Der frühe Zürcher Pietismus (1689-1721): Der soziale Hintergrund und die Denk- und Lebenswelten im Spiegel der Bibliothek Johann Heinrich Lochers (1648-1718) 9783666558412, 9783525558416, 9783647558417

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Der frühe Zürcher Pietismus (1689-1721): Der soziale Hintergrund und die Denk- und Lebenswelten im Spiegel der Bibliothek Johann Heinrich Lochers (1648-1718)
 9783666558412, 9783525558416, 9783647558417

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Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus

Herausgegeben von Hans Schneider, Christian Bunners und Hans-Jürgen Schrader

Band 54

Vandenhoeck & Ruprecht

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Kaspar Bütikofer

Der frühe Zürcher Pietismus (1689–1721) Der soziale Hintergrund und die Denkund Lebenswelten im Spiegel der Bibliothek Johann Heinrich Lochers (1648–1718)

Vandenhoeck & Ruprecht

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Mit 7 Diagrammen, 11 Tabellen, 5 Figuren und 23 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. ISBN 978-3-525-55841-6 Umschlagabbildung: Frontispiz aus Jakob Böhme, Mysterium Magnum, 1730 [UB Basel, Aleph F VI 30] © 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Daniela Weiland, Göttingen. Druck und Bindung: D Hubert & Co, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Der soziale Hintergrund des Pietismus . . . . . . . . . . . . .

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1.1 Wer waren die Pietisten? . . . . . . . . . 1.1.1 Das Definitionsproblem . . . . . . 1.1.2 Das Problem der sozialen Verortung 1.1.3 Die Quellenbasis . . . . . . . . . .

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1.2 Die Sozialstruktur des Zürcher Pietismus 1.2.1 Regionale Verteilung . . . . . . 1.2.2 Frauen und Männer . . . . . . . 1.2.3 Altersstruktur . . . . . . . . . . 1.2.4 Soziale Schichtung . . . . . . . . 1.2.4.1 Zunftzugehörigkeit . . . . . . . 1.2.4.2 Berufskategorien . . . . . . . . 1.2.4.3 Die Landschaft . . . . . . . . . 1.2.5 Soziale Mobilität . . . . . . . . .

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1.3 Pietismus und Gesellschaft . . . . . . . . . . 1.3.1 Pietisten im Staat . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2.1 Konventikel . . . . . . . . . . . . . 1.3.2.2 Ökonomisches und freundschaftliches Beziehungsgef lecht . . . . . . . . . . 1.3.2.3 Pietistische Buchkultur . . . . . . . . 1.3.2.4 Die Abendmahlsverweigerung . . . .

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1.4 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Lesewelt und Alltagsbewältigung: Die Bibliothek Johann Heinrich Lochers . . . . . . . . . . . .

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2.1 »Böss geheissene Bücher und durch oberkeitliche Hilff genommen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.1.1 Eine »Warhafftige Erzellung« . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Die rekonstruierte Bibliothek . . . . . . . . . . . . .

110 113

2.2 »Der Tode Adams vnnd das Leben Christi«: Die Arndtianer 122 2.2.1 Johann Arndt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2.2.1.1 Das Erste Buch vom wahren Christentum . . . . . . 125 2.2.1.2 Paradiß=Gärtlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2.2.2 Arndts Quellen: Die mittelalterlichen Mystiker . . . . 137 2.2.2.1 Johannes Tauler . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2.2.2.2 Thomas Hemerken von Kempen (Thomas à Kempis) 155 2.2.2.3 Deutsche Theologie (auch Der Franckforter) . . . . 163 2.2.3 Arndts Quellen: Paracelsus . . . . . . . . . . . . . . 177 2.2.4 Johann Valentin Andreae und die Rosenkreuzer . . . 191 2.2.5 Valentin Weigel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2.2.6 Die radikalen oder »linken« Arndtianer . . . . . . . . 198 2.2.6.1 Joachim Betke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 2.2.6.2 Friedrich Breckling . . . . . . . . . . . . . . . . 200 2.2.6.3 Christian Hoburg (Elias Praetorius) . . . . . . . . . 203 2.3 Der alte und neue Mensch: Jakob Böhme . . . . . . 2.3.1 Jakob Böhme . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.1 Mysterium Magnum . . . . . . . . . . . . 2.3.1.2 Böhmes Wercke (1682) . . . . . . . . . . . 2.3.2 Böhmes Vorläufer . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.1 Kaspar Schwenckfeld und die Schwenkfelder 2.3.2.2 Sebastian Franck . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Schlesische Spiritualisten . . . . . . . . . . . 2.3.4 Die Böhme-Literatur und -Streitschriften . . 2.3.5 Die »holländische Krankheit« . . . . . . . . .

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2.4 Das Buch der Natur: Zwischen okkulter und exakter Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Hermetismus und Paracelsismus . . . . 2.4.2 Alchemie, Medizin und Wunderbücher . 2.4.3 Naturphilosophie und Erkenntnistheorie

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2.5 »Wachet! der Bräutigam ist vor der Thür«: Endzeiterwartungen . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Die Zeichen der Zeit, das Strafgericht Gottes und apokalyptische Visionen . . . . . . . . 2.5.2 Endzeitberechnungen . . . . . . . . . . . 2.5.3 Millennarismus . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3.1 Die Bekehrung der Juden . . . . . . . . .

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Inhalt

2.5.3.2 Philadelphia – die sechste Gemeinde 2.5.3.3 Die Zeit der Kühlung . . . . . . . 2.5.3.4 Alles in allem . . . . . . . . . . . . 2.5.4 Naturphilosophischer Chiliasmus . . .

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2.6 Die Wiederbringung aller Dinge: Literatur im radikalpietistischen Umfeld . . . . . . 2.6.1 Einf lüsse aus Parallelbewegungen . . . . . . 2.6.1.1 England: Puritaner und Quäker . . . . . . . 2.6.1.2 Miguel de Molinos . . . . . . . . . . . . . 2.6.2 Die Labadisten und Pierre Yvon . . . . . . . 2.6.3 Antoinette Bourignon und Pierre Poiret . . . 2.6.3.1 Antoinette Bourignon und ihre Rezeption . 2.6.3.2 Die pietistische Pädagogik: Pierre Poiret . . 2.6.4 »The Behmenists« und die Apokatastasis panton 2.6.4.1 Thomas Bromley und John Pordage . . . . 2.6.4.2 Jane Leade . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.4 Radikalpietismus: Das Ehepaar Petersen . . .

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2.7 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Pietismus und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.1 »Aber der Gerechte hält fest an seinem Weg« . . . . . 3.1.1 Das Verhältnis des Pietismus zur Politik . . . . 3.1.2 Versuch einer politischen Theorie des Pietismus 3.1.3 Patriarchaler Obrigkeitsstaat und Barockkultur .

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3.2 Der Anteil des Pietismus an der Zürcher Verfassungsbewegung 1713 . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Das pièce de résistance: Eid und Korruption . 3.2.2 Der Auftakt: Die Kirchen- und Schulreform . 3.2.3 Der Anlass: Die Kleiderordnung . . . . . . . 3.2.4 Der Höhepunkt: Die Burgerunruhen von 1713

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3.3 Der Weg in die Kontemplation . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Der Zusammenbruch: Die Politik der Inspiration . . . 3.3.2 Abgrenzungstendenzen im Pietismus: Radikale und Gemäßigte . . . . . . . . . . . . . . .

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3.4 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schluss und Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Pietistenkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bücherbesitz Johann Heinrich Lochers . . . . . . . . . . . . . Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verzeichnis der Diagramme, Tabellen, Figuren und Abbildungen

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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2007–2008 an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel als Dissertation angenommen. Die Promotionsschrift ist über lange Jahre gewachsen. Sie ist neben meiner Erwerbsarbeit entstanden und ich musste mir oft die knappe Zeit dazu abringen. Die Arbeit bescherte mir einige einsame Stunden und erforderte meine Beharrlichkeit; sie gab mir aber auch viel Befriedigung, stillte meinen Forscherdrang und schenkte mir glückliche Momente, wenn ich im Archiv das Gesuchte fand, Puzzlesteine sich zu einem Bild zusammenfügten oder sich neue Perspektiven über den bearbeiteten Gegenstand öffneten. Am Anfang des Dissertationsprojektes standen mein an der Universität Zürich verfasstes Lizentiat und die freundliche Bereitschaft von Prof. Dr. Kaspar von Greyerz, die Arbeit weiterhin zu betreuen. Meiner Neigung zur seriellen Geschichtsschreibung und meinem Interesse für politische Widerstandsformen folgend wollte ich mich ursprünglich in der Erforschung des frühen Zürcher Pietismus auf eine prosopographische Auswertung und auf den innern Zusammenhang zwischen der Frömmigkeitsbewegung und den Zürcher Verfassungsunruhen von 1713 konzentrieren. Doch bald verließ ich vertrautes Terrain und stieß in eine ferne ideengeschichtliche Zone vor. Einzig mit einer Bücherliste über eine im Jahr 1698 durch die Zürcher Obrigkeit beschlagnahmte pietistische Privatbibliothek als Wegweiser ausgerüstet, stand ich auf mir unbekanntem Boden. Vertrautes und Fremdes vermischte sich da in ungewohnter Weise, ohne dass ich anfänglich genau wusste, was ich damit bewerkstelligen soll. Ich kam mir vor, wie der schottische Abenteurer James Bruce, der 1768 zu den unerforschten Quellen des Nil auf brach und ein Land vorfand, das er mit seinem hergebrachten Wissen weder begreifen noch beschreiben konnte. Er entdeckte fern jeder europäischen Kultur mit Staunen und Befremden eine entwickelte Zivilisation mit Kaiser und Königen, die in steinernen Schlössern und Palästen wohnten und runde Kirchen bauten – Menschen, die sich Christen nannten, aber rohes Fleisch aßen! – In meinem Abenteuer erforschte ich eine entlegene Ideenwelt, und meine Arbeit darf als Reisebericht in eine ähnlich ferne Welt gelesen werden. An dieser Stelle will ich allen meinen Dank aussprechen, die zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben: Zuallererst möchte ich Prof. Dr. Kaspar von Greyerz (Basel) erwähnen, der mir zu diesem Dissertations-

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Vorwort

projekt Hand bot, mich über lange Jahre mit großer Geduld begleitete und im richtigen Moment aufmunternde Worte fand. Ein großer Dank gebührt ebenfalls Herrn Prof. Dr. Hans-Jürgen Schrader (Genf ), der meine Dissertation als Koreferent betreute, viele wertvolle Hinweise und Korrekturvorschläge im Hinblick auf die Drucklegung des Manuskripts beisteuerte und als Mitherausgeber der Arbeiten zur Geschichte des Pietismus meine Arbeit in diese Reihe aufnahm. In Dankbarkeit verbunden bin ich weiter Herrn Prof. Dr. Hans Schneider (Marburg), der sich namens der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus als Zweitgutachter meinem Manuskript vor der Publikation annahm. Danken möchte ich auch all jenen, mit denen ich mich über meinen Forschungsgegenstand unterhalten konnte, besonders erwähnt sei hier Dr. Peter Frei, der mir bereitwillig sein großes Wissen über theologische Fragen zur Verfügung stellte sowie meine Schwester Dr. Anna Bütikofer, die mein Manuskript mit lustvoller Kritik kommentierte. Ein besonderer Dank gebührt Frau Dr. Marjolaine Chevallier für ihre Hilfe bei der leider erfolglosen Suche nach einem Werk von Pierre Poiret. Nicht vergessen will ich das Personal der Bibliotheken: danken will ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Handschriftenabteilung und der Alten Drucke der Zentralbibliothek Zürich für das zuvorkommende Erfüllen meiner Wünsche, dem Personal der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel für die freundliche Aufnahmen sowie den Angestellten der Universitätsund Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle, der Staatsbibliothek zu Berlin, der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek in Göttingen und der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover sowie der Universitätsbibliothek Basel für das unbürokratische Bereitstellen alter Drucke. Zu guter Letzt bedanke ich mich bei Christiane Tureczek für ihr sorgfältiges Lektorat des Manuskripts. »Lasset die Kinder zu mir kommen« (Mt 19.14 u. Luk 18.16) – machen sich meine Eltern in nicht ganz uneigennütziger Weise zu eigen und schickten mich im Knirpsenalter zur Sonntagsschule, damit sie ungestört ausschlafen konnten: Ihnen sei diese Arbeit gewidmet. Zürich, im Juli 2008

Kaspar Bütikofer

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Einleitung Ende August oder Anfang September 1689 befand sich Johann Heinrich von Schönau von Amsterdam kommend auf dem Heimweg nach Zürich, als er in Meiningen, unweit von Nürnberg, unerwartet in einem Gasthof verstarb. Die Reise hatte ihn nach Holland geführt, nachdem die Zürcher Geistlichkeit die Herausgabe der französischen Ausgabe seiner pietistischen Schrift in Basel noch rechtzeitig hatte stoppen können. In Pierre Dittelbach, seinem Freund aus gemeinsamen Zeiten in der labadistischen Kolonie, hatte er darauf hin einen Verleger für die Recherche dans le livre de L’Eternel gefunden, deren Drucklegung er vor Ort hatte überwachen wollen. In seinem letzten Schreiben an seinen Gesinnungsfreund Johann Heinrich Locher in Zürich hatte der Junker aus Amsterdam berichtet, er habe 100 Reichstaler von Frans Andriesen erhalten; Druckkosten und Aufenthalt seien finanziert. Und er werde in acht Tagen die Rückreise entweder über Utrecht oder Nürnberg antreten. Er sei notfalls brief lich erreichbar in Nürnberg bei Dr. Mey oder in Schaff hausen bei Prof. Hueber. Nach dem Ableben von Johann Heinrich von Schönau entstand ein Wettrennen um dessen Nachlass. So waren einerseits die Zürcher Geistlichen an den Manuskripten und Briefen des Pietisten interessiert, andererseits trachtete auch Johann Heinrich Locher danach, sich des inkriminierenden Materials rechtzeitig zu bemächtigen. Letzterer war dank seinem pietistischen und geschäftlichen Kontaktnetz schneller. Am 30. September 1689 schrieb er an Georg Jakob Lang in Nürnberg und bat ihn, einen Freund in Meiningen anzufragen oder eine geeignete Person express dorthin zu entsenden, damit vor Ort mit Ernst Münch, dem Wirt zum Weißen Schwan, die Angelegenheiten des Verstorbenen geregelt werden könnten. Insbesondere bat Locher, die Habseligkeiten sorgfältig verpackt an ihn zu senden, oder aber diese einer Warensendung der Herder-Söhne an Frau Ursula Pestalozzi nach Winterthur zu seinen Handen beizulegen.1 Das überraschende Ableben des pietistischen Pioniers aus altem Zürcher Adelsgeschlecht bedeutete einen Wendepunkt in der Geschichte des Pietismus. Sein Tod ermunterte die Zürcher Kirche, systematisch und rigoros gegen die pietistische Strömung vorzugehen. Zuvor hatte es von Schönau, der zu den einf lussreichsten Familien in Zürich gehörte, verstanden, seine schützende Hand über die Gesinnungsgenossen zu halten. 1

ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 18, S. 24 ff.

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Einleitung

Was ist über die Geschichte des frühen Pietismus in Zürich bekannt? Der Beginn der systematischen Pietistenverfolgung setzte mit dem Tod des Junkers ein. Aber bereits vor dessen Abreise nach Holland war es zum sogenannten Woltherschen Handel gekommen. Anlass gab der Konventikelkreis um Friedrich Speyer, einem Barbiergesellen aus Kaiserslautern, der die Lehre der »Unsündbarkeit« 2 der Wiedergeborenen verbreitet hatte. Etliche Personen mussten sich vor Antistes Klingler oder Professor Schweizer verantworten: Junker Johann Heinrich von Schönau, Georg Ziegler, Johann Heinrich Locher, der Schuhmacher Jakob Sprüngli und dessen Ehefrau. Die Impekkabilitätslehre wurde zuerst vom Lüneburger Christian Theodor Wolther in Zürich verbreitet. Er kam erstmals Ende 1686 oder Anfang 1687 nach Zürich. Von Schönau begeisterte sich anfänglich für die Theorien des Lüneburgers und machte ihn mit Locher bekannt. Der bibliophile Locher blieb aber Wolther gegenüber äußerst skeptisch und konnte mit dessen Meinung, dass alle theologischen Bücher zugunsten eines reinen Bibelstudiums weggelegt werden sollten, nichts anfangen. 1689 kam Wolther ein zweites Mal nach Zürich. Es gelang ihm zwar nicht, von Schönau von dessen Herausgabe seines Buches abzuhalten, dafür konnte Wolther mit Leichtigkeit Friedrich Speyer und dessen Freundeskreis von der Impekkabilität überzeugen. Die Lehre der Unsündbarkeit fand offenbar eine unglaublich schnelle Verbreitung: Dies veranlasste die Obrigkeit, im Frühjahr 1689 einzuschreiten. Noch im Mai 1689 reisten Wolther und Speyer nach Bern weiter und verbreiteten dort ihre Lehre. Locher, welcher der Impekkabilität nicht beipf lichten konnte, versuchte seine Berner Freunde brief lich vor den beiden Handwerksgesellen zu warnen. Ohne Erfolg. Wolther fand in Bern großen Zulauf. Am 10. Juni kehrten Wolther und Speyer nach Zürich zurück. Der Tod von Schönaus ermunterte die Geistlichkeit, die Verhöre vom Frühjahr nochmals aufzurollen und systematisch auszudehnen. Dabei hatten sie es besonders auf Johann Heinrich Locher abgesehen, in welchem sie den Wortführer der heterodoxen Strömung vermuteten. Drei Jahre später zieht erneut die Impekkabilitätslehre die Aufmerksamkeit der orthodoxen Geistlichkeit auf sich. Georg Ziegler predigt darüber in einem Konventikel. Es kommt erneut zu Verhören und zu einer öffentlichen Disputation mit Georg Ziegler über die Unsündbarkeitslehre. Dieser wird anschließend in seiner Funktion als Theologe suspendiert. Er zieht darauf hin als Wanderprediger durch die Gegend, predigt im Wirtshaus in Münsingen über den bald anbrechenden Jüngsten Tag und betätigt sich vorübergehend im Pelzhandel. 2

Vgl.: 1 Joh 3.9.

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Einleitung

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Nachdem auch Peter Zeller, der Fraumünsterpfarrer und Bruder des späteren Antistes, wegen gehaltener Konventikel belangt wurde, erreichte die erste Phase der Pietistenprozesse 1698 ihren Höhepunkt. Auslöser waren gemäß der »Wahrhafftigen Erzellung« von Professor Schweizer mehrere Traktate von Jane Leade über die Wiederbringung aller Dinge, die ein in Sulzbach lebender Zürcher an seinen Schwager gesandt hatte. Die Büchersendung wurde dem Antistes Klingler angezeigt. Dieser nutzte die Gunst der Stunde und nahm erneut Johann Heinrich Locher und dessen pietistischen Freundeskreis ins Visier. In einem ersten Schritt wurde dessen Bibliothek beschlagnahmt und Locher vorübergehend im Rathaus in Arrest genommen. Die Untersuchung wurde mit den Pietistenprozessen in Bern koordiniert und auf die Theologen Heinrich Laubi, Johann Heinrich Zeller, Johann Kaspar Hardmeyer sowie den Ratsherrn Johann Heinrich Bodmer ausgedehnt. Die Prozesse endeten mit teilweise empfindlichen Geldstrafen. Bis 1714 sahen sich die Examinatoren nur in Einzelfällen gezwungen, einzugreifen. Dann f lackerten aber die Pietistenprozesse erneut auf, zuerst in Winterthur. Dort wurde ein Konventikel des Theologen Johann Kaspar Ziegler entdeckt. Noch versuchte der Examinator und Kyburger Landvogt Johann Kaspar Escher, seine schützende Hand über den Gesinnungsfreund zu halten. Vergebens, denn das politische Klima hatte sich nach den gescheiterten Verfassungsunruhen von 1713 verschlechtert. Die Reformkräfte befanden sich in der Defensive, und die Reaktion richtete sich besonders gegen den Pietismus. Dazu hatten die Bewahrer, die nun die Oberhand gewannen, gute Gründe: Nicht zu Unrecht sahen sie im Pietismus eine oppositionelle Strömung und sie erinnerten sich gut daran, dass aus dem pietistischen Reformwillen heraus Ende 1711 die Kommission zur »Widerbringung des leider Erstorbenen Christenthums« eingerichtet und mit der Kirchen- und Schulreform beauftragt worden war. Und dieser Kommission wurde im Verlauf der Volkserhebung von 1713 eine weitere »burgerliche« Kommission zur Verbesserung der Obrigkeit zur Seite gestellt. Drei Jahre wurden die Reformwilligen hingehalten, bis diese Kommissionen ohne nennenswerte Ergebnisse aufgelöst wurden. Die Reformkräfte waren zu diesem Zeitpunkt ohnmächtig, so ohnmächtig, dass sich ihr Protest auf eine Inspiration Ulrich Giezendanners beschränkte, die der Obrigkeit für ihre Sünden mit dem Strafgericht Gottes drohte und im Rat verlesen wurde. Das wiederum war der willkommene Anlass zu einem neuen Pietistenprozess. Die Federführung lag nun aber nicht mehr bei der Kirche wie noch in der ersten Phase der Verfolgungen. Der Kirche mit dem pietistenfreundlichen Antistes und den teilweise reformwilligen Examinatoren wurde misstraut. Der Rat setzte eigens eine Pietistenkommission ein, in der die weltliche Seite die Mehrheit besaß. Als erster wurde Giezendanner ohne Prozess des Landes verwiesen. Und

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Einleitung

als zweiter wurde Johann Heinrich Bodmer ins Visier genommen, nicht nur weil er lauthals gegen das ungesetzliche Vorgehen gegen Giezendanner protestiert und generell ein Konventikelverbot befürchtet hatte, sondern ganz besonders, weil er die treibende Kraft hinter dem Reformstreben und den Verfassungsunruhen war. Die Verhöre weiteten sich schnell aus, zuerst auf eine Gruppe junger Theologen, die in Marburg studiert hatten, wo der Zürcher Johann Heinrich Hottinger lehrte. Der Enkel des berühmten Orientalisten verteidigte die Inspirationen seines Freundes Ulrich Giezendanner öffentlich und wurde deshalb als Professor abgesetzt. Die Prozesswelle griff rasch über die Stadt Zürich hinaus, erreichte Winterthur, Stein am Rhein und entfaltete ihre Wirkung auch auf der Landschaft. Einen ersten Abschluss fand die Pietistenverfolgung im Herbst 1718: Rund 180 Personen waren verdächtigt und verhört worden. Diese zweite Phase der Pietistenverfolgung wurde 1721 mit der lebenslänglichen Verbannung des einst mächtigen Johann Heinrich Bodmer abgeschlossen. Forschungsinteresse Warum sich mit dem Pietismus beschäftigen? Wieso wagt sich ein Historiker an ein frömmigkeitsgeschichtliches Thema heran? Es gibt genügend Gründe, sich mit diesem anscheinend rein religiösen Thema auseinanderzusetzen. Der frühe Pietismus hatte – besonders in seiner radikalen Ausprägung – ein unverkennbar politisches Gesicht. Er gilt heute nicht nur als ein Vorläufer der deutschen Auf klärung, bereits Georg Jellinek ver mutete in der puritanischen wie auch in der pietistischen Toleranzforderung einen Urgrund für die amerikanische Menschenrechtserklärung.3 Die WeberThese, wonach die pietistische Ethik den Boden für den modernen Kapitalismus bereitete, könnte unter diesem Aspekt großzügiger ausgelegt werden: Der Wahrheitsgehalt der These würde sich demnach nicht direkt am ökonomischen Erfolg pietistischer Kauf leute messen; sie könnte hingegen fruchtbar gemacht werden, indem die Bedeutung des Pietismus für den Ausbildungsprozess des modernen Bürgertums aufgezeigt würde. Erstmals wurde ich auf die Verwebung religiöser und politischer Momente im Pietismus in einem Seminar an der Universität Zürich bei Prof. Dr. Kaspar von Greyerz über Städtische Unruhen im Ancien régime aufmerksam. Den Anstoß gab die Auseinandersetzung mit der sogenannten HenziVerschwörung Mitte des 18. Jahrhunderts in Bern.4 Während der Bearbei3

Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, i. b. Kap. VII. Die zweite treibende Kraft in der »Verschwörung« war Samuel König (1712–1757), der Sohn des gleichnamigen Berner Radikalpietisten (1671–1750). Wie sein Vater wurde er wegen seiner dissidenten Gesinnung aus Bern verbannt. 4

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tung des politischen Manifests jener oppositionellen Gruppe gelangte ich zur Überzeugung, dass dieses Memorial aus der Feder Samuel Henzis auf der pietistischen Moralvorstellung auf baute und daraus eine scharfe Kritik am autokratischen Obrigkeitsstaat ableitete. Wahrscheinlich ist sogar der sonderbare Verlauf der »Verschwörung« einzig vor dem Hintergrund pietistischer Kontaktnetze und Konventikelstrukturen interpretierbar. Die Vermutung liegt nahe, dass eine Beschäftigung mit dem Pietismus weit mehr hergibt als bloß kirchengeschichtliches Material. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass mit der pietistischen Bewegung der Anfangszeit eine gesellschaftliche Gruppe eine eigene Weltanschauung entwickelte und sich zu artikulieren begann. Durch ihre »erneuerte« Religiosität erhob sie moralische und politische, ja, vielleicht sogar ästhetische Forderungen, bevor diese durch die Auf klärung allmählich in säkularisierte Begriffe gefasst werden konnten. Noch war das damalige Religionsverständnis ein geschlossenes System: jede gesellschaftliche Veränderung, jede oppositionelle Strömung und jede weltanschauliche Neuerung nahmen zwangsläufig religiöse Züge an. Ich wählte aber für meine Arbeit nicht das Beispiel Berns; der Zürcher Pietismus ist meiner Meinung nach ein besonders lohnenswerter Forschungsgegenstand. Zwei Gründe sind dabei hervorzuheben: Einerseits ist die zeitliche Nähe der obrigkeitlichen Pietistenverfolgung zur politischen Reformbewegung von 1713 ideal, um die Verbindungslinien zwischen der religiösen und politischen Reformbewegung heraus zu arbeiten. Andererseits sind in Zürich – im Unterschied zu Bern – umfangreiche Untersuchungsakten über die »Pietisterey« erhalten geblieben. Diese erlauben eine sozialgeschichtliche Bewertung der religiösen Oppositionsströmung. Zur Forschungslage Der schweizerische Pietismus als gesellschaftliches Phänomen wurde von den Profanhistorikern bisher kaum beachtet. Dies beginnt sich erst langsam zu ändern. Die Geschichte des Pietismus blieb für lange Zeit fast ausschließlich eine Domäne der Kirchengeschichte. Es kann daher kaum erstaunen, dass dogmengeschichtliche und hagiographische Aspekte in den Vordergrund der Forschung rückten. Oftmals standen die Forscher selbst einer pietistischen Tradition nahe, so dass ihre Werke als Teil einer kirch lichen Strömung zu betrachten sind. In diesem Zusammenhang sind besonders die Arbeiten des Könizer Pfarrers Wilhelm Hadorn und des Laien historikers Jakob Gubler5 zu nennen. Letzterer schreibt in pathetischem Tonfall: »Erfüllt uns das Schicksal solcher christlicher Männer aus dem Volk, die um ihres Glaubens willen soviel Ungerechtigkeit zu erdulden hatten, mit Wehmut, so nicht weniger der dornenvolle Weg, der einer 5

Hadorn, Geschichte des Pietismus; Gubler, Kirche und Pietismus.

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Gruppe evangelischer Theologen wartete.« 6 Der Pietismus wird hier als früher Zeuge für das Konzept einer Volkskirche exponiert. Den Grundstein der Zürcher Pietismusforschung legte 1877 Julius Studer – auch er ein Theologe.7 Interessanterweise ist die älteste Arbeit auch heute noch die frischeste und lebendigste. Das liegt daran, dass Studer fast ausschließlich mit Quellen arbeitete, die zu seiner Zeit wieder entdeckt wurden. Es handelt sich dabei um die Handakte, die heute im Staatsarchiv Zürich unter den Signaturen E I 8.1 bis E I 8.4 abgelegt sind. Weitere Quellen aus dem Staatsarchiv oder aus der Zentralbibliothek hat Studer nicht zugezogen. Entsprechend der Aktenlage in diesem Quellenkorpus wird die Zeitspanne zwischen 1689 bis 1714 nur summarisch dargestellt. Für die nachfolgenden Pietistenprozesse, die bis 1721 andauerten, konnte Studer jedoch aus dem Vollen schöpfen. Studers Arbeit ist nach wie vor für alle, die sich mit dem Pietismus beschäftigen, unerlässlich. Auf ihn stützten sich auch Autoren wie Hadorn oder Wernle. Wilhelm Hadorn schrieb seine Geschichte des Pietismus von 1901 in der Absicht, die verschiedenen Arbeiten zum schweizerischen Pietismus in einer Gesamtdarstellung kompilierend zusammenzutragen. Dabei ging es ihm darum, den reformierten Pietismus in der Schweiz als eine eigenständige Bewegung darzustellen. Er projiziert seinen reformtheologischen Ansatz in den frühen Pietismus. Die reformunwillige Orthodoxie geißelnd, zitiert er den Propheten Sacharja und lamentiert: »Und nun christlicher Leser urteile auf Grund dieser Notstände und traurigen Verhältnisse: musste nicht irgend etwas geschehen um die Geistlichen aus ihrer stumpfen Gleichgültigkeit und das Volk aus seinem grässlichen Elend zu wecken?« 8 Wie dem auch sei, Hadorn verdanken wir die Periodisierung des schweizerischen Pietismus, die teilweise noch heute verwendet wird. Aus den Berner Ereignissen leitet er verallgemeinernd eine erste Phase ab, die sich um eine kirchliche Reform bemühte und eine zweite zu Beginn des 18. Jahrhundert, die nun »unkirchlich« war und eine Reaktion auf die gescheiterten Reformbemühungen darstellte. Aber selbst Hadorn fiel im weiteren Verlauf seiner Arbeit auf, dass sich diese Zeiteinteilung inhaltlich nicht tel quel auf die Ereignisse in Zürich übertragen lässt. Die Phaseneinteilung deckt sich lediglich in Bezug auf die obrigkeitlichen Prozesswellen. Es ist zumindest aus heutiger Sicht mehr als fraglich, ob das Verhältnis zur Kirche überhaupt ein taugliches Merkmal zur Charakterisierung des Pietismus abgeben kann. Auch Paul Wernles »Geschichte des schweizerischen Protestantismus«9 verarbeitet über weite Strecken ledig6 7 8 9

Gubler, Kirche und Pietismus, S. 46. Studer, Der Pietismus in der zürcherischen Kirche. Hadorn, Geschichte des Pietismus, S. 29. Wernle, Geschichte des schweizerischen Protestantismus im 18. Jahrhundert.

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lich Studers Quellenarbeit, ohne jedoch selbst neue, quellenbasierte Erkenntnisse beizutragen. Bezeichnenderweise finden auch bei ihm die Ereignisse zwischen 1689 bis 1714 nur eine marginale Darstellung. Wernles Kirchengeschichte ist ebenfalls aus einer Haltung der Gefühlsreligiosität geschrieben. Der Verdienst, die Geschichte des Pietismus in ihren Anfängen ab 1689 dargestellt zu haben, wäre Oskar Stoye mit seiner theologischen Dissertation zugekommen. Der Autor verstarb jedoch vor Fertigstellung seines Werks, so dass diese heute als ungedrucktes Manuskript in der Zentralbibliothek liegt.10 Neuere Arbeiten zum Pietismus in der Schweiz entstanden erst wieder im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, wohl im Anschluss an den Aufschwung, den die Pietismusforschung in Deutschland nahm. Die Mehrheit ist nach wie vor aus kirchengeschichtlicher Perspektive geschrieben; doch eine Einbettung der religiösen Strömung in ein soziales und politisches Umfeld – wie dies beispielsweise Hartmut Lehmann fordert – ist unverkennbar. Hervorzuheben ist hier besonders Rudolf Dellspergers Habilitationsschrift zum frühen Berner Pietismus. Seine Arbeit bleibt weiterhin einem kirchengeschichtlichen Ansatz verpf lichtet11: Auch bei ihm stehen einzelne herausragende Vertreter des Berner Pietismus im Vordergrund seiner Untersuchung. Die Arbeit zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass Rudolf Dellsperger neues Quellenmaterial erschloss und dieses nach breit gefächerten Gesichtspunkten befragte. Weil die Verhörprotokolle meist verloren sind, blieb es ihm leider verwehrt, wie er selbst bedauert, die pietistische Bewegung in Bern in ihrer ganzen sozialen Breite zu erfassen.12 Die Erkenntnis über den Berner Pietismus erweiterte jüngst Isabelle Noth mit einer case studie zur Thuner Radikalpietistin Ursula Meyer und ihrem Wirken in der Inspirationsgemeinde.13 Eine große Lücke in der schweizerischen Pietismusforschung schließt J. Jürgen Seidel mit seiner deskriptiven Studie über die Anfänge des Pietismus in Graubünden.14 Methodisch bewegt sie sich jedoch im traditio10

ZB Zürich Ms. Z V 100, Oskar Stoye: Die Anfänge des Pietismus in Zürich, Diss. [unveröffentlicht, ca. 1916]. 11 Dellsperger orientiert sich teilweise am volkskirchlichen Ansatz von Kurt Aland oder Martin Schmidt und verneint am Beispiel Berns eine Zuordnung des Pietismus zu einer sozialen Schicht oder Gruppe. Er behauptet, das Spezifische am Berner Pietismus bestünde darin, dass er arme und reiche, städtische und ländliche Schichten gleichermaßen anzusprechen vermochte. Vgl.: Dellsperger, Die Anfänge des Pietismus in Bern, S. 66 ff. 12 Ebd., S. 89. 13 Noth, Ekstatischer Pietismus. Zum wechselseitigen Austausch zwischen der Inspirationsgemeinde und der Schweiz vgl.: Schrader, Inspirierte Schweizerreisen, S. 351–382. 14 Seidel, Die Anfänge des Pietismus in Graubünden.

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nellen Rahmen der Kirchengeschichte.15 Es sind primär große Pfarrer wie Andreas Gillardon der Ältere und der Jüngere oder Daniel Willi, welche die Aufmerksamkeit Seidels auf sich ziehen. Sie werden nach ihren Glaubenssystemen und ihrem Verhältnis zu Kirche, bzw. zum Halleschen Pietismus befragt. Einen völlig anderen Ansatz wählte Erika Hebeisen für ihre Auseinandersetzung mit dem frommen Basel.16 Sie konzentrierte sich auf zwei pietistische Familien und untersuchte, wie sich die Frömmigkeit über Generationen hinweg verbreitete. Der Blick auf die Familie als Institution der Frömmigkeit öffnet ihr auch den Zugang zu einer geschlechtsspezifischen Betrachtung des religiösen Lebens. Mit dem Zürcher Pietismus beschäftigte sich in jüngerer Zeit lediglich Thomas Hanimann in seiner theologischen Dissertation über nonkonformistische Strömungen im Zürich des 18. Jahrhunderts17. Dabei stand nicht der Pietismus als solcher im Zentrum seines Interesses, sondern generell eine nonkonformistische Religiosität täuferischer und pietistischer Provenienz, die Hanimann anhand einiger Wortführer abzubilden trachtete. Für den Teil über die Pietisten wertet er zusätzliche Quellen aus, die bei Studer noch keine Beachtung fanden. Es ist daher Hanimanns Verdienst, neue Erkenntnisse über den Zürcher Pietismus beigetragen zu haben. Zur Quellenlage Die Quellensituation zum frühen Pietismus in Zürich ist erstaunlich gut. Dies obwohl nur wenig Material von einfachen Menschen selbst und von deren Frömmigkeit überliefert ist. Dennoch haben diese Menschen Niederschlag in den obrigkeitlichen Akten gefunden. Verantwortlich dafür sind die exakt arbeitenden Examinatoren und die Pietistenkommission, welche alle des Pietismus Verdächtigten einzeln vernahmen und die Verhöre ausführlich protokollierten. Diese Pietistenakten wurden den Synodalakten angegliedert und im Antistialarchiv auf bewahrt. Teile dieser Archivalien überdauerten zusätzlich noch in Form von Brouillons und Abschriften als lose Blätter in einem verschlossenen Spezialschrank des Staatsarchivars die Zeit, bis sie Julius Studer als Grundlage für seine Quellenarbeit dienten. Es ist keineswegs zutreffend, dass über die erste Phase des Zürcher Pietismus nur wenig bekannt ist, weil die Quellenlage unzu15 Seidel orientierte sich teilweise an den von Karl Weiske beschriebenen Verbindungen zwischen Bündner Pietisten und Halle: Weiske, August Hermann Francke und die Schweiz, S. 88–116. 16 Hebeisen, leidenschaftlich fromm. Die pietistische Bewegung in Basel. Einen Überblick über die Anfänge des Pietismus in Basel gibt: Thurneysen, Die Basler Separatisten im ersten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts, S. 30–78 und ders., Die Basler Separatisten im achtzehnten Jahrhundert, S. 54–106. 17 Hanimann, Zürcher Nonkonformisten im 18. Jahrhundert.

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reichend wäre, wie Hadorn behauptet. Es ist vielmehr so, dass die Handakten, die Studer zur Verfügung standen, nur wenige Blätter aus dieser Zeit enthielten. Weiteres Quellenmaterial verdanken wir der Sammelwut zeitgenössischer Gelehrter. Besonders hervorzuheben ist Johann Jakob Simler (1716– 1788). Er sammelte umfangreiches Quellenmaterial zur Geschichte der Zürcher Kirche mit der Absicht, dieses zu publizieren. Die immense Sammlung füllt etliche Konvolute, die heute in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek die S-Signatur tragen. Ein besonderes Augenmerk Simlers galt glücklicherweise dem Zürcher Pietismus: Kopien des obrigkeitlichen Aktenmaterials füllen mehrere Bände. Aber wir finden noch mehr, denn der Kirchenhistoriker sammelte auch Schriftstücke von Vertretern der pietistischen Bewegung. Besonders wertvoll erwies sich der Sammelband zu Johann Heinrich Locher. Hier finden wir nicht nur das Inventar seiner Bibliothek, sondern auch mehrere Selbstzeugnisse, die einen tieferen Einblick in das Denken und Leben eines Pietisten ermöglichen. Ein weiteres aufschlussreiches Selbstzeugnis ist das vierbändige Tagebuch von Johann Kaspar Hardmeyer. Der Landpfarrer verzeichnete hier zwischen 1694 bis 1698 seine Diskussionen mit Locher. Dieses breit angelegte Quellenmaterial ermöglicht somit einen mehrschichtigen Zugang zum frühen Pietismus in Zürich. Methodische Ansätze und Gliederung Die Tatsache, dass der zweite Pietistenprozess fast lückenlos überliefert wurde, umfangreich dokumentiert ist und auch aus der Zeit der ersten Verfolgung zahlreiche Dokumente vorliegen, erlaubt eine serielle Auswertung des Quellenmaterials, so dass die Frage nach der sozialen Zusammensetzung des Pietismus in seiner Entstehungszeit gestellt werden kann. Hierzu habe ich ein Personenkorpus angelegt, das mit biographischen Angaben über die Pietistinnen und Pietisten gespeist wurde. Entsprechend der zwei Phasen obrigkeitlicher Repression teile ich auch das Korpus in zwei verschiedene Generationen von Pietistinnen und Pietisten auf und werte diese gesondert aus. Diese Datenbank soll nun Auskunft geben über die Fragen, inwieweit der Zürcher Pietismus an eine Altersgruppe oder an eine soziale Schicht gebunden war, ob eine soziale Mobilität im pietistischen Milieu statt fand und ob diese aufwärts oder abwärts gerichtet war. Weiter vermitteln die seriellen Daten Aufschlüsse über das Verhältnis zwischen Frauen und Männern oder Stadtbürgern und Landleuten unter den Anhängern der heterodoxen Frömmigkeitsbewegung. Ferner interessieren die Momente, die über das nackte Datenmaterial hinaus gehen und für eine pietistische Gemeinschaftsbildung konstituierende Bedeutung erlangen: ins Blickfeld rücken beispielsweise die auf kommende Bücher- oder Freundschaftskultur.

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Was liegt näher, als die gewonnenen Erkenntnisse über die Soziologie des Pietismus mit der Denk- und Lebenswelt des Pietismus zu verknüpfen?18 Der zweite Teil meiner Untersuchung setzt sich zum Ziel, mehr über den »Geist des Pietismus« zu erfahren. Methodisch erbietet sich dazu ein Ansatz der Mentalitäts- und Volkskulturforschung an, der auf der Sammlung pietistischer Lebensläufe auf baut.19 Das Personenkorpus wollte ich mit dem Bücherbesitz der Pietistinnen und Pietisten erweitern und auswerten. Ein ähnliches Vorgehen wählte Hans Medick mit Erfolg für die Pietisten im württembergischen Laichingen.20 Er wertete den pietistischen Bücherbesitz im Zeitraum der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus nach dem Gesichtspunkt, welche Bücher und Inhalte im pietistischen Milieu schwergewichtig rezipiert wurden. Im Unterschied zu Laichingen, wo bei Heirat oder Tod der fahrbare Besitz durch ein amtliches Inventar erfasst wurde, blieb mir diese serielle Methode verwehrt: In Zürich galt in der frühen Neuzeit die »Testierfreiheit«, und die Obrigkeit mischte sich in Erbvorgänge nicht von Amtes wegen ein. Auch die Verzeichnisse der Landbevölkerung, die oftmals Angaben über die Lesefähigkeit und den Bücherbesitz der Dorf bewohner enthalten, sind kein tauglicher Ersatz. Die Datenmenge ist einerseits zu dürftig und anderseits ist anzunehmen, dass die heterodoxen Bücher dem Landpfarrer, der die Verzeichnisse erstellte, vorenthalten wurden. Von Johann Jakob Rathgeb, dem Dietliker Müller, wird berichtet, er habe seine Bibliothek im Heustock versteckt. Das Fehlen eines seriellen Quellenmaterials gab den Ausschlag für einen mikrohistorischen Ansatz. Ich suchte mir ein Individuum aus als pars pro toto der gesamten pietistischen Bewegung und deren Lesewelt. Im Zentrum der Forschung steht demnach die Rekonstruktion der Lebenswelt eines konkreten Menschen aus der Vergangenheit. Und im eigentlichen Wortsinn können mit Clifford Geertz die Texte über die Schultern desjenigen, für den sie gedacht sind, gelesen und befragt werden21: Welche Leitvorstellungen, Weltdeutungen, Erfahrungen und Hoffnungen bestimmten das Leben eines Pietisten? Und wenn man Lebenswelt definieren will als gesellschaftlich konstruierte, kulturell ausgeformte, symbo18 Einen Überblick über Ansätze und Desiderate zur Rekonstruktion pietistischer Lebenswelten findet sich bei Lehmann, Horizonte pietistischer Lebenswelten. 19 Zur seriellen, lektürebasierten Mentalitätsgeschichte vgl. z. B.: St Clair, The Reading Nation in the Romantic Period; Mandrou, De la Culture populaire aux 17e et 18e siècles; Furet (Hg.), Livre et société dans la France du XVIIIe siècle. Zur Forschung über pietistische Autobiographien vgl. beispielsweise: von Graevenitz, Innerlichkeit und Öffentlichkeit, S. 1–82; Witt, Bekehrung, Bildung und Biographie; Modrow, Religiöse Erweckung und Selbstref lexion, S. 121–129. 20 Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900, i. b. Kap. 6. Vgl. ebenfalls: François, Buch, Konfession und städtische Gesellschaft im 18. Jahrhundert, S. 34–54. 21 Geertz, »Deep Play«, S. 259.

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lisch gedeutete Wirklichkeit, so erlaubt dieser Ansatz »vom Punktuellen zum Allgemeinen, vom Detail zum Ganzen, von innen nach außen, vom Individuum zur sozialen Gruppe (vorzugehen)«.22 Für diesen Weg bieten sich drei Personen an, zwei aus der zweiten und eine aus der ersten Generation, deren Bibliotheken seitens der Obrigkeit registriert oder konfisziert wurden. Die Bibliothek der Trichtenhauser Müllerin Adelheid WeberSchellenberg wurde auf obrigkeitlichen Befehl hin vom Zollikoner Pfarrer Waser visitiert: Sie umfasste rund 10 Bände.23 Umfangreicher ist der Bücherbesitz des bereits erwähnten Müllers aus Dietlikon; ihm wurden 30 bis 40 Schriften beschlagnahmt.24 Wesentlich größer ist die Bibliothek des Zürcher Kaufmanns Johann Heinrich Locher, der hauptsächlich der ersten Generation zuzurechnen ist. Letztere bot mir die Basis für die Erforschung der pietistischen Lesewelt und Alltagsbewältigung. Dieser Bücherbesitz ist mit rund 300 Bänden nicht bloß wegen seiner Größe die aufschlussreichste Sammlung. Diese Bibliothek ist auch deshalb die interessanteste, weil sie in der Formationsphase der Frömmigkeitsbewegung zwischen 1670 und 1698 zusammen getragen wurde. Ihr Besitzer war zudem eine zentrale Figur des Schweizer Pietismus, weniger als genuiner Denker, dafür umso mehr als Propagandist, Organisator und Multiplikator. Und wir haben das Glück, dass von ihm mehrere Selbstzeugnisse erhalten geblieben sind, die Rückschlüsse auf sein Leseverhalten ermöglichen. Die Denk- und Lesewelt dieses für Zürich bedeutenden Pietisten ansatzweise zu rekonstruieren, stellte ich mir im zweiten Teil dieser Arbeit zur Aufgabe. Es kann jedoch nicht das Ziel sein, darzulegen, was Locher wirklich geglaubt hatte. Die historische Rekonstruktion wahrgenommener Wirklichkeit bleibt eine Annäherung und kann einzig Plausibilität und Evidenz zum Ziel haben.25 Der Fokus kann lediglich auf die Gedankenwelt gerichtet werden, in der sich Johann Heinrich Locher lesend be22 Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten, S. 14 u. 23. Zur kritischen Auseinandersetzung mit der Kulturgeschichte siehe: Mergel, Kulturgeschichte – die neue »große Erzählung«?, S. 41–77. 23 Zwej bibeln in folio die Zürich und Lutherische version. Etliche H. Testamenter. Predigen über die 7 Busspsalmen. Arndts Wahres Christenthum; übung der Gottselligkeit in duplo. Quirefelds Garten Geselschaft. Schimmers Biblische seelenkleinod. Müllers Liebes Kuß. Geistliche Himmelsleiter. Neanders Bundslieder. Molleri manuale. Creutz Schul. Hauß- Reiß- und Kirchen- Kleinot. D. Mels Bätbuch. Joseph Hals rechter Christ. Majers Evang. Gebetopfer. Geistliche seelen Tempel. Diebolds Seelen-gesprech mit Christo. Mejers Haus u. Reis Lehrer über H Catechismu. Glaubenswaag. Steffa Schmidts Christliche Himmels oder Buß Leiter, sampt noch anderen bekannten gebett büchern, als H Weissen, Arndts u Habermans. St AZ E I 8.3, 30. März 1718. 24 Das transkribierte Verzeichnis befindet sich im Quellenanhang zu Hanimann, Zürcher Nonkonformisten im 18. Jahrhundert, S. 326 ff. 25 Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten, S. 23.

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wegte. Es ist somit in erster Linie die Suche nach dem roten Faden in seiner umfangreichen Lektüre, und wo es möglich ist, kann gezeigt werden, welche unterschiedlichen Ideen auf Locher einwirkten, wie er sich weltanschaulich entwickelte und wie er Gelesenes rezipierte. Lochers Lesetätigkeit soll aufzeigen, welche geistigen Einf lüsse die Entwicklung eines pietistischen Denkgebäudes förderten. In dieses verwinkelte und teilweise dunkle Denkgebäude einzudringen hatte für mich den Charakter eines Selbstexperimentes. Denn das gewählte mikrohistorische Verfahren zielt auf die Rekonstruktion der »Innenseite« 26 eines historischen Menschen ab, dabei soll nicht nur das »Moderne« und uns vertraute betrachtet, sondern das Denken des Individuums in seiner ganzen Widersprüchlichkeit und mit den uns fremden und unvertrauten Denkmustern erhellt werden. Ich hoffe, es ist mir gelungen, einige dieser mentalen Figuren, die unserem heutigen Denken meist fremd sind, verständlich darstellen zu können. Im frühen pietistischen Glauben steckt eine gehörige Portion an Opposition zur vorherrschenden Denk- und Lebensform. Wie sich das im politischen Leben auswirkte, soll der dritte Teil erörtern. Diese Thematik drängt sich allein aus der zeitlichen Nähe zwischen den Verfassungsunruhen von 1713 und den ein Jahr später erneut ausbrechenden Pietistenprozessen regelrecht auf. Gegenstand des letzten Teils ist es, den Anteil des Pietismus an dieser Reformbewegung und dessen ideengeschichtlichen Gehalt herausarbeiten. Dieser politikgeschichtliche Ansatz soll den Fragen Raum öffnen, wie sich der Pietismus zur Herrschaftsintensivierung und Machtkonzentration im patriarchalen Obrigkeitsstaat verhielt und wie er auf Sozialregulierung und Sozialdisziplinierung, Herrschaftstechniken des absolutistischen Zeitalters, reagierte.

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Medick, »Missionare im Ruderboot«?, S. 64.

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1. Der soziale Hintergrund des Pietismus 1.1 Wer waren die Pietisten? Am Sonntag, dem 9. März 1721, denunziert der Schulmeister in Riessbach den Gesellen des Schneiders Kaspar Füssli. Er predige, lautet der Vorwurf. Der diensthabende Theologe Christoph Gessner geht der Sache unverzüglich nach. Er erkundigt sich bei der kranken Frau des Elias Füssli, eines Webers, der ebenso wie der Schneider in der Drahtschmiede wohnt. Diese berichtet ihm, der Schneidergeselle habe auch in ihrer Stube gepredigt. Der Theologe erfährt weiter, dass der Knecht auch bei der kranken Frau seines Meisters predige. Diese sagt aus, »der habe bey anlass meiner besuchung gesagt: er könne auch predigen, und wann es die kranke frou begehre, so wöll er ihro ein Lichpredig halten, nachteßen stund er auf verlaß einen text, hielt ein predigt, wobei der kranken frouen, und andern so sie gehört, die augen übergegangen«. Er habe auch bei Leonhard Hübner und bei Heinrich Singer in der Klus Predigten gehalten, teilweise vor »zimmlich anzahl volks«. Am folgenden Tag begibt sich Christoph Gessner erneut nach Hirslanden, nun um den Schneidergesellen im Beisein von zwei Zeugen zu verhören. Der Befragte gibt sich als Cyrillus Merz aus St. Gallen zu erkennen und gesteht bereitwillig, er habe schon an vielen Orten, besonders im Thurgau, wo er sein Handwerk erlernte, Predigten gehalten. Er erzählt weiter, er habe bereits als Jugendlicher gern Predigten auswendig gelernt. Von anderer Seite wird dem Theologen hinterbracht, dass Merz 32 Predigten in seinem Repertoire habe. Gessner kommt zur Sache und fragt: »ob er meine, er hab wol oder übel gethan, dass er den Leüthen geprediget?«. Da der Laienprediger darauf keine Antwort gibt, fährt der Theologe mit einer grundlegenden Belehrung fort: »ich sagte, ich wol es ihm sagen, er hab übel gethan, denn solches streite mit den hoheren befehl des Apostel Petri, der in ein främdes Amt zugreiffen […] verbietet. Paulus sag[te] wie der Herr einem jeden Beruffen hat, also wandle er«. Merz sei aber nicht zum geistlichen Stand sondern zum ehrlichen Handwerk berufen worden. Und bei diesem Beruf hätte er bleiben sollen. Gessner bemüht sich nun, dem Schneidergesellen dessen Unkenntnis in theologischen Spitzfindigkeiten vorzuführen und lässt ihn am Ende schwören, sich in Zukunft des Predigens zu enthalten. Gessner nimmt zudem Kaspar Füssli zur Seite und bedeutet ihm, er solle seinen Gesellen umgehend entlassen. Der Schneidermeister beteuert

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bef lissen, er habe an den Predigten keinen Gefallen gefunden und der Knecht verstehe sein Handwerk gar schlecht. Füssli selbst wird verwarnt, weil er den Laienprediger nicht angezeigt hat.1 War der predigende Schneidergeselle ein Pietist? Der Bericht über die Vorfälle in der Drahtschmiede wurde in der Pietistenakte als Anhang abgelegt und veranlasst zur Frage, wie Pietismus zu definieren und wie er in abweichenden religiösen Verhaltensnormen zu verorten ist. Das hier in der Endphase des Pietistenprozesses verfasste Protokoll äußert sich nicht über den Inhalt der Predigten. Weil die Akteure durch die Pietistenkommission unbehelligt blieben, bleibt es möglich, dass der Vorfall bloß in indirektem Zusammenhang mit dem Pietismus stand. Der Bericht des Theologen ist ein Indiz für eine religiös unruhige und bewegte Zeit und öffnet die Perspektive auf zwei symptomatische Erscheinungen: Erstens können wir eine Tendenz unter den Zürcher Stadtbürgern erkennen, ihr religiöses Bedürfnis autonom zu stillen. Zweitens sehen wir eine Geistlichkeit, die bemüht ist, ihr religiöses Interpretationsmonopol zu verteidigen. Sie pocht dabei auf die ständisch verfasste Ordnung. In diesem Spannungsfeld fand in Zürich die Auseinandersetzung über den Pietismus statt. Es stellt sich die Frage, wer waren die Pietisten? 1.1.1 Das Definitionsproblem Was ist unter Pietismus zu verstehen und wie lässt sich dieser Begriff definieren? Pietismus oder »Pietisterey« war ursprünglich ein Kampf begriff: Er ist einem apologetischen Gedicht des Leipziger Professors Joachim Feller entlehnt und wurde anlässlich der pietistischen Unruhen in Leipzig 1689 von den Gegnern der Frömmigkeitsbewegung aufgegriffen.2 Dem Begriff haftete wahrscheinlich für die Zeitgenossen der pejorative Beigeschmack noch deutlich an. In den zürcherischen Quellen taucht das Wort erst in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre auf. Vorher wird von Quäkern, Labadisten, Schwärmern oder Sozinianern gesprochen. Es erstaunt aus diesem Grund nicht, dass damalige Pietisten sich gegen diese Bezeichnung zur Wehr setzten und mit gutem Gewissen behaupteten, sie seien keine Pietisten. Der Begriff ist somit nicht identitätsstiftend und der positive oder negative Bezug auf dieses Wort als Selbstbezeichnung ist kein Anhaltspunkt für die Beurteilung, wer der religiösen Bewegung anzurechnen sei. Der Begriff »Pietismus« ist der obrigkeitlichen Sprache 1 St AZ E I 8. 4 [Bericht von einem Schneider-Knecht der in Hirslanden an etlichen orthen geprediget, 14. März 1721]. 2 Leube, Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig, S. 191; Wallmann, Der Pietismus, S. 65.

