweigern, falls das Bekanntwerden des Inhaltes dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde. Grundgedanke des § 96 StPO ist damit, daß es Fälle gibt, in denen das staatliche Interesse an dem Schutz bestimmter Informationen das Strafverfahrensinteresse an einer umfas460

BGH, StV 1981, 110, 111, sowie im Anschluß daran BGHSt 29, 390, 393; 30, 34, 36. Das Reichsgericht hatte ebenso wie der BGH infrüheren Entscheidungen die behördliche Freigabe einer Auskunftsperson dagegen an § 54 Abs. 1 StPO gemessen, vgl. RGSt 7, 74, 76; 13, 154 f.; 44, 291 ff.; BGHSt 17, 382, 384; 29, 109, 111; BGH bei Daliinger, MDR 1952, 659; BGH, JR 1969, 305, 306. 461 Vgl. hierzu auch die Begründung zum OrgKG-Entwurf, BT-Drucks. 12/989, S. 42; sowie Hilger, NStZ 1992, 524 Rdn. 154; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 96 Rdn. 13; Pfeiffer, in Pfeiffer/Fischer, § 96 Rdn. 3: Zaczyk, StV 1993, 496. Kritisch Lesch, StV 1995, 546.

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

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senden Sachverhaltsaufklärung überwiegt und daß die hier vorzunehmende Abwägungsentscheidung nicht von dem Gericht, sondern von der obersten Dienstbehörde der geheimhaltenden Stelle zu treffen ist. Die analoge Anwendung des § 96 StPO auf die Versagung von Auskünften zum Schutz von Auskunftspersonen setzt dabei zwei Schritte voraus. I n einem ersten Schritt ist der Anwendungsbereich von der "Vorlegung von Schriftstücken" auf die "Erteilung von Auskünften" zu erstrecken. Da sich aus § 96 StPO die Regelungsabsicht des Gesetzgebers ergibt, das Amtsgeheimnis insgesamt zu schützen, stellt sich die Nichtregelung des Auskunftsbegehrens als eine "planwidrige" Lücke dar, die i m Wege der Gesetzesanalogie zu schließen ist.462 I n einem zweiten Schritt ist zu begründen, inwieweit die Gefährdung der Auskunftsperson den Nachteilen für das Staatswohl gleichgestellt werden kann. Die Gefährdung der Auskunftsperson stellt nämlich für sich keinen Unterfall der Nachteile des Staatswohles d a r . 4 6 3 Wie sich aus der Erweiterung der Versagungsgründe des § 54 StPO ergibt, umfaßt der Begriff des Staatswohles auch i n § 96 StPO lediglich die äußere und innere Sicherheit des Bundes oder eines deutschen Landes. Diese wird durch die Gefahr rechtswidriger Angriffe auf einzelne Individuen regelmäßig nicht beeinträchtigt. 4 6 4 Die Erweiterung der Versagungsgründe über den Wortlaut der Regelung hinaus ergibt sich jedoch unmittelbar aus den Grundprinzipien jeder Amtshilfe und jeden staatlichen Auskunftersuchens. 465 Auch hier gilt wie bei § 54 StPO, daß die Weitergabe von Information, durch die eine Person an Leben, Gesundheit oder einem anderen Gut gefährdet wird, einen Eingriff i n diese Grundrechte der betroffenen Person darstellt. Ist dieser Eingriff nicht durch höherrangige Interessen gerechtfertigt, ist er grundrechts- und damit verfassungswidrig. Ein verfassungswidriges Verhalten darf aber nicht zum Gegenstand eines Amtshilfeersuchens gemacht werden. Damit erübrigt sich der Einwand, § 96 StPO sei eine Ausnahmevorschrift und daher nach allgemeinen rechtsmethodischen Grundsätzen nicht analogief a h i g . 4 6 6 Abgesehen davon, daß eine derartige Regel - i n ihrer Allgemeinheit nicht haltbar i s t 4 6 7 , geht es hier nicht um eine "Ausnahme" von der allgemei-

462

BGHSt 30, 34, 36\Arloth y Geheimhaltung, S. 29. Hierzu oben S. 292. 464 Hierzu oben S. 292. 465 Naucke, NStZ 1988, 564 ist daher zuzustimmen, wenn er feststellt: "Allein für diese Grenzziehung ist die 'Analogie' zu § 96 StPO dienlich". 466 Nachweise h&i Arloth, Geheimhaltung, S. 30 Fn. 61. 467 Hierzu oben S. 234. 463

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

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nen Auskunftspflicht, sondern darum, die inhaltlichen Grenzen der Auskunftspflicht zu bestimmen. Die "Analogie" zu § 96 StPO dient nur dazu, die inhaltlichen Grenzen der Auskunftspflicht an einer Verfahrensnorm festzumachen, die zugleich eine als angemessen empfundene Zuständigkeitsregelung enthält. In der Sache könnte auf die analoge Heranziehung des § 96 StPO verzichtet werden. Das Auskunftsverweigerungsrecht der Behörde ließe sich dann unmittelbar aus der Grundrechtsbindung der Exekutive 4 6 8 und den sich daraus ergebenden Schutzpflichten ableiten. 469 Damit gilt für die Sperrerklärung analog § 96 StPO ebenso wie für die Versagung der Aussagegenehmigung nach § 54 StPO, daß sich eine - letztlich auf den Schutz von Grundrechten gestützte - Auskunftsverweigerung nur als Ergebnis einer umfassenden Verhältnismäßigkeitsprüfung darstellen k a n n . 4 7 0 Die Voraussetzungen einer Sperrerklärung zum Schutz der Auskunftsperson sind damit sachlich identisch mit denen der Versagung der Aussagegenehmigung nach § 54 StPO. Insoweit kann daher nach oben verwiesen werden. § 96 StPO analog ist dabei auf die Auskunftsverweigerung jeder organisatorisch und funktional von dem Gericht getrennten Behörde anzuwenden. Dies bedeutet, daß sich neben der Polizei auch die Staatsanwaltschaft gegenüber dem mit der Sache befaßten Gericht auf § 96 StPO berufen k a n n . 4 7 1 Für die staatliche Schutzpflicht gegenüber der Auskunftsperson ist nicht die organisatorische Einbindung staatlicher Stellen entscheidend, sondern die Tatsache, daß eine Informationsweitergabe eine eigenständige Verschlechterung der Ge468

Beulke/Satzger, JZ 1993, 1015. Zur Begrenzung der behördlichen Auskunftspflicht unmittelbar aus den Grundrechten des Betroffenen auch SK/Rudolphi, § 96 Rdn. 7. 469 Diesen Weg bevorzugen z.B. Hoffmann, Der unerreichbare Zeuge, S. 141 ff, und letztlich auch Naucke, NStZ 1988, 564 f. sowie Taschke, Zurückhaltung von Beweismitteln, S. 183 f., die ein Auskunftsverweigerungsrecht der Behörde aus dem Prinzip der Güterabwägung, wie es in § 34 StGB zum Ausdruck komme, herleiten wollen. 470 Bei der hier vorzunehmenden Interessenabwägung handelt es sich also keineswegs - wie Arloth, Geheimhaltung, S. 47, meint - um ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal neben dem eigentlichen Geheimhaltungsgrund. 471 So auch BVerfGE 63, 45, 65; Arloth, Geheimhaltung, S. 48 f.; LR/G. Schäfer, § 96 Rdn. 56; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 983. A A LR/Rieß, § 199 Rdn. 13; SK/Rudolphi, § 96 Rdn. 4; Taschke, StV 1988, 138, die aus der Eingliederung der

Strafverfolgungsorgane in das Strafverfahren eine uneingeschränkte Herausgabe- und Auskunftspflicht gem. §§ 163 Abs. 2 S. 1, 199 Abs. 2 S. 2 StPO bejahen. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß die Staatsanwaltschaft bereits funktional nicht identisch mit der rechtsprechenden Gewalt ist und damit eine andere Behörde im Sinne § 96 StPO bleibt.

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

fährdungslage - und damit einen eigenständigen Grundrechtseingriff - nach sich zieht. 4 7 2 Ist dies der Fall, kann die Informationsweitergabe einen unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff darstellen, so daß die Auskunft zu versagen ist. b) Rechtsfolge Die geforderte umfassende Interessenabwägung ist hier - ebenso wie bei § 54 StPO - auf der Tatbestandsseite vorzunehmen. 473 Die Sperrerklärung ist daher zwingend abzugeben, wenn eine Informationsweitergabe an das Gericht von Verfassungs wegen unzulässig wäre. - Ebenso wie die Entscheidung nach § 54 StPO ist die Sperrerklärung in einer Weise zu begründen, die es dem Gericht ermöglicht, die Gründe für die Weigerung nachzuvollziehen, um auf diese Weise Hindernisse, die einer Vernehmung entgegenstehen, beseitigen zu können. c) Zuständigkeit Aus der analogen Heranziehung des § 96 StPO ergibt sich die Zuständigkeit der obersten Dienstbehörde zur Abgabe der Sperrerklärung. Im Bereich der Polizei entscheidet stets der sachnähere Innenminister, nicht etwa der Justizminister. 4 7 4 d) Schutzwirkung im Hauptverfahren Die Schutzwirkung der behördlichen Sperrerklärung hängt maßgeblich davon ab, ob das Gericht die geheimgehaltenen Akten nach § 94 StPO beschlagnahmen kann. Eine gerichtliche Beschlagnahme von Behördenakten ist grundsätzlich möglich. 4 7 5 Die behördliche Sperrerklärung steht einer Beschlagnahme jedoch entgegen, sofern sie nicht willkürlich oder offensichtlich rechtsfehlerhaft abgegeben wurde. 4 7 6 Da eine auf die Gefährdung der Aus-

472

In diese Richtung auch Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 983: "Die ... Verantwortlichkeit für die Bewahrung von Kontaktpersonen vor Leibes- und Lebensgefahr trifft die StA als Herrin des Ermittlungsverfahrens." 473 So auch Arloth, Geheimhaltung, S. 47 Fn. 148. 474 BGHSt 41, 36. - Für die Einzelheiten sei auf die entsprechenden Ausführungen zu § 54 StPO - oben S. 294 - verwiesen. 475 Dies ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang des § 96 StPO mit den übrigen Beschlagnahmevorschriften, vgl. nur BGHSt 38, 237, 240, mit Überblick über den Streitstand sowie die Entscheidungsanmerkungen von Amelung, NStZ 1993, 48; Arloth, NStZ 1993, 467; Hilgendorf,

JZ 1993, 368; Taschke, NStZ 1993, 94.

476

BGHSt 38, 237, 245 ff; KG, NStZ 1989, 541; 542; Arloth, Geheimhaltung, S. 63 ff; ders., NStZ 1993, 469 f.; Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 546; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 96 Rdn. 2; SK/Rogall,

Vor § 48 Rdn. 91 a.E. Vgl. auch

Müller, Behördliche Geheimhaltung, S. 49 ff, mit Überblick über die historischen

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

kunftsperson gestützte Sperrerklärung nur dann willkürlich oder offensichtlich rechtsfehlerhaft sein kann, wenn die behauptete Gefährdungslage nicht begründbar ist, besteht in diesen Fällen auch keine behördliche Schutzpflicht, die einer Beschlagnahme entgegen stehen könnte Eine nicht willkürliche oder offensichtlich rechtsfehlerhafte Sperrerklärung ist damit für das Hauptverfahren insoweit verbindlich, als das Gericht keine Möglichkeit hat, die Information von der Behörde zu erhalten. Ein auf Heranziehung der entsprechenden Akten gerichteter Beweisantrag ist nach § 244 Abs. 3 S. 1 StPO abzulehnen, weil die Beweiserhebung unzulässig i s t . 4 7 7 Ein Antrag auf Vernehmung der Auskunftsperson scheitert schon daran, daß diese Person mangels Kenntnis einer ladungsfähigen Anschrift für das Gericht unerreichbar ist, § 244 Abs. 3 S. 2 StPO. 4 7 8 Gelingt es dagegen dem Gericht oder einem anderen Verfahrensbeteiligten, die Identität oder gar die ladungsfähige Anschrift eines gesperrten Zeugen zu ermitteln, so ist das Gericht im Rahmen seiner Aufklärungspflicht grundsätzlich verpflichtet, diesen Zeugen zu laden. 4 7 9 Auch hier kann die Aufklärungspflicht durch die gerichtliche Fürsorgepflicht gegenüber der als Zeugen zu ladenden Auskunftsperson begrenzt werden. 4 8 0 3. Sonderproblem:

V-Personen und VE

Von den dargestellten Möglichkeiten, eine Auskunftsperson aus dem Strafverfahren herauszuhalten, machen die Ermittlungsbehörden am häufigsten Gebrauch bei V-Personen 481 oder verdeckt ermittelnden Polizeibeamten ( V E ) 4 8 2 . Der Schutz dieser Auskunftspersonen weist Besonderheiten auf, die bei der Entscheidung über die "Sperre" zu beachten sind. a) Sperre wegen Gefährdungslage In vielen Fällen wird die Sperrerklärung einer V-Person damit begründet, daß die V-Person durch die Übernahme der Zeugemolle unzumutbar gefährdet Hintergründe. - Für eine Erweiterung der Beschlagnahmemöglichkeiten dagegen Lüderssen, Klug-FS, S. 536 ff; Taschke, NStZ 1993, 94. 47 7 Müller, Behördliche Geheimhaltung, S. 41. 478 BT-Drucks. 12/989, S. 36; Arloth, Geheimhaltung, S. 89 m.w.N; Hoffmann, Der unerreichbare Zeuge, S. 157; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 96 Rdn. 10; Müller, Behördliche Geheimhaltung, S. 41. 479 BGHSt 39, 141 (Leitsatz 1); BGH, StV 1993, 113; Beulke/Satzger, JZ 1993, 1015. 480 Vgl. hierzu oben S. 296. 481 Zur Begriffsbestimmung vgl. Nr. 2.2 der bei Kleinknecht/Meyer-Goßner als Anlage D zu den RiStBV abgedruckten Richtlinie. 482 Zum Begriff vgl. § 110 a Abs. 2 StPO sowie eingehend BGHSt 41, 64, 65 ff.

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

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werden würde. Bei der Frage der Zumutbarkeit ist jedoch zu beachten, daß die V-Person - ebenso wie ein verdeckt eingesetzter Polizeibeamter - die Gefahren kannte, die ihr bei einem Bekanntwerden ihrer Tätigkeit drohen. In der Gefährdungslage dieser Auskunftspersonen realisiert sich ein Risiko, das sie bewußt eingegangen sind, als sie sich dazu entschlossen haben, in einer kriminellen Szene tätig zu werden. 4 8 3 Diese eigenverantwortliche Entscheidung zu einem gefährdenden Verhalten führt - wie bereits gezeigt 4 8 4 - nun nicht etwa dazu, daß diese Personen allen Gefahren, die mit der Zeugenstellung verbunden sind, schutzlos ausgeliefert sind. Solchen Auskunftspersonen ist jedoch aufgrund ihres Vorverhaltens grundsätzlich die Teilnahme an einem polizeilichen Zeugenschutzprogramm zuzumuten. Dies bedeutet: Die Sperrerklärung kann dann nicht mit der Gefährdung der V-Person oder des Verdeckten Ermittlers begründet werden, wenn deren Teilnahme an einem polizeilichen Zeugenschutzprogramm möglich und zumutbar ist und die gefährdete Person trotz Übernahme der Zeugenrolle - wirksam geschützt werden k a n n . 4 8 5 b) Sperre wegen Notwendigkeit des Einsatzes In vielen Fällen können Straftaten krimineller Organisationen nur durch den Einsatz von V-Personen oder Verdeckten Ermittlern aufgeklärt werden. 4 8 6 Angesichts der besonderen Gefährlichkeit gerade dieser Kriminalitätsformen kann daher nicht bestritten werden, daß der Einsatz verdeckter Auskunftsperson der Erfüllung wichtiger öffentlicher Aufgaben dienen k a n n . 4 8 7 V-Personen lassen sich i n aller Regel nur gewinnen, wenn ihnen Vertraulichkeit zugesagt wird. Mit der Vertraulichkeitszusage entscheidet die Polizei verbindlich darüber, ob sie die V-Person in einem späteren Verfahren geheim halten wird. Spricht die oberste Dienstbehörde später die Sperre der V-Person aus, so bestätigt sie, daß zu dem Zeitpunkt der Vertraulichkeitszusage die Voraussetzungen einer Sperrerklärung vorgelegen haben. Jedes andere Ergebnis würde die Einhaltung der bindend gegebenen Vertraulichkeitszusage von den hellseherischen Fähigkeiten des damals zuständigen Beamten abhängig machen. Die einer V-Person gewährte Vertraulichkeitszusage rechtfertigt die spätere Geheimhaltung gegenüber dem Gericht dann, wenn zum Zeitpunkt der Zusage die Voraussetzungen einer Sperrerklärung analog § 96 StPO vorgelegen haben, wenn also ein Verzicht auf den Einsatz der V-Person "dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde". 483

BGHSt 31, 290, 291, geht von einer generell erhöhten Gefahrtragungspflicht von V-Personen aus. 484 S. 137. 485 Dies ist auch bei der Anwendung des § 110 b Abs. 3 S. 3 StPO zu beachten. 486 Vgl. nur BVerfG, StV 1995, 561, 562; BGHSt 32, 115, 120 f., sowie eingehend Podolsky, KriminaHtätsformen, S. 95 ff, 110 ff, 120 ff. 487 Vgl. nur BVerfGE 57, 250, 284.

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

Zu fragen ist hier, ob sich das polizeiliche Interesse an dem Einsatz der VPerson unter den Begriff des Staatswohles i m Sinne § 96 StPO subsumieren läßt. Der Umstand, daß § 96 StPO - anders als §§ 62 BBG, 39 Abs. 3 BRRG neben dem Staatswohl nicht auch die Erfüllung öffentlicher Aufgaben als Versagungsgrund anführt, spricht dafür, daß der Einsatz einer verdeckten Auskunftsperson eine Sperrerklärung entsprechend § 96 StPO nicht rechtfertigt. Diese Ansicht erscheint jedoch wenig sachgerecht und hat sich i n Rechtsprechung und Literatur nie durchsetzen können. Der Gesetzgeber selbst hat nun i n § 110 b Abs. 3 S. 3 StPO den Begriff des Staatswohls i m Sinne § 96 StPO weiter interpretiert und klargestellt, daß das Staatswohl auch dann gefährdet wird, wenn der Einsatz eines verdeckten Ermittlers auf dem Spiel steht. Diese Interpretation muß dann aber auch für nicht beamtete Personen gelten. 4 8 8 Dies bedeutet: Ist die Erfüllung polizeilicher Aufgaben ohne den Einsatz einçr vertraulich zu behandelnden V-Person ernstlich gefährdet, so darf die Polizei die V-Person unter Zusage von Vertraulichkeit einsetzen. Die spätere Einhaltung der zu diesem Zeitpunkt gerechtfertigten Zusage ist dann lediglich Ausfluß der Bindungswirkung. Die Ermittlungsbehörden sind analog § 96 StPO berechtigt, Informationen über eine V-Person zurückzuhalten, falls (1) dieser Person Vertraulichkeit zugesagt wurde, (2) ohne die Zusage ein Einsatz der V-Person nicht möglich gewesen wäre und (3) ohne den Einsatz die Erfüllung polizeilicher Aufgaben ernstlich gefährdet gewesen wäre. c) Sperre wegen Notwendigkeit weiteren Einsatzes Ein erfolgreicher Einsatz verdeckter Auskunftspersonen erfordert langwierige Vorbereitungen. Diese Arbeit würde mit der Einleitung eines jeden Ermittlungsverfahrens zunichte gemacht, wenn der Einsatz i n den Verfahrensakten dokumentiert werden müßte. Die Ermittlungsbehörden können deshalb ein berechtigtes Interesse daran haben, die Auskunftsperson aus dem Strafverfahren herauszuhalten. A u f der Grundlage des weiten Staatswohlbegriffes sind die Ermittlungsbehörden berechtigt, eine Auskunftsperson geheim zu halten, u m deren weiteren Einsatz als V-Person oder als Verdeckter Ermittler nicht zu gefährden. 4 8 9 Die unter b) und c) genannten Gründe für eine Sperrerklärung betreffen nicht den Schutz der gefährdeten Auskunftsperson, so daß sie aus der weiteren Darstellung ausgeblendet werden können. I n der Praxis wird dagegen häufig nicht sauber zwischen den einzelnen Gründen für eine Sperrerklärung unterschieden und pauschal eine Gefährdungslage der Auskunftsperson behauptet. A u f diese Weise sind polizeiliche Sperrerklärungen unnötig i n Verruf geraten.

4 8 8

Hilger, NStZ 1992, 524 Fn. 154; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

Vitt, Jura 1994,19. 489 So bereits BVerfGE 57, 250, 284 f.; BGHSt 31, 148, 155 f.;

§ 110 b Rdn. 8;

0

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

III. Zusammenfassung und Stellungnahme Nach geltendem Recht können die Ermittlungsbehörden eine Auskunftsperson vor der Zeugenrolle im Hauptverfahren schützen, indem sie dem Gericht die benötigten Informationen vorenthalten. Voraussetzung hierfür ist grundsätzlich eine von der Zeugenrolle im Hauptverfahren ausgehende (unzumutbare, d.h. in der Regel konkrete) Gefahr für Leben, Gesundheit oder Freiheit der Auskunftsperson oder eines anderen Betroffenen, die auch durch zumutbare Maßnahmen des polizeilichen Zeugenschutzes nicht abgewendet werden kann. Kommt das Gericht dagegen auf andere Weise an die zur Zeugenladung notwendigen Informationen, so liegt die Entscheidung darüber, ob der Auskunftsperson die Zeugenrolle zuzumuten ist, allein bei dem Gericht. Zu kritisieren ist, daß die StPO für diese Fälle einer Informationsblockade zum Schutz einer Auskunftsperson keine sachgerechten Verfahrensregeln enthält. Das verfassungsrechtlich vorgegebene Ergebnis wird daher verfahrensrechtlich an den §§ 54, 96 StPO festgemacht, die für die Umsetzung der verfassungsrechtlichen Vorgaben kein angemessenes Verfahren bereithalten. Beide Vorschriften wurden für andere Situationen als den Schutz von Auskunftspersonen erlassen, § 96 StPO ist zudem nur im Wege einer verfassungskonformen Extention überhaupt anwendbar. C. Konsequenzen für die gerichtliche Beweisaufnahme Erfährt das Gericht nichts von der Existenz der Auskunftsperson, so fließt die Aussage der Auskunftsperson in keiner Form in die Beweiswürdigung mit ein. Urteilsgrundlage bilden allein die sonst zur Verfügung stehenden unmittelbaren Beweise. Erfährt das Gericht dagegen von der Existenz einer Auskunftsperson, kann es diese Person aber nicht unmittelbar als Zeuge laden, weil die Ermittlungsbehörden die notwendigen Informationen verweigern, so stellt sich die Frage, inwieweit das Gericht das Wissen der Auskunftsperson auf andere Weise als durch die unmittelbare Zeugenaussage dieser Person in das Verfahren einführen kann. Hierauf soll im folgenden näher eingegangen werden. I. Grundsatz der Unmittelbarkeit;

§250 StPO

Für die Beweisaufnahme im Hauptverfahren hat das Gesetz den Grundsatz der Unmittelbarkeit in § 250 StPO festgeschrieben: "Beruht der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person, so ist diese in der Hauptverhandlung zu vernehmen. Die Vernehmung darf nicht durch Verlesung des über eine frühere Verneh-

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

305

mung aufgenommenen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden." Zweck dieser Regelung ist es, eine möglichst zuverlässige Beweisgrundlage für die gerichtliche Entscheidung zu schaffen. 490 Das erkennende Gericht und die sonstigen Verfahrensbeteiligten sollen die Möglichkeit erhalten, "das Beweismittel voll 'auszuschöpfen' und durch eigene Wahrnehmungen Eindrücke zu gewinnen, die für die umfassende Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen unerläßlich sind." 4 9 1 Das Gesetz selbst hat unter anderem in den §§ 251 ff. StPO eine Reihe von Ausnahmen von dem in § 250 ausgesprochenen Grundsatz statuiert. 492 IL Denkbare Beweissurrogate 1. Verlesen früherer

Vernehmungsniederschriften

§ 251 StPO enthält weitreichende Ausnahmen von dem in § 250 S. 2 StPO ausgesprochenen Verbot, den Personalbeweis durch die Verlesung der Niederschrift über eine frühere Vernehmung zu ersetzen. Die unmittelbare Vernehmung einer Person als Zeuge kann dadurch ersetzt werden, daß Niederschriften einer früheren Vernehmung oder sonstige Aufzeichnungen verlesen werden. a) Richterliche Protokolle Protokolle über eine richterliche Vernehmung der Auskunftsperson können nach § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO verlesen werden, wenn es dem Gericht nicht möglich ist, den Aufenthaltsort der Person zum Zweck der Zeugenladung zu ermitteln. Der Aufenthaltsort ist dann nicht zu ermitteln, wenn nach vergeblichen Versuchen weitere Ermittlungen keinen Erfolg versprechen. 493 Diese Voraussetzungen sind regelmäßig erfüllt, wenn dem Gericht lediglich die Existenz einer Auskunftsperson, nicht aber ihre Identität bekannt ist und die Ermittlungsbehörden auch nach einer Gegenvorstellung die erforderlichen Informationen geheim halten. Durch das OrgKG wurde der Anwendungsbereich des § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO zum Schutz des Zeugen erweitert. Vor Einführung des § 68 Abs. 2 und 3 StPO war es unzulässig, Niederschriften über richterliche Zeugenvernehmungen zu verlesen, wenn in der Niederschrift Angaben zur Person des Zeugen

4 9 0

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 250 Rdn. 1.

491

BGHSt 32, 32, 36. 492 Zu weiteren Ausnahmen vgl. § 325, 2. Hs. (Berufungsverfahren), § 411 Abs. 2 S. 2 (Strafbefehlsverfahren), § 420 Abs. 1 StPO (beschleunigtes Verfahren). 4 9 3

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

20 Zacharias

§ 251 Rdn. 5.

0

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

fehlten. 4 9 4 Durch die entsprechende Änderung der Protokollierungsvorschrift, § 168 a Abs. 1 S. 2 StPO, sind jetzt auch Vernehmungsprotokolle anonymer Zeugen in der Hauptverhandlung verwertbar. 495 Die praktische Relevanz richterlicher Vernehmungsprotokolle für den Zeugenschutz ist jedoch weiterhin gering, da der Verteidiger ein Anwesenheitsrecht h a t . 4 9 6 b) Sonstige Urkunden Staatsanwaltschaftliche und polizeiliche Vernehmungsniederschriften oder schriftliche Berichte des Zeugen, die dieser gegenüber den Ermittlungsbehörden verfaßt hat, können nach § 251 Abs. 2 S. 2 StPO verlesen werden, wenn der Zeuge "in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann". In absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann eine Auskunftsperson, wenn das Gericht weder jetzt noch in nächster Zeit die Möglichkeit besitzt, diese Person als Zeuge zu laden. 4 9 7 Dies ist dann der Fall, wenn sich die oberste Dienstbehörde endgültig weigert, Identität bzw. ladungsfähige Anschrift einer dem Gericht unbekannten Auskunftsperson mitzuteilen. 4 9 8 2. Schriftliche

Befragung der Auskunftsperson

§ 251 Abs. 2 StPO enthält keine Beschränkung dahin, daß nur frühere Urkunden verlesen werden dürfen. Damit ist die Möglichkeit eröffnet, einer als Zeuge gesperrten Auskunftsperson schriftliche Fragen des Gerichts und der Verteidigung vorzulegen und die schriftlichen Antworten sodann im Wege des Urkundenbeweises durch Verlesung in das Verfahren einzuführen. 499 Dies geschieht nicht nach § 249 StPO, sondern nach § 251 Abs. 2 S. 2 StPO, da sich die Verlesung hier als eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Verleseverbot des § 250 StPO darstellt.

494 495 496

Vgl. BGHSt 32, 115, 128. Zum ganzen vgl. Ranft, Jura 1993, 451. Vgl. hierzu oben S. 199, sowie Geppert, Jura 1992, 246.

4 9 7

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

498

BGHSt 29, 109, 111; 31, 148, 152; 33, 83, 85 f.; BGH, StV 1993, 233; Klein-

knecht/Meyer-Goßner,

§ 251 Rdn. 27.

§ 251 Rdn. 26; LR/Gollwitzer,

§ 251 Rdn. 52; Siegismund, JR

1994, 251. - Dieses Ergebnis ergibt sich zwingend aus der gesetzlichen Regelung. Gestritten werden kann allein über die Sachgerechtigkeit dieser Regelung im Hinblick auf die Verteidigungsmöglichkeiten, hierzu unter IV. 499 BVerfGE 57, 250, 287; BGH, GA 1954, 374, 375; BGH, NStZ 1993, 292; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 251 Rdn. 33, KMR/Paulus,

§ 251 Rdn. 44; LR/Goll-

witzer, § 251 Rdn. 58. Kritisch dagegen Bruns, Neue Wege, S. 45 ff; Frenzel, NStZ 1984, 41; J. Meyer, NStZ 1986, 132; deren Argument, der Gesetzgeber habe bei seiner Regelung nicht an ein derartiges Vorgehen gedacht, die wortlautgemäße Anwendung der Norm nicht verbietet.

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

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3. Vernehmung von Verhörspersonen Wie bereits im ersten Teil der Arbeit gezeigt, ist der Zeuge vom Hörensagen unmittelbarer Zeuge über die von ihm gemachten Wahrnehmungen. 500 Insofern ist diese Vernehmungsart unmittelbarer Zeugenbeweis, für den die Vorschriften der §§ 48 flf. StPO gelten. Den Feststellungen des BGH aus dem Jahre 1962 ist daher auch heute noch vorbehaltlos zuzustimmen: "Von 'Mittelbarkeit' kann nur insofern gesprochen werden, als der Zeuge vom 'Hörensagen' nicht eine zum gesetzlichen Tatbestand gehörige Tatsache, sondern lediglich ein Beweisanzeichen bekundet, welches auf eine solche Tatsache hindeutet. Dadurch wird aber der Zeuge vom 'Hörensagen' nicht zum mittelbaren Beweismittel, und seine Vernehmung steht nicht deshalb im Widerspruch zu dem Grundsatz der Unmittelbarkeit. Ob das Gericht sich mit der Vernehmung eines Zeugen vom 'Hörensagen' begnügen darf, ist eine Frage der Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO und der Beweiswürdigung nach § 261 StPO." 5 0 1 Bei einer Auskunftsperson, die wegen der behördlichen Informationsverweigerung unerreichbar ist, ist das Gericht daher berechtigt - und i m Rahmen seiner Aufklärungspflicht grundsätzlich verpflichtet -, den Vernehmungsbeamten als Zeugen zu vernehmen. Der in § 250 StPO zum Ausdruck gebrachte Vorrang des Personalbeweises vor dem Urkundenbeweis verlangt, daß eine mögliche Vernehmung der Verhörsperson nicht durch die Verlesung des Vernehmungsprotokolles ersetzt w i r d . 5 0 2 4. Videoaufzeichnungen Nach geltendem Recht ist es unzulässig, das Wissen einer Auskunftsperson dadurch in die Hauptverhandlung einzuführen, daß ein Videoband über eine frühere Vernehmung im Gerichtssaal abgespielt wird und die auf dem Videoband konservierten Informationen dadurch im Wege des Augenscheinsbeweises in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Die Unzulässigkeit einer sol-

500

Hierzu S. 37. BGHSt 17, 392, 383 f. So auch BVerfGE 57, 250, 292flf.; BVerfG, NJW 1992, 168; BVerfG, StV 1995, 561, 562; BGHSt 32, 115, 122; Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 530; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 250 Rdn. 5; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 1730. Generell ablehnend gegenüber dem Beweis durch Vernehmung von Verhörspersonen Seebode/Sydow, JZ 1980, 515. - Zu der umstrittenen Frage, wie sich der Umstand auswirkt, daß die Verhörsperson keine Auskunft über die Identität ihres Informanten gibt, obwohl sie ihr bekannt ist oder hätte bekannt sein können, vgl. S. 308. 502 BGH, wistra 1993, 347. 501

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

chen Beweisaufnahme ergibt sich aus § 250 S. 1 StPO, wonach das Wissen einer Person i m Wege des Personalbeweises - und damit eben nicht im Wege des Augenscheinsbeweises - in das Hauptverfahren einzuführen i s t . 5 0 3 Die in § 251 StPO vorgesehenen Ausnahmen betreffen allein den Ersatz des Personalbeweises durch den Urkundenbeweis. 504 III. Beweissurrogate

und Sachverhaltsaufklärung

1. Beweiswert der Surrogate Auch die unmittelbare Zeugenaussage ist ein unzuverlässiges und vielen Verfälschungsgefahren ausgesetztes Beweismittel, dem lediglich die Bedeutung eines Indizes für das Vorliegen der Beweistatsache zukommt. 5 0 5 Der Beweiswert dieses Indizes bestimmt sich keineswegs nur nach dem Inhalt der Aussage zur Sache. Maßgeblich sind vielmehr auch das Zusammenspiel des verbalen und des nonverbalen Aussageverhaltens sowie das Vorliegen oder Fehlen persönlicher Verfälschungskriterien, insbesondere die Aussagemotivation des Zeugen. Im Hinblick auf die Aussageform gelten flüssiges Sprechtempo und zwanglose Ausdrucksweise als wesentliche Glaubhaftigkeitskriterien, während hinsichtlich der Körpersprache allgemeine Unsicherheitskriterien, wie z.B. Verkrampfung der Mimik und Gestik, Bedeutung erlangen können. Eine sinnvolle Bewertung der Zeugenaussage kann sich daher nicht auf den Inhalt der Aussage zur Sache beschränken. Sie erfordert stets, Aussageform und Körpersprache der Person des Zeugen einzubeziehen und die Aussagemotivation z.B. durch Generalfragen sowie spontanes "Nachhaken" abzuklären. Diese Möglichkeiten bleiben bei einem Rückgriff auf Beweissurrogate verschlossen. a) Verlesen früherer Vernehmungsniederschriften Die Niederschriften werden im Wege des Urkundenbeweises in das Hauptverfahren eingeführt. Der Beweiswert des Verlesens beschränkt sich darauf, daß das Verlesene Inhalt des Schriftstückes ist. Für die Frage, ob das Schriftstück die Angaben der Aussageperson zutreffend wiedergibt, bietet der Umstand, daß dieses Schriftstück verlesen wurde, keinerlei Anhaltspunkte. Schon gar nicht kann durch das Verlesen des Schriftstückes der Nachweis geführt werden, daß das, was die Auskunftsperson zu Protokoll gegeben hat, der Wahrheit entspricht, die Auskunftsperson also weder bewußt gelogen noch unbewußt Tatsachen verfälscht hat.