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Wer waren die Pietisten?

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entlehnt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Konventikelgemeinschaften keine festen Strukturen und Mitgliedschaften kannten oder sich gar Satzungen gaben, wie dies beispielsweise im Collegium insularum der Fall war. Die Konventikelgemeinschaften waren lose Zusammenschlüsse mit wechselnder Zusammensetzung und unterschiedlichen Versammlungsorten. Es gibt ebenfalls keine Initiationsrituale bei der Aufnahme eines neuen Mitgliedes in den Kreis der Frommen oder verborgene Erkennungszeichen der Mitglieder untereinander, wie dies teilweise bei Brüderschaften oder Logen anzutreffen war. Das Einzige, was offenbar unter den Pietistinnen und Pietisten als verbindendes Element wirkte, war das persönliche Erlebnis der Wiedergeburt oder zumindest das ernsthafte Bemühen, diese zu erlangen. Die Glaubensgemeinschaft war eine heterogene Bewegung ohne definierte Strukturen und gesetzte Glaubensgrundsätze. Die genannten Faktoren verunmöglichen eine eindeutige Definition des Pietismus. Die Begriffsdefinition ist denn auch in der Forschung heftig umstritten, wobei gesagt werden muss, dass sich die Debatte entlang zweier unterschiedlicher Geschichtskonzeptionen entwickelt: Die eine Seite sucht den theologischen Zugang zum Pietismusphänomen und die andere stellt den sozialgeschichtlichen Bezug in den Vordergrund. Es ist inzwischen so viel über diese Auseinandersetzung geschrieben worden, dass hier auf eine Wiedergabe der Positionen verzichtet werden kann.3 Zur Beurteilung, wer als Pietist bezeichnet werden darf, und was Pietismus nun genau beinhaltet, stütze ich mich zunächst auf eine enge Begriffsinterpretation, die sich auf folgende konstitutive Elemente beruft: - Teilnahme an Konventikeln und die Einstellung zur Kirche - Spezielle Interpretation der Kirchengeschichte und der Bibel bzw. explizite Anhängerschaft an einen religiösen Exponenten - Lebensführung als Wiedergeborener in gegenseitiger Anerkennung durch andere Wiedergeborene. Meines Erachtens kann sich die Definition des Pietismus nicht allein auf Theologisches abstützen, sondern muss im weiten Sinne auch Sozialgeschichtliches einbeziehen. Darum beziehe ich mich in Anlehnung an Hartmut Lehmann auf eine weit ausgelegte Definition, die sich von der Variabilität und Vielfältigkeit der religiösen Bewegung leiten lässt:4

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Eine gute Zusammenfassung der Standpunkte in der Pietismuskontroverse bietet Martin Brechts historiographischer Überblick in der Einleitung zu: Geschichte des Pietismus, Band 1, S. 3–7. Neuere Beiträge zur Kontroverse: Wallmann, Eine alternative Geschichte des Pietismus, S. 30–71 und eine Replik von Lehmann, Enger, weiterer und erweiterter Pietismusbegriff, S. 18–36. 4 Vgl. zur Frage der Begriffsdefinition: Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung, S. 14–19.

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- Selbstverständnis als religiöse Reformbewegung - offenes theologisches System, in dem nicht alle Glaubenspunkte von allen geteilt werden, und die Ebene der Diskussion umfassender als der Konventikelzirkel ist, - Neudefinition moralischer Maßstäbe. Eine weitere Möglichkeit, wie »Pietismus« eingegrenzt werden kann, sehe ich in der Lebenswelt sowie in Kontaktsystemen: Gefragt wird hier nach der sozialen Klammer, welche die heterogene Glaubensgemeinschaft zusammenhielt. Neben den Konventikeln – einst von Philipp Jakob Spener zur Verbesserung der Kirche angeregt – existieren mit Sicherheit weitere Faktoren, wie beispielsweise kollektive Erfahrungen, Interpretationsmuster der Umwelt, Freundschaften, Diskussionszusammenhänge und geteilte Lektüre.5 Begibt man sich nun auf die Suche nach seriellen Daten über Pietistinnen und Pietisten mit der Zielsetzung, die Größe und soziale Struktur bestimmen zu können, so bestehen in Analogie zu den Definitionsproblemen mehrere Zugangsmöglichkeiten: Erstens die theologisch-konfessionelle Herangehensweise: Sie stützt sich auf religiöse Äußerungen oder auf theologisch motivierte Handlungen, wie den Besuch eines Konventikels. Mit dieser Methode kann die Affinität eines Individuums zum Pietismus direkt abgelesen werden. Diese Herangehensweise stößt jedoch rasch an ihre Grenzen, denn nur einer verschwindend kleinen Minderheit war es erlaubt, sich in der Öffentlichkeit zu religiösen Fragen in heterodoxer Weise zu äußern. Vielen Pietisten war es ein Anliegen, sich so still wie möglich zu verhalten und kein Aufsehen zu erregen. Die Konventikel beispielsweise wurden meistens im Verborgenen abgehalten. Es war für die Konventikelbesucherinnen und -besucher existentiell, von der Obrigkeit unentdeckt zu bleiben. Das Quellenmaterial für diesen Zugang ist sehr beschränkt und selektiv. Damit tiefer in die soziale Struktur eingedrungen werden kann, ist zweitens ein erweiterter Ansatz nötig, der nach den sozialen Netzen fragt: Briefwechsel, häufige Besuche, die Verbreitung pietistischer Lektüre und die gegenseitigen Hilfeleistungen zum Schutz vor staatlichem Zugriff können wichtige Hinweise über das Beziehungsgef lecht einer religiösen Gruppe liefern. Diese Methode birgt das Problem in sich, dass die »Ränder« unscharf werden. Als weitere Zugangsmöglichkeit bietet sich drittens die normative Optik an. Die Obrigkeit bestimmt mittels Erlassen, Suspensionen und Ver5

Zur sozialen Funktion der geteilten Lektüre im Pietismus vgl. Lächele, Die »Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes«.

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bannungen, wer als Pietist anzusehen sei. Dieser Ansatz bringt das Problem mit sich, dass Pietismus damit keine Selbst-, sondern eine Fremddefinition ist. 1.1.2 Das Problem der sozialen Verortung In den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts öffnete sich die Pietismusforschung für sozialgeschichtliche Fragestellungen. Aussagen, wonach der Pietismus die letzte religiöse Volksbewegung gewesen sei, konnten nun nicht mehr befriedigen.6 Vermehrt interessierte nunmehr, in welchen gesellschaftlichen Schichten die pietistischen Anschauungen rezipiert und inwieweit unterschiedliche Strömungen durch verschiedene gesellschaftliche Schichten getragen wurden. Ins Zentrum rückten Fragestellungen, welche einerseits Zusammenhänge zwischen den Phasen in der Geschichte des Pietismus und anderseits den gesellschaftlichen Wandel in der Trägerschaft aufzuzeigen versuchten. Im 19. Jahrhundert wertete Albrecht Ritschl, der »Altmeister« der Pietismusforschung, die Aufsplitterung der Frömmigkeitsbewegung in eine innerkirchliche und eine radikale Strömung als Ausdruck einer geteilten Trägerschaft. Adel und Beamtenschaft, welche die Kirche reformieren wollten, standen nach Ritschls These den niederen Ständen wie Bauern und Handwerkern gegenüber, welche die Kirche hassten und ablehnten.7 Dieser Ansicht wurde nach dem zweiten Weltkrieg u. a. von Kurt Aland und Martin Schmidt – geleitet von einem national-romantischen Begriff von Volkskirche8 – entgegengehalten, dass im Pietismus die Standesunterschiede tendenziell verwischt würden. Nicht Stand und Herkommen seien entscheidend, sondern der Beweis des Glaubens.9 Einen anderen nicht minder in der zeitgeschichtlichen Bedingtheit wurzelnden Blick entwickelte der DDR-Historiker Gerhard Schilfert in seinem Lehrbuch der deutschen Geschichte, wenn er den »Pietismus insgesamt mehr als Ausdruck der Bestrebungen des Kleinbürgertums [und weniger] der bürgerlichen Intelligenz und der Kauf leute« wertete.10 In der Auseinandersetzung mit den Thesen von Aland und Ritschl forderte Hartmut Lehmann, es seien notwendigerweise mehr Informationen über die Zahl der Pietisten und ihre wirtschaftliche und soziale Stellung über einen längeren 6

Zur Historiographie des Pietismus vgl.: M. Schmidt, Epochen der Pietismusforschung, S. 34–83. 7 Ritschl, Geschichte des Pietismus, Band 2, S. 499–502. 8 Lehmann, Vorüberlegungen zu einer Sozialgeschichte des Pietismus, S. 76. 9 Aland, Der Pietismus und die soziale Frage, S. 126. 10 Schilfert, Deutschland von 1648 bis 1789. Lehrbuch der deutschen Geschichte, S. 100.

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Zeitraum zu sammeln.11 Außerdem forderte Lehmann ein schärferes historisches Denken: »Es scheint mir eine wichtige Aufgabe der weiteren Pietismusforschung, schärfer als bisher den Einf luss zu bestimmen, den die jeweilige historische Situation auf Denken und Verhalten der Pietisten hatte. Manches, was systematisch als anderer Zweig des Pietismus abgegrenzt wurde, wird dann vielleicht als Reaktion auf die Herausforderung einer anderen politischen und sozialen Lage oder einer neuen Zeit verstanden.« Hans Schneider konnte in seinem Beitrag über den radikalen Pietismus im ersten Band der »Geschichte des Pietismus« kein abschließendes Ergebnis präsentieren. Nach wie vor sei die soziale Gruppe, welche die pietistischen Bewegungen trage, nicht hinreichend erforscht. Er schlägt eine den sozialen Wandel akzentuierende These vor und fasst das Bekannte zusammen: »Nach dem bisherigen Kenntnisstand scheint es, dass der radikale Pietismus vor allem aus den sozialen Gruppen Anhänger gewann, die von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandlungen besonders betroffen waren: etwa aus der Handwerkerschaft, die durch steigende Zahl von Manufakturen in eine Krise geriet – der ›unbehauste Stand‹ der Gesellen wurde dadurch stark tangiert –, oder aus (verarmtem) hohen Adel, der auf der Suche nach neuen sozialen Funktionen war.«12 Unabhängig von der sozialen Differenzierung innerhalb der pietistischen Bewegung erschließt Lehmann in seinem Aufsatz »The Cultural Importance of the Pious Middle Classes« eine an geistesgeschichtlichen Aspekten orientierte Herangehensweise.13 Er postuliert, dass das frühe Bürgertum in all seiner Heterogenität eine selbständige, religiöse Kultur ausbildete, welche geprägt war durch pietistische Frömmigkeit und Erbauungsliteratur. Die eschatologische Ausrichtung habe sich sowohl gegen die höfische wie gegen die volkstümliche Religiosität und Kultur gerichtet. Die Erbauungsliteratur wird dabei interpretiert als Bewältigungsstrategie der Krise des 17. Jahrhunderts. Sie diente zur Bekämpfung bürgerlicher Ängste und Sorgen und konstituierte gleichzeitig eine eigenständige Weltanschauung. Wer waren die Träger und Trägerinnen des Pietismus? Aus welchen Berufen rekrutierten sie sich? Welche Rolle nahmen sie in der Gesellschaft und im Staat ein? Welche Rolle spielten die Frauen? Welche Formen des Zusammenlebens wurden bevorzugt? Die einleitende Feststellung von Hartmut Lehmann zu seiner Vorüberlegung zu einer Sozialgeschichte des Pietismus ist auch nach zehn Jahren noch zutreffend: »[Es] fehlen in der neueren Pietismusforschung aber immer noch Arbeiten, in denen die sozialen Träger des Pietismus im einzelnen analysiert und in denen die politischkulturellen Lebenswelten, in denen sich die pietistischen Gruppen ent11 12 13

Lehmann, Der Pietismus im Alten Reich, S. 90. Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 398. Lehmann, The Cultural Importance of Pious Middle Classes, S. 33–41.

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wickelten und entfalteten, umfassend und genau umschrieben werden.«14 Ich möchte es vorerst bei diesen knappen Streif lichtern auf die Geschichtsschreibung und Auseinandersetzung mit dem Pietismus als soziales Phänomen bewenden lassen. Was ist nun über den sozialen Hintergrund dieser religiösen Bewegung in Zürich bekannt? Was ist aufgearbeitet, und welche Ansätze herrschen vor? In der vor rund zehn Jahren erschienenen Geschichte des Kantons Zürich bemerkt Conrad Ulrich, dass sich mit wenigen Ausnahmen der Kreis der Pietisten aus »bescheidenen« Verhältnissen rekrutierte. Einzig in Winterthur, Stein am Rhein und auf der Landschaft habe es in den religiösen Gemeinschaften Mitglieder aus der Oberschicht gegeben, was mit der latenten Opposition gegen Zürich zu erklären sei. Offenbar folgt Ulrich der Tradition Ritschls, die den radikalen Pietismus im Umfeld handwerklicher Unterschichten ansiedelt. Conrad Ulrich schätzt die Anzahl der Beteiligten als eher klein ein.15 Leonhard Meister nimmt in dieser Frage die gegenteilige Position ein. In seiner im späten 18. Jahrhundert erschienenen, polemisch gegen die Pietisten der Auf klärungszeit gewendeten Schrift mag er aber die religiöse Bewegung in ihren Anfängen überschätzt haben, wenn er sie gemessen an Anzahl, Reichtum und Anhängern als aus vornehmen Geschlechtern und als einf lussreich beurteilte.16 Die Frage nach dem gesellschaftlichen Rückhalt des Pietismus öffnet das Feld der Spekulationen. Nach wie vor nimmt der sozialgeschichtliche Aspekt in den wenigen Untersuchungen zum Pietismus in der Schweiz einen marginalen Platz ein. Diesem Mangel zu begegnen scheint mir um so wichtiger, als erst eine genaue Einbettung dieser religiösen Strömung zwischen Orthodoxie und Auf klärung in ihr gesellschaftliches Umfeld weiterführende Fragestellungen nach einer politischen und mentalitätsgeschichtlichen Bedeutung zulässt. Für den gewählten Ansatz kommt erschwerend hinzu, dass eine umfassende Sozialgeschichte Zürichs – vergleichbar beispielsweise mit jener von Helga Schultz über Berlin17 – fehlt. Eine solche Arbeit würde ein Einordnen von Daten in einen sozialen Gesamtrahmen erst ermöglichen. Fragen über Mobilität und gesellschaftlichen Wandel sowie deren Auswirkungen auf Schichten, die zum Pietismus neigen, können daher nicht abschließend beurteilt werden. Immerhin bietet Paul Guyers ältere Abhandlung über die soziale Schichtung einen ersten Anhaltspunkt.18 Hilfreich und ergänzend kommen die beiden her14

Lehmann, Vorüberlegungen zu einer Sozialgeschichte des Pietismus, S. 69. Geschichte des Kantons Zürich, Band 2, S. 468. 16 Meister, Helvetische Szenen der neuen Schwärmerey und Intoleranz, Zürich 1785, S. 139 f. 17 Schultz, Berlin 1650–1800. 18 Guyer, Die soziale Schichtung der Bürgerschaft Zürichs. 15

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vorragenden Dissertationen von Hans-Rudolf Dütsch über die Zürcher Landvögte19 und David Gugerli über die Pfarrfamilien20 hinzu, die den sozialen Hintergrund höherer Staatsbeamten weltlichen und geistlichen Standes ausleuchten. Mit Ulrich Pfisters Arbeit zur Protoindustrialisierung im Kanton Zürich ist schließlich der sozialökonomische Gesichtspunkt umfassend aufgearbeitet.21 Zur Analyse des sozialen Milieus des Zürcher Pietismus habe ich einen pragmatischen methodischen Zugang gewählt, der sich bei allen drei Ansätzen bedient. Die Quellenlage zwang mich aber, mich über weite Strecken auf die Pietismusdefinition der Obrigkeit abzustützen. Die hier untersuchte soziale Struktur der pietistischen Bewegung in Zürich umfasst den Zeitraum von 1689 bis 1721. Folgt man der Epocheneinteilung Hadorns, so fällt die erste Hälfte des Zeitrahmens in die Ära kirchlicher Reformbemühungen, im zweiten Abschnitt kommt dagegen die Separation zum Tragen.22 Handelt es sich nun gemäß der Ritschlschen These innerhalb des gewählten Zeitrahmens um zwei nicht miteinander vergleichbare Strömungen? Wie sind beide gegeneinander abzugrenzen? Eine Epocheneinteilung, wie sie Hadorn vornimmt, hat sehr wohl ihren Zweck und dient der systematischen Gliederung einer ereignis- und kirchengeschichtlich orientierten Darstellung. Ihre Relevanz muss aber für die hier untersuchte Fragestellung angezweifelt werden. Vermutlich entwickelte sich die sogenannte radikale und kirchenfeindliche aus einer innerkirchlichen Strömung. Im Zürcher Pietismus sind keine Grenzlinien zwischen gemäßigten und radikalen Strömungen feststellbar; erst gegen Ende des untersuchten Zeitraums, als sich die radikalen Reformer politisch marginalisieren ließen, sind erste Abgrenzungstendenzen ersichtlich. Bis zu diesem Moment erscheint die pietistische Bewegung durchlässig für die unterschiedlichsten Schattierungen. Eine Kontinuität zwischen der ersten und der zweiten Epoche ist daher anzunehmen. Im Weiteren steht der radikale Pietismus in einem gesellschaftlichen und politischen Umfeld. Es ist nicht einfach abzuschätzen, inwiefern sich die pietistische Bewegung aus innerem Anlass in eine radikale Richtung entwickelte und in welchem Ausmaß dieser Prozess durch staatliche Repression verstärkt wurde. 23 Ja, es ist grundsätzlich fraglich, wie weit die Kategorien »radikaler« und »gemäßigter« Pietismus für unsere Fragestellung überhaupt zielführend sind.24 19

Dütsch, Die Zürcher Landvögte. Gugerli, Zwischen Pfrund und Predigt. 21 U. Pfister, Die Zürcher Fabriques. 22 Hadorn, Geschichte des Pietismus in den schweizerischen reformierten Kirchen. Auch Dellsperger verwendet diese Gliederung: Dellsperger, Der Pietismus in der Schweiz, S. 589. 23 Vgl.: Lehmann, Vorüberlegungen zu einer Sozialgeschichte des Pietismus, S. 82 f. 24 Schneider, Der radikale Pietismus in der neueren Forschung, PuN 9 (1983), S. 131. 20

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Wird der frühe Pietismus dagegen als ein offenes oder nicht abgeschlossenes Glaubenssystem betrachtet, das sich als Reform- und Oppositionsströmung auf kirchliche und politische Gegebenheiten bezieht, so entsteht ein elastischer Pietismusbegriff, der die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu integrieren vermag. Man muss sich vergegenwärtigen, dass im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert beide Strömungen, gemäßigter und radikaler Pietismus, sehr wohl auch nebeneinander Bestand haben konnten, ohne sich deutlich von einander abzugrenzen. In meiner Untersuchung werde ich mich auf eine tendenziell radikale Strömung innerhalb der pietistischen Bewegung konzentrieren. Ganz einfach deshalb, weil diese heterodox eingestellten Menschen die Aufmerksamkeit des Obrigkeitsstaates in besonderem Maße auf sich gezogen haben. Im Folgenden werde ich von »radikalen Tendenzen« oder von »Radikalpietismus« sprechen; diese Sprechweise geschieht in Ermangelung einer besseren Begriff lichkeit und soll zum Ausdruck bringen, dass eine Vielzahl von Denk- und Glaubenselementen, die dem Radikalpietismus zuzurechnen sind, im Zürcher Pietismus einen breiten Platz fanden, ohne dass es innerhalb der Bewegung zu Abgrenzungen gekommen wäre. Ich erhebe daher die Kriterien radikal oder gemäßigt, inner- oder außerkirchlich in meiner Untersuchung auch nicht zum eingrenzenden Prinzip25: Es gibt mehrere Personen, die sich nicht eindeutig einer radikalen Richtung zuordnen lassen, wie beispielsweise der nachmalige Bürgermeister Johann Kaspar Escher [20]26 , der sich im regen Austausch mit den Radikalen und Inspirierten befand. Er verstand es aber, sich im entscheidenden Moment still zu verhalten, und ist demnach im Grenzbereich des radikalen Pietismus anzusiedeln. Ob es überhaupt eine parallele, gemäßigte innerkirchliche und weltabgewandte Strömung gab, ist zudem fraglich. Zumindest fand sie keinen direkten Niederschlag in den Quellen. Traktate und Predigten, in welchen die Radikalen zur Mäßigung aufgefordert wurden, wie jene anlässlich der Veröffentlichung des Pietistenmandats gehaltene Predigt von Johann Jakob Ulrich,27 25 Vgl.: Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus, S. 58–63. 26 Die Zahlen in eckigen Klammern verweisen auf das Pietistenkorpus im Anhang. 27 Ulrich, Balsam und Artzet in Gilead/ | Das ist/ | Christliche Gedanken | Uber | Die sicherste Weiß/ der heut zu Tag allent-|halben grossen Verdorbenheit abzuhelffen/ | Und das | Kranke Zion Gottes | Zu den Stand einer erwünschten Besserung zu bringen/ | nach Anleitung der Worte des Propheten Jeremiae/ | In seiner Prophecey Cap. VIII V. 22. | Ist dann kein Balsam mehr in Gilead? Ist kein Arzet da-|selbst? Warum nimmt dann die Besserung meines Volks | nicht zu? | Zu einer einfaltigen Predigt/ bey Anlaß eines wider die | Neu=entstandenen Inspirierten/ Separatisten/ | Pseudo=Pietisten/ | Verlesenen Hoch=Oberkeitlichen Mandats/ | Sonntags den 17. Aprilis 1717 ab offentlicher Canzel | in der Kirchen des Wäisenhauses vorgestellet, Zürich (Hardmeyer) 1717 [ZB Zürich Ms. S 278, Nr. 119]. Nachdruck: Zürich (Bürkli) 1737.

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deuten jedoch indirekt auf eine gemäßigte, stille und innerkirchliche pietistische Tendenz oder Grundstimmung hin, die toleriert wurde. Als Indiz für eine zumindest pietistenfreundliche Strömung in der Zürcher Kirche kann die Wahl von Peter Zeller zum Antistes gewertet werden. Er folgte 1713 als Gegenreaktion auf den streng orthodoxen Anton Klingler, und mit seinem Amtsantritt lebte die Reformbewegung in der Kirche erneut auf. Zeller war nicht nur Teilnehmer der Konventikel seines Bruders, er hat sich auch die pietistische Sprechweise von Wiedergeburt, Namenschristentum und Herzenswärme angeeignet. Und zu guter Letzt ist er der Schwiegervater der beiden pietistischen Theologen Marx Wirth, genannt Hospinian [66] und Johann Kaspar Ziegler [213].28 Kurz: dem Hadornschen Phasenübergang zwischen den beiden Generationen gilt ein besonderes Augenmerk. Diesem kann Rechnung getragen werden, indem zwei miteinander zu vergleichende Generationengruppen gebildet werden. 1.1.3 Die Quellenbasis Pietistinnen und Pietisten waren wiederholt staatlichen und kirchlichen Verfolgungen ausgesetzt. Die obrigkeitlichen Repressalien ihnen gegenüber ermöglichen uns heute einen Einblick in die soziale Struktur dieser kirchenkritischen Bewegung. Die Nonkonformisten wurden vor den Kirchenrat zitiert und auf ihre Glaubenssätze hin examiniert. Wer von der strengen Orthodoxie abwich, wurde dem lokalen Pfarrer zur Überwachung und »Korrektur« überstellt. Oft wurden aber härtere Saiten aufgezogen: Geistliche verloren ihre Ämter und zentralen, politisch bedeutsamen Persönlichkeiten drohte das Exil. Die obrigkeitliche Strategie der Kriminalisierung unliebsamer Außenseiter hinterließ eine umfangreiche Aktensammlung zum zürcherischen Pietismus. Dokumente, die heute über Mentalität, theologische Grundsätze und soziale Netze der Zürcher Pietisten Auskunft geben. Die Geschichte der obrigkeitlichen Verfolgung bis 1721 kann in zwei Phasen eingeteilt werden. Phasen, die den Blick auf zwei Generationen von Nonkonformisten freigeben. Die beiden Pietistengenerationen stützen sich vermutlich bereits auf eine Vorläufergeneration: Zwischen 1650 und 1689 – also noch vor dem zu untersuchenden Zeitraum – werden die Kritiker an Orthodoxie und Obrigkeit in Einzelverfahren gemaßregelt. Betroffen waren vorwiegend Geistliche. Diese Vorläufergeneration ist bisher wenig beachtet worden. Sowohl Studer wie Stoye und in ihrem 28

H. R. Zimmermann, Die Zürcher Kirche, S. 262; Hanimann, Zürcher Nonkonformisten im 18. Jahrhundert, S. 56.

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Gefolge Hadorn verlegen den Beginn der pietistischen Bewegung in das letzte Dezennium des 17. Jahrhunderts. Einzig der liberale Kirchenkritiker Otto Anton Werdmüller beschäftigt sich mit den mutmaßlichen Vorläufern des Pietismus wie beispielsweise Michael Zink oder Johannes Hochholzer [60].29 Er lässt leider die Frage außer Acht, wie weit diese Personen als Vorbereiter angesehen werden können und inwiefern die zürcherische Bewegung somit über starke eigenständige Wurzeln verfügte. Ebenfalls wenig beachtet wurde bis heute der kritische Pfarrer Johann Jakob Thomann (1614–1671).30 Ein Jahr nach Amtsantritt von Anton Klingler (1688–1713) als Antistes, »dem letzten bornierten Vertreter der Orthodoxie« 31, begann 1689 eine Serie von Verfahren gegen sogenannte labadistische Sozietäten. Klingler war gleichzeitig treibende Kraft im Wasterkringer Hexenprozess und Agitator im Konf likt mit dem Abt von St. Gallen. Die Geschichte der breit angelegten Prozesse hat Oskar Stoye in seiner unveröffentlichten Dissertation aufgearbeitet.32 Die zweite Periode der Verfolgung unterscheidet sich von den vorausgegangenen darin, dass sie nicht durch die Kirche ausgelöst wurde. – Mit Antistes Zeller stand – Ironie des Schicksals – ein der pietistischen Bewegung nicht Abgeneigter der zürcherischen Kirche vor. Aber im Frühjahr 1716 gelang es den restaurativen Kräften, die Schulreformkommission aufzulösen, womit sie das letzte Projekt einer ambitiösen Reformbewegung abwürgten, die 1713 ihren Höhepunkt erreicht hatte. Nun konnte zum Gegenschlag ausgeholt werden. Die Pietisten gerieten ins Visier der Reaktion. Die Inspirationen des Toggenburger Goldschmiedes Ulrich Giezendanner [39] dienten als Auf hänger für eine Sonderkommission. Eingesetzt wurde »die Ehren=Commission zu den pietistischen Sachen, welche bestehet aus dem Collegio MHH der HH Examinatoren und Ihnen zugeordneten extraordinarj beisässen, HH Rathsherren und Major Meyer und Rathsherren und Landvogt Joh. Rudolf Escher, Krafft einer hochoberkeitl. Erkantnus von 25ten Jun. 1716«.33 Das paritätische – aus weltlichen und geistlichen Vertretern zusammengesetzte – Examinatorenkollegium wurde mit weltlichen Vertretern verstärkt. Die zweite Welle der 29 Werdmüller, Der Glaubenszwang der zürcherischen Kirche im XVII. Jahrhundert, Zürich 1845. 30 Dejung (Hg.), Zürcher Pfarrbuch. Thomann studierte im Ausland und wurde 1639 Prof. für Logik. Wegen scharfen Predigten wurde er wiederholt zur Verantwortung gezogen und dreimal im Amt eingestellt. 1655 erhielt er zwei Tage Gefängnis, weil er sich gegen das französische Bündnis und gegen Meineid ausgesprochen hatte. Er gründete eine Stiftung für arme Schulkinder. 31 Hürlimann, Die Auf klärung in Zürich, S. 22. 32 ZB Zürich Ms. Z V 100. 33 St AZ E II 56, S. 781.

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Verfolgung, die bis zur Expatriierung von Johann Heinrich Bodmer [6] im Sommer 1721 anhielt, war nicht einzig vom Gedanken einer »Einigund Reinigkeit« der Kirche geleitet, es spielte auch eine starke politische Komponente mit. Julius Studer hat den Verlauf der obrigkeitlichen Nachstellungen nachgezeichnet.34 Das überlieferte Quellenmaterial ist umfangreich. Die Mehrheit der Akten entstammt dem Antistialarchiv und befindet sich heute im Staats archiv Zürich. Das Rückgrat dieser Sammlung besteht in den Synodal akten – einem Tagebuch –, in welchen die Tätigkeiten der Kirchenbehörde verzeichnet wurden. Diesen sind Konvolute mit Beilageakten angegliedert. Die Nachforschungen der Examinatoren über die »pietistischen Händel« von 1682 bis 1692 füllen einen ganzen Beilageband: Beschlagnahmte Korrespondenz, Verhörprotokolle, Ratsbeschlüsse, Briefwechsel zwischen den weltlichen und kirchlichen Behörden sowie Listen konfiszierter Literatur.35 Noch umfangreicher arbeitete die eigens geschaffene Pietistenkommission in der Zeitspanne von 1716 bis 1718, sie hinterließ zwei Supplementbände. Herzstück der Aktensammlung ist ein zweihundert Seiten starkes, fein säuberlich erstelltes Protokoll der Kommissionssitzungen, angefertigt durch den Aktuar Rudolf Kramer.36 Im Weiteren gibt es chronologisch geordnete Stapel an Handakten, die den Zeitraum von 1698 bis 1721 abdecken. Erhalten blieben Verhörprotokolle und amtliche Korrespondenz.37 Auf letztgenanntem Material beruht die Arbeit von Julius Studer. Er schildert die sonderbare Geschichte seiner Quellen: »Durch die Gefälligkeit des Staatsarchivars wurde der Verfasser dieser Quellen arbeit auf ca. 250 noch nicht geordnete und benutzte Acten aufmerksam gemacht, welche, einst in einem besonderen Fache verwahrt und nur dem Schlüssel des Staatsarchivars zugänglich gewesen [waren].«38 Empfindliche Lücken in den Quellenbeständen entstanden durch die Ablösung Rudolf Kramers als Aktuar im Sommer 1718 durch Prof. Geiger. Nach dem Stabwechsel bricht einerseits das Protokoll der Pietistenkommission ab, und andererseits wurden den Synodalakten keine Beilageakten mehr über Pietistica beigefügt. Anhand der Pietistenakten habe ich vorab nach sozialen Netzen und Strukturen gesucht und serielle Personendaten erhoben. Mich interessierte zunächst, wer mit wem in Kontakt stand, und wie die Beziehungen vermittelt wurden. Schließlich versuchte ich, so viel wie möglich über die einzelnen Personen ausfindig zu machen: ihren Wohnort und Beruf, 34 35 36 37 38

Studer, Der Pietismus in der Zürcherischen Kirche, S.109–209. St AZ E II 423. St AZ E II 56 u. E II 56a. St AZ E I 8.1 – St AZ E I 8.5. Studer, Der Pietismus in der Zürcherischen Kirche, S. 109.

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ihre gesellschaftliche Stellung und ihre soziale Wertschätzung. Das prosopographische Datenmaterial habe ich anschließend zu einem Gesamtbild über die pietistische Bewegung zusammengefügt. Der gewählte Ansatz, aus obrigkeitlichen Akten die Personendaten der Pietistinnen und Pietisten zu erheben, entbindet nicht von den eingangs gestellten Fragen, wie Pietismus zu bestimmen sei. Schließlich war die Pietistenkommission genauso mit der Problematik der Heterogenität der Bewegung und der Frage, wer nun als Pietist oder Pietistin galt, konfrontiert. Der damaligen Behörde kam aber entgegen, dass sie über eine unmittelbare Definitionsmacht verfügte. Es war die Obrigkeit, die darüber entschied, wer als Pietist oder Pietistin anzusehen sei. Der gewählte Ansatz basiert somit größtenteils auf einem Blickwinkel von oben. Da es uns an selbst definierenden Materialien mangelt, die uns Personendaten liefern würden, müssen wir auf die obrigkeitlichen Quellen zurückgreifen. Die Betrachtung des Pietismus aus der Optik der verfolgenden Behörden impliziert eine Reihe weiterer quellenkritischer Probleme. Erstens, wie erschloss die Untersuchungskommission die Daten? Wie rasch erreichte sie die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit? Lotete sie das Phänomen Pietismus aus? Und reicht der Handlungsspielraum der Behörde bis in die Landschaft hinaus? Zweitens steht ein System zur Untersuchung, das auf Protektion und Kooptation basierte. Wie groß war der Toleranzrahmen für Oberschichtenangehörige? Inwiefern wurden innerhalb der Elite pietistische Neigungen als »faux pas« entschuldigt und rasch möglichst vertuscht? Drittens stellt sich das Problem einer politisch motivierten Verzerrung. Gab es ein Interesse, die ganze Angelegenheit aufzubauschen, oder überwog die Tendenz, ein paar Wortführer der Bewegung exemplarisch zu bestrafen und das effektive Ausmaß vergessen zu machen? Mit Recht kann gesagt werden, die in Sachen Pietismus ermittelnde Instanz sei »kriminaltechnisch« überfordert gewesen. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen. Am 6. April 1718 erließ der Rat den Auftrag an die Pietistenkommission, nochmals alle sogenannt »Interessierte« vorzuladen. Nach Vorstellung der Obrigkeit sollten die Examen bis zum 1. Juni abgeschlossen sein. Die Kommission sah sich aber außerstande, die enorme Anzahl Verhöre zu bewältigen.39 Das beschränkte Durchsetzungsvermögen der Ermittlungsbehörde auf der Landschaft soll folgendes Beispiel belegen. Der neu gewählte Pfarrer Müller meldete am 7. März 1717 nach Zürich, in seiner Kirchgemeinde Buchs gebe es sonntägliche Privatzusammenkünfte. Eine der dort versammelten Frauen gebe vor, »verzukungen in den Himmel und höll gehabt zu haben«.40 Diese Meldung wurde 39

Ebd., S. 169. St AZ E II 56, S. 937. Vorgänger von Pfr. Müller in Buchs war der 1716 verstorbene Pietist David Lindinner. 40

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im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht aufgegriffen und bearbeitet. Offenbar war Buchs außerhalb der Reichweite, um lokale Abklärungen vorzunehmen oder Verdächtigte nach Zürich vorzuladen. Die Angelegenheit wurde dem dortigen Pfarrer als Vertreter der Obrigkeit überlassen. Eine Untersuchung über einen möglichen Zusammenhang zwischen milder oder sogar unterbliebener Maßregelung und sozialer Reputation habe ich nicht angestellt. Ein Zusammenhang dürfte aber sehr wohl bestehen. Wieso ausgerechnet der Bürgermeistersohn Johann Kaspar Escher, dem Brief kontakte zum inspirierten Ulrich Giezendanner nachgewiesen wurden, dennoch völlig unbehelligt blieb, kann bloß mit Protektion erklärt werden. Die Rücksichtnahme auf Mitglieder der herrschenden Familien hat mit großer Wahrscheinlichkeit ein restloses Aufdecken des pietistischen Personenkreises erschwert. Bestimmt blieben einige religiös Andersdenkende der Strafverfolgung entzogen, sei es, weil sie der Elite angehörten, sei es, weil sie zu weit von der Stadt Zürich entfernt lebten, oder aber weil die ermittelnde Behörde nicht effizient genug arbeitete. Bei den aus den obrigkeitlichen Akten gefilterten Daten ist, was die Quantität betrifft, sicherlich von einer eingeschränkten Aussagekraft auszugehen. Die erhobenen Daten geben aber bei aller Unschärfe dennoch ein repräsentatives und deutliches Bild der Sozialstruktur des Pietismus. Um meine Recherche nicht vollständig auf die obrigkeitliche Optik abstützen zu müssen, habe ich die Akten auf der Suche nach Pietistinnen und Pietisten nach den folgenden sechs Kriterien durchsucht. 1.) Das eindeutigste Merkmal für die Zugehörigkeit zur pietistischen Bewegung ist die Teilnahme an Konventikeln. 2.) Ein weiterer deutlicher Beweis für pietistische Neigungen ist der Briefwechsel mit sogenannten »Interessierten«. 3.) Ein fremddefiniertes Indiz sind die verbotenen Kontakte zu namentlich erwähnten Pietisten. 4.) Aussagekräftig ist auch das Beziehungsgef lecht, das über ausgeliehene oder verschenkte Traktate entstand. 5.) Wer seine Kinder zu einem des Pietismus Verdächtigten in die Schule schickte oder sogar einen solchen Hauslehrer einstellte, muss selbst zu diesem Personenkreis gezählt werden. 6.) Am Rande können auch die Apologeten und Sympathisanten der Pietisten zur untersuchten Personengruppe gezählt werden. Sie beteiligten sich nicht aktiv an der Ausübung des neuen Glaubens, aber sie verteidigten die als »Irrgläubigen« bezeichneten öffentlich. Die Datensammlung habe ich auf das Gebiet der zürcherischen Herrschaft beschränkt. Ich bezog Stein am Rhein und Sax-Forsteck in die Untersuchung mit ein, das Toggenburg, wo Zürich nur kirchlichen Einf luss ausübte, klammerte ich dagegen aus. Die erfassten Personen mussten entweder auf Zürcher Territorium ihre Aktivitäten entwickelt haben, wie beispielsweise der Toggenburger Ulrich Giezendanner, oder sie waren

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Wer waren die Pietisten?

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Zürcher Bürger, wie der Marburger Professor Johann Heinrich Hottinger [67]. Die skizzierten Kriterien der Datenselektion erlauben keine trennscharfe Eingrenzung der pietistischen Personengruppe. Eine gewisse Durchlässigkeit oder weit gefasste Auffassung von Pietismus scheint dem geschilderten Definitionsproblem angemessener, was ich am Beispiel von Johann Jakob Scheuchzer beleuchten möchte. Den berühmten Zürcher Gelehrten, Johann Jakob Scheuchzer [144], als Pietisten zu charakterisieren, mag eine gewagte These sein. Es gibt aber gute Gründe, ihn am Rande der pietistischen Bewegung anzusiedeln. So berücksichtigte Scheuchzer für seine Publikationen den Pietisten Johann Melchior Füssli [34] als Illustrator. Es scheint ihn nicht im Geringsten zu irritieren, dass die Zeichnungen eine religiös-pietistische Symbolik transportieren.41 Weiter stand der Gelehrte in den Burgerunruhen auf derselben Seite wie die Pietisten. Er gehörte mit Obmann Bodmer zu den federführenden Aktivisten in der Auseinandersetzung mit der Obrigkeit. Seine Einschätzung der Verfassungskämpfe, wie er sie in der ersten Fassung seiner »Beschreibung«42 niederlegte, unterscheidet sich nicht von der pietistischen Weltanschauung. Besonders der Kampf gegen die aristotelisch-ptolemäische Neuscholastik und der Einsatz für naturkundliche und historische Fächer in den Schulen einten den Kopernikaner mit den Pietisten. Zudem wagte es Scheuchzer, als die Pietistenverfolgung ihren Anfang nahm, öffentlich für die Pietisten einzustehen. Er kritisierte auf der Brücke das Vorgehen der Obrigkeit und verlas in »ungebührender Weise« ein obrigkeitliches Schreiben. Deswegen wurde er am 27. September 1716 bestraft.43 Zürichs bekannter Naturforscher wurde außerdem beim Lesen pietistischer Traktate erwischt. Ausgangspunkt der obrigkeitlichen Untersuchung war der Buchdrucker Jakob Lindinner, er erhielt sechs Traktate aus Schaff hausen und verteilte sie weiter. Eines dieser Traktate fand den Weg über den Landvogt Holzhalb [64] zu Stadtarzt Johannes von Muralt [107]. Der fünfundsiebzigjährige Mediziner leitete es nach der Lektüre an seinen Kollegen Scheuchzer weiter. Die vier wurden im Januar 1720 vor die Examinatoren geladen. Scheuchzer rechtfertigte sich, er hätte dasselbe Traktat schon einmal vor vier Jahren aus Basel erhalten und habe in der Schrift nichts angetroffen, das gegen die Obrigkeit oder gegen die Kirche sei. Scheuchzer wie Muralt behaupteten, sie sähen in diesem Traktat le41 Beispielsweise »Moses, ein Schäfer«, in: Johann Jakob Scheuchzer, Physica Sacra, Tafel 116. Zur Bildinterpretation der Physica Sacra vgl.: Felfe, Naturgeschichte als lustvolle Synthese. 42 ZB Zürich Ms. V 119, Johann Jakob Scheuchzer, Historische Politische Beschreibung des A. 1713 unternommen Reformations Geschäfft. 43 St AZ E II 56, S. 872.

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Der soziale Hintergrund des Pietismus

diglich die Abhandlung einer akademischen Frage.44 Wie groß Scheuchzers Interesse an pietistischen Themen war, geht aus den Aufzeichnungen des Collegium der Wohlgesinnten hervor. Hier diskutierten Geistliche und Laien über theologische Themen. Orthodoxe und nonkonforme Auslegungen konnten in einer offenen Diskussion aufeinander treffen. Und es war Scheuchzer, der gerne pietistische Themen einbrachte: Am 21. Mai 1700 referierte er im Collegium beispielsweise über einen dissidenten Pfarrer aus Dillenburg, der das pietistische Wiedergeburtskonzept vertrat, die reformierte Kirche als Babel bezeichnete und bloß die wahren Christen unabhängig von ihrer Konfession zur Kirche Gottes zählte.45 Das Verhältnis zwischen dem frühen Pietismus und der Naturwissenschaft des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts ist eine offene Frage, dürfte vermutlich aber ein enges gewesen sein. Naturwissenschaft und Pietismus verband der Kampf gegen die überholte Orthodoxie. Leibniz beispielsweise, mit dem Scheuchzer in Brief kontakt stand, übernahm nicht nur den pietistischen Missionsgedanken, er war auch Förderer des Halleschen Waisenhauses und stand in freundschaftlicher Verbindung zum Chiliasten Johann Wilhelm Petersen.46 Im Leibnizschen Akademie-Gedanken verband sich Spiritualismus und Naturforschung, die äußere Beobachtung und das »innere Licht« ergänzten sich gegenseitig.47 Natur- und Gotterkenntnis bildeten eine Einheit – steht die Neigung zum experimentellen Forschen mit einer individuellen Gotteserfahrung in einem organischen Zusammenhang? Mittels Gott- und Naturerkenntnis sollte auf eine bessere Welt hingewirkt werden. In Zürich fand Scheuchzer, der Anhänger des Akademie-Gedankens, im Collegium der Wohlgesinnten ein Tätigkeitsfeld. In der Mitgliederliste finden wir sodann nicht nur namhafte Pietisten sondern auch Aktivisten der Reformbewegung von 1713.48 Die Ränder meines Pietistenkorpus sind zugegebenermaßen unscharf: das ist dem Umstand geschuldet, dass ich mich gezwungenermaßen stark auf die Akten der beiden Pietistenprozesse stützen muss. Pietisten oder Sympathisanten, die nicht dieser Verfolgungswelle ausgesetzt waren, fanden somit keine systematische, sondern höchstens sporadische Aufnahme in mein Korpus. Prominentestes Beispiel ist der Fraumünsterpfarrer Johann Heinrich Zeller (1654–1699). Der Bruder des späteren Antistes neigte zur 44

St AZ E I 23.1, Akten vom 22. Januar bis 3. Februar 1720, i. b. Akte vom 27. Januar. Kempe/Maissen, Die Collegia der Insulaner, S. 150 u. 152. 46 Wallmann, Der Pietismus, S. 87. Alsted and Leibniz. On God, the Magistrate and the Millennium. 47 C. Hinrichs, Preußentum und Pietismus, S. 35 f. 48 ZB Zürich Ms. B 58, Reunion der Action der Collegii der Wolgesinneten so anfang genommen A° 1693. 45

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Die Sozialstruktur des Zürcher Pietismus

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Mystik und veranstaltete erbauliche Zusammenkünfte. Er gehörte zudem zu Michael Zinks Freundeskreis und besuchte diesen auch im Gefängnis.49 Die gesammelten Daten wurden unter Beizug von Bevölkerungsverzeichnissen sowie der Genealogien Zürcher und Winterthurer Geschlechter vervollständigt. Die Angaben in den Verzeichnissen und in den Akten stimmten nicht immer überein, so fehlen oft Zuweisungshilfen wie ein Hauptmannstitel in der Genealogie oder die Aufnahme der Personalien in den Protokollen waren nicht eindeutig, so dass nicht alle Personen identifizierbar waren. Ich verzichte hier darauf, alle Einzelentscheidungen der Arbeitsweise mit den Hilfsquellen im Detail auszuweisen. Insgesamt konnte ich 216 Personen ausfindig machen, die ins Räderwerk der obrigkeitlichen Pietistenverfolgung gerieten. Davon gehören 38 Personen der ersten und 181 der zweiten Pietistengeneration an. Drei Personen sind in beiden Generationen anzutreffen und werden daher in der Auswertung nach Generationen doppelt gezählt. Das Verhältnis der Frauen zu den Männern beträgt etwa 1: 2,5. Die geringe Datendichte in der ersten Generation lässt die statistische Auswertung in einem fraglichen Licht erscheinen. Ich denke aber, dass eine Auswertung als Referenzgröße zur zweiten Generation dennoch sinnvoll ist. Ein Vergleich kann Ergebnisse und Tendenzen bestätigen oder auf einen sozialen Wandel zwischen den Generationen hinweisen, wenn auch nicht diesen hinreichend erklären.

1.2 Die Sozialstruktur des Zürcher Pietismus 1.2.1 Regionale Verteilung War der zürcherische Pietismus eine städtische oder eine ländliche Erscheinung? War der Pietismus eine Oppositionsform gegen eine Dominanz und Herrschaft der Zürcher Bürger, wie u. a. Conrad Ulrich den Winterthurer und Steiner Pietismus interpretiert?50 Einen ersten Anhaltspunkt zur Beantwortung dieser Fragen gibt uns die geographische Herkunft der aktenkundigen Heterodoxen. Um ein aussagekräftiges Ergebnis zu erhalten, wähle ich ein gemischtes Verfahren aus Wohnortsprinzip und Bürgerrecht. Die Zürcher und Winterthurer klassiere ich nach ihrem Bürgerrecht. Denn aus diesen beiden Städten stammten beinahe alle Pfarrer, Vikare und höhere Beamte, die auf der Landschaft Dienst taten. Die Geistlichen in den Dörfern blieben Vertreter der Stadt und der Obrigkeit; 49 Werdmüller, Der Glaubenszwang der zürcherischen Kirche, S. 104; H. R. Zimmermann, Die Zürcher Kirche, S. 247 f. 50 Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 2, S. 468.

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sie integrierten sich kaum ins dörf liche Leben.51 Die Pfarrer rechneten sich selbst in den periodisch an die Synode abgelieferten Bevölkerungsverzeichnissen nur selten zur lokalen Bevölkerung. Auch reiche Stadtbürger, die in ihren Landhäusern residierten, sahen sich nicht als Teil des Dorfes. Aus diesem Grund summiere ich alle Bürger der Städte Zürich und Winterthur unter ihrer jeweiligen Stadt, unabhängig von ihrem Wohnort. Wer nicht Bürger einer der beiden Städte war, fällt unter die Kategorie Landschaft, einzig die in Stein am Rhein Wohnhaften sind gesondert aufgeführt. Nichtzürcher sind Personen, die von außerhalb der zürcherischen Herrschaft stammten. Es sind mehrheitlich Lehrlinge, Gesellen und Theologiestudenten, die vorübergehend in Zürich lebten. Die Diagramme 1 und 2 erhellen die relative regionale Verteilung. Die statistische Auswertung kann aber vermutlich nur ein beschränktes Bild vermitteln. Wir müssen den Einwand gewärtigen, dass die gegen Andersgläubige ermittelnde Behörde sich vermutlich vermehrt für regimentsfähige Bürger interessierte. Stadtzürcher konnten der obrigkeitlichen Kirche gefährlicher werden und dank ihrer politischen Rechte auch effizienter zur weiteren Verbreitung der pietistischen Auffassung beitragen als die gemeinen Landleute. Beim Vergleich der beiden Diagramme ist erstaunlich, wie markant sich innerhalb von zwanzig Jahren der Pietismus über die Stadtgrenzen hinaus auszubreiten vermochte. Der relative Anteil der Zürcher Bürger wird innerhalb dieser Frist halbiert. In der zweiten Generation ist nur noch knapp jeder zweite Pietist ein Bürger Zürichs. Die größte Ausdehnung erfolgte auf dem Land, wo sich der Anteil rund verzehnfachte, und schließlich die Landbevölkerung einen Drittel der Frömmigkeitsbewegung stellte. Dennoch blieb der Pietismus der zweiten Generation eine städtische Erscheinung, denn die restlichen zwei Drittel waren Bürger einer der drei größten Städte der Zürcher Herrschaft. Die Zürcher Pietistinnen und Pietisten sind auch Anfang des 18. Jahrhunderts anteilsmäßig dominant. Relativ unverändert bleiben die Nichtzürcher, was auf eine bescheidene Rolle dieser Gruppe schließen lässt. Rein quantitativ bringt dieser Befund zum Ausdruck, dass der Einf luss von außen eher gering war. Sicherlich wurden Impulse und Anschauungen von außen aufgegriffen und angenommen, in seiner Ursächlichkeit erscheint aber der zürcherische Pietismus als ein eigenständiges Phänomen. Die regionale Verteilung der Pietisten der zweiten Generation zeigt, dass sich etliche Landleute an der neuen Glaubensrichtung beteiligten. In welchen Gegenden griff nun der sogenannte »Irrglaube« um sich? Gab es regionale Eigenheiten oder Indikatoren, die auf besondere Gründe hinweisen für die Verbreitung des Pietismus? 51

Gugerli, Zwischen Pfrund und Predigt, S. 89 ff.

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Diagramm 1: Relative regionale Verteilung der Pietistinnen und Pietisten aus der ersten Generation.

  

    

  

  

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Diagramm 2: Relative regionale Verteilung der Pietistinnen und Pietisten aus der zweiten Generation.

Die Karte (Figur 1) illustriert die regionale Verteilung und Dichte des landsässigen Pietismus. Analog zur Darstellung der relativen Verteilung finden auch hier die außerhalb der Stadtmauern lebenden Winterthurer und Zürcher keine Beachtung. Nicht berücksichtigt sind die Konventikel in Buchs und Dägerlen, die der Pietistenkommission gemeldet, aber nicht untersucht wurden. Auffallend ist die Zentrumsbildung: Zürich, Winterthur und Wallisellen bzw. Dietlikon bilden jeweils den Kern, um welchen sich weitere ländliche Gebiete gruppieren. In der Karte nicht verzeichnet ist die nördlich von Feuerthalen gelegene Gemeinde Stein am Rhein. Das Bild entspricht den vier großen Konventikelplätzen mit ihren Einzugsgebieten: Zürich,

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Figur 1: Regionale Verteilung nach Kirchgemeinden. (Die Übersichtskarte der Kirchgemeinden des ausgehenden 18. Jahrhunderts wurde entnommen: U. Pfister, Die Zürcher Fabriques, S. 14.)

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Winterthur, Dietlikon sowie Stein am Rhein. Bemerkenswert ist die direkte Verbindung Zürichs mit Winterthur, wobei Dietlikon in der Mitte dieser wichtigen Verkehrsachse liegt. Möglicherweise steht die Ausbreitung pietistischer Zirkel entlang des Verkehrsweges von Zürich nach Winterthur in Zusammenhang mit der Verbreitung der wollverarbeitenden Textilindustrie des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Besonders entlang der Korridore Limmattal und Zürich-Winterthur entwickelte sich eine protoindustrielle Heimarbeit, die durch städtische Verleger erschlossen wurden (Figur 2).52 Das rechte Seeufer hingegen war hauptsächlich durch die Seidenverarbeitung geprägt. Die Almosenrödel von 1692 weisen u. a. die Kirchgemeinden Rümlang, Kloten, Zollikon und Wallisellen, zu der auch Dietlikon gehört, als protoindustrielle Armenhäuser aus. Die Heimarbeiterhaushalte wurden in der damaligen Subsistenzkrise besonders hart getroffen. Wie Ulrich Pfister in seiner Studie über das zürcherische protoindustrielle Wachstum zeigt, fand zudem zwischen 1710 und 1740 eine empfindliche Verlagerung der räumlichen Ausbreitung der Heimarbeit statt. Die konjunkturelle Krise war durch den Wechsel der Woll- zur Baumwollverarbeitung geprägt. Der Niedergang der Wollindustrie und der Aufstieg der Baumwolle zogen aufgrund unterschiedlicher Organisationsformen der beiden Branchen auch eine Verschiebung der räumlichen Verbreitung protoindustrieller Produktionszentren nach sich (Figur 3).53 Inwiefern die wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozesse und die räumliche Verlagerung der Heimarbeit die Verbreitung des Pietismus auf der Landschaft begünstigten, kann nicht hinreichend beurteilt werden. Die zeitliche Koinzidenz beider Phänomene ist immerhin beeindruckend. Hartmut Lehmanns psychologische These, wonach die Angst ein tragendes Element in der Verbreitung des Pietismus darstellte, gewinnt hier an zusätzlicher Plausibilität. Er postuliert die Angst als Bindeglied zwischen Konventikelbildung und Eschatologie, Angst als Ausdruck der Existenzbedrohung am Ende des »langen 17. Jahrhunderts«. Die Angst vor dem sinkenden Lebensstandard und damit um die soziale Existenz habe sich bei zahlreichen Zeitgenossen in der Angst um ihr Seelenheil geäußert. Die Konventikel hätten sich daher als kollektive Bewältigungsstrategie einer kollektiven Angst angeboten.54 Die Verbindung von psychologischen und den geschilderten ökonomischen Faktoren zur Interpretation der Verbreitung des Pietismus und dessen räumlichen Auf kommens überzeugt, ein direkter und zwingender Zusammenhang wird jedoch nur schwer nach-

52 53 54

U. Pfister, Die Zürcher Fabriques, S. 103. Ebd., S. 100–120, i. b. S. 100 f. Lehmann, »Absonderung« und »Gemeinschaft« im frühen Pietismus, S. 65 f.

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Figur 2: Verbreitung der Textilverarbeitung, ca. 1640. (U. Pfister, Die Zürcher Fabriques, S. 103.)

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Figur 3: Verbreitung der Baumwollspinnerei, 1787. (U. Pfister, Die Zürcher Fabriques, S. 115.)

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weisbar sein.55 Erwähnenswert ist ein weiteres Faktum, das an die psychologische Interpretationsweise anschließt: Klimatische Verschiebungen am Ende des 17. und am Anfang des folgenden Jahrhunderts verursachten verheerende Subsistenzkrisen. Die Hungersnot von 1689 dezimierte die zürcherische Bevölkerung um etwa ein Drittel. 1710 folgte eine weitere Hungersnot.56 Dieser Ansatz gibt weniger eine Interpretationshilfe für das regionale Auf kommen des Pietismus, ist aber in ihrer Gleichzeitigkeit mit den beiden pietistischen Frömmigkeitszyklen doch sehr erstaunlich. Die wichtigste Kommunikationsform der Pietisten bestand in den Konventikeln. Durch umher reisende Pietisten wurde ein weiteres, überregionales Kommunikationsnetz aufgebaut; das sicherer war als das Befördern von Briefen mit der Post. Dieses konnte kaum durch die Obrigkeit kontrolliert werden. Oftmals wurde das Hin-und-her-Tragen von Grüssen und Briefen mit Handelsreisen kombiniert. Folgende Beispiele sollen dies belegen: Heinrich Bänninger [3], ein Schneider aus Töss, trug Briefe nach Zürich, Winterthur und Schaff hausen und übermittelte Grüße. In seinem Verhör von 25. September 1716 gestand der »abgefemte geselle«57, nachdem die Ehrenkommission Druck auf ihn ausgeübt hatte, dass er geschäftlich in Schaff hausen gewesen sei und dort einen Brief der Winter thurer Pietisten an den exilierten Ulrich Giezendanner [39] überbracht habe. Auch mit dem pietistisch predigenden Expektanten Jakob Sulzer [172] im Kleeblatt will er geschäftlich zu tun gehabt haben. Für seine Briefträgerarbeit habe er ein kleines Zubrot erhalten, denn schließlich sei er verschuldet.58 Eine hohe Übereinstimmung zwischen Handelsreisen und religiösem Kontaktnetz bestand auch bei der jungen Tuchhändlerin Elisabetha Künzli [83]. Die Winterthurerin, Tochter des verstorbenen Spitalschreibers, reiste regelmäßig nach Schaff hausen und Zürich, wo sie jeweils auch Aufwartungen bei ihren Glaubensgenossen machte. Durch ihre Tätigkeit hatte sie auch Jakob Benz [5] kennen gelernt, und begab sich mit dem Veranstalter der Rumstaler Konventikel gemeinsam auf Geschäftsreisen. 59 Diese drei Vertreter aus der Textilbranche mögen die These eines strukturellen Zusammenhangs zwischen Protoindustrialisierung und Pietismus stützen. Es gab aber auch rein religiös motivierte Kommunikationsträger. 55 Vgl. Leube, Die Sozialideen des kirchlichen Pietismus, S. 134 f. Aus tiefenpsychologischer Sicht kommentiert der Freud-Schüler Oskar Pfister den Pietismus als Form krankhafter Angstzustände mit pathologischen Zügen. Pfister, Das Christentum und die Angst, S. 421. 56 Fritsche, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 35. 57 St AZ E II 56, S. 868. 58 Ebd., S. 868 ff. 59 St AZ E I 8.2 und E I 8.4, Akte vom 22. Nov. 1719.

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So klagt beispielsweise Johann Ulrich Koch [78] über seinen Sohn Melchior [75], dass er »nit vil arbeite«, wegen der in pietistischen Angelegenheiten unternommenen Reisen. Der Perückenmacher aus Stein pendelte häufig zwischen Zürich, Dietlikon und seiner Heimatstadt hin und her. Er besuchte verschiedene Konventikel und hielt die überregionale Kommunikation aufrecht. Seine Reisen sind gemäß der Aussage seines Vaters nicht ökonomisch motiviert.60 1.2.2 Frauen und Männer Die Statistik gewährt auch einen ersten Einblick in die Verteilung von Frauen und Männern innerhalb der neuen, religiösen Strömung. Der Vergleich zwischen den beiden Generationen bestätigt den bereits gewonnenen Eindruck: In den zwanzig Jahren zwischen 1698 und 1718 differenzierte sich die gesellschaftliche Akzeptanz des Pietismus weiter aus. Nicht nur unter den Landleuten, sondern auch beim weiblichen Geschlecht stieg die Anhängerschaft (Tab. 1). Auch hier ließe sich der Einwand erheben, die Obrigkeit habe sich bei ihren Untersuchungen in erster Linie auf regimentsfähige Männer konzentriert, wodurch der Frauenanteil an der Bewegung eher unterbewertet sei. Dennoch lässt sich ein Zuwachs des Anteils der Frauen von 16 auf 32 Prozent innerhalb einer Generation konstatieren. Nicht ausschließlich Städterinnen vermochten sich für den Pietismus zu begeistern, auch auf dem Land beteiligten sich Frauen zu einem Drittel an der religiösen Bewegung. (Tab. 2). Nur Winterthur und Stein weichen von dieser Verteilung ab. Bei der geringen Datenmenge spielt hier wohl auch der Zufall mit. Addiert man jedoch die Anzahl der Frauen in beiden Städten, so liegt man wieder im Mittel. Einzig unter den Nichtzürchern waren die Frauen kaum vertreten. Dieser Umstand ist vermutlich der geringeren überregionalen Mobilität der Frauen zuzuschreiben. Die Verbreitung pietistischer Frömmigkeit unter Frauen und Landsassen verlief offenbar parallel. Dass jede dritte Person, die als dem Pietismus zuneigend auffiel, eine Frau war, ist beachtlich. Dies um so mehr, als die Auseinandersetzung mit Theologie und Kirche eine Domäne war, die im Ancien régime ausschließlich Männern vorbehalten blieb. Wie kamen Frauen dazu, sich kritisch mit der kirchlichen Orthodoxie auseinander zu setzen, zumal ihnen die Beteiligung am öffentlichen Diskurs über dieses Thema vorenthalten wurde? Eine Attraktivität der neuen Frömmigkeitsrichtung für Frauen lag vermutlich in der internalisierenden und individuellen Tendenz im Pietismus. Religiosität blieb nicht länger auf den öffentlichen, von Männern 60

St AZ EI 8.3.

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beherrschten Raum beschränkt, sondern Frauen konnten nun im privaten oder halböffentlichen Raum – die Konventikel sind in diesem Grenzbereich anzusiedeln – ihr religiöses Bewusstsein selbst finden und verwirklichen.61 Lesegewohnheiten des frühen 18. Jahrhunderts unterstützten wahrscheinlich diese Tendenz: Neben den Schülern und Gebildeten waren es hauptsächlich Frauen, die Zeit zum Lesen fanden. Die Literatur, die sie mehrheitlich verschlangen, waren Erbauungsbücher und -traktate – die vorherrschende Literaturgattung jener Zeit – vergleichbar mit der heutigen Belletristik.62 Genauere Aussagen über das Verhältnis der Frauen zum Pietismus und worin für sie die Anziehungskraft bestand, kann schließlich nur eine mentalitätsgeschichtliche Erhebung liefern. Ein Element ist bestimmt in den emanzipativen Möglichkeiten zu suchen, die der frühe und radikale Pietismus den Frauen bot. Frauen konnten in der Frömmigkeitsbewegung während der kurzen Zeitspanne der hier untersuchten ersten beiden Generationen aus dem traditionellen Rollenverständnis heraus- und als fromme Frauen hervortreten und die Stellung einer geistlichen Führerin einnehmen. Die aktive Phase der Frauen in den Entwicklungsjahren des Pietismus stellt Rudolf Dellsperger in Zusammenhang mit einem tiefschürfenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel in Europa, der alle Lebensbereiche betraf.63 In einer späteren Entwicklungsphase des Pietismus wurden die Frauen dann wieder in den Hintergrund gedrängt. Tabelle 1: Geschlechterverhältnis in beiden Generationen. relativ

absolut

relativ

absolut

1. Generation w

16 %

6

2. Generation w

32 %

58

1. Generation m

84 %

32

2. Generation m

68 %

123

Wie verhalten sich die Zürcher Pietistinnen? Ist es ihnen möglich, eine aktive Rolle im religiösen Leben einzunehmen? Verlassen sie die Konventionen des weiblichen Rollenverständnisses? – Werfen wir zuerst einen Blick auf die Zahlen: 61 Blackwell, Herzensgespräche mit Gott. Albrecht, Frauen; dies., Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus. 62 Wysling, Die Literatur, S. 131; Schrader, Die Literatur des Pietismus, S. 386–403. 63 Dellsperger, Frauenemanzipation im Pietismus, S. 131–152. Vgl. ebenfalls: Noth, Ekstatischer Pietismus. Zum Thema der Krise des »langen« 17. Jahrhunderts sowie zur wegweisenden Literatur dazu vgl. Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus, Kap. 3.

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Die Sozialstruktur des Zürcher Pietismus Tabelle 2: Das Geschlechterverhältnis der zweiten Generation nach Region, bzw. Bürgerrecht aufgeschlüsselt. Zürich

Winterthur

m

31 % (54)

8 % (14)

3%

(6) 21 % (37)

w

15 % (26)

2%

3%

(6) 11 % (19)

Total

46 % (80) 10 % (18)

(4)

Stein

Land

6 % (12) 32 % (56)

Nicht Zürcher 6 % (10) 6 % (10)

Total 69 % (121) 31 %

(55)

100 % (176)

Erstaunlich am Wandel von der ersten zur zweiten Generation ist die deutlich höhere weibliche Beteiligung am Pietismus. Der Anteil der Frauen hat sich verdoppelt. Diese Entwicklung geht einher mit einem qualitativen Rollenwandel: Auch in Zürich übernahmen Frauen in der zweiten Phase der Bewegung tragende Funktionen. Der Anteil jener Frauen, die verwandtschaftlich über einen Bruder, Vater oder Ehegatten in das Netz der »Interessierten« eingebunden waren, bleibt mit rund der Hälfte über die untersuchten zwanzig Jahre in etwa konstant. Die Frauen finden somit nicht bloß über ihre männlichen Bezugspersonen zum Pietismus. Die Frauen entscheiden über ihre Religiosität selbst. Der Grad der familiären Einbettung der Frauen sagt aber für die Beurteilung der Geschlechterrolle noch nicht alles aus. Die aktive weibliche Beteiligung an der Frömmigkeitsbewegung nimmt gegenüber der ersten Generation zu. Wir treffen auf Frauen, die als Förderinnen von Konventikeln auftraten und in ihren Häusern religiöse Versammlungen organisierten. Die Pfarrerswitwe Anna Lindinner [93] veranstaltete an ihrem Wohnort in Stadelhofen im Haus des Schärrer Füssli gut besuchte Erbauungsstunden. Abgelöst als Gastgeberin wurde sie durch die zwei Töchter [30 u. 35] des verstorbenen Obervogtes David Füssli. Auch deren Haus im Niederdorf wurde f leißig für fromme Versammlungen frequentiert.64 Die weibliche Rolle im Pietismus erschöpfte sich nicht in der Aufgabe als Gastgeberin. Es tauchten in der Bewegung auch weibliche Führungspersönlichkeiten auf, die durch ihre Lebensführung eine besondere Stellung erlangten, welche sich auf die extreme Negation des weiblichen Körpers bezog. Diese Frauen wurden als Wundererscheinungen oder Heilige betrachtet und von der Obrigkeit scharf verfolgt. Anna Barbara Geilinger [37] erlangte einen derartigen Ruhm. Die Tochter des Waagmeisters in Winterthur diente bei Dr. Steiner als Magd. Über sie verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, sie lebe seit Monaten ohne Nahrung. Das Stadtgespräch ließ die Winterthurer Instanzen aktiv werden. Sowohl die Magd als auch ihr Arbeitgeber bestätigten das über64

St AZ E II 56, S. 947.

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Der soziale Hintergrund des Pietismus

natürliche Fasten.65 Das zweite und bekanntere Beispiel für diese Frömmigkeitsform bei einer Frau ist die bereits erwähnte Elisabetha Künzli [83]. Ihrem Fasten folgten Visionen. Beat Holzhalb [63], der mit ihr entfernt verwandt war, zeichnete ihre Visionen in Protokolldiarien auf: Den 16ten Feb. 1717. sagte mir die Jhrigen, daß sie seit zehn Tagen äusserst traurig gewesen und beynahe gar nichts geessen habe. Mit Wainen sprach sie zu mir, dass die schröcklichsten Kämpfe auf sie warten. Doch ergab sie sich gelassen, nicht ohne Hoffnung eines seligen Ausgangs. Jch habe die Versicherung, fuhr sie fort, daß der Herr ein Zeichen an mir thun werde zum Guten. – Ob sie gleich fast niemals bey sich selbst war, redete sie doch beständig, und zwar beynahe allezeit in zusammenhängender Ordnung; sie vermahnte uns oft zum Wachen und Beten, weil es sehr gefährliche Zeiten wäre. […] [B]ald deutete sie mit dem Finger in die Höhe und sprach mit vernemlicher Stimme voller Bewegung: »Seht da mein Jesum! Seht da die heilige Dreyeinigkeit! Seht da die h. Engel.« […] Die ganze Zeit über hörte und sah sie nichts, was ausser ihr vorgieng, ungeachtet ihre Augen offen waren […]. Den 17. dito betete sie eifrig, sagte auch oft: Ach, die neunte Stunde! Ach, die neunte Stunde! Je näher nun die neunte Stunde herbeykam, je grösser wurde ihre Beklemmniß; auf einmal war sie nicht mehr bey sich selber […] und rief voll Entzücken: Jesus habe ihr seinen Trau=Ring gegeben.

Das Tagebuch endet mit dem Eintrag: Verwunderlich war es auch daß sie die neun Tage über, da sie bey uns gewesen, keines Stäubleins groß von Speisen gegessen hat.66

Christlicher Glaube und übersteigerte Jesusliebe ist hier kaum mehr zu unterscheiden.67 Diese Form besonders bei Frauen verbreiteter Frömmigkeit kann als ein Mittel interpretiert werden, die individuelle religiöse Hingabe in den öffentlichen Raum zu transportieren. Das übernatürliche Fasten war letztlich eine extreme und daher auch seltene Erscheinung, sie war auch nicht die einzige Möglichkeit, aus der passiven Rolle auszubrechen, welche die Kirche den Frauen in ihrer Religionsausübung zugedacht hatte. Dass der Reiz des Pietismus für Frauen in der Entwicklung eines eigenständigen religiösen Selbstbewusstseins bestand, wurde bereits erwähnt. In den Konventikeln gab es für weibliche Teilnehmerinnen die Möglichkeit, sich aktiv – und den Männern gegenüber gleichgestellt 68 – zu 65

St AZ E I 8.3, Akte vom 22. Juni 1718. u. E I 56, S. 988 f. Zitiert nach: Meister, Helvetische Szenen der neuen Schwärmerey und Intoleranz, S. 148 f. 67 Die übersteigerte Jesusliebe mag psychologisch gesehen als Sublimation erscheinen; es stellt sich hier aber die mentalitätsgeschichtliche Frage, in wie weit sich nicht zuerst im religiösen Bereich ein Freundschaftskult und die Liebe zwischen den Geschlechtern vorbereitete. 68 Aland, Der Pietismus und die soziale Frage, S. 126. 66

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betätigen. Die Idee vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen machte in religiösen Belangen keinen Unterschied mehr zwischen Mann und Frau: was zählte, war die Frömmigkeit. Die Geschlechterdifferenz war zumindest in den Erbauungsstunden aufgehoben. Diesen emanzipativen Ansatz erachteten ganz besonders die Vertreter der Orthodoxie als Ärgernis. Johann Jakob Hottinger wetterte in seiner antipietistischen Kampfschrift gegen die religiös engagierten Frauen. Er kritisierte die Pietisten, die nicht akzeptieren wollten, dass es nur im Alten Testament Prophetinnen gegeben habe, da inspirierte Frauen angeblich in der Zeit des neuen Testaments nicht mehr existierten: Gewiß ist/ dass es im Neuen Testament jederzeit geblieben bey dem/ das Paulus aus Gottes Geist allein Christlichen Gemeinden befohlen: Eure Weiber sollen in der Gemeinde schweigen/ dann es ist ihnen nicht zugelassen zureden/ sonder unterthänig zuseyn/ wie auch das Gesatz sagt/ wollen sie aber etwas lehrnen/ so sollen sie daheim ihre Männer fragen: […] 1. Cor. 14:34.35. Einem Weib gesthe ich nicht/ daß sie lehre/ auch nicht […] daß sie über den Mann herrsche/ sonder still sey. 1. Tim. 2:12. Die Quaker antworten auf solches/ Paulus habe nur die schwäzhaftigen Weiber das offentliche Reden verbotten.69

Mit »Quäker« sind hier allgemein Heterodoxe und konkret die Pietisten gemeint. Dieser Aufschrei eines »Orthodoxen« zeigt sehr deutlich den Unterschied zwischen der Orthodoxie und dem Pietismus mit seinem emanzipativen Ansatz, der die Frauen in eine aktive und teilweise öffentliche Religionsausübung einbeziehen wollte. Die Irritation Hottingers ist insofern symptomatisch, als er die wohl gefügte und religiös-dogmatisch abgestützte Geschlechterordnung durch den Pietismus angegriffen sah. Ein Beispiel für eine Frau, die die religiös-politische Öffentlichkeit sucht, ist Anna Barbara von Muralt-Pestalozzi [108]. Die Nichte Johann Heinrich Bodmers fällt der Obrigkeit auf, weil sie über das Kirchengeläut spottet und in den Gassen über die Seligkeit referiert. Pfarrer Heidegger berichtet am 20. Mai 1718 besorgt gegenüber der Pietistenkommission, wie die Pietistin in der Nachbarschaft agitiere. Sie sei ergerlich über Mg HH und das Ministeriu[m] angezogen, bej des pfister Hofmeisters Fr. in ihrer Nachbarschafft, so hat Hr. Pfr Heidegger dem mann der pfister beschikt und von Ihme laßen information einnehmen, dardurch hinterbracht 69 Hottinger, Versuchungs |Stunde/ | Uber die | Evangelis. Kirch/ | Durch neue | = Selbstlauffende Propheten: | Oder/ | Kurtze und wahrhafte Erzeh=|lung/ | was sint An. 1689. bis 1717. | In Zürich/ wegen des übelgenenneten | PIETISMI verhandlet worden: und Unter=|suchung/ deren fürnehmsten neulicher Lehr=|Sätzen/ und Beschwehrden/ welche durch die Verfechtere des besagten Pietismi, wider die | Reformierte Kirch/ in die Welt auß=|gestreuet worden; | Samt einer | Vorred/ | Von unabsönderlicher und unzertrennlicher | Parung/ und Vereinbahrung der gesunden | Lehr und des Gottseligen | Lebens, Zürich 1717, S.177 f. [ZB Zürich VI 224 d].

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hat, daß diese Fr Pestaluzin aller Zeit an allen orthen den anlaas nehme von disen [= pietistischen] sachen zureden und in […] gesagt, es sej nur ein Seich, daß man verbiete zusammen zukommen, [es] komme alles von geistlichen her, die sorgen, es sej um ihre fetten kuhenen zuthun; wan man nur das thun wolte, so sie auf der Kanzel sagen, so were es nit genug. Sie haben den H.Hn Antistem Zeller sel. auch so geplaget, daß er gestorben sei […]. Sonsten rede diese Fr. Pestaluzin etwan leuth auf der Gaß an, halte sie auf, und sage, wan ihr wollet selig werden, müßet ihr einen anderen weg gehen.70 Tabelle 3: Der Zivilstand der Pietistinnen und Pietisten der zweiten Generation. Frauen Zürich

Männer Total

Zürich

Total

ledig (1718)

31 %

(8)

40 % (19)

19 % (10)

23 % (21)

verheiratet

61 % (16)

54 % (26)

81 % (42)

76 % (70)

verwitwet

8%

Total

(2)

100 % (26)

6%

(3)

-

1%

(1)

100 % (48)

100 % (52)

100 % (92)

ohne Angaben

(10)

(2)

(31)

Heirat unter Pietisten

(12)

(12)

Zum Abschluss noch ein Blick auf das Heiratsverhalten: Radikale Strömungen im Pietismus hatten immer wieder die asketische Ehelosigkeit propagiert.71 Der Ehestand sei sündhaft, f leischlich und widerspreche der Wiedergeburt, so fasste zumindest die Zürcher Obrigkeit die »verkehrten Lehrsätzen« der Pietisten zusammen.72 Zeigen solche asketischen Neigungen in Zürich Wirkung, oder bleiben sie auf wenige besonders Fromme beschränkt? Um das Bild nicht zu verfälschen, werden nur Eheschließungen vor 1718 berücksichtigt. Die statistische Auswertung führt in erster Linie die Dominanz der verheirateten Männer vor Augen (Tab. 3). Bei den Pietisten der zweiten Generation handelt es sich um eine Bewegung der verheirateten Familienväter. Lediglich 23 Prozent der Männer sind ledig. Unter den Ledigen befinden sich mehrheitlich Jugendliche, die den hei70

St AZ E II 56, S. 977. Tanner, Die Ehe im Pietismus. Wallmann, Der Pietismus, S 92. 72 ZB Zürich Ms. S 344, Nr. 30 [Verkehrte Lehrsätze der nun mehr von zimmlichen Jahren her rürd zum theil auch diss Zeit in der Schweitz grassierenden pietisten]. 71

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ratsfähigen Status noch nicht erreicht haben: Expektanten, Lehrlinge und Gesellen. Von diesen wird die Hälfte derjenigen, deren weiterer Lebensweg sich verfolgen lässt, zu einem späteren Zeitpunkt heiraten. Diese Tatsache provoziert zwei Aussagen über die männlichen Pietisten der zweiten Generation: Diese Männer entstammten einerseits einer gesellschaftlichen Schicht mit hervorragenden Chancen, sich zu reproduzieren, wobei ein Chancenplus bei den Städtern liegt. Anderseits ist eine allgemeine Tendenz zur Heiratsverweigerung nicht feststellbar. Der religiöse Wille zur asketischen Ehelosigkeit beschränkte sich auf eine kleine Zahl exponiert frommer Pietisten. Der bekannteste unter ihnen ist Beat Holzhalb [63]. Er gehörte zum radikalen Kreis der pietistischen Wortführer, die in Marburg Theologie studiert hatten. Die obrigkeitliche Verfolgung kostete ihn die Lauf bahn eines Geistlichen. Wegen seiner Bewunderung der Giezendannerschen Inspirationen wurde er in seiner Funktion als Diener an Gottes Wort suspendiert. Er blieb sein Leben lang der radikalen Richtung treu und war in Zürich Sammelpunkt dieser Strömung, was sich in seiner kritischen Abgrenzung von der Herrnhuter Gemeinde zeigte. Sein asketisches Leben in geschlechtlicher Enthaltsamkeit erlitt hingegen Schiff bruch. Er wurde zum Gespött der ganzen Stadt, als seine Magd ein Kind von ihm erwartete.73 Beat Holzhalb ist aber eher die Ausnahme, indem er dem Ideal der Ehelosigkeit nachzuleben trachtete. Eine pragmatische Haltung gegenüber der Ehe nahm Johann Heinrich von Schönau [151] ein. Der Labadistische Pionier in Zürich war in jungen Jahren an der Gründung des Collegium Insularum beteiligt. Er eröffnete die Vortragsreihe in der Wasserkirche mit mehreren Referaten in französischer Sprache. Am 28. August hielt der Junggeselle ein »Panegiricum zum Lob des Ehestandes«. Seine Argumentation war rein rational, ohne theologische Anleihen aufgebaut. Er preist die Ehe beispielsweise als Voraussetzung zum Erhalt des menschlichen Geschlechts oder als kleine Kopie einer Republik.74 Das Ideal der Ehelosigkeit hatte für den Vordenker des frühen Zürcher Pietismus keine Bedeutung. Und auch für die zweite Generation entsteht der Eindruck, dass geschlechtliche Askese nach dem Vorbild etwa Gottfried Arnolds und seines Traktats Funfzig Geistliche Homilien keine große Resonanz fand. Die Situation der Frauen unterscheidet sich nicht substantiell von jener der Männer. Die tiefere Heiratsrate kann kaum als Indikator einer geschlechtlichen Askese gedeutet werden; sie spiegelt vielmehr den sozialen 73

ZB Zürich Ms. S 360, S. 412. Das Ehegericht verurteilte 1735 Beat Holzhalb zu einer saftigen Busse, weil er anfänglich die Vaterschaft bestritt. Auszug eines Briefes von Landvogt Füssli an seinen Freund Hirzel, ohne Datum. Vgl. ebenfalls: Meister, Helvetische Szenen der neuen Schwärmerey und Intoleranz, S. 154; Wernle, Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert, Bd. 1, S.247, u. 249 ff. 74 ZB Zürich Ms. B 57 [Nach Richt von dem Collegio Insulano zu Zürich. (1679–81.)], = S. 14.

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Gesamtrahmen wider, in welchem die Frauen ihre Heiratschancen verwirklichen konnten. Frauen aus derselben Schicht wie die Männer liefen eher Gefahr ledig zu bleiben. Wieweit also die geringere Heiratsrate der Frauen als asketisches Lebensziel der Ehelosigkeit interpretiert werden darf, ist zweifelhaft. Sie spiegeln vermutlich nur die schlechteren Chancen der Frauen, auf dem Heiratsmarkt einen Partner mit demselben gesellschaftlichen Status zu finden. Damit unterscheidet sich die weibliche Neigung zur Heiratsverweigerung kaum von jener der Männer, und das Phänomen einer religiös motivierten Ehelosigkeit kann als marginal eingestuft werden. 1.2.3 Altersstruktur Verteilte sich die pietistische Frömmigkeit gleichmäßig über Generationen und Altersstufen? War der Pietismus gar eine Jugendbewegung? War er ein Phänomen einer besonderen Generation, oder ergriff er nur eine spezielle Altersklasse? Fragen, die die folgenden Statistiken beantworten wollen: Für beide Generationen, bzw. für die zwei Perioden der Pietistenverfolgung, wähle ich je ein mittleres Stichjahr, von dem aus ich das Alter der Personen festlege. Der ersten Generation ordne ich das Jahr 1698 und der zweiten das Jahr 1718 als Fixpunkt zu. In der früheren Generation ließen sich die Geburtsdaten von 32 Personen ermitteln, in der folgenden Generation sind es 127. Das Diagramm 3 zeigt für die erste Generation eine Konzentration bei den Fünfzig- bis Sechzigjährigen. Ihnen voraus geht eine f lache Verteilung unter den Zwanzig- bis Fünfzigjährigen. Bemerkenswert ist das Fehlen einer Gruppe die älter als sechzig ist. Die Altersverteilung legt die Vermutung nahe, dass es sich bei den Jahrgängen der 40er Jahre des 17. Jahrhunderts um eine Pioniergeneration handelte, der jüngere Pietisten in bescheidenem Ausmaß nachfolgten. Derselben Generation entstammten, nebenbei bemerkt, auch die Gründer des Collegium Insularum. Der starke Anstieg zwischen den Zwanzigjährigen und den Einundzwanzig- bis Dreißigjährigen kann dahingehend interpretiert werden, dass die Menschen mehrheitlich in diesem Alter zur pietistischen Bewegung stießen. Bei dem Interpretationsversuch darf nicht vergessen werden, dass wir uns in der ersten Generation bei geringer Datenmenge auf statistisch dünnem Eis bewegen. Der Blick auf die Altersverteilung der ersten Generation wirft die Frage nach dem Beginn des Zürcher Pietismus auf. Gehen wir davon aus, dass die 1698 dominierende Altersgruppe, die über Fünfzigjährigen in ihrer Adoleszenz und Ausbildungsphase – sagen wir einmal bis zum Erreichen des dreißigsten Lebensjahres – ihre heterodoxe Weltanschauung entwickelt haben, so könnte man den Beginn des Zürcher Pietismus in den

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 Diagramm 3: Altersstruktur der ersten Generation (Stichjahr 1698).

Siebzigerjahren des 17. Jahrhunderts ansiedeln. Diese Berechnung würde zumindest auf Johann Heinrich Locher [94] zutreffen, der in der ersten Hälfte dieses Dezenniums sein Wiedergeburtserlebnis hatte. Von ihm ist ein »pietistisches« Gedicht erhalten, das er etwa 1677 geschrieben haben dürfte: Was soll die Stein in Kirch darein die Adams Kinder aus Lang gewohnter Weiß sich f leißig stellen ein für gebend daß es soll das Höchste Wohnhuß sein Dies ist so eÿtel gar wie nühts, ja noch vil minder Solt die Allheiligkeit sich finden wo die Sünder in Hauffen sind vereint aus häuchelischem Schein mit aüßerlicher Pracht ist alls gezierte fein und wollen frome sein, ist aber nichts darhinder Des Höchsten Gegenwart findt sich an kenem Orth Als wo zu gegen ist ein recht zerschlagens Hertze das, wan es Gott nicht Ehrt, empfindet Reü und Schmertze und ein Verlangen tragt nach Gottes Gnaadenwort Herr, wende unßere Sinn von allen eÿtele Dingen so wird Er wahre Buß und Frücht der Liebe bringen.75

75 ZB Zürich Ms. S 276 Nr. 6, S. 101 ff., Abschrifft eines Brieffs, welcher von Heinrich Locher zum Meÿen in Zürich an Herr Christoph Lutz, Spitalprediger in Bern den 21 Martz 1695 geschriben worden.

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 Diagramm 4: Altersstruktur der zweiten Generation (Stichjahr 1718).

Wir dürfen, wenn wir Locher zum Maßstab für seine Generation nehmen, annehmen, dass der Zürcher Pietismus etwa zwischen 1670 und 1680 entstand. Das würde auch heißen, dass er sich eigenständig und etwa zeitgleich zu Speners Pia desideria entwickelte. Zumindest von Locher wissen wir, dass er seine pietistische Weltanschauung bei diversen Autoren bezog, sich aber kaum auf Spener berief. Vermutlich entwickelte sich der Zürcher Pietismus zeitgleich und parallel zum deutschen und ist nicht einseitig abhängig von diesem. Ein zum Stichjahr 1698 beinahe spiegelverkehrtes Bild erhalten wir für die zweite Generation (Diagramm 4). Das Maximum liegt hier bei den dreißig- bis vierzigjährigen Pietistinnen und Pietisten. Die um zehn Jahre Jüngeren stehen ihnen aber zahlenmäßig kaum nach. Wie die Altersstruktur der ersten Generation deutet auch hier der sprunghafte Anstieg unter den Zwanzig- bis Dreißigjährigen auf einen Lebensabschnitt hin, in dem eine Mehrheit der Pietisten »erweckt« wurde. Auf der anderen Seite des Maximums ist ein jäher Abfall der Kurve ersichtlich, die sich bei der Gruppe der Fünfzigjährigen und Älteren in etwa einer natürlichen Sterbekurve annähert. Bei dieser Altersgruppe stellt sich die Frage, ob sie einen unentdeckten Sockel aus der ersten Generation bildete, oder ob sie sich erst später in der zweiten Generation für die Frömmigkeit begeistern ließ. Bedeutsam ist die Massierung der Pietisten im Alter zwischen zwanzig und vierzig Jahren. Knapp 2/3 der pietistischen Männer stehen somit im besten Alter. Sie haben ihren Karrieren-Zenith nicht erreicht und die

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 J







 

k 40 Jahre / zwei Generationen m

                   

 Diagramm 5: Die Altersverteilungen der ersten und zweiten Generation im Vergleich (nach Jahrgang).

Möglichkeiten ihrer Lauf bahn noch nicht voll ausgeschöpft. Die zweite Generation der Pietisten wird, wie gezeigt wurde, getragen von Familienvätern und -müttern. Das Bild wird nun durch die Feststellung abgerundet, dass sie sich zugleich im besten Alter befanden und eine noch offene, unabgeschlossene Lauf bahn vor sich hatten. Die pietistische Bewegung des frühen 18. Jahrhunderts wurde von einem Alterssegment getragen, dem die Zukunft gehörte, und das höchstwahrscheinlich voller Tatendrang steckte. Die Anhängerschaft rekrutierte sich nicht aus einer besonderen Altersklasse wie beispielsweise der Jugend, sie wurde aber dominiert von einem im ökonomisch aktiven Alter stehenden Bevölkerungssegment. Ein Vergleich zwischen den Altersverteilungen der beiden Generationen – im Diagramm 5 nun nach Jahrgang aufgetragen – lässt einmal den Schluss zu, dass es sich bei beiden Kurven um keine natürliche Verteilung, wie zum Beispiel eine Überlebenskurve handelt. Das zweite Moment, das hervorsticht, ist die Wellenbewegung, in der die Frömmigkeit auftrat. Es gab anscheinend keine kontinuierliche, gradlinige Verbreitung der sogenannten »Irrlehre«, sondern sie entwickelte sich in sprunghaften Euphorien, die durch besondere Generationen getragen wurden. Dazwischen gab es längere Abschnitte des Abklingens der pietistischen Begeisterung. Der Pietismus hatte seine zeitlich beschränkten Kulminationspunkte und stützte sich auf tragende Generationen. Dieses Phänomen öffnet der Frage

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den Raum, ob nicht mittelbare zeitgleiche oder leicht zeitverschobene Zusammenhänge zwischen den Begeisterungswellen für die neue Frömmigkeit einerseits und den politischen, ökonomischen und klimatischen Ereignissen andererseits bestanden. Das dritte Moment des Vergleichs deutet auf eine Relativierung der als Pietistengenerationen gewählten Bezeichnung hin. Zwischen der ersten und zweiten Verfolgungswelle der Pietisten lagen rund zwanzig Jahre, eine Zeitspanne, die als Generationenfolge betrachtet werden kann. Zwischen den beiden Maximalwerten liegen aber effektiv 40 Jahre bzw. zwei Generationen. Es wurde zwischen den als erste und zweite Generationen bezeichneten Kulminationen pietistischer Frömmigkeit eine Generation übersprungen. Hier stellt sich die Frage, ob nicht angesichts der schwachen personellen Verbindung zwischen der ersten und zweiten Generation – lediglich drei Personen sind in beiden anzutreffen – ein Bruch, bzw. ein Wandel von einem kirchlichen zu einem außerkirchlichen Pietismus feststellbar ist. Gegen eine solche Annahme spricht einmal die geistige Kontinuität der Leaderfiguren: Johann Heinrich Bodmer ist ein Schüler und Freund Johann Heinrich Lochers. Weiter ist zu bemerken, dass auch in der zweiten Generation auf die Reformation der Kirche hingearbeitet wurde. Erst ihre totale Niederlage und die obrigkeitliche Repression trieb exponierte Pietisten in die Separation. Es ist aber gut möglich, dass in der zweiten Generation eine zusätzliche Tendenz zur Radikalisierung im Sinne einer Entkirchlichung hineinkam, indem der Anteil der Laien gegenüber demjenigen der Theologen zunahm. Die Laien waren ökonomisch unabhängig von der Kirche und konnten in ihrer Kritik weiter gehen als die Theologen. Schließlich besteht ein Zusammenhang zwischen den Pietistenverfolgungen und den Wellenbewegungen. Beide obrigkeitlichen Repressionsmaßnahmen reagieren auf die zunehmende Präsenz des Pietismus. Es scheint, dass sich in den antipietistischen Disziplinierungen lediglich die temporäre Stärke und Wachstumstendenz widerspiegelt. Dagegen können die Wachstumseinbrüche in der Bewegung als vorübergehende Erfolge der obrigkeitlichen Repressionspolitik gewertet werden. 1.2.4 Soziale Schichtung Spricht eine gesellschaftliche Schicht besonders auf Frömmigkeit an? Oder liegt im Pietismus ein schicht- und standesübergreifendes Moment? Gibt gar eine spezielle Berufsgruppe einem verinnerlichten und asketischen Glauben den Vorzug, wie – entsprechend der These von Max Weber76 – 76

Siehe auch: Leube, Sozialideen, S. 145 ff.

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beispielsweise die Kauf leute? In der Literatur wird, wie eingangs gezeigt, die Frage sehr unterschiedlich beantwortet. Es gibt aber nur wenige Untersuchungen über die soziale Zusammensetzung früher pietistischer Bewegungen. Die Pietismusforschung ist nach wie vor von einem Ansatz dominiert, der den Pietismus als die Geschichte einzelner herausragender Personen versteht. Arbeiten, die sich empirisch mit der sozialen Schichtung des Pietismus befassen, gibt es nur wenige. Zu nennen ist einmal Joachim Trautwein. Er untersuchte die Religiosität und Sozialstruktur des württembergischen Pietismus und definierte den Pietismus als eine Bewegung der Volksschullehrer, Kauf leute, Apotheker und Theologen. Die Bedeutung der Handwerker und Bauern schätzt er dagegen gering ein. Er fasst das pietistische Milieu als eine Art mittelständische Erscheinung auf und formuliert anschließend die These, »der Pietismus verringerte den Abstand zwischen ›Ehrbarkeit‹ und ›Kleinbürgertum‹«.77 Das Manko der Arbeit Trautweins besteht darin, dass sich seine Untersuchung der Sozialstruktur lediglich auf führende Köpfe bezieht und die Bewegung in ihrer sozialen Breite nicht vollständig erfasst. In ähnlicher Weise nähert sich Manfred Jakubowski-Tiessen dem Problem. Auch er konnte lediglich die namentlich bekannten Pietistinnen und Pietisten berücksichtigen, die entweder schriftliche Zeugnisse oder »Werke« in Form von Sozialeinrichtungen hinterlassen hatten. Ein vollständiger Querschnitt durch das pietistische Milieu ist so nicht möglich. Der Befund, dass der Pietismus in Schleswig-Holstein bis 1700 vorwiegend durch Geistliche getragen wurde und in einer anschließenden Phase zunehmend Anhänger im gehobenen Bürgertum und in der höheren Beamtenschaft fand, ist wohl auch dem gewählten methodischen Ansatz zuzuschreiben. So erstaunt es nicht, dass über die Frömmigkeit in den unteren sozialen Schichten wenig zu erfahren ist. Dennoch sind die beobachteten sozialgeschichtlichen Tendenzen spannend und die Feststellung, der Einf luss des frühen kirchlichen Pietismus auf den Adel sei gering gewesen, ist an sich schon aussagekräftig.78 Zu einem etwas anderen Bild gelangt Hans Leube in seiner Untersuchung zum Pietismus in der Universitätsstadt Leipzig. Er stellt fest, dass die von Studenten getragene pietistische Bewegung vorwiegend auf die »kleinen Leute« aus Handwerkskreisen übergegriffen habe. Dagegen vermochte nach Leube der Pietismus in höheren Bevölkerungsschichten nicht Fuß zu fassen.79 Ähnlich wie in der Pietismusforschung ganz allgemein nimmt die sozialgeschichtliche Komponente in den Arbeiten über den Zürcher Pietismus eine marginale Rolle ein. Zu Zürich fehlt eine empirische Untersuchung 77 78 79

Trautwein, Religiosität und Sozialstruktur, S. 37 und 47. Jakubowski-Tiessen, Der frühe Pietismus in Schleswig-Holstein, Kap. 3, i. b. S. 101. Leube, Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig, S. 186.

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zu den sozialen Trägern des Pietismus gänzlich, und Conrad Ulrich übernimmt in seinem Beitrag zur Kantonsgeschichte weiterhin unbesehen die überholte Meinung Ritschls. 1.2.4.1 Zunftzugehörigkeit Einen ersten Einblick in die soziale Schichtung des Pietismus vermittelt uns die Zunftzugehörigkeit der männlichen Bürger Zürichs (Tab. 4). Die Zünfte stellten im alten Zürich die Wahlbezirke dar. Sie waren entsprechend der sozialen Wertschätzung der in ihr zusammengeschlossenen Handwerksberufe untereinander hierarchisch geordnet. An erster Stelle stand die Konstaffel, die im engeren Sinne keine Zunft war, und in der sich Adlige, Rentner und Reiche vereinigten: Ihnen folgte die Zunft der Kauf leute und Krämer sowie die Zunft der Wirte und Weinhändler. Den Abschluss in der Stufenleiter der sozialen Distinktion machten die Schiffsleute und die Weber. Ein paar wenige Berufe genossen die Zunftfreiheit, d. h. Theologen, Kauf leute, Buchdrucker und Goldschmiede konnten ihre Zunftzugehörigkeit theoretisch frei wählen. Die Theologen blieben meistens in der Zunft ihrer Väter. Die Kauf leute dagegen verteilten sich eher über alle Zünfte und erhöhten so ihre Wahlchancen. Tabelle 4: Zunftzugehörigkeit der männlichen Pietisten. 1. Generation Zunft

Anzahl

Konstaffel

2

Safran

-

Meisen

1

Schmiede

2. Generation

Beruf

Anzahl

R, T

Beruf

5

M, 2R, 2T

10

2H, 3K, 5T

4

2H, 3K, U

-

4

K, 2M, T

Weggen

-

-

Gwere

-

1

T

Widder

-

3

2T, U

Schuhmachern

3

H, 2T

2

2T

Zimmerleute

4

H, K, T, U

8

2H, K, M, 2T, 2U

Schneidern

3

2H, T

2

H, T

Schiff leute

1

U

4

H, M, 2T

Kämbel

2

T, ?

3

2M, T

T

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Die Sozialstruktur des Zürcher Pietismus 1. Generation Beruf

2. Generation

Zunft

Anzahl

Anzahl

Beruf

Waag

3

H, K, T

1

H

Keine Angaben

8

3K, 2T, 3?

7

3T, U, ?

(Legende: H: gebundenes Handwerk, K: Kaufmann, M: Magistrat, R: Rentner, T: Theologe, U: ungebundenes Handwerk, ?: keine Berufsangabe.)

In der ersten Generation überwiegen die Zünfter der unteren Hälfte der Hierarchie. Lediglich drei Pietisten gehörten Zünften mit höherem sozialem Prestige an. Bedeutend ist aber weniger diese ungleichmäßige Verteilung, sondern der hohe Anteil der nicht Zunftgebundenen, die oft innerhalb der Handwerksverbindung ein höheres Renommee genossen. Nur fünf von dreiundzwanzig Pietisten mit bekannter Berufsbezeichnung waren durch ihre Tätigkeit an ihre Zunft gebunden. Die Überlagerung von intern hoher und eher tieferer Wertschätzung im Gesamtsystem könnte den Schluss nahe legen, dass es sich hier einerseits um Aufsteiger aus dem unteren Segment wie beispielsweise die Theologen handelte, oder andererseits um zunftfreie Personen, die sich in tiefer eingestuften Zünften eine bessere Karrierechance ausrechneten. In der zweiten Generation präsentiert sich ein ähnliches Bild. Die Bipolarität der Verteilung der Pietisten auf hoch angesehene und auf eher unbedeutende Zünfte hat aber zugenommen. Den erstrangigen drei Vereinigungen gehörten annähernd gleich viele Pietisten an wie in den letzten sechs Zünften. Die Beobachtung, wonach die über den Beruf definierten Mitgliedschaften in der Minderheit sind, bestätigt sich erneut, im besonderen wenn man bedenkt, dass beinahe die Hälfte der Zunftgebundenen in der Meisen- und Safranzunft beheimatet waren. 14 Zunftgebundenen80 stehen 40 Theologen, Kauf leute (ohne Safran), Magistrate und ungebundene Handwerkern gegenüber. Die Schlussfolgerung zur sozialen Stellung der Pietisten der ersten Generation bestätigt sich auch für die zweite. Einzig der hohe Anteil der Konstaff ler, Meisen- und Safranzünfter muss zusätzlich betont werden. In beiden Generationen fehlt das mittlere Segment. Bedeutet diese ungleichmäßige Verteilung der Pietisten über die Zünfte, dass sich im Pietismus Aufsteiger in den tiefer eingestuften und Absteiger in den höher eingestuften Zünften trafen? Immerhin kann gesagt werden, dass der Zürcher Pietismus mehrheitlich in privilegierteren Schichten verwurzelt war. 80 Neben den gebundenen Handwerkern zähle ich ebenfalls die Kauf leute der SafranZunft sowie einen Arzt, welcher der Gesellschaft zum Schwarzen Garten (Schmiede-Zunft) angehörte, zu den Zunftgebundenen.

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Der soziale Hintergrund des Pietismus

Werfen wir also – veranlasst durch die asymmetrische Verteilung der Pietisten auf die Zünfte einen Blick auf die kleine Gruppe der Stadtzürcher Handwerker unter den Frommen. In der zweiten Generation gibt es lediglich dreizehn. Fünf davon entfallen auf die in Stein ansässige Familie Koch, die über das Zürcher Bürgerrecht verfügte. Von den verbleibenden acht betreiben mehr als die Hälfte, nämlich fünf, ein gehobenes Handwerk: Wir zählen mit einem Maler und einem Goldschmied zwei künstlerische Berufe sowie zwei Buchdrucker. Zunftgebundene Metiers betreiben lediglich drei (ein Hafner, ein Schneider und ein Schiffmeister, der als Obmann der Schiffer in einer gehobenen Position steht). Von der letzten Person wissen wir die Berufsbezeichnung nicht genau, vermutlich handelt es sich um einen weiteren Buchdrucker oder um einen Buchbinder. Unser Verständnis vom Verhältnis von Pietismus und städtischem Handwerk differenziert sich insofern weiter, als wir sagen können, dass die neue Frömmigkeit in Zürich eher im gehobenen Handwerk Anklang fand, welches wie die Buchdrucker eine gewisse Fertigkeit verlangte oder wie bei einem Maler und Goldschmied ein soziales Prestige mit sich brachte.81 1.2.4.2 Berufskategorien Genauer lässt sich der gewonnene Eindruck fassen, wenn wir die Zürcher Pietisten nach Berufskategorien einteilen. Guyer hat mit dieser Methode die soziale Struktur Zürichs im Ancien régime untersucht.82 Diese Studie erlaubt uns, die Berufsstruktur der Pietisten in den gesamtzürcherischen Rahmen zu stellen. Ich bediene mich daher derselben Kategorisierung, wie sie Guyer verwendete. - Rentner: Gutsbesitzer sowie Offiziere in fremden Diensten. - Freie Berufe: Ärzte, Mathematiker, Professoren und ganz allgemein Gelehrte sowie höhere Beamte wie Schreiber, Amtmänner, Land- und Obervögte; dagegen werden kleine Ämter wie Salzherr, Zeugherr und Waagmeister als Handwerk gezählt. - Kaufleute: Buchhändler, Eisenhändler, »Fabrikanten«, und landsässige Krämer. - Geistliche: Pfarrer, Expektanten, Hauslehrer, Vikare und Theologiestudenten. - Handwerker : Meister, Gesellen, Lehrlinge.83 81

Natalie Zemon Davis stellt für die Reformation in Lyon eine ähnliche Korrelation zwischen bestimmten gehobenen Berufsgruppen und der Reformation fest: Zemon Davis, Streiks und Erlösung in Lyon, S. 21. 82 Guyer, Die soziale Schichtung der Bürgerschaft Zürichs. Da es im Zürich des Ancien régime keine seriell verwertbaren Steuerbücher gibt, wählte Paul Guyer eine Methode, mit der er die soziale Schichtung über die Berufe und deren Wertschätzung erschloss. 83 Ebd., S. 24.

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Die Sozialstruktur des Zürcher Pietismus

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Im Unterschied zu Guyer nehme ich auch die Frauen in die Datenreihe auf. Ihren Status bestimme ich bei Ledigen anhand des Berufs des Vaters, bei verheirateten Pietistinnen anhand des Berufs des Ehegatten. In wenigen seltenen Fällen übten sie einen eigenen Beruf aus. Den Status einer Person bestimme ich nicht bezüglich eines Stichtermins, sondern wähle die Berufskategorie am Ende der Karriere, um das volle Potential der Pietistengenerationen erfassen und vergleichen zu können. Das so gewonnene Bild des gesellschaftlichen Status des zürcherischen Pietismus beider Generationen (Diagramm 6a u. 7a) vergleiche ich mit der gesamtstädtischen sozialen Schichtung. Guyer erstellte für die Jahre 1671 und 1730 je einen gesellschaftlichen Querschnitt, woraus sich für die Referenzjahre 1698 und 1718 je ein Schichtdiagramm extrapolieren lässt (Diagramm 6b u. 7b).84 Die Aussagekraft des Vergleichs der beiden Pietistengenerationen mit der sozialen Zusammensetzung der städtischen Gesamtbevölkerung ist recht eindeutig. Ich beschränke mich hier auf die Diskussion der zweiten Generation und erwäge in einem zweiten Schritt bloß noch, was sich zwischen den beiden Pietistengruppen am sozialen Status verändert oder verschoben hat. Es ist äußerst problematisch, anhand von Berufskategorien einen eindeutigen Eindruck über die soziale Zusammensetzung gewinnen zu wollen. Welcher Gruppe – Rentnern oder freien Berufen – steht das höhere soziale Prestige zu? Den Konventionen entsprechend war es der Rentner, doch gilt dies auch, wenn z. B. ein Obervogt mit einem abgewirtschafteten Junker verglichen wird? Wird einmal die Problematik der Kategorienhierarchie und -abgrenzung außer Acht gelassen und gefragt, welche Berufsfelder die besten Aufstiegschancen boten, so lässt sich sagen, dass diese weder der Rentner- noch der Kaufmannsstand gewährten. Die Zugehörigkeit zu einer der beiden Gruppen war rein funktional abhängig von einem beträchtlichen Kapital an Geld oder Land und der Aufstieg zum Rentnerdasein führte sehr oft über den »Fabrikantenberuf« als Basis der Kapitalakkumulation. Dagegen bot das Amt eines Geistlichen oder ein freier Beruf optimale Möglichkeiten für eine kapitalschwache Bildungselite, aufgrund der eigenen Fähigkeiten und sozialen Verbindungen eine Beschäftigung mit höherem sozialem Prestige zu erlangen. 85 Der Beruf eines Geistlichen oder ein staatliches Amt erlaubte einem Handwerker aufzusteigen und ermöglichte ein repräsentatives Leben. Für die nachfolgenden Generationen stellte sich die Frage des Statuserhalts. Sie stiegen entweder wie84

Ebd., S. 24, u. 26 f. Die Extrapolation berechnet sich folgendermaßen ( BK: Berufskategorie; J: Jahr): BK X=( BK 2 – BK1)( JX – J1) / ( J2 – J1) + BK1 Ich bin mir bewusst, dass ein jährlicher Querschnitt sich nur bedingt mit einem Längsschnitt über eine Generation vergleichen lässt, ich bin aber überzeugt, dass diese Abweichung der Aussagefähigkeit keinen Abbruch tut, weil die soziale Mobilität in der Zürcher Ständegesellschaft insgesamt gering war. 85 H. Meyer, Zimmerleuten, S. 73.

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Der soziale Hintergrund des Pietismus  

    

     

 

Diagramm 6a: Soziale Schichtung des Zürcher Pietismus (erste Generation).

der ab in die Werkstatt oder es gelang ihnen erneut, den Weg eines Seelsorgers oder eines Beamten einzuschlagen. Und genau diese zwei Kategorien herrschten bei den Pietisten vor: In der ersten Generation übte die Hälfte einen geistlichen oder freien Beruf aus; in der zweiten Generation nimmt der Anteil sogar noch leicht zu. Es sind dreimal mehr freie Berufe und zweimal mehr Geistliche unter den Pietisten zu finden als im gesamtstädtischen Rahmen. Dagegen zeigte sich der oberste und der unterste, der Rentner- und Handwerkerstand, für die Frömmigkeit weniger anfällig, beide Kategorien waren in der pietistischen Bewegung – verglichen mit dem städtischen Durchschnitt – nur halb so stark vertreten. Einzig bei den Kauf leuten blieb der relative Anteil am Pietismus im Rahmen des gesamtstädtischen Durchschnitts. Der stadtzürcherische Pietismus war ein erstaunlich klar umrissenes Milieu, dessen Abgrenzung in statistischer Hinsicht bei den Handwerkern gegen unten und bei den Rentnern gegen oben erfolgte. Erstaunen mag

 

 

   

 

Diagramm 6b: Soziale Schichtung Zürichs, extrapoliert auf 1698.

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! 

     

    

  

Diagramm 7a: Soziale Schichtung des Zürcher Pietismus (zweite Generation).

die Indifferenz der Kauf leute gegenüber dem Pietismus. Erstaunen insofern, als nach Max Webers These die pietistischen Tugenden wie asketische Lebensführung, Sparsamkeit, und eine rigide Zeitökonomie besonders kaufmännische Tugenden gewesen seien.86 Es scheint, als wäre der frühe Pietismus entgegen dieser These kein Richtungsweiser in den Kapitalismus: Er fand unter sogenannten Kaufmannskapitalisten nur mäßige Verbreitung. Der Pietismus fußte auf einem Segment der städtischen Gesellschaft, die stark auf eine Ämterlauf bahn, sei es im kirchlichen oder im weltlichen Bereich, angewiesen war. Ein Milieu, von dem wir aber nicht wissen, ob es ein solides, ein auf- oder absteigendes war.

 

 

   

 

Diagramm 7b: Soziale Schichtung Zürichs, extrapoliert auf 1718.