503

Zu Reformvorschlägen siehe S. 321 f. Zu einer analogen Anwendung des § 251 StPO Bohlander, ZStW 107 (1995), 111; zur grundsätzlichen Analogiefähigkeit des § 251 Mitsch, JZ 1992, 180 f. 505 Im einzelnen hierzu S. 46 flf. 504

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

Ein Beweiswert im Hinblick auf das vom Gericht aufzuklärende Geschehen kann der Protokollverlesung nur durch eine Reihe weiterer Indizien zukommen. So kann der Umstand, daß die Aussage nicht von irgendeiner Privatperson nach deren Gutdünken niedergeschrieben wurde, sondern von besonders ausgebildeten und der Wahrheit besonders verpflichteten Amtsträgern, ein starkes Indiz für die sachliche Übereinstimmung von Aussageinhalt und Niederschrift sein. 5 0 6 Anhaltspunkte für die Frage, ob der Aussagende die Wahrheit zu Protokoll gegeben hat, könnten die Wahrnehmungen des Vernehmenden über die Widerspruchsfreiheit, Aussagekonstanz, Aussagemotivation und persönliche Verfälschungskriterien bieten. Diese Informationen dürften nach § 250 StPO jedoch nicht als zusätzlicher Protokollinhalt verlesen werden, sondern müßten durch die Zeugenaussage des Vernehmungsbeamten in das Verfahren eingeführt werden. Der Wert des Vernehmungsprotokolls bestimmt sich daher allein danach, ob sich der Aussageinhalt widerspruchsfrei in das bisherige Bild des aufzuklärenden Sachverhaltes einfügt. Je mehr die Angaben durch andere Beweismittel, insbesondere Sachbeweise, bestätigt werden, desto höher ist ihr Beweiswert. 507 b) Schriftliche Befragung der Auskunftsperson Der Umstand, daß eine Person eine Tatsachenbehauptung schriftlich fixiert, ist kein Beweis für die Richtigkeit der Behauptung. Ebenso wie bei verlesenen Vernehmungsniederschriften fehlen dem Gericht Informationen, um sich ein Bild von der Glaubhaftigkeit der Aussage zu machen. Ein Vorteil gegenüber der Protokollverlesung liegt jedoch darin, daß das Gericht der Auskunftsperson weitere Fragen - auch der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten - vorlegen kann. Auf diese Weise können Aussagekonstanz, Aussagemotivation und das Vorliegen persönlicher Verfälschungskriterien angeprüft und Widersprüche möglicherweise ausgeräumt werden. Eine Auskunftsperson, die schriftliche Angaben macht, ist nicht Zeuge i m strafprozessualen Sinne, da ihre Angaben nicht nach den Vorschriften über den Zeugenbeweis, sondern im Wege des Urkundenbeweises in das Verfahren eingeführt werden. Die Auskunftsperson ist daher nicht verpflichtet, die schriftlich eingereichten Fragen zu beantworten. Sie trifft auch nicht die Zeugenpflicht, die Wahrheit anzugeben. Das Gericht hat zudem keine Kenntnisse über das Zustandekommen des Schriftstückes sowie über dessen Urheberschaft, insbesondere über eine mögliche "Mitautorenschaft von Drittperso-

506 D e r w orti aut der Aussage wird dagegen regelmäßig von dem Vernehmenden in seinen eigenen Sprachgebrauch transformiert. 507

Schmitt, Beweiswürdigung, S. 347; wobei zu bedenken ist, daß es sich hierbei um einen statistischen Wert handelt, daß also eine Aussage, die dem bisherigen Beweisergebnis diametral entgegensteht, gleichwohl die einzig wahre Aussage sein kann.

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

n e n . " 5 0 8 Diese Mängel können zu einem Teil dadurch beseitigt werden, daß die Auskunftsperson die Richtigkeit und Urheberschaft der Angaben an Eides Statt versichert. 5 0 9 c) Vernehmung von Verhörspersonen aa) Angaben der Auskunftsperson Der unmittelbare Beweiswert der Aussage des Vernehmungsbeamten beschränkt sich darauf, daß der Beamte das, was er von den Angaben der Auskunftsperson wahrgenommen hat, zutreffend wiedergegeben hat. Bei der Bewertung dieses Beweises muß beachtet werden, daß die ursprünglichen Angaben der Auskunftsperson sowohl während der Phase der Wahrnehmung als auch der Erinnerung und der Wiedergabe durch den Beamten zwangsläufig "gefiltert" werden. 5 1 0 Jeder Mensch verarbeitet das Gehörte unbewußt entsprechend seiner persönlichen Erfahrungen und Erwartungen und verändert damit den ursprünglichen Sachverhalt. 511 Der Beamte, der j a regelmäßig selbst i m Bereich der Strafverfolgung arbeitet, hat die Angaben der Auskitnftsperson zudem mit einer besonderen - berufsbezogenen - Motivation wahrgenommen und wird sie auch so vor Gericht wiedergeben. 512 Besondere Probleme ergeben sich hier insbesondere bei Aussagen sog. V-Personen-Führer, da die "Interaktionssituation" zwischen dem V-Personen-Führer und seiner V-Person häufig "als emotionales Vertrauensverhältnis zum Zwecke der Informationsgewinnung" zu bewerten i s t 5 1 3 Die Gefahr von Verfremdungen ist besonders groß, wenn die Wahrnehmungen, über die der Beamte als Zeuge berichten soll, längere Zeit zurückliegen. Insoweit hat die Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen Nachteile gegenüber der Verlesung von Vernehmungsniederschriften. bb) Glaubwürdigkeit der Auskunftsperson Der Vorteil der Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen gegenüber der Verlesung von Vernehmungsniederschriften besteht darin, daß der Beamte

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Vgl. nur Baumgartner, V-Mann-Einsatz, S. 334 f.; Bruns, Neue Wege, S. 47. Da die Auskunftsperson nicht Zeuge ist, erfüllt eine gegenüber dem Gericht abgegebene falsche Versicherung den Tatbestand des § 156 StGB. Zur Problematik eidesstattlicher Versicherungen von Zeugen vgl. Dreher/Tröndle, §156 Rdn. 5 a; 509

Schönke/Schröder/Lenckner, 510

§ 156 Rdn. 9.

Zu den Verfalschungsgefahren im Zusammenhang mit Wahrnehmung, Erinnerung und Wiedergabe einer Information vgl. oben S. 47 ff. 511 Schmitt, Beweiswürdigung, S. 347. 512 Zu möglichen Aussagemotivationen speziell von Polizeibeamten vgl. AK/Kube, Vor § 133 Rdn. 38 ff; Bender/Nack, Tatsachenfeststellung Π, Rdn. 873ff; Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 955. 513 Eingehend hierzu Scherp, Zusammenarbeit mit V-Personen, S. 53 ff, 56.

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

Angaben darüber machen kann, welche Wahrnehmungen er in der Vernehmungssituation über glaubwürdigkeitsrelevante Umstände gemacht hat. Diese zusätzlichen Informationen können von dem Gericht als Indizien für die Beantwortung der Frage herangezogen werden, ob die von dem Beamten wiedergegebenen Angaben der Auskunftsperson der Wahrheit entsprechen oder nicht.514 d) Kombination von Beweissurrogaten Kann eine Auskunftsperson nicht als Zeuge vernommen werden, so kann der Beweiswert ihrer Angaben durch eine Kombination von Beweissurrogaten erheblich verbessert werden. So entspricht es bei den Angaben von V-Personen bereits der gängigen Praxis, daß zusätzlich zu der Verlesung des polizeilichen Vernehmungsprotokolles die Verhörsperson als unmittelbarer Zeuge über das Aussageverhalten der Auskunftsperson befragt w i r d . 5 1 5 In besonderen Fällen kann es sinnvoll sein, einen Sachverständigen zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer gefährdeten Auskunftsperson zu der polizeilichen Vernehmung hinzuzuziehen. Der Sachverständige kann hierüber in der Hauptverhandlung befragt werden. Die Antwort auf die Frage, ob die Möglichkeiten der Sachverhaltsaufklärung durch den Rückgriff auf Beweissurrogate verbessert oder verschlechtert werden, ergibt sich aus einem Vergleich mit der ansonsten gegebenen Beweissituation. Ist es möglich, eine Auskunftsperson unmittelbar als Zeuge zu befragen, so wird die Möglichkeit der Sachverhaltsaufklärung verschlechtert, wenn hierauf verzichtet und statt dessen auf Beweissurrogate zurückgegriffen wird. Steht eine Auskunftsperson dagegen nicht als Zeuge zur Verfügung, so bringt der Rückgriff auf Beweissurrogate entscheidende Vorteile gegenüber einem völligen Verzicht auf das Wissen dieser Person. Gebietet es die Schutzpflicht der Ermittlungsbehörden, eine gefährdete Auskunftsperson vor der Zeugenrolle in der Hauptverhandlung zu bewahren, so hat das Gericht lediglich die Wahl zwischen einem völligen Verzicht oder dem Rückgriff auf Beweissurrogate. Insofern wird die Sachverhaltsaufklärung durch Beweissurrogate verbessert.

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Schäfer, StV 1995, 152

Geppert, Jura 1992, 246; Krainz, GA 1985, 411 Fn. 66. Bei den Angaben von V-Personen sollte der zuständige Führungsbeamte als Zeuge zur Persönlichkeit und Zuverlässigkeit der V-Person und zu der kriminaltaktischen Arbeitsweise im konkreten Falle befragt werden, sofern diese Angaben von seiner Aussagegenehmigung, § 54 StPO, gedeckt sind. Scherp y V-Personen, S. 123, schlägt vor, ein Behördengutachten mit detaillierten Informationen über die V-Person und ihren Einsatz beizuziehen. Besondere Vorsicht ist hier jedoch vor den oftmals anzutreffenden schablonenhaft beschönigenden Charakterbeschreibungen der V-Personen-Führer angebracht; eingehend hierzu Körner, Kriminalistik 1983, 294.

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

2. Anforderungen

an die Beweiswürdigung

Das Gericht muß sich bei der Beweiswürdigung bewußt sein, daß die Glaubhaftigkeit des Beweissurrogates allein keine Rückschlüsse auf die Glaubhaftigkeit der dahinterstehenden Angaben der Auskunftsperson zul ä ß t . 5 1 6 Es muß die Grenzen seiner Überzeugungsbildung wahren und dies in den Urteilsgründen zum Ausdruck bringen. 5 1 7 Danach wird das Gericht eine Urteilsfeststellung regelmäßig nicht allein auf ein Beweissurrogat stützen können. Das Surrogat gewinnt vielmehr nur dort Bedeutung, wo die entsprechende Angabe durch andere wichtige Beweisanzeichen bestätigt wird, die Angabe also in eine bereits bestehende Beweiskette eingefügt werden k a n n . 5 1 8 Bedenken dahin, daß die Gerichte generell mit der Würdigung von Surrogaten überfordert wären 5 1 9 , sind dagegen nicht gerechtfertigt: "Der in aller Schärfe gehandhabte Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist - auch im Blick auf das Prinzip 'Im Zweifel für den Angeklagten' - regelmäßig ausreichend, um die besonderen Gefahren der beweisrechtlichen Lage aufzufangen; ein Beweisverbot, das den Willen und die Fähigkeit der Gerichte in Zweifel zöge, den genannten Grundsätzen der Beweiswürdigung den zutreffenden Stellenwert einzuräumen, ist von Verfassungs wegen regelmäßig nicht geboten." 520 IV. Beweissurrogate

und Verteidigungsinteressen

Für die Verteidigung hat der Zeugenbeweis einen besonderen Stellenwert. Im Gegensatz zu "harten" Sachbeweisen ist die Aussage des Zeugen 516

Anschaulich hierzu Kühne, Strafprozeßlehre, Rdn. 548.1. - Handelt es sich bei der Auskunftsperson um eine V-Person der Polizei, ist zu beachten, daß diese Person in der Regel ein besonderes eigenes Interesse an der belastenden Aussage hat, vgl. nur H off mann, Der unerreichbare Zeuge, S. 191 ff. 517 BVerfG, StV 1995, 561, 562. 518 Zu den Anforderungen an die richterliche Beweiswürdigung insbesondere von Aussagen des Zeugen vom Hörensagen vgl. BVerfGE 57, 250, 291 f.; BVerfG, NJW 1992, 168; BVerfG, StV 1995, 561 f.; BGHSt 17, 382, 386; 33, 83, 88; 33, 178, 181; 34, 15, 17 f.; 36, 159, 166; 39, 141, 145 f.; 41, 42, 46; BGH, StV 1994, 413; BGH, StV 1994, 637; OLG Köln, StV 1994, 289 f., sowie Bender/Nack, Tatsachenfeststellung Π, Rdn. 920 ff; Geppert, Der Grundsatz der Unmittelbarkeit, S. 287ff; Schäfer, StV 1995, 152 f. (dort auch zu der Frage, ob sich die vom BGH geforderten zusätzlichen gewichtigen Beweisanzeichen auf das Kerngeschehen der dem Angeklagten vorgeworfenen Tat beziehen müssen); Schmitt, Beweiswürdigung, S. 346 ff ; v. Zwehl, Der Einsatz von V-Leuten, S. 177 ff. 5 1 9

Vgl. z.B. Fezer, JZ 1984, 434; Seebode/Sydow,

JZ 1980, 509 f. Kritisch zum

Regulativ des § 261 StPO such Hoffmann, Der unerreichbare Zeuge, S. 189 ff. 520 BVerfG, NJW 1992, 168.

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

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"formbar". Die überwiegende Zahl der Zeugen läßt sich durch suggestives Fragen und geschicktes Taktieren des Vernehmenden verunsichern und i n Widersprüche verwickeln. Ziel der Verteidigung muß es sein, den Beweiswert belastender Angaben von Auskunftspersonen zu relativieren oder gar aufzuheb e n . 5 2 1 Diese Möglichkeit wird der Verteidigung genommen, wenn die Angaben nicht i n der Form des "weichen" Zeugenbeweises, sondern i n der Form des "harten" Urkundenbeweises, nämlich durch Verlesung früherer Vernehmungsprotokolle, i n das Verfahren eingeführt. Bruns bringt diese Problematik auf den Punkt, wenn er feststellt, daß schriftliche Äußerungen einer Auskunftsperson "beweismäßig mehr als nichts" seien, das "Nichts" für den dadurch belasteten Angeklagten aber häufig die bessere Lösung w ä r e . 5 2 2 I m folgenden soll daher untersucht werden, welche strafprozessualen Konsequenzen sich aus dieser Beeinträchtigung der Verteidigungsinteressen ergeben. 1. Fragerecht a) § 240 Abs. 2 StPO Als einziges in der Strafprozeßordnung normiertes Recht kann das Fragerecht des § 240 Abs. 2 StPO tangiert sein. M i t dem Begriff des "Zeugen" i m Sinne § 240 Abs. 2 StPO ist jedoch nur der Zeuge i m strafprozessualen Sinne gemeint, also die Person, die als Zeuge i n der Hauptverhandlung anwesend i s t . 5 2 3 Dies ergibt sich schon daraus, daß sich die Vorschrift des § 240 StPO i m Abschnitt über die Hauptverhandlung befindet. 5 2 4 Das von der Strafprozeßordnung normierte Fragerecht des Angeklagten kann durch die Verwertung von Beweissurrogaten folglich nicht verletzt werden. b) Art. 6 Abs. 3 d M R K Anders verhält es sich dagegen i m Hinblick auf die Vorgaben des EGMR zum Fragerecht des Angeklagten nach Art. 6 Abs. 3 d MRK. Diese Vorschrift bestimmt, daß jeder Angeklagte das Recht hat, "Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen ...". Zeuge i m Sinne der M R K ist dabei anders als bei § 240 Abs. 2 StPO - auch die hinter einem unmittelbaren Beweismittel stehende Auskunftsperson. 525 Nach der Rechtsprechung des EGMR muß dem Angeklagten im allgemeinen die Möglichkeit eingeräumt werden, entweder i m Vernehmungszeitpunkt oder zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens Fragen an die i m Hinter521

Vgl. nur Malek, Verteidigung, Rdn. 348, 352. Bruns, Neue Wege, S. 48. 523 Vgl n u r Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 532; v. Zw ehi y Der Einsatz von V-Leuten, S. 176. 52 4 v. Zwehl, Der Einsatz von V-Leuten, S. 177. 525 Hierzu oben S. 34. 52 2

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

grund bleibende Auskunftsperson zu stellen und ihre Glaubwürdigkeit i n Zweifel zu ziehen. 5 2 6 Dies kann auch durch die Vorlage eines Fragenkataloges geschehen, der von der Auskunftsperson schriftlich beantwortet wird. Als nicht ausreichend angesehen hat der EGMR dagegen, daß die Gerichte die Risiken der Beweissurrogate allein bei der Beweiswürdigung berücksichtigen; es genüge auch nicht, daß das Gericht zusätzlich Beweis über die Glaubwürdigkeit der geheimgehaltenen Auskunftsperson erhebt, z.B. durch Befragung des Vernehmungsbeamten. Hatten weder der Angeklagte noch sein Verteidiger - trotz eines entsprechenden Antrages - Gelegenheit, die Auskunftsperson zu befragen, deren Aussage durch Beweissurrogate i n das Verfahren eingeführt wurde, so sieht der EGMR hierin einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 d M R K . 5 2 7 Damit geht die Rechtsprechung des EGMR über die Anforderungen, die von BGH und BVerfG bisher an die Einführung von Beweissurrogaten gestellt wurden, hinaus.528 Zu den Vorgaben des EGMR haben BGH und BVerfG zwischenzeitlich Stellung genommen. Während ein Verstoß anfänglich noch verneint wurde, wenn es sich bei der Auskunftsperson um einen verdeckt eingesetzten Polizeibeamten gehandelt h a t 5 2 9 oder wenn die Aukunftsperson dem Angeklagten persönlich bekannt w a r 5 3 0 , hat der BGH i n einer Entscheidung aus dem Jahre 1993 einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 d M R K dann als gegeben angesehen, wenn ein Antrag des Angeklagten zurückgewiesen wird, einer gesperrten VPerson einen Fragenkatalog zur Beantwortung vorzulegen. 5 3 1 Diese Anforderungen des EGMR an die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten führen nur i n einer einzigen Fallgestaltung zu einer Kollision mit der staatlichen Schutzpflicht gegenüber der gefährdeten Auskunftsperson, nämlich dann, wenn die Auskunftsperson dem Angeklagten als Person bekannt ist, nur nicht i n ihrer Rolle als Auskunftsperson, wenn es sich bei der 526 EGMR, NJW 1987, 3068 (Unterpertinger); EGMR, StV 1990, 481, 483 (Kostovski); EGMR, StV 1991, 193, 194 (Windisch); StV 1992, 499, 500 (Lüdi). Vgl. auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, Art. 6 MRK Rdn. 22; LR/Gollwitzer, Art. 6 MRK Rdn. 210 ff. 527 EGMR, StV 1991, 193 (Windisch). 52 8 Joachim, StV 1992, 247; Lesch, StV 1995, 545. Das LG Darmstadt, StV 1991, 342, 343 hatte noch versucht, diese Divergenz dadurch zu umgehen, daß es in der Verwertung des V-Mann-Wissens zwar einen Widerspruch zu den Vorgaben des EGMR erkannte, diese Vorgaben jedoch für deutsche Strafgerichte als nicht bindend ansah. 529 BGH, StV 1991, 100,101. 530 BVerfG, StV 1991, 449, 450. 531 BGH, NStZ 1993, 292.

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

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Auskunftsperson also um einen "unerkannten Verräter" handelt. Hier kann jede schriftliche Antwort auf eine Frage, die über das eigentliche Tatgeschehen hinausreicht, die Gefahr einer Enttarnung und damit die Gefahr rechtswidriger Angriffe erhöhen. In diesem Falle kann die Kollision zwischen dem vom EGMR eingeforderten Fragerecht des Angeklagten und dem Schutz der Auskunftsperson nur dadurch gelöst werden, daß auf die Angaben der Auskunftsperson für den Tatnachweis insgesamt verzichtet wird. 2. Der Grundsatz des fairen Verfahrens Der Grundsatz des fairen Verfahrens ist ein Argumentationstopos, der die beiden grundrechtlichen Vorgaben zur Ausgestaltung der Beschuldigtenstellung i m Strafverfahren zusammenfaßt, nämlich erstens, daß dem Beschuldigten aus seiner Subjektstellung heraus ein Mindestbestand an aktiven eigenen Verfahrensrechten einzuräumen ist, die es ihm ermöglichen, den Verlauf und den Ausgang des gegen ihn gerichteten Verfahrens zu beeinflussen 532 , und zweitens, daß der Beschuldigte die faktische Möglichkeit erhalten muß, die ihm zustehenden prozessualen Rechte wahrzunehmen und Übergriffe angemessen abwehren zu können. 5 3 3 Der Grundsatz des fairen Verfahrens findet i n Art. 6 Abs. 1 S. 1 M R K seinen positiv-rechtlichen Ausdruck: "Jedermann hat Anspruch darauf, daß seine Sache i n billiger Weise ... gehört wird." Eine eigenständige Bedeutung - neben dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des fairen Verfahrens - kommt dem i m Rang einer einfachen bundesgesetzlichen Vorschrift stehenden 534 Art. 6 Abs. 1 S. 1 M R K für das deutsche Strafverfahrensrecht nicht z u . 5 3 5 Der Angeklagte hat ein Interesse daran, sich gegen belastende Beweismittel zu verteidigen, d.h. hier, die geheimgehaltene Auskunftsperson i n der Hauptverhandlung zu befragen, um sich auf diese Weise zu entlasten oder eine Belastung zu widerlegen. Dieses Verteidigungsinteresse, das sich aus den betroffenen Grundrechten des Angeklagten (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie bei drohender Freiheitsstrafe z.B. Art. 2 Abs. 2 GG) ergibt, wird i n letzter Zeit zunehmend als "Grundrecht des Angeklagten auf ein faires Verfahren"

532 533

BVerfGE 63, 45, 61; 63, 380, 390 f.; 65, 171, 174 f. Hierzu bereits oben S. 121, sowie BVerfGE 38, 105, 111; BVerfG, StV 1993,

313. 534

Übersicht über den Streitstand zum innerstaatlichen Rang und zur Geltung der MRK vgl. Dörr, Faires Verfahren, S. 88 ff.; Geppert, Jura 1992, 598 f. 535 So auch Erker, Das Beanstandungsrecht gemäß § 238 Π StPO, S. 88 f. Die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK kann jedoch als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Umfang des aus den Wertentscheidungen des Grundgesetzes hergeleiteten Grundsatzes des fairen Verfahrens herangezogen werden, vgl. BVerfG, StV 1993, 352, 354.

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

bezeichnet. 5 3 6 I m Zusammenhang mit dem Rückgriff auf Beweissurrogate kann sowohl das Gericht als auch die sperrende Behörde gegen das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren verstoßen. a) Behördliche Geheimhaltung als Verstoß aa) Verstoß gegen Ermittlungspflicht Wird ein Angeklagter verurteilt, so werden durch diese das Verfahren abschließende Entscheidung seine Grundrechte beeinträchtigt. Das Gebot zum Schutz der Grundrechte durch und i n Verfahren 5 3 7 verlangt daher von den Ermittlungsbehörden, den Sachverhalt, der die Grundlage der Entscheidung bildet, so gut als möglich zu ermitteln. Erfüllen sie diese Aufgabe nicht, so verletzen sie nicht nur ihre Ermittlungspflicht, sondern auch die hiervon betroffenen Grundrechte des Angeklagten und damit auch dessen Anspruch auf ein faires Verfahren. 5 3 8 Die Ermittlungspflicht ist nicht darauf gerichtet, die denkbar besten Beweise zu ermitteln. Sie ist vielmehr stets das Ergebnis einer Abwägung zwischen dem Interesse an dem bestmöglichen Beweis und den Interessen, die der Erlangung des bestmöglichen Beweises entgegenstehen. Dies ist völlig unstreitig, sofern derartige - auf Optimierung zielende - Ermittlungsmaßnahmen den Beschuldigten unverhältnismäßig beeinträchtigen würden. Dies muß dann aber auch gelten, wenn nicht der Beschuldigte, sondern ein an dem Strafverfahren Unbeteiligter unverhältnismäßig beeinträchtigt werden würde. Der Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahren ist deshalb nicht verletzt, wenn die Entscheidung der Ermittlungsbehörde, eine Auskunftsperson aus dem Verfahren herauszuhalten, auf einer ermessensfehlerfreien Abwägung zwischen dem Aufklärungsinteresse und der Schutzpflicht gegenüber der Auskunftsperson beruht. bb) Rechtsmißbrauch Zum Teil wird i n der Literatur unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmißbrauchs i n jeder behördlichen Auskunftsverweigerung ein Verstoß gegen das

536 Seit BVerfGE 39, 156, 163; vgl. auch BVerfGE 57, 250, 275; BVerfG, StV 1993, 313; BVerfG StV 1993, 352; OLG Frankfurt/M., MDR 1993, 1001, 1002. Zur Kritik an einem allgemeinen Prozeßgrundrecht auf rechtsstaatliches Verfahren vgl. Dörr, Faires Verfahren, S. 143 ff, Spartiol, Das Recht auf Verteidigerbeistand, S. 199 ff., jeweils m.w.N. 537 Im einzelnen hierzu oben S. 120 f. 538 Dem Angeklagten stehen in diesem Falle Amtshaftungsansprüche gegen die Ermittlungsbehörden zu; vgl. BGH (Z), NJW 1956, 1028ff; Kleinknecht/Meyer-

Goßner, § 160 Rdn. 12; LR/Rieß, § 160 Rdn. 37.

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

317

Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren gesehen. 539 Argumentiert wird, daß sich die Ermittlungsbehörden rechtsmißbräuchlich verhalten, wenn sie das Gericht zu einer Entscheidung auffordern, obwohl sie das hierfür notwendige Beweismaterial zurückhalten. 5 4 0 Das Rechtsmißbrauchsargument kann nicht überzeugen, weil das Gericht nicht etwa deshalb zu urteilen hat, weil die Ermittlungsbehörden dies von ihm verlangen, sondern weil es den Verfassungsauftrag zur Durchsetzung des Strafrechts zu erfüllen h a t . 5 4 1 Zum anderen ist die Ermittlungsbehörde aufgrund ihrer Grundrechtsbindung gegenüber der an Leib oder Leben gefährdeten Auskunftsperson von Verfassungs wegen verpflichtet, die gefährdungsrelevanten Informationen nicht weiterzugeben. 542 Zum dritten schließlich würde das Rechtsmißbrauchsargument, wenn man damit ernst machen würde, dazu führen, daß nunmehr der Angeklagte die Entscheidung in der Hand hat, aufgrund welcher Beweislage das Gericht über den Tatvorwurf befinden soll. Der Angeklagte bräuchte nur dafür zu sorgen, daß mißliebige Auskunftspersonen als Zeugen so gefährdet werden, daß ihnen von Verfassungs wegen die Zeugenrolle nicht zugemutet werden kann, und schon würden die belastenden Tatsachen einem Beweisverbot unterliegen. 5 4 3 cc) Fehlerhafte Geheimhaltung Ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens kann jedoch darin liegen, daß die Behörde eine Auskunftsperson als Zeuge zu Unrecht "sperrt". Wie bereits gezeigt, hat die Ermittlungsbehörde bei ihrer Entscheidung auch das Verteidigungsinteresse des Angeklagten einzubeziehen. Tut sie dies nicht oder nicht zutreffend, so beeinträchtigt die Sperrerklärung das "Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren", Art. 2 Abs. 1 i. V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Die Frage, ob ein derartiger Verstoß vorliegt, kann das Gericht jedoch nicht dadurch beantworten, daß es seine eigene Abwägung an die Stelle der behördlichen Ermessensentscheidung setzt. Das Gericht hat vielmehr den Ermessensspielraum der Exekutive zu akzeptieren. 544 Nur dort, wo die Behörde bei ihrer 53 9 Bruns, Neue Wege, S. 65 ff; Fezer, JuS 1987, 360; Hoffmann, Der unerreichbare Zeuge, S. 198 f.; Lüders sen, Klug-FS, S. 534; Velten, Befugnisse der Ermittlungsbehörden, S. 61. 5 4 0

541

So z.B. Bruns, M D R 1984, 183.

Vgl. oben S. 125. Hierzu oben S. 147 ff 543 BGHSt 33, 70, 75; Hoffmann, Der unerreichbare Zeuge, S. 200; Seelmann, StV 1984, 483 mit Fn. 55; Taschke, StV 1985, 271. - J. Meyer, ZStW 95 (1983), 852, hält in diesen Fällen dem Mißbrauchseinwand des Angeklagten die "Arglisteinrede" der Strafverfolgungsorgane entgegen. 544 BGHSt 36, 159, 162 f.; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 91. A.A. Geppert, Jura 1992, 252; Joachim, StV 1992, 245; vgl. auch diefrühere Rechtsprechung des BGH, BGHSt 542

318

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Entscheidung die Grenzen zulässiger Ermessensausübung überschritten hat, kann sich daher die Frage stellen, welche Konsequenzen sich hieraus für das gerichtliche Beweisverfahren ergeben. Als Verstoß gegen das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren relevant sind daher nur die Fälle, i n denen die behördliche Entscheidung willkürlich, offensichtlich rechtsfehlerhaft oder ohne Angabe von Gründen erfolgt i s t . 5 4 5 Da das Gericht selbst keine Möglichkeit hat, diesen Verstoß der Exekutive zu heilen, wird es von Rechtsprechung und Literatur als notwendige Konsequenz angesehen, auf diesen Verstoß mit einem Beweisverbot zu reagieren. 5 4 6 Kann das Gericht aufgrund der eingeschränkten Beweislage nicht zu der für eine Verurteilung erforderlichen Überzeugung gelangen, ist der Angeklagte nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" freizusprechen. 547 b) Verwertung der Surrogate als Verstoß Rechtsprechung und herrschende Lehre sehen i n dem Rückgriff auf Beweissurrogate grundsätzlich keinen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens, sondern allein ein Problem der richterlichen Beweiswürdigung. 5 4 8 Demgegenüber wird von einem Teil der Literatur gefordert, Surrogate mit einem Verwertungsverbot zu belegen, sofern sie sich auf belastende Angaben einer gefährdeten Auskunftsperson beziehen. 5 4 9 Entlastende Angaben sollen demgegenüber nicht nur verwertbar sein, sondern zwingend als wahr unterstellt werden. 5 5 0 I m folgenden soll untersucht werden, inwieweit Verteidigungsinteressen das geforderte Verwertungsverbot stützen können. aa) Rechtliches Gehör Der Grundsatz des fairen Verfahrens umfaßt auch den Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör, welcher in Art. 103 Abs. 1 GG ausdrücklich normiert ist. Zum Umfang dieses Anspruchs hat das BVerfG festgestellt:

31, 148, 154; 31, 290, 295; 33, 83, 92. Im übrigen ist zu bedenken, daß dem Gericht auch die Informationen fehlen, um die tatsächliche Gefahrdungslage der Auskunftsperson detailliert beurteilen zu können. 5 4 5

Vgl. nur Krehl, GA 1990, 558 f.