86

M. Weber, Die protestantische Ethik, S. 89–95.

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Der soziale Hintergrund des Pietismus

Ein Vergleich der sozialen Zusammensetzung der beiden pietistischen Generationen zeigt ein fast deckungsgleiches Bild. Auch die frühere Generation war durch dasselbe Milieu geprägt. Zwei Elemente eines Wandels sind aber feststellbar. Erstens: Unter den früheren Pietisten fand in statistischer Hinsicht gegen oben, gegenüber den Rentnern und Kauf leuten, keine Abgrenzung statt. Die zwei Gesellschaftskategorien sind wie die freien Berufe in ähnlichem Ausmaß übervertreten. Dagegen war die Abschließung gegen das Handwerk etwas rigider als zwanzig Jahre später. Demnach scheint sich die Trägerschaft innerhalb dieser Zeitspanne stärker ausdifferenziert und in Richtung einer gesellschaftlichen Mitte orientiert zu haben. Zweitens: Der Theologenstand nahm in der ersten Generation noch eine herausragende Stellung ein. Die Pietistenbewegung war im ausklingenden 17. Jahrhundert durch den geistlichen Stand dominiert. Diese Aussage gilt so aber nicht mehr für die nachfolgende Generation. Eine soziale Ausdifferenzierung ist auch in diesem Bereich beobachtbar. Diese Aussage müssen wir aber gleichzeitig kritisch hinterfragen, eingedenk des unterschiedlichen Charakters der beiden Pietistenprozesse: Der erste ging von der Kirche aus und dürfte sich daher in erster Linie auf abweichende Theologen fokussiert haben. Dagegen ging der zweite von der Obrigkeit aus und richtete sich primär gegen heterodoxe Laien. Zum Abschluss will ich noch einen Blick auf die zwei extrapolierten, gesamtstädtischen Schichtungsdiagramme Guyers werfen: Innerhalb der Zeitspanne von zwanzig Jahren verschob sich das soziale Gefüge um zwei Prozent von den Handwerkern zu den Rentnern und freien Berufen. Zwischen 1698 und 1718 oder korrekter gesprochen zwischen 1671 und 1730 fand eine Ära der Aufwärtsmobilität statt. Blieb das pietistische Milieu von dieser Tendenz unberührt, oder konnte es profitieren? Tabelle 5: Soziale Schichtung der Pietisten (zweite Generation). Berufe Rentner Freie Berufe

Zürich

Winterthur

Stein

4

Landschaft

Total

1

5

19

4

1

3

27

Kaufleute

7

1

-

2

10

Geistliche

25

10

1

1

37

Handwerker

23

2

6

17

48

Bauern

-

-

-

2

2

Knechte/Mägde

-

1

-

4

5

keine Angaben

2

4

26

32

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Aus welcher Personengruppe setzte sich die pietistische Bewegung auf der Landschaft zusammen? Rekrutierte sie sich ebenfalls aus der Mitte der Gesellschaft? In der oben stehenden Tabelle sind die Pietisten der zürcherischen Herrschaft nach den bereits bekannten Berufskategorien aufgegliedert (Tab. 5). Die Guyersche Einteilung wurde ergänzt mit den Kategorien »Knechte und Mägde«, worunter auch Tagelöhner u. ä. gezählt werden, sowie »Bauern«, zu denen auch Gutsverwalter gehören. 1.2.4.3 Die Landschaft In Winterthur hatten, ähnlich wie in Zürich, die freien Berufe und die Geistlichen überhand. Der überwiegende Anteil der Geistlichen gegenüber den freien Berufen mag von der beschränkten Möglichkeit eines Winterthurers, ein staatliches Amt zu erlangen, herrühren, so dass der Weg über die Theologie als Aufstiegschance oder als Form, wie der Status erhalten werden konnte, sich eher anbot. Jedenfalls handelt es sich bei den Winterthurer Pietisten um eine gut ausgebildete Elite. So sind unter den Freiberuf lichen beispielsweise drei Ärzte anzutreffen. In der Bürgerbibliothek und im Collegium Musicum, beides Institutionen der Winterthurer Bildungselite, waren die Pietisten äußerst aktiv. Das Musikkollegium mit seinen zwölf bis fünfzehn Mitgliedern diente der Pf lege des Kirchenliedes 87 und geriet während der Pietistenverfolgung in schweren Verdacht, ein Hort der Erbauung und des unorthodoxen Glaubens zu sein. Der Stadtpfarrer Wirz bezichtigte den für drei Jahre suspendierten Theologen Jakob Sulzer [172] sowie Rektor Hans Kaspar Sulzer [173] der pietistischen Agitation im Kollegium. Jakob Sulzer entgegnete auf diesen Vorwurf, im Musikkollegium werde nur von erbaulichen Dingen gesprochen.88 In der Tat sind in meinem Personenkorpus sechs Mitglieder des Musikkollegiums verzeichnet: Dr. Ulrich Hanhart, Dr. Johann Ulrich Hegner und sein Bruder Solomon [52/53] sowie die Theologen Wolfgang [175], Jakob und Johann Kaspar Sulzer. Eng mit dem Collegium Musicum war die Bürgerbibliothek verbunden, aus welcher die nachmalige Stadtbibliothek Winterthur hervorging. Sie wurde 1660 aus dem Musikkollegium heraus gestiftet und stand lange in nahem Kontakt zu ihrer Gründungsinstitution.89 Fünf der zehn Mitglieder des Bibliothekkonvents waren ebenfalls bekannte Pietisten: Georg Künzli [84], Sohn einer der maßgeblich beteiligten Bibliothekstifter, sodann die drei Musikfreunde, Dr. Hanhart und die Brüder Hegner, und schließlich Johannes Ernst [19], ein 87 Maurano-Ganz, Geschichte des Musikkollegiums in Winterthur, S. 12–16. Bachmann, 350 Jahre Musikkollegium. 88 Denzler, Die Sulzer von Winterthur, Bd. 1, S. 261 u. 81. 89 Dejung, 300 Jahre Stadtbibliothek Winterthur.

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Der soziale Hintergrund des Pietismus

Theologe, der sich früh mit englischer Sprache und Literatur auseinandersetzte.90 Conrad Ulrich hat bestimmt recht mit seiner Vermutung, der Pietismus habe auch aus Opposition gegen Zürich primär die gehobenen Schichten in Winterthur angesprochen.91 Rektor Sulzer verkörperte diese oppositionelle Haltung prägnant. Er erwies beispielsweise dem Stadtpfarrer Wirz aus Zürich, der an der Spitze der Winterthurer Kirche die zürcherische Herrschaft repräsentierte, nicht die gebührende Reverenz. Der Rektor wurde angeklagt, mit der Begründung, er »schnaufe« gegen den Stadtpfarrer. Besonders schwer ins Gewicht fiel sein unentschuldigtes Fehlen in den Kirchenkonventen oder seine renitente Weigerung, stellvertretend für Wirz das Abendgebet zu halten, was ihm schließlich ein obrigkeitliches Missfallen eintrug.92 Die Oppositionshaltung kann aber die Frömmigkeit nicht allein erklären. Auffallend ist letztlich, dass eine gebildete und engagierte Gruppe von Winterthurern zum Pietismus neigte. Der erwähnte Kaspar Sulzer wurde zum Beispiel schon als Expektant ermahnt, keine »Novitäten« von der Kanzel zu predigen. Die Pietisten in Stein am Rhein stammten im Unterschied zu Zürich und Winterthur mehrheitlich aus dem Handwerkermilieu. Diese Tat sache verweist aber nicht unbedingt auf eine Aufnahme des Pietismus durch eine Unterschicht, sondern eher auf die untergeordnete Stellung der drittgrößten Stadt innerhalb des zürcherischen Herrschaftsbereichs. Eine Ämterlauf bahn oder eine Pfarrpfründe war in erster Linie für Zürcher Bürger und in abgeschwächtem Maße für Winterthurer reserviert. Über die beruf liche und indirekt über die soziale Struktur des Pietismus auf dem Land kann wenig Bestimmtes ausgesagt werden. Dieser Mangel ist hauptsächlich den Bevölkerungsverzeichnissen geschuldet, welche detaillierte Auskunft über die katechetischen, aber wenig über die beruflichen Kenntnisse der Landsassen geben. Immerhin: bei rund 30 Prozent wissen wir, dass sie handwerklich tätig waren, eine Zahl, die weit über dem ländlichen Durchschnitt lag. In Bezug auf die soziale Schichtung haben wir damit aber noch wenig gewonnen: Das beruf liche Feld reicht von Dorfpotentaten wie Müllern und Wirten über Siegriste und Schulmeister zu Zettlern und Kämblern. Der hohe Anteil der Handwerker unter den ländlichen Pietisten rührte vermutlich nicht bloß von der sozialen Stellung im Dorf her. Ihre Funktion als Bindeglieder zwischen ländlicher und städtischer Bevölkerung dürfte sie für pietistische Neigungen besonders anfällig gemacht haben. Sie hatten vermehrt soziale Kontakte über das Dorf hinaus und bildeten im dörf lichen Rahmen ein Fenster nach Außen, eine 90 91 92

Dejung (Hg.), Zürcher Pfarrbuch. Geschichte des Kantons Zürich, Band 2, S. 468. Denzler, Die Sulzer von Winterthur, Bd. 1, S. 81.

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Die Sozialstruktur des Zürcher Pietismus

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Horizonterweiterung, die manchmal sogar bis ins Ausland reichte. Der erwähnte Heinrich Bänninger [3] kam als Schneidergeselle bis nach Holland und der Walliseller Wirtssohn David Ziegler [211] diente als Scherergeselle ebenfalls in der Fremde. Explizit benannte Bauern gibt es in meinem Pietistenkorpus bloß zwei. Doch dies will noch nicht allzuviel bedeuten: 26 Personen sind ohne Berufsangaben verblieben, was in der Lesart der Bevölkerungsverzeichnisse oft – zumindest dort wo handwerkliche Berufe Erwähnung finden – soviel wie Bauer heißen soll. Eine Unsicherheit bleibt aber bestehen. Immerhin bemerkte Johann Jakob Hottinger in seiner gegen die Pietisten gerichteten Schrift mit Erstaunen, dass sogar Bauern in die »Bruderschaft« eingetreten seien, und ein Bauer habe sogar Versammlungen durchgeführt.93 Nichts ist jedoch über die Art des Betriebes in Erfahrung zu bringen, wir wissen nicht, ob es sich um Vollbauern oder um Heimarbeiter mit bäuerlichem Nebenerwerb handelte. Die vermutete Verf lechtung bäuerlicher Existenz mit der Textilproduktion mögen zwei Beispiele stützen. Barbara Rathgeb [132], die in der Dietliker Mühle f leißig Versammlungen besuchte und den Riedmüller in den Verhören schwer belastete, wurde im Walliseller Verzeichnis ohne Berufsangabe registriert und ist offenbar als Bauerntochter zu betrachten. In einem Verhör qualifizierte sie sich als Heimweberin. Sie sagte aus, ihre Mutter habe ihr die Versammlungen in der Riedmühle verboten, dass ihr »am webstul angst und bang worden«.94 Ein weiterer Fall einer Verknüpfung von Landwirtschaft und Protoindustrie ist Hans Benz [4] in Rumstal – es könnte sich dabei um den oben erwähnte Bauern handeln, der Konventikel veranstaltete. Er und sein Sohn Jakob [5] gelten nach den Verzeichnissen als Bauern; über den jungen Benz wissen wir aber, dass er haupt- oder nebenberuf lich im Tuch handel tätig war und mit Elisabetha Künzli [83] in geschäftlicher Verbindung stand.95 Vermutlich fiel der Pietismus bei den protoindustriellen Heim arbeitern auf einen fruchtbaren Boden, doch reichen die spärlichen Angaben bei Weitem nicht aus, einen vermuteten Zusammenhang zwischen Textilindustrie, Existenzängsten und radikalem Pietismus hinreichend belegen zu können. Hans Medick sieht in seinem monumentalen Werk über die Protoindustrie im württembergischen Laichingen eine Interaktion zwischen der »Nachfolge Christi« und der Heimarbeit. Er interpretiert die pietistische Form der protestantischen Ethik als einen Durchhaltewillen der Heimarbeiter, als eine »Überlebenskultur«. Diesen Schluss zieht er aus der zeitlichen Koinzidenz zwischen ausgedehnter pietistischer Bücherkultur und 93

Hottinger, Versuchungs=Stund, S. 43 f. St AZ E II 56, S. 844. 95 St AZ E II 56, S. 490 (22. Okt. 1715); Hanimann, Zürcher Nonkonformisten im 18. Jahrhundert, S. 70. 94

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Der soziale Hintergrund des Pietismus

einer Wachstumsphase der Heimindustrie. Den Zusammenhang weist er erst ab den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts eingehend nach, beide Tendenzen sind aber in Laichingen älter und auch in der hier untersuchten Zeitspanne ansatzweise anzutreffen.96 Zusammenfassend: Die Daten über ländliche Pietisten sind von sehr unterschiedlicher Qualität, was die Bestimmung einer sozialen Schichtung beinahe verunmöglicht. Schließlich ist die von Guyer für die Stadt Zürich entwickelte Methode nur bedingt auf die Landschaft übertragbar. Die Berufskategorien als Indikator sozialer Strukturen scheinen mir im ländlichen Kontext fraglich. 1.2.5 Soziale Mobilität Wie gezeigt wurde, bot das ausgehende 17. und beginnende 18. Jahrhundert der zürcherischen Bevölkerung eine Chance der sozialen Mobilität. War das pietistische Milieu von dieser Mobilität betroffen? Wurde mit »Wiedergeburt« und »Nachfolge Christi« der Aufstieg religiös unterlegt? Oder war die Frömmigkeit eine Verarbeitungsstrategie des (drohenden) sozialen Abstiegs? Hartmut Lehmann will das Phänomen Pietismus als »mittelständische« Bewältigungsstrategie der Krise des »langen« 17. Jahrhunderts begreifen.97 Ob der Pietismus wirklich eine Antwort auf instabile Lebensumstände und Karrierebedingungen war, kann in erster Linie die soziale Auf- und Abstiegsbewegung der Pietisten vermitteln. Die individuelle Erfahrung in der pietistisch geprägten Lebenswelt, die Bemühung, den soziale Status im Segment zwischen Handwerk und Rentnerstand zu erhalten, oder sogar zu verbessern, versuche ich erneut mit den Guyerschen Berufskategorien einzufangen. Der Statusgewinn oder -verlust kann sehr vereinfacht nach einem Statusschema (Figur 4) bewertet werden.98 Darstellen lässt sich die Mobilität mit einem Auf- und Abstiegsraster (Tab. A1 u. A2). Untersucht werden jeweils die Karrieresprünge innerhalb einer Lauf bahn. »Kategorie 1« bedeutet den Status am Ende einer Laufbahn, »Kategorie 2« denjenigen bei Karrierebeginn. Vergleichen wir nun die soziale Wertschätzung eines aktenkundigen »Interessierten« mit jener seines Vaters, so kann über zwei Generationen hinweg die Tendenz der Statusentwicklung des pietistischen Milieus beobachtet werden. 96

Medick, Weben und Überleben in Laichingen, S. 34–37, i. b. Kapitel 6. Lehmann, The Cultural Importance of Pious Middle Classes. 98 Auf die Diskussion der Problematik einer solchen Vereinfachung möchte ich verzichten; als einziger Hinweis auf die Schwierigkeit soll das breitgefächerte Sozialprestige der Theologen genügen: Es reicht vom Chorherrn über die Stadtpfarreien hinab zu Helfer- und Hauslehrerposten, die kaum die Existenz sicherten. 97

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Statusschema Ö

weltlich

Soziale Wertschätzung

Magistraten

kirchlich

Rentner

Freie Berufe Gelehrte

Antistes Chorherr Dekan

Theologen Kaufleute

Stadtpfarrer Landpfarrer Vikar Hauslehrer

Handwerker

Figur 4: Statusschema basierend auf der sozialen Schichtung anhand der Wertschätzung gemäß Paul Guyer.

In der ersten Generation konnten von 24 männlichen Pietisten mit bekannter Berufsangabe neun ihren Status gegenüber demjenigen ihrer Väter verbessern. Die überwiegende Mehrheit (8 Personen) erreichte dies über ein Theologiestudium, eine geringere Zahl (3 Personen) stieg über eine Ämterlauf bahn in höhere Gefilde auf. Knapp die Hälfte der Pietisten (11 Personen) erreichte eine vergleichbare soziale Stellung wie ihre Väter. Bloß zwei Personen gelang es nicht, den väterlichen Status zu erhalten, sie stiegen in den Handwerksstand ab. Ein stabile und ein über weltliche oder kirchliche Ämter aufstrebende Tendenz hielt sich in der zweiten Generation die Waage. Soziale Absteiger sind marginal. Die Anhänger der neuen Glaubensrichtung waren demnach keine Verlierer, es handelte sich ganz im Gegenteil um eine aufstrebende oder sich behauptende soziale Gruppe, aus dem sich die Pietisten rekrutierten. Die zweite Generation war durch Stabilität geprägt. Nur noch annähernd jeder dritte Pietist war einem Statuswandel gegenüber seinem Vater unterworfen. Die Aufwärtstendenz f lachte hingegen ab. 10 Aufsteiger stehen 6 Absteigern gegenüber – wobei der soziale Abstieg bei zwei Nachkommen eines Rentners, welche hohe Magistraturen erlangten, nicht eindeutig ist. Handwerkerkinder verbesserten ihren sozialen Status nach wie vor durch eine Theologenlauf bahn (7 Personen) und seltener über staatliche Ämter (2 Personen). Die freien Berufe und der Stand eines Geistlichen boten das größte Aufstiegspotential. Diese Lauf bahnen schlossen aber auch die Gefahr in sich, dass die nachfolgende Generation den gewonnenen Status nicht erhalten konnte. Unter den Pietisten war aber diese Gruppe nur schwach vertreten, nur ein Theologensprössling und zwei Magistratensöhne fielen zurück ins Handwerk. Eine Mehrheit mit freiberuf lichen Vätern konnte in den väterlichen Fußstapfen wandeln und auch

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Der soziale Hintergrund des Pietismus

eine freiberuf liche Lauf bahn einschlagen (6 Personen), oder sie retteten sich vor der Deklassierung in den Pfarrberuf. Kurz: Der städtische Pietismus scheint in einer soliden und gefestigten sozialen Gruppe sowie bei eher aufstrebenden Schichten Fuß gefasst zu haben. Das pietistische Milieu war sozial stabil. Das Moment des sozialen Aufoder Abstieges war hingegen marginal. Es macht den Anschein, als sei der Pietismus keine unmittelbare Reaktion auf eine individuell erfahrene Auf- oder Abwärtsmobilität. Die beiden führenden Köpfe des Zürcher Pietismus sind beispielsweise einer entgegengesetzten sozialen Mobilität zuzuordnen: Johann Heinrich Locher, die zentrale Figur der ersten Generation ist verglichen mit seinem Großvater oder mit der sozialen Herkunft seiner Mutter aus der Großkaufmannschaft abgestiegen zum durchschnittlichen Kaufmann, der im Auftrag größerer Häuser handelte. In die entgegengesetzte Richtung bewegte sich Johann Heinrich Bodmer, der Wortführer der zweiten Generation. Er stieg dank seinem rhetorischen Talent als Außenseiter zum Obmann gemeiner Klöster auf, eines der höchsten Staatsämter in Zürich. Auch das Heiratsverhalten der Pietistinnen verdichtet den Hinweis auf ein stabiles Milieu als Basis der städtischen Frömmigkeit (Tab. A3). Lediglich drei Frauen heirateten einen Gatten, der verglichen mit ihrem Vater ein geringeres soziales Prestige mitbrachte, und nur eine verbesserte ihre Stellung über die Heirat. Die übrigen vierzehn Pietistinnen wählten sich einen Partner mit vergleichbarem gesellschaftlichem Rang. Auffallend ist die größere statistische Streuung: Unter den Pietistinnen gibt es verhältnismäßig mehr Handwerkergattinnen (8 Personen) und Rentnerinnen (3 oder 4 Personen) als unter ihren Glaubensbrüdern. Heiraten erfolgten fast ausschließlich innerhalb derselben Schicht, und eine Auf hebung der Standesschranken unter den Pietisten bewahrheitet sich, wenn es ums Heiraten geht, nicht. Die Beobachtung Carl Hinrichs über den Halleschen Pietismus, wonach Adlige, Bürgerliche sowie Bauern am selben Tisch saßen oder in der gleichen Herberge schliefen, zeigt, dass soziale Unterschiede unter den Pietisten nur äußerlich aufrecht erhalten wurden, die Schranken jedoch aufgehoben wurden, sobald die pietistischen Brüder und Schwestern unter sich waren.99 Das Heiratsverhalten der zürcherischen Pietistinnen bestätigt Hinrichs Feststellung hier nur teilweise, und es kann angenommen werden, dass in den Konventikeln die Standesunterschiede nur formal und temporär aufgehoben wurden. Wenden wir uns nochmals der Frage zu, inwieweit der Pietismus ein Ausdruck der Verunsicherung sei. Die Tendenz zu einem verinnerlichten Glauben steht offensichtlich nicht in Einklang mit einer unmittelbar 99

C. Hinrichs, Preußentum und Pietismus, S. 190.

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individuell erfahrenen Bedrohung. Diejenigen sozialen Gruppen, die zur Frömmigkeit neigten, vermitteln einen sehr stabilen sozialen Eindruck und waren kaum einer Deklassierung ausgesetzt. Die These von Hans Schneider, wonach der radikale Pietismus in Gruppen Anhänger fand, die dem gesellschaftlichen Wandel besonders stark ausgesetzt waren,100 bestätigt sich hier keineswegs. Ein Zusammenhang zwischen städtischem Pietismus und Verunsicherung kann nur hergestellt werden, wenn die Verunsicherung als eine überindividuelle und kollektiv wahrgenommene verstanden wird. Was damit gemeint ist, illustriert Johann Heinrich Bodmers [6] Eröffnungsrede zur Schulreformkommission vom 14. Januar 1712: Dieses sollte allen frommen Eydgenoßen, welche Gottes Gerichte über andere, und Gottes Gnad über Unß mit dem Gewicht des Heiligthums abwegend, u. denen fehrnern abwendung der gerichten gottes von Unß u. Continuation der Gnad Gottes über unß angelegen ist, täglich seufzer seine aus den 80. 9 dann wer kann die Revolutiones Europa ansehen, wie justissimus Mundi Judex die Welt allerOrthe um ihre Sünden willen heimsuche und darbey sich einbilden, Gott werde an den Eydgenoßen allein sich nicht auch heiligen in seinen Gerichten, wann wir uns nicht bekehren.

Verunsichert durch den Spanischen Erbfolgekrieg, der in Zürichs nördlicher Nachbarschaft tobte und durch die blutige Niederschlagung des Kamisardenaufstands in Südfrankreich, fragte sich Bodmer am Vorabend des Zweiten Villmergerkriegs: »Wie lange meinen wir wohl wird Gott unß noch gedulden? wird der Geist Gottes jmmer mit unß hadern.« Er ruft die Kommissionsmitglieder auf, eine zweite Reformation zu beginnen, um den oft beschworenen Zorn Gottes und eine Heimsuchung Zürichs des »abgelegenen Winkels« abzuwenden. Darum erwartend und erbitend Unßere Gn[ädigen] H[ohen] Herren von Eüch […] weil ihr es beser wüßend als wir, zu vernemmen, was zu unßerem algemeinen Friden, zu heiligen verbeßerung so wol in Welt- als Geistlicher Stand dienen mag, mit aufrichtigen heiligen Versicherung, daß Unßer Gn. H. H. alles werden helffen cooperieren, was zu wideraufrichtung unseres so gar verfallenen Christentum dint, es mehr als jemalen, weil Zürich steht, hohe Zeit darzu, die Ax[t] des Zorn Gottes ligt an der Wurtzel unßeres unfruchtbaren baums.101

Diese eschatologischen Elemente in der Rede Bodmers waren gewiss keine rhetorischen Kunstgriffe. Die offen ausgesprochenen Ängste – durch eine unruhige, kriegerische Zeit ausgelöst – entsprachen offensichtlich einem breiten kollektiven Gefühl. Ja, Bodmers Erfolg als Redner kann auf die eschatologischen Elemente, aufs Thematisieren der kollektiven Ängste zurückgeführt werden. Der Zorn Gottes über ein verschwenderisches, zur 100 101

Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 398. ZB Zürich Ms. S 352, Nr. 2.

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Barockkultur neigendes Europa war für eine gebildete Schicht offenbar evident. Krieg und Hunger herrschten und wurden als »Zeichen der Zeit« als nahes Ende gedeutet. Für die Zeitgenossen war es nur eine Frage der Zeit bis die Unbarmherzigkeit auch ein Zürich treffen würde, in dem nicht alles zum Besten bestellt war. Die exemplarische Rede Bodmers unterstützt die These, wonach die eschatologischen Elemente kollektive Verunsicherungen ausdrückten und zur Bewältigung krisenhafter Ereignisse beitrugen. Die eschatologische Weltanschauung und Krisenbewältigung hatte – wie wir im dritten Teil noch gezeigt werden soll – auch ihre politischen Implikationen. Inwieweit die kollektiven Ängste durch wirtschaftliche Entwicklungen verursacht wurden, muss dahin gestellt werden: In den Quellen lassen sich keine direkten Hinweise finden, dass in religiösen Kategorien ein einschneidender ökonomischer Wandel, der damals den Kanton Zürich erfasste, verarbeitet wurde. Eine langanhaltende, durch die Wollindustrie getragene Aufschwungphase ging in den 90er Jahren des 17. Jahrhunderts in eine hartnäckige Stagnationsphase über, in der die Wolltuchfabrikation allmählich zerfiel und die Baumwollverarbeitung diese als Leitindustrie allmählich ablöste. Der Strukturwandel wurde zudem ab 1694 durch schwere Subsistenzkrisen überlagert, die das protoindustrielle Textilgewerbe zusätzlich erschütterten.102 Weil wohl den meisten Menschen eine Begrifflichkeit fehlte, um Störungen in der Wirtschaft als solche wahrzunehmen, ist anzunehmen, dass sich die kollektiven Verunsicherungen eher auf sekundäre Folgeerscheinungen, wie Hunger oder Krieg verlegten. Es ist durchaus möglich, dass eine Zeitepoche, die Teuerungen wie Naturkatastrophen als Strafe eines zürnenden Gottes las, in Zeiten wirtschaftlicher Instabilität darauf mit apokalyptischen Ängsten reagierte. Halten wir hier die wichtigsten Erkenntnisse noch einmal fest: Das soziale Milieu des Pietismus ist erstaunlich klar umrissen. Erstaunlich deshalb, weil mit dem Pietismus die unterschiedlichsten Trägergruppen, von deklassierten Handwerkern bis zum Hofadel in Verbindung gebracht wurden. Klar umrissen ist die tragende Gesellschaftsschicht der Frömmigkeitsbewegung für die Stadt Zürich. Hier erkennen wir zwischen der ersten und zweiten Generation sogar eine weitere Ausdifferenzierung eines spezifischen Milieus. Ein Milieu, das wir statisch anhand des Statusschemas in der Mitte der ständischen Gesellschaft Zürichs verorten können: Theologen und als Freiberuf liche bezeichnete Gebildete und Amtsleute sind überproportional vertreten. Die Handwerker und Rentner, die in der Wertschätzung tiefer, respektive höher Stehenden, sind dagegen deutlich untervertreten. 102

U. Pfister, Die Zürcher Fabriques, S. 58 f.

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Betrachten wir das pietistische Milieu nach sozialdynamischen Gesichtspunkten, so fällt auf, dass es sehr stabil ist. Mit anderen Worten: er wird nicht immer wieder neu aus Aufsteigern aus einer Unterschicht oder aus Absteigern aus einer Oberschicht gebildet. Auf- und Abstiegstendenzen sind marginal. Die Trägergruppe des Pietismus rekrutiert sich zum großen Teil aus sich selbst. Sie bildet eine in sich geschlossene gesellschaftliche Gruppe, die aber bezüglich ihrer internen Zusammensetzung durchaus heterogen sein kann. Weiter fällt auf, dass das pietistische Milieu Eigenschaften und Charaktere besitzt, die auf ein modernes Bürgertum verweisen. Wir haben es mit einer tendenziell kapitalschwachen Schicht zu tun, die dank Bildung und Wissen ihre Stellung in der Gesellschaft erkämpfen und behaupten muss, sei es als Geistliche, »Wissenschaftler«, Staatsdiener und im geringeren Masse als Kauf leute. Diese beiden dynamischen Elemente, welche die soziale Gruppe auszeichnen, in der sich der Pietismus Endes des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts auszubreiten vermochte, veranlassen uns, hier von einem Bürgertum avant la lettre oder einem Protobürgertum103 zu sprechen. Wir haben Grund zur Annahme, dass der Pietismus eine Weltanschauung war, mit der sich ein in sich zentrierte soziale Gruppe in die Lage versetzen konnte, eine eigene Ideologie und Mentalität zu entwickeln und sich so ein soziales Distinktionsmittel zu schaffen. Das soll nun nicht heißen, dass der Pietismus einzig und allein als Mentalität eines Protobürgertums zu betrachten sei. Aber zumindest in der formativen Phase konnte der frühe Pietismus diese Funktion erfüllen.

1.3 Pietismus und Gesellschaft 1.3.1 Pietisten im Staat Die Pietisten waren keine politisch abstinenten Bürger. Wie bereits gezeigt, ist der Anteil der freien Berufe im städtischen Pietismus überproportional. Mehreren Pietisten gelang eine Ämterlauf bahn und ihre Existenz war vom Staat abhängig. Betrachten wir nun die Staatsmänner unter den »Nachfolgern Christi« genauer (Tab. A4): 35 Männer hatten entweder einen Vater, der eine Magistratur besetzte, oder sie hatten selbst ein Staatsamt inne. Unter die Kategorie »Magistratur« summiere ich alle »staatlichen« Posten, die weltliche Personen besetzen konnten, nicht mitgerechnet sind militärische Funktionen. Die Skala reicht von »Ehegaumern«, über Schreiberstellen, Land- und Stadtrichter, bis hinauf zu Groß- und 103

Zum Begriff Protobürgertum im Zusammenhang mit dem frühen Pietismus vgl.: Scharfe, Fromme Rebellen, S. 169.

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Kleinratssitzen. Hohe Magistratur bezeichnet alle jene Funktionen, die den Einsitz im Rat zur Voraussetzung haben. Zwanzig männliche Pietisten (16 Prozent) der zweiten Generation erlangten im Lauf ihres Lebens ein Staatsamt. Weitere fünfzehn hatten zumindest einen Würdenträger zum Vater. Kurz: 29 Prozent der männlichen Pietisten waren selbst Diener am Staat oder stammten aus Magistratenfamilien. Kann der Pietismus als eine Reaktion auf einen tendenziellen Ausschluss eines gesellschaftlichen Segments aus der Herrschaftsausübung interpretiert werden? Betrachtet man die Mobilität, so reduzierte sich die Machtbeteiligung zwischen der Generation der Väter von 23 Ämtern auf 20 in der Filialgeneration, was eine Verschlechterung und Ausschließung von der Macht anzeigen könnte. Klammern wir dagegen alle Magistratenkinder, die in den kirchlichen Stand hinüberwechselten und so ihren Status annähernd erhalten konnten, aus, erhalten wir ein differenzierteres Bild. Fünf Absteiger stehen sodann dreizehn Aufsteigern gegenüber. Die »Nachfolger Christi« scheinen demnach eher unter den neu in Amt und Würde aufsteigenden Personen Fuß gefasst zu haben. Der Pietismus ist offensichtlich nicht die Religion der Deklassierten und Ausgeschlossenen, sondern er fand seine Basis in einem gut informierten und staatstragenden Stadtbürgertum. Auch von einem weltabgewandten, alles Irdische verachtenden Rückzug ins Private kann nicht die Rede sein, dagegen spricht die hohe politische Präsenz der Pietisten. Dass sich der zürcherische Pietismus aus einer staatstragenden Schicht rekrutierte, kann in einer weiteren Weise plastisch vor Augen geführt werden (Tab. A5). Listet man die Zürcher Familien mit pietistischen Angehörigen auf – die Frauen werden unter ihrem Mädchennamen geführt – und setzt sie in Funktion zu den Mandaten im Großen und Kleinen Rat, so sind 38 Pietistenfamilien zwischen den Jahren 1671 und 1762 (permanent) mit mehr als einem Ratsherren vertreten. Sogar 42 Pietistenfamilien sind zwischen den Jahren 1671 und 1730 mit mindestens einem Mitglied in einem der beiden Räte repräsentiert. Je nach Rechenart hielten 66 bis 72 Prozent der Geschlechter mit pietistischen Mitgliedern einen Ratssitz oder sogar mehrere Sitze besetzt. Diese Rate liegt um das Zweieinhalbbis Dreifache über dem zürcherischen Durchschnitt (Tab. A6). Eine Tendenz hingegen, dass es sich um Geschlechter handelte, die im Begriff gestanden hätten, sich die Macht zu erobern oder allmählich aus Amt und Würde verdrängt zu werden, lässt sich nicht erkennen. Mit Escher von Glas und Orelli sind zwei klassische Aufsteigerfamilien vertreten, die Holzhalb und Werdmüller markieren hingegen die Gegenbewegung.

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1.3.2 Lebenswelt Der sozialgeschichtliche Ansatz stellt den Pietismus in das Spannungsfeld von Absonderung und Gemeinschaft.104 Die tendenzielle Abgrenzung der Pietisten nach außen geht zwangsläufig mit dem Auf bau einer Binnenkultur einher. Diese »Subkultur« basiert auf der Kultivierung der individuellen Frömmigkeit und äußert sich deutlich in der Entwicklung einer neuen Sprache, der »Sprache Kanaan«105, die gegen außen die soziale Grenzlinie zieht und nach innen Gemeinsamkeit stiftet. Die Pietisten entwickelten neue Geselligkeits- und Gemeinschaftsformen außerhalb der Normen einer Ständegesellschaft: Es kann von einer autonomen Vergesellschaftung gesprochen werden. Michael Maurer erblickt in der pietistischen Gemeinschaftsbildung das frühe Band, das Theologen, Magistrate, Kauf leute und Gelehrte – also genau diejenigen Gruppen, die wir als soziale Träger des frühen Pietismus bezeichnen – in der formativen Phase des Bürgertums erst zu einer neuen gesellschaftlichen Gruppe verband und gegenüber anderen Schichten abgrenzen half.106 Wie sahen die sozialen Kommunikationsformen konkret aus, die erst eine Gruppe zu konstituieren vermochten? Wo fand das pietistische Milieu einen Ort, wo es sich über Reformen und Religiosität austauschen konnte? Wie organisierte es die Kontakte und Debatten? Wie wurden ideologische Zusammenhänge und erfahrbare Gemeinsamkeiten gestiftet? Der Labrousse-Schüler Maurice Agulhon verwendet für diesen Fragenkomplex den aus der Soziologie bezogenen Begriff der »sociabilité«.107 Gab es demnach ein pietistisches Gemeinschaftsleben mit konstitutivem Charakter für die Gruppe, in dem schichtspezifische und politische Überzeugungen, soziale und ökonomische Motive im Gewand religiöser Interpretationsmuster zusammen f lossen? Eine Betrachtung der Lebenswelt kann an zwei Punkten einsetzen: a) lokal, d. h. bei den erbaulichen Zusammenkünften, oder b) sozialdynamisch, also bei der Struktur und Beschaffenheit der Kontaktnetze.

104 Lehmann, »Absonderung« und »Gemeinschaft« im frühen Pietismus, S. 54–82; ders., Absonderung und neue Gemeinschaft, S. 488–497. 105 Schrader, Die Sprache Canaan. Auftrag und Forschung, S. 55–81; ders., Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie und Spezialsemantik als Auftrag der Forschung, S. 404–427. 106 Maurer, Die Biographie des Bürgers, S. 235. 107 Agulhon, La sociabilité est-elle objet d’histoire?, S. 13–23; ders., Das Gemeinschaftsleben der Arbeiterklasse vor 1848, S. 14–50; vgl. ebenfalls: Im Hof, Der Sozietätsgedanke im 18. Jahrhundert, S. 9–27.

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1.3.2.1 Konventikel Beginnen wir beim Ort, dem Konventikel. Philipp Jakob Spener – Gründervater des lutherischen Pietismus – machte 1675 in seinem Hauptwerk Pia desideria einen epochenmachenden Vorschlag: das Abhalten von Konventikeln.108 In diesen Versammlungen neben dem Gottesdienst sollten nach Spener die mit Erkenntnis Begabten die Bibelauslegung üben, mit dem Ziel, die Kirche von innen heraus zu beleben und zu reformieren. Die erbaulichen Stunden erlangten sehr bald ein Eigenleben, denn in ihnen regten sich radikale Kirchenkritik und separatistische Tendenzen.109 Die ersten Konventikel in Zürich wurden um 1689 nachgewiesen bzw. durch die Obrigkeit entdeckt. Der Zürcher Expektant Johann Georg Ziegler [212] und der pfälzische Barbiergeselle Friedrich Speyer [160] predigten damals in verschiedenen Bürgerhäusern von der Wiedergeburt und Impekkabilität.110 Zur selben Zeit wurde auch Johann Heinrich Locher wegen »heimlich haltender versamlungen« verdächtigt.111 Der nächste, der von Professor Schweizer verklagt wurde, war Johann Heinrich Zeller, der ältere Bruder des späteren Antistes. Er wurde bezichtigt, in seinem Pfarrhaus Privatzusammenkünfte geleitet zu haben, an denen sich sechs Personen beteiligten.112 Über das Konventikel beim Fraumünsterpfarrer berichtet Johann Heinrich Locher seinem Freund Johann Kaspar Hardmeyer gemäß dessen Tagebuch: Hr. Locher gedachte, wie Hr Zeller, Pfahrer beÿ dem Fraumünster, neben den ofenlichen Versamlungen auch sonderbare im geheim zu halten angehabt vor 14 t[ag]en Wozu anfänglich nicht mehr als 4. Persohnen, als Hr. Laubi: V.DM. und Filialist zu Schwamendingen, einen Trechsler Herliberger, Tischmacher Schweizer, und den Vierten weiß ich nicht mehr. Hr. Pfahrer fienge an mit einem kurzen Gebedte und dem Gebedte des Hrn. dannach setzte er ihnen freÿ zuh betrachtungen auß H Geschrift einen Stof, Sie aber liessen es ihm freÿ, deswegen er die Epistel St. Pauli an die Epheser vor sich namme, jedoch also, daß jeder auß ihne beÿ bringen solte, was ihnen eÿnfiele! Der Anfang vor gemacht am Midtwochen Abends nach dem Abendgebedt; Es wäre auch ein Hr. Römer ein Hr. Kidt und andere mehr darbeÿ erschienen, Sie hädten es aber nicht [mehr] könen, weil auf den Midtwochen ihr Schribtag wahr Es fihle; darum Hr. Pfahrer die Versamlung auf den Dinstag Wochens verschoben!113

108 Wallmann, Der Pietismus, S. 47. Den Anstoß zur Bildung von ecclesiola in ecclesia empfing Spener von Labadie: Wallmann, Labadismus und Pietismus, S. 167 f. 109 Wallmann, Der Pietismus, S. 55 ff. 110 ZB Ms. V 100, S. 59–71; St AZ E II 423; siehe auch: Meister, Helvetische Szenen der neuen Schwärmerey und Intoleranz, S. 104 f. 111 ZB Zürich, Ms. S. 276, Nr. 23. 112 ZB Zürich Ms. S 278, Nr. 2. H. R. Zimmermann, Die Zürcher Kirche, S. 247 f. 113 ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 246, Eintrag vom 13. November 1694.

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Die Quellen über die Versammlungen der ersten Pietistengeneration sind spärlich; einzig dieser indirekte Bericht Lochers gestattet einen knappen Einblick in das Innenleben der Zusammenkünfte. Breiter präsentiert sich dagegen die Quellenlage über das erneute Auff lammen des Konventikelwesens in der darauf folgenden Generation. Es lassen sich zwischen 1716 bis 1718 etwa 20 bis 30 verschiedene Konventikel, abhängig von der Zählart nach Gastgeber oder Ort, ausmachen. Dabei sind mehrere Typen erkennbar. Die Dissidenten trafen sich in der städtischen Peripherie: Beliebt waren die Landsitze wohlhabender Bürger, Ulrich Giezendanner [39] »empfing« beispielsweise seine drei Inspirationen im Beisein vieler Interessierter auf dem Engstringer Sommersitz des Junkers Kaspar Schneeberger [149]. Der Seidenfabrikant Johann Heinrich Schulthess [152] lud seine Glaubensbrüder und -schwestern ein zu erbaulichen Übungen auf seinem Landgut in Eckbühl bei Höngg. In Winterthur waren es die Brüder Hegner [52/23], welche die Zusammenkünfte aus der Stadt hinaus auf die Mösburg oder auf das Schloss Susenberg verlegten.114 Die städtischen Bürgerwohnungen dienten als Versammlungsort: Die Pietisten trachteten dabei aber tunlich danach, unentdeckt zu bleiben. Der Bäckerlehrling Wyss beobachtete im Herbst 1717 ein Konventikel im Haus des Malers Melchior Füssli [34]. Er gab zu Protokoll: es sei geschehen, da er eines mittags um 3 uhr in s[eine] Kammer hinauf gegangen, da habe er eine Kammer Herrn Füeßlins offen gesehen und darin 1. mann, Haffner Stadler [160], und 3. weiber die Fr. Füßlin [36] selbst, die Jgfr. Füeßlin [30/35] als schwester, und mit Fr. Pfr. Lindinnerin [93], sonder des krumenfaßer Albrechten tochter [1] an der Strelgaß; […]. Nach ¼ Stund sei er wider aus der Kammer hinuntergegangen und gewahret, daß Haffner etwas gelesen, wüße nit waß, dan er nit gelahrt. Vor 6 uhr sei er wider heim kommen und in die kammer gegangen, habe aber niemand mehr gesehen.115

Der Lehrling entschuldigt sich sodann, er habe aus Schrecken die Hälfte vergessen. Erfolgreicher schottete Anna Barbara von Muralt [108] ihre Versammlungen in der Schoffelgasse von der Außenwelt ab. Über sie, die ohnehin der Obrigkeit Anlass zur Sorge gab, ging unter dem 20. Mai 1718 die Meldung aus der Nachbarschaft ein, sie halte Erbauungsstunden hinter gezogenen Vorhängen.116 Ein weiteres aufgedecktes Konventikel vermeldet die Pietistenakte unter dem Eintrag des 17. März 1718. Der Verbergungsstrategie dieser Versammlung haftete hingegen ein gerütteltes Maß an nachbarschaftlicher Provokation an. Alle Abende halte der Buchdrucker 114

St AZ E II 56, S. 781, 854, u. 977. Ebd., S. 945. 116 Ebd., S. 977. Zur Soziabilität nachbarschaftlicher Denunziation vgl.: Utz Tremp, Denunzianten und Sympathisanten, S. 94–108. 115

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Lindinner [91] um 7 Uhr Zusammenkünfte. Es werde zuerst die Litanei gesungen und anschließend schlösse man die Türen und Fenster. Was danach geschehe, bedauert der Schreiber der Akte, sei unbekannt.117 Weitere Beispiele von Konventikeln ließen sich anfügen. Offenbar weckten gezogene Vorhänge und geschlossene Türen in der Nachbarschaft ein beträchtliches Misstrauen gegen diese Absonderung der Frommen. Eigentümlich mutet die am letztgenannten Konventikel beobachtete Reihenfolge an, die Nachbarschaft wurde erst nach Beginn vom weiteren Verlauf der Versammlung ausgeschlossen. Misstrauen, wenn nicht sogar sittliche Empörung erregte die gemischte Teilnehmerschaft. Chorherr Johann Jakob Hottinger kam nicht umhin, die Verwerf lichkeit dieser Versammlungen zu unterstreichen, er betont an mehreren Stellen in der Versuchungs=Stund, dass die Konventikel sich aus beiderlei Geschlechtern zusammensetzten.118 Was geschah hinter den gezogenen Vorhängen und verschlossenen Türen? Offensichtlich wurde in den Konventikeln nicht nur gesungen. Wie gezeigt, wurde die neugierige Umgebung teilweise erst nach den frommen Liedern vom weiteren Verlauf ausgeschlossen. Oft wurden im Verborgenen Bücher gelesen, welche die Züricher Kirche nicht tolerierte. Barbara Füssli [31] gestand im Verhör vom 4. August 1718, dass in den Konventikeln bei Melchior Füssli aus Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen119 gelesen wurde, einem Klassiker der pietistischen Erbauungsliteratur.120 Die Konventikel waren nicht bloß Singverein und Lesezirkel: In den Versammlungen wurde eifrig über religiöse Themen diskutiert. Pfarrer Steiner [168], der selbst einmal zum Kreis der Pietisten gehört hatte, fasste den Auftrag, das Konventikel in Rumstal zu vigilieren und weiß interessante Interna zu berichten, denn »ungesundes Zeugs« soll angeblich in den Zusammenkünften verhandelt werden. So habe der Expektant Jakob Sulzer [172] im Konventikel über den Jüngsten Tag, der bald kommen werde und dem die Bekehrung der Juden vorausgehe, gesprochen. »Eben dieser Herr Sulzer habe auch angefangen reden von dem freien willen«.121 Ganz offensichtlich wurden in den Erbauungsstunden Ideen und Anschauungen debattiert, die das enge und starre Gedankenkorsett der Orthodoxie sprengten. Die weltanschauliche Dissidenz der Pietisten hatte, auch wenn in religiöser Terminologie gesprochen wurde, politische Implikationen. Ohne vor der Obrigkeit ein Blatt vor den Mund zu nehmen, gestand Johann Jakob 117

St AZ E II 56, 948. Hottinger, Versuchungs=Stund, u. a. S. 41. 119 Reitz, Historie Der Wiedergebohrnen. Zur Wirkungsgeschichte der Sammelbiographie vgl.: Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus, i. b. S. 258. 120 St AZ EII 56, 954. 121 Ebd., S. 656 f. 118

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Schulthess [153] den politischen und kritischen Charakter der Konventikel. Im Verhör vom 28. Juni 1716 beschrieb er, wie für eine bessere Kirche und Obrigkeit sowie für ein besseres Vaterland gebetet wurde.122 Vermutlich wurde nicht nur in der Gebetsform über die politischen Zustände räsoniert. Die Examinatoren jedenfalls witterten vonseiten der Konventikel Gefahr für Kirche und Regiment.123 Obmann Bodmer [6] vermutete wohl nicht zu Unrecht, als er als Einziger im Rat gegen die Verbannung des inspirierten Ulrich Giezendanner votierte, dass der obrigkeitliche Schlag sich in erster Linie gegen das Konventikelwesen richte.124 Es gibt auch konkrete Anzeichen, dass in den Versammlungen nicht nur über Politik diskutiert, sondern auch ein aufmüpfiges Verhalten an den Tag gelegt wurde. Beispielsweise wurden in einigen Konventikeln, in denen Pietisten unterschiedlicher sozialer Gruppen zusammenströmten, die Perücke abgelegt.125 Das in der Kleiderordnung festgeschriebene Distinktionsmittel zwischen den Ständen wurde so zumindest vorübergehend und in einem abgeschotteten Raum aufgehoben. Das Konventikelwesen beschränkte sich nicht mehr bloß auf die Stadtbürger: Es entstanden mehrere Konventikelgruppen auf der Landschaft. Die bekannteste und größte ist jene, die ihr Zentrum in der Riedmühle bei Dietlikon hatte. Ludi Weber [189] berichtet im Verhör vom 13. Juni 1716, er habe sich an einer Versammlung in der Mühle beteiligt. Es hätten sich zwischen dreißig bis fünfunddreißig Personen eingefunden. Zuerst werde gesungen und danach lege der Riedmüller, Johann Jakob Rathgeb, einem Psalm aus. Dabei werde auch von der Wiedergeburt gesprochen. Webers Halbschwester Barbara weiß zudem zu berichten, dass Rathgeb auch Versammlungen in Wallisellen, beispielsweise im Wirtshaus abgehalten habe.126 Eine besondere Anziehungskraft auf die ländlichen Besucherinnen und Besucher von Konventikeln übte das Spiel auf der Hausorgel in der Dietliker Riedmühle aus. Die Hausorgel war daher der orthodoxen Geistlichkeit ein Dorn im Auge: Weil der musikliebenden Müller die im Herbst ausgesprochene Warnung, keine Konventikel zu veranstalten und still seine Haushaltung und seinen Beruf zu pf legen, missachtete, wurde ihm im November 1718 als erstes die Orgel beschlagnahmt und im Dietliker 122

Ebd., S 790. Ebd., S. 781. 124 ZB Zürich Ms. H 279 (Brief Johann Kaspar Gwerb an Johann Heinrich Füssli vom 26. Juni 1716). 125 Fortsetzung der Gefahr des Schwermer Geists/ Das ist Wohlgemeinte Wahrnung vor = Verführung/ Bestehend 1. In kurzem Historischen Bericht von denen so genannten Pietisten 2. Wahrnung an ehrliche Mitburger und Landleuth. 3. Beantwortung etlicher Einwürffe. 4. Erinnerung und Vermahnung, Zürich 1717 [Anonym bei David Gessner erschienen], S. 5. 126 St AZ E II 56, S. 844. 123

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Pfarrhaus verwahrt. Dem Riedmüller wurde vorgeworfen, er habe mit seiner Hausorgel einfältige und schlecht unterrichtete Leute an sich gezogen. Wenn wir den frühen Pietismus mit einer protobürgerlichen Schicht in Verbindung bringen, so stellt sich die Frage, wieweit die Konventikel eine Vorform bürgerlicher Salons, Diskussionsklubs oder Freimaurerlogen darstellten, in welchen die Moral aus dem privaten Innenraum auf den absolutistischen bzw. patriarchalen Staat übertragen wurde. Orte, wo sich im 18. Jahrhundert bürgerliche Ideologie und bürgerliche Kritik am Staat verfestigten.127 Zu denken wäre beispielsweise an die Diskussionsrunde Immanuel Kants, Sohn eines pietistischen Schuhmachers. Die Runde fand regelmäßig zur festgeschriebenen Zeit statt und erinnert der Form nach stark an die pietistische Erbauungsstunde. Eine ähnliche, jedoch nicht bloß formale Kontinuität zwischen Konventikel und frühem bürgerlichem Salon findet sich in Zürich: Johann Kaspar Escher – inzwischen Bürgermeister geworden – erneuerte 1742 die pietistische Erbauungsstunde. Seit dem Neujahr lud er regelmäßig zu einer Versammlung, an der »von beiden Ständen die vornehmsten Herren an einem Sonntag in seinem Haus zusammenkamen und nach Zeit und Umstand von geistlichen und weltlichen Sachen diskutierten, die zur Erbauung dienen könnten«.128 Es macht ganz den Anschein, dass Eschers Erbauungsstunde bereits halbwegs vom pietistischen Konventikel als Ort der religiösen Vergemeinschaftung zum Salon des Bildungsbürgertums mutierte. Das Konventikel bildete jedenfalls eine Geselligkeitsform, die standesgesellschaftliche Normen sprengte.129 Die Frage, mit wem man die »Stunde« abhalten wolle, öffnete den Raum für neue soziale Beziehungen. Die Teilnahme an den Versammlungen basierte auf Freiwilligkeit und individueller Wahl. Im Konventikel wurden die sozialen Grenzen der Ständegesellschaft überschritten; es wird deshalb auch gern als alternative Geselligkeitsform betrachtet.130 Und Irina Modrow formuliert die These, wonach die sozialreligiösen Gruppenbildungen des frühen Pietismus eine Vorform bürgerlicher Freundschaftskultur oder zumindest eine Variante von Vorformen des modernen Assoziationswesens seien. Besonders im »Typ der Freiwilligkeitsgemeinde«, mit dem aus der durch Stand und Kooperation, Amt und Obrigkeit bestimmten Welt ausgebrochen werden konnte, sieht sie große Parallelen zum späteren bürgerlichen Vereinswesen.131 127

Kosellek, Kritik und Krise, i. b. S. 41. Brief Johann Kaspar Füsslis an Annoni vom 27. März 1742. Zitiert nach Wernle, Der schweizerische Protestantismus, Bd. 1, S. 134. 129 Schnegg, Von der Zunftstube zur Salongesellschaft, S. 358. 130 Brecht, Pietismus als alternative Geselligkeit, S. 261–272; Lehmann, Grenzüberschreitungen und Grenzziehungen im Pietismus, S. 11–18. 131 Modrow, Die sozial-religiösen Gruppenbildungen des Frühpietismus, S. 309–320. 128

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1.3.2.2 Ökonomisches und freundschaftliches Beziehungsgeflecht Das soziale Netz der Pietisten war geprägt durch einen hohen Grad verwandtschaftlicher Verf lechtung. In der zweiten Generation sind – soweit die familiären Beziehungen erkennbar sind – 74 von total 181 Pietisten und Pietistinnen oder 41 Prozent miteinander näher verwandt. Zum näheren Verwandtschaftsgrad zähle ich verschwägerte Personen oder Leute mit mindestens denselben Großeltern. Das weit verzweigte Verwandtschaftsnetz lässt sich nicht eindeutig darstellen. Exemplarisch können die verwandtschaftlichen Verf lechtungen im Pietismus anhand der Familie Rahn dargestellt werden (Fig. 2). Im Zentrum dieses Pietistenstammbaums steht Katharina Rahn [8], sie war die Enkelin der beiden Bürgermeister Johann Kaspar Hirzel (1617–1691), einer der reichsten Fabrikanten seiner Zeit, und Johann Heinrich Rahn-Escher (1593–1669). Sie heiratete 1680 in erster Ehe Jakob Waser, der als Leutnant in französischen Diensten stand. Die Ehe dauerte nur sieben Jahre, Waser fiel in Straßburg im Duell einem Messerstich zum Opfer. Nach dem obligaten Trauerjahr nahm sie den Landschreiber Bräm zum Mann. Auch diese Ehe stand unter keinem glücklichen Stern; Der Ehebund wurde 1717 geschieden. Vermutlich wollte sich der Landschreiber seine Karriere nicht durch den Pietistenhandel verderben lassen. Der weit verzweigte Stammbaum der einstmals großen und einf lussreichen Rahn-Sippe sicherte die Kommunikation der »Nachfolger Christi« und bot die besten Ausbreitungskanäle, in denen Verbindungen zu anderen bedeutenden Familien in Zürich und Winterthur hergestellt wurden. Erstaunlich ist aber dennoch, dass diese für die Zeit des Ancien régime übliche und bewährte Kommunikation entlang der verwandtschaftlichen Verbindungen weniger als die Hälfte ausmachte und dass neue Netze geknüpft wurden, die durch Religion, bzw. Weltanschauung geleitet waren. Bedeutsam sind die neuen Formen sozialer Beziehungen, die im Pietismus aufgebaut wurden und auf eine Korrelation zwischen Pietismus und sozialem Umbruch hindeuten. Neben den familiären Banden hielten beispielsweise auch ökonomische Beziehungen das pietistische Kontaktnetz zusammen. Besonders hervorzuheben ist hier Johann Jakob Rathgeb. Er unterhielt das bedeutendste Konventikel auf der Landschaft. In seiner Mühle in Dietlikon strömten jeweils zwischen dreißig und fünfunddreißig sogenannte »Interessierte« zusammen.132 Kein Wunder also, dass sich die Obrigkeit besonders intensiv mit dem Riedmüller beschäftigte. In den zahlreichen Verhören versucht Rathgeb das »Geläuf« in seine Mühle als normalen Geschäftsverkehr darzustellen. Die »meitlj« [99] aus Baltenswil beispielsweise seien seine Kundinnen, er könne ihnen den Besuch in der Mühle nicht verbieten. Ein andermal rechtfertigt er den Kontakt zu 132

St AZ E II 56, S. 844. (Verhör mit Ludi Weber, 13. Juli 1716).

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Johannes Bodmer*

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525558416 — ISBN E-Book: 9783647558417 Elisabetha Sulzer-Künzli Wolfgang Sulzer Pfarrer

Jakob Sulzer Pfarrer

Elisabetha Künzli Rahn**

Dorothea Sulzer-Künzli

Elisabetha Künzli Tuchhändlerin

Winterthurer Nebenzweige

Anna Barbara Muralt-Pestalozzi

Anna Magdalena Bodmer-Pestalozzi

Nebenzweig Bodmer/Pestalozzi

Heinrich Waser Schiffmeister

H.H. Rahn-Holzhalb

Heinrich Rahn-Steinerc Buchhändler/Fabrikant

Rudolf Rahn-Simmler Pfarret

Anna Oeri-Rahn ****

Andreas Pestalozzib Pfarrer

***/****

Elisabetha Künzli-Rahn **

Figur 5: Familiäre Verbindungen im Zürcher Pietismus anhand der Familie Rahn. (Abgeblendet sind nichtpietistische Verbindungsglieder. Diagonale graue Linien bedeuten entfernte, nicht näher ausgeführte verwandtschaftliche Verbindungen.)

Elisabetha Hegner X Salomon Hegner Ulrich Hegner Magistrat Dr. med.

Elisabetha Hegner-Rahn*** (kinderlos) (zweite Ehe)

Anna Magdalena Pestalozzi X Konrad Oeri Goldschmied

Regula Rahn-Pestalozzi Konrad Pestalozzi* Fabrikant

a Erstellt nach: CARL KELLER-ESCHER, Die Familie Rahn. Genealogie und Geschichte eines altzürcherischen Geschlechts, Zürich 1914. b Sein Enkel ist der Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi. c Sein Sohn Hartmann heiratet 1752 Viktoria Klopstock, Schwester des Dichters, seine Enkelin Johanna Maria heiratet 1793 Johann Gottlieb Fichte.

Kaspar Sulzer Rektor

Johannes Bodmer*

Johannes Rahn Hirzel

H.H. Rahn-Escher Bürgermeister

Katharina Waser-Rahn

X Kaspar Waser Landvogt Sax

Küngold R.

Ursula Bodmer X Konrad Pestalozzi*

Emerentia R* X H.H. Bodmer* Obmann

Emerentia Rahn* X Heinrich Bodmer*

Anna R-Forrer? Chirurg

J.Rahn-Lochmann

H.J. Rahn

Verwandtschaftliche Beziehungen in der zweiten Pietistengeneration anhand der Familie Rahna

84 Der soziale Hintergrund des Pietismus

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Klöti [72], der selbst ins Fadenkreuz der Fahnder geriet, mit der Behauptung, dass jener lediglich in die Riedmühle gekommen sei, um einen Stier zu kaufen.133 Inwieweit eine Überlagerung pietistischer und ökonomischer Beziehungsnetze tatsächlich bestand oder lediglich als Ausrede vorgebracht wurde, ist schwer abzuschätzen. Die Obrigkeit trug zumindest der Verschränkung von Pietistischem mit Ökonomischem Rechnung, indem sie Rathgeb zwang, seine Mühle zu ungünstigen Konditionen zu verkaufen. Die Näherin Regula Albrecht [1] ist ein weiteres Beispiel: Sie arbeitete in mehreren pietistischen Häusern, wo sie sich gleichzeitig an den Konventikeln beteiligte. Ihre Kundschaft und ihr pietistischer Freundeskreis waren annähernd kongruent. Ihre Arbeitseinsätze in den unterschiedlichsten Haushaltungen in Zürich und in Winterthur prädestinierten sie geradezu zur Botschafterin zwischen den lokalen Konventikelgruppen.134 Die pietistische Bewegung ist geprägt von starken Männerfreundschaften. Als erster hat Wolfdietrich Rasch am Beispiel Klopstocks diesen Aspekt herausgearbeitet. Auch Ladislao Mittner weist anhand von Zinzendorf auf den großen Beitrag des Pietismus zur Entwicklung des Freundschaftsdenkens hin. Er geht so weit, im empfindsamen Freundschaftskult eine Säkularisierung der pietistischen Verehrung Christi als »Seelenfreund« zu erblicken.135 In den ersten beiden Zürcher Pietistengenerationen können allein anhand der führenden Personen mehrere solcher Freundschaften ausgemacht werden. Zu nennen ist als erstes die enge Beziehung zwischen den beiden Pionieren des Zürcher Pietismus: Johann Heinrich Locher [94] und Johann Heinrich von Schönau [151]. Der soziale Abstand zwischen dem Junker und dem kleinen Kaufmann, der hauptsächlich im Auftragsverhältnis für größere Häuser arbeitete, war beträchtlich. Die persönliche Nähe war dafür umso größer, und die Familie Locher wohnte zeitweise sogar in von Schönaus Haus. Die Freundschaft war eng und überdauerte ernsthafte theologische Differenzen und auch eine längere räumliche Trennung, während von Schönau sich vorübergehend in der labadistischen Gemeinschaft in Friesland auf hielt. Das persönliche Band war so stark, dass Locher sich zum Ziel setzte, den Junker zurück nach Zürich zu holen. Zu diesem Zweck scheute er keine Mühe und reiste selbst in die Niederlande, um den Freund dort persönlich abzuholen und nach Hause zu begleiten. Eine weitere asymmetrische Männerfreundschaft, die Locher mit dem jungen Johann Heinrich Bodmer pf legte, war nun nicht vom Stan133 Ebd., S. 941 f. (Verhör mit Rathgeb, 15. Sept. 1717), u. S. 950. (Verhör mit Rathgeb, 17. März 1718.) 134 St AZ E I 8.2, Akte vom 12. März 1718; E II 56, S. 972. 135 Rasch, Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung; Mittner, Freundschaft und Liebe in der deutschen Literatur, S. 98–101.

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desunterschied geprägt, dafür vom Gefälle zwischen Lehrer und Schüler. Bodmer, der Wortführer der zweiten Generation, bezog sein weltanschauliches und theologisches Grundwissen zu einem großen Teil bei Locher. Als Gegenleistung warnte der junge Großrat zu Beginn des Pietistenprozesses von 1698 seinen Lehrmeister vor der bevorstehenden Beschlagnahmung seiner Bibliothek, was Bodmer selbst in den Strudel der Untersuchungen zog. Von Bodmer gingen wiederum Freundschaftsverhältnisse aus, welche die pietistische Bewegung der zweiten Generation zusammenhielten. Aus soziologischer Sicht interessant sind die freundschaftlichen Kontakte, die das Zürcher Standeshaupt mit einfachen Landleuten unterhielt. Bodmer, der in der politischen Hierarchie des Zürcher Stadtstaates gleich nach den beiden Bürgermeistern rangierte, empfing im Obmannamt Mitglieder der pietistischen Familie Weidler aus Oberstrass und ein einfaches »Meitli« (Mädchen) aus Wallisellen. Der viel beschäftige Spitzenpolitiker nahm sich Zeit, seinen gleichgesinnten Gästen die Klosteranlage zu zeigen. Bei Johann Heinrich Bodmer verkehrte eine Vielzahl einfacher niederer Landleute mit pietistischem Hintergrund. In seinem Landhaus in Meilen gewährte er der Inspirierten Elisabetha Künzli Obdach und scheute selbst den Umgang mit Landstreichern nicht. Ebenfalls eine enge Freundschaft pf legte Bodmer mit dem Riedmüller Rathgeb aus Dietlikon. Dieser kam oft nach Zürich, den Obmann zu besuchen. Eine solche ungleiche Freundschaft mutete damals suspekt an: In einem Verhör zeigten sich die Examinatoren sehr erstaunt über den engen Umgang, den Bodmer mit dem viel tiefer gestellten Dietliker Müller pf legte. Nach diesem die Standesregeln verletzenden Verhalten befragt, antwortete Bodmer kurz und bündig: Er schäme sich nicht, mit einem guten Christen von gleich zu gleich (»del pare«) zu stehen.136 Die Antwort ist bezeichnend. Die unter Pietisten gepf legten Freundschaften konnten sich über das soziale System der Ständegesellschaft hinwegsetzen und erhoben das »wahre Christentum« zur alternativen und ständeübergreifenden sozialen Distinktion. Diese Abgrenzung der Pietisten gegenüber der übrigen Gesellschaft wurde in den Verhören seitens der Obrigkeit immer wieder beargwöhnt; die Pietistinnen und Pietisten wurden als selbstgefällige oder scheinheilige Heuchler abgestempelt und ausgegrenzt.137 Bodmer wird beispielsweise im Verhör vom 10. Juli 1721 massiv kritisiert, weil er mit einer Reihe von Pietisten aus dem gemeinen Volk, trotz Verbot, freundschaftlich verkehrte. Er wolle seinen Umgang mit frommen Leuten nicht ändern, beharrte der Kritisierte. Besonders die freundschaftlichen Kontakte zur Inspirierten Elisabetha Künzli aus Winterthur war der Obrigkeit ein Dorn im Auge. Anstoß nahmen 136 137

St AZ , E I 8.1, 1716, S. 16. St AZ , E I 8.2, Akte vom 12. Juli 1721.

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die Examinatoren offenbar, weil die Pietisten ein soziales Beziehungsnetz pf legten, das gesellschaftliche Normen sprengte: Warum die Künzli nur mit wiedergeborenen Menschen verkehre, wollten die Examinatoren wissen. Und Bodmer antwortete: Es sei nichts Außergewöhnliches, mit Leuten desselben »goût« zu verkehren. Er beschwichtigt aber sogleich und will die Gemeinschaftsbildung zwischen Menschen mit derselben Weltanschauung und Lebenseinstellung nicht als Absonderung verstanden wissen: sie – die Pietisten – würden aber die andern Menschen nicht verachten.138 Es scheint, dass die Obrigkeit nicht bloß ein abweichendes religiöses Verhalten, sondern auch ein alternatives soziales Beziehungssystem als bedrohlich empfand. Die Entwicklung des Freundschaftsdenkens ist nur schlecht erforscht. In den wenigen soziologischen und (literatur-)historischen Arbeiten wird diese Entwicklung in den Zusammenhang mit der neuzeitlichen Individualisierung und dem Zerfall der ständischen Ordnung gestellt.139 Für Friedrich H. Tenbruck wird Freundschaft erst dort möglich, wo Freiwilligkeit gegeben ist. So entwickle sich der persönliche Bund zwischen Freunden zur primären Form sozialer Beziehungen, die auf der freiwilligen Verbindung von Gleichgesinnten beruht. Freundschaft als private, gesellschaftlich nicht geregelte Wahl setzt wiederum Individualität voraus. Gestützt auf Wolfdietrich Rasch vertritt Tenbruck die These, dass der Freundschaftskult mit dem Zerfall der barocken korporatistischen Gesellschaftsordnung einher gehe. Die freie Wahl der sozialen Beziehungen wird dort wichtig, wo der Mensch des 18. Jahrhunderts sich stärker als Individuum empfindet und aus dem sozialen Gefüge heraustritt und sich nicht mehr allein mit seiner gesellschaftlichen Gruppe und seinem Stand identifizieren kann.140 Michael Maurer erblickt in der Freundschaft eine wichtige Form bürgerlicher Geselligkeit und spiegelt die religiöse Rhetorik im frühbürgerlichen deutschen Freundschaftskult auf die pietistischen Anfänge zurück.141 Und Tenbruck stellt diese in den Zusammenhang eines umfassenden gesellschaftlichen Veränderungsprozesses: »In dieser Situation nun, in der die gegebenen sozialen Beziehungen und Rollen nicht mehr zur Orientierung des Individuums in der ganzen Breite seines Handelns ausreichen, werden die persönlichen Beziehungen wichtig und wird unter ihnen insbesondere 138

Ebd. Einen Überblick über die Forschung gibt Meyer-Krentler, Freundschaft im 18. Jahrhundert, S. 1–22. Eckhardt Meyer-Krentler bemerkt quellenkritisch, dass sich die Forschung primär auf literarische Quellen stützt, die aber keineswegs eine breit abgestützte Mentalität spiegeln müssen. Über Freundschaft im Alltagsverhalten wissen wir dagegen fast nichts, weil die sozialgeschichtlichen Quellen fehlen. Sein Versuch, aus Gerichtsakten mehr über das Freundschaftsverhalten zu erfahren, scheiterte. 140 Tenbruck, Freundschaft, S. 437 f. 141 Maurer, Die Biographie des Bürgers, S. 305–314. 139

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die Freundschaft wichtig.« Freundschaft wird so zu einem gegenseitigen Spiegeln der eigenen Individualität, zu einem gegenseitigen Verstehen und Teilen einer geistigen und seelischen Beziehung.142 Eine solche enge Freundschaft bestand beispielsweise zwischen Johann Heinrich Bodmer und dem neun Jahre jüngeren Johann Kaspar Escher. Noch 32 Jahre nachdem die Freundschaft jäh zerbrochen war, erinnert sich Escher in seiner Autobiographie in den besten Tönen an seinen einstigen Weggefährten und widmet ihm zwanzig Seiten. Kritik am Obmann gemeiner Klöster lässt er einzig dort auf kommen, wo er Bodmers kompromisslose Haltung beschreibt, die zum Bruch zwischen den beiden führte. Wie vertraulich die Freundschaft war, beschreibt Escher am Beispiel des Zweiten Villmergerkrieges. Bodmer, der den Oberbefehl über die Zürcher führte, soll sich von seinem Umfeld abgeschottet haben und die einzige Person, die er als Ratgeber und Gesellschafter willkommen hieß, war Johann Kaspar Escher. Als die Truppen im Knonauer Amt vor Zug im Feld lagen, richtete er es so ein, dass sein Freund so oft wie möglich in seiner Nähe bleiben konnte.143 Johann Kaspar Escher betonte deutlich, dass es sich bei seiner Beziehung zu Bodmer um einen neuen Typus von Freundschaft handelte: Von A°. 1704 biß 1712. hab viel Zeit mit Ihme nur möglich zu gebracht, Es war zu lezt schier keintwederen [= weder dem einen noch dem andern] wohl, wan wir nit bey einandern waren; diß aber hatte gar keine inf luenz über wahlen, oder andere interesse, sonder nur über unsern eigen Gemüths ver[g]nügungen.144

Escher grenzt sich hier deutlich ab von einer Freundschaftskultur, die als klientelistisch bezeichnet werden könnte, und sich im politischen Alltag der Ständegesellschaft in Gaben geben oder Praktizieren äußerte. Den beiden ging es, nach der Darstellung des Autobiographen, nicht darum, ein Bündnis zu schmieden zur gegenseitigen Absicherung und Mehrung der Machtposition; ihre Freundschaft war eine Angelegenheit des Herzens. Hier trafen sich zwei Gleichgesinnte, deren Weltanschauung in der pietistischen Frömmigkeit fußte. Doch das gegenseitige erbauliche »Gemütsvergnügen« war keineswegs apolitisch. Die beiden teilten nicht nur die pietistische Religiosität, sondern leiteten daraus auch einen Willen zu politischen Veränderungen ab. Sie bildeten geradezu ein politisches Kampf bündnis, wenn es darum ging, die Kirche und die Ausbildung der Theologen zu reformieren. In ihrer Freundschaft verfolgten die beiden Pietisten sehr wohl politische Ziele. Escher unter142

Tenbruck, Freundschaft, S. 440 ZB Zürich FA v. Wyss III 116 [BM Hans Kaspar Escher d. J. Autobiographie. Aug. 1745], 4. Teil, S. 25 f.; Wyss, Lebensgeschichte Johann Kaspar Eschers Bürgermeisters der Republik Zürich, Zürich 1790, S. 46 [St AZ Da 700]. 144 ZB Zürich FA v. Wyss III 116 [BM Hans Kaspar Escher d. J. Autobiographie. Aug. 1745], 4. Teil, S. 23. 143

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stützte beispielsweise die Wahl Bodmers zum Zunftmeister tatkräftig. Wenn Escher seine Beziehung zu Bodmer darstellt als frei von Wahlbeeinf lussung und persönlichen Interessen, so grenzt er sie ab gegen politische Kungelei. Seine politischen Motive sind der Idealismus und der Reformwille. Dies war der Kitt der Freundschaft und daran zerbrach sie endlich auch. Wie Johann Heinrich Bodmer sein religiöses Empfinden, seine persönlichen Erfahrungen und politischen Hoffnungen auf seinen Freund projizierte, dokumentiert der Brief vom 18. Februar 1713. Escher weilte damals als Zürcher Delegierter am Reichstag in Regensburg, wo über die Friedensmodalitäten bezüglich des Thurgaus verhandelt wurde. Hintergrund des Schreibens ist eine diplomatische Intrige, die beinahe zu Eschers Abberufung durch Zürich – auf Druck der Berner hin – geführt hätte.145 Nach Regensburg schrieb Bodmer: La Providence Adorable vous fait naistre des accidents singuliers p[our?] avoir lieu de metre au jour les precieuses graces qu’il a mis dans v[ot]re ame; En effect la demarche Bernoise me passe, et co[m]e elle est dure, elle est sensible, lisez Ps 55:13:14 Math: 10:36 – Je ne doute pas que vous ne puisiez bien des consolations de la Divine Fontaine Ps: 12:3 capable de recreer l’Esprit Ps: 94:19. remarquez n[ot]re sort dans le Ps. 71:20. | Je compare v[ot]re Deputation souvent a ma Commission de l’annèe passèe, co[m]e l’une & l’autre est scabreuse, elles conviennent dans le but qu’ avait Saul en donnant La Fille Michal a David 1 Sam: 18:21. mais co[m]e Dieu m’assista visiblement qu’il furt mon Bouclier & mon Guide Ps: 32: Vous experimenterez la meme chose, en sorte que les Ennemis n’auront pas lieu de dire Aha Ps: 35:21. au contraire toutes les Persones de Probitè, | d’honneur, & de bon sens, admirent v[ot]re Activitè, vigueur, & Generositè. ils soupirent avec moi après v[ot]re retour, le quel ie vous recommande vivement. Au reste la confusion continue, on marche touj[ours] dans les lieus hideux, ou il n’y a pas at de Chemin Ps:107.40 faute de principes & de vertu. N[ot]re Ami Docteur est de nouveau appelle p[ar] M. Leibniz ie temoigne serieusem[en]t de l’inclination d’accepter le parti.146

Bodmer leitet den Brief mit einem Bezug auf den pietistisch motivierten Providenzglauben ein. Er verweist auf die religiöse Gemeinsamkeit aber zugleich auch auf das nach außen hin Abgrenzende, auf das, was die Freundschaft erst intim und einzigartig macht. Er stellt so gleich eingangs den gemeinsamen Erfahrungshorizont und das Interpretationsmuster her, wie die im Brief diskutierten Ereignisse gedeutet werden sollen. Diese Intimität liegt – Ps 71.20147 zitierend – im gemeinsam erfahrenen Wiedergeburtserlebnis, mit dem die Herausforderungen gemeistert werden. Das 145

Wyss, Lebensgeschichte Johann Kaspar Eschers, S. 76–100, i. b. S. 90. ZB Zürich FA v. Wyss III 101a (Brief Johann Heinrich Bodmers an Johann Kaspar Escher, 18. Feb. 1713). 147 Du ließest mich viel Angst und Not erfahren. Belebe mich neu, führe mich herauf aus den Tiefen der Erde! (Neue Jerusalemer Bibel). 146

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erlaubt nun, dass sich Bodmer in seinem Freund spiegeln kann: Er vergleicht seine eigene Situation, als er zum Oberbefehlshaber ernannt worden war mit der heiklen Aufgabe Eschers in den Friedensverhandlungen und mit der Intrige, in die dieser verstrickt wurde. Bodmer, dem populären Außenseiter und Reformer, war vor Jahresfrist das Kommando in der Hoffnung erteilt worden, dass er an dieser Aufgabe scheitern würde; und auch Eschers Aufgabe wird damit erschwert, weil der bernische Bündnispartner auf die Intrige einstieg und von Zürich die Abberufung ihres Unterhändlers in Regensburg verlangte. Bodmer sieht sich und seinen Freund mit Ps 107.40 als Kämpfer in höherem Auftrag gegen eine verirrte Gesellschaft ohne Tugend und Prinzipien. Abschließend kommt Bodmer auf einen gemeinsamen Freund, den »Ami Docteur« zu sprechen. Gemeint ist hier Johann Jakob Scheuchzer, der wie Bodmer und Escher an den engen Verhältnissen im orthodox-patriarchalen Zürich litt und sich von Leibniz über eine mögliche Anstellung als Leibarzt des russischen Zaren bei Laune halten ließ.148 Die Freundschaft zwischen Bodmer und Escher bildete offensichtlich den Kern einer ganzen Freundschaftsgruppe. Anhand der Briefe, die Escher wechselte, können folgende Personen dazu gerechnet werden: Neben Johann Jakob Scheuchzer, der mit Bodmer zusammen 1713 die Burgerunruhen leitete, können wir den Landschreiber Gwerb und den Landvogt Johann Heinrich Füssli zu diesem Kreis zählen.149 Die Freundschaft zwischen den beiden pietistischen Reformern zerbrach an der politischen Radikalisierung Johann Heinrich Bodmers nach dem Zweiten Villmergerkrieg. Er versuchte offensichtlich, seine große Popu larität auszuspielen und griff Ende August die verkrusteten politischen Strukturen in der Person des Amtsbürgermeisters Holzhalb an. Escher fehlte in der Ratssitzung, versuchte aber auf Geheiß seines Vaters, des zweiten Bürgermeisters, am Nachmittag mäßigend auf seinen Freund einzuwirken. Dieser verschloss sich jedoch den Vermittlungsbemühungen und verlangte bedingungslose Parteinahme. Wortlos trennten sich die beiden. Am Abend überreichte ein Klosterdiener Escher ein Billet mit der 148

Kempe, »Schon befand ich mich in Russland…«, S. 288. Das folgende Gespräch über politisch brisante, dissidente Ansichten zwischen Johann Heinrich Füssli und Johann Heinrich Bodmer soll das enge freundschaftliche Vertrauensverhältnis dokumentieren: Schultheiß Fries berichtet der Pietistenkommission von einem Gespräch zwischen Füssli und Bodmer. Der Denunziant sagt, dass Bodmer »viel geredet habe von einer neuen ökonomia in der Kirche, die sich schon eüssere und noch mehr eüsseren werde mit einer allgemeinen revolte in der Kirchen, da es dan schon beßer werden werde; auf die objection [= den Einwand Füsslis], es zeige auch nit vil, sagte er, man wüße hier nit, was in teütschland geschehe, es gehe ja von Ronnenburg leüth in die welt aus, die gegen alle oppositionen helden sejen, gegen denen sej er ein kind […]. Hr. Landvogt Füßli aber habe alles defendieren [= gegenüber Fries abstreiten] wollen.« St AZ E II 56, S. 977 (20. Mai 1718). 149

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Abbildung 1: Erste Seite von Obmann Bodmers Brief an seinen Freund Johann Kaspar Escher in Regensburg vom 18. Februar 1713. [ZB Zürich FA v. Wyss III 101a]

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kurzen Mitteilung: »Augustine Surge et Lege Liber Esther cap. IV. 13:14. Bodmer«150 Escher entgegnete darauf mit Spr 16.1–12, was ihm in der Ratsversammlung am folgenden Tag den anerkennenden Respekt Bodmers für die schlagfertige Antwort eintrug. Das sich gegenseitige Spiegeln, der bedingungslose Gleichklang des »Gemüths« als Grundlage der Freundschaft war aber dahin. Der zitierte Brief zeigt in aller Deutlichkeit, wie der neue Glaube und die daraus abgeleitete Lebensaufgabe als etwas Besonderes und Einzigartiges die Grundlage für eine intime Freundschaft bildet. Die individuelle Wahl einer abweichenden Frömmigkeitsform und die damit einhergehende tendenzielle Absonderung sind verschränkt mit der freien Wahl der Beziehungen. Was durch Opposition und teilweise Absonderung an sozialer Einbettung nicht mehr in der hegemonialen Gesellschaft gefunden werden kann, wird in der »Seelenverwandtschaft« Gleichgesinnter kompensiert. Die pietistische Sehnsucht nach Gott bedingt auch eine Sehnsucht nach intimer Freundschaft. 1.3.2.3 Pietistische Buchkultur Die neue Form sozialer Beziehungen, die sich nicht mehr bloß entlang familiärer und ständegesellschaftlicher Verbindungen entwickelte, sondern sich darüber hinaus entlang gemeinsam geteilter, oppositioneller religiöser, moralischer und weltanschaulicher Überzeugungen entfaltete, kann anhand der Buchkultur des Pietismus dargestellt werden. Der Pietismus entwickelte auch unter wenig Gebildeten eine große Affinität zu Büchern. Das mag vorerst erstaunen, denn die spiritualistische Hermeneutik hält wenig vom Bücherwissen. Jakob Böhme meint beispielsweise in der zweiten Schutzschrift wider Tilken, wer das Buch in sich lese, der sei gelehrt genug.151 Das Übrige sei »Babel und Fabel«. An dieser ambivalenten Haltung kann man aber in erster Linie die Opposition zum hergebrachten theo150 ZB Zürich FA v. Wyss III 116 [BM Hans Kaspar Escher d. J. Autobiographie. Aug. 1745], 4. Teil, S. 32 ff. Die Nachricht lautet: Mordechai ließ Ester erwidern: Glaub ja nicht, weil du im Königspalast lebst, könntest du dich als einzige von allen Juden retten. Wenn du in diesen Tagen schweigst, dann wird den Juden anderswoher Hilfe und Rettung kommen (Neue Jerusalemer Bibel). 151 Böhme, APOLOGIA II | contra BALTH. TILKEN, | oder | Die Zweyte Schutz = Schrift, | wieder | Balthasar Tilkens, eines Schlesischen von | Adel, angeklebte Zedelchen über einige Puncte, im | Buch von der Menschwerdung JE su | Christi angefochten. | Handelnde von dem ewigen Vorsatz und Gnaden=|Wahl GOttes, | Wie auch von der Menschwerdung und Person | Christi, und von Maria der Jungfrauen. Geschrieben im Jahr 1621, 1730 [Nachdruck: Will-Erich Peuckert (Hg.), Stuttgart 21958], S. 304. »Gott hat sein Hertz mit seinem Leben in uns gesendt, darinnen alles stehet geschrieben: Wer das Buch in ihme lieset der ist gelehrt genug; das ander ist Babel und Fabel, daß einer will im Buchstaben ausser ihme gelehrt seyn, ehe er sein eigen Buch kann lesen: Lese er vorerst seines, so wird er in seinem eigenen Alles finden, was die Kinder GOttes geschrieben haben.«

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logischen Wissen ablesen, sowie das Bedürfnis, ein neues Weltverständnis aufzubauen: Und das geht nur mit neuen Büchern.152 Das Buch wird somit zum Träger der neuen Weltanschauung. Die hohe Buchkultur im Pietismus spiegelt die neue Funktion des Buches als gemeinschaftsstiftendes Element (in der Absonderung).153 Die Verbreitungswege der Traktate erfolgten entlang des ideologiegeleiteten Beziehungsnetzes. Die Kontaktpf lege aufgrund gemeinsam geteilter oppositioneller Weltanschauung kann anhand der Verteilung des sogenannten Milch=Kinds nachgezeichnet werden. Ja, für die Obrigkeit selbst wurden die Verbreitungswege des Traktates zur wichtigsten Fährte, um dem pietistischen Beziehungsnetz auf die Schliche zu kommen. Das Milch=Kind154 ist nicht bloß eine von vielen Schriften, die unter den Zürcher Pietistinnen und Pietisten verkauft oder verteilt wurden. Es ist diejenige Schrift, die mit Abstand am meisten in den Akten erwähnt wird; kein Traktat war unter der zweiten Pietistengeneration so beliebt wie dieser. Heinrich Schmied beispielsweise rühmte auf der Gemüsebrücke das Milch=Kind und nahm den Mund zu voll: »in Zürich gebe es keinen Pfaffen der ein Milchkind verfassen könne«. Für diese Äußerung musste er sich unter obrigkeitlichem Zwang bei der Geistlichkeit entschuldigen.155 Unter weniger Gebildeten fand der Traktat besonders Anklang.156 Es war so beliebt, dass der orthodoxe Theologe Johann Jakob Hottinger sich veranlasst sah, gegen dieses kleine Werk eine Gegenschrift zu verfassen.157 152 Schrader, Probleme der bibliographischen und editorischen Erschließung pietistischer Literatur,, S. 83–111; ders., Literaturproduktion und Büchermarkt des Pietismus, S. 283. 153 Zur Rolle der Erbauungszeitschriften für eine spezifische pietistische Kommunikationskultur vgl.: Lächele, Die »Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes«, i. b. Kap. 5 u. 6. 154 Kurtzer und einfaltiger | Bericht/ | von dem kräfftigen | Zug und Gang | der Gnaden | Oder | Wie GOtt in Christo | sein Gnadenwerck durch den | H. Geist in der Seelen anfange | fortsetze und zum Ende bringe. | Gegründet auf GOttes Wort/ | und die tägliche Erfahrung. | Durch Frag und Antwort den | Anfängeren des Christenthums vorge=|stellt und getreulich anbefohlen/ von | einem der sich in der Gnad nicht | höher schätzt als ein | Junges Milch=Kind, Zürich 1713 [ZB Zürich Gal XVIII 396]. Thomas Hanimann vermutet gestützt auf St AZ E I 8.5, 1719 den Berner Pietisten Johannes Müller, Vikar in Belp, als Autor des Milch=Kinds. Siehe: Hanimann, Zürcher Nonkonformisten, S. 178 f., Anm. 491. – Das Kryptonym JM ( Junges Milch=Kind) deutet ebenfalls auf Johannes Müller als Verfasser. 155 St AZ E I 8.1, 25. September 1716. Studer, Der Pietismus in der Zürcherischen Kirche, S. 145. 156 Hanimann, Zürcher Nonkonformisten, S. 179. 157 Hottinger, Die unverfälschte Milch | der Christlichen Lehr | Von der | Seligmachenden | Gnad Gottes/ | Dero Beschaffenheit/ Nothwen=|digkeit/ Ursprung/ Anfang/ Wachs=|thum/ Mittlen/ | Auß | Heiliger Schrift verfasset | Durch einen | Der heiligen Wahrheit und der | wahren Heiligkeit bef lissenen/ | Zu | Unterweisung der Unwissen=|den/ zu Stärkung der Schwachen/ | zu Widerweisung und Aufweckung | der Jrrenden und annoch | f leischlich Gesinneten, Zürich 1716 [ZB Zürich VI 430a].

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Das Milch=Kind wurde so etwas wie das Glaubensmanifest des Zürcher Pietismus der zweiten Generation. Inhaltlich ist es eine in Fragen und Antworten gehaltene komprimierte Darstellung der verinnerlichten spiritualistischen Frömmigkeit. Im Verhör vom 14. Juli 1716 lobte Johann Heinrich Bodmer den Traktat und verteidigte diesen gegen die Meinung der Examinatoren. Er beteuerte, es enthalte auch viel Gutes und weise dem Menschen den Weg zur Bekehrung. In diesem Verhör musste der Buchhändler zudem gestehen, dass er das Büchlein nachgedruckt hatte, ohne es vorgängig der Zürcher Zensurbehörde vorgelegt zu haben; er entschuldigt sein Verhalten als administrative Nachlässigkeit und verweist darauf, dass der Traktat bereits früher in Bern und Basel gedruckt und verkauft worden sei. Was er aber hartnäckig für sich behalten wollte, war die Auf lagezahl.158 Bodmer war nicht bloß eine zentrale Figur des Zürcher Pietismus, in seiner Buchhandlung lag auch das Milch=Kind zum Kauf aus. Von dort aus wurde es verbreitet. Die Näherin Regula Albrecht [1] gestand im Verhör vom 12. Mai 1718, sie hätte das Milch=Kind bei Junker Schneeberger gesehen, wo sie die Konventikel besuchte, und sei neugierig darauf geworden, weshalb sie es dann in der Bodmerschen Buchhandlung erstanden habe.159 Auch Jakob Hardmeier [50] aus Zumikon kaufte es sich.160 Sämtliche Käufer des Milch=Kinds bei Bodmer konnte die Obrigkeit nicht mehr rekonstruieren. Doch der Traktat wartete nicht bloß geduldig auf eine Käuferschaft, er wurde aktiv unter die Frommen gebracht. Barbara Rathgeb [132] erhielt das Milch=Kind von David Ziegler [211] im Wirtshaus in Wallisellen, wo sie ein Konventikel besuchte, und der Riedmüller über die Wiedergeburt sprach.161 Felix Herrliberger [55] zog erstmals den Verdacht des Pietismus seitens der Obrigkeit auf sich, als er bei Bodmer mehrere Exemplare des Milch=Kinds kaufte und diese auf der Landschaft verteilen ließ.162 Wichtigster Mittelsmann, damit die Erbauungsschrift Gleichgesinnte auf dem Land erreichte, war Jakob Rathgeb. Johann Heinrich Bodmer gab ihm 12 bis 18 Exemplare, damit dieser sie verkaufe oder verschenke.163 Durch den Riedmüller empfingen beispielsweise Jakob Benz [5] in Rumstal, die Familie Weidler [191–195] oder Heinrich Lindinner [88] den Traktat. Die Pietistenkommission zählte zur Leserschaft des Milch=Kinds weiter Anna Barbara von Muralt [108], Adelheid Weber, Müllersfrau in Trichten158 St AZ E I 8.1, 14. Juli 1716. Vgl.: Studer, Der Pietismus in der Zürcherischen Kirche, S. 137; Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des Pietismus, S. 265 f. 159 St AZ E I 8.2, 21. Mai 1718; St AZ E II 56, S. 972. 160 St AZ E I 8.3, Nr. 36. 161 St AZ E I 8.1, 13. Juli 1716; St AZ E II 56, S. 844. 162 St AZ E II 40, 4. März 1716. 163 St AZ E II 56, S. 845 (Verhör mit Jakob Rathgeb vom 13. Juli 1716). Vgl.: Studer, Der Pietismus in der Zürcherischen Kirche, S. 140.

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hausen [190] und Daniel Hintermeister [57], einen Bauern aus Elsau, der sich beim Riedmüller mit pietistischer Literatur versorgte. Ohne hier die Quellen systematisch nach der Verbreitung und den Verbreitungswegen des Milch=Kinds abzusuchen, kann davon ausgegangen werden, dass der Traktat aus Bodmers Druckerei beinahe die gesamte pietistische Bewegung in der Zürcher Herrschaft in den Jahren zwischen 1713 und 1716 erreichte und dass ihm ein konstitutiver Charakter für die Bewegung bezüglich Inhalt und Zugehörigkeit beigemessen werden kann. Ähnlich wie das Milch=Kind hatte auch das Himmelsblüemli gemeinschaftsstiftende Funktion; es wurde ebenfalls als Grundlagenwerk einer heterodoxen Weltanschauung mehr oder weniger klandestin entlang des pietistischen Kontaktnetzes ausgeteilt.164 Diese Schrift wurde – diesmal durch Josef Lindinner [89] – ebenfalls ohne Druckerlaubnis der Zensurbehörde verlegt. Die Schrift lässt sich anhand des volkstümlichen Namens nicht bibliographieren. Laut dem Gutachten der Zensoren vom 6. April 1718 handelt es sich um einen Auszug aus dem Cherubinischen Wandersmann.165 Die Zensurkommission kommt in ihrem Urteil zum Schluss, dass »darin vil der rechtsinnigen Gotsgelehrtheit zuwider laufendes, hingegen auf das prätendierend innwendig Wort der Enthusiasten und Weigelianische Vergöterung abzielendes angetroffen« worden sei.166 Mit dem Druck des Himmelsblüemli verfolgte Lindinner offensichtlich nicht unmittelbar ökonomische Interessen: Die Schrift wurde teilweise verkauft und teilweise durch Josef Lindinner, Bodmer, Rathgeb und Melchior Koch verteilt. Folgende Personen wurden seitens der Pietistenkommission anhand der Lektüre des Himmensblüemli überführt: Hans Jakob Fischer [23], Anna Barbara von Muralt [108], Familie Weidler [191–195], Adelheid Weber [190], Jakob Hardmeier [50] und Christoph Balber [2].167 164

Zum pietistischen System des parallelen Büchermarktes und der missionarischen Bücherverteilung: Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des Pietismus, S. 259– 267. 165 St AZ E I 8.3, 6. April 1718. Denkbar ist ein Nachdruck oder Auszug aus der pietistisch gefärbten Ausgabe von: Johannis Angeli Silesii, Cherubinischer Wanders=Mann […] denen Liebhabern der geheimen Theologie […] Anjetzo mit einer Vor=Rede herausgegeben/ Von Gottfried Arnold, Frankfurt/M. (David Zunner) 1701. Vgl.: Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus, S. 486, Anm. 30. Im Verhör vom 10. Mai 1718 berichtet der Buchdrucker Josef Lindinner, er habe das Himmelsblüemli von einem ihm unbekannten Kerl aus der Grafschaft Kyburg erhalten. Er habe 100 Stück davon nachgedruckt und die Erlaubnis dazu von Landvogt Kaspar Escher erhalten. St AZ E II 56, S. 967. Hedwig Strehler meint, das Himmelsblümli habe Beat Holzhalb verfasst und sich dabei vieler Verse von Angelus Silesius bedient. Vgl.: Strehler, Beiträge zur Kulturgeschichte der Zürcher Landschaft, S. 77 f., Anm. 10. Siehe auch: von Wartburg-Ambühl, Alphabetisierung und Lektüre, S. 188, Anm. 96. 166 St AZ E I 8.3. 167 Ebd.

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Noch eine Reihe anderer Werke wurden nach demselben Muster in den pietistischen Zirkeln herumgereicht und ausgeteilt – jedoch nicht mehr in derselben Intensität wie die beiden bei Bodmer und Lindinner nachgedruckten Schriften. Der Riedmüller verteilte in seinem Umfeld Traktate, die er bei Bodmer einkaufte: Dem Siegrist in Kloten gab er eine Dublette von Eins und alles168 , das Zweite ging an ein »meitlj« aus Baltenswil; Ursula Matzinger [97], die Krämerin in Wallisellen, erhielt das Wahre Christentum von Arndt und Frau Naef den Traktat Wandle lieb.169 Weiter erwähnt das Protokoll der Pietistenkommission noch einen weiteren Traktat, die Geistliche Himmelsleiter, den die Familie Weidler [191–195] von der Magd im Guggernschürli [109] erhalten haben soll.170 Für neue Aufregung sorgte ein weiterer in Zürich nachgedruckter Traktat. Am Freitag, dem 28. Oktober 1718, wird Josef Lindinner ein weiteres Mal zum Verhör geladen. Ihm wird zur Last gelegt, er habe den Traktat Cardinal Alberoni ohne Druckerlaubnis durch die Examinatoren ediert. Der Buchdrucker widerspricht dieser Anschuldigung und gibt interessante Einblicke ins Funktionieren der Zensur. Er berichtet, dass vor etwa vierzehn Tagen der Ladendiener der Bodmerschen Buchhandlung bei ihm erschienen sei und ihm unter vier Augen ein Geschäft angeboten habe. Obmann Bodmer habe aus Frankfurt einen Traktat erhalten, den nun Lindinner unter seinem Namen den Zensoren vorlegen solle. So könne er mit einem Pfennig pro Traktat mitverdienen. Lindinner sandte das Manuskript an die beiden weltlichen Mitglieder der Zensurkommission, an Zunftmeister Hofmeister und Füssli, die den Text mit wenigen Korrekturen zum Druck freigaben. Lindinner wirkte hier als Strohmann für Bodmers pietistische Buchproduktion. Es scheint, dass Bodmer als Nachfolger von Froschauer, der ältesten Druckerei in Zürich, seine Privilegien, d. h. die Staatsaufträge, nicht gefährden wollte.171 Für ein solches Vorgehen hatte Bodmer gute Gründe. Nicht allein das Milch=Kind brachte seine Buchdruckerei bei der Obrigkeit in Misskredit. Auch Johann Heinrich Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen erregte die Aufmerksamkeit der Pietistenkommission: Die Sammelbiographie zirkulierte ebenfalls in pietistischen Zirkeln und wurde in Konventikeln eifrig diskutiert; Bodmers Buchhandlung wurde als Ort identifiziert, von wo aus die Schrift in Umlauf gesetzt wurde. Johann Heinrich Bodmer beteiligte sich an der Finanzierung und Distribution der dritten Auf lage, indem er einen Teil der 168 Vgl.: St AZ E I 23.1 [Zensurakten]. Ratserkenntnis vom 17. November 1717, wonach die Examinatoren das Eins und alles auf Heterodoxes prüfen sollen. Laut Rathgeb wurde der Traktat in Bern und Basel gedruckt. Siehe unten. 169 St AZ E II 56, S. 941 (Verhör Rathgebs vom 15. September 1717 durch den Obervogt). 170 Ebd., S. 850 (Verhör mit Fam. Weidler vom 21. Juli 1716). 171 St AZ E I 23.1, Akte vom 28. Oktober 1718.

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Auf lage subskribierte. In einer Zusammenstellung mehrerer Verhöre mit Obmann Bodmer aus dem Jahr 1716 wird er gefragt, Ob Er auch etwas an die Stüren u. zur Beförderung des Truks des Reitzens Histori der Widergebohrenen gegeben? Ob er auch ein Exempla empfangen? [Antwort Bodmers:] Wünsche mehrers an die Stüren gegeben zuhaben: Was wegen der Reitzens Historj geschehen, habe solches seine Frau qua Kauffman gethan, und wüsse nicht ob aussert den zwey Exempl. so seine Fr. und Tochter haben mehrere bey handen. [Frage:] Nach seiner Aussag habe Er gesteuert das Reitzen-Buch u. wolle doch nur 2 Exempl. davon haben, wie das komme? [Antwort:] Achte sich der Handlung nit groß, indessen wen man von den ersten Exemplaren haben wolle, müsse das Gelt vorher geschossen werden; Das Buch selbsten habe Er zuvor nie gesehen noch gekant, andest das Hhr Cammerer von Uetikon Ihme solches geliehen, so Er ohne völlig zulesen, wider zuruk gegeben.172

So richtig glauben wollten ihm die Examinatoren nicht. Die Ausf lüchte, seine Frau habe sich aus rein ökonomischem Interesse finanziell am Druck der vierteiligen Neuauf lage von 1716 beteiligt, und er selbst befasse sich als vielbeschäftigter Spitzenpolitiker nur am Rande mit seinem Geschäft, war nur wenig glaubhaft. Gegen Bodmer sprach auch das Geständnis von Johann Jakob Rathgeb. Er gab zu, seine Bibliothek – bis auf wenige Ausnahmen – in Bodmers Buchhandlung erstanden zu haben. Er sagte im Verhör vom 20. Juli 1716 aus, dass er jedesmal, wenn er in den Laden von Bodmer kam, nach guten pietistischen Büchern gefragt habe. So sei er zu seiner heterodoxen Bibliothek gekommen. Neben Reitz Historie Der Wiedergebohrnen kaufte er unter anderem Petersen, Stimme auß Sion, 1696; Theodor à Brakel, Staffel des geistigen Lebens, 1698, das Bodmer als ein erbau liches und herrliches Buch bezeichnete; Pfanner, Bedenken über Roßenbachen, 1707; Gichtel, Erbauliche Theosophische Sendschreiben, 1710; Daut, Helle Donner=Posaune über der Röm. Kirch, 1710; ders, Fall Babels und Sions Erlösung, 1710; Arnold, Evangelische Reden über die Sonn- und Festtags=Episteln, 1711; Hiel, Heilsame Wegweisung zur wahren Gottselligkeit, 1713; Horche, Philadelphische Versuchungsstund, 1715; Pavangi, UnChristliches Christenthum, 1715; Kaiser, Wahre Absonderung von der falschen Kirche, 1716 und Felgenhauer, Ein Gespräch vom Kirchengehen und Predigt hören. Es handelt sich dabei, wie Hans-Jürgen Schrader ausgewiesen hat, um Schriften, mit welchen auch Johann Jakob Haug, der radikalpietistische Verleger in Idstein und später in Berleburg handelte.173 Zwischen den pietistischen 172

St AZ E I 8.1, 1716 S. 13 – Einfügung am Rand. Ebd., S. 17. Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus, S. 485, Anm. 21. Das Inventar der Bibliothek von Jakob Rathgeb ist abgedruckt in: Hanimann, Zürcher Nonkonformisten, S. 326 ff. 173

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Buchdruckern und -händlern bestand offensichtlich eine enge Zusammenarbeit, um die heterodoxe Literatur außerhalb der traditionellen Absatzwege zu vertreiben. Es etablierte sich ein geschlossener innerpietistischer Spezialmarkt für Bücher, in den Johann Heinrich Bodmer fest integriert war.174 Auch für die erste Pietistengeneration ist das Ineinandergreifen von einem separaten Büchermarkt und neuen sozialen Beziehungsformen augenfällig: Die Schlüsselfigur war Johann Heinrich Locher. Er unterhielt ein weit verzweigtes Kontaktnetz nach den Niederlanden und Deutschland und besorgte sich von dort die neueste radikalpietistische Literatur, die er an seine Gesinnungsfreunde in der reformierten Schweiz, namentlich in Bern, in der Waadt, im Aargau, in Schaff hausen und Zürich, weiterleitete. Die dortigen Abnehmer waren selbst wiederum Multiplikatoren, die die Schriften in den lokalen Pietistengruppen zirkulieren ließen. Basierend auf einer gemeinsamen Lesekultur entstand so besonders im radikalen Pietismus eine Identität zwischen freundschaftlichen Beziehungen und klandestinen Distributionswegen für heterodoxe Literatur. Noch ein weiteres Muster wird ersichtlich: Das pietistische Buch als Stifter neuer Formen von sozialen Beziehungen sprengt nicht bloß die standesgesellschaftlichen Grenzen, sondern auch die geographischen: Freundschaften werden über Tausende von Kilometern hinweg geknüpft und gepf legt. Basierend auf einer geteilten Begeisterung für die Schriften von Jakob Böhme pf legte Locher beispielsweise mit Loth Fischer in Utrecht eine enge Freundschaft, die zugleich auch als Vertriebskanal für in Amsterdam gedruckte philadelphische Schriften diente.175 Ähnlich verhält es sich mit Johann Jakob Schütz. Auf seiner Reise nach den Niederlanden lernte ihn Locher 1686 in Frankfurt persönlich kennen. Diese Freundschaft diente Locher ebenfalls der Bücherbeschaffung. Andreas Deppermann fand Briefe von Schütz an Locher, aus denen ein bemerkenswerter Büchertausch hervorgeht: Locher wandte sich im August 1688 an Schütz mit der Bitte, das soeben erschienene Buch von Heinrich von Schönau, Betrachtungen über die sechs Tage der Schöpfung im Katalog der Frankfurter Buchmesse zu inserieren. Gleichzeitig ging ein Paket mit den Büchern bei Schütz ein. 100 Stück sollten Georg Heinrich Bauer in Kommission gegeben werden. Zudem erhielt Schütz eine Liste mit Büchern, die gegen die Schrift von Schönaus eingetauscht werden sollten. Der Büchertausch entwickelte sich schließlich nicht wie geplant: zum einen verkaufte sich das Buch von Schönaus nicht wunschgemäß und zum andern erschien der Buchhändler Luppius nicht auf der Buchmesse in Frankfurt, 174

Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus, S. 248 u.

485. 175

Siehe Kap. 2.3.1.2.

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Abbildung 2: Titel der umgangssprachlich als Milch=Kind bezeichneten Programmschrift des Zürcher Pietismus. Der Traktat wurde 1713 in der Bodmerschen Buchdruckerei verlegt und systematisch in den Frömmigkeitszirkeln verkauft oder verteilt. [ZB Zürich Gal XVIII 396]

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so dass Schütz nicht alle Bücher für seinen Freund in Zürich besorgen konnte.176 Ein zweiter Büchermarkt, wie ihn Johann Heinrich Bodmer oder Johann Heinrich Locher organisierten, wäre ohne die neue soziale Funktion des Buches nicht denkbar gewesen. Die Nachfrage nach heterodoxer Literatur schien so groß gewesen zu sein, dass dieser als lukratives Geschäftsfeld galt. Verschiedene Buchproduzenten wollten sich am neuen Markt beteiligen. Johann Jakob Gessner rechtfertigt in einem Brief an den Examinator und Zunftmeister Hofmeister den Druck des Traktates von Johannes Altmann einmal mit der Ausrede, er drucke pietistische Literatur, um den Pietismus bei den Leuten verhasst zu machen, und kommt dann zum Kern der Sache: der Konkurrenzdruck sei sehr hoch, weil die »verstümpelten Buchhandlung[en]« die Schriften ohnehin verkaufen würden.177 In der Tat war der pietistische Büchermarkt in Zürich attraktiv. Noch im selben Jahr in dem Gessner über den Konkurrenzdruck wilder – nicht Zunft gebundener Händler – klagte, schritten die Examinatoren gegen f liegende Buchhändler aus Basel ein. Sie drohten ihnen am 12. September 1716 mit Marktverbot und der Konfiskation ihrer Ware, wenn sie fortführen mit dem Vertrieb der Schriften von Angelus Silesius, Demokrit bzw. Dippel, Tennhardt, Reitz, Weigel und anderen.178 Bereits im Zusammenhang mit den ersten Pietistenprozessen wurde die Obrigkeit auf die Kolporteure aufmerksam, die radikalpietistische Literatur auf der Landschaft absetzten und den zünftigen Buchhändlern Schaden zufügten.179 Über Locher ist beispielsweise bekannt, dass er nicht nur Geld für den Druck der Werke von Jane Leade sammelte, sondern auch den Absatz der Werke organisierte: Es schickte dazu eigens den Berner Bauern Hans Ebersold als Hausierer mit den Traktaten auf Reisen.180 Wie sich der informelle Büchermarkt durch f liegende Händler alternative Absatzkanäle erschloss, verdeutlicht das Beispiel von Adelheid Schellenberg, der Müllerin aus Trichtenhausen. Sie kaufte sich das Himmelsblüemli »von einem Buben, der es auf dem Land herumgetragen« hatte und das Milch=Kind erstand sie von einem f liegenden Buchverkäufer vor dem Kornhaus.181 Der ambulante Buchhandel erreichte auch entlegene Gebiete des Zür176

A. Deppermann, Johann Jakob Schütz, S. 320 f. St AZ E I 23.1 (Brief Johann Jakob Gessener an Zunftmeister Hofmeister vom 14. Juli 1716). »Verstümpeln« bedeutet hier sowohl, dass ein »Stümper« oder Dilettant am Werk ist, als auch, dass der Traktat in kleinen Quantitäten, d. h. durch ambulante Buchhändler abgesetzt wird. Beiden Lesarten haftet aus Sicht der Zunftordnung etwas Schädliches an. 178 St AZ E I 8.1, 1716, vgl.: Studer, Der Pietismus in der Zürcherischen Kirche, S. 144 f. 179 Studer, Der Pietismus in der Zürcherischen Kirche, S. 113. 180 Hadorn, Geschichte des Pietismus, S. 50. 181 St AZ E I 8.3, Nr. 35. 177

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cher Oberlands: Der junge Georg Späni, der selbst auf Reisen war und wegen dem Besitz pietistischer Bücher am 9. Juni 1718 verhört wurde, berichtet, das Milch=Kind sei ihm in Fischenthal auf der Straße gezeigt worden.182 Die neue soziale Funktion des Lesens als Gruppenidentität stiftendes Moment dürfte letztendlich der Auf klärung den Weg geebnet haben. Gehen wir davon aus, dass die Soziologie des Lesens mit dem ökonomischen Wandel der Bücherproduktion verknüpft ist, so wird diese Annahme anhand der Geschichte des Zürcher Druckereiwesens augenfällig: Die Zürcher Verlags- und Buchhandlungsgesellschaft »Orell, Gessner, Füssli & Companie«, die als gewichtige Vermittlerin der französischen Aufklärungsliteratur an den deutschen Sprachraum wirkte, war ein Zusammenschluss mehrerer Druckereien. In ihr gingen die beiden pietistischen Buchhändler und Verleger Lindinner und Bodmer auf.183 Diese beiden Verlagsbuchhandlungen, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts am meisten mit der Zensur in Konf likt kamen, waren zugleich auch die Herausgeber der wichtigsten frühauf klärerischen Schriften: Bei Bodmer wurden die frühen Schriften von Johann Jakob Scheuchzer verlegt, und Lindinner druckte zwischen 1721 und 1723 das Periodikum »Discours der Mahlern« der beiden führenden Köpfe der Zürcher Auf klärung, Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger. Es ist zu vermuten, dass die beiden Druckereien gemeinsam mit ihrer Zürcher Leserschaft eine Entwicklung von einer protobürgerlichen, pietistisch gefärbten Mentalität hin zur Aufklärung durchliefen. Ein weiteres Indiz für eine Wegbereiterrolle des Pietismus für die Aufklärung ist die Frontstellung zur Zensur. Der Pietismus unterlief systematisch die Bücherzensur. Der international organisierte, halblegale Büchermarkt, der partiell außerhalb der zünftisch strukturierten Wirtschaft stattfand, und auf den die Staatsmacht kaum mehr einwirken konnte, zeigte der Obrigkeit die Schranken ihrer Kontrollmöglichkeiten auf.184 In den Zwanzigerjahren des 18. Jahrhunderts verliert die systematische Zensur auch an Bedeutung. Die Sammlung der Zürcher Zensurakten endet mit einem letzten Eintrag von 1731. Die Forderung nach Toleranz und der Anspruch auf eine individuelle Religiosität machten die Pietisten zu energischen Kritikern der Zensur: Johann Heinrich Bodmer, vorübergehend einer der mächtigsten Männer in Zürich, nimmt vor den Examinatoren kein Blatt vor den Mund: Gefragt, 182 Ebd., 1718, S. 1–60, 9. Juni 1718. Späni besaß neben dem Milch Kind noch die Übung = der Gottseligkeit. 183 Bürger, Auf klärung in Zürich, S. 38 ff.; Burri, Wege französischer Auf klärungsliteratur nach Zürich, S. 267–282. 184 Vgl.: Schrader, Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht, S. 63–88.