546

BVerfGE 57, 250, 290; BGHSt 36, 159, 162 f.; Fezer, Kleinknecht-FS, S. 115;

KK/Nack,

§ 96 Rdn. 3; LR/G. Schäfer, § 96 Rdn. 53; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 91.

547

Vgl. nur Roxiriy Strafverfahrensrecht, § 44 Rdn. 25. 548 Vgl. nur BVerfG, NJW 1992, 168; BGHSt 32, 115, 122; 33, 83, 88; 34, 15, 17; 36, 159 ff ; Rebmann, NStZ 1982, 321. 549 Bruns, Neue Wege, S. 67, 70 f.; Engels, NJW 1983, 1530; Grünwald, Dünnebier-FS, 347 ff; ders. StV 1987, 455 mit Fn. 30; Hoffmann, Der unerreichbare Zeuge, S. 190; Seebode/Sydow, JZ 1980, 506 ff. Hierzu auch Gesetzentwurf der SPD-Fraktion aa. BT-Drucks. 9/2089, S. 2 und 3, näher dazu J. Meyer, ZStW 95 (1983), 857 f. 5 5 0

Fezer, JZ 1984, 435; Lisken, NJW 1991, 1660; Lüderssen, Klug-FS, S. 538.

3. Abschnitt: Schlitz vor der Zeugenstellimg

319

"Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet, daß der Angeklagte i m Strafverfahren Gelegenheit erhält, sich zu dem einer Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt grundsätzlich vor deren Erlaß zu äußern und damit das Gericht i n seiner Willensbildung zu beeinflussen. Es dürfen also einer gerichtlichen Entscheidung regelmäßig nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten." 5 5 1 Diesen Anforderungen wird auch bei einem Rückgriff auf Beweissurrogate Genüge getan werden, sofern der Angeklagte die Möglichkeit erhalten hat, zu diesen Beweismitteln Stellung zu nehmen. 5 5 2 Das BVerfG führt hierzu weiter aus: "Die durch Art. 103 Abs. 1 GG abgesicherte prozessuale Befugnis des Angeklagten garantiert i m vorliegenden Zusammenhang nicht nur die Gelegenheit, auf den möglicherweise minderen Beweiswert schriftlicher Aufzeichnungen hinzuweisen und dadurch auf eine entsprechend zurückhaltende Würdigung durch das Gericht einzuwirken, sondern sie verbürgt auch die Möglichkeit, durch entsprechende Anträge auf die Beischaffung des sachnäheren Beweismittels zu dringen .... Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährt indessen weder ein Recht auf ein bestimmtes Beweismitteln noch auf bestimmte Arten von Beweismittel." 5 5 3 Von daher wird das rechtliche Gehör des Angeklagten bei einem Rückgriff auf Beweissurrogate nicht verletzt. 5 5 4 bb) Recht auf optimale Verteidigung? Es wurde bereits gezeigt, daß die unmittelbare Befragung eines Zeugen besondere Verteidigungsmöglichkeiten bietet. In der Praxis kommt es immer wieder vor, daß sich eine ursprünglich belastende Zeugenaussage i m Laufe der Vernehmung zu einem überzeugenden Entlastungsbeweis entwickelt. Wird nun - bildlich gesprochen - die "weiche" Zeugenaussage i n die starre Form des Surrogates gegossen, so wird dem Angeklagten die Möglichkeit genommen,

551

BVerfGE 57, 250, 273 f. Dies übersieht bei seiner Argumentation Lisken, NJW 1991,1659 f. 553 BVerfGE 57, 250, 274. 554 K M . vgl. nur BVerfGE 57, 250, 274; 63, 59 f.; BGHSt 17, 382, 387; Geppert, Jura 1991, 544 (anders noch ders., Der Grundsatz der Unmittelbarkeit, S. 298 f.); KMR/Paulus, § 250 Rdn. 17; LR/Gollwitzer, § 250 Rdn. 24; Ranft, Straftrozeßrecht, Rdn. 1730. - A.A neben den oben Genannten Arndt, NJW 1962, 27; Fremei, NStZ 552

1984, 40; Grünwald, JZ 1966, 494; Joachim, StV 1992, 247; Seebode/Sydow,

507.

JZ 1980,

320

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

die in einer unmittelbaren Zeugenbefragung liegenden Verteidigungschancen zu nutzen. Diese Nachteile können auch nicht durch die gerichtliche Beweiswürdigung und den Grundsatz "in dubio pro reo" kompensiert werden, da das, was zu würdigen wäre, gar nicht zum Vorschein kommt und dem Angeklagten gerade die Möglichkeit genommen wird, die Zweifel zu wecken, die der Indubio-Grundsatz voraussetzt. 555 Daß durch den Rückgriff auf Beweissurrogate die auf Optimierung gerichteten Verteidigungsinteressen des Angeklagten beeinträchtigt werden, kann daher nicht bestritten werden. Zu fragen bleibt, ob mit dem Verteidigungswteresse zugleich das Recht des Angeklagten auf faires Verfahren beeinträchtigt ist. Würde man dem Angeklagten ein Recht auf Verteidigung i m vollen Umfang seiner Verteidigungsinteressen einräumen, so wäre es geradezu inkonsequent, den Rückgriff auf Beweissurrogate nur mit einem Verwertungsverbot zu belegen. Ein Beweisverbot könnte allein die belastende Wirkung des Surrogates aufheben. Die Chance einer entlastend wirkenden Zeugenvernehmung wäre dagegen weiterhin versperrt. Konsequent wäre deshalb nur die Forderung nach einem Verfahrenshindernis. Durch einen Verzicht auf das Strafverfahren würden die Interessen des Tatverdächtigen ebenso wie die der Auskunftsperson i n optimaler Weise gewahrt. Allein das Strafrecht wäre nicht mehr durchzusetzen. Daran zeigt sich, daß das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren immer nur das Ergebnis einer Abwägung der i m strafprozessualen Spannungsverhältnis stehenden kollektiven und individuellen Interessen sein kann. Diese Abwägung führt dazu, daß das auf Optimierung zielende Verteidigungsinteresse sich nicht unbeschränkt zu Verteidigungsrechten verfestigen läßt. Das Strafverfahren kennt daher kein Recht auf optimale Verteidigung, sondern nur ein Recht auf Verteidigung auf der Grundlage der Beweise, die zur Urteilsfindung verfügbar sind. Geht die Gefahr für die Auskunftsperson von dem Angeklagten oder seinem Umfeld aus, ist darüber hinaus zu beachten, daß der Angeklagte durch eigenes bzw. ihm zurechenbares Verhalten die Verschlechterung seiner Verteidigungslage hervorgerufen h a t . 5 5 6 Daraus folgt: Das Recht des Angeklagten auf faires Verfahren ist verletzt, wenn i n dem Urteil Beweise zu seinen Ungunsten verwertet wurden, gegen die er sich nicht verteidigen konnte. Das Recht auf faires Verfahren ist dagegen nicht verletzt, wenn das Gericht auf der Grundlage der verfügbaren Beweise zu einem Urteil gelangt, obwohl nicht auszuschließen ist, daß das Urteil auf

555 ygi hierzu auch den Diskussionsbeitrag von J. Meyer, wiedergegeben bei Gropp, ZStW 95 (1983), 1007, sowie Joachim, StV 1992, 248. 556 Im einzelnen zu diesem Aspekt oben S. 133.

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

321

der Grundlage anderer - aber für das Gericht unerreichbarer - Beweise für den Angeklagten günstiger ausgefallen wäre. V. Zusammenfassung und Stellungnahme Nach geltendem Recht kann das Gericht auf sog. Beweissurrogate zurückgreifen, wenn eine Auskunftsperson von den Ermittlungsbehörden nicht als Zeuge freigegeben wird. Zulässige Beweissurrogate sind dabei jedoch nur die Verlesung schriftlicher Aufzeichnungen über die Angaben der Auskunftsperson sowie die Vernehmung der Verhörsperson als sog. Zeuge vom Hörensagen. Voraussetzung für einen Rückgriff auf die Surrogate ist, daß die Behörde die Auskunft weder willkürlich noch offensichtlich rechtsfehlerhaft verweigert hat und daß der Angeklagte - auf seinen Antrag hin - die Möglichkeit erhalten hat, schriftliche Fragen an die Auskunftsperson zu richten. Die Verwertung der vorhandenen Beweissurrogate ist strafprozessual unter zwei Gesichtspunkten problematisch: Zum einen wegen des geringen Beweiswertes (besser Indizwertes), der den Surrogaten als solchen zukommt, und der damit einhergehenden Gefahr einer fehlerhaften Überbewertung durch das Gericht. Zum anderen aber wegen der fehlenden Möglichkeit des Angeklagten, die Verteidigungschancen zu nutzen, die sich aus einer unmittelbaren Befragung der Auskunftsperson als Zeuge ergeben. Es hat sich gezeigt, daß diese Bedenken die Forderung nach einem Beweisverbot nicht zu stützen vermögen. Zum einen wäre ein Beweisverbot i n keiner Weise geeignet, die Nachteile der Verteidigungsmöglichkeiten abzugleichen, und zum anderen kann nicht unterstellt werden, daß das Gericht grundsätzlich überfordert ist, den Beweiswert von Surrogaten zutreffend zu beurteilen. Die - gesetzlich bisher nicht vorgesehene - Videovernehmung stellt die i m Hinblick auf den Beweiswert beste Form eines Beweissurrogates dar. Sie ermöglicht es den Verfahrensbeteiligten, die Fragen und Antworten i m Orginalton und nicht durch den "Filter" des Vernehmungsbeamten zu hören und das Verhalten der Auskunftsperson i n der Vernehmungssituation mitzuerleben. 5 5 7 Die Aussage kann auf diese Weise umfassend, d.h. auch aus ihrer Entstehungsgeschichte und der Art der Fragestellung heraus, bewertet werden. Unter dem Gesichtspunkt des Zeugenschutzes kommt dem Abspielen eines Videobandes nur dann Bedeutung zu, wenn die Gefahr entweder allein von der körperlichen Anwesenheit des Zeugen am Ort der Hauptverhandlung ausgeht oder die Auskunftsperson nach der aufgezeichneten Vernehmung ihr äußeres

557 Vgl. auch Bender/Nack,, Tatsachenfeststellung Π, Rdn. 837; Bohlander, ZStW 107 (1995), 112; Meier, GA 1995, 164; Steinte, ZRP 1993, 255 f.

21 Zacharias

322

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Erscheinen, z.B. durch eine Gesichtsoperation, verändert h a t . 5 5 8 In diesen Fällen jedoch ist kein sachlicher Grund erkennbar, nicht dem Beispiel vieler anderer Staaten zu folgen und die Verwertbarkeit von Videobändern gesetzlich zuzulassen. 559 Voraussetzung hierfür sollte sein, daß die Auskunftsperson der Videoaufzeichnung ihrer Vernehmung zustimmt. Zu denken wäre etwa daran, nach dem jetzigen § 251 Abs. 1 StPO folgenden Absatz einzufügen: § 251 Abs. 1 a: Aus den gleichen Gründen darf die Vernehmung durch das Abspielen der Videoaufzeichnung einer früheren Vernehmung ersetzt werden, sofern der Vernommene in die Aufzeichnung eingewilligt h a t . 5 6 0

2. Kapitel: Hauptverfahren A. Verzicht auf Ladung Das Gericht ist im Rahmen seiner Aufklärungspflicht, § 244 Abs. 2 StPO, verpflichtet, Auskunftspersonen, deren ladungsfähige Anschrift ihm bekannt ist, als Zeugen zu laden. Das Strafverfahrensrecht enthält keine Regelung, wonach auf die Ladung einer solchen Person als Zeuge verzichtet werden kann. Lediglich für den Fall, daß eine Person bereits richterlich vernommen wurde, sieht § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO vor, daß auf eine Ladung verzichtet und statt dessen das Vernehmungsprotokoll verlesen werden darf, wenn dem Zeugen "das Erscheinen in der Hauptverhandlung wegen großer Entfernung unter Berücksichtigung der Bedeutung der Sache nicht zugemutet werden kann". Das Recht - bzw. die Pflicht -, auf eine Ladung zu verzichten, kann sich jedoch unmittelbar aus der Verfassung ergeben. 561 Besteht für den Zeugen -

5 5 8

Steinke, ZRP 1993, 256.

559

Eingehend hierzu Bohlander, ZStW 1995, 91 ff.; speziell zur Situation in Dänemark Koch/Poerting/Störzer, Kriminalistik 1996, 11, zur Situation in Kanada Steinke, ZRP 1993, 255 f. 56 0

Gössel, Gutachten, C. 61, schlägt dagegen folgende Ergänzung des § 250 S. 2 StPO vor: (wie bisher:) 'Die Vernehmung darf nicht durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden (sodann neu:) ; das Abspielen einer Bild- und Tonaufhahme einer Vernehmung (z.B. Videographie) ist zulässig, sofern die Staatsanwaltschaft und der Verteidiger Gelegenheit hatten, daran teilzunehmen." Unter Zeugenschutzgesichtspunkten ist diese Regelung unbefriedigend, da die Auskunftsperson durch die Anwesenheit des Verteidigers regelmäßig ab dem Zeitpunkt der Vernehmung gefährdet sein wird. 561 Eingehend hierzu S. 141 ff.

3. Abschnitt: Schutz vor der Zeugenstellung

323

trotz Ausschöpfung aller Schutzmöglichkeiten - weiterhin eine unzumutbare Gefahrdungslage, so stellt das Auferlegen der Erscheinenspflicht einen unverhältnismäßigen und damit rechtswidrigen Grundrechtseingriff dar. Das Gericht darf einen Zeugen unter diesen Voraussetzungen nicht zum Erscheinen verpflichten und ist deshalb nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, auf eine Ladung dieser Person zu verzichten. Wird ein Bürger trotz einer unzumutbaren Gefährdung als Zeuge geladen, so stellt sich die Frage, ob er der (rechtswidrigen) Ladung Folge zu leisten hat. Die Antwort auf diese Frage bestimmt sich danach, ob der betroffene Zeuge gegen die Ladung wirksamen Rechtsschutz erlangen k a n n . 5 6 2 Ist dies nicht der Fall, so wahrt er das höherrangige Interesse, wenn er der Anordnung nicht nachkommt. 5 6 3 In diesem Fall ist das Ausbleiben nicht nur entschuldigt im Sinne § 51 Abs. 2 StPO, sondern bereits gerechtfertigt. 564 Eine der in § 51 Abs. 1 StPO angesprochenen Reaktionen darf gegen ihn nicht verhängt werden. B. Konsequenzen für die Beweisaufnahme I. Ablehnen von Beweisanträgen Nach § 244 Abs. 3 S. 1 StPO ist ein Beweisantrag "abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist. Würde eine Person durch die Auferlegung der Zeugenpflicht unzumutbar gefährdet, so steht der Zeugenvernehmung ein grundrechtliches Beweisverbot entgegen. 565 Die Erhebung dieses Beweises ist unzulässig im Sinne § 244 Abs. 3 S. 1 StPO. IL Verlesen von Protokollen Kann die - dem Gericht bekannte - Auskunftsperson nicht als Zeuge geladen werden, weil sie durch ihr Erscheinen vor Gericht unzumutbar gefährdet würde, so steht dem Erscheinen dieser Person als Zeuge ein aus der Grundrechtsbindung herrührendes "nicht zu beseitigendes Hindernis" entgegen, sofern die Gefährdung durch Schutzvorkehrungen nicht beseitigt werden

562 Zur Frage, ob die Zeugenladung mit der Beschwerde angefochten werden kann, unten S. 335. 563 Hierzu bereits oben S. 148 f. 564 In diese Richtung auch BGHSt 17, 337, 349; BGH, StV 1993, 233. Nach Krey, Meyer-GedS, S. 258, ist § 51 Abs. 2 StPO verfassungskonform dahin auszulegen, daß ein Zeuge, der durch sein Erscheinen in eine Leibes- oder Lebensgefahr gerät, genügend entschuldigt ist. 565 Oben S. 142.

21

324

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

k a n n . 5 6 6 Richterliche Vernehmungsprotokolle können daher nach §251 Abs. 1 Nr. 2 StPO verlesen werden. Nichtrichterliche Vernehmungsprotokolle und sonstige Aufzeichnungen können nach § 251 Abs. 2 S. 2 StPO verlesen werden, da die Person aus verfassungsrechtlichen Gründen "in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann". III. Sonstige Beweissurrogate Für sonstige Beweissurrogate gelten die obigen Ausführungen - S. 305 ff entsprechend. C. Stellungnahme Die Möglichkeit, auf eine Ladung des gefährdeten Zeugen zu verzichten, sollte gesetzlich klargestellt werden. Vorgeschlagen wird eine Ergänzung des § 48 StPO 5 6 7 : § 48 S. 2: "Von einer Ladung ist abzusehen, wenn der Zeuge oder eine ihm nahestehende Person durch sein Erscheinen zur Vernehmung unzumutbar gefährdet wird."

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe Bisher wurde gezeigt, welche Möglichkeiten die Strafverfolgungsorgane haben, um einen gefährdeten Zeugen zu schützen. Im folgenden soll geklärt werden, welche Möglichkeiten die Straiprozeßordnung dem Zeugen bietet, um auf seinen Schutz hinzuwirken, wie er gegen eine ihn gefährdende Entscheidung vorgehen kann und inwieweit diese Möglichkeiten seinem grundrechtlich verbürgten Anspruch auf Verfahrensteilhabe 568 gerecht werden.

566

BGHSt 22, 311, 313; 39, 141, 145; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

KMR/Paulus,

§ 251 Rdn. 7;

§ 223 Rdn. 13.

56 7 Rebmann/Schnarr y NJW 1989, 1190, schlagen eine entsprechende Klarstellung in § 51 StPO vor. 568 Eingehend hierzu oben S. 149 flf.

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

325

1. Kapitel: Teilhabe vor gefährdenden Entscheidungen A. Anhörungsrechte I. Entscheidungen des Gerichts, §33 StPO § 33 StPO enthält eine allgemeine Bestimmung über den Umfang des rechtlichen Gehörs, welches das Gericht einem Betroffenen zu gewähren hat. Die Bestimmung bleibt nicht hinter dem prozessualen Grundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG zurück. 5 6 9 Daneben enthält die StPO in den §§ 248 S. 2, 257, 258 Abs. 2, 265 Abs. 1 und 2, 326 S. 2 und 351 Abs. 2 S. 2 weitere Bestimmungen zur Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs einzelner Verfahrensbeteiligter. Für den (gefährdeten) Zeugen fehlen derartige Sonderregelungen 570 , so daß sich sein Gehörsanspruch - auf der Ebene des einfachen Rechts - allein aus § 33 StPO ergeben kann. 1. Beteiligtenstellung

des Zeugen

Beteiligter i m Sinne § 33 StPO ist eine Person, soweit sie von einer richterlichen Entscheidung 571 in eigenen Rechten betroffen w i r d . 5 7 2 Im Hinblick auf die verfahrensabschließende Entscheidung sind dies der Angeklagte, sein Verteidiger, der Staatsanwalt und z.B. der Nebenkläger, nicht jedoch der Zeuge, denn dieser wird durch den Urteilsspruch nicht in eigenen Rechten betroffen. Beteiligter i.S. des § 33 StPO ist der Zeuge dagegen an allen Entscheidungen, die während des Strafverfahrens ergehen und die ihn in seinen (Grund-) Rechten beeinträchtigen. 573 Da staatliche Gefahrschaffimgs- und -erhöhungsakte eigenständige Grundrechtsbeeinträchtigungen darstellen 574 , ist der Zeuge

5 6 9

BGHSt 19, 7, 15; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 33 Rdn. 1; KMR/Paulus,

§ 33

Rdn. 1. 570 § 69 Abs. 1 StPO gewählt dem Zeugen lediglich das Recht, mit seinen Angaben zur Sache gehört zu werden. 571 Richterliche Entscheidungen können Urteile, Beschlüsse oder Verfügungen sein, vgl. nur Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 199 ff.; Roxi η, Strafverfahrensrecht, § 23 Rdn. 1. 5 7 2

BGHSt 19, 7, 15; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 33 Rdn. 4; LR/Wendisch,

§ 33

Rdn. 18; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 18 Rdn. 4; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, § 33 Rdn. 4; SK/Rogall, Vor § 133 Rdn. 90. 57 3

Humborg, JR 1966, 449; Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 130 f.; KMR/Paulus, § 33 Rdn. 7; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 106. - Zur Stellung des Zeugen als Verfahrenssubjekt vgl. eingehend oben S. 118 f. 574 Hierzu oben S. 104 ff.

326

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

"Beteiligter" an allen richterlichen Entscheidungen, die seine Gefahrdungslage beeinflussen. 2. Anhörung Anhörung i m Sinne § 33 StPO bedeutet das Gewähren der Gelegenheit zur Äußerung. 5 7 5 Das Recht zur Anhörung umfaßt die Pflicht des Gerichts, den Betroffenen über den Gegenstand der Entscheidung zu informieren. 576 Dem Zeugen ist die Gelegenheit zu geben, sich zu allen gefährdungsrelevanten Fragen zu äußern und zwar sowohl zu den tatsächlichen Umständen seiner Gefährdungslage als auch zu der Gewichtung der kollidierenden Interessen i m Rahmen der richterlichen Abwägungsentscheidung. 577 Gewährt wird die Gelegenheit, wenn sie dem Betroffenen erkennbar zu Bewußtsein gebracht w i r d . 5 7 8 Der Richter muß dem gefährdeten Zeugen also zu verstehen geben, daß es nun seine Sache ist, sich zu äußern, falls ihm an einer Erklärung gelegen i s t . 5 7 9 3. Vom Anhörungsrecht umfaßte Entscheidungen § 33 StPO differenziert zwischen Entscheidungen, die i m Laufe der Hauptverhandlung ergehen, und solchen, die außerhalb der Hauptverhandlung erlassen werden. a) In der Hauptverhandlung Bei Entscheidungen, die in der Hauptverhandlung ergehen, hat der beteiligte Zeuge ein uneingeschränktes Anhörungsrecht, § 33 Abs. 1 StPO. Er ist daher vor allen gefährdungsrelevanten Entscheidungen über den äußeren Rahmen der Vernehmung und den Umfang der Informationserhebung zu hören. In Bezug auf den äußeren Rahmen der Vernehmung gilt dies insbesondere vor der Entscheidung über den Ausschluß des Angeklagten, § 247 StPO, den Ausschluß der Öffentlichkeit, § 172 Nr. 1 und 1 a GVG, oder die Verlegung der Hauptverhandlung an einen sicheren Ort. Bei der Informationserhebung ist der Zeuge vor der Entscheidung darüber zu hören, inwieweit er von der Angabe der Personalien nach § 68 Abs. 2 und 3 StPO befreit wird, inwieweit eine gefährdende Frage nach § 241 Abs. 2 StPO zurückzuweisen ist und

575

Vgl. RGSt 37, 437, 438; 47, 342, 343.

5 7 6

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 33 Rdn. 5.

577

Dazu, daß jedem Beteiligten das Recht zusteht, sich in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht zu äußern, vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 33 Rdn. 5 sowie Einl. Rdn. 28. 5 7 8

BGH, NStZ 1993, 500; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 33 Rdn. 57. 57 9 Eb. Schmidt, Lehrkommentar, § 33 Rdn. 4.

§ 33 Rdn. 6; KMR/Paulus,

4. Abschnitt: Schutz durch Veifahrensteilhabe

inwieweit dem gefährdeten Zeugen ein Auskunftsverweigerungsrecht steht 5 8 0

327

zu-

b) Außerhalb der Hauptverhandlung Bei Entscheidung außerhalb der Hauptverhandlung ist - neben dem Staatsanwalt - ein Beteiligter zu hören, bevor zu seinem Nachteil Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet werden, § 33 Abs. 3 StPO. Die Anhörung erfolgt hier in der Regel dadurch, daß der Beteiligte schriftlich davon unterrichtet wird, welche Entscheidung zu treffen ist und daß er sich hierzu schriftlich äußern k a n n . 5 8 1 Nach § 33 Abs. 3 StPO ist der Zeuge nur vor einer gefährdenden Entscheidung zu hören und auch nur dann, wenn der Entscheidung die richterliche Beurteilung der Gefährdungslage zugrunde liegt, wenn der Richter also gefährdungsrelevante Tatsachen und Beweisergebnisse zum Nachteil des Zeugen verwerten will. Dies bedeutet: Der Ermittlungsrichter, der nach § 168 c Abs. 3 StPO darüber zu entscheiden hat, ob der Beschuldigte wegen zu befürchtender Übergriffe auf den Zeugen von dessen Vernehmung auszuschließen ist, hat dem Zeugen Gehör zu gewähren, wenn er beabsichtigt, ihn i n Anwesenheit des Beschuldigten zu vernehmen. Hat der Vorsitzende z.B. über die Frage zu entscheiden, ob eine Auskunftsperson so stark gefährdet ist, daß ihr die Zeugenrolle nicht zuzumuten i s t 5 8 2 , so hat er die betroffene Person vor der Ladung anzuhören. Das gleiche gilt für die Entscheidung des Vorsitzenden, den gefährdeten Zeugen mit seinen vollständigen Personalien dem Angeklagten namhaft zu machen, also nicht von der Möglichkeit des § 222 Abs. 1 S. 3 StPO Gebrauch zu machen. IL Entscheidungen der Ermittlungsbehörden Sowohl § 33 StPO wie auch Art. 103 Abs. 1 GG gewähren dem Zeugen nur vor Gericht rechtliches Gehör. Gleichwohl ist der Zeuge auch vor staatlichen Gefährdungsakten i m (nichtrichterlichen) Ermittlungsverfahren zu hören. Der Anspruch auf Gehör ergibt sich hier unmittelbar aus den Grundrechten. 583 Sie gewähren demjenigen, dessen Grundrechte durch eine staatliche Entscheidung beeinträchtigt werden, das Recht auf Grundrechtsschutz durch Verfahren. Das Recht eines Betroffenen, vor Entscheidungen, die seine Grundrechtssphäre berühren, sei-

580

Zum Anhörungsrecht in diesen Fällen vgl. auch Siegismund, JR 1994, 253.

58 1

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

582

§ 33 Rdn. 11.

Zum Verzicht auf die Ladung einer gefährdeten Auskunftsperson vgl. S. 322. 583 SK/Rogall, Vor § 133 Rdn. 90, leitet den Gehörsanspruch dagegen aus dem Rechtsstaatsprinzip und der Menschenwürde ab.

328

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

nen Standpunkt vertreten zu dürfen, und zwar zu einer Zeit und auf eine Art, die seine Stellungnahme für die Entscheidung noch folgenreich macht, gehört zum Kern grundrechtlicher Verfahrensgarantien. 584 Danach lösen alle Entscheidungen der Ermittlungsbehörden, durch die eine Person als Zeuge gefährdet wird, den Anspruch des Betroffenen aus, vor der gefährdenden Maßnahme gehört zu werden. 5 8 5 Die Ermittlungsbehörden müssen einer Auskunftsperson jedenfalls einmal die Möglichkeit geben, ihre Gefährdungslage umfassend darzustellen, bevor sie darüber entscheiden, ob dieser Person die Zeugemolle aufzuerlegen ist oder ob sie nicht aufgrund ihrer Gefährdung entsprechend § 96 StPO aus dem Ermittlungsverfahren herauszuhalten ist, i n welchem Umfang die Auskunftsperson als Zeuge Angaben zur Person zu machen hat und diese Angaben zu den Verfahrensakten zu nehmen sind, § 68 Abs. 2, 3 S. 3 und 4 StPO, ob dem Verteidiger Akteneinsicht gewährt oder nach § 147 Abs. 2 StPO versagt w i r d 5 8 6 und i n welchem Umfang die Personalien des Zeugen i n die Anklageschrift aufgenommen werden, § 200 Abs. 1 S. 3 StPO. B. Antragsrechte Das Anhörungsrecht hilft dem Zeugen nur dann, wenn das Strafverfolgungsorgan über ein gefährdungsrelevantes Vorgehen zu entscheiden hat. In der Regel bedarf die gefährdende Verfahrensgestaltung jedoch keiner ausdrücklichen Entscheidung, sie ergibt sich vielmehr unmittelbar aus dem Gesetz. So braucht das Gericht i m Normalfall nicht darüber zu entscheiden, ob der Zeuge öffentlich und i n Anwesenheit des Angeklagten vernommen wird. Diese Fragen beantwortet das Gesetz i n § 169 S. 1 GVG, § 230 Abs. 1 StPO. Ohne die Möglichkeit, eine Entscheidung über eine - vom gesetzlich vorgesehenen Normalfall abweichende - zeugenschützende Verfahrensgestaltung durch einen Antrag herbeizuführen, würde der Anspruch des Betroffenen auf Gehör daher i n vielen Fällen leerlaufen. 587 Es ist deshalb allgemein anerkannt, daß das Recht auf Gehör auch das Recht umfaßt, durch entsprechende Anträge auf eine Entscheidung hinzuwir-

584

Hierzu oben S. 150 ff Eingehend zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen des Anhörungsrechts des gefährdeten Zeugen oben S. 152. 586 Zum Anhörungsrecht des von der - in der Akteneinsicht liegenden - Informationsweitergabe Betroffenen vgl. auch Otto, GA 1989, 306; Schlothauer, StV 1987, 359; 585

Wente, StV 1988, 220. 587

Während der Hauptverhandlung wäre der Zeuge allein auf das Verständnis und die Einsatzbereitschaft des anwesenden Staatsanwaltes angewiesen, vgl. Nr. 130 a Abs. 1 RiStBV

4. Abschnitt: Schutz durch Veifahrensteilhabe

329

k e n . 5 8 8 Dies bedeutet: Immer dann, wenn grundrechtlich geschützte Interessen des Zeugen auf dem Spiel stehen, hat der Zeuge das Recht, eine seine Grundrechte möglichst schonende Verfahrensgestaltung zu beantragen. 589 Dem gefährdeten Zeuge steht damit das Recht zu, eine Entscheidung über die Anwendung von Vorschriften zu bewirken, durch die seine Interessen geschützt werden.590 Das Gesetz selbst räumt dem Zeugen nur in den Fällen des § 171 b Abs. 1 GVG - Ausschluß der Öffentlichkeit zum Schutz von Persönlichkeitsrechten das Recht ein, eine zeugenschützende Verfahrensgestaltung zu beantragen, § 171 b Abs. 2 GVG. Darüber hinaus ist weitgehend anerkannt, daß der Zeuge als Beteiligter i m Sinne § 174 Abs. 1 S. 1 GVG berechtigt ist, einen Antrag auf Ausschluß der Öffentlichkeit gemäß § 172 Nr. 1 und 1 a GVG zu stell e n . 5 9 1 Anerkannt ist ferner, daß der Zeuge antragsberechtigt ist hinsichtlich der von § 68 Abs. 2 und 3 StPO eingeräumten Möglichkeit, die Angaben zur Person zu beschränken. 592 Mit diesen Antragsrechten wird jedoch nur ein Teilbereich der zeugenschützenden Vorschriften erfaßt. Im Hauptverfahren muß der gefährdete Zeuge darüber hinaus das Recht haben, zu seinem Schutz den Ausschluß des Angeklagten nach § 247 StPO 5 9 3 , die Vernehmung an einem sicheren Ort oder sonstige organisatorische Schutzmaßnahmen zu beantragen. Er muß den Antrag stellen können, Fragen, deren Beantwortung ihn unzumutbar gefährden würden, nach § 241 Abs. 2 StPO zurückzuweisen, sowie eine Entscheidung darüber verlangen können, daß er wegen seiner Gefährdung berechtigt ist, die Aussage zu verweigern. Schließlich muß der gefährdete Zeuge das Recht haben, einen Verzicht auf

588

Vgl. hierzu in ständiger Rechtsprechung BVerfGE 6, 19, 20; 36, 85, 87; 54, 94,

97; 64, 135, 143 f.; 69, 148; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

Einl. Rdn. 23; LR/W endisch,

§ 33 Rdn. 1; Rüping, Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, S. 152 f.; SK/Rogall, Vor § 133 Rdn. 91. 589 In diese Richtung auch Kleinknecht, Schmidt-Leichner-FS, S. 115; Klöhn, Der Schutz der Intimsphäre, S. 390. Gleichwohl wird dem Zeugen oftmals nur ein Anregungsrecht zugestanden, vgl. etwa Böttcher, Kleinknecht-FS, S. 44 a. E.; Kr ehi, GA 1990, 562. 590 Zur Bescheidungspflicht des Gerichts vgl. Rüping, Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, S. 180 ff. 591 Allgemein zur Beteiligtenstellung des Zeugen i.S. § 174 Abs. 1 GVG vgl. Humborg,

JR 1966, 451; Kleinknecht,

Schmidt-Leichner-FS, S. 115; Klöhn,

Der

Schutz der Intimsphäre, S. 390; LR/K Schäfer, 23. Aufl., § 174 GVG Rdn. 2 a; Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 166, 172 ff; Wittkämper, BB 1963, 1162. - Differenzierend Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 174 GVG Rdn. 2. 5 9 2

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

593

So auch Humborg, JR 1966, 450; Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 167.