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warum er verdächtigen Leuten streitbare Bücher verkaufe, antwortet er, alle Buchhändler hätten solche Bücher verkauft. Dann hebt er zur Kritik an einer Politik der Bevormundung an: Man habe in unserer Religion so herrl. Fundamental Argument, dass wann man in selbigen recht unterwiesen u. bestifftet, man alle andern Bücher wohl lesen möge, zu unserer Ehr und Herrlichkeit; dann er glaube wo die Gnad Gottes vorhanden, alle Bücher ohne einige Gefahr können gelesen werden. Beÿ nebent verstättet Er noch mahlen, daß Er sich eine Ehr mache, den Mänschen mit kleinen Tractetlein an die Hand zu gehen.

Er hält das Nichtlesen heterodoxer Bücher für schädlicher als das Lesen derselben. Bodmer will, dass die Menschen das eigene Urteil walten lassen; wobei einschränkend zu bemerken ist, dass für Bodmer das eigene Urteil in Funktion zur Gnade Gottes bzw. zur Wiedergeburt steht. Auf die Anschlussfrage, ob denn diese Bücher die Laien nicht zu einem Irrglauben verleiten würden, antwortet er vieldeutig: Das »beseufze« er schon seit langem; die Laien seien in der Religion schlecht unterrichtet.185 Es war aus obrigkeitlicher Perspektive nur konsequent, dass ein Schlag gegen den Pietismus sich im Besonderen gegen die Verbreitung heterodoxer Literatur richtete. Ins Visier geriet Bodmers Verlagsbuchhandlung. Er musste 1719 auf obrigkeitlichen Befehl hin seine Druckerei an den erstbesten Interessenten verkaufen.186 1.3.2.4 Die Abendmahlsverweigerung Die Individualisierung begründete nicht bloß neue soziale Beziehungsformen; sie entfaltete auch destruktive Wirkung gegenüber älteren Formen korporativer Vergesellschaftung: Die Rede ist von der pietistischen Abendmahlsverweigerung. Heinrich Richard Schmidt deutet das protestantische Abendmahl als einen Ort sakraler Überhöhung der Gemeinde. Die an der Kommunion beteiligte Gemeinde wird zum Corpus Christi. Dieser Vorstellung wurde auch nachgelebt, beispielsweise in der Vorstellung, die Gemeinde mache sich der Sünde teilhaftig, wenn sie sich nicht von den schweren Sündern in ihrer Reihe trenne. Andernfalls werde der Leib Gottes verunreinigt und die Strafe komme über die ganze Gemeinde.187 Die radikalpietistische Abendmahlskritik dreht dieses Denkmuster um: Nicht das sündige Individuum verunreinigt das überhöhte Kollektiv, sondern das sündige Kollektiv verunreinigt das überhöhte Individuum. Es ist 185 St AZ E I 8.1, 1716, S. 3. Vgl.: Leemann-van Elck, Druck Verlag Buchhandel im Kanton Zürich, S. 29. 186 St AZ E I 23, 1719. 187 H. R. Schmidt, Das Abendmahl als soziales Sakrament, S. 85 u. 88. Vgl. ebenfalls: Bossy, The Mass as a Social Institution, S. 29–61.

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wiederum ein Verhör mit Johann Heinrich Bodmer, das den tiefsten Einblick in eine pietistische Mentalität zulässt. Nachdem er sich – aller Ämter enthoben – auf seinen Landsitz in Meilen zurückgezogen hatte, kam er 1721 erneut unter Beschuss, weil sein Sohn Johannes Bodmer im Hof des Landgutes dem einfachen Volk predigte. Johann Heinrich Bodmer musste sich am 10. Juli erneut einem Verhör unterziehen, in dem er unnachgiebig über sein Verhältnis zur Kirche befragt wurde. Die Examinatoren wollten von ihm wissen, warum er in Meilen kaum zur Kirche gehe. Bodmer berief sich in seiner Antwort auf die Gewissensfreiheit: Er [= Bodmer] gestehe, daß Er währenden seinem Aufenthalt zu Meilen weng in der Kirche gewesen; Er zehle zwahr das predigen unter die HeilsMittel, wer sich wol darbeÿ befinde, könne sich deßen bedienen, es dependiere solches von dem Trieb des Gewißens eines jeden Menschen; Er vor sein Theil beliebe mehr das Wort Gottes selbst zu lesen und zubetrachten, werde auch fehrner, wie bis dahin in Besuchung des offentlichen Gottesdienstes nach seinem Gewißen handeln: Wann man vermeine, Er habe durch Seine Entäüßerung, hier oder dißmahlen in Meilen anstoß gegeben, seÿe es Ihme leid, man könne Ihne nur sagen, wohin er sol, wolle sich an alle ort schiken können.188

Die letzte Aussage ist eine starke Provokation: Für Bodmer ist die Kirche ein Ort wie jeder andere auch, wohin ihn die Obrigkeit auf Befehl schicken kann. Die Kirche hat für ihn keine besondere religiöse Bedeutung. Den Einwand, er sei von der Obrigkeit her zum Kirchengang verpf lichtet, lässt Bodmers Freiheitsdrang nicht gelten: Der Besuch der Predigt ist für Bodmer eine Angelegenheit des Gewissens und somit eine individuelle Entscheidung. Das religiöse Gewissen wird für Bodmer zum Ort seiner Individualität. Der Gang in die Kirche ist für ihn eine individuelle Gewissensangelegenheit: »Wer sich in seinem Gewißen obligiert befinde, der müße [in die Kirche] gehen, Er an seinem Ort befinde sich nicht obligiert.« Bodmer steht somit in Opposition zur herrschenden Meinung, die die Predigt als eine Form des kollektiven Gottesdienstes sieht. Schier unüberbrückbar werden die Differenzen, als die Examinatoren fragen, warum er nicht zum Abendmahl erscheine, ja selbst an Ostern sich nicht daran beteilige. Bodmer – tief von der moralischen Verdorbenheit der Kirche überzeugt – entgegnet: Die ursach seines ausbleibens rühre aus keiner Verachtung; sondern aus großem Respect gegen […] Jesu und dem H. Abendmahl her; Er gewahre beÿ der Communion eine große Profanation, die Ihme Scrupel erweke, dann wan der Apostel sage 1 Cor. 5:11. man solle mit einem solchen Bruder der ein Hurer, oder Geiziger oder Gözendiener, oder Lästerer, oder Vertrunkner, oder Räüber, auch nur nicht eßen; Er sorge auch zuhanden wider sein vermahnung 1 Tim 5:22. Mach euch

188

St AZ E I 8.2, 10. Juli 1721, S. 1.

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frömder Sünden nicht Theilhafftig, nur wer in einer Sach Scrupel habe dörffe sich aufführen, wie er meine, daß es recht seÿe; werde Ihme Gott seiner Scrupel auflösen, wolle Er mit freüden sich einstellen.189

Erneut rekurriert Bodmer auf sein Gewissen, das er über die kollektive Religionsausübung stellt. Sein Fernbleiben geschieht nicht aus Verachtung, sondern aus hohem Respekt gegenüber Christus. Er ist der Überzeugung, dass, solange sündhafte Menschen am Abendmahl teilnehmen, dieses entheiligt werde. Darum begehrt Bodmer, man solle ihm sein Gewissen frei lassen. Den Einwand der Examinatoren, es sei gerade die Pf licht der Wiedergeborenen, am Abendmahl teilzunehmen, damit die ganze Gemeinde und besonders die Unwürdigen bekehrt würden, weist Bodmer zurück: Er erschreke hierüber; er hörte lieber wann man freÿ bekennen würde, wir seÿen verderbt […]; Er seines orts sehe die Sach mit ganz anderen augen an: Das Heilige Nachtmal seÿe nur vor die Bekehrte, der gröste Hauffen aber unter uns seÿen unbekehrte, nun müße man die Perlin nicht vor die Schweine werffen: ob dann eine gewißenhaffte Seel, die vermeine das Nachtmal müße nur administriert werden, denen die sich Jesu ergeben, findet aber, daß auch vil unbekehrte hin zu tretten, derentwegen, gesezt sie irren sich, nicht beÿ haus bleiben dörffte, so habe Er auch keinen absoluten Befehl daß Er zum Lich des Herrn gehen solle.190

Das Verhör mit Bodmer bringt klar zum Ausdruck, wie der kollektive Ritus und religiöse Gesten im Pietismus an Bedeutung verlieren. Die renitenten Aussagen führten schließlich zum endgültigen Bruch: Am 21. Juli verfügte die Obrigkeit die Landesverweisung Bodmers. Hinter seiner Renitenz erkennen wir aber sein individuelles Gewissen als Kern einer Religiosität, die hier in die Separation führen musste. Das Bemühen der Obrigkeit, die »Einigkeit und Reinigkeit« der Kirche wieder herzustellen, dürfen wir auch als eine Angst vor Vergemeinschaftungsformen lesen, die auf individueller Freiheit beruhen, und sich außerhalb der korporatistisch verfassten Gesellschaftsordnung bewegten. – Der einzige, der im Rat gegen Bodmers Exilierung auftrat, war sein einstiger Freund Johann Kaspar Escher. Zusammenfassend kann Folgendes festgehalten werden: Das Konven tikel bildete den Ort, wo eine neue Gemeinschaft gegründet wurde. In ihm konnten neue religiöse Ideen erarbeitet und erfahren werden. Die Erbauungsstunden als gemeinschaftstiftende Zentren bauten weiterhin auf dem hergebrachten Fundament der familiären Bindungen auf. Knapp die Hälfte des pietistischen Beziehungsnetzes war familiär gegeben. Hinzu kommen aber neue Formen der Geselligkeit, die ebenso wichtig für die Gemein189 190

Ebd., S. 3. Ebd., S. 4 f.

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Schlussbetrachtung

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schaftsbildung waren. Die neuartige Organisationsform basierte auf einer gemeinsam geteilten Ideologie und einem Kontaktnetz, das am ökonomischen Beziehungsgef lecht anknüpfte. Die Elemente Familie, Ökonomie, Freundschaft, gemeinsame religiöse Anschauungen sowie geteilte Lektüre festigten eine neue Vergesellschaftungsform, welche die pietistische Bewegung zusammenhielt, die auf Freiwilligkeit beruhte und über die sozialen Beziehungsformen der Ständegesellschaft hinaus wies und mit dieser in Konf likt geraten konnte. Dass der Pietismus nicht nur eine heterodoxe religiöse Weltanschauung hervorbrachte, sondern zugleich auch abweichende neue Geselligkeitsformen entwickelte, legt den Schluss nahe, dass der frühe Pietismus Phänomen und Katalisator eines gesellschaftlichen Umbruchs war. Oder, um mit Emile Durkheim zu sprechen, dass der frühe Pietismus der konzentrierte Ausdruck des gesamten kollektiven Lebens ist.191 Einschränkend muss jedoch angemerkt werden, dass – wenn wir den Pietismus als neue Wahrnehmungsform der sozialen Wirklichkeit und als einen ideellen Ref lex auf eine sich auf lösende Ständeordnung bewerten wollen – sich dieses System neuer Deutungsmuster und Organisationsformen lediglich auf eine gesellschaftliche Gruppe bezog, die offenbar im Zentrum der Veränderung stand.

1.4 Schlussbetrachtung Der frühe städtische Pietismus mit seiner starken Neigung zur Radikalität war an eine soziale Trägerschaft gebunden. Innerhalb der untersuchten dreißig Jahre differenzierte sich diese aus und verfestigte sich. Bezogen auf den sozialen Status ist diese Gruppe in der Mitte der Ständegesellschaft zu verorten. Es handelte sich dabei um eine meistenteils kapitalschwache Gruppe, die ihren Status über das Wissen behauptete. Eine Schicht, die sich auf ihre Bildung stützte, und die auf den Staat und seine Ämterlaufbahnen angewiesen war. Geistliche und Freiberuf liche dominieren unter den Pietisten, sogenannte Kopfarbeiter; eine Gruppe von Menschen, deren persönliche Existenz aufs engste mit dem Staat verwoben war, und die erst dank staatlichen Stellen ihr Bildungskapital realisieren konnte. Diese Bildungselite, die den frühen Zürcher Pietismus trug, habe ich dem Protobürgertum zugeordnet. Es handelt sich dabei um ein erstaunlich klar umrissenes Milieu, um eine in sich zentrierte soziale Gruppe, die sich mehrheitlich aus sich selbst heraus reproduziert. Noch ist sie heterogen: Kauf leute, Theologen, Staatsdiener und Gebildete bilden keine einheitliche soziale Schicht, aber wir erkennen im Pietismus bereits ein 191

Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 561.

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Der soziale Hintergrund des Pietismus

weltanschauliches Band, das diese Berufsstände vereint. Wir erkennen im Pietismus nicht nur eine geistige Strömung, die in die Auf klärung mündet bzw. sich mit dieser zu amalgamieren beginnt, sondern sehen auch, dass der frühe Pietismus an dieselben Gesellschaftsschichten gebunden war wie die Auf klärung. Es gibt mehrere Anzeichen, dass der Pietismus eine Reaktion auf einen tiefgreifenden Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft war: Das Auf keimen der Freundschaftskultur, die vorübergehend aktive Rolle der Pietistinnen oder die (illegalen) Konventikel sind Anzeichen für eine Schwächung der hergebrachten ständischen Ordnung. Der Pietismus ist in diesem Prozess als innovatives Moment zu sehen. Er ist Ausdruck einer Suche nach neuen Beziehungsformen wie auch nach einer neuen ideologischen Verortung einer sich wandelnden Welt. Das Beispiel des frühen Pietismus in Zürich konnte dagegen die These von Hans Schneider nicht bestätigen, wonach der radikale Pietismus von einem handwerklichen Milieu getragen wurde. Die Handwerker im Zürcher Pietismus nahmen eher eine untergeordnete Rolle ein und übten mehrheitlich privilegierte – zunftfreie und künstlerische – Handwerksberufe aus. Sie waren keine klassischen Repräsentanten eines Handwerkerstandes. Nicht bewahrheitet hat sich hier gleichfalls die Annahme, dass der radikale Pietismus eine Verarbeitungsstrategie einer Gruppe darstellte, die vom sozialen Abstieg bedroht gewesen wäre. Der Zürcher Pietismus des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts rekrutierte sich aus einer sozialen Gruppe, die keineswegs in gesteigerter Religiosität eine existentielle Angst vor einer sozialen Deklassierung zu verarbeiten brauchte. Meine Untersuchung kommt zum gegenteiligen Schluss: die pietistische Trägerschaft prägte soziale Stabilität. Im untersuchten Zeitraum verf lachte einzig die soziale Aufwärtsmobilität. Persönliche Existenzangst kann im städtischen Pietismus nicht als konstitutives Element ausgemacht werden. Höchstens auf der Landschaft kann im Zusammenhang mit anhaltenden wirtschaftlichen Restrukturierungsprozessen eine Angst vor sinkendem Lebensstandard als Ansporn zu pietistischer Frömmigkeit vermutet werden. Die Angst war aber dennoch ein wichtiger Faktor im frühen Pietismus. Sie äußerte sich in eschatologischen Befürchtungen. Eine Angst, die sich eher aus einer kollektiv wahrgenommenen, allgemeinen Not der Zeit herleitete: Spanischer Erbfolgekrieg, Auf hebung des Edikts von Nantes und missliche klimatische Faktoren verursachten Flüchtlingsströme, Hungersnöte und Pestzüge. Diese Not wurde als Strafgericht Gottes aufgefasst und mit gesellschaftlichen und politischen Missständen in der Zürcher Herrschaft in Verbindung gebracht. Wenn ich in Anlehnung an das starke protoindustrielle Wachstum bis in die 1690er Jahre im Zusammenhang mit der Trägergruppe des frühen Zürcher Pietismus von einem Protobürgertum spreche, so taucht unweigerlich die Frage Max Webers nach der Vorbereiterrolle des Pietismus für eine

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Schlussbetrachtung

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Entwicklung hin zum modernen Kapitalismus auf. Ein ursächlicher Zusammenhang konnte in unserer Untersuchung nicht hergestellt werden: Der Pietismus fand in der Kaufmannschaft keine ausgeprägte Resonanz. Der Anteil der Kauf leute am pietistischen Milieu entspricht recht genau dem gesamtgesellschaftlichen Anteil. Wir sind also eher versucht zu sagen, dass sich die Kauf leute gegenüber dem Pietismus indifferent verhielten. Wir erkennen zudem keine Hinweise, dass Kauf leute dank einer pietistischen Lebensweise oder einem asketischen Konsumverzicht besonders erfolgreich gewirtschaftet hätten. Wir finden zwar unter den Pietisten erfolgreiche Handelshäuser und Fabrikanten. Aber es lassen sich eben so gut gegenteilige Beispiele nennen. Die Weber-These scheint auf den ersten Blick keine große Übereinstimmung mit den empirischen Befunden aufzuweisen. Verblüffend ist aber beim zweiten Hinschauen der hohe Anteil der Kaufmanns-Familien unter den Stadtzürcher Pietisten. Knapp 30 Prozent stammen aus Familien, die ihren sozialen Rang durch den Handel erwarben. Ein solcher familiärer Hintergrund dürfte auch auf die Mitglieder abgefärbt haben, die eine andere Lauf bahn, sei es als Privatgelehrte, prestigeträchtige Magistrate oder Theologen einschlugen. Diese Tatsache erklärt, warum von der Weber-These nach wie vor eine Faszination ausgeht und sie nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Der doch eher indirekte Zusammenhang zwischen Pietismus und einem »Geist des Kapitalismus« lässt die Vermutung zu, dass der Pietismus nicht ursächlich und zielgerichtet eine kapitalistische Mentalität erzeugte und so der kapitalistischen Warenwirtschaft zum Durchbruch verhalf. Wenn hier überhaupt einen Zusammenhang gesehen werden kann, so geht dieser eher in die Richtung, dass der Pietismus eine religiöse Strategie zur Lebensbewältigung in einer sich wandelnden, gesellschaftlichen und ökonomisierten Umwelt darstellte. Der Pietismus wäre dann eine ideologische Antwort einer direkt oder indirekt betroffenen Gruppe auf sozioökonomische Veränderungen. Sozialgeschichtliche Fakten geben hier keine zielführenden Hinweise; es ist viel mehr nach dem sogenannten »Geist des Kapitalismus« selbst zu fragen: Wie sah die Weltanschauung eines Pietisten aus?

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2. Lesewelt und Alltagsbewältigung: Die Bibliothek Johann Heinrich Lochers Es ist das beste an der Religion, dass sie Ketzer hervorruft. Ernst Bloch

2.1 »Böss geheissene Bücher und durch oberkeitliche Hilff genommen« Was beschäftigte einen Pietisten? Was las er? In welcher Gedankenwelt bewegte er sich? Auf welche geistesgeschichtlichen Strömungen nahm er Bezug? Einen Einblick in das komplexe Denkumfeld eines Pietisten gibt uns die 1698 durch die Zürcher Obrigkeit konfiszierte Bibliothek des Kaufmanns Johann Heinrich Locher [94]. Dem pietistischen Bücherfreund wurden etwa 283 Bände beschlagnahmt. Davon erhielt er nach der obrigkeitlichen Prüfung nur noch 99 Stück zurück1. Eine knapp dreihundert Bände zählende Bibliothek mag für heutige Verhältnisse als bescheiden erscheinen und kann mit der gemäß Auktionskatalog 1900 Titel umfassenden Bibliothek des radikalpietistischen Ehepaars Petersen 2 nicht mithalten. Für das späte 17. Jahrhundert war dies 1 ZB Zürich Ms. S. 276, Nr. 11 enthält das obrigkeitliche Inventar der konfiszierten und zurückerstatteten Bücher aus dem Besitz Lochers. Dem Inventar ist zudem eine Notiz Lochers eingeheftet, in welcher er aus dem Gedächtnis ein Inventar erstellt. Er geht von einem Verlust von rund 350 Büchern aus. »Den 12 Julÿ 1698 sind mir 350 St[ück] Bücher ungefahrlich abgenommen worden und auf das Rathhauss gebracht worden (…).« Die Angaben Lochers und der Examinatoren weichen doch erheblich voneinander ab. Denkbar ist, dass Locher seinen Bücherbesitz überschätzte. Möglich ist aber auch, dass das Inventar der Examinatoren bei mehreren zusammen gebundenen Werken bloß den ersten Titel verzeichnete, und Locher sich dagegen an den Titeln und nicht an der Anzahl Bände orientierte. 2 BIBLIOTHECA | PETERSENIANA | ID EST | APPARATVS LIBRARIVS, QUO, DVM | VIVERET, VSVS EST | IOAN. GVILIELMVS | PETERSENIVS, | DOCTOR THEOLOGVS ET POETA | CELEBERRIMVS CONSTANS | Varii generis libris, theologicis nimirum, phi-|lologicis, philosophicis, poëticis, pluri-|mam partem eleganter com-| pactis || die XVII. Sept. seqq. An. MDCCXXXI. Berolini in | Platea vulgo die Fridrichs=Strasse dicta auf dem | Fridrichswerder, in AEdius Küsterianis […], Auctio-|nis ritu ab hora II – VI. post mer. vendendus, Berlin 1731 [SUB Göttingen 8° HLL XI, 2950]. Beachtenswert ist, dass sich selbst bei einer oberf lächlichen Durchsicht des Auktionskatalogs unter Anderem eine Vielzahl Autoren finden lassen, die den Charakter der Locherschen Bibliothek prägen, wie Andreae (Chym. Hochzeit), Arndt, R. Barclay, Betke, Th. Beverley

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aber eine umfangreiche Sammlung. Noch zweihundert Jahre später galt beispielsweise die Privatbibliothek des Zürcher Fourieristen Karl Bürkli (1823–1901) mit gut 400 Titeln als bedeutend und wurde als dessen einziger Luxus gewertet.3 Es gilt zu bedenken, dass Bücher zur damaligen Zeit einen kostspieligen Luxus darstellten. Marie-Louise von WartburgAmbühl setzte für das beginnende 18. Jahrhundert die Preise für eine Bibel mit den Lebensmittelpreisen in Relation: Sie berechnet, dass man für den Gegenwert einer Bibel 72 Liter Wein oder 56 Liter Getreide oder aber 7,2 Kilogramm Rindf leisch erstehen konnte. Ein Handwerker musste für den Erwerb einer Bibel drei bis fünf Tageslöhne investieren.4 Weiter gilt zu beachten, dass Locher kein besonders wohlhabender Kaufmann war, oder gar ein Bankier – wie er manchmal in der Pietismusforschung bezeichnet wird 5. Die Geldstrafe beispielsweise zum Abschluss des Pietistenprozesses von 1698 belastete die Haushaltung Lochers schwer.6 Ein Pietist mit einer umfangreichen Bibliothek – das mag erstaunen: Den Pietisten wird eine bücherfeindliche Haltung nachgesagt. Für sie waren Bücher scheinbar überf lüssig, um zur echten Frömmigkeit des Herzens zu gelangen. Die Orthodoxie kritisierten sie dahingehend, dass der Glaube sich nicht aus Büchern lernen lasse, sondern dass er aus dem Herzen der Frommen f ließen müsse. Selbst die Bibel wurde nicht als Schrift aufgefasst, aus der man den Glauben intellektuell erfahren könne. Angelesenes Wissen führe nicht zur wahren Gotteserkenntnis, so formulierte (Zeit=Register), Böhme ( Josephus redivivus = MM), Breckling, Th. Bromley, Deutsche Theologie, Dittelbach, Erasmus (Lucubrationes), Felgenhauer, Franck, Fuhrmann, Hermes Trismegistos (Poemander), Hiel, Hildebrand, Hoburg/Elias Praetorius, Thomas von Kempen, Kuhlmann, Lautensack, Leade, Molinos (lat. und dt.), Poiret, Pordage, Schwenckfeld, Serrurier, Tauler, Tschesch, Weigel, Werdenhagen und Zimmermann/Joh. Matthaei. Zur Bibliothek Petersens sowie weiteren radikalpietistischen Bibliotheken vgl.: Schrader, Literatur produktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus, S. 268–280. 3 Schiedt, Die Welt neu erfinden, S. 53 ff. 4 von Wartburg-Ambühl, Alphabetisierung und Lektüre, S. 164 f.; Hans-Jürgen Schrader ermittelte den Realwert der 7-teiligen Historie Der Widergebohrnen für den Raum Frankfurt a. M. von 1727 mit 14 kg Rindf leisch ohne Knochen, dies obwohl die Historie vergleichsweise kein teures Buch war und den beschränkten materiellen Möglichkeiten einer radikalpietistischen Leserschaft Rechnung trug. Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus, S. 259 ff. 5 Locher wird erstmals bei Hadorn als Bankier bezeichnet. Die Versuchung scheint groß zu sein, aus einem Zürcher Kaufmann gleich einen Bankier zu machen. Tatsächlich war das Bankengewerbe in Zürich Ende des 17. Jahrhunderts noch nicht heimisch. Vgl.: Weisz, Der organisierte Kredit in Zürich, S. 135–156. 6 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 23 [»Anlagen und beschuldigungen mit welchen Heinrich Locher zum Meyen schon siether einigen Jahren belegt worden, erbaut selbiger bescheidenlicher beantwortung«], Bogen D. – Locher muss 1698 eine Strafe von 85 Gulden (gen) und 27 Schilling (ß) bezahlen. In der Strafe inbegriffen waren u. a. die Haft- und Verfahrenskosten sowie der Transport seiner Bücher ins Rathaus. Der Strafzettel ist im Original erhalten in ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 9.

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der Pietismus seine Vernunftkritik. Und tatsächlich entwickelten sich Zürcher Pietistinnen und Pietisten unter dem Einf luss von Wolther zur »Bücherfeinden«. Dies markiert aber bloß einen von vielen Widersprüchen in denen sich der frühe Radikalpietismus bewegte: »Selbstverständlich sind uns alle (…) Wünsche und Programme zur Abschaffung der Bücher eben doch in Büchern überliefert«, hält Hans-Jürgen Schrader in seinem Aufsatz zu den bibliographischen Problemen der pietistischen Literatur fest. Er bemerkt weiter, dass nie zuvor und später nie wieder so viele fromme Literatur ediert und gelesen wurde wie in der Epoche des Pietismus.7 2.1.1 Eine »Warhafftige Erzellung« Am 12. Juli 1698 erschienen um 13 Uhr die weltlichen Examinatoren in Begleitung des Zeughausknechts mit Fuhrwerk im Bleicherweg vor dem Wohnhaus Johann Heinrich Lochers. Sie hatten den Auftrag, die Bibliothek Johann Heinrich Lochers zu konfiszieren, diese in Reisekisten zu verpacken und aufs Rathaus zur Verwahrung zu überführen. Da sie die Bücherschränke verschlossen vorfanden, und Locher abwesend war, musste nach dem Schlosser Leonhard Sprüngli geschickt werden. Die beiden kirchlichen Vertreter im Examinatorenkollegium, Schweizer und Hofmeister, fehlten bei diesem Akt. Sie ließen sich von der Konfiskation dispensieren, da es sich um einen »Actus pure Civile« handle. Die Geschichte, die schließlich zur Beschlagnahmung von Lochers Bibliothek führte, schildert Professor Johann Heinrich Schweizer (1646– 1703) in der »Wahrhafftigen Erzellung«:8 Es begann mit mehreren Exemplaren Jane Leades Sechs Unschätzbare Mystische Traktätlein 9, die ein gewisser 7 Schrader, Probleme der bibliographischen und editorischen Erschließung pietistischer Literatur, S. 85 f. 8 ZB Zürich Mscr S. 276, Nr. 6 »Wahrhafftige Erzellung dessen was sich in dem Locherischen und Laubischen handel von Anfang bis Ende zugetragen«. – Die Urheberschaft Schweizers scheint gesichert. Die hier herangezogene Abschrift enthält zusätzlich Anmerkungen von Johann Heinrich Locher. »Was hernach mit Schwartzer Dinten geschrieben folget Soll wie mir glaubwürdig gesagt worden von Herrn Johann Heinrich Schweitzer Professor der Griechischen Sprach und Corherr an dem GrSifft zum grossen Münster allhier in Zürich, gestelt sein welches ich aber anheime gestelt sein lasse weilen aber ein groster Theil meines Lebens lauffs darvon abhanget habe dieser Schrifft hier ein bringen wollen, und zwahr ohne einiges wort abzunehmen, was nun zu besserem verstand und gründlicheren gewissheit des jenigen so mich betrifft dienlich geachtet habe mit roten dinte zu schreiben mir vorgenohmen […].« 9 Es ist nicht gesichert, um welche Schrift von Jane Leade es sich bei der Sendung aus Sulzbach handelte. Die »Wahrhafftige Erzellung« spricht lediglich von sechs Exemplaren eines kleinen Traktates. Da mehrere Exemplare in Zürich eintrafen, liegt es auf der Hand, die sechs kleinen Traktate in quantitativer Hinsicht zu verstehen. Die nachgelieferte Inhaltsangabe, die Traktate würden sich gegen das Dogma der Höllenstrafe richten, legt hin-

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Ludwig Holzhalb [65], ein Zürcher Bürger, der in Sulzbach10 in der Oberfalz lebte, seinem Schwager Heinrich Morf [104] zusandte. Im Begleitbrief warnte er, die Traktate sollen vor »hitzigen Theologen« versteckt werden, weil es sonst »Lärm« geben könne. Morf gab darauf die Traktate dem Buchbinder Ochsner zum Einbinden, damit die Büchlein unauffällig verteilt werden könnten. Als nun die Traktate in der Buchbinderei in Arbeit lagen, kam der Nachbar, der Krämer Franz Kaspar Breitinger, in den Laden und schmöckerte in den Schriften. Breitinger eilte, laut der Version Schweizers, danach zu Antistes Klingler und zeigte die Schriften am 27. Juni 1698 an. Der Vorsteher der Zürcher Kirche erwirkte darauf beim Amtsbürgermeister Meyer die Konfiskation der Traktate. Im Weiteren erreichte er, dass die Buchhändler befragt wurden, ob sie weitere derartige Werke verkauft oder eingebunden hätten. Worauf Locher bezichtigt wurde, viele derartige Bücher zum Binden gegeben zu haben. Diesem Hergang widerspricht Locher in seinen in roter Tinte geschriebenen Zusätzen zur »Warhafftigen Erzellung«. Er vermutet viel mehr, dass der erstbeste Anlass benutzt worden war, um gegen ihn vorzugehen. Er ist der Meinung, dass er seit den Ereignissen um Georg Ziegler durch Chorherrn Schweizer bespitzelt werde. Als er beispielsweise 1696 im Wallis zur Kur weilte, sei das Gerücht umgegangen, die Obrigkeit wolle seine Bibliothek und seine Kopierbücher konfiszieren, so dass seine Ehefrau einen Teil der Bücher außer Haus in Sicherheit brachte. Mit seiner Vermutung dürfte Locher nicht falsch gelegen haben. Was er nicht wusste, war, dass die Berner an der Tagsatzung die Zürcher bezichtigten, sie seien schuld am erneuten Auf blühen des Täufertums und des Pietismus im Bernbiet. Besonders störend war für die Berner, dass die heterodoxe Literatur über Zürich nach Bern gelangte. Locher als Vermittler dieser Literatur gelangte so unweigerlich ins Visier der Obrigkeit. Der Prozess weitete sich schnell aus auf die beiden Pfarrer Hardmeyer [51] und Hochholzer [60], die Besuche von Locher erhielten, auf den Filialisten Laubi [85], der einen umfangreichen Briefwechsel mit den Berner Pietisten führte, auf Pfarrer Johann Heinrich Zeller [208] und auf Johann Heinrich Bodmer [6], der mit Dachs in Bern korrespondierte. Darauf begannen die Berner und Zürcher Behörden ihre Ermittlungen zu koordinieren. Am 11. Juli beschloss der Zürcher Rat, bei Locher eine Inspektion der Bibliothek als Überraschungscoup durchzuführen. Da Locher aber am selgegen den Schluss nahe, dass es sich hier nicht um eine Mengenangabe, sondern um den Titel der Schrift handeln muss. Hottinger, Versuchungs=|Stunde, S. 33, spricht in diesem Zusammenhang lediglich von einer Schrift Jane Leades. 10 Über Ludwig Holzhalb wissen wir lediglich, dass er zum Katholizismus übertrat, wofür er in Zürich zur Strafe ausgebürgert wurde. Der Pfalzgraf Christian August von Sulzbach (1622–1708) stand unter pansophisch-kabbalistischem sowie chiliastischem Einf luss.

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ben Tag in der Buchhandlung des pietistischen Ratsherrn Heinrich Bodmer angetroffen wurde, vermuteten die Examinatoren, Locher habe vom Ratsbeschluss Wind gekriegt. Die Hausdurchsuchung fand unverzüglich noch am selben Tag statt. Locher wurde befragt, mit wem er korrespondiere und wo er die Briefe habe. Locher gab zur Antwort, er habe als Reaktion auf den ersten Pietistenprozess von 1689, da er inzwischen seine Geschäfte eingestellt habe, auch seine Kopierbücher und Buchhaltungen verbrannt. Die Suchaktion der Examinatoren in der Kanzlei Lochers brachte vorerst nichts Nennenswertes zum Vorschein. Danach musste Locher unter der Drohung, die Schränke würden sonst aufgebrochen, seine Bibliothek öffnen. Es wurden so viele Bücher angetroffen, dass ein Wagen aufgeboten werden musste. Johann Heinrich Schweizer ließ die bedenklichen Bücher aufschreiben, danach wurden die Schränke versiegelt. Was die Examinatoren in Lochers Bibliothek vorfanden, beschrieben sie zuhanden der Obrigkeit in einem »Memoriale über Hr. Heinrich Lochers des Kauffmanns verdächtigen Wandel: wie derselbige bey oberk. – anbefohlener durchsuchung seiner Schreibstuben und angesteltem offentlichen Examen befunden worden.« »1. Zu seiner Schreibstuben finde man einen grossen Kaste von Bücheren angefült, deren aussert der Bibel alle von den gefährlichsten urheberen des vorigen und dieses Seculi geschrieben waren, als da sind Paracelsus, Suenkfeld, Weigelius, Felgenhauer, Franke, von Frankenberg, Böhm, Barclai alle Schrifften der Pietisten und Labadisten; die bücher der Bourignon und Petersen, Hoburg, Walther[?] und andere von dergleichen Korn und Schrot.«11 Die Bibliothek, die die Examinatoren vorfanden, beurteilten sie als eine Sammlung der heterodoxen Bücher der letzten zweihundert Jahre. Entsprechend der Gefährlichkeit des Bücherbesitzes Johann Heinrich Lochers teilten sie diesen in vier Kategorien: - »Verzeichnuß der Büchern, welche die Herren Geislichen am Gestifft zum großen Münster Böss geheissen und durch oberkeitliche Hilff genommen« - »Verzeichnis der Büchern welche die Herren Theologi am gestifft beim Großen Münster in Zürich für mittelmeßige oder halbgute betittelt und gleichwohl zu einem gezeugnus Ihrer Sorgfalt vor sich behalten« - »Verzeichnuß der Bücheren welche von den Herren Theologi zwar gut betittlet gleichwohl solche zum Zeugnus Ihrer Treü und Liebe behalten haben«12 - und schließlich die Bücher, die Locher zurückgegeben wurden. 11 St AZ E I 8.4 [»Memoriale über Hr. Heinrich Lochers des Kauffmanns verdächtigen Wandel«] 12 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 12 S. 93–99 [Die Konfiszierten Bücher Johann Heinrich Lochers]

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Quantitativ überwiegen die »Böss geheissen[en]« Bücher mit 120 bis 122 Bänden. Mit 99 Stück folgen dann die zurückgegebenen Druckschriften. Unter den halbguten sowie unter den fürsorgerisch eingezogenen Werken sind 35, bzw. 44 Bände aufgelistet. 2.1.2 Die rekonstruierte Bibliothek Die Bibliothek Johann Heinrich Lochers ist heute nicht mehr existent. Sie ließ sich einzig anhand von zwei Konfiskationslisten rekonstruieren. Eine Liste13 verzeichnet alle Bücher, die anlässlich der Beschlagnahmung aufs Rathaus gebracht wurden. Eine zweite Liste14 verzeichnet diejenigen Bücher, die in staatlichem Gewahrsam blieben, nachdem Locher die wenigen tolerierten Bücher zurückgegeben wurden. Die Differenzen zwischen den beiden Listen sind gering, sie weichen bezüglich der Büchermenge nur minimal von einander ab. Auch die verzeichneten Kurztitel sind in beiden Listen jeweils sehr ähnlich, so dass vermutet werden kann, dass die vorhandenen Listen eine Abschrift einer ursprünglichen Liste sind. Die oftmals spärlichen Angaben der Kurztitel, die die Examinatoren machten, erschwerte die bibliographische Zuordnung einer Druckschrift. Nicht immer konnte ein passendes Werk gefunden werden. Manchmal lassen die bibliographischen Angaben auch mehrere Titel zu. Eine Mehrheit der Bücher konnte dennoch eindeutig bestimmt werden. Eine große Hilfe bei dieser Arbeit waren die Online-Kataloge des »Gemeinsamen Bibliotheksverbundes der Länder Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (GBV )«, die ein zuverlässiges Bibliographieren erst ermöglichten. Dank diesen Datenbanken konnte die aufwändige und zeitraubende Bibliographiearbeit erheblich abgekürzt werden. Als erstes fällt an Johann Heinrich Lochers Bibliothek die Mehrsprachigkeit auf. Er las nicht nur deutschsprachige Werke, er war soweit des Niederländischen, Französischen und Italienischen mächtig, dass er Schriften in diesen Sprachen lesen konnte. Diese drei Sprachen waren – nebenbei bemerkt – die wichtigsten Sprachen, die ein Zürcher Kaufmann beherrschen sollte. Dagegen dürfen wir vermuten, dass Locher in den alten Sprachen lediglich dilettierte, auch wenn er ein hebräisches Wörterbuch besaß und Bibelausgaben in Hebräisch, Griechisch und Latein sein Eigen nannte. Aus 13 14

ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 11 [Bücherbesitz Johann Heinrich Lochers] ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 12 S. 93–99 [Die Konfiszierten Bücher Johann Heinrich

Lochers]

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Johann Kaspar Hardmeyers Tagebuch geht hervor, dass er Locher manchmal lateinische Bücher zusammenfasste, und er schenkte Locher zudem ein Set mit Vierkanthölzern, auf welchen er auf jeder Längsseite einen Begriff in Deutsch, Latein, Griechisch und Hebräisch aufschrieb. Angesichts der fehlenden klassischen Bildung Johann Heinrich Lochers erstaunt es nicht, dass in seiner Bibliothek die Autoren der Antike (mit Ausnahme des spätantiken Poemanders) gänzlich fehlen. Der Bücherbesitz Johann Heinrich Lochers hinterlässt auf den ersten Blick einen sehr widersprüchlichen Eindruck. Man findet beispielsweise Werke des Humanisten Erasmus von Rotterdam vereint mit bildungsskeptischen spiritualistischen Schriften einer Antoinette Bourignon; hermetische und kosmologische Literatur steht neben Galileo Galileis grundlegenden Arbeiten zur modernen Physik; spätmittelalterliche Mystik gesellt sich zu Autoren der Frühauf klärung; Paracelsus Werkausgabe teilt das Bücherregal mit einer medizinischen Standardschrift eines in plastischer Chirurgie experimentierenden italienischen Arztes; Zwingli und Bullinger, die Gründerväter der Zürcher Kirche, müssen den Platz mit Schwenckfeld und Franck teilen. Eine dominierende Rolle in der Bibliothek nimmt Jakob Böhme ein, aber man trifft ebenfalls auf Schriften, die dezidiert gegen Böhme gerichtet sind. Auffallend an der Büchersammlung ist zudem die vielfältige konfessionelle Herkunft der Autoren, sie sind Reformierte, Lutheraner, Katholiken (darunter sogar Jesuiten) und Heterodoxe. Bemerkenswert an der Zusammensetzung der Bibliothek eines Pietisten ist schließlich, dass man viel Hoburg aber kaum etwas von Spener findet! Das widersprüchliche Bild, das die Bibliothek erweckt, mag auf die schillernde Ambivalenz des Pietismus zurückgeführt werden. So stellt sich die Frage: Wie kann die umfangreiche Lektüre Lochers mit seinem Leben und seiner Alltagsbewältigung verknüpft und in einen logischen Zusammenhang gesetzt werden? Johann Heinrich Locher gibt in seinem »Freimüthiges GlaubensBekanthnus«15 Einblick in seine Lesewelt. Das Glaubensbekenntnis ist eine von Hand vervielfältigte Flugschrift. Sie umfasst je nach Abschrift etwa 35 QuartSeiten. Die Schrift wurde – laut Angabe im Titel – im August 1700 verfasst und wohl auch zu diesem Zeitpunkt unter Gleichgesinnten verteilt. Die Absicht des Glaubensbekenntnisses ist nicht eindeutig; vermutlich wollte sich der Verfasser gegen Anschwärzungen seitens der Obrigkeit rechtfertigen und offensiv seine Glaubenshaltung darlegen. Es ist auch möglich, dass die Schrift ähnlich gesinnte Geister gegen Anfechtungen stärken wollte. Es darf vermutet werden, dass sie vor dem Hintergrund der Pietistenver15 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S.

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folgung von 1698 entstand. In wie weit der Jahrhundertwechsel eine Rolle spielte, muss offen bleiben, explizite Hinweise jedenfalls fehlen gänzlich.16 Die Urheberschaft Lochers kann mit endgültiger Sicherheit bejaht werden, auch wenn die Flugschrift ursprünglich anonym erschien. Den Zeitgenossen muss der Autor bekannt gewesen sein. Eine Abschrift von Johann Jakob Simler, Alumnatsinspektor und ›Kirchenhistoriker‹ (1716–1788) nennt Johann Heinrich Locher als Verfasser beim Namen.17 Im Weiteren sind die biografischen Bezüge soweit evident, dass kein Zweifel besteht. Dass wir neben der Bibliotheksliste auch über Selbstzeugnisse von Johann Heinrich Locher verfügen, ist ein großes Glück, doch es ist nicht bloßer Zufall. Die Selbstzeugnisse beginnen sich Ende des 17. Jahrhunderts parallel mit dem Auftreten des Pietismus zu häufen und sind selbst oft Teil eines individualisierten Gottesdienstes18. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Entdecken der eigenen Individualität und dem Schreiben über sich. Die Beschreibung des persönlich erfahrenen Wiedergeburtserlebnisses und die rigide Selbstspiegelung als Äußerungen eines lebendigen Glaubens sind idealtypische Dokumente einer pietistischen Frömmigkeit.19 Stilbildend wirkte Reitz’ Historie Der Wiedergebohrenen.20 Hier schließt die Frage an, wie weit die Erweckungsberichte Stereotypen folgen, die nur eine scheinbare Individualität beschreiben. Für Lochers Selbstzeugnis lässt sich aber kein Vorbild ausmachen. Bei seinem Ego-Dokument handelt es sich um eine frühe Form, die kaum etwas von seinen Gefühlen und Regungen preisgibt. Sie legt lediglich Gewicht auf sein Wertsystem und seine Weltanschauung. Das Individuelle an seinem Glaubensbekenntnis ist die autobiographische Beschreibung seines persönlichen Wegs zum Pietismus. Das Selbstzeugnis gliedert sich inhaltlich in zwei Teile. Die ersten Seiten legen den persönlichen Weg zum »wahren« Glauben dar. Dieser Weg ist geprägt von Krisen und Umkehren. Er gipfelt in der Wiedergeburt. Wegmarken auf diesem Weg setzen die gelesenen Bücher. Der zweite Teil ist eine Darlegung des Locherschen Glaubens. Die Manuskripte bre16 Horch und Dippel erwarteten beispielsweise den annus climacterius, das Ende des Antichristen und den Anbruch des Tausendjährigen Reiches mit dem Jahrhundertwechsel. Vgl.: Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 406. 17 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 24, Kurtz abgefasster und Wahrhafftiger Bericht, was in Zeit vor 40 Jahren ungefahr wegen Johann Heinrich Locher zum Meyen in Zürich sich begeben, nebent einigen fragmenten von Schrifften und Berichten, durch welche die Wahrheit der Geschichts Erzellung bestritet und klahr gemachet wird. 18 Leutert/Piller, Deutschschweizerische Selbstzeugnisse, S. 213; von Greyerz, Deutschschweizer Selbstzeugnisse, S. 157. 19 Vgl.: Bernheiden, Die Religion im autobiographischen Schrifttum des 17. Jahrhunderts, S. 743 f.; Schulze (Hg.), Ego-Dokumente; Mahrholz, Deutsche Selbstbekenntnisse. 20 Schrader, Nachwort des Herausgebers, in: Johann Heinrich Reitz, Historie Der Wiedergebohrnen, S. 127–153.

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chen am Ende jeweils unvermittelt ab, so dass nicht klar ist, ob ein Teil der Flugschrift sehr früh verloren ging, oder ob sie fragmentartig in Umlauf gesetzt wurde. Einen breiten Einblick in Johann Heinrich Lochers Lese- und Gedankenwelt nach dessen Wiedergeburtserlebnis vermitteln erst wieder die Tagebücher Johann Kaspar Hardmeyers [51] für die Jahre vor der der Beschlagnahmung der Bibliothek. Hardmeyer, seit 1686 Pfarrer in Bonstetten, war ein enger Freund Lochers und geriet 1698 in den Strudel der Pietistenverfolgung. Er galt nicht nur als ein umfassend gebildeter und belesener Gelehrter, sondern auch als Meister der deutschen Sprache. Er übersetzte die Psalmen aus dem Hebräischen und schrieb Lobgedichte auf den siegreichen Zweiten Villmergerkrieg sowie Huldigungsgedichte an die Mächtigen Zürichs.21 Das vierbändige Tagebuch setzt Anfang 1694 ein und erstreckt sich bis ins Jahr 1712.22 Systematisch geführt wird es aber nur bis zum 11. Juni 1698 – dem Tag, an dem der Zürcher Rat die Hausdurchsuchung bei Locher anordnete. An diesem Tag brechen die Einträge abrupt ab und setzen erst ein Jahr später, am 22. Juni 1699, in unregelmäßigen Abständen wieder ein. Der Bonstetter Pfarrer hatte ganz offensichtlich während der Pietistenprozesse sein Tagebuch unterbrochen und vermutlich vor der Obrigkeit in Sicherheit gebracht. Dazu hatte er Anlass genug: In seinem Diarium verzeichnete er nicht bloß die Themen seiner Predigten, sondern auch seine Meinung über gelesene – oft heterodoxe – Bücher und private Gespräche, wie jene mit Johann Heinrich Locher – Aufzeichnungen also, die nicht für die Augen der Obrigkeit bestimmt waren. Nach den Pietistenprozessen handelt das Tagebuch nur noch selten von Gesprächen oder gewechselten Briefen mit Johann Heinrich Locher. Es ist denkbar, dass er diesen mied, oder aber die Begegnungen nicht mehr protokollierte. Ein Zusammentreffen zwischen den beiden wird erst wieder im Dezember 1701 registriert – beide begegnen sich bei einer Drittperson, im Haus des Kaufmanns Paul Usteri [182]. Die Gespräche wurden aber nicht mehr nachgezeichnet, das schien dem vorsichtig gewordenen Pfarrer offensichtlich zu gefährlich. Johann Heinrich Locher gliedert sein Leseverhalten im »Freimüthiges GlaubensBekanthnus« chronologisch in zwei Etappen – wobei es unerheblich ist, ob diese Darstellung den biographischen Tatsachen entspricht, oder ob er seine Lesetätigkeit im Rückblick idealtypisch verklärte. Diese zwei von Locher geschilderten Literaturgruppen entsprechen sehr genau den zwei ideengeschichtlichen Hauptströmungen, in die Martin Brecht 21

Zeller, Hardmeyer, Johann Kaspar. ZB Zürich Ms. E 136–139, Joh. Kasp. Hardmeyer, Pfr zu Bonstetten und Dekan zu Affoltern a. A. Diarium über Tagesereignisse der Jahre 1694–1719. Band I–IV. 22

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die Vorläuferbewegungen des Pietismus aufteilte: es handelt sich um die Literaturgruppe rund um Johann Arndt einerseits und um diejenige rund um Jakob Böhme anderseits. Eine Einteilung, die Brecht als provisorisch einstuft; doch zugleich konstatiert er mannigfaltige Verf lechtungen zwischen den beiden Gruppen.23 Diese Einteilung spiegelt sich nicht bloß in Johann Heinrich Lochers Leseerfahrungen. Auch die Lochersche Bibliothek kann – was die vor- bzw. frühpietistische Literatur anbelangt – in diese zwei Felder eingeteilt werden. Der Kaufmann Johann Heinrich Locher hielt nicht nur in seiner Buchhaltung eine strenge Ordnung ein, sondern auch in seinen Bücherregalen. Nachdem seine Bücher durch die Obrigkeit eingezogen worden waren, hielt er aus dem Gedächtnis schriftlich seinen Verlust fest: Den 12 Julÿ 1698 sind mir 350 St[ück] Bücher ungefahrlich abgenommen worden und auf das Rathhauß gebracht worden, davon ich kein verzeichnuss habe sind aber das meiste auf 4 gestellen gewesen und dan noch einiges auß meinen anderen Bücher Kasten, auch von Büchern die sich auf der Winde befunden: die enthalten ungefahrlich wie folgt: 60 St[ück] ungefahrlich auf dem ersten gestell wahren alles fast nur biblische bücher; […] 2. Gestell: 80 Bücher; Jakob Böhm, Hiel, Jeane Leade, Abraham von Frankenberg, Sebastian Frank und Chemische Bücher 3. Gestell: 80 Bücher; Hoburg, Arnd, Betkio, lutherische und papistische Theologen, Tauleris Werke ital. Dictionaire. 4. Gestell: 80 Bücher; Pietistische und antipietistische Bücher, die erst vor einigen Jahren erschienen sind. Darunter viele kleine Traktate. Daneben wurde weiter konfisziert: Paracelsi opera, haben mindestens R 10 gekostet; Ein Foliant von Schwenkfeld.24

Der zweite und dritte Bücherschrank war praktisch analog der von Martin Brecht vorgenommenen Einteilung der Grundlagenliteratur des Pietismus geordnet. Beachtenswert ist zudem, dass Locher als Hauptvertreter der Literaturgruppe des dritten Bücherregals nicht Johann Arndt als ersten nannte. Dieser kommt erst an zweiter Stelle nach Christian Hoburg. Diese Einteilung ist keineswegs zufällig. Sie sagt sehr viel über die Reihenfolge der Lektüre sowie über Methode und Ziele der Wissensaneignung durch Johann Heinrich Locher aus. Sie erlaubt teilweise eine Rekonstruktion des Leseverhaltens. Diese Rekonstruktion soll in den nachfolgenden Kapiteln anhand der chronologischen Linien vorgenommen werden, die der intellektuellen Entwicklung Johann Heinrich Lochers folgen, soweit wir darüber unterrichtet sind. Aus der Beobachtung, dass die ideengeschichtliche Entwicklung der beiden Vorläuferbewegungen des Pietismus 23 24

Brecht, Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts, S. 205. ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 10 – Ein Zusatzblatt von fremder Hand in Nr. 11 eingelegt.

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eng mit Lochers Leseverhalten korreliert, wurde die Entwicklungsgeschichte der durch Locher rezipierten Literaturgattung ergänzend als methodisches Ordnungsprinzip zur Bewältigung der Bibliothek Lochers beigezogen. Kern der Bibliothek Lochers bildeten die beiden Hauptströmungen der Vorläuferliteratur des Pietismus. Daneben gab es weitere Literatur, die in drei thematische Gruppen eingeteilt werden kann. Davon lassen sich allerdings etliche Werke auch problemlos einer der beiden Kerngruppen zuordnen. Die thematische Ordnung ist aber dort hilfreich, wo keine Anhaltspunkte über Lochers Lesetätigkeit bestehen. So soll der Blick für die Bereiche Naturphilosophie/Naturwissenschaft und Eschatologie/Chiliasmus geschärft werden. Beide Bereiche sind weltanschauliche Momente, die im engen Verhältnis zu den beiden Hauptströmungen der Vorläuferliteratur stehen. Einen dritten Bereich bildet die pietistische Literatur, welche in etwa dem vierten Bücherschrank in Lochers Aufzählung der konfiszierten Bücher entspricht. Dazu muss angemerkt werden, dass die achtzig pietistischen und antipietistischen Sammelbände mit vielen kleinen Traktaten, von denen der Geschädigte spricht, mehrheitlich nicht in den Konfiskationslisten auftauchen. Was Locher hiervon gelesen hat, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit rekonstruieren. Vielleicht handelt es sich meistenteils um diejenigen Schriften, die ihm Pfarrer Johann Kaspar Hardmeyer in einer bibliographischen Liste mit 65 Titeln brief lich hatte zukommen lassen. Es scheint, dass Locher und Hardmeyer sich um eine lückenlose Sammlung pietistischer Traktate bemühten, nur hinter ein paar wenigen Titeln auf der Liste steht der Vermerk, dass Locher dieses Werk noch nicht besitze.25 In meiner nachfolgenden Untersuchung der Bibliothek Lochers wird eine Reihe von Schriften ausgespart. Zu nennen ist einmal die theologische Standardliteratur, die wohl in beinahe allen Zürcher Bürgerhäusern anzutreffen war. Locher besaß die Zürcher Kirchenordnung von 1626, zweimal den Katechismus, Zürich 1671, je zwei Werke von Zwingli, Bullinger und Gualter. Weiter standen in seinem Bücherschrank dreizehn unterschiedliche Ausgaben der heiligen Schrift – bevor drei durch die Obrigkeit eingezogen wurden. Deren zwei lassen sich bibliographisch nachweisen: Es handelt sich je um eine deutsche Übersetzung des neuen Testaments. Die eine stammt aus Rakau (1630), einer Hochburg des Sozinianismus und hat 25 StaZ, E I 8.5, Nr. 8 [»Memoriale Betreffend He Lochers Correspondenz mit He Pfr. Hart-Meyer«]. Die Kopie des Briefs trägt den Vermerk eines Examinators: »Es ist auch vorhanden ein Catalogus aller Pietistischen und ihrer Widerpart Schriften den He. Hart-M. eigen händig geschrieben, mit andeütung derer so He Locher noch manglen. Auch hat H. M. dem He Locher alle Zinkische Schrifften und andere unfürsichtig verschaffet, weil er wol gewüsst was He Locher im Kopf steket.«

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angeblich Johann Crell (1590–1633) zum Übersetzer; die andere wurde durch den schlesischen Arminianer Jeremias Felblinger (1616- ?) übertragen (Amsterdam 1660). Ebenfalls ausgespart wird die Barockdichtung. Das geschieht im Wissen darum, dass sich die barocke Belletristik nicht problemlos von geistlicher Dichtung unterscheiden lässt. Die Frage nach den Verf lechtungen zwischen den Vorläuferbewegungen des Pietismus und der barocken Lyrik hätte aber den Rahmen dieser Arbeit gesprengt. Quirinus Kuhlmann, bei dem das Ineinandergreifen von Dichtung und Theologie am ausgeprägtesten ist, wird hingegen als Böhmeanhänger und krasser Chiliast berücksichtigt. Seit seinem Aufenthalt in Venedig war Locher ein Liebhaber der schönen Literatur. Hier begeisterte er sich für Torquato Tasso und Giovanni Batista Guarinis Gedicht Il Pastor fido. Zurück im deutschsprachigen Raum las er dann auch die deutsche barocke Schäferliteratur. Er interessierte sich besonders für die »Pasten« der Autoren die sich um die »Fruchtbringende Gesellschaft« gruppierten, wie Martin Opitz, Georg Philipp Harsdörfer und Johann Rist. Weiter kannte er auch die deutsche Übersetzung des Il Pastor fido von Hofmann von Hoffmanswaldau. Besonders schätzte er die Werke der Catharina Regina von Greifenberg, die er für sehr sinnreich und theologisch erachtete. In den Jahren 1676 und 1677 versuchte sich Locher selbst in der Lyrik – wie er in seiner Lebensbeschreibung schildert. Seine Gedichte dienten den Zielen, das Gemüt zur Tugend und Gottseligkeit zu bewegen sowie ein besseres Verständnis des theologischen Wissens zu bewirken. Dagegen verachtete Locher eine Dichtung, die auf Eitelkeit oder Possen ausgerichtet sei.26 In der Konfiskationsliste fehlt die Belletristik fast gänzlich. Es sind lediglich zwei Ausgaben des Il Pastor fido vermerkt, davon eine italienische (Venedig 1673). Dann eine Ausgabe Villa Benedetta von Matteo Maier, die Lochers Freund, Peter Ericus, 1694 besorgte. Als Letztes verzeichnet die Liste noch Francesco Petrarca, Sechs Triumphi oder Siegesprachten. Es ist zu vermuten, dass noch weitere belletristische Literatur konfisziert, aber nicht registriert wurde. Denn Locher beschwert sich in dem oben zitierten Bibliotheksinventar, das er aus den Gedächtnis erstellte: »Aus dem Kasten des Sohnes wurden genommen: Fräulein von Greifenberg’s Werke« 27. Denkbar also, dass die deutschsprachige Barockdichtung nicht registriert wurde. Einen zweiten Grenzbereich zwischen Dichtung und religiöser Literatur bilden die Psalmenübersetzungen, die Johann Heinrich Locher sammelte. 26

ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 16., S. 2. Vermutlich eine Fortsetzung von Nr. 6 bzw.

Nr. 23. 27

ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 10.

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Er besaß insgesamt neun Editionen, davon zwei in niederländischer Übersetzung. Drei oder vier Ausgaben waren mit Melodien versehen. Konfisziert wurden lediglich drei Psalmennachdichtungen: darunter die kommentierte Ausgabe des Böhmeanhängers Adam Reissner sowie jene Daniel Sudermanns, der dem Umfeld der Schwenkfelder zuzurechnen ist. Die übrigen Psalmenausgaben dienten Locher wohl zur geistlichen und musischen Erbauung; sie werden im Folgenden nicht weiter berücksichtigt. Die Bibliothek Lochers soll helfen, den geistigen Horizont einer zentralen Figur des schweizerischen Pietismus zu ergründen. Dabei kann es nicht darum gehen, Lochers Denken zu erkunden oder gar zu rekonstruieren. Versucht werden kann lediglich, die Gedankenwelt, in der er sich lesend bewegte, nachzuzeichnen. Weil teilweise die zeitliche Abfolge der rezipierten Bücher rekonstruierbar ist, lassen sich Entwicklungslinien in der Lesetätigkeit erkennen und manchmal auch Strategien zur Bewältigung des Alltags durch die Lektüre erahnen. Es wäre vermessen, die Mannigfaltigkeit der Denkströmungen, die Locher beeinf lussten, zu einer einheitlichen Anschauung synthetisieren zu wollen. Erstens wissen wir nicht, wie der Vielleser die einzelnen Autoren rezipierte und wie er sie zu seiner Weltanschauung verarbeitete. Zweitens müssen wir Lochers Denkweise als die eines eklektischen Suchers bezeichnen. Er selbst beruft sich immer wieder auf den beliebten Spruch, der seine methodische Herangehensweise treffend charakterisiert: »Prüfe alles, behalte das Beste«. Wenn ich Locher als Eklektiker bezeichnen, so meine ich das nicht abwertend; Eklektik war vielmehr eine Zeiterscheinung.28 Schließlich kann es nicht das Ziel sein, den Forschungsstand zu den einzelnen Werken und Autoren zu referieren. Es soll hier lediglich darum gehen, sich einen Überblick über den Ideenreichtum zu verschaffen, mit dem sich Johann Heinrich Locher auseinandersetzte. Mein Bemühen ist darauf gerichtet, die Bezüge, Abhängigkeiten, Entwicklungslinien in seinem Denken herausarbeiten sowie Widersprüche oder bloß vermeintliche Widersprüche aufzuspüren. Dabei möchte ich die häufig wiederkehrenden Elemente in der Lektüre hervorheben. Der Lesestoff Lochers weist mehrere rote Fäden auf, die sich variantenreich beinahe durch die ganze Bibliothek hindurch ziehen. Diese Generallinien mit Variationen waren der Motor zu Lochers Bibliomanie.

28 Als Eklektiker befand sich Locher in guter Gesellschaft: Christian Thomasius verteidigt in der Vorrede zur Einleitung zur Vernunftslehre, S. 50, das eklektische Philosophieren. Eklektik ist für ihn das vorurteilslose Denken, mit dem er über den Gegensatz zwischen Aristoteles und Descartes hinaus gelangen will.

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Abbildung 3: »Die Edle Beÿnen arth | ihr honig dort vermehret, | Alwo die unrein Spin | alles in gifft verkehret.« Der kleine religiöse Stich aus Lochers Nachlass illustriert 1 Thess 5.21: »Bewährend alles: behaltend das gute«. Bezeichnenderweise wird hier in der Bildsprache das Bienengleichnis aus Senecas 84. Brief an Lucilius mit dem erkenntnistheoretischen Leitspruch vieler Pietisten verknüpft. In der Renaissance erhob Petrarca gestützt auf Seneca die Biene zum Symbol des eklektischen Denkens. Die edle Biene kontrastiert die giftige Spinne, welche die scholastische Orthodoxie darstellt. [ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 6, eingeheftet zwischen S. 40 und 41]

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2.2 »Der Tode Adams vnnd das Leben Christi«: Die Arndtianer Johann Heinrich Locher erlebte eine schwierige Kindheit und Jugend.29 Die Ursache lag beim Großvater Johann Heinrich Locher (1594–1668), Handelsherr zum Kropf. Er scheiterte als Kaufmann, war aber insofern erfolgreich, als es ihm gelang, vermögender zu erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Selbst als sein Geschäft schon in eine bedenkliche Schief lage geraten war, verstand er es, kreditwürdig zu bleiben. Weil man ihn offenbar für wohlhabender hielt, als er tatsächlich war, konnte sein ältester Sohn Konrad Locher eine hervorragende Partie machen. Er heiratete Barbara Römer, die älteste Tochter Johann Römers aus dem damals aufstrebenden Handelshaus der Römer.30 Der Tochter wurden 1000 Pfund Mitgift als Startkapital für den Betrieb ihres Mannes mitgegeben. Statt aber als gelernter Posamentier sein Geschäft aufzubauen, schenkte er dem Kreditgesuch seines Vaters Gehör und lieh diesem sein Startkapital. Wahrscheinlich war damals das väterliche Geschäft bereits rettungslos zerrüttet. Der Großvater Locher konnte noch einige Jahre den hochstaplerischen Schein eines f lorierenden Hauses aufrecht erhalten, riss aber schließlich seinen Sohn Konrad mit in den Ruin. Dieser war nicht mehr in der Lage, seinen Handwerksbetrieb hochzuarbeiten und war gezwungen, die Hälfte seiner Werkstatt unterzuvermieten. Laut der Chronik von Pfarrer Johann Jakob Locher (1682–1752), ließ Barbara Römer das finanzielle Unglück ihres Mannes nicht gleichgültig: Der Hausfrieden hing seither schief. Als sich dann abzeichnete, dass die Familie Römer keine Anstalten zeigte, um Konrad Locher von seinen Schulden zu befreien, verließ er 1659 Zürich in Richtung Holland, wo er sich von der Ostindischen Kompanie anwerben ließ. Er kehrte erst nach Ablauf der zehnjährigen Dienstzeit aus Jakarta nach Zürich zurück, wo er dann das Amt des Sensals bekleidete. Die Flucht Konrad Lochers in die holländische Kolonie stürzte den faillierten Haushalt endgültig ins Elend. Barbara Römer plagte sich mit Sorgen um das tägliche Brot. Sie trieb ihren damals elfjährigen Sohn Johann Heinrich zur Erwerbsarbeit im väterlichen Handwerk an. Wenn der Jugendliche keine fehlerfreie Arbeit abzuliefern verstand, wurde er von seiner Mutter aufs heftigste ausgescholten. »Auf diese Weise wurde das bisher frohe Kinderherz unaussprechlich niedergedrückt.«31 Später wurde er 29

Die Beschreibung des familiären Umfelds und der Jugendjahre Johann Heinrich Lochers basiert auf Aufzeichnungen des Pfarrers Johann Jakob Locher-Pfenninger: ZB Zürich Ms. E 41. Garnaus, Die Familie Locher, S. 94–96, orientiert sich ausschließlich an diesen Aufzeichnungen. 30 Vgl.: Garnaus, Die Familie Römer. 31 Es ist ein Topos, dass Pietistinnen und Pietisten als »schwermütig« bezeichnet und somit pathologisiert werden. Die Redensart Johann Jakob Locher-Pfenningers vom »nieder-

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in die Lehre geschickt. Doch der junge Locher schien handwerklich nicht geschickt genug zu sein. Sein Meister war mit ihm wenig zufrieden und schickte ihn eines Tages mit einem missratenen Werkstück zu seiner Mutter nach Hause. Der Lehrling schlug aber nicht den Weg ins mütterliche Haus ein, sondern passierte das Niederdorfer Stadttor und riss aus. Er wanderte über Würenlos, Baden und Brugg und erreichte das süddeutsche Städtchen Endingen. Hier traf er auf Weinbauern, die gerade an der Lese waren. Er wurde von einem kinderlosen Ehepaar freundlich aufgenommen und soll eine noch nie erfahrene Zärtlichkeit erlebt haben. Die beiden wollten ihn adoptieren, der katholische Pfarrer riet aber davon ab. Beschlossen wurde, dass der Ausreißer im Frühjahr wieder heimkehren sollte. Neu eingekleidet, mit einem Gulden Lohn und einem guten Zeugnis in der Tasche kehrte er nach Zürich zurück. Locher soll sich angeblich bis an sein Lebensende dankbar an seine Gastgeber, das katholische Ehepaar Frei, erinnert haben. Nach seiner Heimkehr trat er eine Ausbildung im Kontor seines Onkels Heinrich Römer [139] an, der sein Mentor wurde. Der Aufenthalt in Endingen muss den damals dreizehn oder vierzehn Jahre alten Johann Heinrich Locher beeindruckt und geprägt haben. Nach einem leitmotivischen, einleitenden Abschnitt setzt das autobiographische »Freimüthiges GlaubensBekanthnus« bei diesem Erlebnis ein, und die Selbstdarstellung seiner geistigen Entwicklung nimmt im breisgauischen Städtchen Endingen seinen Anfang. Dort habe er die Religion der Leute genau beobachtet und mit seiner eigenen verglichen. Zuhause habe er die Bibel und die Schriften Calvins aufmerksam gelesen. Er studierte den Zürcher und Heidelberger Katechismus und besuchte f leißig die Kirche »und überlegte ein und anderes neben dem was ich zuvor bey den papisten gewahret, wohl bey mir selbsten« 32 . Er musste die konfessionellen Differenzen zwischen dem evangelischen Glauben seiner Eltern und dem katholischen Glauben seiner in Endingen offenbar lieb gewonnenen Pf legeltern in sich selbst austragen. Eine neutrale Instanz stand ihm nicht zur Verfügung: Er selbst sah sich als Heranwachsender in die Rolle dessen versetzt, der auf der Suche nach dem eigenen Glauben die konfessionellen Gegensätze abwägen muss. Der Anspruch selbständig zu urteilen, muss hier als erster bemerkenswerter Punkt hervorgehoben werden. Es mag sein, dass Johann Heinrich Locher das »Selbstdenken« in der Retrospektive überbewertet. Die Tatsache aber, dass ein Heranwachsender, der zwischen zwei konfesgedrückten Kinderherz« scheint auf diesen Topos Bezug zu nehmen. Zitiert nach Garnaus, Die Familie Locher, S. 96. 32 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 2.

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sionelle Bezugsrahmen gerät, zutiefst verunsichert wird, scheint mehr als glaubwürdig. Diese Situation rief in ihm, der sich erst anschickte, die Welt und somit – im damaligen Selbstverständnis – auch das Religiöse zu erkunden, eine tiefe Krise hervor. Der zweite bemerkenswerte Punkt ist die tiefe Verunsicherung, welche die Konfrontation mit zwei christlichen religiösen Systemen in ihm auslöste, sowie die Suche nach einem fixen vermittelnden Bezugspunkt. Weilen aber gewahret, daß ein jeder die biblische Schrifft nach seinem Sinn deüthet und trehet und sich selbst zum meister darüber macht, brachte mir solches mehr Schwehrigkeit im gemüth, besonders weil mich nicht mächtig befande den ungezweif let rechten verstand der Schrifft also zufaßen, daß ich entweder partheÿ hette gäntzlich beifallen, und darmit mein gemüth berüwigen können, daran mir mehr gelegen were als an meiner leiblichen verwandtschafft und irdischen vaterlandt: ward in mir (ob Godt will durch meinen guten Geist, daran ich nicht Zweif le,) ein antrib zu ernstlichem gebedt erwackt, rüffte deswegen zu Godt umb seine aufschließung und Erläuchtung mit anlobung daß mir weder verwandtschafft noch vaterland so lieb sein solle, Ich wolle alles gern verlaßen, wenn ich versicheret seÿ, daß meinem Godt ein gefallen dardurch geschehen möge. Als ich von meinem gebädt, aufstunde, und aus der Kammer in die Stuben kame, fand ich ein kleines büchlein, deßen titel des todt Adams und des leben Christi, ware eigendtlich Johan Arndts Erstes buch vom wahren Christenthumb33, welcher ich also bald zu hand nahm und lase, dardurch ich ziemlich berüwiget worden.34

Zu Beginn der Hinwendung Johann Heinrich Lochers zum Pietismus steht ein nach seiner Selbstwahrnehmung doppeltes Wunder. Als der jugendliche Locher nach dem Gebet sein Zimmer verließ und ins Wohnzimmer zurückkehrte, fand er auf wundersame Weise ein Buch vor, dessen Vorhandensein ihm zuvor nicht bewusst war. Der Heranwachsende befindet sich in einer sein weiteres Leben prägenden Glaubenskrise und stößt auf dem Kulminationspunkt dieser Krise auf ein ihm unbekanntes Erbauungsbuch, von dem er auch nicht wusste, dass es zum Familienbesitz zählt. Dieser Bücherfund, und das ist für ihn das zweite Wunder, leitet nun eine erste Katharsis in Lochers religiöser Entwicklung ein: Das zu33

Unter dem Titel Der Tode Adams und das Leben Christi erschien das 1. Buch vom wahren Christentum erstmals 1615 in Zürich. Vgl.: Schneider, Arndt-Rezeption im Täufertum, S. 247. Es lässt sich bloß eine Schrift mit späterem Druckjahr nachweisen: Arndt, Der Tode Adams/ vnnd | das leben Christi. | Das ist: | Christlicher vnd auß | Gottes wort geschöpffter | Bericht: wie in einem wahren | Christen/ Adam täglich sterben/ Chri|stus aber in ihm leben sol/ vnnd wie er nach | dem Bilde Gottes täglich ernewert/ vnd in der newen Geburt leben | müsse. | Von erstem durch Herrn | Johann Arndt/ Diener am | H. wort Gottes beschriben/ | An jetzo von newem vbergesetzt, Zürich (in verlegung Joh Balthassar Beuggers zu Stein) 1616 [UB Basel Frey-Gryn F VIII 53]. 34 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 3 f.

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fällig entdeckte Erste Buch vom Wahren Christentum gab ihm eine neue Perspektive und eröffnet ihm einen Ausweg aus seiner Not. Die Darstellungsweise, wie Locher durch göttliche Fügung auf Johann Arndt stößt, darf angezweifelt werden. Das Wahre Christentum war damals eines der verbreitetsten und bekanntesten Erbauungsbücher. Der Jugendliche machte da keineswegs eine besondere Entdeckung. Dass ein in Glaubensfragen interessierter, im protestantischen und städtischen Milieu des 17. Jahrhunderts Heranwachsender früher oder später mit dem geistlichen Standardwerk in Kontakt kam, kann mit großer Wahrscheinlichkeit vorausgesetzt werden. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass Locher, als er als 52-jähriger in weltanschaulichen Dingen Gefestigter sein Glaubensbekenntnis schrieb, seinen geistigen Werdegang als linearen und folgerichtigen Prozess im Nachhinein idealisierte. Die Erzählkette, die bei der Glaubenskrise anhebt, im Flehen zu Gott seinen Höhepunkt erreicht und im wundersamen Auffinden eines Traktats den Weg aus der Krise findet, soll dem Leser das Wesen Gottes als gütigen Lenker eines jeden, der ihn sucht, offenbaren. Lochers Weg zum Pietismus ist für ihn selbst anscheinend ein erlebter Beweis der speziellen Providenz, der unmittelbaren, lenkenden Anwesenheit Gottes im diesseitigen Leben eines Individuums. 2.2.1 Johann Arndt Wie auch immer Johann Heinrich Locher diesen Prozess erlebt haben mag, eines scheint gewiss: den Ausgangspunkt seiner intellektuellen Entwicklung nahm er beim Ersten Buch vom wahren Christentum. Johann Heinrich Locher vertiefte sich im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren in die Lektüre des Ersten Buchs vom wahren Christentum: Welche geistige Begegnung machte der jugendliche Zweif ler und Sucher? In welche Ideenwelt tauchte er ein? Und welche Antworten konnte er auf seine Glaubenskrise finden? 2.2.1.1 Das Erste Buch vom wahren Christentum Das Erste Buch vom wahren Christentum geht von einer dualistischen Lehre aus.35 Es ist geprägt von Gegensatzpaaren wie innerlich und äußerlich, 35

Dem Überblick über das Erste Buch vom wahren Christentum ( WCh, 1) liegt folgende Ausgabe zugrunde: Arndt, Vier Bücher | Vom Wahren Christenthumb/| Heilsame Busse/ Hertzlicher | Rewe vnnd Leyd vber die Sünde vnd | wahrem Glauben: Auch heiligem Le=|ben vnd Wandel der rechten | wahren Christen. | Derer Inhalt nach dem Titul | zu finden, Strassburg 1635 [ZB Zürich E 376]. Erstes Buch, Liber Scripturae, Wie in einem wahren Christen Adam täglich sterben/ Christus aber in ihm leben soll: Und wie er nach dem Bilde GOttes täglich ernewert werden/ vnnd in der newen Geburt leben müsse.

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Geist und Fleisch, Jesus und Adam, gut und böse, Buße und Gottes Zorn, wahrer und falscher Glaube. Die Welt ist ein Ringen zwischen diesen Gegensätzen, ein steter Kampf, den jeder Mensch mit sich selbst führen muss: ein Kampf zwischen Sünde und Buße. Gleich in der Vorrede steckt Johann Arndt Ziel und Motivation seiner Schrift ab. Er eröffnet die Schrift mit einer Klage über das unbußfertige, unchristliche Leben, das viele führen, die sich Christen nennen. Christen, die sich aufführen, als wären sie Heiden. Das »Leben der jetzigen Weldkinder« sei ein falsches Christentum. Halte man die christliche Lehre der Welt entgegen, so sei offensichtlich, dass die Welt dem Christentum widerspreche: Denn was ist aller Menschen leben jetzo/ denn Geitz/ Sorge der nahrung vnd Wucher/ Fleischeslust/ Augenlust/ hoffertiges Leben/ das ist das meiste und beste/ so in der Welt ist/ grosse Ehre auff Erden/ Ansehen/ grosse Namen/ Ungehorsam/ Zorn/ Zanck/ Krieg/ Uneinigkeit/ heimlicher Neid/ Unversöhnligkeit/ Ungerechtigkiet/ Unreinigkeit/ Betrug/ Falschheit/ Verleumbdung ( WCh, 1.10).

Das unchristliche Leben verleugne Christus und den wahren Glauben. Christus werde durch diejenigen verspottet, die sich Christen nennen und dennoch nichts Christliches täten (WCh, 1.9). Dieses »gottlose Wesen« gab Arndt den Anlass zu seinem Werk. Er will darlegen, worin das wahre Christentum bestehe: Nämlich im »waren/ lebendigen/ thätigen Glauben«, in der rechtschaffenen Gottseligkeit und in der Furcht der Gerechtigkeit. Ein wahrer Christ glaubt nicht bloß an Christus, sondern er lebt auch in Christo. Und Christus in uns müsse aus dem innersten Grund des Herzens ausgehen. Kurz: »daß wir Christo vnd seinem heiligen Evangelio gleichförmig werden«. Denn das wahre Christentum bestehe nicht in Worten oder im äußerlichen Schein, sondern im lebendigen Glauben und aus Christus selbst. Die 51. Kapitelüberschrift formuliert das Programm der Schrift, nämlich, wie das verdorbene Christentum überwunden werden könne: »Das gantze Christenthumb stehet in der wider Auffrichtung deß Bildes Gottes im Menschen/ vnd in Außtilgung deß Bildes deß Satans« ( WCh, 1. 51). Das Ziel ist eine Erneuerung des Geistes, so dass der neue Mensch entstehe nach dem Ebenbild Gottes. Die verdorbene Welt hat ihren Ursprung im Sündenfall Adams. Die Arndtsche Sündenfall-Lehre weicht erheblich von der theologischen Auffassung ihrer Zeit ab. Sie ist, wie Edmund Weber bemerkte, kein einmaliges Ereignis, sondern ein anhaltender, täglicher Sündenfall der ganzen Menschheit.36 Das hat wiederum die Konsequenz, dass jeder Mensch den unschuldigen Zustand vor dem Fall wieder erlangen kann – das heisst, ein 36

E. Weber, Johann Arndts vier Bücher vom Wahren Christentum, S. 53 f.

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»Der Tode Adams vnnd das Leben Christi«: Die Arndtianer

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Abbildung 4: Titelblatt des als Der Tode Adams in Zürich 1616 gedruckten Ersten Buch vom Wahren Christentumb von Johann Arndt. Das kleine Werk erschien dem jugendlichen Johann Heinrich Locher als göttliches Wunder und stand am Anfang seiner Hinwendung zur pietistischen Frömmigkeit. [UB Basel Frey-Gryn F VIII 53]

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wiedergeborener neuer Mensch werden kann. Nicht der Apfelbiss leitete den Sündenfall ein: Der Fall Adams habe seinen Ursprung im Ungehorsam gegen Gott. Der Mensch habe sich von ihm abgewendet: »Dadurch er deß heiligen Bildes Gottes beraubt/ nemlich der vollkomenen Erbgerechtigkeit: im Verstande verblendet: im Willen vngehorsam vnd Gott widerspenstig/ in allen Kräfften des Hertzens verkehrt vnnd Gottes Feind worden« ( WCh, 1.2). Eigenliebe und Ehre zerstöre die höchsten Gaben des Menschen. Dasjenige, das Gott in deinem Herzen bewirke, sei gut, dasjenige, das auf die eigene Ehre, den Rum und Nutzen abziele, sei hingegen sündig. Der Mensch könne von Natur aus nicht anderes, als sich selbst lieben, sich ehren, und den eigenen Nutzen suchen. Er könne nichts anderes als sündigen, das sei ihm angeboren. Gott selbst müsse den Anfang zur menschlichen Wiedergeburt stiften. Gott habe dazu den Menschen Christus gegeben als lebendes Beispiel, welches in den Menschen leben solle ( WCh, 1.31). Die Sündenfall-Lehre des Wahren Christentums widerspricht dem Prädestinationsbegriff der helvetischen Konsensusformel von 1675, weil der »Mensch in Christo zum ewigen Leben ernewert« werden könne.37 Wie stellt sich Johann Arndt die Wiedergeburt vor? Die neue Geburt sei ein Werk Gottes, durch Gott werde man zu einer neuen Kreatur. Sie beinhalte die Rechtfertigung und Heiligung. Die neue Geburt sei zweifach: Zum einen werde die f leischliche, irdische, sündige und verdammte Geburt, die von Adam herrühre, verlassen und die geistliche, heilige, selige Geburt, die von Christus herrühre, erlangt. Der Mensch als Ebenbild Gottes werde wieder hergestellt. Adam steht also für einen »vihischen/ irdischen/ thierischen« Geist, Christus dagegen für einen himmlischen und göttlichen ( WCh, 1.3.). Es gibt demnach eine f leischliche Natur des Menschen, für die der gefallene Adam steht, und eine geistliche Natur, die Christus verkörpert. Sowohl Adams alte Geburt als auch Christus neue Geburt ist im Menschen angelegt: »Also muß Christi newe Geburt auch in uns seyn. Und das heißt der alte und newe Mensch/ die alte und newe Geburt/ der alte und newe Adam/ das irdische und himmlische 37

Der 13. Kanon der »Einhellige Formul Der Reformierten Eidgenößischen Kirchen/ betreffend Die Lehr von der allgemeinen Gnad/ und was derselben anhanget/ so dann auch ettliche andere Religions=Puncten« besagt: »So ist hiermit der Mensch nach dem Sündenfall von Natur/ und seinem ersten Ursprung an/ eh und bevor er einiger thätlichen Sünden beschuldigt wird/ dem Zorn und Fluch GOttes unterworfen […]. Wann hiemit der Herr Christus gestorben/ so sind zugleich mit ihm gestorben/ und folgends auch von den Sünden gerecht gesprochen worden einzig und allein die Außerwehlten […]/ für welche allein er [= Christus] in seinem Tod sich zu einem Versöhnopfer dar gestellet hat.« ZB Zürich Ms. B 185 [»Religions=Sachen welche sich in Reformierter Eydgenossenschaft zugetragen Von jahr Christi 1680 bis 1701«], Nr. 2, FORMULA | CONSENSUS | Ecclesiarum Helveticarum Reformatarum, | CIRCA | Doctrinam de Gratia universali & connexa, | aliaque nonnulla capita, o. O. o. J., S. 19 f.

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Bild/ das alte und newe Jerusalem/ Fleisch und Geist/ Adam und Christus in uns/ der inwendige und äusserliche Mensch.« Das Wort Gottes sei der Samen der neuen Geburt. Die neue Geburt geschehe durch den Geist und durch den Glauben. Der Weg zur Gottähnlichkeit, zur »Vergottung« des Menschen, führt über die Buße. Durch die Buße »geschicht die Tödtung und Creutzigung des Fleisches […]/ und die Lebendigmachung des Geistes«. Der Mensch müsse sich selbst verleugnen, seinen Willen brechen und sich Gottes Willen ergeben. Der Mensch solle die Welt verschmähen und auf Ehre und Herrlichkeit verzichten. Die wahre Buße sei die Abtötung des Fleisches ( WCh, 1.4). Wer Christus in seinem Leben nicht nachfolge, der tue nicht wahre Buße. Dieser Bußkampf geschieht jeden Tag neu: In einem wahren Christen müsse der alte Mensch täglich sterben und der neue Mensch täglich erneuert werden. In ihm streite der Geist wider das Fleisch ( WCh, 1.11–16). Gefordert wird eine weltabgewandte Askese. Kurz: Die Askese ist Arndts Weg zur Wiedergeburt. Bevor Johann Heinrich Locher Der Tode Adams/ vnnd das Leben Christi zur Hand nahm, hatte er tief verunsichert zur Kenntnis nehmen müssen, dass jede Konfessionskirche den Glauben und die Bibel nach ihrem Dafürhalten auslegt. Er selbst war auf der Suche nach dem »ungezweif let rechten verstand der Schrifft«. Er empfand die zwinglianische Kirche genau wie die katholische als »parteilich«. Mit parteilich meint Locher eine konfessionelle Bindung, oder das Fehlen eines über den dogmatischen Systemen der Kirchen stehenden allgemeinen Standpunktes. Die Konfessionskirchen empfand er als einseitig. Selbst war er auf der Suche nach Unparteilichkeit. Durch die konfessionellen Gegensätze irritiert, suchte er nach einem überkonfessionellen Bezugsrahmen. Er war auf der Suche nach dem »richtigen« Christentum. Diese Suche nach einer unparteiischen Konfession stellt Johann Heinrich Locher als Leitmotiv und Grundmotivation seinem Glaubensbekenntnis voran: Die vielfeltikeit der menschlichen gemüthsneigung in partheilickkeit, da bald nicht zwen zufinden die Eins von glych gesinnet weren, hatte mich in der Zeit meines Sieben bis Zehne Jährigen alters schön geärgeret, Sonderlich wenn ich horte von so großer partheilichkeit der Religionen, als Papistisch, Lutherisch oder Calvinistisch. dachte schon damals in meinem Gemüth, daß es anders nicht als übel sein könnte, weil die menschliche gesellschaft dardurch zertrennet, daß Sie sich unter einander verachten, haßen, ja verfolgen und töden, darumb Ich gedachte, wann ich under ein oder anderer solcher Sect gebohren und erzogen were (dann ich damals nit wuste daß wir Züricher Calvinistisch oder Zwinglisch genannt werden) wollte Ich in meinen mannbaren Jahren nicht mithalten, sonder ohne partheilichkeit nach Rechten Wahrheit forschen, und Godt bidten, daß Er mich durch seinen Geist leiten und Erlüchten möchte, damit nicht meine Seele und

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Seligkeit an falschen menschen vertrouten sonder in seinem Liecht selbs zu sehen gelangte.38

Diese das Glaubensbekenntnis einleitenden Worte stecken die Aufgabe ab, die sich Locher in seinem Leben gesetzt hat, und verdeutlichen gleich einleitend seinen Grundkonf likt – ein Grundkonf likt, der bereits im jugendlichen Alter auftrat. Die Überwindung dieses Konf liktes setzte er sich zum Lebensziel. Die Suche nach der unparteilichen Religiosität ist der Ursprung seines Glaubens. Seine pietistische Frömmigkeit hebt bei der Suche nach einem überkonfessionellen – oder unparteilichen – Bezugsrahmen an. Und diesen indifferentistischen Bezugsrahmen konnte Johann Arndt in Form seines asketischen und tätigen Christentums dem Zweifelnden anbieten: Nicht der Name, nicht eine spezielle Konfession, sondern christliches Leben zeichne einen wahren Christen aus. Christus im Menschen zeichne den Glauben aus. Der wahre Glaube sei ersichtlich an der Liebe, Demut und Freundlichkeit. Es sei der Geist der neuen Geburt, der Christus in uns lebendig mache (WCh, 1.22). Mit der Hinwendung zu einer der mystischen Terminologie entlehnten »Christus in uns«-Formel findet bezüglich des gesuchten überkonfessionellen Bezugsrahmens ein Paradigmawechsel statt: Das Kriterium für einen wahren oder richtigen Glauben wird nicht mehr an den konfessionellen Glaubensgrundsätzen festgemacht. Konfessionelle Unterschiede sind außerhalb von uns. »Christus in uns« ist nun entscheidendes Element für das Prädikat wahrer Glaube.39 Das hat für Arndt auch weit reichende Konsequenzen für konfessionelle Abgrenzungsbestrebungen: Die richtige Lehre und das göttliche Wort könne nicht mit Disputieren und mit der Lektüre vieler Bücher alleine begriffen werden, dazu brauche es vorerst die Buße und das christliche Leben. Und: Das unchristliche Leben sei die Ursache falscher Lehren: Das sündige Christentum bestehe in der Vermehrung der Streitbücher ( WCh, 1. 38, 39). Locher fand in der mystischen Literatur, der er sich – wie wir weiter unten sehen werden – im Anschluss an die Arndt-Lektüre zuwandte, einen neuen religiösen Bezugspunkt, der ihm half, seine Krise zu überwinden. Der mystische Ansatz half ihm, sein Dilemma aufzulösen, indem dabei die Betrachtungsebene radikal wechselte. Die Ebene des äußeren Glaubens wird verlassen und die Ebene des inneren Glaubens eingenommen. Dieser Perspektivenwechsel zieht im ersten Buch vom wahren Christentum bedeutende Folgen für das Verständnis der Schrift und für die Auffassung des Kirchenbegriffs nach sich: Der Gottesdienst nach dem neuen Testament sei nicht mehr äußerlich und zeremoniell, er folge nicht mehr Sat38 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 1 f. 39 Vgl.: Schrader, Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort.

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zungen und Vorschriften wie der jüdische Gottesdienst im Alten Testament. Er finde innerlich im Geist und in der Wahrheit statt. Im Glauben allein sei Tempel und Altar, in ihm sei Zeremonie und Opfer erfüllt, so daß wir durch die Einwohnung des heiligen Geistes/ GOtt mit freywilligem Hertzen vnd Geist dienen können. […] Denn dardurch wirdt der Mensch zum heiligen Tempel Gottes/ in welchem der innerliche Gottesdienst durch den heiligen Geist verriechtet wird […]. Nicht aber heissets darumb ein Gottesdienst/ daß Gott vnsers Diensts bedürffe/ oder daß er Nutzen darvon hätte: Sondern so barmhertzig vnd gütig ist er/ daß er sich selbst vns mit all seinem Gute gern mittheilen wolte/ in vns leben/ wircken vnd wohnen/ wenn wir ihn durch sein Erkändtniß/ durch den Glauben vnd wahre Busse auffnehmen wolten/ daß Er seine Werckstatt in vns haben möge. Denn es gefallen ihm keine Werck/ die Er nicht selbst in vns wircket ( WCh, 1.21).

Ein falscher Gottesdienst dagegen, der weder von Gott befohlen wurde noch ihm diene, errege höchstens seinen Zorn ( WCh, 1.35–37). Der mystische Begriff »Einwohnung« Gottes im Gläubigen ermöglicht eine Art Offenbarung Gottes in jedem Individuum. Offenbart sich Gott nach der herkömmlichen Auffassung durch die heilige Schrift und allenfalls noch in der Natur, so kommt nun eine weitere Möglichkeit der unmittelbaren Erfahrung hinzu. Das Verständnis der Bibel erfährt bei Johann Arndt eine mystische Erweiterung. Gottes Wort müsse im Menschen – dank der asketischen Wiedergeburt – lebendig werden. Denn die Schrift zeuge von außen von der neuen Kreatur. Auf die Wiedergeburt und die Erneuerung des Menschen komme es an. Doch alles was im Geist, im gläubigen Menschen, geschehe, habe Gott in der »äusserliche(n) Schrifft verfasst vnnd darinn den gantzen newen Menschen abgebildet«. Gottes Wort sei als Samen in uns angelegt und die äußerliche Schrift nähre und lehre ihn. Die Schrift solle lebendig werden im Geist und Glauben und nicht ein toter Buchstaben bleiben. »Also was ist das newe Testament dem Buchstaben nach anders/ denn ein äusserlich Zeugniß/ daß es alles im Menschen also muß im Glauben geschehen?« Wer also sein Herz an die äußerliche Welt hänge, dem bleibe die Bibel ein toter Buchstabe ( WCh, 1.6 und 36). Martin Brecht hat zu Recht bemerkt, dass der Einsatz der Adjektive im Titel »Vom wahren Christentumb/ heilsamer Busse/ wahrem Glauben/ heyligem Leben vnd Wandel der rechten wahren Christen« zur charakteristischen Sprechweise der Pietisten wurde. Diese Nähe zur nachmaligen Frömmigkeitsbewegung löste eine Kontroverse über die Anfänge des Pietismus in der Forschung aus. Die Diskussion über den Pietismusbegriff hat sich bis heute nicht erschöpft40, aber eine Unterteilung des Be40

Vgl.: Wallmann, Eine alternative Geschichte des Pietismus.

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griffs in einen »Pietismus im engeren Sinne«, der sich an einer kirchlichen Reformbewegung und Speners Pia Desideria orientiert und einem »Pietismus in weiteren Sinne«, der frömmigkeitsgeschichtlich bei Arndt einsetzt, erfreut sich einer großen Beliebtheit. Die vierbändige Geschichte des Pietismus ist diesem Ansatz verpf lichtet.41 Ich werde weiter unten erörtern, welche Rolle Johann Arndt in Johann Heinrich Lochers Hinwendung zum Pietismus spielte, um so anhand eines individuellen Beispiels den Stellenwert Arndts für die Frömmigkeitsbewegung abzuschätzen: Inwieweit war das Phänomen Pietismus, bzw. radikaler Pietismus, bereits im Wahren Christentum vorformuliert? Wogegen grenzt sich Johann Arndt mit den Adjektiven »wahr«, »heilsam«, »heilig« und »recht« ab? Diese Eigenschaften bezeichnen einen ernsthaften, innerlich empfundenen, im Selbst verankerten Glauben, der sich im täglichen, individuellen »Bußkampf« bewähren muss. Dieser Glaube grenzt sich gegen den »verderbten« Glauben ab. Dass damit ein falsch verstandenes Christentum gemeint ist, macht das Vorwort des ersten Buches des Wahren Christentums unmissverständlich klar. Johann Arndt zieht die Grenzlinie nicht wie zur damaligen Zeit üblich zwischen den Konfessionen, sondern zwischen einem im Individuum verankerten Glauben und der auf dogmatische Lehrausübung bedachten Konfessionskirche. Das Wahre Christentum konnte als indifferentistisch verstanden werden. Es ist wohl kein Zufall, dass die Verbreitung des Werks nicht bloß auf den lutherischen Raum beschränkt blieb, sondern auch unter den Reformierten beliebt war. Selbst im katholischen Spanien soll die Schrift auf Resonanz gestoßen sein.42 Johann Arndt kante keine Scheu, sich über konfessionelle Schranken hinweg zu bewegen. Er beschäftigte sich auch mit katholischer Literatur und machte dort Anleihen für sein Werk. Seine irenische Haltung begründete er mit Thes 5.21: »Prüfet alles; das Gute aber behaltet!« 43 Dieses Bibelzitat avancierte dann zum Leitspruch vieler radikaler Pietisten: Auch Johann Heinrich Locher orientierte sich an diesem irenisch überkonfessionellen Motto, das den eigenständigen Weg zum Glauben betont.44 Auf dem Höhepunkt seiner Glaubenskrise gelobte Johann Heinrich Locher zu Gott – wie oben zitiert –, »daß mir weder verwandtschafft noch vaterland so lieb sein solle«. Der Betende war in seinem konfessionellen Dilemma bereit, für den nach konfessionellen Gesichtspunkten 41 Brecht, Das Auf kommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland, S. 134; Stoeffler, The Rise of Evangelical Pietism, S. 202; Wallmann, Der Pietismus, S. 10. 42 Schneider, Johann Arndt als Paracelsist, S. 89. 43 E. Weber, Johann Arndts vier Bücher vom Wahren Christentum, S. 40. 44 ZB Zürich Ms. S. 276, Nr. 6, Wahrhafftige Erzellung. Brief Lochers an Ratsherrn Chr. Werdmüller vom 26. Juli 1698. Auch der Frankfurter Radikalpietist Johann Jakob Schütz beispielsweise erhob Thes 5. 21 zu seinem Leitspruch. Siehe: A. Deppermann, Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus.

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wahren Glauben seine Konfession und somit auch seine Heimat aufzugeben. Was er nun in der Lektüre des Wahren Christentums fand, war etwas ganz Neues: einen radikalen Ausweg aus seinem Dilemma. Er fand einen überkonfessionellen ›wahren‹ Glauben. Einen innerlich empfundenen, lebendigen und täglich neu erkämpften Glauben – einen Glauben, der im menschlichen Innern seinen Platz hat. Im Innenraum, im Selbst, suchte er nun Gott und die Nähe zu Gott und grenzte sich scharf ab von einem auf orthodoxen Lehrsätzen und rituellen Handlungen beruhenden Glauben – einen Glauben schließlich, der sich auf eine mystische Tradition bezog und Glaubensformeln und -streitigkeiten hinter sich ließ. Johann Heinrich Locher behauptet an einer anderen Stelle von sich, dass er einer allgemeinen Religion verpf lichtet sei.45 Er positioniert sich und seine Frömmigkeit bewusst außerhalb konfessioneller Schranken. Diese Wirkung des Wahren Christentums auf Johann Heinrich Locher wirft eine weitere Frage auf: Ist Johann Arndts Andachtsbuch Ausgangspunkt für eine Dekonfessionalisierung, die im Pietismus ihre Fortsetzung fand? Eine Dekonfessionalisierung, welche – vereint mit einem verinnerlichten Christentum – die mit der Konfessionalisierung eng verwobene Sozialdisziplinierung vermehrt in eine Selbstdisziplinierung umpolte?46 Diese Fragestellung will ich hier lediglich aufwerfen, weil sie sich im ideengeschichtlichen Zusammenhang stellt. Ich werde im dritten Kapitel, welches das Verhältnis des Pietismus zur Politik untersuchen wird, näher auf die Frage eingehen. 2.2.1.2 Paradiß=Gärtlein Nach der Lektüre des ersten Buches vom Wahren Christentum schien Johann Heinrich Locher seine Glaubenskrise überwunden zu haben. Zumindest rückblickend stellte Locher im Glaubensbekenntnis die Begegnung mit Arndt als beruhigend dar. Die Stelle liest sich, als hätte Locher sein inneres Gleichgewicht wieder gefunden und gleichzeitig sein Leben verändert: Darauf nahme ich die Bibel zur Hand, und durchlas Sie: Item die Ubung der Godtseligkeit, Herrn Arndts Paradisgärtlein, und andere derglichen Bücher47, 45

ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 18. Zum Thema Konfessionalisierung und Dekonfessionalisierung vgl. u. a.: Schilling, Das konfessionelle Europa; ders., Die Konfessionalisierung im Reich. Schulze, Einführung in die neuere Geschichte, S. 195 f. Mit abweichender Meinung zu Dekonfessionalisierungsthese: Schnabel-Schüle, Vierzig Jahre Konfessionalisierungsforschung, S. 23–40. 47 Arndt, Paradiß-Gärtlein Voller Christlicher Tugenden: wie dieselbige in die Seele zupf lantzen/ Durch andächtige/ lehrhaffte und tröstliche Gebet/ zu ernewerung deß Bildes Gottes/ zur ubung deß wahren lebendigen Christenthumbs […]; In welchem alle Artickel/ unser Christlichen Religion/ neben den Hauptsprüchen H. Göttlicher Schrifft 46

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welche zu aufrichtiger liebe Godtes und des Nächsten, auch zu verschmehung der Weltlichen ÿtelkeiten das gemüth anlocken, und also ward die Zeit […] under strenge arbeit zugebracht.48

Johann Heinrich Locher trat nach der Rückkehr aus dem breisgauischen Endingen bei seinem Onkel die Lehre im Kaufmannskontor an. Harte Arbeit erwartete ihn dort. Doch er übte sich nicht nur im anstrengenden Kaufmannsberuf, sondern gleichzeitig auch in der Askese. Angeregt durch Johann Arndts Wahres Christentum trachtete er, der Welt und ihrer Nichtigkeiten zu entsagen. Er nahm sich ganz offenbar das Arndtsche BußChristentum zu Herzen und konzentrierte sich auf ein christliches, weltabgewandtes Leben. Das Paradiesgärtlein von Johann Arndt und Johann Gerhardts Übung der Gottseligkeit waren Teil dieses asketischen Rückzuges. Ist die im selben Atemzug mit der asketischen Übung genannte »strenge« Arbeit Teil der im Arndtschen Sinne verstandenen Buße? Der erste Teil des Paradiß=Gärtlein 49 behandelt der Mystik entlehnte Motive: Das Gebet um Demut beispielsweise propagiert letztlich aber bloß die Askese. Hier klagt Arndt, dass der Betende von Natur zur eigenen Ehre geneigt sei, und das Herz durch die Hoffart, der Anfang aller Sünde, vergiftet sei. (20) Das Gebet wider die böse Lust des Fleisches schlägt sodann vor, »daß ein Mensch seine Lust an GOtt haben« solle: Die Seele und der Leib seien bef leckt mit den f leischlichen Lüsten, und die Lust streite gegen die reine Seele, so »dass mein Innwendiges ein Greuel ist für deinen [= Gottes] Augen« (155). Das Gebet um Ruhe der Seele in Christo nimmt ebenfalls mystische Motive auf (60): In diesem Gebet geht es um die Ruhe in dieser Welt und im Zeitlichen. Die Seele könne nur in Gott ruhen. Höhepunkt der mystischen Gebete ist schließlich die Bitte um die Gottähnlichkeit. Das Gebet um die geistliche Vermählung Christi mit unserer Seele, und Danksagung für dieselbe (134): Gedankt wird Christus dem »holdseeligen Bräutigam unserer Seelen«, dass er Gott-Mensch und Mensch-Gott sei und sich deshalb mit allen Gläubigen vereinigen wolle, begriffen seyn; Mit dreyen nutzlichen Registern/ Durch Johannem Arndt, General Superintendenten deß Fürstenthumbs Lüneburg, Strassburg 1625 [HAB Wolfenbüttel Xb 4113]; Gerhardt, Tägliche Ubung der | Gottseligkeit/ | Auch | Nebenst angehefften Morgen=| und Abendsegen/ |auch| Reiß/ Beicht/ | Communion und andere Christliche Ge=|betlein/ nützlich zu gebrauchen. | Itzo auffs neue mit Fleiß | vermehret, Jena (Georg Segenwald) 1619 [HAB Wolfenbüttel Th 925]. Beide Werke sind in der Konfiskationsliste der Locherschen Bibliothek nicht verzeichnet. 48 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 3. 49 Nachfolgend wurde folgende Ausgabe verwendet: Arndt, des | Gottseeligen und hocherleuchteten Lehrers, | Paradiß=|Gärtlein | Welches voller | Christlichen Tugend= Gebete erfüllet. | Deme zu Endo beygefüget | Mehrere Buß= und Communion=Gebete. Ulm (Christian Ulrich Wagner) 1720 [ZB Zürich AB 6795].

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so dass der Mensch mit Christus ein Leib, ein Geist und ein Herz werden könne. (134 f.) Wer Christus herzlich liebe, dem offenbare sich Christus herzlich (138). »Ach meine Seele, vergiß der gantzen Welt, und wende dich gantz zu deinem Bräutigam, so wird er Lust an deiner Schöne haben, so wird er sich mit dir recht vereinen, und du wirst den HErrn erkennen (138).« Die Gebete des ersten Teils nehmen die Forderungen des wahren Christentums auf. Das Paradiesgärtlein kann herauf und herunter gebetet werden, und die mit mystischen Elementen angereicherte Askese lässt sich täglich üben und rezitieren. Aus Johann Heinrich Lochers Aussage darf geschlossen werden, dass das Paradiß=Gärtlein ein praktischer Wegweiser für den zur Frömmigkeit Neigenden war. Diese Funktion des Betbüchleins fürs tägliche fromme Leben erklärt wohl die hohe Beliebtheit und Verbreitung dieser Arndt-Schrift. »Mit dem Munde Gott ehren, und mit dem Leben ihn Lästern. Diesen Irrthum und Blindheit zu eröffnen, damit doch GOtt nicht also verspottet werde, hab ich dieses Bet=Büchlein gestellt«. Das Paradiß=Gärtlein ist eine Sammlung von Gebeten und dient einem bestimmten Ziel: Arndt will zeigen, dass Beten nicht das Werk des alten, sondern des neuen Menschen sei. Er gibt zu bedenken, dass man nicht mit den Worten allein bete sondern auch mit den Taten und mit der Wahrhaftigkeit. Das Herzgebet zähle. Und die Frage, ob man sich Gott nähere. »Die wahren Anbeter werden den Vater im Geist und in der Wahrheit anrufen. Im Geist beten, heisset im Glauben und im geistlichen neuen Leben beten, nicht im Fleisch oder im alten f leischlichen Leben.« Die »Bet=Tage« müssten »Buß=Tage« sein. Im Geist beten bedeute, im Glauben und im neuen Leben beten und nicht im Fleisch oder alten f leischlichen Leben d. h. in wahrer Bekehrung zu Gott. Nur ein Herz, in dem Buße sei, könne mit Gott reden. Das Gebet kenne – ähnlich wie die Mystik – mehrere Stufen. Die erste ist das Bereuen der Sünden. Doch eine Vergebung ohne Besserung sei ein schlechter Handel, deshalb verlangt die zweite Stufe, dass man die christliche Tugend von Gott erbete und ins Herz pf lanze. Die dritte Stufe ist das Gebet mit heißen Tränen. Der vierte Grad ist beten mit Freude, der fünfte beten mit feuriger Liebe, was soviel heißen will, wie nichts anderes empfinden als Gott in allen Dingen. »Denn obwohl alle geistliche Güther in Christo wieder erlanget seyn, die in Adam verlohren gewesen, so kan ihr doch niemand theilhaftig werden, bete denn.«50 Die Tägliche Übung der Gottseligkeit des Arndt-Schülers und Freundes Johann Gerhardt51 zielt ebenfalls auf die Bußfertigkeit ab. Er teilt die Sünden in zwei Kategorien, erstens in die Erbsünde und zweitens in indi50 51

Arndt, Paradiß-Gärtlein, Vorrede (unpaginiert). Honecker, Gerhardt, Johann, S. 448–453.

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viduelle Sünden. Diese Unterscheidung ermöglicht, obwohl der ganze Mensch durch die Erbsünde »verseucht« und seine Natur »verderbt und verkehrt« sei, dennoch die Hoffnung auf Erlösung. Der Traktat preist eine zerknirschte Haltung an, in der Tränen über die Langmut Gottes vergossen werden sollen, weil Gott trotz der vielen Sünden dem Bußfertigen den Weg zum Seelenheil ermögliche.52 Betrachte nun der Mensch seine Bedürftigkeit und seine individuellen Sünden, so werde das Herz zu Gott aufgerichtet. Und dieses bußfertige Herz werde um das Absterben des alten Menschen und um den neuen Menschen beten. Eine Erneuerung, die alle Wiedergeborenen täglich benötigen. »Solche Erneuerung besteht nun in Erhaltung und vermehrung des Glaubens/ der Hoffnung/ Liebe/ Demut/ Gedult/ Sanfftmut/ Keuschheit/ und anderer Tugenden welches alles mit ernstem Gebet von Gott muß erbeten und erlanget werden.« Denn das Fleisch, die Welt und der Satan kämpften täglich gegen den Menschen. Sie wollten uns zur Liebe gegenüber den irdischen Dingen bewegen. Darum müssten wir die irdischen Dinge verachten und uns verleugnen, damit der Mensch sich vor den Versuchungen des Satans schützen und die Ruhe der Seele finden könne.53 Nach Gerhardts Auffassung befindet sich selbst der wiedergeborene Mensch bis ans Lebensende im Dauerkrieg zwischen Gut und Böse. Wie bereits der Titel anklingen lässt, ist die Erneuerung des Menschen ein täglicher Prozess, der immer wieder von Neuem beginnt. Die Askese ist somit nicht bloß Voraussetzung der Wiedergeburt, sondern auch eine Stütze im täglichen Ringen mit den individuellen Sünden. Nun wurde viel von Mystik gesprochen, ohne die Frage nach dem Verhältnis Johann Arndts zur Mystik zu berühren. Dieses soll hier kurz rekapituliert werden, da dies helfen kann, die Beziehung des radikalen Pietismus zu Arndt und zu den Texten der mittelalterlichen Mystik zu beleuchten. Die Frage der Rezeption der Mystik-Literatur durch Arndt wurde in der älteren Forschung54 oft im Zusammenhang mit der lutherischen Konfession aufgeworfen. Dabei stand im Zentrum, ob Arndts Luthertum mit den mystischen Elementen im Wahren Christentum zu vereinen oder ob die Mystik diesem entgegengesetzt sei. Edmund Weber beantwortet diese Frage, indem er die These formuliert, Johann Arndt habe die Mystik »entgiftet«. Er habe die reine Mystik sehr differenziert und mit feinem Gespür aufgenommen und entfernt; er neutralisiere sie in seiner Rezeption. Man könne Arndt schwerlich als Mystiker bezeichnen.55 52

Gerhardt, Tägliche Ubung der Gottseligkeit, S. 4 f. u. 55. Ebd., S. 179 f. 54 Ritschl, Geschichte des Pietismus, Bd. 2, S. 60; Koepp, Johann Arndt; Schneider, Johann Arndt und die Mystik. 55 E. Weber, Johann Arndts vier Bücher vom Wahren Christentum, S. 107. 53

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Christian Braw stellt in seiner Untersuchung über das Verhältnis Johann Arndts zur Mystik eine differenzierte und aufschlussreiche These auf: Arndt habe die Mystik weder nur kompiliert, noch bloß »entgiftet«. Sein Ziel sei gewesen, eine neue evangelische Mystik zu schaffen und zugleich die christliche Lehre zu erneuern. Er habe die Theologie im Sinne eines Arztes heilen wollen und er habe die Medizin dort aufgegriffen, wo er sie fand: nämlich in den Werken der Mystiker. Die Mystik-Rezeption im Wahren Christentum sei durch drei Komponenten geleitet: Naturphilosophie, Ethik und das evangelische Erbe. Daraus ist nach Braw eine neue Konzeption in erheblicher Abweichung zu seinen Quellen entstanden: Kern der Arndtschen Mystik sei die »Einwohnung Christi«. Doch bei Arndt sei nicht die Wiedergeburt, die Erfahrung der Einwohnung in der Seele, im Vordergrund gestanden, sondern die tägliche ethische Erneuerung.56 Arndt selbst habe überhaupt keine mystischen Erlebnisse erfahren. Es sei Arndt nicht darum gegangen, das innere Wort zu hören, sondern das äußere Wort im Innern zu vernehmen. Seine Absicht war eine Erneuerung durch Ethik. Die Mystik – so Christian Braw – sei ein Mittel zum Ziel und nicht die Spiritualität an sich. Die von Arndt verwendeten mystischen Quellen seien für ihn Bücher, die zum heiligen Leben führen, d. h. zu einem ethischen und asketischen Leben.57 Die These Christian Braws ist für uns hier insofern interessant, als sie den Blick auf eine mögliche Differenz zwischen der pietistischen und der Arndtschen Mystikrezeption schärft. Wie sich im Folgenden zeigen wird, blieb der Pietismus – besonders in seiner radikalen Ausprägung – nicht bei Arndt und dessen Mystikrezeption stehen. Viele Pietisten griffen selbst zu den dem Wahren Christentum zugrundegelegten Texten der mittelalterlichen Mystik. Lasen die Pietisten die Mystiker mit demselben Ziel wie Johann Arndt? 2.2.2 Arndts Quellen: Die mittelalterlichen Mystiker Nach der heilsamen Arndt-Lektüre nahm Locher »andere dergleichen Bücher« zur Hand. Um welche Werke handelte es sich dabei? Weitere ArndtSchriften oder ähnlich gelagerte Erbauungsliteratur? Informationen über seine weitere intellektuelle Entwicklung und über seinen Lesestoff gibt uns 56

Auch die Vita von Johann Arndt in der Historie Der Wiedergebohrenen weiß nichts von einer Wiedergeburt Arndts. Seine Autorität wird vielmehr mit einem erneuten Wunder unterstrichen, indem berichtet wird, dass am Todestag des Verfassers des Wahren Christentums »eine nicht geringe Sonnen=Finsternuß erschien/ eben wie am Tag des Todes J. C. zum Zeichen/ daß ein brennend und scheinendes Licht und ein ander Johannes außgehen würde.« Reitz, Historie Der Wiedergebohrenen, II Theil. 57 Braw, Bücher im Staube, S. 18–21 u. 220–229.