§ 68 Rdn. 11.

330

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

seine Ladung bzw. die Rücknahme seiner Ladung zu beantragen, wenn ihm die Übernahme der Zeugenrolle nicht zuzumuten ist. Im Ermittlungsverfahren ist der Zeuge insbesondere berechtigt, einen Antrag auf Versagung der Akteneinsicht nach § 147 Abs. 2 StPO zu stellen, sowie darauf hinzuwirken, daß seine Personalien nicht in die Anklageschrift aufgenommen werden, § 200 Abs. 1 S. 3 StPO. Eine gefährdete Auskunftsperson hat zudem das Antragsrecht, zu ihrem Schutz entsprechend § 96 StPO aus dem Strafverfahren insgesamt herausgehalten zu werden. C. Belehrungspflichten der Strafverfolgungsorgane Aus der Fürsorgepflicht der Strafverfolgungsorgane gegenüber dem Zeugen ergibt sich, daß der unkundige Zeuge über seine prozessualen Rechte zu belehren i s t . 5 9 4 Das BVerfG spricht insoweit von dem "in § 55 Abs. 2 StPO und anderen Vorschriften zum Ausdruck kommende(n) Belehrungsprinzip". 595

2. Kapitel: Rechtsschutz nach gefährdenden Entscheidungen A. Richterliche Maßnahmen I. Beanstandung, §238Abs. 2 StPO "Wird eine auf die Sachleitung bezügliche Anordnung des Vorsitzenden von einer bei der Verhandlung beteiligten Person als unzulässig beanstandet, so entscheidet das Gericht", § 238 Abs. 2 StPO. Zweck dieses Zwischenrechtsbehelfs 5 9 6 ist es, den Verfahrensbeteiligten eine innerinstanzliche und damit schnelle Beschwerdemöglichkeit gegen Anordnungen des Vorsitzenden zu eröffnen. 5 9 7

594

Vgl. z.B. Klöhn, Der Schutz der Intimsphäre, S. 390; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 67; Wulf, DRiZ 1981, 381. 595 BVerfGE 38, 105, 113. Zur Hinweispflicht gegenüber dem Verletzten vgl. §406 h StPO. 5 9 6 Kleinknecht/Meyer-Goßner, LR/Gollwitzer, § 238 Rdn. 16.

597

§ 238 Rdn. 10; KMR/Paulus,

§ 238 Rdn. 33;

Erker, Beanstandungsrecht, S. 57; Fuhrmann, GA 1963, 73: "Charakter einer Rechtsbeschwerde"; gegen die Einordnung als Beschwerde KMR/Paulus, § 238 Rdn. 33.

4. Abschnitt: Schutz durch Veifahrensteilhabe

331

7. Beanstandungsbefugnis des Zeugen Beanstandungsbefugt ist jeder Beteiligte, der schlüssig dartun kann, durch eine Anordnung des Vorsitzenden i n seinem Rechtskreis betroffen zu s e i n . 5 9 8 Beanstandungsbefugt ist damit auch der gefährdete Zeuge, der nachvollziehbar darlegen kann, daß seine Gefahrdungslage durch die Anordnung des Vorsitzenden verschlechtert w i r d . 5 9 9 In Zweifelsfallen hat der Vorsitzende durch Nachfragen darauf hinzuwirken, daß der Zeuge sein Vorbringen genügend substantiiert. 600 2. Anfechtbare Entscheidungen Es ist allgemein anerkannt, daß der Begriff der Anordnung "im weitesten Sinne" zu verstehen ist. Anordnungen i m Sinne § 238 Abs. 2 StPO sind danach alle Maßnahmen, mit denen der Vorsitzende auf den Ablauf des Verfahrens und die Verfahrensbeteiligten e i n w i r k t . 6 0 1 Die Anordnung muß sich auf die Sachleitung beziehen. Dies ist dann der Fall, wenn sie dazu dient, das verfahrensabschließende Urteil vorzubereiten. 602 Reagiert der Vorsitzende auf einen Antrag des Schutz begehrenden Zeugen nicht, so liegt i n diesem Unterlassen die stillschweigende, konkludente Anordnung, den Schutz zu versagen. 6 0 3 Der Zeuge kann nur Anordnungen des Vorsitzenden beanstanden. Hierzu zählt etwa die Weigerung, bestimmte Schutzvorkehrungen für die Vernehmung zu treffen, z.B. die Hauptverhandlung an einen sicheren Ort zu verlegen

59 8

Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 1452; vgl. auch Erker, Beanstandungsrecht, S. 51 f.; KK/Treier, § 238 Rdn. 6; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 238 Rdn. 13; 599 Zur Beteiligtenstellung des Zeugen vgl. oben S. 325; zum Eingriffscharakter staatlicher Gefahrdungsakte oben S. 108 ff. - Die Beanstandungsbefugiiis des Zeugen entspricht allgemeiner Meinung, vgl. nur Böttcher, Kleinknecht-FS, S. 34; Erker, Beanstandungsrecht, S. 72; Humborg, JR 1966, 449; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 238 Rdn. 14; KMR/Paulus, § 238 Rdn. 45; LR/Dahs, Vor § 48 Rdn. 8 a; Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 162 f. ; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 1452; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, § 238 Rdn. 25; Schmidt, Die Rechte des Zeugen, S. 76; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 107; Thomas, NStZ 1982, 489, Fn. 3; Wulf, DRiZ 1981, 381. 60 0 Erker, Beanstandungsrecht, S. 52. 601 Erker, Beanstandungsrecht, S. 64; Fuhrmann, GA 1963, 68; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 238 Rdn. 11; LR/Gollwitzer, § 238 Rdn. 17. 60 2 LR/Gollwitzer, § 238 Rdn. 19; vgl. auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 238 Rdn. 5. 603 Erker, Beanstandungsrecht, S. 68; KMR/Paulus, § 238 Rdn. 29; LR/Gollwitzer, § 238 Rdn. 18; Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 164 ff. - A . A , wenn auch ohne Begründung, Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 238 Rdn. 11.

332

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

oder Zuhörer nach Waffen durchsuchen zu lassen. 6 0 4 Ebenfalls nach § 238 Abs. 2 StPO beanstanden kann der Zeuge Fragen, die er i m Hinblick auf seine Gefährdungslage für unzulässig h ä l t . 6 0 5 Dies gilt auch für die Fragen des Vorsitzenden nach seinen Personalien, § 68 Abs. 1 S. 1 StPO. 6 0 6 Die i n der Frage liegende Aufforderung zur Antwort stellt hier die angreifbare Anordnung dar. Die Entscheidungen über den Ausschluß des Angeklagten, § 247 StPO, und der Öffentlichkeit, § 172 GVG, die nicht der Vorsitzende, sondern das Gericht als Kollektivgremium trifft, fallen dagegen nicht unter § 238 Abs. 2 StPO. Nicht zu beanstanden ist ferner die Ladung einer Person als Zeuge durch den Vorsitzenden, da diese nicht in der Hauptverhandlung erfolgt. 607 3. Einlegung der Beanstandung Die Beanstandung muß nicht i n einer bestimmten Form erfolgen. Es genügt, daß der Zeuge ausdrücklich oder durch schlüssiges Verhalten zum Ausdruck bringt, er halte die Anordnung für unzulässig und sei dadurch i n seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen. 6 0 8 Das Gesetz schreibt dem Vorsitzenden nicht vor, einen Beteiligten über die Beanstandungsmöglichkeit nach § 238 Abs. 2 StPO zu belehren. Die Beleh-

604 Dazu, daß auch beeinträchtigende Anordnungen des Vorsitzenden im Rahmen der Sitzungspolizei, § 176 GVG, von dem Betroffenen nach § 238 Abs. 2 StPO beanstandet werden können, eingehend Erker, Beanstandungsrecht, S. 64 ff, 68; vgl. auch

Fuhrmann,

GA 1963, 68; Giesler, Ausschluß der Beschwerde, S. 339; Klein-

knecht/Meyer-Goßner, § 238 Rdn. 5 und 13 (anders aber § 176 Rdn. 16); LR/Gollwitzer, § 238 Rdn. 23. - A.A. KK/Mayr, § 176 GVG Rdn. 7. Vgl. hierzu auch den Problemkreis des Beschwerderechts gegen sitzungspolizeiliche Maßnahmen S. 339. 605 püj- den Zeugen im allgemeinen vgl. Granderath, MDR 1983, 799; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 241 Rdn. 20; Klöhn, Der Schutz der Intimsphäre, S. 145; KMR/Paulus, § 241 Rdn. 26. - Für ein Beanstandungsrecht nach § 242 StPO Erker, Beanstandungsrecht, S. 115; Rieß, Gutachten, C. 43. Die Frage, ob der Zeuge die Frage nach § 238 Abs. 2 oder 242 StPO beanstanden kann, lassen ausdrücklich offen BVerfGE 38, 105, 117; Humborg, JR 1966, 449; Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 162; Schmidt, Die Rechte des Zeugen, S. 52, sowie der Gesetzgeber selbst in § 406 f Abs. 2 S. 2 StPO. 6 0 6

KK/Pelchen, § 68 Rdn. 9; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 68 Rdn. 11; KMR/Paulus, § 68 Rdn. 16; Leineweber, MDR 1985, 638; ders. MDR 1990, 111. 607 w i r d dagegen einer aus anderen Gründen präsenten Person die Zeugenpflicht in der Hauptverhandlung auferlegt, so kann die entsprechende Anordnung des Vorsitzenden von dem Betroffenen mit der Begründung beanstandet werden, die Auferlegung der Zeugenpflicht gefährde ihn unzumutbar. 6 0 8

Erker, Beanstandungsrecht, S. 78; Kleinknecht/Meyer-Goßner, KMR/Paulus, § 238 Rdn. 46; LR/Gollwitzer, § 238 Rdn. 30.

§ 238 Rdn. 16;

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

333

rungspflicht gegenüber einem rechtsunkundigen gefährdeten Zeugen ergibt sich jedoch aus der gerichtlichen Fürsorgepflicht: Der Vorsitzende ist nicht nur verpflichtet, die materiellen Grundrechte des gefährdeten Zeugen zu beachten, er muß ihnen auch durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung Wirksamkeit verschaffen. 609 Dies setzt die Belehrung über die dem Zeugen zukommenden Rechtsbehelfe und damit auch über sein Beanstandungsrecht voraus. 6 1 0 4. Folgen der Beanstandung Über die Beanstandung entscheidet das Gericht durch Beschluß. 6 1 1 Vor der Entscheidung ist dem Zeugen Gelegenheit zu geben, die Gründe seiner Beanstandung darzulegen und zwar i n tatsächlicher wie i n rechtlicher Hinsicht, § 33 Abs. 1 StPO. 6 1 2 Der Beanstandung ist stattzugeben, wenn die Anordnung des Vorsitzenden unzulässig war, d.h. wenn sie gegen gesetzliche Vorschriften oder ungeschriebene Verfahrensgrundsätze verstoßen oder der Vorsitzende von seinem Ermessen fehlerhaft Gebrauch gemacht h a t . 6 1 3 Übertragen auf die Situation des gefährdeten Zeugen bedeutet dies: Hat der Vorsitzende Vorkehrungen zum Schutz des Zeugen verweigert, so hat das Gericht die entsprechenden Vorkehrungen zu beschließen, wenn es diese zum Schutz des Zeugen für erforderlich hält, der Vorsitzende mit seiner Weigerung also den Inhalt seiner Fürsorgepflicht gegenüber dem Zeugen verkannt h a t . 6 1 4 Wendet sich der Zeuge mit seiner Beanstandung gegen ihn gefährdende Fragen, so hat das Gericht diese Fragen zurückzuweisen, wenn es sie für unzulässig und damit ungeeignet i m Sinne § 241 StPO h ä l t . 6 1 5 Beanstandet der Zeuge, daß der Vorsitzende nicht 609

Eingehend hierzu oben S. 120 f. Eine Belehrungspflicht unter Fürsorgegesichtspunkten bejahen auch KK/Treier, § 238 Rdn. 11; KMR/Paulus, §238 Rdn. 35; LR/Gollwitzer, § 238 Rdn. 30; Wulf DRiZ 1981,381. 611 KMR/Paulus, § 238 Rdn. 50. "Gericht" kann auch der Vorsitzende sein, wenn er als Strafrichter entscheidet, vgl. Erker, Beanstandungsrecht, S. 113ff.; KMR/Paulus, § 238 Rdn. 39; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 1455. 612 Hierzu oben S. 326. - Allgemein zum Anhörungsrecht der Beteiligten vor einer Entscheidung nach § 238 Abs. 2 StPO, vgl. Erker, Beanstandungsrecht, S. 98; Klein610

knecht/Meyer-Goßner,

§ 238 Rdn. 19; KMR/Paulus,

§ 238 Rdn. 50; LR/Gollwitzer,

§ 238 Rdn. 33, Eb. Schmidt, Lehrkommentar, § 33 Rdn. 2. 6 1 3

614

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 238 Rdn. 17.

Zur Möglichkeit, Verstöße gegen den Grundsatz fairen Verfahrens bzw. die gerichtliche Fürsorgepflicht zu beanstanden, eingehend Erker, Beanstandungsrecht, S. 88 ff, 93 ff 615 Dazu, daß rechtlich unzulässige Frage entgegen dem Wortlaut des § 241 Abs. 2 StPO stets zwingend zurückzuweisen sind, vgl. bereits oben S. 278 f.

334

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

von den Möglichkeiten des § 68 Abs. 2 oder 3 StPO Gebrauch gemacht hat, so ist dem stattzugeben, wenn die Anordnung des Vorsitzenden auf einer unzutreffenden Gefahrenprognose beruht hat oder die kollidierenden Interessen bei der Ermessensausübung fehlerhaft gewichtet wurden. Mit der fehlerhaften Abwägung hat der Vorsitzende in diesen Fällen stets auch seine Fürsorgepflicht gegenüber dem Zeugen verletzt. 6 1 6 Lehnt das Gericht den Antrag des Zeugen ab, so bedarf der Beschluß einer Begründung, § 34, 2. Alt. StPO. 6 1 7 II. Beschwerde, §§304Abs. 2, 305 S. 2 StPO Die Beschwerde dient dazu, gerichtliche Beschlüsse und Verfügungen anzufechten und von einem Gericht höherer Ordnung nachprüfen zu lassen. 1. Beschwerdebefugnis

des Zeugen

§ 304 Abs. 2 StPO stellt ausdrücklich klar, daß auch Zeugen Beschwerde erheben können, und zwar "gegen Beschlüsse und Verfügungen, durch die sie betroffen werden". 6 1 8 Betroffen im Sinne des § 304 Abs. 2 StPO ist der Zeuge, wenn er durch die Entscheidung in der Wahrnehmung geschützter Rechte oder rechtlich anerkannter Interessen beschränkt w i r d . 6 1 9 Der Zeuge ist danach beschwerdebefugt, wenn er durch die Entscheidung "beschwert" i s t . 6 2 0 2. Anfechtbare Entscheidungen § 304 Abs. 1 StPO läßt die Beschwerde gegen Beschlüsse und Verfügungen zu, "soweit das Gesetz sie nicht ausdrücklich einer Anfechtung entzieht". Die Begriffe Beschlüsse und Verfügungen sind dabei in einem umfassend weiten Sinne zu verstehen. Die Beschwerde kann danach gegen alle richterlichen

616 617 618

Hierzu Erker, Beanstandungsrecht, S. 95. Allgemeine Ansicht, vgl. nur Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 238 Rdn. 19. Zur Beschwerdebefugnis des Zeugen allgemein vgl. auch LR/Dahs, Vor § 48

Rdn. 8 a; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 107; Thomas, NStZ 1982, 489 Fn. 3. 619

Eilersiek, Beschwerde, S. 114. Auf die Unmittelbarkeit und Zielgerichtetheit der Beeinträchtigung kommt es dagegen nicht an, vgl. BGHSt 27, 175; Eilersiek, Beschwerde, S. 114; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 304 Rdn. 7. Wie sich aus dem Wortlaut des § 304 Abs. 2 StPO ("durch sie betroffen werden'1) ergibt, ist das tatsächliche Vorliegen einer Beschwer hier Voraussetzung der Zulässigkeit und nicht erst der Begründetheit der Beschwerde, so daß auf den hinsichtlich § 304 Abs. 1 StPO bestehenden Streit nicht einzugehen ist, vgl. aber den Überblick bei Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 1917 f., sowie Kaiser, Die Beschwer, S. 23 ff. 620

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

335

Maßnahmen eingelegt werden. 6 2 1 Der Anfechtung durch den Zeugen entzogen sind lediglich Verfügungen des Vorsitzenden, gegen die der Zeuge mit dem Rechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO vorgehen k a n n . 6 2 2 Eine weitere Einschränkung ergibt sich nicht, da der Zeuge unstreitig "dritte Person" i m Sinne § 305 S. 2 StPO i s t . 6 2 3 Häufig bedarf eine für den Zeugen gefährliche Verfahrensgestaltung keiner ausdrücklichen richterlichen Entscheidung. So ergibt sich z.B. die - den Zeugen gefährdende - Anwesenheit des Angeklagten und der Öffentlichkeit während der Vernehmung unmittelbar aus dem Gesetz, §§ 230 Abs. 1 StPO, 169 S. 1 GVG. Beantragt der Zeuge eine bestimmte Maßnahme zu seinem Schutz und wird über seinen Antrag nicht entschieden, so kommt i n diesem Unterlassen die stillschweigende Ablehnung des gestellten Antrags zum Ausdruck. Der Zeuge kann deshalb auch gegen das Unterlassen einer beantragten Entscheidung mit der Beschwerde vorgehen. 6 2 4 a) Zeugenladung Für den Beschuldigten ist anerkannt, daß er durch den i n der Ladung enthaltenen Befehl zum Erscheinen i n seiner Willensentschließungsfreiheit 625 bzw. i n seiner durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit 626 betroffen wird. Unstreitig hat der Beschuldigte daher das Recht, zumindest gegen eine mit einer Sanktionsandrohung nach § 133 Abs. 2 StPO verbundenen Ladung Beschwerde einzulegen. 6 2 7 Da die Zeugenladung stets mit einer Sanktionsandrohung verbunden ist, § 48 StPO, liegt es nahe, auch dem Zeugen ein Beschwerderecht i m Zusammenhang mit seiner Ladung einzuräumen, zumal kein sachlicher Grund dafür zu erkennen ist, warum die

621

KK/Engelhardt, § 304 Rdn. 1; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 304 Rdn. 1; KMR&aulus, §304 Rdn. 1. 62 2 Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 1948; allgemein hierzu Ell ersieh, Beschwerde, S. 117 f. 623 Vgl. nur SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 107. 624 BGH, NJW 1993, 1279, 1280; OLG Düsseldorf, MDR 1988, 164, 165; Eilersiek, Beschwerde, S. 65; KK/Engelhardt, § 304 Rdn. 3; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 304 Rdn. 3; KMR/Paulus, § 304 Rdn. 1; LR/Gollwitzer, § 304 Rdn. 8; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 1941. 62 5 Eb. Schmidt, JZ 1968, 362. 62 6 Welp, Zwangsbefugnisse, S. 18. 627 BGHSt 39, 96, 98; AK/Grundlach, § 133 Rdn. 17; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 133 Rdn. 9; LR/Hanack, § 133 Rdn. 17. Ein Beschwerderecht des Beschuldigten gegen eine einfache Ladung bejahen bereits Gössel, GA 1976, 62; KMR/Müller, § 133 Rdn. 7; KK/Boujong, § 133 Rdn. 15; Eb. Schmidt, JZ 1968, 362; SK/Rogall, § 133 Rdn. 16; Welp, Zwangsbefugnisse, S. 17 f.; Überblick bei Bachmann, Probleme des Rechtsschutzes, S. 144 ff.

336

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Willensentschließungs- und Handlungsfreiheit eines Zeugen weniger schutzwürdig ist als die Willensentschließungs- und Handlungsfreiheit eines Beschuldigten. Es entspricht jedoch ganz herrschender Meinung, daß der Zeuge kein Beschwerderecht gegen seine Ladung h a t . 6 2 8 Dies soll auch für den gefährdeten Zeugen gelten, für den die - in der Ladung ausgesprochene - Erscheinenspflicht nicht nur seine Handlungsfreiheit tangiert, sondern eine Gefahr für Leib und Leben begründet. Zum einen wird behauptet, der Zeuge könne seine Ladung nicht anfechten, da sie eine von der StPO nicht begründete, sondern vorausgesetzte allgemeine Staatsbürgerpflicht konkretisiere. 629 Übersehen wird dabei, daß die staatsbürgerliche Pflicht einer staatlichen Anordnung nicht ihren Eingriffscharakter nimmt, sondern das eingreifende staatliche Verhalten lediglich rechtfertigt. Nach § 304 Abs. 2 StPO hängt die Beschwerdemöglichkeit einer Person als Zeuge davon ab, ob sie durch eine richterliche Anordnung betroffen, d.h. beschwert wird und nicht davon, ob ihr diese Beschwer i m Interesse der Allgemeinheit als staatsbürgerliche Pflicht auferlegt wird. Die Einordnung der Zeugenpflicht als öffentlich-rechtliche Pflicht ist daher kein Argument, dem Zeugen die ihm vom Gesetz in §§ 304, 305 S. 2 StPO vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten zu versagen. Zum anderen wird dem Zeugen ein Beschwerderecht mit der Begründung abgesprochen, er könne das Nichtbefolgen der Ladung nach § 51 Abs. 2 StPO entschuldigen. 630 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß § 304 Abs. 1, letzter Hs. StPO einem Betroffenen nur dann das Beschwerderecht nimmt, wenn das Gesetz die richterliche Anordnung ausdrücklich einer Anfechtung entzieht. Auch wenn man diese Regelung erweiternd dahin interpretiert, daß die Beschwerde ausgeschlossen ist, wenn das Gesetz andere Rechtsbehelfe zur Verfügung stellt 6 3 1 , wäre die Ladung nur dann einer Anfechtung nach § 304 StPO entzogen, wenn § 51 Abs. 2 StPO dem Zeugen einen anderen Rechtsbehelf gegen die Ladung zur Verfügung stellen würde. Dies ist jedoch gerade nicht der Fall. Nach § 51 Abs. 2 StPO unterbleibt lediglich "die Auferlegung der Kosten und die Festsetzung eines Ordnungsmittels" gegen den trotz Ladung nicht erschienenen Zeugen, "wenn das Ausbleiben des Zeugen rechtzeitig genügend entschuldigt wird". Nach § 51 Abs. 2 StPO wird nicht über die Rechtmäßig628

OLG Hamm, MDR 1978, 690; OLG Köln, NJW 1981, 2480, 2481; KKJTreier,

§ 214 Rdn. 13; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 214 Rdn. 15; KMR/Paulus, 18; LR/Gollwitzer, § 214 Rdn. 23; SK/Schlüchter, § 214 Rdn. 36. 6 2 9

KMR/Paulus,

630

OLG Köln, NJW 1981, 2480, 2481; KMR/Paulus,

LR/Gollwitzer, 631

§ 48 Rdn. 18; LR/Gollwitzer,

§ 214 Rdn. 23; SK/Schlüchter,

§ 48 Rdn.

§ 214 Rdn. 23.

§ 214 Rdn. 28;

§ 214 Rdn. 36.

Vgl. nur Eilersiek, Beschwerde, S. 117 fRanft, Strafprozeßrecht, Rdn. 1948.

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

337

keit der Ladung entschieden, sondern über die Entschuldigung des nichterschienenen Zeugen. Daß § 51 Abs. 2 StPO einem Zeugen, der gegen die Ladungsverfügung vorgehen möchte, keinen angemessenen Schutz bietet, zeigt sich schon daran, daß der Zeuge "der Eskalation wiederholter und sich steigernder Ordnungsmittel" ausgesetzt wird, um dann eine für ihn ungewisse richterliche Entscheidung zu erhalten. 6 3 2 Schließlich wird argumentiert, daß der Zeuge nach § 220 StPO auch unmittelbar vom Angeklagten geladen werden könne und die StPO eine Beschwerde gegen eine solche Ladung nicht vorsieht. 6 3 3 Der Umstand, daß das Gesetz dem Zeugen i n einem speziellen Sonderfall gegen Grundrechtsbeeinträchtigungen von seiten des Angeklagten keinen Rechtsschutz zur Verfügung stellt, kann jedoch kein Argument sein, ihm diesen Rechtsschutz auch gegen staatliche Grundrechtsbeeinträchtigungen zu versagen. Als Ergebnis ist daher festzuhalten: Solange das Gesetz die richterliche Ladungsverfügung nicht ausdrücklich der Anfechtung entzieht oder einen anderen Rechtsbehelf hiergegen vorsieht, ergibt sich aus §§ 304 Abs. 2, 305 S. 2 StPO die Zulässigkeit der Beschwerde. Daß dem Zeugen gleichwohl dieses Recht aberkannt wird, zeigt, i n welchem Ausmaß der Person des Zeugen immer noch ausschließlich die Rolle eines "Beweismittels" zugewiesen wird, während allein der Beschuldigte als Träger eigener (Grund-) Rechte anerkannt wird. b) Zulassung von Fragen Nach allgemeiner, dem Wortlaut des § 304 Abs. 2, § 305 S. 2 StPO entsprechender, Auffassung kann der Zeuge gegen die Entscheidung des Gerichts, mit der eine ihn i n seinen Rechten betreffende Frage zugelassen wird, Beschwerde einlegen. 6 3 4 Der gefährdete Zeuge kann danach die Zulassung von Fragen mit der Beschwerde anfechten, deren Beantwortung seine Gefährdungslage verschlechtern würde. Dies gilt sowohl für Fragen zur Person wie auch zur Sache. c) Nichtausschluß der Öffentlichkeit Gegen eine Entscheidung, mit der sein Antrag auf Ausschluß der Öffentlichkeit abgelehnt wird, soll der Zeuge nach wohl noch herrschender Meinung

632

So ausdrücklich Welp, Zwangsbefugnisse, S. 29. OLG Köln, NJW 1981, 2480, 2481. 634 BGHSt 21, 334, 359; KK/Treier, § 241 Rdn. 8; KMR/Paulus, § 241 Rdn. 27; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 241 Rdn. 22; Klöhn, Der Schutz der Intimsphäre, S. 145; Leineweber, MDR 1985, 638; LR/Gollwitzer, § 241 Rdn. 28; Rieß, Gutachten, C 43 Fn. 197; Schmidt, Die Rechte des Zeugen, S. 52, 76. 633

2

Zacharias

338

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

kein Beschwerderecht haben. 6 3 5 Diese Ansicht muß als schlicht unverständlich bezeichnet werden, zumal keiner ihrer Vertreter eine Begründung dafür geben kann, warum die §§ 304 Abs. 2, 305 S. 2 StPO hier - anders als z.B. bei der Zulassung von Fragen - nicht anwendbar sein sollen. Daß die Pflicht, vor der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung auszusagen, das allgemeine Persönlichkeitsrecht eines jeden Zeugen und insbesondere sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung beeinträchtigen kann, wird heute nicht mehr bestritt e n . 6 3 6 Genauso wenig bestritten wird, daß unter bestimmten Umständen von der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung eine Gefahr für Leben, Gesundheit, Freiheit und andere Rechtsgüter des Zeugen ausgehen k a n n . 6 3 7 Da weder das Gerichtsverfassungsgesetz noch die Straiprozeßordnung an irgendeiner Stelle den Beschluß über die Aufrechterhaltung der Öffentlichkeit der Beschwerde entzieht, muß es bei dem Grundsatz der §§ 304 Abs. 2, 305 S. 2 StPO bleiben: Ein Zeuge, dessen Rechte oder rechtlich geschützte Interessen durch die Öffentlichkeit betroffen werden, kann Beschwerde gegen den Beschluß einlegen, mit dem sein Antrag auf Ausschluß abgelehnt w u r d e . 6 3 8 d) Nichtausschluß des Angeklagten Gefährdet die Anwesenheit des Angeklagten den Zeugen 6 3 9 , so wird er durch die Entscheidung, den Angeklagten nicht auszuschließen, i n seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen. §§ 304 Abs. 2, 305 S. 2 StPO räumen dem Zeugen i n diesen Fällen das Recht ein, die Entscheidung mit der Beschwerde anzufechten. 640 e) NichtVerlegung an sicheren Ort Lehnt der Vorsitzende einen Antrag ab, die Hauptverhandlung zum Schutz des Zeugen an einen sicheren Ort zu verlegen 6 4 1 , so hat der betroffene Zeuge 6 3 5

Kissel , GVG, § 172 Rdn. 19; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

6 3 6

Vgl. nur Dahs, NJW 1984, 1924 f.; Kissel, GVG, § 169 Rdn. 14; Klöhn, Der

§ 174 GVG Rdn. 19.

Schutz der Intimsphäre, S. 379 ff.; Oders ky, Pfeiffer-FS, S. 325 ff; Witt kämper, BB 1963, 1162 f. Speziell zur Beeinträchtigung des Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung Wente, StV 1988, 216. 637 Zur Gefahrdungsrelevanz der Öffentlichkeit oben S. 218. 638 So auch Klöhn, Der Schutz der Intimsphäre, S. 390; Wittkämper, BB 1963, 1162; im Grundsatz jetzt auch LR/K Schäfer, 23. Aufl., § 174 GVG Rdn. 15, der jedoch die Frage, wie sich der Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung mit einem solchen Beschwerderecht verträgt, für weiter klärungsbedüiftig hält. 639 Zur Gefahrdungsrelevanz der Anwesenheit des Angeklagten vgl. oben S. 197. 640 In Rechtsprechung und Literatur wurde eine Beschwerdemöglichkeit des durch die Anwesenheit des Angeklagten gefährdeten Zeugen bisher offenbar nicht diskutiert. 641 Stellt der Zeuge den Antrag erst in der Verhandlung, so kann er die ablehnende Anordnung des Vorsitzenden nach § 238 Abs. 2 StPO beanstanden und erst danach gegen die Entscheidung des Gerichts - mit der Beschwerde vorgehen.

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

339

das Recht, seinen Schutz mit der Beschwerde durchzusetzen, §§ 304 Abs. 2, 305 S. 2 StPO. 6 4 2 Die Beschwer des Zeugen liegt darin, daß er neben den allgemeinen Nachteilen, die die Erfüllung seiner Zeugenpflicht mit sich bringt, einer besonderen Gefahrdung ausgesetzt wird. Eine Mindermeinung verneint dagegen ein Beschwerderecht des Zeugen gegen Anordnungen nach § 213 StPO. 6 4 3 Begründet wird dies zum einen unter Hinweis auf das Verfahren nach § 51 StPO, zum anderen aber auch damit, daß eine Beschwerde das Hauptverfahren verzögern und die Terminshoheit des Vorsitzenden, § 213 StPO, beeinträchtigen w ü r d e . 6 4 4 Daß § 51 StPO ungeeignet ist, das Beschwerderecht des Zeugen einzuschränken, wurde bereits gezeigt. 6 4 5 Das Argument der Verfahrensverzögerung und der richterlichen Entscheidungshoheit betrifft notwendigerweise jedes Rechtsmittel. Ihm muß daher entgegengehalten werden, daß dem Gesetzgeber diese Folgen eines jeden Rechtsmittels bekannt waren, als er die Beschwerdevorschriften der §§ 304 Abs. 2, 305 S. 2 StPO erließ. Die Einwände der Gegenmeinung vermögen daher nicht zu überzeugen. Der Zeuge kann gegen die NichtVerlegung der Hauptverhandlung Beschwerde erheben. f) Maßnahmen der Sitzungspolizei Zu seinem Schutz kann der Zeuge Maßnahmen der Sitzungspolizei, wie etwa die Durchsuchung der Zuhörer nach Waffen, beantragen. Verstöße gegen seinen Anspruch auf sitzungspolizeilichen Schutz soll der Zeuge dagegen nur i m Wege der Dienstaufsichtsbeschwerde durchsetzen können. 6 4 6 Begründet wird der Ausschluß der Beschwerde zum einen damit, daß sitzungspolizeiliche Anordnungen des Vorsitzenden keine Verfügungen i.S. § 304 Abs. 1 StPO, sondern Akte der Verwaltung seien. 6 4 7 Diese Prämisse ist jedoch unzutreffend. Die Wahrnehmung der Sitzungspolizei stellt keinen (nichtrechtsprechenden) Akt der öffentlichen Gewalt, sondern einen Akt prozessualer Natur dar. Die Ausübung der Sitzungspolizei dient dazu, durch ei-

642 Allgemein zur Zulässigkeit der Beschwerde gegen Anordnungen des Vorsitzenden nach § 213 StPO (Ablehnung eines Antrages auf Terminsverlegung) OLG Frankfurt/M., StV 1995, 9 f.; OLG Hamburg, StV 1995, 11; OLG Hamm, MDR 1975, 245; OLG Karlsruhe, StV 1991, 509; OLG München, NStZ 1994, 451; LG Hamburg,

StV 1988, 195; KK/Treier,

§ 213 Rdn. 6; LR/Gollwitzer,

§ 213 Rdn. 16.

643

OLG Düsseldorf, JZ 1986, 864, das jedoch ausdrücklich daraufhinweist, daß sich der Ausschluß der Beschwerde für den Zeugen nicht aus dem Gesetz ergibt; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 213 Rdn. 8.

644

OLG Düsseldorf, JZ 1986, 864; KMR/Paulus, § 213 Rdn. 16. 645 Vgl oben a) Beschwerde gegen die Zeugenladung. 646

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 176 GVG Rdn. 16; Kühne, Strafprozeßlehre,

Rdn. 497; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 104. 647

2*

LR/K Schäfer, 23. Aufl., § 176 GVG Rdn. 26.

340

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

nen störungsfreien Verfahrensablauf das Prozeßziel einer verfahrensabschließenden Entscheidung zu erreichen. 6 4 8 Abgesehen davon, würde diese Ansicht den Rechtsschutz des Zeugen nicht ausschließen, sondern verfassungsrechtlich untermauern: Stellt die - den Zeugen beeinträchtigende Anordnung - einen Akt der öffentlichen Gewalt und nicht der Rechtsprechung dar, so ergibt sich der Anspruch des Zeugen auf gerichtlichen Rechtsschutz unmittelbar aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG: "Wird jemand durch die öffentliche Gewalt i n seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen." 6 4 9 Darüber hinaus findet sich die These, der Ausschluß der Beschwerde gegen Anordnungen nach § 176 GVG ergebe sich aus § 181 Abs.l G V G . 6 5 0 Diese Behauptung muß überraschen, denn § 181 Abs. 1 GVG hat folgenden Wortlaut: "Ist i n den Fällen der §§ 178, 180 ein Ordnungsmittel festgesetzt, so kann gegen die Entscheidung binnen der Frist von einer Woche nach ihrer Bekanntmachung Beschwerde eingelegt werden, sofern sie nicht von dem Bundesgerichtshof oder einem Oberlandesgericht getroffen ist." § 181 G V G regelt also allein die besonderen Modalitäten der Beschwerde gegen Ordnungsmittel. Davon, daß diese Vorschrift Anordnungen nach § 176 GVG "ausdrücklich einer Anfechtung entzieht", wie es § 304 Abs. 1 letzter Hs. StPO für den Ausschluß der Beschwerde fordert, kann keine Rede s e i n . 6 5 1 Wenn § 181 GVG gleichwohl als abschließende Regelung angesehen wird, so hat dies seinen Grund darin, daß Anordnungen nach § 176 GVG i n aller Regel die Rechte eines Beteiligten nicht beeinträchtigen, sondern sich darin erschöpfen, die öffentliche Ordnung der Verhandlung aufrechtzuerhalten. Werden durch eine Anordnung nach § 176 GVG dagegen die Rechte eines Beteiligten betroffen, so kann mit der Vorschrift des § 181 GVG nicht der von § 304 StPO umschriebene Anwendungsbereich der Beschwerde überspielt werden. 6 5 2

648

So zutreffend Eilersiek,, Beschwerde, S. 133; vgl. auch OLG Karlsruhe, NJW 1977, 309; Giesler, Ausschluß der Beschwerde, S. 338. 649 Dazu BVerfGE 87, 334, 338; vgl. auch Erker, Beanstandungsrecht, S. 66; Krekeler, NJW 1979, 189. 650 OLG Nürnberg, MDR 1969, 600; OLG Zweibrücken, StV 1988, 519; Kissel , GVG § 176 Rdn. 48 m.w.N.; LR/K Schäfer, 23. Aufl., § 176 GVG Rdn. 26. 651 Ob der historische Gesetzgeber selbst einen solche Ausschlußwirkung intendierte, läßt sich den Gesetzesmaterialien {Hahn, Materiahen zu dem Gerichtsverfassungsgesetz, Abt. 1, S. 340, 882) keineswegs eindeutig entnehmen, wie das OLG Nürnberg, MDR 1969, 600 meint. Zweifel auch bei Erker, Beanstandungsrecht, S. 65 Fn. 87. 652 Vgl. hierzu auch OLG Karlsruhe, NJW 1977, 309 f.; ; Eilersiek, Beschwerde, S. 134; Giesler, Ausschluß der Beschwerde, S. 339 f. Für eine analoge Anwendung

von § 181 GVG: Amelung, NJW 1979, 1690 f.; Krekeler, NJW 1979, 190.

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

341

g) Anordnung von Ungehorsamsfolgen Verweigert ein Zeuge unter Hinweis auf seine Gefahrdungslage die Erfüllung der ihm auferlegten Zeugenpflichten und werden gegen ihn die Ungehorsamsfolgen nach §§51, 70 StPO angeordnet, so steht dem Zeugen nach allgemeiner Ansicht gegen diese Anordnung das Recht der Beschwerde z u . 6 5 3 h) Informationsweitergabe Insbesondere i m Zwischenverfahren kann es vorkommen, daß gefahrdungsrelevante Informationen über die Person des Zeugen auf Anordnung des Vorsitzenden oder des Gerichtes an Dritte weitergegeben werden. Zu denken ist etwa an die Mitteilung der Zeugenanschrift an den Angeklagten nach § 222 Abs. 1 S. 1 StPO oder an die Mitteilung des Inhaltes der Zeugenaussage an den inhaftierten Beschuldigten nach § 115 Abs. 3 StPO 6 5 4 . Führt diese Anordnung dazu, daß sich die Gefahrdungslage des Zeugen verschlechtert, so stellt sie für den Zeugen eine selbständige Beschwer dar, die er mit der Beschwerde nach §§ 304 Abs. 2, 305 S. 2 StPO angreifen k a n n . 6 5 5 3. Einlegung der Beschwerde Der gefährdete Zeuge hat die Beschwerde bei dem Gericht, von dem die angefochtene Entscheidung erlassen ist, zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich einzulegen, § 306 Abs. 1 StPO. Eine Belehrung über das Beschwerderecht ist in der Strafprozeßordnung nur für die sofortige Beschwerde vorgesehen, § 35 S. 1 StPO. Die gerichtliche Fürsorgepflicht gebietet jedoch, den rechtsunkundigen gefährdeten Zeugen auch über sein Recht zur Beschwerde nach § 304 Abs. 2 StPO zu belehren. 656

653 Eilersiek, Beschwerde, S. 114, Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 576; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 51 Rdn. 28; Klöhn, Der Schutz der Intimsphäre, S. 157; LR/Dahs, § 51 Rdn. 28; KMR/Paulus, § 51 Rdn. 51; Wulf, DRiZ 1981, 381. 654 Hierzu auch S. 210. 655 Zur Zulässigkeit der Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen eine den Zeugen gefährdende Informationsweitergabe im Haftbeschwerdeverfahren vgl. KG, StV 1993, 370. In Fällen der Zeugengefahrdung muß dann aber erst recht der unmittelbar betroffene Zeuge beschwerdebefugt sein. - Da dem Zeugen staatliche Anordnungen, durch die er in seinen Rechten betroffen wird, nach § 35 StPO bekanntzumachen sind, besteht für den Zeugen auch die faktische Möglichkeit, von dem ihm zukommenden Rechtsschutz Gebrauch zu machen. 656 Zur Belehrungspflicht unter Fürsorgegesichtspunkten hinsichtlich des Beanstandungsrechts des Zeugen aus § 238 Abs. 2 StPO vgl. oben S. 331.

342

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

4. Folgen der Beschwerde a) Abhilfemöglichkeit Erachtet das Gericht oder der Vorsitzende, dessen Entscheidung angefochten wird, die Beschwerde für begründet, so haben sie ihr abzuhelfen, § 306 Abs. 2, 1. Hs. StPO. Andernfalls ist die Beschwerde sofort, spätestens vor Ablauf von drei Tagen, dem übergeordneten Gericht als dem Beschwerdeger i c h t 6 5 7 vorzulegen, §§ 306 Abs. 2, 2. Hs. StPO. b) Aufschiebende Wirkung, § 307 Abs. 2 StPO Für den Rechtsschutz des gefährdeten Zeugen ist es von entscheidender Bedeutung, ob seine Beschwerde den Vollzug der gefährdenden Maßnahme hemmt oder nicht. Ohne aufschiebende Wirkung wäre die Beschwerde i n weiten Bereichen sinnlos, da sich die Gefährdungslage für den Zeugen mit Vollzug der angefochtenen Maßnahme unwiederbringlich verschlechtert h a t . 6 5 8 Nach § 307 Abs. 1 StPO hemmt die Beschwerde grundsätzlich nicht den Vollzug der angefochtenen Entscheidung. Hierdurch sollen Verfahrensverzögerungen verhindert werden, die mit einem Abwarten auf die Beschwerdeentscheidung zwangsläufig verbunden wären. 6 5 9 Bereits das Ausgangsgericht kann jedoch i m Rahmen seiner Fürsorgepflicht oder auf Antrag des Zeugen die Aussetzung der Vollziehung anordnen, § 307 Abs. 2 StPO. Da es dem Gesetzgeber nicht möglich war, alle Fälle vorauszusehen, i n denen sich eine Aussetzung rechtfertigen läßt, hat er es den Gerichten überlassen, den sofortigen Vollzug bestimmter Entscheidungen zu unterbinden und auf diese Weise etwaige Härten zu vermeiden. 6 6 0 Voraussetzung hierfür ist, daß das Gericht i m Rahmen seines Ermessens zu dem Ergebnis gelangt, daß die Schutzinteressen des Zeugen die "Vollzugsinteressen" überwiegen. 661 I m einzelnen hat das entscheidende Gericht folgende Interessen abzuwägen:

657

Vgl. §§ 73 Abs. 1 (LG), 121 Abs. 1 Nr. 2 (OLG), 135 Abs. 2 GVG (BGH). Das Beschwerdegericht hätte die Beschwerde des Zeugen als unzulässig zu verwerfen, vgl. Humborg, JR 1966, 451. Auch die Beschwerde zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der vollzogenen Maßnahme wäre nach der Rechtsprechung unzulässig, vgl. nur BGHSt 28, 57, 58. Da eine "Fortsetzungsfeststellungsbeschwerde" für den Schutz des Zeugen zu spät kommt, braucht auf den Streit um ihre Zulässigkeit hier nicht eingegangen zu werden, vgl. aber den Überblick bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, Vor § 296 Rdn. 18; speziell zur Beschwerde des Zeugen Klöhn, Der Schutz der Intimsphäre, S. 146 flf. 65 9 Eilersiek, Beschwerde, S. 33, 15%; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 1964. 660 Zur Entstehungsgeschichte der Regelung vgl. Eilersiek, Beschwerde, S. 159. 658

6 6 1 Vgl. nur Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 307 Rdn. 2; KMR/Paulus, LR/Gollwitzer, § 307 Rdn. 5; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 1967.

§ 307 Rdn. 6;

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

343

aa) Staatliches Beschleunigungsinteresse Um die Wiederherstellung des Rechtsfriedens durch das Strafverfahren zu gewährleisten, muß sichergestellt werden, daß das Strafverfahren seine Aufgabe der umfassenden Sachverhaltserforschung als Grundlage eines gerechten Urteils effektiv erfüllen k a n n . 6 6 2 Eine schnelle und wirksame Strafverfolgung hat einen bedeutenden generalpräventiven Effekt. 6 6 3 Das Gewicht des staatlichen Beschleunigungsinteresses bestimmt sich nach der Dauer der Verfahrensverzögerung sowie der Bedeutung der Sache, d.h. der von der angeklagten Tat ausgehenden Störung des Rechtsfriedens. 664 bb) Beschleunigungsinteresse des Angeklagten Der Angeklagte hat ein schutzwürdiges Interesse an einem möglichst zügigen Abschluß des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens. Die Verfahrensdauer stellt für jeden Angeklagten eine zunehmende Belastung d a r . 6 6 5 Von der Rechtsprechung wird das Beschleunigungsinteresse des Angeklagten in dem sog. Prozeßgrundrecht auf faires Verfahren 666 bzw. in Art. 6 Abs. 1 S. 1 M R K 6 6 7 verankert. Befindet sich der Angeklagte in Untersuchungshaft, so ergibt sich die Schutzwürdigkeit dieses Interesses unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 G G . 6 6 8 Maßgeblich für das Gewicht des Beschleunigungsinteresses des Angeklagten ist insoweit das "Ausmaß der mit dem Andauern des schwebenden Verfahrens verbundenen Belastung". 669 Das Ausmaß der Belastungen bestimmt sich wiederum nach den allgemeinen Kriterien zur Gewichtung der Schwere der drohenden Nachteile. Entscheidend sind also die Dauer der Verzögerung sowie die Bedeutung des betroffenen Rechtsgutes. 670 Von Bedeutung 662 Zum Effizienzgebot staatlichen Handelns allgemein vgl. Gallwas, Der Mißbrauch von Grundrechten, S. 94 fif.; Hill, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, § 156 Rdn. 40. Zu dem "öffentlichen Interesse an der Effizienz des (Straf-) Verfahrens" vgl. BVerfGE 38, 105, 118; BVerfG, StV 1993, 313, 315. Speziell zum Beschleunigungsgebot im Strafverfahren Bernsmann, ZRP 1994, 330. 663 So ausdrücklich Nr. I 2. der Richtlinien zur Öffentlichkeitsfahndung, abgedruckt als Anlage Β zu den RiStBV bei Kleinknecht/Meyer-Goßner. 664 Eingehend zum Kriterium der Bedeutung der Sache oben S. 127 f. 665 So verfestigen sich z.B. mit zunehmender Verfahrensdauer die nachteiligen Wirkungen für das Selbstdarstellungsrecht des Angeklagten aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. 666 BVerfG, NJW 1984, 967; BVerfG, NJW 1992, 2472; BVerfG NJW 1993, 3254; BVerfG; NJW 1995, 1277. - Zur Herleitung dieses Grundsatzes aus den Grundrechten vgl. oben S. 121. 667 BGH, NStZ 1995, 335, 336, mit Anm. Uerpmann, NStZ 1995, 336. 668 BVerfG, StV 1995, 199. 669 BVerfG, NJW 1984, 967; OLG Stuttgart, JR 1994, 81, 83; vgl. auch Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren, S. 160 ff 670 Eingehend zum Kriterium der Schwere der drohenden Nachteile oben S. 132.

344

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

ist aber auch die Beziehung des Angeklagten zu der Verzögerung des Verfahrens. Der Angeklagte kann sein Beschleunigungsinteresse selbst relativieren, z.B. dann, wenn ihm die Gefahrdung des Zeugen zuzurechnen und er somit selbst dafür verantwortlich ist, daß der Zeuge Schutz bedarf und diesen gerichtlich geltend machen muß. 6 7 1 cc) Schutzinteresse des Zeugen Das Interesse des Zeugen ist darauf gerichtet, den Vollzug der ihn gefährdenden Anordnung bis zur Entscheidung über seine Beschwerde auszusetzen. Für die Gewichtung des Aussetzungsinteresses entscheidend sind die Nachteile, die sich für den Zeugen aus der sofortigen Vollziehung ergeben. Das Gericht hat hierbei zu untersuchen, welche Rechtsgüter des Zeugen betroffen sind, ob diese Rechtsgüter durch die sofortige Vollziehung irreparabel beeinträchtigt werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit die Aussetzung der Vollziehung dazu führen wird, daß die Beeinträchtigung unterbleibt, welche Erfolgsaussichten also die Beschwerde des Zeugen h a t . 6 7 2 Ein besonderes Gewicht erhält das Schutzinteresse des Zeugen, wenn die Gefährdung von Leben, Gesundheit oder Freiheit im Räume steht, wenn diese Gefährdung nach Vollzug der angefochtenen Maßnahme nicht mehr rückgängig zu machen wäre 6 7 3 und wenn die angefochtene Maßnahme auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, die dem Gericht auf der Tatbestandsseite einen weiten Beurteilungsspielraum einräumt und die Rechtsfolge in das Ermessen des Gerichts stellt, so daß es keineswegs unwahrscheinlich ist, daß das Beschwerdegericht zu einer anderen Entscheidung gelangt. 6 7 4 Zu denken ist hier z.B. an § 68 Abs. 2 und 3 StPO (besteht Anlaß zur Besorgnis einer Gefährdung, so kann), aber auch an die §§ 247 S. 2, 2. Alt. StPO, 172 Nr. 1 a GVG.

671

Allgemein hierzu oben S. 133.

6 7 2

Vgl. nur Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 307 Rdn. 2; Schmidt, Die Rechte des

Zeugen, S. 76. 673 Der Aspekt der Irreparabilität eines Schadens wird vom BVerfG als ausschlaggebend für die hier vorzunehmende Abwägung angesehen, vgl. nur BVerfG, NJW 1994, 717, 718: Aus Art. 19 Abs. 4 GG folgt "das Verfassungsgebot, soweit als möglich zu verhindern, daß durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme Tatsachen geschaffen werden, die auch dann, wenn sich die Maßnahme bei richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können". Vgl. auch die Aussetzungsentscheidung des OLG Frankfurt, NJW 1976, 303 (Ordnungshaft nach § 178 GVG) sowie den Sachverhalt von BGHSt 21, 334, 359 (Unzulässigkeit der Frage an den Zeugen, ob sein Vater "politisch belastet" sei, § 68 a StPO). Im übrigen ist dieser Aspekt ausschlaggebend dafür gewesen, daß das Gesetz in bestimmten Fällen selbst die aufschiebende Wirkung der Beschwerde anordnet, vgl. z.B. §§ 81 Abs. 4 S. 2, 231 a Abs. 3 S. 3 StPO. 674 Zum Prüfungsumfang des Beschwerdegerichts sogleich unter c.

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

345

dd) Fazit Greift der Zeuge mit seiner Beschwerde eine gerichtliche Ermessensentscheidung mit der nicht offensichtlich unschlüssigen Begründung an, ihm drohe bei Vollzug Gefahr für Leben, Gesundheit oder Freiheit, so ist bereits das Ausgangsgericht aufgrund seiner Schutzpflicht gegenüber dem Zeugen verpflichtet, die Aussetzung der Vollziehung nach § 307 Abs. 2 StPO anzuordnen. 6 7 5 In diesen Fällen gewinnt das Schutzinteresse des Zeugen ein solches Gewicht, daß es die Interessen des Gerichts und des Angeklagten an der sofortigen Vollziehbarkeit der Anordnung überwiegt. 676 c) Entscheidung des Beschwerdegerichts Das Beschwerdegericht überprüft die angefochtene Entscheidung in vollem Umfang. Es kann sowohl die Gefahrenprognose als auch das Ermessen des Ausgangsgerichts durch seine eigene Entscheidung ersetzen. 677 Es hat hierzu alle für die Entscheidung wesentlichen Tatsachen - i m Wege des Freibeweises - aufzuklären. 678 Um sich ein Bild von der Situation des gefährdeten Zeugen zu machen, kann das Beschwerdegericht eigene Ermittlungen anstellen bzw. die Polizei darum ersuchen, § 308 Abs. 2 StPO. Dem Angeklagten ist Gelegenheit zur Anhörung zu geben, § 308 Abs. 1 StPO, eine mündliche Verhandlung findet jedoch nicht statt, § 309 Abs. 1 StPO. Kommt das Beschwerdegericht zu dem Ergebnis, daß dem Zeugen der begehrte Schutz zu gewähren ist, so hebt es die angefochtene Entscheidung auf und ersetzt sie durch seine eigene, § 309 Abs. 2 StPO. Andernfalls ist die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen. 679

675

Zur Aussetzungspflicht des Ausgangsgerichts bei der drohenden Offenbarung von Betriebsgeheimnissen des Zeugen vgl. bereits Witt kämper, BB 1963, 1162. - Lehnt das Ausgangsgericht den Antrag des Zeugen auf Aussetzung ab, so kann der Zeuge gegen diese Entscheidung zwar wiederum Beschwerde einlegen, vgl. Kleinknecht/MeyerGoßner, § 307 Rdn. 3; KMR/Paulus, § 307 Rdn. 9. Diese Beschwerde kann jedoch den Vollzug der gefährdenden Maßnahme nicht verhindern, bietet dem Zeugen also keinen Schutz. 676 Dieses Ergebnis entspricht auch den Wertungen, die im Verwaltungsverfahren bei der Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs zum Tragen kommen, vgl. z.B. § 80 Abs. 4 S. 3, Abs. 5 VwGO, § 35 Abs. 1 S. 2 WPflG. Zu den Einzelheiten vgl. z.B. Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, § 32 Rdn. 40 f.; Kopp, VwGO, § 80 Rdn. 70, 82; Pietzner/Ronellenßtsch, Assessorexamen, § 56 Rdn. 17. 6 7 7

Humborg, JR 1966, 451; Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§309 Rdn. 4; Ranft,

Strafprozeßrecht, Rdn. 1969. - A.A. Eilersiek, Beschwerde, S. 34 ff : Nachprüfung nur auf Ermessensfehler. 67 8 Eilersiek, Beschwerde, S. 190 f.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, §309 Rdn. 3; KMR/Paulus, 679

§ 308 Rdn. 11; LR/Gollwitzer,

§ 309 Rdn. 2.

Eine weitere Beschwerde gegen die Entscheidung des Beschwerdegerichts ist nicht möglich, § 310 Abs. 2 StPO.

346

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

5. Stellungnahme Der gefährdete Zeuge hat das Recht, gerichtliche Anordnungen, die sich negativ auf seine Gefährdungslage auswirken, mit der Beschwerde anzufechten. Das Ausgangsgericht hat hierbei grundsätzlich die aufschiebende Wirkung der Beschwerde anzuordnen. Hierdurch kann das Strafverfahren erheblich verzögert werden. Der Vorsitzende sollte daher die gefährdungsrelevanten Verfahrensfragen vor Beginn der Zeugenvernehmung i m Wege des Freibeweises klären. B. Maßnahmen der Ermittlungsbehörden I. § 161 a Abs. 3 StPO Als einzige Norm der Straiprozeßordnung gewährt § 161 a Abs. 3 S. 1 dem Zeugen die Möglichkeit, gerichtlich gegen eine belastende Maßnahme der Staatsanwaltschaft vorzugehen. Das Verfahren richtet sich i m wesentlichen nach den Vorschriften über die Beschwerde, § 161 a Abs. 3 S. 3 StPO. 6 8 0 So hat die Anrufung des Gerichts keine aufschiebende Wirkung, § 161 a Abs. 3 S. 3 i.V.m. § 307 Abs. 1 StPO, die Staatsanwaltschaft kann jedoch i m Einzelfall die aufschiebende Wirkung anordnen, § 161 a Abs. 3 S. 3 i.V.m. § 307 Abs. 2 StPO. 6 8 1 Zuständig für die Entscheidung ist grundsätzlich das Landgericht, § 161 a Abs. 3 S. 2 StPO. Gegen die gerichtliche Entscheidung gibt es keine Anfechtungsmöglichkeit, § 161 a Abs. 3 S. 4 StPO. 1. Anordnung von Ungehorsamsfolgen Nach § 161 a Abs. 3 S. 1 StPO kann der Zeuge das Gericht anrufen, sofern die Staatsanwaltschaft gegen ihn Ungehorsamsfolgen gemäß § 161 a Abs. 2 i.V.m. §§ 51, 70 StPO verhängt hat. 2. Androhung von Ungehorsamsfolgen Die Vorschrift des § 48 StPO, wonach der Zeuge unter Hinweis auf die Folgen seines Ausbleibens zu laden ist, gilt nach dem Grundsatz der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens nicht für die Ladung eines Zeugen durch die Staatsanwaltschaft. Hält es die Staatsanwaltschaft für angemessen, die in der Ladung ausgesprochene Erscheinenspflicht nicht mit Zwangsmitteln

680

Zur Beschwerde vgl. oben S. 334 ff. In den seltenen Fällen, in denen die Anordnung - z.B. der Vorführbefehl - zu einer gravierenden Gefahrdung des Zeugen führt, kann der Staatsanwalt aufgrund seiner Schutzpflicht gegenüber dem Zeugen verpflichtet sein, die aufschiebende Wirkung anzuordnen, vgl. hierzu die Ausführungen zu § 307 Abs. 2 StPO oben S. 342. 681

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

347

durchzusetzen, so braucht er auf die Folgen des Ausbleibens nicht hinzuweisen. 6 8 2 Andererseits darf die Staatsanwaltschaft von den Maßregeln des § 51 StPO nur Gebrauch machen, wenn er diese vorher angedroht h a t . 6 8 3 Der Staatsanwalt entscheidet daher bereits mit der Ladung, ob er gegen einen ausbleibenden Zeugen nach § 161 a Abs. 2 i.V.m. § 51 StPO Sanktionen verhängen wird oder nicht. Der Zeuge kann daher bereits gegen die Androhung der entsprechenden Maßregeln in der Ladung gerichtliche Entscheidung beantragen, § 161 a Abs. 3 S. 1 StPO. 6 8 4 Gegen die Ladung selbst bietet § 161 a Abs. 3 StPO dagegen keinen gerichtlichen Schutz. Dieser Schutz ist auch nicht erforderlich, denn ohne vorherige Androhung von Zwangsmaßnahmen ist die Erscheinenspflicht nicht erzwingbar. Gegen eine Zeugenladung, die die Staatsanwaltschaft durch das Fehlen von Sanktionsandrohungen selbst unter den Vorbehalt der Zumutbarkeit gestellt hat, ist gerichtlicher Rechtsschutz nicht erforderlich. 685 II. § 161 a Abs. 3 StPO analog Das Verfahren nach § 161 a Abs. 3 StPO ist dem Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG deutlich überlegen, da ein sachnäheres Gericht entscheidet und Rechswegaufspaltungen vermieden werden. 6 8 6 In Rechtsprechung und Literatur hat sich daher die Ansicht herausgebildet, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung über den Wortlaut des § 161 a Abs. 3 S. 1 StPO hinaus auch gegen sonstige - im Zusammenhang mit der staatsanwaltschaftlichen Vernehmung getroffene - Maßnahmen mit Eingrififscharakter zuzulassen. 687 Für die Situation des Zeugen würde dies bedeuten, daß er gegen alle Maßnahmen der Staatsanwaltschaft, durch die seine Gefährdungslage verschlechtert wird, gerichtliche Entscheidung analog § 161 a Abs. 3 S. 1 StPO beantragen kann. Zu

682

Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 578; KKAVache,

Kleinknecht/Meyer-Goßner,

§ 161 a Rdn. 5; KMR/Müller

y

§ 161 a Rdn. 8;

§ 161 a Rdn. 3; LR/Rieß,

§ 161 a Rdn. 14. 683 Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 579; Ydeinknecht/Meyer-Goßner, § 161 a Rdn. 16. 684 Eisenberg, Persönliche Beweismittel, Rdn. 580; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 161 a Rdn. 21. Zu dem Rechtsschutzbedürfiiis des Beschuldigten, bereits gegen die Ankündigung einer sanktionsbewehrten Ladung gerichtlich Entscheidung nach § 163 a Abs. 3 StPO zu beantragen, vgl. BGHSt 39, 96, 98 f. 685 So zutreffend Bachmann > Probleme des Rechtsschutzes, S. 145 ff.; im Ergebnis ebenso KK/Wache, § 161 a Rdn. 20; LR/Rieß, § 161 a Rdn. 51. A A Amelung, Rechtsschutz, S. 31: § 23 EGGVG; Gössel, GA 1976, 62: § 161 a Abs. 3 S. 1 analog. 686 Zur Problematik der Rechtswegaufspaltung vgl. BGHSt 39, 112, 116. 687 BGHSt 39,112,118; LR/Rieß, § 161 a Rdn. 48.

348

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

denken ist hier insbesondere an die Gestattung der Anwesenheit anderer Personen während der Vernehmung. 6 8 8 Dieser Weg fuhrt zwar zu einem sachgerechten Ergebnis. Rechtsmethodisch ist er dem Gesetzesanwender jedoch versperrt. Voraussetzung jeder Analogie ist das Vorliegen einer Regelungslücke. Hieran fehlt es, wenn eine einschlägige Regelung existiert, dem Gesetzesanwender eine andere Regelung jedoch sinnvoller erscheint. Enthält die Strafprozeßordnung für eingreifende Maßnahmen des Staatsanwaltes keinen Rechtsbehelf, so greifen §§23 ff. EGGVG. Die Sachwidrigkeit dieser Regelung macht sie nicht unbeachtlich. 6 8 9 Die Analogie kann hier auch nicht auf das Gebot verfassungskonformer Rechtsfortbildung gestützt werden, denn §§ 23 ff. EGGVG gewähren den hier verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsschutz. § 161 a Abs. 3 S. 1 StPO ist daher nicht auf sonstige Maßnahmen der Staatsanwaltschaft mit Eingriffscharakter analog anzuwenden. Es ist vielmehr Sache des Gesetzgebers, eine entsprechende Regelung i n die Strafprozeßordnung aufzunehmen. III. §§ 23 ff. EGGVG Bei dem Verfahren nach §§23 ff. EGGVG handelt es sich um einen "Auffangrechtsbehelfder dann zum Tragen kommt, wenn das Gesetz andere Rechtsbehelfe nicht vorsieht, § 23 Abs. 3 EGGVG. 1. Antragsbefugnis Nach §§23 Abs. 1, 24 Abs.l EGGVG hat jedermann das Recht, gegen die Maßnahme einer Ermittlungsbehörde zur Regelung einzelner Angelegenheiten das Gericht anzurufen, sofern er geltend machen kann, hierdurch i n seinen Rechten verletzt zu sein. Der Antrag kann sich auch darauf richten, die Ermittlungsbehörde zur Vornahme einer bestimmten Maßnahme zu verpflichten, § 23 Abs. 2 EGGVG. 2. Antragsgegenstand Eine Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten ist jedes Verhalten mit Erklärungswert, das darauf gerichtet ist, eine Rechtsfolge herbeizuführ e n . 6 9 0 Da der Zeuge durch Maßnahmen der Staatsanwaltschaft, die seine Gefährdungslage verschlechtern, i n seinen Rechten betroffen wird, steht ihm hiergegen der Rechtsweg zu den Gerichten offen. 6 9 1 A u f den Streit, ob be-

688 68 9 690 691

So ausdrücklich LR/Rieß y § 163 a Rdn. 67. Otto, NStZ 1993, 353 Vgl. nur Klemme, Richterliche Kontrolle, S. 38 ff. Vgl. hierzu bereits S. 153 f.

4. Abschnitt: Schutz durch Veifahrensteilhabe

349

stimmte eingreifende Maßnahmen der Anfechtung entzogen sind, weil der Betroffene gegen diese sog. Prozeßhandlungen auf andere Weise Rechtsschutz erlangen k a n n 6 9 2 , braucht hier nicht eingegangen zu werden, da dem gefährdeten Zeugen keinerlei sonstiger Rechtsschutz zukommt. a) Anwesenheit weiterer Personen Sollte der vernehmende Staatsanwalt anderen Personen die Anwesenheit während der Zeugenvernehmung gestattet haben, so kann der Zeuge hiergegen das Gericht mit der Begründung anrufen, die Anwesenheit der konkreten Person würde zu einer Gefährdung seiner Person oder anderer Rechtsgüter führen.693 b) Gewähren von Akteneinsicht Allgemein wird in der Weitergabe von Akten mit personenbezogenen Informationen ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen, Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG, gesehen. 694 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung stellt jedoch lediglich einen Auffangtatbestand für den grundrechtlichen Schutz von Informationen dar. 6 9 5 Informationen, die 692

Überblick über den Streitstand bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 23 EGGVG Rdn. 10; vgl. auch Bachmann, Probleme des Rechtsschutzes, S. 127 ff; Klemme, Richterliche Kontrolle, S. 56 ff. 693 LR/Rieß, § 163 a Rdn. 67, will gegen die Gestattung der Anwesenheit anderer Personen den Rechtsweg analog § 161 a Abs. 3 StPO eröffnen, vgl. hierzu S. 347. 694 BT-Drucks. 10/5305, S. 18; OLG Bremen, NStZ 1989, 276, 277; OLG Celle, NJW 1992, 253; OLG Hamm, NStZ 1986, 236; OLG Karlsruhe, wistra 1993, 353, 356; OLG Koblenz, NJW 1986, 3093, 3094; LG Regensburg, NStZ 1985, 233. Vgl. auch Grandel, Strafakteneinsicht, S. 31, 100; Kissel , GVG, § 12 Rdn. 56, 61; Lüdersen, NStZ 1987, 251; Roxi η, Strafverfahrensrecht, § 19 Rdn. 67; v. Wedel/Eisenberg, NStZ 1989, 507; Wolter, GA 1988, 140. 695 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erweitert den Schutz personenbezogener Informationen auf an sich belanglose Einzelinformationen, bei denen jedoch die Gefahr besteht, daß sie mit anderen Informationen verbunden werden und aus der Vielzahl an sich unverfänglicher Einzelinformationen ein Persönlichkeitsbild erstellt wird, vgl. BVerfGE 63, 1, 45; 78, 77, 84; BVerfG, NJW 1996, 114. Diese Gefahr einer Verknüpfung kann sich aus der Art oder dem Zweck der Informationsweitergabe ergeben. Hinsichtlich der Art der Informationsweitergabe stehen die Gefahren einer computerunterstützten unbegrenzten und unkontrollierbaren Verfügbarkeit der Informationen im Vordergrund. Da die Akten im Strafverfahren bisher nicht mit Hilfe von Computern abgespeichert werden, kann diese Gefahr bei der Gewährung von Akteneinsicht und der Erteilung von Abschriften vernachlässigt werden (zum "Ausbaustand" der Datenverarbeitung bei den Strafverfolgungsorganen vgl. Mayer-Metzner, Auskunft aus Dateien, S. 76 ff). Die für die Bestimmung des Eingriffscharakters maßgebliche Gefahr einer Verknüpfimg ergibt sich jedoch regelmäßig aus dem Zweck der Akteneinsicht. Den Verfahrensbeteiligten werden die in den Akten enthalten Informationen über den Zeugen gerade deshalb weitergegeben, damit sie sich ein Bild von der Person

350

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

dem Schutzbereich spezieller Grundrechtsverbürgungen, wie z.B. Art. 14 GG, zuzuordnen sind, werden bereits durch diese Grundrechtsnormen vor staatlicher Informationsweitergabe geschützt. 6 9 6 Insoweit gewähren die Grundrechte jedem Zeugen ein Recht auf Geheimhaltung der ihn betreffenden Vorgänge durch die speichernde Stelle. 6 9 7 Für den gefährdeten Zeugen kann die Gewährung von Akteneinsicht darüber hinaus einen selbständigen Grundrechtseingriff begründen, nämlich dann, wenn sich seine Gefährdungslage durch die Informationsweitergabe verschlechtern w ü r d e . 6 9 8 Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft über die Gewährung von Akteneinsicht stellt damit grundsätzlich eine Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet der Strafrechtspflege dar, die von dem betroffenen Zeugen nach § 23 Abs. 1 EGGVG angegriffen werden k a n n . 6 9 9 Die Anrufung des Gerichts bietet dem gefährdeten Zeugen jedoch i n den meisten Fällen lediglich einen temporären Schutz, denn das Gesetz schreibt die Akteneinsicht an den Verteidiger nach Abschluß der Ermittlungen zwingend vor, § 147 Abs. 6 StPO. Relevant wird § 23 EGGVG daher regelmäßig nur, wenn sich der Zeuge nicht gegen die Akteneinsicht des Verteidigers nach § 147 Abs. 1 StPO, sondern gegen eine ihn gefährdende Informationsweitergabe an sonstige Personen 700 wendet.

des Zeugen machen können. Ihnen wird das Material geliefert, um in das Vorleben des Zeugen einzudringen und dort z.B. "Minuspunkte" zusammenzutragen, die die Glaubwürdigkeit des Zeugen mindern können, vgl. Böttcher, Kleinknecht-FS, S. 33. Im Hinblick auf die Weitergabe personenbezogener Informationen an Verfahrensbeteiligte gibt es daher kein "belangloses Datum". 696 So auch BVerfGE 67, 100, 143, sowie Otto, GA 1989, 293. Zum Schutz von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen vor Weitergabe an Dritte im Rahmen der Akteneinsicht vgl. Art. 260 b RiStBV. 697 Für das Persönlichkeitsrecht vgl. Grandel, Strafakteneinsicht, S. 36; Lüderssen, NStZ 1987, 256 Fn. 70. 698 Zum Eingriffscharakter staatlicher Gefahrdungsakte vgl. oben S. 108 ff. Zur Gefahrdungsrelevanz der Akteneinsicht des Verteidigers, § 147 Abs. 1 StPO, vgl. oben S. 205. 699 Eine Anrufung des Gerichts analog §§ 406 e Abs. 4 S. 2 i.V.m. 161 a Abs. 3 StPO, kommt dagegen nicht in Betracht, da es insoweit an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt, vgl. oben Π. - Α Α. im Hinblick auf den Rechtsschutz des Beschuldigten gegen die Gewährung der Akteneinsicht an den Verletzten BGHSt 39, 112 ff. mit abl. Anm. Otto, NStZ 1993, 352 f. 700 Die Straiprozeßordnung gewährt dem Sachverständigen, § 80 Abs. 2 StPO, und den Prozeßbevollmächtigten des Privatklägers (§ 385 Abs. 3 StPO), des Nebenklägers (§397 Abs. 1 StPO) sowie des Verletzten, der ein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht darlegt (§ 406 e Abs. 1 StPO), Akteneinsicht. Zur Akteneinsicht sind femer die Prozeßbevollmächtigten des Einziehungs- oder Verfallsbeteiligten (§ 434 Abs. 2 StPO) befugt. Darüberhinaus enthalten die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldver-

4. Abschnitt: Schutz durch Veifahrensteilhabe

351

c) Einbezug gefährdender Informationen Für einen wirksamen (Rechts-)Schutz des gefährdeten Zeugen ist es von entscheidender Bedeutung, ob er bereits dagegen vorgehen kann, daß ihn gefährdende Informationen zu den Verfahrensakten genommen werden. Da der Einbezug der gefährdenden Informationen den Betroffenen in seinen rechtlich geschützten Interessen verletzt, hat er nach Art. 19 Abs. 4 GG das Recht, den Schutz gerichtlich einzufordern, den die Ermittlungsbehörden ihm von Verfassungs wegen zu gewähren haben. Eine Person, die als Zeuge aussagen soll, kann daher beantragen, die Ermittlungsbehörden zu verpflichten, ihr Vertraulichkeit zuzusagen 701 oder zumindest bestimmte gefährdende Informationen aus den Verfahrensakten herauszuhalten und hierüber auch keine Auskünfte zu erteilen. 702 Die gefährdete Auskunftsperson kann darüber hinaus beantragen, den zuständigen Innen· oder Justizminister zur Abgabe einer Sperrerklärung zu verpflichten. 703 In all diesen Fällen begehrt die Auskunftsperson den Erlaß eines begünstigenden Verwaltungsaktes, § 23 Abs. 2 E G G V G . 7 0 4 3. Antragstellung und gerichtliche Entscheidung Der Antrag muß schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts oder eines Amtsgerichts gestellt werden, § 26 Abs. 1 EGGVG. Zuständig für die Entscheidung ist das Oberlandesgericht, § 25 EGGVG, seine Entscheidung ist unanfechtbar, § 29 Abs. 1 S. 1 EGGVG. a) Anfechtungsantrag aa) Aufschiebende Wirkung Der Anfechtungsantrag hat keine aufschiebende Wirkung, jedoch kann die Aussetzung der Vollziehung sowohl von dem Staatsanwalt als auch von dem Gericht angeordnet werden, § 29 Abs. 2 EGGVG i.V.m. § 307 Abs. 2 StPO. Aufgrund ihrer Fürsorgepflicht ist die Ermittlungsbehörde grundsätzlich ver-

fahren weitere Befugnisse, um Akteneinsicht an nicht verfahrensbeteiligte Behörden oder Privatpersonen zu gewähren (Nr. 185, 185 a RiStBV). 701 Zum Inhalt der Vertraulichkeitszusage siehe oben S. 285. 702 Zu den strafprozessualen Folgen eines solchen Vorgehens der Ermittlungsbehörden vgl. oben S. 304 ff. 703 Anders als bei der Klage eines Angeklagten gegen eine Sperrerklärung ist hier stets der Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG und nicht der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 VwGO eröflhet, da die von der Auskunftsperson während eines laufenden Strafverfahrens von den Ermittlungsbehörden begehrte Geheimhaltung stets eine Maßnahme "auf dem Gebiet der Strafrechtspflege" i.S. § 23 Abs. 1 EGGVG ist. 704 Zur Einordnung der Vertraulichkeitszusage als die Auskunftsperson begünstigenden Verwaltungsakt eingehend Honigl, Vertraulichkeitszusage, S. 25 ff.

352

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

pflichtet, die Aussetzung der Vollziehung anzuordnen, sofern der Zeuge geltend macht, durch den Vollzug der Anordnung an Leben, Gesundheit oder Freiheit gefährdet zu werden. 7 0 5 bb) Sachentscheidung Das Gericht überprüft die angefochtene Maßnahme in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht. Zeugengefährdende Ermessensentscheidungen überprüft das Gericht jedoch nur auf Ermessensmißbrauch oder -fehlgebrauch, § 28 Abs. 3 EGGVG. Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, daß der Zeuge durch die Maßnahme der Ermittlungsbehörde in einem rechtlich nicht zulässigen Maße gefährdet wird, so hat es die Maßnahme aufzuheben, § 28 Abs. 1 S. 1 EGGVG. b) Verpflichtungsantrag aa) Einstweilige Anordnung In Rechtsprechung und Literatur ist die Zulässigkeit der - im EGGVG nicht vorgesehenen - einstweiligen Anordnung inzwischen grundsätzlich anerk a n n t . 7 0 6 Gestützt wird die Zulässigkeit auf eine Analogie zu § 114 Abs. 2 S. 2 StVollzG, § 123 Abs. 1 VwGO, die Ausdruck des in Art. 19 Abs. 4 GG enthaltenen Grundsatzes effektiven Rechtsschutzes seien. 7 0 7 Voraussetzung für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist, daß ohne den vorläufigen Rechtsschutz "schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre". 7 0 8 Diese Voraussetzungen dürften regelmäßig vorliegen, wenn eine Auskunftsperson um Schutz nachsucht, weil sie durch ein bestimmtes Informationsverhalten der Ermittlungsbehörden -. z.B. die Aufnahme bestimmter Informationen zu den Verfahrensakten - irreparabel an Leben, Gesundheit oder Freiheit gefährdet würde. bb) Sachentscheidung Begehrt die gefährdete Auskunftsperson, die Ermittlungsbehörden zu verpflichten, ihr Vertraulichkeit zuzusagen, bestimmte Informationen nicht zu den Verfahrensakten zu nehmen oder bestimmte Auskünfte nicht zu erteilen, so kann das Gericht die Ermittlungsbehörde nur dann zum Erlaß des begünstigenden Verwaltungsaktes verpflichten, wenn sich das staatsanwaltschaftli-

705

Eingehend hierzu oben S. 342. OLG Karlsruhe, NStZ 1994, 142, 143; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 28 EGGVG Rdn. 3; LR/K Schäfer, 23. Aufl., § 29 EGGVG Rdn. 7. Obersicht zur Entwicklung des Meinungsstandes bei Klemme, Richterliche Kontrolle, S. 22 ff. 70 7 LR/K Schäfer, 23. Aufl., § 29 EGGVG Rdn. 7. 708 OLG Karlsruhe, NStZ 1994, 142, 143 unter Hinweis auf BVerfGE 46, 166, 179. 706

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

353

che Entscheidungsermessen aufgrund der Gefahrdungslage des Zeugen auf Null reduziert hat, § 28 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 EGGVG. Von einer solchen Ermessensreduktion auf Null ist auszugehen, wenn die Gefahr besteht, daß die Auskunftsperson durch die Übernahme der Zeugenrolle oder die Aufnahme der bestimmten Information zu den Verfahrensakten ihr Leben verliert, schwere Gesundheitsschäden erleidet oder auf Dauer ihrer persönlichen Freiheit beraubt w i r d . 7 0 9 In den übrigen Fällen spricht das Gericht die Verpflichtung aus, über die vom Zeugen begehrte Maßnahme unter Beachtung der Rechtsauflfassung des Gerichts zu entscheiden, § 28 Abs. 2 S. 2 EGGVG. c) Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit Hat sich die Maßnahme vor der gerichtlichen Entscheidung erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag aus, daß die Maßnahme rechtswidrig gewesen ist, sofern der Zeuge ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat, § 28 Abs. 1 S. 4 EGGVG. Der Antrag kann auch erst nach Erledigung gestellt werd e n . 7 1 0 Als Feststellungsinteresse kommt für den Zeugen vor allem das Interesse an der Beseitigung einer Wiederholungsgefahr in Betracht. Eine Wiederholungsgefahr liegt vor, wenn nach dem Vorbringen des Zeugen Tatsachen dafür sprechen, daß gleiche oder ähnliche Eingriffe in naher Zeit wenigstens möglich sind. 7 1 1 Ein Zeuge hat danach ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit einer staatsanwaltschaftlichen Maßnahme, wenn er schlüssig darlegen kann, daß er auch in anderen Verfahren als Zeuge aufzutreten hat und in den weiteren Verfahren mit den gleichen oder ähnlichen gefährdungsrelevanten Maßnahmen zu rechnen ist. Derartige Fälle sind insbesondere i m Bereich der organisierten Kriminalität und der politisch motivierten Kriminalität denkbar. 4. Zusammenfassung und Stellungnahme Der Zeuge hat die Möglichkeit, gegen gefährdende Maßnahmen der Ermittlungsbehörden gerichtliche Entscheidung nach §§ 23 ff. EGGVG zu beantragen. Die Ermittlungsbehörden haben den Vollzug der gefährdenden Maßnahme grundsätzlich auszusetzen. Das Verfahren nach §§23 ff. EGGVG ist jedoch mit erheblichen Nachteilen für das eigentliche Strafverfahren verbunden. Ein - möglicherweise zahlreiche Zeugen tangierendes - Ermittlungsverfahren wird in eine Vielzahl einzelner gerichtlicher Verfahren zerlegt. Die Verantwortung der Staatsanwaltschaft für das Ermittlungsverfahren wird beschränkt, das in der Strafprozeßordnung vorgesehene gerichtliche Verfahren 709

Eingehend hierzu S. 147 f. Vgl. nur Amelung, Rechtsschutz, S. 48; 711 OLG Koblenz, StV 1994, 284, 286, mit krit. Anm. Globig, S. 286 f.; vgl. auch BGHSt 37, 79, 82. Zur Wiederholungsgefahr eingehend Klemme, Richterliche Kontrolle, S. 180 ff. 710

2

Zacharias

354

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

kann ausgehöhlt werden. 7 1 2 Sinnvoller wäre es, für den gefährdeten Zeugen ein gerichtliches Verfahren entsprechend § 161 a Abs. 3 S. 1 StPO in der Straiprozeßordnung selbst vorzusehen. 713 Vorgeschlagen wird, die Vorschrift des § 161 a Abs. 3 S. 1 zu einer Generalklausel zu verallgemeinern: § 161 a Abs. 3 S. 1 StPO: Gegen Entscheidungen der Staatsanwaltschaft kann der betroffene Zeuge oder Sachverständige gerichtliche Entscheidung beantragen.

3. Kapitel: Zeugenbeistand A. Grundlagen und Aufgaben Die Befugnis des Zeugen, sich i n allen Stadien des Verfahrens und während aller Vernehmungen durch Strafverfolgungsorgane des Beistandes eines Rechtsanwaltes zu versichern, folgt nach verbreiteter Ansicht unmittelbar aus § 3 Abs. 3 B R A O . 7 1 4 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß § 3 Abs. 3 BRAO die Zuziehung eines Rechtsanwaltes nur "im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften" kennt. Da die Straiprozeßordnung lediglich für den Beschuldigt e n 7 1 5 und den Verletzten 7 1 6 das Recht auf Beistand vorsieht, fehlt es gerade an einer gesetzlichen Vorschrift i m Sinne § 3 Abs. 3 BRAO, auf die das Beistandsrecht des gefährdeten Zeugen gestützt werden könnte. 7 1 7 Bereits im Jahre 1974 hat jedoch das BVerfG die bestehende Regelungslücke i m Wege verfassungskonkretisierender Rechtsfortbildung geschlossen und klargestellt, daß auch ein Zeuge grundsätzlich berechtigt ist, einen Rechtsbeistand seines Vertrauens zur Vernehmung hinzuzuziehen. 718 In der Zwischenzeit ist die

712

OLG Karlsruhe, NStZ 1994,142, 143. Amelung, Rechtsschutz, S. 66 ff., forderte schon 1976, den Rechtsschutz gegen Grundrechtseingriffe der Ermittlungsbehörden in einem eigenen Abschnitt der StPO zu regeln, in dessen Mittelpunkt die Befugnis des Amtsrichters stehen müsse, alle rechtswidrigen Grundrechtseingriffe der Ermittlungsbehörden aufzuheben, die auf einer Ermächtigung in der StPO beruhen; zustimmend Klemme, Richterliche Kontrolle, S. 292, Roxin, Strafverfahrensrecht, § 29 Rdn. 15. 71 4 SK/Rogall, Vor §48 Rdn. 108; Weigend, NJW 1987, 1173. Für eine veifassungskonforme Anwendung des § 3 BRAO Krey, Meyer-GedS, S. 261. 715 §§ 137, 149 StPO. 716 §§ 406 f, 406 g StPO. 717 Vgl. auch BVerfGE 38, 105, 115; Feuerich, BRAO, § 3 Rdn. 26 m.w.N.; wohl auch Schöch, NStZ 1984, 388 (§ 3 Abs. 3 BRAO greift "nicht sicher" ein). 718 BVerfGE 38, 105, 112. 71 3

4. Abschnitt: Schutz durch Veifahrensteilhabe

355

Zulässigkeit des Zeugenbeistandes i m Strafverfahren i n Rechtsprechung 719 und Literatur 7 2 0 allgemein anerkannt. Die Ausgestaltung der Rechtsstellung des Beistands ist jedoch noch weitgehend ungeklärt. 7 2 1 Aufgabe des Zeugenbeistandes ist es, seinen Mandanten bei der Wahrnehmung seiner Verfahrensrechte zu unterstützen und zu beraten. 7 2 2 Dem Beistand des gefährdeten Zeugen kommt darüber hinaus die Aufgabe zu, seinen Mandanten über die strafprozessualen und polizeilichen Möglichkeiten seines Schutzes umfassend zu informieren und die Schutzinteressen des Zeugen gegenüber den zur Entscheidung über die Verfahrensgestaltung berufenen Strafverfolgungsorganen wahrzunehmen. 723 In vielen Fällen werden hierdurch erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß der gefährdete Zeuge seinen berechtigten Schutzinteressen i n dem Strafverfahren Geltung verschaffen kann. B. Rechte des Beistandes Ebensowenig wie der Beistand selbst sind auch seine Befugnisse i n der Strafprozeßordnung geregelt. Für das geltende Verfahrensrecht können daher nur Aussagen zu den von Verfassungs wegen gebotenen Mindestrechten bzw. den Verfahrensrechten, die sich i m Wege der Analogie aus bereits bestehenden Verfahrensregelungen ableiten lassen, getroffen werden. Die Zubilligung eines konkreten Beistandsrechtes ist dabei häufig das Ergebnis einer Abwägung zwischen dem Anspruch des Zeugen auf möglichst weitgehende Wahrung seiner Interessen und dem öffentlichen Interesse an ei-

719

BVerfG, NStZ 1983, 374, BVerfG, NJW 1984, 428; BVerfG, StV 1993, 313; BGH, NStZ 1989, 484; BGH bei Miebach, NStZ 1990, 25; OLG Bremen, StV 1983, 513; OLG Düsseldorf, MDR 1993, 71; OLG Stuttgart, StV 1992, 262. 72 0 Böttcher, Kleinknecht-FS, S. 44 ff.; Dahs, NStZ 1983, 183 f.; Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 219flf.; Hammerstein, NStZ 1981, 125flf.; Haujfe, StV 1983, 489; Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 130flf.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Vor § 48 Rdn. 11; Krehl, GA 1990, 562flf.; Krekeler y NJW 1980, 980; Krey y Meyer-GedS, S. 260 flf.; Lüdeke, Zeugenbeistand, S. 61; Opitz, StV 1984, 311 flf.; Pasker, NStZ 1993, 201; Pfeiffer, in Pfeiffer/Fischer, § 161 a Rdn. 2; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 492; ders., WiB 1996, 57; Schmidt, Die Rechte des Zeugen, S. 79 flf.; Sieg, MDR 1992, 1027; Siegismund, JR 1994, 254 f.; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 108flf.; Steinke, Kriminalistik 1975, 250; Thomas, NStZ 1982, 489 flf.; Wagner, DRiZ 1983, 21 flf.; Wasserburg, Peters-FG, S. 306 f.; Wulf, DRiZ 1981, 375 f.; grundlegend bereits Humborg, JR 1966, 451 f. 721 Hierzu auch Lüdeke, Zeugenbeistand, S. 59 f. 722 BVerfGE 38, 105, 117; Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 219flf.; Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 138flf.; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 112. 72 3 Kreh\ y GA 1990, 562; Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1191 f.; Siegismund, JR 1994, 254; Wasserburg, Peters-FG, S. 306. 23*

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

ner möglichst effektiven Sachverhaltsaufklärung mit Hilfe des Zeugenbeweises. 7 2 4 Die Möglichkeit der Sachverhaltsaufklärung mit Hilfe des Zeugenbeweises darf nicht mehr beeinträchtigt werden, als dies zur Wahrung der berechtigten Zeugeninteressen unvermeidbar i s t . 7 2 5 Maßgeblich ist dabei die jeweils besondere Lage des konkret betroffenen Zeugen. 7 2 6 Die Beistandsinteressen des Zeugen müssen nicht zwingend mit dem Interesse an effektiver Sachverhaltsaufklärung kollidieren. Gerade i n Fällen der Zeugengefahrdung kann "die Vermittlung zwischen Gericht und Zeugen durch einen eingeschalteten Beistand auch dazu führen ..., daß ein Zeuge über geeignete Schutzmaßnahmen dem Gericht zur Verfügung steht und - weil weniger bedrängt und gefährdet - eher zu einer wahrheitsgemäßen Aussage bereit i s t " . 7 2 7 Die Mitwirkung des Beistandes kann damit gerade i m Aufklärungsinteresse der Strafverfolgungsorgane liegen. 7 2 8 Verteidigungsinteressen des Beschuldigten werden durch den Zeugenbeistand nur i m Zusammenhang mit der hierdurch bedingten Verfahrensverzögerung betroffen. 7 2 9 Die Beeinträchtigung der Verteidigungsinteressen liegt ansonsten nicht darin, daß der Beistand den Zeugen bei der Wahrnehmung seiner Verfahrensrechte unterstützt, sondern darin, daß dem Zeugen überhaupt bestimmte Verfahrensrechte eingeräumt worden sind.

724

BVerfGE 38, 105, 118; vgl. auch Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 225. BVerfGE 38, 105, 116. 7 2 6 BVerfGE 38, 105, 118; sowie Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 221; Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 52 ff., Schmidt, Die Rechte des Zeugen, S 81 ff; Thomas, NStZ 1982, 491 f. 72 7 Kr ehi, GA 1990, 564. Während der Hauptverhandlung ist der Zeuge häufig aus Furcht nicht bereit, überhaupt Angaben zu seiner Gefahrdungslage zu machen. Beispielhaft hierfür ist die Frage des Kölner Staatsanwaltes Utermann an einen offensichtlich verschüchterten türkischen Zeugen in einem Prozeß gegen eine Glücksspielmafia: "Herr Zeuge, haben Sie Angst?" Der Mann: "Nein." Darauf der Staatsanwalt: "Ja, warum zittern Sie denn so?" Antwort: "Ich zittere, weil Sie mich fragen, ob ich Angst habe." Zitiert nach Der Spiegel vom 6. Juli 1992, Nr. 28, S. 41. 728 Hierzu auch BVerfG, NJW 1984, 428; Dahs, NJW 1984, 1926; Humborg, JR 1966, 452; Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 62; KMR/Paulus, Vor § 48 Rdn. 31; Opitz, StV 1984, 312 f.; Schmidt, Die Rechte des Zeugen, S. 5. 729 Zum Beschleunigungsinteresse des Angeklagten bereits oben S. 343. 725

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

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/. Eigene Rechte des Beistandes 1. Beratungsrecht Die Beratung des Zeugen ist die Grundlage der - von Verfassungs wegen gebotenen - Zulassung des Zeugenbeistandes.730 Die Beratung muß jederzeit und in jeder Lage des Verfahrens möglich sein. 7 3 1 Sie muß ungestört und vertraulich geschehen können. Befindet sich der Zeuge in Haft, so muß dem Beistand freier Zugang zu seinem Mandanten gewährt werden. 7 3 2 Die zuständigen Vollzugsorgane haben grundsätzlich von einer Gesprächsüberwachung abzusehen, um die Vertraulichkeit des Mandantengesprächs zu gewährleisten. 7 3 3 Über den Inhalt des Beratungsgespräches kann der Beistand die Auskunft nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO verweigern, für den Zeugen ergibt sich das Auskunftsverweigerungsrecht aus seiner verfassungsrechtlich abgesicherten Subjektstellung, zu deren Schutz er sich von seinem Beistand vertraulich beraten lassen k a n n . 7 3 4 2. Anwesenheitsrecht a) Vernehmung Grundvoraussetzung für die Verfahrensteilhabe des Beistandes ist seine Anwesenheit während der Vernehmung des Zeugen. Der Beistand hat das Recht, sowohl während der Vernehmung des Zeugen durch Polizei und Staatsanwaltschaft als auch während der richterlichen Vernehmung des Zeugen anwesend zu sein. 7 3 5 Einer ausdrücklichen Zulassung bedarf es n i c h t . 7 3 6 730

Vgl. auch BVerfGE 38, 105, 114; Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 138;

LR/Dahs, § 58 Rdn. 10. 731

Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 139, Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 193; Thomas, NStZ 1982, 493. 732 Vgl. § 26 Abs. 1 StVollzG. 733 Vgl. § 36 Abs. 4 S. 2 UVollzO. In diese Richtung auch SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 112. Für eine Analogie zu § 148 StPO Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 144; Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 275 ff.; Thomas, NStZ 1982, 144. 734 So auch OLG Düsseldorf, NStZ 1991, 504; Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 234; Thomas, NStZ 1982, 493. Im Ergebnis ebenso, wenn auch mit unterschiedlicher Begründung, LG Lübeck, StV 1993, 516 (Schutz der Privatsphäre, Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG); Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 140 (Schutz des anwaltlichen Vertrauensverhältnisses); SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 112 (Recht des Zeugen auf faires Verfahren). Kritisch dagegen Sieg, MDR 1992,1027. 735 BVerfGE 38, 105, 112; Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 196; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 492. 736 BGH bei Miebach, NStZ 1990, 25. Wird der Rechtsbeistand bei der staatsanwaltschaftlichen Zeugenvernehmung zurückgewiesen, räumt der BGH dem Zeugen das

358

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Es genügt die Angabe des Zeugen, daß er sich gefährdet fühlt und den Beistand eines Anwaltes für erforderlich hält. Interessen der Sachverhaltsaufklärung werden hierdurch nicht beeinträchtigt. b) Über Vernehmung hinaus Ungeklärt ist dagegen, ob der Zeugenbeistand über die Vernehmung hinaus zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung berechtigt ist. In einer Entscheidung, in der es um die verfassungsrechtlich gebotenen Mindestrechte des Beistandes eines Zeugen i n der Situation des § 55 Abs. 1 StPO ging, hat das BVerfG den Grundsatz aufgestellt, "daß der Rechtsbeistand des Zeugen nicht mehr Befugnisse haben kann, als dieser selbst". 737 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß das Strafverfahrensrecht einen solchen Akzessorietätsgrundsatz nicht kennt, sondern i m Gegenteil dem Beistand des Beschuldigten selbst eine Vielzahl originärer Rechte einräumt. 7 3 8 Die These des BVerfG enthält daher kein Sachargument gegen ein erweitertes Anwesenheitsrecht des Beistandes. Zum Teil wird ein solches Anwesenheitsrecht abgelehnt, da der Beistand den Zeugen damit über die aktuelle Beweissituation informieren kann, so daß die Unbefangenheit und Selbständigkeit der Zeugenaussage gefährdet w i r d . 7 3 9 Daß das gerichtliche Aufklärungsinteresse beeinträchtigt werden kann, ist nicht zu bestreiten. Die Begrenzung des Anwesenheitsrechts des Zeugenbeistands ist damit jedoch noch nicht begründet 740 , denn Aussagen zu Inhalt und Grenzen der Beistandsrechte können - auf der Ebene des Verfassungsrechts immer nur als Ergebnis einer Abwägung des beeinträchtigten staatlichen Interesses mit den Interessen des beistandsbedürftigen Zeugen getroffen werden.

Recht ein, richterliche Entscheidung analog § 161 a Abs. 2 StPO zu beantragen, vgl. BGHSt 39, 112, 118; LR/Rieß y § 161 a Rdn. 50. Eingehend zu den Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Zurückweisung des Zeugenbeistandes Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 245 ff. 737 BVerfGE 38, 105, 116. 738 Überblick hierzu bei Paulus, NStZ 1992, 307 Fn. 43. Kritisch gegenüber dem Absolutheitsanspruch des Akzessorietätsdogmas Hammerstein, NStZ 1981, 127; Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 43 ff, 190 ff; Thomas, NStZ 1982, 494 f. 739 So BVerfGE 38, 105, 116, hinsichtlich des Beistandes eines Zeugen in der Situation des §55 StPO; vgl. auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, Vor §48 Rdn. 11; Schmidt, Die Rechte des Zeugen, S. 97; Wagner, DRiZ 1983, 21. 740 Auf § 58 Abs. 1 StPO kann der Ausschluß des Beistandes in keinem Fall gestützt werden - wie dies offenbar von BVerfGE 38, 105, 116, sowie von Schmidt, Die Rechte des Zeugen, S. 97, und Wagner, DRiZ 1983, 21, versucht wird - da sich diese Vorschrift nach ihrem eindeutigen Wortlaut allein auf den Zeugen bezieht und keine Aussagen über die Pflichten eines Anwaltes oder sonstiger Personen, die dem Zeugen beistehen, trifft; eingehend hierzu Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 196 ff.

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

359

Der strafprozessuale Zeugenschutz steht i m wesentlichen i n dem Ermessen des Gerichts. Eine sachkundige und damit sachdienliche Stellungnahme zu Maßnahmen des strafprozessualen Zeugenschutzes setzt damit nicht nur die Kenntnis der Gefahrdungslage, sondern ebenso die Kenntnis der anderen bei der Ermessensausübung zu gewichtenden Faktoren voraus. Der Beistand eines gefährdeten Zeugen kann seine Aufgabe überhaupt nur dann sachgerecht wahrnehmen, wenn er die Anklage und den aktuellen Verfahrensstand kennt. Wie soll der Anwalt etwa gegen eine angeblich zur Wahrheitsfindung unerläßliche Frage Stellung beziehen, wenn er die konkrete Beweissituation nicht kennt, also z.B. ein i n der Hauptverhandlung vom Angeklagten abgelegtes umfassendes Geständnis nicht miterlebt h a t ? 7 4 1 Das Argument, die Unbefangenheit und Selbständigkeit der Zeugenaussage könne gefährdet werden, verliert dagegen angesichts der Situation des gefährdeten Zeugen an Bedeutung: Der gefährdete Zeuge bedarf gerade deshalb des Beistandes, weil von dritter Seite massiv auf die Unbefangenheit und Selbständigkeit seiner Aussage eingewirkt wird. - Es darf auch nicht übersehen werden, daß es dem Beistand als Organ der Rechtspflege von vornherein untersagt ist, auf eine Manipulation der Zeugenaussage hinzuwirken, und für den Normalfall ein solches standeswidriges Verhalten nicht unterstellt werden k a n n . 7 4 2 I m übrigen kann sich ein Zeuge von jedem Zuhörer über den Verfahrensstand informieren lassen - ein Nachteil für die Sachverhaltsaufklärung, der vom Strafverfahrensrecht bewußt i n Kauf genommen w i r d . 7 4 3 Die Anwesenheit des Zeugenbeistandes beeinträchtigt die Möglichkeit der Sachverhaltsaufklärung mit Hilfe des Zeugenbeweises daher nicht mehr, als dies zur Wahrung der berechtigten Zeugeninteressen unvermeidbar ist. Die uneingeschränkte Anwesenheit gehört damit zu den verfassungsrechtlich gebotenen Mindestrechten des Beistandes eines gefährdeten Zeugen. 7 4 4

741

So zutreffend Thomas, NStZ 1982, 495. Liegen dagegen in der Person des Beistandes Umstände vor, die den Verdacht einer Gefahrdung des "Untersuchungszweckes" begründen, so kann dem Beistand aus den gleichen Erwägungen heraus die Anwesenheit untersagt werden, wie sie in der Vorschrift des § 168 c Abs. 3 StPO hinsichtlich der Anwesenheit des Beschuldigten zum Tragen gekommen sind; vgl. hierzu auch Thomas, NStZ 1982, 495. 743 Hierzu auch Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 142; Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 198. 744 Ein uneingeschränktes Anwesenheitsrecht des Zeugenbeistandes bejahen Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 198; Thomas, NStZ 1982, 494 f.; Wasserburg, PetersFG, S. 307. - Für ein Anwesenheitsrecht jedenfalls während der öffentlichen Hauptverhandlung Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 229 f.; Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 142; KMR/Paulus, Vor § 48 Rdn. 31; LR/Dahs, § 58 Rdn. 10 Fn. 19 a; 742

360

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

3. Akteneinsichtsrecht Die Frage, ob der Zeugenbeistand unter Umständen ein Recht auf Akteneinsicht hat, wird ebenso kontrovers diskutiert wie sein Anwesenheitsrecht. 745 Auch hier kann die Entscheidung nur durch eine umfassende Abwägung der kollidierenden - verfassungsrechtlich abgesicherten - Interessen getroffen werden. Die Interessen des Zeugen an der Akteneinsicht des Beistandes können hierbei kollidieren mit dem Aufklärungsinteresse, zudem aber auch mit den Interessen an der Verfahrensökonomie und der Verfahrensbeschleunigung, was insbesondere i n Großverfahren mit einer Vielzahl gefährdeter Zeugen relevant w i r d . 7 4 6 Schließlich ist zu beachten, daß die Gewährung von Akteneinsicht an den Zeugenbeistand einen Eingriff i n das allgemeine Persönlichkeitsrecht, insbesondere das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Tatverdächtigen und der übrigen - u.U. ebenfalls gefährdeten - Zeugen begründet. 7 4 7 Für ein Überwiegen des Beistandsinteresses des gefährdeten Zeugen spricht hierbei folgendes: Ohne Kenntnis der tatsächlichen Gefährdungslage kann kein Anwalt dem Zeugen beistehen. Wesentlich für die Beurteilung der Gefährdungslage sind nicht nur Kriterien in der Person des Zeugen, sondern ebenso Kriterien i n der Person des Tatverdächtigen bzw. seines Umfeldes sowie Kriterien, die sich aus den Besonderheiten des konkreten Strafverfährens ergeben. 7 4 8 Handelt es sich bei dem Zeugen um einen Aussteiger aus dem kriminellen Milieu, so wird er dem Beistand selbst die für die Beurteilung seiner Gefährdungslage notwendigen Informationen liefern können. Handelt es sich bei dem verängstigten Zeugen dagegen um eine Person, die nur zufällig Zeuge einer Straftat, z.B. eines Gewaltverbrechens, wurde, so kann sich der Beistand ohne zusätzliche Informationen über die Tatverdächtigen und das

SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 113; grundsätzlich bejahend auch Hammerstein, NStZ 1981, 127 f. 745 Die herrschende Meinung lehnt ein Akteneinsichtsrecht ab, vgl. Groß/Fünfsinn, NStZ 1992, 110; Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 143 f.; KK/Pfeiffer, Einl. Rdn. 97; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Vor § 48 Rdn. 11; KMR/Paulus, Vor § 48 Rdn. 31; LR/Dahs, § 58 Rdn. 10; Schmidt, Die Rechte des Zeugen, S. 95; Wagner, DRiZ 1983, 23; für den Beistand eines Zeugen in der Situation des § 55 StPO auch BVerfGE 38, 105, 116. - A.A. Hammerstein, NStZ 1981, 127; Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 209 ff.; wohl auch Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 239. 746 Hierzu Dahs, NJW 1984, 1926, dagegen jedoch Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 63: "Einen Rechtssatz, wonach verfahrensbedingte Verzögerungen durch die Verteidigung hinzunehmen sind, verfahrensbedingte Verzögerungen durch den Zeugenbeistand jedoch gegen den Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung verstoßen, gibt es nicht." 747 Zum Eingriffscharakter der Akteneinsicht vgl. oben S. 349. 748 Eingehend hierzu oben S. 168 f.

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

361

konkrete Strafverfahren weder qualifiziert zu der Gefährdungslage und schon gar nicht zu den deshalb erforderlichen strafprozessualen Schutzmaßnahmen äußern. I m übrigen hängt die Gefährdungslage des Zeugen maßgeblich davon ab, welche gefährdungsrelevanten Informationen (Zeugenpersonalien, Hinweise auf die Identität des Zeugen etc.) sich i n den Verfahrensakten befinden und damit dem Beschuldigten - als potentiellem Schädiger - über das Akteneinsichtsrecht seines Verteidigers zugänglich sind. I n all den Fällen, i n denen sich der Beistand ohne Kenntnis des Akteninhaltes kein B i l d von der tatsächlichen Gefährdungslage seines Zeugen machen kann, ist er auf ein Akteneinsichtsrecht angewiesen. Ohne Kenntnis der für die Gefährdungslage maßgeblichen Umstände muß sich die prozessuale Beistandschaft für einen gefährdeten Zeugen darauf beschränken, entweder Anträge ins Blaue hinein zu stellen oder unverbindliche Anregungen aus der Laiensphäre beizutragen. In diesen Fällen ist das Akteneinsichtsrecht des Beistandes zur Wahrung der berechtigten Zeugeninteressen unverzichtbar. Es ist damit zu den verfassungsrechtlich gebotenen Mindestrechten des Zeugenbeistandes zu zählen. Das Akteneinsichtsrecht des Zeugenbeistandes kollidiert jedoch nicht nur mit den oben angeführten "materiellen" Interessen, sondern auch mit dem "formellen" Verfassungsprinzip des Vorbehaltes des Gesetzes, Art. 19 Abs. 1 GG. Zu den Anforderungen an die gesetzliche Grundlage für Beschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung hat das BVerfG klargestellt: "Diese Beschränkungen bedürfen nach Art. 2 Abs. 1 GG ... einer (verfassungsmäßigen) gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarkeit entspricht". 7 4 9 Das Akteneinsichtsrecht des Zeugenbeistandes kann sich nur auf Nr. 185 Abs. 3 RiStBV stützen. Als bloße Verwaltungsvorschrift genügt diese Regelung den Anforderungen des Art. 19 Abs. 1 GG n i c h t . 7 5 0 Es fehlt daher an einer von Art. 19 Abs. 1 GG geforderten gesetzlichen Grundlage der Akteneinsicht. In Fällen, i n denen sich die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung aus einer gewandelten Verfassungsinterpretation ergibt, ist jedoch anerkannt, daß Eingriffe für eine Übergangsfrist - bis der Gesetzgeber Gelegenheit gehabt hat, 749

BVerfGE 65, 1, 44. Vgl. nur OLG Bremen, NStZ 1989, 276, 277; OLG Koblenz, NJW 1986, 3093, 3095; Grandel, Strafakteneinsicht, 1989, S. 68 f.; Otto, JK 94, EGGVG §§ 23 fi/3; ders. y JR 1995, 83; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 2514. A.A. Schäfer, NStZ 1985, 202, der den Richtlinien zu Unrecht den Charakter von Gewohnheitsrecht zuspricht. 750

362

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

die Regelungslücke zu schließen - auch ohne gesetzliche Ermächtigung hinzunehmen sind. 7 5 1 Auf die Frage, ob die Übergangsfrist i m Hinblick auf die Anerkennung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung i m Jahre 1983 7 5 2 mittlerweile abgelaufen i s t 7 5 3 , braucht hier nicht eingegangen zu werden, da sich die Notwendigkeit einer Übergangsfrist hier vor allem aus der gewandelten Verfassungsinterpretation i m Hinblick auf die dem gefährdeten Zeugen zukommende Verfahrensteilhabe ergibt. Für diese Konstellation ist die Frist jedenfalls noch nicht abgelaufen. Gleichwohl bleibt der Gesetzgeber dringend aufgefordert, dem Zeugenbeistand das - von Verfassungs wegen gebotene - Akteneinsichtsrecht zuzusprechen. 754 IL Wahrnehmung von Zeugenrechten Neben der Beratung des Zeugen besteht die Hauptaufgabe des Rechtsbeistandes darin, den Zeugen bei der Wahrnehmung seiner Verfahrensteilhaberechte sachkundig zu unterstützen und zu vertreten. 755 1. Erklärungsrecht Der Zeuge hat das Recht, vor einer gefährdenden Entscheidung gehört zu werden, d.h. sich zu der gefährdungsrelevanten Frage zu äußern. 756 Der Beistand ist daher berechtigt, eine umfassende Stellungnahme zu der Gefahrdungslage des Zeugen abzugeben, die von den Strafverfolgungsorganen bei ihrer gefährdungsrelevanten Entscheidung zu berücksichtigen ist. Während der 751 Zur Akteneinsicht OLG Bremen, NStZ 1989, 276, 277; OLG Celle, NJW 1992, 253, 254; OLG Hamm, NStZ 1986, 236; OLG Hamburg, NJW 1995, 3399; OLG Karlsruhe, NStZ 1994, 50; OLG Koblenz, NJW 1986, 3093, 3095; LG Regensburg, NStZ 1985, 233 f. - Vgl. auch BVerfGE 33, 1, 12 f. (Strafvollzug); BVerfGE 41, 251, 266 f. (Schulausschluß); BVerfGE 51, 268, 287 ff. (Schulauflösung); BVerfGE 58, 257, 280 f. (Schulentlassung). - Bis zum Erlaß einer gesetzlichen Regelung reduzierten sich die Befugnisse der Behörden und Gerichte zu Eingriffen in verfassungsrechtlich geschützte Positionen auf das, was im konkreten Fall für die Wahrung der berechtigten Interessen unerläßlich ist; BVerfGE 41, 251, 267; ihm folgend z.B. OLG Bremen, NStZ 1989, 276, 277; OLG Frankfurt, StV 1988, 473, 476. 752 BVerfGE 63, l,ff. 753 Sowohl das OLG Bremen, NStZ 1989, 276, 277, wie auch das OLG Stuttgart, NStZ 1993, 353, 354, sowie zuletzt das OLG Frankfurt, NJW 1995, 1102 und das OLG Hamburg, NJW 1995, 3399, sahen die Übergangsfrist für den Zeitpunkt ihrer Entscheidung noch als gewahrt an. Die Übergangsfrist für abgelaufen halten dagegen mit guten Gründen AG Wolfratshausen, NStZ 1994, 505, 506; Krehl, NJW 1995, 1073 f. ; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 2514 754 So im Ergebnis auch SK/Rogall y Vor § 48 Rdn. 114. 755 BVerfGE 38,105,117. 756 Hierzu oben S. 325 ff.

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

363

Vernehmung hat der Beistand die Aufgabe, "bei ungeschickten, ängstlichen oder aus anderen Gründen i n ihrer Aussagefähigkeit und -bereitschaft behinderten und gehemmten Zeugen ... Aussagefehler des Zeugen und Mißverständnisse der Verfahrensbeteiligten zu vermeiden". 7 5 7 Der Beistand hat i n diesen Fällen das Recht, auch während der Vernehmung des Zeugen zu intervenieren. 7 5 8 2. Antragsrecht Der Beistand hat darüber hinaus das Recht, für den Zeugen auf eine zeugenschützende Verfahrensgestaltung hinzuwirken. 7 5 9 I m Ermittlungsverfahren kann der Beistand z.B. beantragen, daß eine Auskunftsperson wegen ihrer extremen Gefährdung insgesamt aus dem Strafverfahren herausgehalten w i r d 7 6 0 , daß die Akteneinsicht nach § 147 Abs. 2 StPO versagt wird oder daß die Personalien des Zeugen nicht i n die Anklageschrift aufgenommen werden, § 200 Abs. 1 S. 3 StPO. Während des Hauptverfahrens hat der Zeugenbeistand insbesondere das Recht, zum Schutz seines Mandanten den Ausschluß der Öffentlichkeit nach §§ 171 b Abs. 2, 174 Abs. 1 S. 1 GVG, den Ausschluß des Angeklagten nach § 247 StPO sowie die Verlegung der Hauptverhandlung an einen sicheren Ort zu beantragen. I m Hinblick auf die Aussagepflicht des Zeugen hat der Beistand das Recht, auf die Anwendung des § 68 Abs. 2 bzw. Abs. 3 StPO oder gar auf die Zuerkennung eines verfassungsrechtlichen Auskunftsverweigerungsrechtes hinzuwirken. Des weiteren kann er beantragen, Fragen, deren Beantwortung den Zeugen unzumutbar gefährden, nach § 241 Abs. 2 StPO zurückzuweisen. Schließlich ergibt sich aus dem Recht auf jederzeitige Beratung das Recht des Beistandes, eine Unterbrechung der Vernehmung zu beantragen, um sich mit seinem Mandanten zu beraten. 7 6 1 3. Beanstandungs- und Beschwerderecht Richterliche Anordnungen, die sich negativ auf die Gefährdungslage des Zeugen auswirken, können von dem Anwalt des Zeugen beanstandet werden,

757 75 8

BVerfGE 38, 105, 117. Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 140 f.; Lüdeke, Der Zeugenbeistand,

S. 193; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 113. 759

Zu den Antragsrechten des Zeugen oben S. 328 f. Zur "Teilhabe des Zeugenbeistandes an den Antragsrechten des Zeugen" vgl. auch Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 166 ff. 760 Z.B. durch Zusage von Vertraulichkeit. 7 6 1

Vgl. SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 113.

364

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

§ 238 Abs. 2 StPO. 7 6 2 Selbstverständlich kann der Beistand für seinen Mandanten gefährdende richterliche Anordnungen mit der Beschwerde anfechten, § 304 Abs. 2 StPO. Gegen gefährdende Maßnahmen der Ermittlungsbehörden kann er nach Maßgabe der §§ 23 ff. EGGVG -. auch im Wege der einstweiligen Anordnung 7 6 3 - vorgehen. C. Pflichten der Strafverfolgungsorgane Ebensowenig wie die Rechte des Beistandes ergeben sich die Pflichten aus der Strafprozeßordnung, welche die Strafverfolgungsorgane i m Hinblick auf die Rechtsstellung des Zeugenbeistandes zu erfüllen haben. Aussagen hierzu können jedoch zum einen aus der strafprozessualen Schutz- und Fürsorgepflicht hergeleitet werden, die den Strafverfolgungsorganen gegenüber dem gefährdeten Zeugen obliegt. Zum anderen können das Gebot sachgerechter Verfahrensgestaltung - und insbesondere die Sachverhaltsaufklärungspflicht gebieten, die Mitwirkung des Beistandes in einer bestimmten Weise auszugestalten. 7 6 4 I. Belehrungs- und Ladungspflicht Das Recht auf Beistand läuft in der Verfahrenspraxis meist leer, solange der Zeuge auf dieses Recht nicht hingewiesen w i r d . 7 6 5 Für die Situation des Verletzten hat der Gesetzgeber daher eine grundsätzliche Belehrungspflicht in § 406 h StPO festgeschrieben. Unter Fürsorgegesichtspunkten wird eine Hinweispflicht der Strafverfolgungsorgane gegenüber anderen Zeugen bejaht, wenn sich der Zeuge in einer tatsächlich und rechtlich schwierigen Situation befindet und erkennbar ist, daß er sich seines Rechts auf Beistand nicht bewußt i s t . 7 6 6 Da sich der gefährdete Zeuge stets in einer tatsächlich und recht-

762

Allgemein zum Beanstandungsrecht des Zeugenbeistandes Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 162ff.; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 113; für den Beistand des Verletzten wird das Beanstandungsrecht in § 406 f Abs. 2 StPO besonders hervorgehoben. 763 Hierzu oben S. 352. 764 So auch KMR/Paulus, Vor § 48 Rdn. 31; LR/Dahs, § 58 Rdn. 10 a; vgl. hierzu auch den Sachverhalt der Entscheidung BVerfG, NJW 1984, 428. 765 Die Überlegungen des gefährdeten Zeugen werden sich darauf konzentrieren, mit welchem Aussageverhalten er die Gefahrdung möglichst gering halten kann, nicht aber darauf, wie er seiner Zeugenpflicht möglichst vollständig nachkommen kann. 766 Vgl. SK/Rogall, Vor §48 Rdn. 111 m.w.N.; Thomas, NStZ 1982, 496; vgl. auch Dahsy NStZ 1983, 184; Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 139. Ablehnend dagegen - wenn auch ohne Begründung - Kleinknecht/Meyer-Goßner, Vor § 48 Rdn. 11.

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

365

lieh schwierigen Lage befindet, gebietet es die strafprozessuale Schutzpflicht, ihn über sein Beistandsrecht zu belehren. 767 Eine Pflicht der Strafverfolgungsorgane, den Beistand zu der Vernehmung seines Mandanten zu laden, wird sich dagegen nur in Ausnahmefallen aus der Schutzpflicht der Strafverfolgungsorgane ableiten lassen. Grundsätzlich hat der Zeuge selbst Vorsorge zu treffen, daß sein Beistand zur Vernehmung erscheint. 7 6 8 Erfolgt die Vernehmung jedoch kurzfristig, so hat das Strafverfolgungsorgan den Beistand zu benachrichtigen, da - wie das BVerfG in einem vergleichbaren Sachverhalt festgestellt hat - "anders der Anspruch auf eine faire Verfahrensgestaltung nicht durchsetzbar i s t " . 7 6 9 Wünschenswert und sinnvoll, wenn auch nicht verfassungsrechtlich geboten, wäre es, wenn die Strafverfolgungsorgane neben dem Zeugen auch seinen Rechtsanwalt zu den Vernehmungen laden würden. 7 7 0 In der Praxis unterrichten die Strafverfolgungsorgane den Beistand häufig formlos über den Vernehmungstermin. 771 IL Unterbrechungs- und Aussetzungspflicht In besonderen Konstellationen kann es die strafprozessuale Fürsorgepflicht dem Zeugen gegenüber gebieten, die Vernehmung zu unterbrechen, damit sich der Zeuge mit seinem Beistand beraten k a n n . 7 7 2 Eine solche Konstellation kann vorliegen, wenn der Zeuge überraschend mit Fragen konfrontiert wird, die seine rechtlich geschützten Interessen, insbesondere sein Sicherheitsinteresse, berühren 773 oder wenn die Gefährdung eines Zeugen erst während seiner Vernehmung erkennbar wird und der Zeuge jetzt erst einen Rechtsbeistand hinzuziehen möchte. 7 7 4

767

Speziell zur Situation des gefährdeten Zeugen Wasserburg, Peters-FG, S. 306. 768 für eine grundsätzliche Benachrichtigungspflicht entsprechend § 168 c Abs. 5 StPO dagegen Hohmann, NStZ 1993, 556; für eine Ladungspflicht analog § 218 S. 1 StPO Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 281 f. 769 BVerfG, StV 1993, 313, 315. 77 0 Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 240; Wagner, DRiZ 1983, 21 Fn. 6. 77 1

772

LR/Dahs, § 58 Rdn. 10 a; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 111.

Auch das BVerfG, BVerfGE 38, 105, 116, hat diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen, sondern lediglich zutreffend ausgeführt: "Der Zeuge hat im allgemeinen keine rechtliche Möglichkeit, eine Unterbrechung seiner Vernehmung herbeizuführen". 77 3 LR/Dahs, § 58 Rdn. 10 a.; Thomas, NStZ 1982, 496; Wasserburg, Peters-FG, S. 307. 77 4 Gommolla, Der Schutz des Zeugen, S. 227; Kaum, Dei Beistand im Strafprozeß, S. 139; Steinke, Kriminalistik 1975, 251; Thomas, NStZ 1982, 496.

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Der gefährdete Zeuge hat von Verfassungs wegen das Recht, einen Rechtsbeistand seines Vertrauens zur Vernehmung hinzuzuziehen. 775 Dies bedeutet nicht zwangsläufig, daß das Gericht oder die Ermittlungsbehörde die Vernehmung aussetzen muß, wenn der als Beistand gewählte Anwalt an der Teilnahme verhindert i s t . 7 7 6 Vielmehr sind in jedem Einzelfall die Interessen an der beschleunigten Durchführung des Verfahrens mit dem Interesse des Zeugen am Beistand des von ihm gewählten Rechtsanwaltes i n einen angemessenen Ausgleich zu bringen. 7 7 7 Das Gewicht dieses Interesses bestimmt sich vor allem danach, welche Auswirkungen die darzulegende Gefährdungslage auf Inhalt und äußeren Rahmen der Zeugenvernehmung haben kann. Der Umstand, daß der Zeuge Zeit genug hatte, einen anderen Anwalt als Beistand seines Vertrauens zu beauftragen, kann dagegen solange keine entscheidende Rolle spielen, solange die Beauftragung eines zweiten Anwaltes für den gefährdeten Zeugen mit zusätzlichen Kosten verbunden i s t . 7 7 8 Daraus ergibt sich: Die strafprozessuale Schutz- und Fürsorgepflicht wird eine Aussetzung der Vernehmung dann erfordern, wenn die Vernehmung ohne eine Verfahrensverzögerung auf einen anderen Termin verlegt werden k a n n 7 7 9 oder wenn Anlaß zu der Besorgnis besteht, daß die betroffene Person durch die Übernahme der Zeugenrolle an Leben, Gesundheit oder Freiheit gefährdet wird. III. Beiordnungspflicht Für einen Zeugen in der Situation des § 55 StPO hat das BVerfG die Pflicht zur Beiordnung eines Rechtsanwaltes abgelehnt, weil der Zeuge den Beistand "ausschließlich i m eigenen Interesse" heranziehe. 780 Zum Teil wurde diese Ansicht dahin verallgemeinert, daß Zeugen generell kein Beistand beizuord-

775

Vgl. hierzu BVerfGE 38, 105,112. BGH, NStZ 1989, 484, 485; Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 139; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 492; Roxin, Strafverfahrensrecht, §26 Rdn. 50; 776

SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 111. 777

Aus diesen Erwägungen heraus hat das BayObLG, NJW 1995, 3134, z.B. eine Pflicht des Gerichts zur Aussetzung der Verhandlung in einer Bußgeldsache von 120.DM bejaht, wenn der Beistand des Betroffenen unvorhergesehen an der Teilnahme verhindert wird und ein Beweismittel angekündigt hat. 77 8 Krehl, NStZ 1990, 193; a.A Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 139; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 111. Hatte der Zeuge keine Möglichkeit, einen anderen Anwalt rechtzeitig zu beauftragen, so kann bereits aus diesem Grunde eine Aussetzung der Vernehmung geboten sein, vgl. LG Hildesheim, StV 1985, 229. Der BGH, NStZ 1989, 484 f., geht auf diese Problematik dagegen überhaupt nicht ein. 779 So zutreffend Krehl, NStZ 1990, 193. 780 BVerfGE 38, 105,116.

4. Abschnitt: Schutz durch Veifahrensteilhabe

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nen s e i . 7 8 1 In den letzten Jahren wird i n Rechtsprechung und Literatur jedoch zunehmend anerkannt, daß es die Fürsorgepflicht gegenüber dem Zeugen gebieten kann, i h m einen Rechtsanwalt beizuordnen. 782 Die Argumentation des BVerfG vermag bereits für einen Zeugen i n der Situation des § 55 StPO nicht zu überzeugen. In der Situation des § 55 StPO handelt der Zeuge genauso sehr - oder besser genauso wenig - i m eigenen Interesse wie der Beschuldigte, wenn er sich anwaltlichen Beistandes bedient. Die Interessen beider sind darauf gerichtet, die Gefahren einer rechtsstaatlichen Strafverfolgung so gering wie möglich zu halten. 7 8 3 Beide werden vom Staat zur Erfüllung staatlicher Aufgaben mit einem Verfahren konfrontiert, durch deren Entscheidungen ihre grundrechtlichen Freiheiten beeinträchtigt werden können. Für den Beschuldigten aber hat das BVerfG das verfassungsrechtliche Gebot, ihm von Amts wegen einen rechtskundigen Beistand zu bestellen, wie folgt begründet: "Der Beschuldigte darf i m Rechtsstaat des Grundgesetzes nicht nur Objekt des Verfahrens sein; ihm muß vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Strafverfahrens Einfluß zu nehmen. Hierzu ist er unter bestimmten Voraussetzungen auf rechtskundige Hilfe eines ihm verpflichteten Beistandes angewiesen. I n solchen Fällen kann dem Staat von Verfassungs wegen die Pflicht erwachsen, dem nicht verteidigten Beschuldigten einen Verteidiger zur Seite zu stellen. Die Vorschriften der Straiprozeßordnung über die Bestellung eines Verteidigers und dessen Mitwirkung i m Strafverfähren stellen sich deshalb als Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips des Grundgesetzes auch i n seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung d a r . " 7 8 4

781

OLG Koblenz, MDR 1995, 1160; vgl. auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, Vor §48 Rdn. 11. 782 Vgl. OLG Düsseldorf, StV 1993, 142; OLG Stuttgart, StV 1992, 262, 263; LG Hannover, StV 1987; 526; LG Verden, StV 1992, 268; Beulke, Strafprozeßrecht, Rdn. 196; Dahs, NStZ 1983, 184; Kr ehi, GA 1990, 565; Kühne, Strafprozeßlehre, Rdn. 502 Fn. 96; Pasker, NStZ 1993, 201; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 116. Grundlegend auch hier bereits Humborg, JR 1966, 452. Aus Gründen der Verfahrensforderung für zulässig angesehen haben die Beiordnung eines Zeugenbeistandes BVerfG, NJW 1984, 428; KMR/Paulus, 783

Vor § 48 Rdn. 31.

Das BVerfG betont im übrigen selbst die Ähnlichkeit der Stellung des Beschuldigten mit der des Zeugen in der Situation des § 55 StPO, vgl. BVerfGE 38, 105, 112 f., sowie BVerfG, StV 1993, 313. 784 BVerfGE 65, 171, 174 f.; vgl. auch BVerfGE 39, 238, 243; 46, 202, 210 f.; 63, 380, 390 f.; 68, 237, 254.

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

Darauf, ob der Beschuldigte den Beistand i m eigenen Interesse oder in irgendwelchen fremden Interessen heranzieht, kommt es also nach Ansicht des BVerfG nicht an. Warum dies dann für andere von einem staatlichen Verfahren Betroffene gelten soll, ist nicht einzusehen. Im übrigen wäre die Behauptung, ein gefährdeter Zeuge ziehe den Rechtsbeistand ausschließlich im eigenen Interesse heran, schlicht falsch. Bereits dann, wenn eine Person - ohne Zeuge zu sein - mit rechtswidrigen Übergriffen durch Dritte bedroht ist, sind hiervon nicht nur die Sicherheitsinteressen dieser Person betroffen, sondern auch die Interessen des den Rechtsfrieden sichernden Staates. Wird eine Person mit rechtswidrigen Übergriffen für den Fall bedroht, daß sie den Staat bei der Erfüllung wichtiger Aufgaben unterstützt, so können die staatlichen Interessen an dem Schutz dieser Person deren eigene Sicherheitsinteressen sogar überwiegen. 785 Das staatliche Interesse an der Sachverhaltsaufklärung kann es weit mehr als das Interesse des Betroffenen selbst gebieten, einer verängstigten Auskunftsperson einen Beistand ihres Vertrauens zur Seite zu stellen, um sie als Beweismittel "abschöpfen" zu können.786 Verpflichtet der Staat eine Person, nicht nur die "staatsbürgerliche" Zeugenpflicht zu übernehmen, sondern sich darüber hinaus der Gefahr unkalkulierbarer rechtswidriger Angriffe auszusetzen, so verlangt er ein Sonderopfer, das die Nachteile bei weitem übersteigt, die üblicherweise mit der Erfüllung der Zeugenpflichten verbunden sind. Die Auferlegung eines solchen Sonderopfers verpflichtet den Staat zur Kompensation der damit verbundenen Nachteile. 7 8 7 Auf der Ebene des Verfahrensrechts besteht die Kompensationspflicht darin, der Person des Zeugen die aktive Teilnahme an dem ihr verfahrensrechtlich zukommenden Schutz durch einen rechtskundigen Beistand zu ermöglichen. Wenn die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates verlangt, den gefährdeten Zeugen in dem Verfahren mit besonderen Teilhaberechten auszu-

785

Vgl. hierzu auch Rehmann/Schnarr, NJW 1989, 1192. 786 mü der Notwendigkeit der Sachverhaltsaufklärung begründen die Beiordnung eines Zeugenbeistandes BVerfG, NJW 1984, 428; KMR/Paulus, Vor §48 Rdn. 31. Allgemein dazu, daß die Mitwirkung des Beistandes auch im Interesse des Gerichts Hegen kann vgl. Dahs, NJW 1984, 1926; Kr ehi, GA 1990, 563 f.; Opitz, StV 1984, 312 f.; Schmidt, Die Rechte des Zeugen, S. 5. 787 Dazu, daß sich der ursprünglich negatorische grundrechtliche Abwehranspruch des gefährdeten Zeugen gegen die Überbürdung der Zeugenpflicht "mit Vollzug des staatlichen Grundrechtseingriffs in einen grundrechtsunmittelbaren, positiven, kompensatorischen Leistungsanspruch auf staatliche Schutzgewährung verwandeln kann" vgl. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 165, sowie oben S. 117 f.

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

369

statten, dann verlangt diese Schutzpflicht auch, ihm einen Rechtsbeistand zur Seite zu stellen, falls der Zeuge sonst nicht in der Lage ist, in der grundrechtlich gebotenen Weise an dem Verfahren "teilzunehmen". Die verfahrensrechtliche Situation des gefährdeten Zeugen weist nicht nur tatsächliche, sondern auch rechtliche Schwierigkeiten auf, die es i m Regelfall verhindern, daß der Zeuge ohne rechtskundigen Beistand seine Interessen in der grundrechtlich gebotenen Weise i n das Verfahren einbringen k a n n . 7 8 8 Die verfassungsrechtliche Schutzpflicht der Strafverfolgungsorgane gebietet es daher, einer Person, die durch die Übernahme der Zeugemolle gefährdet wird, einen Rechtsanwalt als Beistand zu bestellen. 789 Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Person zu befürchten hat, daß sie selbst oder eine ihr nahestehende Person an Leben, Gesundheit oder Freiheit gefährdet wird. Der Staat ist verpflichtet, die anfallenden Kosten zu tragen, und zwar grundsätzlich unabhängig davon, ob der Zeuge mittellos ist oder n i c h t 7 9 0 , denn die Kostentragungspflicht ergibt sich für die Situation des gefährdeten Zeugen aus dem Sonderopfer, das ihm abverlangt wird, und nicht etwa aus dem Sozialstaatsprinzip i.V.m. Art. 3 Abs. 1 G G . 7 9 1 Dementsprechend richtet sich der Gebührenanspruch des Beistandes als "sonst beigeordneter Rechtsanwalt" nach §§ 102 i.V.m. 95, 97 BRAGO 7 9 2 Die Kompensationspflicht des Staates besteht allerdings dann nicht, wenn die Gefährdungslage nicht (nur) auf staatliche Gefährdungsakte zurückzuführen ist, sondern der Zeuge selbst für seine prozessuale Gefahrdungslage verantwortlich ist, weil er sich bewußt in die Gefährdungslage begeben h a t . 7 9 3 Diesem Zeugen ist es grundsätzlich selbst zuzumuten, die Kosten seines Rechtsbeistandes zu übernehmen. Der Staat ist hier nur dann zur Kostentragung verpflichtet, wenn der Zeuge mittellos und ohne rechtskundigen Beistand nicht in der Lage ist, die ihm - aufgrund seiner Subjektstellung zustehenden Verfahrensteilhaberechte angemessen auszuüben. Für die Beiordnung kann in

788

Zur Situation des gefährdeten Zeuge auch LG Darmstadt, StV 1986, 147. In diese Richtung auch LG Darmstadt, StV 1986, 147; Böttcher, SchülerSpringorum-FS, S. 551; Krehl y GA 1990, 565; Siegismund, JR 1994, 255. Einschränkend auf Fälle der Mittellosigkeit des gefährdeten Zeugen dagegen zu Unrecht 789

Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1192. 790

Vgl. auch Siegismund, JR 1994, 254. Danach soll dem mittellosen Zeugen grundsätzlich Prozeßkostenhilfe gewährt werden, um eine unbegründete Besserstellung begüterter Zeugen zu vermeiden, vgl. hierzu Pas leer, NStZ 1993, 201. Kritisch hierzu Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 261. 792 Überblick über den Streitstand hins. der Gebühren des Zeugenbeistandes im allgemeinen bei Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 264 f; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 115 ff.; vgl. auch Joester, StV 1983, 513; Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 156. 793 Eingehend hierzu oben S. 137. 791

24 Zacharias

370

4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

diesen Fällen - wie auch sonst bei nicht gefährdeten Zeugen 7 9 4 - auf die Grundsätze der Prozeßkostenhilfe, §§ 114 ff. ZPO, in entsprechender Anwendung des § 397 a StPO zurückgegriffen werden. Nach § 465 Abs. 1 S. 1 StPO hat der verurteilte Angeklagte die Kosten des Verfahrens und damit grundsätzlich auch die Auslagen des gerichtlich bestellten Zeugenbeistandes zu tragen, § 464 a Abs. 1 S. 1 StPO. Eine generelle Kostentragungspflicht des Angeklagten erscheint jedoch unbillig. Entsprechend § 472 Abs. 1 S. 2 StPO sollte die Kostentragungspflicht auf Fälle beschränkt werden, in denen der Angeklagte für die Gefährdungslage des Zeugen verantwortlich erscheint. D. Ausschluß des Beistandes Ebenso wie der Zeuge ein Recht hat, sich des Beistandes eines Rechtsanwaltes zu bedienen, hat der Rechtsanwalt ein Recht, seine Beistandsfunktion auszuüben. Die Zurückweisung eines Rechtsanwaltes als Zeugenbeistand beeinträchtigt die Freiheit seiner Berufsausübung, Art. 12 Abs. 1 GG, und bedarf daher einer gesetzlichen Grundlage. 795 Bei Zeugen aus dem Bereich organisierter Kriminalität kommt es gelegentlich vor, daß ihnen von der "Organisation" ein Rechtsanwalt zur Seite gestellt wird. Aufgabe dieses "Beistandes" ist es weder, dem Zeugen zu einer selbstbestimmten Verfahrensteilhabe zu verhelfen noch die Sachverhaltsaufklärung zu unterstützen. Seine Aufgabe besteht vielmehr darin, Schäden von der Organisation abzuwenden, die durch eine unkontrollierte Zeugenaussage entstehen könnten. Ein derart "aufgedrängter" oder "eingeschleuster" 796 Zeugenbeistand verhindert eine unvoreingenommene und sachgerechte Verfahrensteilhabe des Zeugen und gibt Anlaß zur Besorgnis, daß der Zeuge in seiner Gegenwart die Wahrheit nicht sagen werde. Es liegt daher auf der Hand, daß die Strafverfolgungsorgane i m Interesse der Sachverhaltsaufklärung, aber auch i m Interesse des Zeugen die Möglichkeit haben müssen, einen Rechtsanwalt als Beistand auszuschließen, wenn aufgrund konkreter Tatsachen zu befürchten ist, daß er seine Stellung zu verfahrensfremden Zwecken mißbraucht. § 177 S. 1 GVG eröffnet diese Möglichkeit nicht. Zum einen handelt es sich bei dem Rechtsbeistand des Zeugen weder selbst um einen Zeugen noch 794 OLG Stuttgart, StV 1992, 262; OLG Stuttgart, StV 1993, 143; OLG Düsseldorf, MDR 1993, 71; LG Verden, StV 1992, 268; Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 253, 260; Pasker, NStZ 1993, 201 795 Hierzu auch BVerfGE 38, 105, 119; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 118; Wagner, DRiZ 1983, 22. 796 So die Bezeichnung im österreichischen Justizausschußbericht, AB 1157, S. 9, zum Strafprozeßänderungsgesetz 1993.

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

371

um eine "bei der Verhandlung nicht beteiligte Person", da er den Zeugen - soweit dieser an der Verhandlung beteiligt i s t 7 9 7 - als Rechtsanwalt v e r t r i t t . 7 9 8 Zum anderen läßt sich den Gefahren der aufgedrängten Zeugenbeistandschaft nicht durch Anordnungen nach § 176 GVG begegnen, da die äußere Ordnung der Vernehmung gerade nicht gefährdet wird. Schließlich käme ein Ausschluß des Beistandes i m staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren nach § 177 G V G von vornherein nicht i n Betracht. - Eine analoge Anwendung der Vorschriften über den Verteidigerausschluß, § 138 äff. StPO, erscheint bereits i m Hinblick auf die Anforderungen des Art. 19 Abs. 1 GG bedenklich. 7 9 9 Zudem werden die dort genannten strengen Voraussetzungen regelmäßig nicht von dem "aufgedrängten" Zeugenbeistand erfüllt sein. Damit zeigt sich auch bei der Frage nach den Ausschlußmöglichkeiten, daß eine gesetzliche Regelung des Zeugenbeistandes dringend geboten i s t . 8 0 0 Wird der Rechtsbeistand bei der staatsanwaltschaftlichen Zeugenvernehmung zurückgewiesen, räumt der BGH dem Zeugen das Recht ein, richterliche Entscheidung analog § 161 a Abs. 2 StPO zu beantragen. 801 Gegen den richterlich angeordneten Ausschluß des Rechtsbeistandes kann der Zeuge mit der Beschwerde, § 304 Abs. 2 StPO vorgehen. 8 0 2 E. Zusammenfassung und Stellungnahme Der gefährdete Zeuge ist berechtigt, sich i n jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Rechtsanwaltes zu bedienen. Der Beistand hat das Recht, den Zeugen ungestört und vertraulich zu beraten. Er hat das Recht, während der Vernehmung seines Mandanten i m Ermittlungsverfahren und während der ge-

797

Zur Subjektstellung und damit zur Beteiligtenstellung des Zeugen eingehend

S. 118 f. 798

So auch Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 153; Kissel, § 177 GVG Rdn.

14; KK/Mayr,

§ 177 GVG, Rdn. 2; Krekeler,

NJW 1980, 980 f.; LR/K Schäfer, 23.

Aufl., § 177 GVG Rdn. 3; SK/Rogall y Vor § 48 Rdn. 119. A.A Kleinknecht/MeyerGoßner, § 177 GVG Rdn. 4; KMR/Paulus y Vor § 48 Rdn. 31; Schmidt, Die Rechte des Zeugen, S. 107 f. 799 Eine analoge Anwendung der §§ 138 a StPO lehnen ab KMR/Paulus y Vor § 48 Rdn. 31; SK/Rogall, Vor § 48 Rdn. 119; Thomas, NStZ 1982, 496. Bejahend dagegen Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 152. - Zu der Frage, wann eine Gesetzesanalogie unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten als unzulässige Setzung neuen Rechts anzusehen ist, vgl. BVerfGE 15, 226, 233 f.; 34, 293, 303 (Verteidigerausschluß). 800 Zu einem Gesetzesvorschlag sogleich unter E. 801 Vgl. BGHSt 39, 112, 118; LR/Rieß, § 161 a Rdn. 50. A.A. Lüdeke y Der Zeugenbeistand, S. 248: § 304 Abs. 2 StPO analog. 802 V g l hierzu auch Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 249 f. 24*

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4. Teil: Strafprozessualer Zeugenschutz

samten Hauptverhandlung anwesend zu sein. Akteneinsicht ist ihm auch ohne gesetzliche Grundlage jedenfalls in dem Umfange zu gewähren, i n dem dies zur Wahrnehmung seiner Beistandsaufgaben geboten ist. Der Beistand ist berechtigt, den Zeugen bei der Ausübung seiner Verfahrensteilhaberechte zu vertreten. Er hat das Recht, für den Zeugen Erklärungen abzugeben, Anträge zu stellen sowie Rechtsbehelfe einzulegen. Die Strafverfolgungsorgane sind verpflichtet, den gefährdeten Zeugen über sein Beistandsrecht zu belehren. Die strafprozessuale Schutz- und Fürsorgepflicht kann es gebieten, die Vernehmung des Zeugen zu unterbrechen bzw. auszusetzen, damit der gefährdete Zeuge sich beraten bzw. einen Beistand seines Vertrauens zur Vernehmung hinzuziehen kann. Aufgrund der besonderen Verfahrensstellung einer Person, die durch die Übernahme der Zeugenrolle an Leben, Gesundheit oder Freiheit gefährdet wird, ist dieser Person von Amts wegen ein Beistand zu bestellen. Ist die Gefährdungslage dem Zeugen aufgrund eigenen, verantwortlichen Verhaltens zuzurechnen, so hat er die anfallenden Kosten selbst zu tragen, sofern er hierzu i n der Lage ist. Ein Rechtsanwalt sollte als Beistand ausgeschlossen werden können, wenn aufgrund konkreter Tatsachen zu befürchten ist, daß er seine Stellung zu verfahrensfremden Zwecken mißbraucht. Der zentrale Mangel der derzeitigen Rechtslage liegt i n dem Fehlen einer klaren gesetzlichen Grundlage. Auch wenn der Zeugenbeistand kein Allheilmittel zur Lösung der strafprozessualen Zeugenschutzproblematik ist, kommt ihm gleichwohl eine Bedeutung zu, die es nicht angemessen erscheinen läßt, die Ausgestaltung seiner Rechtsstellung weiterhin allein "dem Räsonieren der Verfassungsinterpreten" zu überlassen. Bedenklich wird der Mangel der gesetzlichen Grundlage dort, wo eine sachgerechte Lösung de lege lata nur durch Umgehung des Gesetzesvorbehaltes, Art 19 Abs. 1 GG, zu erreichen ist. Vorgeschlagen wird folgende Regelung 803 : § 7 1 a StPO: Abs. 1: Der Zeuge kann sich des Beistandes eines Rechtsanwaltes bedienen und sich bei der Wahrnehmung seiner Rechte vertreten lassen. Hierauf ist er in der Ladung hinzuweisen. Bei der Vernehmung des Zeugen sowie während der Hauptverhandlung ist dem Rechtsanwalt die Anwesenheit gestattet. Dem Rechtsanwalt ist Akteneinsicht zu gewähren, soweit er ein berechtigtes Interesse darlegt und überwiegende Interessen dem nicht entgegenstehen.

803

Zu weiteren Reformvorschlägen vgl. Kaum, Der Beistand im Strafprozeß, S. 158; Lüdeke, Der Zeugenbeistand, S. 284 ff., 287 ff.; Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1192.

4. Abschnitt: Schutz durch Verfahrensteilhabe

373

Abs. 2: Für die Heranziehung eines Rechtsanwaltes ist dem Zeugen entsprechend § 397 a Prozeßkostenhilfe zu gewähren. Besteht Anlaß zur Besorgnis, daß der Zeuge oder eine ihm nahestehende Person durch die Übernahme der Zeugenpflicht an Leben, Gesundheit oder Freiheit gefährdet wird, so hat der Vorsitzende von Amts wegen, im Vorverfahren auf Antrag der Staatsanwaltschaft, einen Rechtsanwalt als Beistand zu bestellen. Über die Bestellung entscheidet der Vorsitzende des Gerichts, das für das Hauptverfahren zuständig ist. Abs. 3: Der Rechtsanwalt ist als Beistand auszuschließen, wenn aufgrund konkreter Tatsachen zu befürchten ist, daß er seine Stellung zu verfahrensfremden Zwecken mißbraucht. §465 Abs. l a StPO Die Auslagen für den Rechtsanwalt eines Zeugen hat der Angeklagte nur dann zu tragen, wenn dem Zeugen aufgrund seiner Gefährdungslage ein Rechtsanwalt als Beistand bestellt wurde und bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, daß die Gefährdung von dem Angeklagten oder seinem Umfeld ausgeht.

Ergebnis der Untersuchung A . Zusammenfassung 1. Teil: Zeugenbeweis und Zeugengefährdung Dem Zeugenbeweis kommt i m Strafverfahren eine besondere Bedeutung zu. Sein geringer funktionaler Wert als Mittel zur Sachverhaltsaufklärung steht hierbei in einem bemerkenswerten Gegensatz zu seiner überragenden praktischen Bedeutung. Der geschichtliche Rückblick hat gezeigt, daß der Zeugenbeweis zu jeder Zeit geprägt war von dem Konflikt zwischen Einzelfallgerechtigkeit durch freie Beweiswürdigung und Rechtssicherheit durch starre Beweisregeln. Die Rechtsstellung des Zeugen war - ebenso wie die des Beschuldigten - stets Ausdruck des Verhältnisses zwischen staatlicher Macht und individueller Freiheit. Erst i m 20. Jahrhundert konzentrierte sich die Entwicklung einseitig auf die Person des Beschuldigten. Der Zeuge wird bis heute als eigenständiges Rechtssubjekt weitgehend ignoriert. Das Phänomen der Zeugengefährdung ist in allen Kriminalitätsbereichen anzutreffen und gewinnt in der Rechtspraxis zunehmend an Bedeutung. Im Bereich der organisierten Kriminalität kann es als Wesensmerkmal bezeichnet werden. 2 Teil: Staatliche Schutzpflicht Zeugenschutz ist nicht nur ein strafprozessuales Problem, sondern ein Gebot des Grundgesetzes. Maßnahmen der Strafverfolgungsorgane, durch welche die Gefährdungslage des Zeugen begründet oder erhöht wird, beeinträchtigen grundrechtlich geschützte Positionen des Betroffenen. Diese Mitverantwortung für die Gefährdungslage verpflichtet den Staat. Zum einen hat der Staat die von ihm hervorgerufene Gefahrenlage durch polizeilichen Schutz zu kompensieren. Zum anderen obliegen den Strafverfolgungsorganen verfährensbezogene Schutz- und Fürsorgepflichten. So sind die Zeugenpflichten i m Wege verfassungskonformer Reduktion zu beschränken, falls der Zeuge andernfalls an Leben, Gesundheit oder Freiheit gefährdet würde. Darüber hinaus sind die Schutzinteressen des Zeugen bei allen gefährdungsrelevanten Ermessensentscheidungen zu berücksichtigen. Kommt es

A Zusammenfassung

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hierbei zu einer Kollision mit den Verteidigungsinteressen des Beschuldigten, ist zu beachten, daß diese - sofern sie über die Sachverhaltsaufklärung hinausgehen - nicht auf Kosten des Zeugen verwirklicht werden dürfen. Der Beschuldigte kann seine Interessen dadurch relativieren, daß er als Urheber der Gefahrenlage erscheint oder ihm diese - aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation - zuzurechnen ist. Im Hinblick auf die Schutzinteressen des Zeugen ist zu berücksichtigen, ob Umstände vorliegen, die ihn in erhöhtem Maße gefahrtragungspflichtig erscheinen lassen, z.B. weil er sich bewußt in eine kriminelle Szene begeben hat, in der eine Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsorganen "sanktioniert" wird. Neben diesen Pflichten der Strafverfolgungsorgane ergibt sich aus den betroffenen Grundrechten auch ein Recht des Zeugen auf Verfahrensteilhabe. Der Zeuge ist vor allen Entscheidungen anzuhören, die seine Gefährdungslage verschlechtern können. Zudem hat er Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gegen ihn gefährdende Maßnahmen. Sein (Grund-)Recht auf Verfahrensteilhabe umfaßt auch die Befugnis, einen Rechtsanwalt als Beistand zur Vernehmung hinzuzuziehen. 3. Teil: Polizeilicher

Zeugenschutz

Polizeilicher Zeugenschutz ist eine Konsequenz der staatlichen Schutzpflicht gegenüber dem gefährdeten Zeugen. Derartige Programme bieten jedoch kein Allheilmittel, um die Probleme der Zeugengefährdung zu lösen. Sie stellen lediglich dann ein wirksames Mittel dar, wenn es darum geht, Personen, die i n eine kriminelle Szene verstrickt sind, als Beweispersonen zur Sachverhaltsaufklärung in einem Strafverfahren zu gewinnen. Die derzeitige Praxis des polizeilichen Zeugenschutzes leidet indes an erheblichen Mängeln. Zu kritisieren ist insbesondere das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für Zeugenschutzmaßnahmen des Bundeskriminalamt, sowie die fehlende gesetzliche Grundlage für Identitätsänderungen. Verbesserungsbedürftig erscheint darüber hinaus die personelle und organisatorische Trennung von allen Ermittlungsaufgaben sowie die nötige Transparenz gegenüber allen Organen der Rechtspflege. 4. Teil: Strafprozessualer

Zeugenschutz

Die Vorschriften der Straiprozeßordnung zum Schutz des Zeugen sind ergänzungsbedürftig. Aber selbst von bestehenden Möglichkeiten wird nicht i n dem erforderlichen Umfang Gebrauch gemacht. Dies liegt zum einen daran, daß das Gericht während der Hauptverhandlung kaum Informationen über die tatsächliche Gefahrenlage erhält. Der Zeuge ist häufig aus Furcht nicht bereit, überhaupt Angaben über die Art und

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Ergebnis der Untersuchung

Dauer der Repressalien oder die Person des Drohenden zu machen. Im Zweifel wählt er den "sicheren" Weg einer Falschaussage. Diesem Mangel ist dadurch zu begegnen, daß der Zeuge bereits mit der Ladung aufgefordert wird, anzugeben, ob er sich bedroht fühlt. Der Vorsitzende hat sodann i m Wege des Freibeweises - also unter Ausschluß der Angeklagten und des Verteidigers - die tatsächliche Gefahrenlage zu ermitteln. Wegen dieser Möglichkeit ist es auch nicht sachgerecht, daß die Ermittlungsbehörden eine Auskunftsperson allein mit der Begründung "sperren" können, die Übernahme der Zeugenrolle würde den Betroffenen unzumutbar gefährden. Diese - für das gerichtliche Verfahren verbindliche Feststellung - hat der Vorsitzende im Freibeweisverfahren und nicht die Polizeibehörde zu treffen. Ein weiterer Grund für die zurückhaltende Anwendung zeugenschützender Vorschriften ist in dem einseitigen Revisionsrisiko zu sehen. Im Hinblick auf den Ausschluß des Angeklagten und der Öffentlichkeit sollten zeugenschützende Anordnungen daher insgesamt der Anfechtung entzogen werden. I m übrigen kann die Anwendung zeugenschützender Normen dadurch vereinfacht werden, daß der Gesetzgeber jeweils klarstellt, daß die einzelnen Zeugenpflichten bei Gefahr für Leben, Gesundheit und Freiheit in jedem Falle beschränkt sind. Als eindeutiger Mangel der derzeitigen Rechtslage erweist sich die fehlende Zulässigkeit von Bildschirmvernehmungen und Maßnahmen der optischen Abschirmung. Derartige Vorkehrungen bieten die Möglichkeit, das Wissen von Aussteigern, V-Personen und Verdeckten Ermittlern auf eine für alle Betroffenen zumutbare Weise in das Strafverfahren einzuführen. In den Fällen, in denen einer gefährdeten Auskunfitsperson die Übernahme der Zeugenrolle nicht zuzumuten ist, kann das Gericht das Wissen der Auskunftsperson durch Beweissurrogate in das Verfahren einführen. Das Abspielen eines Videobandes über eine frühere Vernehmung stellt hierbei die beste Form eines Beweissurrogates dar und sollte gesetzlich zugelassen werden. Von Rechtsprechung und Literatur völlig vernachlässigt wurde bisher die Frage, welche rechtlichen Möglichkeiten einem Zeugen zustehen, um auf eine zeugenschützende Verfahrensgestaltung hinzuwirken bzw. gegen eine gefährdende Maßnahme vorzugehen. Die vorliegende Untersuchung erbrachte hierzu folgende Ergebnisse: Der Zeuge hat das Recht, strafprozessuale Maßnahmen zu seinem Schutz zu beantragen. Zudem ist er vor allen gefährdungsrelevanten Entscheidungen der Strafverfolgungsorgane zu hören. Gegen sämtliche gerichtliche Maßnahmen, die seine Gefährdungslage verschlechtern, kann der Zeuge mit der Beschwerde vorgehen. Da ein Vollzug der angegriffenen Maßnahme irreparable Folgen hätte, hat bereits das Ausgangsgericht grundsätzlich die aufschiebende Wirkung der Beschwerde anzuordnen. Im staatsanwaltschaftlichen Ermitt-

Β. Überblick über die Gesetzesvorschlge

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lungsverfahren ist der Zeuge i m wesentlichen auf den umständlichen Rechtsweg nach §§23 EGGVG verwiesen. Sachgerecht wäre hier, für den gefährdeten Zeugen ein gerichtliches Verfahren in der Straiprozeßordnung selbst vorzusehen. Ist der Zeuge an Leben, Gesundheit oder Freiheit gefährdet, so ist ihm von Amts wegen ein Rechtsanwalt als Beistand zu bestellen. In dem Umfange, in dem dies zur Wahrnehmung seiner Beistandsaufgaben geboten ist, ist ihm Akteneinsicht zu gewähren. Dringend erforderlich ist auch hier eine klare gesetzliche Grundlage.

B. Überblick über die Gesetzesvorschläge /. StPO § 48 S. 2: Verzicht auf Ladung "Von einer Ladung ist abzusehen, wenn der Zeuge oder eine ihm nahestehende Person durch sein Erscheinen zur Vernehmung unzumutbar gefährdet wird." § 55 Abs. 1: Auskunftsverweigerungsrecht Jeder Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihm selbst oder einem der in § 52 Abs. 1 bezeichneten Angehörigen die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden "oder deren Beantwortung ihn selbst oder eine ihm nahestehende Person an Leben, Gesundheit oder Freiheit gefährden würde". § 68 Abs. 3: Optische/akustische

Abschirmung

S. 2: "Geht die Gefährdung von der Offenbarung der äußeren Erscheinung oder der Stimme des Zeugen aus, so kann der Vorsitzende eine optische oder akustische Abschirmung des Zeugen anordnen." Die bisherigen Sätze 2, 3 und 4 werden zu Sätzen 3, 4 und 5. § 69 Abs. 4: Hinweis auf Zeugenschutzgesetz "Steht zu befürchten, daß auf die Aussagefähigkeit oder -bereitschaft einer Auskunftsperson von dritter Seite durch Gewalt oder Drohung Einfluß genommen wird, können zu ihrem Schutz Maßnahmen getroffen werden. Das Nähere regelt das Zeugenschutzgesetz."

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Ergebnis der Untersuchung

§ 71 a: Zeugenbeistand Abs. 1: Der Zeuge kann sich des Beistandes eines Rechtsanwaltes bedienen und sich bei der Wahrnehmung seiner Rechte vertreten lassen. Hierauf ist er i n der Ladung hinzuweisen. Bei der Vernehmung des Zeugen sowie während der Hauptverhandlung ist dem Rechtsanwalt die Anwesenheit gestattet. Dem Rechtsanwalt ist Akteneinsicht zu gewähren, soweit er ein berechtigtes Interesse darlegt und überwiegende Interessen dem nicht entgegenstehen. Abs. 2: Für die Heranziehung eines Rechtsanwaltes ist dem Zeugen entsprechend § 397 a Prozeßkostenhilfe zu gewähren. Besteht Anlaß zur Besorgnis, daß der Zeuge oder eine ihm nahestehende Person durch die Übernahme der Zeugenpflicht an Leben, Gesundheit oder Freiheit gefährdet wird, so hat der Vorsitzende von Amts wegen, i m Vorverfahren auf Antrag der Staatsanwaltschaft, einen Rechtsanwalt als Beistand zu bestellen. Über die Bestellung entscheidet der Vorsitzende des Gerichts, das für das Hauptverfahren zuständig ist. Abs. 3: Der Rechtsanwalt ist als Beistand auszuschließen, wenn aufgrund konkreter Tatsachen zu befürchten ist, daß er seine Stellung zu verfahrensfremden Zwecken mißbraucht. § 147 Abs. 2: Akteneinsicht S. 2: "Die Akteneinsicht ist zu versagen, wenn Anlaß zu der Besorgnis besteht, daß durch die Akteneinsicht der Zeuge oder eine andere Person gefährdet wird." § 161 a Abs. 3: Rechtsschutz S. 1: "Gegen Entscheidungen der Staatsanwaltschaft kann der betroffene Zeuge oder Sachverständige gerichtliche Entscheidung beantragen." § 168 c: Ausschluß des Beschuldigten/Verteidigers Abs. 2 S. 2: "Der Richter kann den Beschuldigten und seinen Verteidiger von der Vernehmung ausschließen, wenn Anlaß zu der Besorgnis besteht, daß ihre Anwesenheit zu einer Gefährdung des Zeugen oder einer anderen Person führt." Abs. 2 S. 3: "Der Richter hat den Beschuldigten und seinen Verteidiger auszuschließen, wenn Anlaß zu der Besorgnis besteht, daß ihre Anwesenheit zu einer Gefahrdung des Lebens, der Gesundheit oder der Freiheit des Zeugen oder einer anderen Person führt."

Β. Überblick über die Gesetzesvorschlge

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§ 247: Ausschluß des Angeklagten S.2: Das gleiche gilt, wenn Anlaß zur Besorgnis besteht, daß durch die Vernehmung in Anwesenheit des Angeklagten ein Zeuge oder eine andere Person gefährdet wird. S.3: Der Angeklagte ist auszuschließen, wenn die dringende Gefahr besteht, daß durch seine Anwesenheit während der Vernehmung der Zeuge oder eine andere Person an Leben, Leib oder Freiheit gefährdet wird. S.4: Das gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 16 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist. S.5: Unter den Voraussetzungen der Sätze 1 und 2 kann der Ausschluß auf die Vereidigung des Zeugen sowie die Augenscheinseinnahme am Körper des Zeugen erstreckt werden; unter den Voraussetzungen der Sätze 3 und 4 ist der Ausschluß hierauf zu erstrecken. S.6: Die Entscheidung über den Ausschluß zum Schutz des Zeugen oder einer anderen Person ist unanfechtbar. § 250 S. 2: Räumliche Abschirmung "Sind bei der Vernehmung eines Zeugen in der Hauptverhandlung erhebliche Nachteile für die Aufklärung des Sachverhaltes oder das Wohl des Zeugen oder einer anderen Person zu befürchten, so kann der Zeuge mittels technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung vernommen werden. " Der bisherige S. 2 wird zu S. 3. § 251 Abs. 1 a: Abspielen von Videoaufzeichnungen "Aus den gleichen Gründen darf die Vernehmung durch das Abspielen der Videoaufzeichnung einer früheren Vernehmung ersetzt werden, sofern der Vernommene in die Aufzeichnung eingewilligt hat." §465 Abs. 1 a: Auslagen des Zeugenbeistandes "Die Auslagen für den Rechtsanwalt eines Zeugen hat der Angeklagte nur dann zu tragen, wenn dem Zeugen aufgrund seiner Gefährdungslage ein Rechtsanwalt als Beistand bestellt wurde und bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, daß die Gefährdung von dem Angeklagten oder seinem Umfeld ausgeht."

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Ergebnis der Untersuchung

IL GVG §172 GVG: Ausschluß der Öffentlichkeit Der bisherige § 172 GVG wird zu § 172 Abs. 1. Die bisherige Nr. l a erhält folgenden Wortlaut: (Das Gericht kann ... die Öffentlichkeit ausschließen wenn "eine Gefährdung des Zeugen oder einer anderen Person zu besorgen ist." Abs. 2: "Die Öffentlichkeit ist auszuschließen, wenn eine Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit des Zeugen oder einer anderen Person zu besorgen ist. Die Entscheidung ist unanfechtbar." III. Zeugenschutzgesetz 1. Rechtsgrundlage für Identitätsänderung "Soweit der Schutz eines Zeugen oder einer ihm nahestehenden Person vor einer konkreten Gefährdung des Lebens oder einer erheblichen Beeinträchtigung der Gesundheit oder der persönlichen Freiheit nicht durch andere Maßnahmen möglich ist, kann die von der Landesregierung bestimmte Stelle diesen Personen eine auf Dauer angelegte, veränderte Identität (Legende) verleihen. Soweit es für den Aufbau oder die Aufrechterhaltung der Legende unerläßlich ist, dürfen entsprechende Urkunden hergestellt, verändert und gebraucht werden." 2. Trennungsprinzip "Die Zeugenschutzdienststellen sind organisatorisch selbständig zu führen. Sie dürfen ermittelnden Polizeistellen auch nicht zugeordnet sein. Die Beamten sind von Ermittlungstätigkeiten in allen Verfahren, die die Schutzperson als Auskunftsperson betreffen, freizustellen." 3. Beteiligung von Staatsanwaltschaft

und Gericht

"Die ermittelnde Polizeidienststelle darf Maßnahmen des Zeugenschutzes nur mit Einwilligung der Staatsanwaltschaft beantragen. Bei Gefahr i m Verzug ist die Staatsanwaltschaft unverzüglich zu unterrichten. Vor der Entscheidung über eine Umsiedlung, Identitätsänderung sowie über den Umfang der geldwerten Zuwendungen hat die Zeugenschutzdienststelle das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft herzustellen. Die ladungsfahige Anschrift, nicht aber der Aufenthaltsort oder die neue Identität, ist mitzuteilen.

Β. Überblick über die Gesetzesvorschlage

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In den Ermittlungsakten ist zu vermerken, aus welchen Gründen der Zeuge in das Schutzprogramm aufgenommen wurde und in welchem Umfang er geldwerte Zuwendungen erhalten hat oder diese vorgesehen sind."

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