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Johann Heinrich Locher erst wieder für die Jahre zwischen dem zwanzigsten und sechsundzwanzigsten Lebensjahr. Doch vorerst reiste er 1668 für rund sechs Jahre nach Venedig. Dass Locher als junger Kaufmann im Auftrag des Römerschen Handelshauses nach Venedig zog, wird von ihm nirgends erwähnt; es liegt aber auf der Hand, denn Locher ging bereits bei seinem Onkel in die Lehre und er bearbeitete auch später als freischaffender Kaufmann die Römersche Geschäftskorrespondenz. Die Handelsmetropole Venedig verband die Wirtschaftsräume des östlichen Mittelmeeres und Asiens mit Italien und den süddeutschen Stadtstaaten.58 Besondere Bedeutung hatte Venedig für die schweizerische Protoindustrialisierung. Als Gegenleistung für die Militärallianz Berns und Zürichs mit Venedig erhielten die Zürcher Kauf leute Zollprivilegien und beispielsweise das für Handelsreisende nicht unbedeutende Recht, in der fremden Stadt Waffen zu tragen. Diese Handelsprivilegien ermöglichten den Zürchern einen Konkurrenzvorteil. Ulrich Pfister erachtet die vorteilhaften Handelsverträge zwischen Zürich und Venedig als einen gewichtigen außerökonomischen Faktor, welcher die Protoindustrialisierung der zürcherischen Gebiete förderte.59 Als der 20-jährige Johann Heinrich Locher nach Venedig kam, ging eine lang andauernde Wirtschaftskrise infolge der englischen und holländischen Konkurrenz zu Ende. Der Abschluss des Kreta-Krieges brach zwar die venezianische Vorherrschaft in der Levante. Das Monopol des Gewürzhandels ging der Lagunenstadt verlustig. Als Ersatz entwickelte sich jedoch der Seidenhandel als neuer Motor des venezianischen Wirtschaftswachstums.60 Das Venedig, in welchem sich der jugendliche Kaufmann niederließ, war nicht bloß eine erneut aufstrebende kosmopolitische Handelsmetropole, sondern auch ein bedeutendes kulturelles Zentrum. Wenn Johann Heinrich Locher später sein Interesse an Literatur und Musik hervorhebt, so erhielt er in der Markus-Stadt die entscheidenden Impulse: In Venedig beschäftigte er sich mit den italienischen Autoren wie Torquato Tasso und Giovanni Batista Guarini sowie mit der italienischen Musik.61 Venedig war ein pulsierendes Handelszentrum, in dem Völker und Nationen des östlichen Mittelmeerraumes aufeinander stießen. Diese Völkervielfalt bedeutete auch, dass Johann Heinrich Locher mit einer Vielfalt von Religionen konfrontiert wurde. Dies löste bei ihm eine erneute Glaubenskrise aus, die der ersten nicht unähnlich war und an jene anknüpfte. 58

Sella, Crisis and Transformation in Venetian Trade, S. 89 f. U. Pfister, Die Zürcher Fabriques, S. 170–179. Siehe auch: Bodmer, Die Entwicklung der schweizerischen Textilwirtschaft, S. 108. 60 Sella, Crisis and Transformation in Venetian Trade, S. 100 ff. 61 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 16, S. 2. 59

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[In Venedig] fande ich aller Hand Nationen und Religionen welches einem anlaaß gebe in Christlicher unpartheilichkeit zu betrachten, So wol die Reformierten, Lutheraner, und Papisten, als Grichen, Armenier, Juden und Türgen, welche alle meist nur nach Zeitlicher Nahrung, Reichthumb, Ehre und Wollust beachteten, und dann ihr gewüßen mit abstadtung ihrer vädterlichen gesatzen und Godtesdienstlichkeiten zu berüwigen suchten, und weilen unter allen diesen partheÿen beßere und bösere sich befanden, auch jedtwedere allein rechtgläubig zu sein sich maasgebe, mit aus-schließung aller andern, solte einen unschuldig aufwachsenden schwer gefallen sein, sich zu entschließen zu welcher partheÿ, auch unter den Christen er sich mit sicherheit fügen und halten köne, dan die Griechen und papisten streiten umb das Alterthumb von Christi und der Apostlen Zeiten her, die Reformierten und Lutheraner umb den wahren verstand der H: Schrifft.62

Dank der Lektüre des Wahren Christentums konnte Johann Heinrich Locher seine quälende Frage nach der richtigen, d. h. wahren, Konfession klären. Er sah sich nun in die Lage versetzt, einen Standpunkt einzunehmen, welcher nicht mehr konfessionell definiert war.63 Er konnte eine unparteiliche, aber dem Christentum verpf lichtete Position einnehmen. Venedig, die Handelsmetropole mit ihrem Völkergemisch, war wie geschaffen, um sich in dieser Haltung zu üben. In Venedig waren Vertreter der großen christlichen Kirchen anzutreffen sowie nichtchristlicher Glaubensrichtungen. Diese in der fremden Stadt aus der irenischen Warte eines in sich gekehrten Christentums zu beobachten, war die Absicht des jungen Kaufmanns. Der unparteiliche christliche Blickwinkel fokussierte sich nicht mehr auf das Trennende zwischen den Kirchen und Religionen, wie dies der konfessionelle Ansatz forderte, jetzt traten die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund. Was dem fremden Beobachter ins Auge stach, war zum einen der Streit zwischen den christlichen Konfessionskirchen, den er mit Parteilichkeit oder Parteizugehörigkeit gleichsetzt. Zum andern kritisiert er, dass die Frage der Rechtgläubigkeit durch Abgrenzung und Ausschließung und eben nicht aufgrund einer »wahren« inneren Herzensfrömmigkeit beantwortet wird. Und schließlich bemängelt Locher, dass in allen Religionen die Sünden durch die Einhaltung des Ritus der jeweiligen Glaubensrichtung gesühnt werden. Sein Fazit ist, dass die Gemeinsamkeit der Gläubigen in allen Religionsgemeinschaften im Streben nach weltlichen und zeitlichen Dingen wie Reichtum, Ehre und Wohlstand bestehe. Mit dieser grundlegenden Kritik an der Glaubenspraxis der diversen religiösen Richtungen zitiert Johann Heinrich Locher beinahe wörtlich Johann Arndt und seine in der Vorrede zum ersten Buch des wahren 62 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 4. 63 Zum Beitrag der pietistischen »Herzfrömmigkeit« zur Dekonfessionalisierung vgl.: Schilling, Das konfessionelle Europa, S. 59.

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Christentums erhobene Klage vom korrumpierten und falschen Christentum.64 Zwahren können sich die gut gesinneten in etlicher partheÿen mit einordnen wol vertragen, doch nicht so fast in Sachen des Glaubens zur Seligkeit, als aber nur in unbestendiger irdscher fründtschafft und vertrouwlichkeit. Gleichwol könte ich beÿ genauwer aufmerkung gewahren, daß beÿ allen durchgehens die Nathürlich verderbten affecten oder neigungen platz funden, als partheÿsche liebe und haß, sich und die seinigen allein guth meinen, und die anderen wo nicht alle, doch die meisten verachten: Wans nach wol gienge, und nur darbeÿ bliebe, daß man Sie nicht gar neÿdete, und anfindete; Wenigst behertziget mann der anderen nutzen und Schaden nicht wie sein eigen: Dieses alles bewoge noch mehr zu zweifeln, oder vil mehr zu glouben, daß kein einiger großer partheÿschen Hauffen, Er möchte auch Nammen und Titul haben wie er wolte, eine Reine Religion oder Kirche Godtes oder Gemeinde, […] ausmachen könte.65

Johann Heinrich Locher erkennt die pragmatische Toleranz unter den in Venedig handeltreibenden Völkern und Religionsgemeinschaften an. Er stellt aber nicht ohne Ironie fest, dass es sich dabei nicht um eine konfessionelle Toleranz handelt, sondern um eine gegenseitige Akzeptanz, wenn es um die irdischen Schwächen und Sünden geht. Der Blick auf die mangelhaft empfundene Glaubensausübung und die fehlende Buße als das Verbindende zwischen den unterschiedlichsten Konfessionen löste nun bei Locher eine zweite, tiefe Glaubenskrise aus. In Lochers erster Glaubenskrise war das Bild eines verdorbenen Christentums noch kein Thema. Die erste Krise hatte die Konfessionszugehörigkeit, bzw. die konfessionelle Spaltung der Christen zum Thema. Es ist ganz offensichtlich, dass erst mit der Auseinandersetzung mit Arndt die Ethik zum Problem wurde und nun auch für Locher an Relevanz gewann. Die im Vorwort zum Wahren Christentum formulierte Ausgangslage, wonach die Welt an einer unbußfertigen Christenheit leide, die sich aufführe wie die Heiden, musste für Johann Heinrich Locher um so mehr an Bedeutung gewinnen, als er es verstand, den konfessionellen Standpunkt durch ein in der Ethik und Askese begründetes Christentum zu ersetzen. Ein lebendiges, tätiges Christentum, dessen Handlungsmaximen nicht in Glaubensvorschriften sondern in einem aus Herzensfrömmigkeit motivierten moralischen Leben bestand. Was Johann Heinrich Locher nun in Venedig vorzufinden glaubte, war eine moralisch korrumpierte Gesellschaft, eine Verdorbenheit, die allen Religionsgemeinschaften eigen war. Und dieser Befund, kombiniert mit der verinnerlichten asketischen Ethik, ließ 64

Siehe beispielsweise die oben zitierte Passage aus WCh, 1. 10. ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 4 f. 65

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ihn erneut zweifeln. Aber er zweifelte nicht an seinen weltanschaulichen Grundlagen: Weder seine Wahrnehmung der venezianischen Umwelt noch seine bei Arndt gewonnene religiöse Haltung wurden in Frage gestellt. Er ging einen Schritt darüber hinaus: Den Zweifel bezog er auf sich selbst: Ja Daruf forschete ich fehrner in mir Selbsten, und fande eine glÿche verderbtums auch in mir und daß in meinem f leisch nichts guts wohne, auch vor der fußsollen an bis auf das haupt nichts gesundes seÿe sondern Wunden, Streÿmen und Eidterbühlen; das Land meines Hertzens befande ich wüst, die stadt der aufenthalt der guten Heiligen Wesens in mir ware mit feüwer verbrenndt. Was aber noch übrig ist von der Tochter Zion ist wie ein Teüf lin in einem Weinberge, wie eine Nacht Hudten, und wie ein verherte Stadt.66

Bedenkt man, dass Johann Heinrich Locher seit seinem Lehrbeginn sich in asketischer Weltf lucht übte, so scheint er offenbar am hohen Anspruch, den das Wahre Christentum setzte, an der Ethisierung des täglichen Lebens zu verzweifeln. Die Überwindung der konfessionellen Gegensätze in einer asketischen – aus dem Selbst motivierten – rigiden christlichen Ethik löste offensichtlich nach der konfessionellen Krise eine zweite ethische Krise aus. Er legte den Maßstab des »verderbten Christentums« an sich selbst an und erging sich in Selbstzweifeln: Die Selbstzweifel lassen sich jedoch nur erahnen. Eine Selbstspiegelung wird zwar angetönt, was Johann Heinrich Locher aber an persönlichen Sünden oder eigener Verdorbenheit ans Tageslicht befördert, ist absolut unpersönlich. Was er von sich berichtet, ist einzig ein allegorisch gemeintes Zitat aus Jesaja 1.6–9. Eine Bibelstelle, in welcher der Prophet gegen die moralische Korruption seines Volkes auftrat. Was genau die Ursache der zweiten Glaubenskrise Johann Heinrich Lochers war, bleibt vage. Sie hat in seinem Selbstzeugnis weniger scharfe Konturen als die erste Krise. Wir haben aber genügend Anhaltspunkte, um sagen zu können, dass die Auseinandersetzung mit dem Wahren Christentum die zweite Krise auslöste. Um die Seelennöte Johann Heinrich Lochers zu ergründen, kommt uns die oben dargelegte These von Christian Braw zu pass: Danach war Johann Arndt angetreten, um eine korrumpierte christliche Gesellschaft zu reformieren. Dazu formulierte er sein ethisches, auf mystischer Grundlage verinnerlichtes Programm. Dieses Programm als überkonfessioneller Kern eines als »wahr« und »ursprünglich« empfundenen Christentums hat den jungen Johann Heinrich Locher begeistert. Diese neue Glaubensauffassung hat er in sich aufgesogen, nach ihren Maßstäben wollte er sein Leben ausrichten. Der wahre tätige Glaube, der sich im ethischen Handeln äußert, sollte die christliche Welt reformie66

Ebd., S. 5 f.

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ren und erneuern. Wo der junge Kaufmann nun aber hinschaute, da erblickte er eine verdorbene und korrumpierte Welt. Eine Welt, die nicht nach seinen ethischen Grundsätzen lebte. Und er musste dies für alle in Venedig anwesenden christlichen und nichtchristlichen Konfessionen und Religionen konstatieren. Die nicht nach seinen ethischen Vorstellungen handelnde Gesellschaft brachte ihn zum Verzweifeln. Und das schlimme daran, er schien keine Änderung der Welt durch ethisches Handeln ausmachen zu können. So ist zu erklären, dass er sich selbst erforschte und feststellen musste, dass auch er nicht sündenfrei lebe, dass somit auch er Teil und Urheber der verdorbenen Welt sei. Die auf Arndt basierende Vorstellung, wonach die christliche Gesellschaft durch ein extrovertiertes tätiges Christentum erneuert werde, wurde anscheinend angezweifelt – was aber nicht heißen soll, dass diese Vorstellung schließlich komplett verworfen wurde. Wie findet Johann Heinrich Locher aus seiner Krise heraus? Die einfachste Antwort auf seine Krise wäre die Impekkabilitätslehre gewesen67. Sie hätte ihm erlaubt, eine scharfe Trennlinie zwischen seinem sündenfreien und gottgefälligen Leben und der verdorbenen Welt zu ziehen. Die Vorstellung der Sündlosigkeit der »Kinder Gottes« stand später, Ende der 80er und Anfang der 90er Jahren des 17. Jahrhunderts, in Zürich vorübergehend hoch im Kurs. Der sogenannte »Wolthersche Handel« von 1689, bei dem es um die Lehre der Impekkabilität ging, brachte auch Johann Heinrich Locher arg in Verruf. Die Lehre der »Unsündbarkeit« fand offenbar eine unglaublich schnelle und leichte Verbreitung. Dies veranlasste die Obrigkeit einzuschreiten, und etliche Personen mussten sich entweder vor Pfarrer Klingler oder Professor Schweizer verantworten: Junker Hans Heinrich von Schönau [151], Georg Ziegler [212], Friderich Speyer [160], Barbiergeselle aus Kaiserslautern, Heinrich Locher, Schuhmacher Jakob Sprüngli und Frau Sprüngli [162 u. 163] wurden vorgeladen. Die Examina fanden im Frühjahr statt und wurden im Herbst nochmals durchgeführt. Chorherr und Professor Schweizer bezeichnete in der Folge Johann Heinrich Locher als den gefährlichsten und irrigsten Lehrmeister. Pfarrer Johann Werdmüller, der ein Gläubiger des Chorherrs gewesen sein soll und zugleich Johann Heinrich Locher überwachte, pf lichtete diesem bei und bezeichnete Locher als einen »ertzverschmitzten tückischen und hochst gefahrlichen Menschen«. Danach war offenbar Schweizer nicht mehr davon abzubringen, Johann Heinrich Locher als Rädelsführer zu überführen, da er mit ausländischen »Sectierern« korrespondiere und mit diesen Freundschaften unterhalte. Zwar konnte das Examen mit Locher nicht 67 ZB Zürich Ms. Z V 100 [Stoye, Die Anfänge des Pietismus in Zürich (unveröffentlichte Dissertation)], Kap. 3; Wernle, Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert, Bd. 1, S. 131.

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beanstandet werden, aber Schweizer war überzeugt, Locher habe »in ein und anderem hinter dem Schilt gehalten«. Seit diesem Zeitpunkt musste Johann Heinrich Locher damit rechnen, dass bei ihm eine Hausdurchsuchung stattfinden könnte. Zwischen 1689 und 1698 fühlte er sich stark beobachtet und setzte sich mit »Stillsein« zur Wehr.68 Im Mai 1689 reisten Wolther und Speyer nach Bern weiter um dort ihre Lehre von der Impekkabilität zu verbreiten. Locher konnte dieser Lehre nicht beipf lichten und er warnte seine Berner Freunde brief lich vor den beiden Handwerksgesellen. Ohne Erfolg – Wolther fand in Bern großen Zulauf: besonders bei Junker von Wattenwyl und dessen Hausangehörigen sowie bei Jgfr. Barbara May, Elsbeth Anneler, Benedikt König, und weiteren ungenannten Personen. Am 10. Juni kehrten Wolther und Speyer nach Zürich zurück.69 Wortführer der Impekkabilität wurde nach der Ausweisung Wolthers und Speyers der junge Theologe Georg Ziegler. Ziegler verteidigte am 2. Oktober 1689 in einer öffentlichen Disputation seine extreme Wiedergeburtsthese. Kurz darauf wurde er als Theologe suspendiert und musste seine Glaubenssätze unter obrigkeitlichem Zwang widerrufen.70 In seinem Brief an Heinrich von Schönau, der in Amsterdam weilte, berichtete Locher am 16. Juli 1689 resigniert über die mit der Impekkabilitätslehre einhergehende Literaturfeindlichkeit: Alle Freünde so hier als zu Bern und Schaff hausen sind zu Bücher finden worden, und ich widerspreche nichts, sondern Sitze in der Stille, Gott bittende, daß alles zu seinen Ehren und unßerm Heÿl dienen möge.71

Dass Johann Heinrich Locher offenbar wenig mit der Inpekkabilitätslehre anfangen konnte, hängt vermutlich damit zusammen, dass er bereits in jungen Jahren während seines Aufenthalts in Venedig einen anderen, nachhaltigeren Weg einschlug, um aus seinem Glaubensdilemma heraus zu finden. Die Impekkabilitätslehre war ihm offensichtlich zu einfach und wohl auch aus seinem Glaubenssystem heraus für ihn nicht haltbar. Er wählte eine immanente, in seiner Weltanschauung angelegte Lösung seines Problems: Johann Arndts Wahres Christentum war der Auslöser der zweiten Glaubenskrise von Johann Heinrich Locher. Und Arndt öffnete ihm auch die Perspektive zur Problemlösung: Die Lektüre der mittelalterlichen Mystiker, auf welche sich bereits Arndt stützte, wies ihm den Ausweg: 68 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 18, S. 20. Eine autobiographische Schrift Lochers ohne Titel; vermutlich die Fortsetzung von Nr. 16. 69 Ebd., S. 21 f. 70 ZB Zürich Ms. Z V 100 [Die Anfänge des Pietismus in Zürich von Stoye (unveröffentlichte Dissertation)], S. 65–71; St AZ E II 38, S. 214–218. 71 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 18, S. 22.

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Da kame ich durch Göttliche Schickung hinder die so genannte Mÿstische Theologeÿ und Ihre Schrifften, als sonderlich Tauleri, Kempis, teütsche Theologeÿ, welche mir den verstandt der Heil: Schrifft, nicht so fort nach dem bloßen Buchstaben, sonder vornemblich nach dem Geist und Geistlich anzusehen lehrten, Wie ich dann könfftige Zeith bey lesung der Heiligen Biblischen Schrifft je mehr und mehr solches in der Schrifft selbs gewahrete, […].72

Die Auseinandersetzung mit mystischen Schriften wurde durch gött liche Vermittlung angeregt. Hier wiederholt sich in abgeschwächter Form erneut das Bild, das der Autor des Selbstzeugnisses über die Auffindung des ersten Buchs vom Wahren Christentum entwirft: Es geschieht nun kein Wunder mehr, aber der speziellen, göttlichen Providenz ist es erneut zuzuschreiben, dass Locher seinen Glaubensweg findet und jeweils in Situationen des Zweifels auf die richtigen Bücher stößt – Bücher, die ihm eine Antwort auf seine Fragen geben können und ihn auf den »rechten Weg« weisen. Die Auswahl mystischer Literatur wurde nicht zufällig getroffen. Es scheint vielmehr, dass Johann Heinrich Locher sich mit Bedacht in die neue Literaturgattung einlas. Es hat System, dass Locher explizit drei mystische Größen aufzählt: Johannes Tauler, Thomas von Kempen und die anonym verfasste Deutsche Theologie. Den Ausgangspunkt für die Reise in die mystische Theologie nahm Johann Heinrich Locher – wie gezeigt – bei Johann Arndt. Der Verfasser der Vier Bücher vom wahren Christentum schöpfte aus der Quelle jener mystischen Literatur, die Johann Heinrich Locher in Venedig zu entdecken begann. Johann Arndt nennt in der Vorrede des Ersten Buches des Wahren Christentums unumwunden die Texte, auf welche er sich bezog. Und er nennt sie praktisch in derselben Reihenfolge wie sie dann Locher in seinem Glaubensbekenntnis aufzählt: »Es sind aber in demselben [= WCh, 1]/ […] etliche Reden nach Art der alten Scribenten/ Tauleri, Kempisii vnd anderer mit eingemischt/ […]«.73 Und auch den zeitgenössichen Kritikern des Wahren Christentums blieb die Adaption mystischer Texte nicht verborgen. Lukas Osiander d. J., ein führender Vertreter der Orthodoxie74, um hier nur ein Beispiel zu nennen, spottete über das Wahre Christentum und meinte, man solle es »billig vielmehr Taulerthum heißen«75. Die Nähe Johann Arndts zur rheinischen Mystik belegt zudem seine Herausgeberschaft von deren Werken: 1606 gab er kurz nach Abschluss des ersten Buches des Wahren Christentums die Deutsche Theo72

ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 6 f. 73 Arndt, Vier Bücher vom Wahren Christenthumb, Vorrede, unpaginiert. 74 Zu Lukas Osiander d. J. siehe: Ehmer, Osiander, Lukas d. J., S. 1303 ff. 75 Hier zitiert nach: E. Weber, Johann Arndts vier Bücher vom Wahren Christentum, S. 77.

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logie mit dem Vorwort Martin Luthers zusammen mit Thomas von Kempens Nachfolge Christi neu heraus.76 Der Anklang des ersten Buches des Wahren Christentums an die Deutsche Theologie ist unverkennbar. Edmund Weber hat in seiner Dissertation über die vier Bücher vom wahren Christentum nachgewiesen, dass das erste und zweite Buch direkt von der Theologia Deutsch (ThD) abhängig sind, besonders aber das elfte und einunddreißigste Kapitel des ersten Buches.77 Ebenso stellte er fest, dass sich das erste Buch im Weiteren stark an Thomas von Kempen und an Johannes Tauler anlehnt, wobei letzterer dann im dritten Buch dominierend anzutreffen ist.78 Es darf also mit Fug behauptet werden, Johann Heinrich Locher habe seine erste Berührung mit der mystischen Literatur bei der Arndt-Lektüre gehabt – eine Bekanntschaft, die er dann im Lesen der Originale vertiefte. Denn interessanterweise fehlt beispielsweise Angela von Foligno in Lochers Bibliothek. Sie wurde als eine anonym zitierte mystische Quelle des Wahren Christentums erst im 18. Jahrhundert entdeckt und war als solche zur Zeit Lochers nicht bekannt. 2.2.2.1 Johannes Tauler In Johann Heinrich Lochers Bücherschrank standen mehrere Ausgaben der meisten Werke von Johannes Tauler (ca. 1300–1361)79, bzw. derjenigen Werke, die bis ins 19. Jahrhundert als Taulers Werke galten. Der Kaufmann muss sich offensichtlich nicht bloß mit Tauler, sondern auch mit der Textüberlieferung auseinandergesetzt haben. Das Predigtwerk besaß er gleich dreimal. Das älteste Exemplar registrierten die Zürcher Examinatoren als »Tauleri Predigten zu Lutherei zeiten getr[uckt]« 80, es dürfte sich wohl um die Augsburger-Ausgabe von 1508 handeln, welche Martin Luther studierte und hochschätzte, und die direkt auf den Erstdruck der Predigten im Leipzig 1498 zurückgeht, welche sich an den Handschriften orientierte. Es könnte sich auch um den Basler-Druck von 1521, bzw. 1522 handeln, was aber aufgrund des fehlenden Bezugs zum Wittenberger 76 Zwey alte und edle Büchlein […]/ Derer beyder Summa […] in der Vorrede (Martin Luthers) zu finden. Jetzo auffs newe […] an den tag gegeben, Durch Johannem Arndten, [Teil: 1:] Die Deutsche Theologia: Das ist: Ein edles Büchlein vom rechten verstande, was Adam und Christus sey, [Teil: 2:] Die Nachfolgung Christi, […]/ Durch D. Thomam à Kempis Anno 1441. […] beschrieben, Magdeburg, 1606. 77 E. Weber, Johann Arndts vier Bücher vom Wahren Christentum, S. 49–63. Siehe auch: Brecht, Das Auf kommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland, S. 136. 78 E. Weber, Johann Arndts vier Bücher vom Wahren Christentum, S.42–49 u. 77–100. 79 Zur Biografie Johannes Taulers: Fraling, Tauler, S. 478 ff.; Gnädinger, Johannes Tauler. 80 ZB Zürich, Ms. S. 276, Nr. 11, S. 1.

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Reformator weniger wahrscheinlich ist.81 Weiter besaß Locher die Kölner Ausgabe von 1660, welche sich spezifisch an den katholischen Leser wendet und eine Rückübersetzung der lateinischen Surius-Ausgabe ist.82 Vermutlich kam Johann Heinrich Locher in Venedig mit der katholischen Edition in Kontakt. Und schließlich hatte er noch einen Nachdruck von 1681 der von Johann Arndt besorgten »Werkausgabe« (Frankfurt 1621), die eine große Beliebtheit in protestantisch-spiritualistischen Kreisen genoss,83 eine Ausgabe, die Locher in »sauberes Schweinsleder« binden ließ. Im Weiteren gehörte ihm ein Nachdruck der Nachfolgung des armen Leben Christi von 1670, welche Daniel Sudermann 1621 unter der fälschlichen Autorschaft Johannes Taulers herausgab,84 so wie eine Ausgabe der ebenfalls Pseudo-Taulerischen Schrift Medulla animae, die vermutlich den Spiritua81 Zu den frühen Taulerdrucken vgl.: Naumann, Untersuchungen zu Johann Taulers Deutschen Predigten, sowie Gnädinger, Johannes Tauler, S. 411–421. 82 Tauler, Des HochErleuchten/ von etlichen hundert Jahren | weitberümbten Catholischen Lehrers | Joannis Thauleri | Ordinis Fratrum Praedicatorum S. Dominici | Lehr vund Geistreiche/ zur anstellung vnd fortsetzung | eines Gottgefälligen Geistlichen Lebens/ nutz= vnd | sehr dienliche | Predigten | Auff alle Sonn= vnd Feyrtäge durchs Jahr/ || Welche | Nach dem Catholischen zu Cölln am Rhein 1603. ge=|druckten Lateinischen Exemplar R. P. Laurentii Surii Cat=|thusiani trewlich in die Hochteutsche Sprach vbergesetzt / vnd dem | gemein nutz Christlicher Seelen an tag gebracht, Köln 1660 [ZB Zürich Rm 136 1]. 83 Ich beziehe mich hier auf die bibliographischen Angaben von Löber, I. J. N. A. | Schrifftmässige | Entdeckung des | Quaker=Greuels/ | So | verwichenes 1680. Jahr | in einem Quaker=Buche/ | Helleleuchtender Hertzens=Spiegel | genannt/ | ausgebreitet worden. | Zur Vertheidigung der reinen Evan=|gelischen Lehre/ wie auch aufrichtigen/ Gott=|liebenden Hertzen zur Nachricht/ und treuen | Warnung verfasset/ | Und | Mit Consens und Approbation der Hochlöbl. | Theologischen Facultät zu Jena | an das Tages= Licht gegeben/ | von | Christoph. Heinrico Löbern/ | Past. und Superintend. zu Orlamünda, Jena ( Johann Bielcke)1682 [HAB Wolfenbüttel B 1.8° Helmst. (2)], S. 21. Vermutlich wurde Johann Heinrich Locher durch die Lektüre der Pietismuskritik auf die von Arndt herausgegebene Tauleredition aufmerksam. Die Werkausgabe lässt sich nachweisen in der Thüringischen Universitäts- und Landesbibliothek Jena [8 MS 3131]. 84 [Pseudo-]Tauler, Nachfolgung deß | armen Lebens Christi/ | In zwey Theil abgetheilet: | Deren der Erste/ sagt viel | Unterschied der wahren Armuth: | der ander lehret/ | Wie man soll kommen zu einem voll=|kommenen armen Leben. | Zum erstenmal / Im Jahr 1621. auß einem | alten / vor hundert und siebentzig Jahren geschrie=|benen Exemplar/ von Wort zu Wort treulich | und unverfälscht nachgedruckt | Nun aber auff Begehren etlicher Liebhaber | in dieser Form gedruckt, Frankfurt/M. (Hermann von Sand) 1670 [HAB Wolfenbüttel, Xb 4117]. Verwendete Ausgabe: D. Joh. [Pseudo-]Tavleri, Nachfolgung des | armen Lebens Christi | In zwey Theilen abgetheilet: | Deren der erste sagt viele Unterschiede | der wahren Armuth | Der ander lehret/ wie man soll kommen | zu einem vollkommen armen Leben. | Nun zuerst aus einem alten/ vor ein hundert und sibenzig | Jahren geschrieben Exemplar/ von Wort zu Wort treulich und | gantz unverfälschet nachgedruckt, Frankfurt/M. 1692 [ZB Zürich TT 4592]. Nachdruck und Einordnung des Werks: Largier (Hg.), Das Buch von der geistigen Armut. Zu Daniel Sudermann als Herausgeber mystischer Texte: Pieper, Daniel Sudermann (1550- ca. 1631), S. 72–79.

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listen Christian Hoburg zum Herausgeber hatte.85 Jedenfalls wurde diese Ausgabe zusammen mit der spiritualistisch motivierten Werkausgabe eingezogen. Die übrigen Tauler-Werke gaben die Examinatoren zu einem späteren Zeitpunkt wieder zurück. Eine konfessionelle Scheu, sich mit einem katholischen Mönch auseinanderzusetzen, dürfte Johann Heinrich Locher in Venedig wohl endgültig abgestreift und die irenische Position Johann Arndts übernommen haben. Wir haben sogar Anlass zu vermuten, dass er sich anhand einer Ausgabe, welche sich an ein katholisches Publikum wandte, in die Tauler-Predigten vertiefte. Diese Haltung dürfte durch das Vorwort von Christian Hoburg in der Medulla animae von 1644 bestärkt worden sein. Dieser fragt in der »Warnung an den Leser«, die sich ausdrücklich an ein protestantisches Publikum wendet, ob Tauler nicht das Papsttum anhafte. Und antwortet, Tauler sei ein Autor der Praxis und nicht der Lehre, er habe sich daher von katholischen Irrtümern seiner Zeit nicht beirren lassen.86 Es wird also auch hier unterschieden zwischen einem lebendigen, auf die Praxis orientierten Glauben und einem sogenannten Streit-Glauben. Auch Hoburg hebt somit das Praxisorientierte und Konfessionsübergreifende in Taulers Werk hervor und betont, dass er nicht einzig einer katholischen Tradition zuzurechnen sei. Noch ein weiteres Buch, das in der Bibliothek Johann Heinrich Lochers stand, erörtert die Frage der Vereinbarkeit Taulers mit dem reformierten Glauben. Es handelt sich hierbei um die scharfe Pietismuskritik Schrifftmässige Entdeckung des Quaker=Greuels des Pastors und Superintendanten zu Olnamünda, Christoph Heinrich Löber (1634–1705)87. Die Schrift wendet sich vornehmlich gegen einen pietistischen Traktat unter dem Titel Helleuchtender Hertzens=Spiegel, welcher direkten Bezug auf Tauler nahm. Löber kritisiert den anonymen Autor des Traktates, den er wegen der Betonung der Innerlichkeit als Quäker identifiziert: der behaupte, man könne nicht bloß durch Glaube selig werden, sondern durch das innere Licht und Gelassenheit. Der als »verderbliches Seelen=Gifft« bezeichneten Schrift seien auch schöne Sachen wie Johann Tauler beigemischt um zu blenden, moniert der Kritiker. Mit Tauler wolle der Autor seine 85 [Pseudo-] Tauler, Medulla Animae | Oder | Vollkommenheit | aller Tugenden: | Das ist/ | Ein sehr innig= und andächtiges | Büchlein/ in welchem vilmehr der Grund der | Seelen/ als der außwendige Schein ge=|triben wird. | Geschrieben/ durch den von Gott hoch=erleuchteten | D. Johannem Taulerum | Von Neuem | Zu allgemeiner Christlicher Erbauung/ auß dem Nieder=|ländischen ins Hochteusche/ darinnen es anfänglich beschrieben/ | gebracht, Frankfurt/M. 1692 [ZB Zürich TT 460], Nachdruck der Ausgabe Frankfurt/M. 1644, mit einer Einleitung von Christian Hoburg. 86 Ich stütze mich auf einen Nachdruck der bei Merian 1644 in Frankfurt erschienenen Ausgabe der Medulla Animae: Frankfurt/M. 1692 [ZB Zürich TT 460]. 87 Zu Christoph Heinrich Löber siehe: Jöcher, AGL , Bd. 2, S. 2491 f.

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Irrtümer kaschieren. Der Rückgriff auf Tauler geschehe nur, um sich hinter der guten Meinung Luthers über den Mystiker zu verbergen. Dieser sei aber nicht die reine Theologie, sondern enthalte »Papistisches«; der quäkerische Autor habe es nicht verstanden, sich »aus denen Papistischen Greueln loß zu wickeln«. Er bewerte zudem die Werkheiligung zu stark anstelle einer Erlösung durch den Glauben. Und er sei der »Enthusiasterey« ergeben gewesen. Auch wenn man Tauler für gut befinde, müsse man beachten, dass auch Katholisches untergemischt sei. Dass sich der Hertzens=Spiegel auf Tauler berufe, schmücke zwar den Traktat, lobe ihn aber nicht, schließt der Kritiker. 88 An der Löberschen Kritik fällt zum einen auf, dass Tauler durch die Orthodoxie nicht gänzlich verworfen, sondern diesem im konfessionellen Rahmen sehr wohl ein Platz eingeräumt wird. Zum andern war die Bezugnahme pietistischer89 Schriften auf Tauler offensichtlich, so dass auch die Kritik am Pietismus direkt auf Tauler gerichtet wurde. Taulers Lehre ist in Predigtform abgefasst und wird nicht systematisch entwickelt. Die Predigten entfalten ihr Programm aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Das Predigtwerk lässt sich wohl am einfachsten anhand von Themenkomplexen wie Taulers Psychologie, innere Einkehr, geistige Armut, Selbsterkenntnis und mystische Vereinigung darstellen.90 Tauler entwirft ein Menschenbild, auf dessen Grundlage er seine mystische Lehre entwickelt. Es ist ganz auf das menschliche Innenleben bezogen und scheidet den auf die Außenwelt, auf das tägliche Dasein, auf Essen und Trinken bezogenen Menschen scharf ab. Tauler stellt bei seiner Aufteilung des Menschen in einen inneren und äußeren auf die platonische Auffassung ab, wonach der körperliche Mensch bloß der Behälter der unsterblichen Seele sei. Dem inneren Menschen stellt er nun den äußeren entgegen, indem er ihn auf physiologische Stoffwechselprozesse reduziert. Der (äußere) Mensch besteht aus unreiner fauler und böser Körperlichkeit (Stoff ), widerlich und ekelerregend für alle Menschen: »Ein unreines/ stinkendes Vaß/ voll Wusts/ vnd böses Gestancks«91. Keine Nahrung sei so rein, dass sie sich nicht im Menschen zu Kot verwandle.92 Als Kontrast zum Körperlichen oder Kreatürlichen entfaltet Tauler eine eigentümliche Psychologie. Er führt Begriffe ein, wie das Gemüt oder den inneren Abgrund. Eine Begriff lichkeit, welche in der Psychologie des 18. und 88

Löber, I. J. N. A. Schrifftmässige Entdeckung des Quaker=Greuels, S. 12–38. Bis Ende der Neunzigerjahre des 17. Jahrhunderts wurde seitens der Staatsmacht die pietistische Strömung mit Quäkertum gleichgesetzt. 90 Zu Taulers Lehre vgl. beispielsweise die Einführung von Haas in: Johannes Tauler, Predigten; Gnädinger, Johannes Tauler. 91 Des HochErleuchten […] Joannis Thauleri […] Predigten Auff alle Sonn vnd Feyr= täge durchs Jahr/ […], (Am XIII. Sontag nach Trinitatis. Predigt), S. 634. 92 Tauler, Predigten, 2. Bd., 51, S. 391. 89

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19. Jahrhunderts ihren festen Platz fand.93 In der Predigt zum Spruch »Ernewert euch im Geist ewers Gemüths«94 aus dem Paulusbrief an die Epheser wird die psychologische Grundlage der Taulerschen Mystik entwickelt.95 Die Seele ist der grundlegende Begriff, wenn es um die Bezeichnung der inneren menschlichen Eigenschaften geht. Sie verleiht dem Körper das Leben. Je nach Eigenschaft wird die Seele synonym Geist oder Gemüt genannt. Die Seele im transzendentalen Sinne wird Geist genannt, weil sie eine alle Masse übersteigende Verwandtschaft zu Gott besitzt. »Den GOtt ist auch ein GEist/ […]. Vnnd di Seel ist ein Geist/ vnnd darumb hat ein stettiges Verlangen/ Begierd/vnd Neigung zu GOtt/ als ihren Grund/ daher sie entsprungen.«96 Zwischen Gott und der Seele besteht eine Ähnlichkeit, die auf der geistigen Eigenschaft beruht. Diese Ähnlichkeit ist ganz nach dem Sinnspruch ›Gleiches gesellt sich zu Gleichem‹ die Quelle der gegenseitigen Anziehung. Selbst die Verdammten behalten diese Eigenschaft. Die Seele trage in sich einen Funken, den selbst Gott nicht auslöschen könne.97 Im Seelengrund oder Abgrund der Seele sei das wahre Bild der heiligen Dreifaltigkeit verborgen. Diesen verborgenen Grund könne man weder beschreiben noch benennen, sowenig man Gott beschreiben und benennen könne. Diese Sichtweise bedeutet letztendlich, dass in jedem Individuum das Potential (der Funke) angelegt ist, um ein gottgefälliges Leben und das Seelenheil zu erreichen. Bezüglich der menschlichen Charaktereigenschaften wird die Seele Gemüt genannt. Im Gemüt sind Kräfte wie die Vernunft und der Wille angesiedelt. Der Seelenbegriff konstituiert eine vermittelnde Instanz zwischen Gott und dem menschlichen Denken und Wollen. Die Seele als Gemüt wird quasi als Überinstanz – man ist mit Freud versucht von einem Überich zu sprechen – eingesetzt. Das Gemüt steht über dem Willen und der Vernunft: »wanns vmb das Gemüth wol stehet/ vnd es ist recht zu GOtt gekehrt/ so stehets vmb das andere alles wol: ist aber das Gemüth von GOtt abgekehrt/ so ist das andere alles/ auch abgekehret/ der Mensch wisse es gleich/ oder wisse es nicht.«98 93

Gnädinger, Johannes Tauler, S. 125 f. Des HochErleuchten […] Joannis Thauleri […] Predigten Auff alle Sonn= vnd Feyrtäge durchs Jahr/ […], (Am 19. Sontag nach Trinitatis. Predigt), S. 693. 95 Tauler, Predigten, 2. Bd., 70, S. 537 ff. 96 Des HochErleuchten […] Joannis Thauleri […] Predigten Auff alle Sonn vnd Feyr= täge durchs Jahr/ […], (Am 19. Sontag nach Trinitatis. Predigt), S. 696. 97 Louise Gnädinger vertritt gar die These, Taulers Irenik gehe so weit, dass seiner Auffassung nach selbst Juden und Heiden selig werden können, wenn sie den mystischen Weg beschreiten. Ob Locher seine offensiv vertretene Meinung, wonach auch Juden, Heiden und Türken nicht von vornherein verdammt seien, aus Taulers Werk schöpfte? Siehe: Gnädinger, Johannes Tauler, S. 60. 98 Des HochErleuchten […] Joannis Thauleri […] Predigten Auff alle Sonn vnd Feyr= täge durchs Jahr/ […], (Am 19. Sontag nach Trinitatis. Predigt), S. 696. 94

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Die mystische Psychologie Taulers spitzt sich im Begriff des Seelengrundes zu. Der Abgrund wird zum unbeschreiblichen inneren Ort der Vereinigung: »Vnd wann ein Mensch sehen könte/ wie Gott in diesem Grunde ist vnd wohnet/ der würde auß solchem Sehen seelig seyn«.99 Ist das Gemüt auf Gott ausgerichtet, so neige es von sich aus dazu, in den inneren Grund hinabzusteigen, wo das Bild Gottes ruhe. Dann trage der Mensch seinen Geist in den Geist Gottes hinein. Am Beginn des Weges zum Heil steht die Selbsterkenntnis. Der Mensch muss als erstes sich selbst erforschen. Es gelte, die eigene Unzulänglichkeit und Körperlichkeit (Kreatürlichkeit) zu erkennen. Dass die Menschen den inneren Seelengrund nicht erreichen könnten, habe seine Ursache in der Liebe der Menschen zur Welt, in der Neigung zu den Geschöpfen und zu sich selbst. Das habe das innere Auge der Vernunft blind gemacht und mit einem dicken Fell überzogen. Die innere Selbsterkenntnis verdunkelnden Kräfte sind Hochmut, Eigenwille, Wohlgefallen an irdischen Dingen, Unachtsamkeit im Betragen und Leichtfertigkeit.100 Die Selbstspiegelung schlägt demnach die entgegengesetzte Richtung ein, sie will die Einsicht in die Nichtigkeit der Welt freilegen, sie ist der Ausweg aus der der menschlichen Natur innewohnenden Sündhaftigkeit und Schwäche. Sie ist die erste Etappe auf dem mystischen Weg. Tauler entwirft unterschiedliche Wege zur Vereinigung mit Gott. Das hängt wohl damit zusammen, dass er der Auffassung ist, jede Person könne einen individuellen Weg einschlagen. Allen Wegen ist aber ein Fortschreiten in Stufen gemeinsam. In der Predigt über die Epistel vom fünften Sonntag nach Dreifaltigkeit entwickelt er das Grundmuster des mystischen Lebens in drei Stufen. Die erste und unterste Stufe beinhaltet ein inneres Tugendleben und eine Zuwendung zu Gott. Die Zweite besteht in der geistigen Armut und die oberste ist ein Übergang in ein gottförmiges Leben, die wahre Umkehr und Vereinigung des menschlichen, erschaffenen Geistes mit dem des Erschaffers. Zwei herausragende Begriffe der Taulerschen Mystik sind geistige Armut und Demut. Beide drücken eine geistige Haltung aus, als Vorbereitungshandlung zum mystischen Ziel. Die geistige oder innere Armut unterscheidet sich von der äußeren und zufälligen Armut, die nicht allen gegeben sei.101 Die geistige Armut ist ein Befreien des Gemüts von seinen Fesseln. Nichts soll den Menschen in Besitz nehmen außer Gott. Das Gemüt muss frei sein von Verlangen und Liebe, welche auf weltliche Dinge

99

Ebd., S.697. Tauler, Predigten, 2. Bd., 51, S. 388. 101 Hingegen vertritt das Pseudotaulerische Buch von der geistigen Armut die radikalere Haltung einer inneren und äußeren Armut als Voraussetzung zum Heil. 100

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gerichtet sind.102 Ähnlich verhält es sich mit der Demut: auch sie ist der Gelassenheit verpf lichtet und will innerlich Platz für eine Vereinigung mit Gott schaffen. Demut ist Selbstverneinung, das Bemühen, in Gott aufzugehen, »da[ss] der Mensch auß dem Grund der wahren Lieb/ vnd Demuth sein Vnvermöglichkeit erkennet/ vnd zugleich sich von allen seinen Sünden ab/ vnd zugleich wahrhafftig vollkommentlich/ vnd mit wahrer Bescheidenheit sich auff die breitwilligste Hülff Gottes sich verlasset.« 103 Der Mensch solle Gott vertrauen, denn was dieser an Schicksalsschlägen über den Menschen verhänge, seien es Glück und Liebe oder seien es Unglück und Leid, habe er vorherbestimmt zur Seligkeit des Menschen. Deshalb solle der Mensch bei allen Vorkommnissen den Frieden bewahren und diesen mit nach innen gekehrtem Geist suchen.104 Demut ist die Perspektive auf Gott und das Bemühen, die eigene Kleinheit vor Gott anzunehmen. Nebenbei bemerkt, ist die Vorstellung einer individuellen Providenz bei Tauler, welche das äußere Leben als vorbestimmt erachtet, das innere Leben aber, der Weg zum mystischen Heil, dem Zutun des Individuums überlässt, von Bedeutung. Wir werden diesen Gedanken in radikalerer Form bei Locher wieder antreffen. Das Ziel des mystischen Weges ist endlich die Ein- und Umkehr. Es ist die Nachfolge Christi und die Vereinigung mit Gott. Dabei bilden die guten Werke nur den Anfang. Die Vereinigung schließlich erfolgt in Kontemplation: Demut, Sanftmut, Stille und Gelassenheit. Die Vereinigung oder Verschmelzung mit Gott könne nicht verstanden und ausgedrückt werden, denn diese liege außerhalb des menschlichen Fassungsvermögens.105 Der Traktat Medulla animae galt lange als eine Taulersche Schrift. Sie hat das zentrale Thema der Predigten, die Vereinigung des Menschen mit Gott, nur am Rande zum Thema. Sie richtet sich stark auf die geistliche Haltung aus. Die Buße ist dabei ein Bereich, der stark herausgestrichen wird, eine Buße, die nicht bloß aus Furcht vor der Strafe, sondern aus freiem inneren Antrieb geschehen solle, damit der Mensch in seinen Ursprung, der Gott sei, zurückkehren und alle menschlichen Mängel überwinden könne. Das Fundament hierzu ist die Tugend der Demut. Die Demut ist die Möglichkeit der Selbst-Verlängerung, bzw. der Selbst-Erweiterung. Sie ist Gelassenheit in allen Leiden und Anfechtungen, sie ist die Abgeschiedenheit von der Welt und der Beginn der Suche Gottes in unserer Seele, der Anfang vom Werden eines gottähnlichen Menschen.106 102

Tauler, Predigten, 1. Bd., 8, S. 55 f. Des HochErleuchten […] Joannis Thauleri […] Predigten Auff alle Sonn= vnd Feyrtäge durchs Jahr/ […], (Am III. Sontag nach Trinitatis. Die Erste Predigt), S. 518. 104 Tauler, Predigten, 1. Bd., 35, S. 256 u. 23, S. 159 f. 105 Ebd., 1. Bd., 37, S. 273 u. 21, S. 148. 106 [Pseudo-] Tauler, Medulla Animae | Oder | Vollkommenheit | aller Tugenden. 103

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Das Ringen des jungen Locher mit einer demütigen Grundeinstellung vermittelt uns ein Traum, den Locher sofort seinem venezianischen Freund Petrus Ericus in einem Brief vom 23. April 1678 mitteilte.107 In diesem Traum eröffnete ihm seine Mutter, er werde bald sterben, denn er sei als Opfer für die Götter auserwählt worden. Der träumende Locher wehrte sich aber gegen diesen Ratschluss und versuchte sein Leben zu verteidigen indem er geltend macht, dass das Menschenopfer nur Wirkung entfalte, wenn der zu Opfernde es freiwillig darbringe. Als Locher erwachte, stellte er für sich fest, dass sein »Hertz nach so fest an die Eÿtelkeit gebunden« und noch nicht ausreichend geübt sei »in wahrer gelaßenheit, nach dem Willen Gottes zu leben«. Diese schmerzliche Erfahrung seiner Unzulänglichkeit – Träume haben für Pietisten oft den Charakter einer göttlichen Botschaft – veranlasste ihn zur Niederschrift folgender Verse, in welchen er seine zu stark empfundene Verbundenheit mit dem Diesseits anklagte: Eÿtelkeit! O Eÿtelkeit! Wie hast du mich gefangen daß mir mich von dir befreÿt zu sein, so wenig thut verlangen O Gott bekehre mein Hertz und nimm es dir zu eigen So wird in Tod und Schmertz, ich frohlich stets mich zeigen.

Das Buch von der Geistigen Armut hat mit Sicherheit nicht Johann Tauler zum Autor. Das Werk ist aber in seinem Umfeld einzuordnen. Es greift 107 »Mich bedunckte zu Zürich in meiner Mutter Haus zu sein, welche nebent meiner Schwöster zimmlich frölich gewesen: Die Mutter sagte mir: des folgenden Tags müßte ich sterben und zwar aus oberkeitlicher Verordnung; Im Schlaff beduncke mich, der gleichen rede habe meine Mutter vor ungefahr einem Jahr auch getriben, als ich aber damals nach der Ursach fragte, seÿ selbige verschwigen, und auch die tödung vermidten gebliben, also hoffete ich, solte es auch dißmal geschehen, weilen das sterben mir nicht beliebete; fragte des wegen auch dißmahl die Mutter was doch die Ursach wehre, und was ich verschuldet hette? Sie andtwortete: du hast zwahr nicht mehrers verschuldet oder gesündigt als ein anderer Mensch: Es vermag aber [6] die Religion, daß Jährlich ein Mensch hingerichtet und Gott geopfert werde; Ursach, ein Jahr solte 160 tag haben seÿ aber onengelhafft und habe nur 159. und müße also ein tag ersatzt werden; es werde aber diese Sach sehr heimlich gehalten, und suche man die Persohn so sie zu predestiniert seÿ, zur freÿwilligkeit zu bereden. Da gedachte ich: So hat dan in der unzahlbaren menge Volcks daß sich auf der Welt befindet der Destin mich getroffen? Patienza. Doch wolte ich solches meinem Herren Veter und Patron Herrn Heinrich Römer Elter anzeÿgen, wie ich tete, und begehrte seines Raths welcher wahr: ich solte die Sach noch etwas Zeits aufschieben wie ich wohl thun konte, weilen das opffer volontare sein müßte: dießen Rath ließe ich mir wohl gefallen und bedunckte mich daß mein Hertz nach an der Eÿtelkeit dißer Zeitlichkeit klebte deßwegen sich zu solchem werk nach nicht wohl bequemen konte; Jedoch wahre ich vorhabens mich dar =|zu nach und nach anzufrischen, umb nach etwas Zeits desto freüdiger in den Tod zu gehen; bald darnach erwachte ich, und betrachtete beÿ meiner selbst; wie mein Hertz nach so fest an die Eÿtelkeit gebunden, und so träg in wahrer gelaßenheit, nach dem Willen Gottes zu leben, beÿ Vater(?) Gott und Verzichtung, und daß Er mein Hertz zu seiner forcht und rechter gelaßenheit anhalten wolle.« ZB Zürich Ms. S. 276, Nr. 16, S. 5 f.

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Taulers Lehre auf und weicht nur gering von dieser ab, so dass bis in das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts Tauler als Verfasser gelten konnte.108 Das Buch erhebt die Armut und die Nachfolge des Leidensweges Christi zum Gegenstand der Abhandlung. Dabei geht es darum, das Verhältnis des Menschen zu Gott zu ergründen und Wege zur Vereinigung mit Gott aufzuzeigen: Es handelt sich um Spielarten des vollkommen armen Lebens. Beispielsweise die Abgeschiedenheit von der Welt, indem man sich an nichts klammere, was zwischen Gott und Menschen stehe. Das Zufällige und Bedingte am menschlichen Sein müsse abgestreift und der menschliche Wille durch Gottes Willen ersetzt werden, damit der Mensch frei werde. In der Armut zeige sich das göttliche Wirken: sie reinige den Menschen und helfe ihm, Gott und sein Sprechen zu verstehen. Man müsse die Leiden Christi auf sich nehmen und durch Gelassenheit und Armut zum Werkzeug Gottes werden. Die Nachfolge Christi ist der Weg zur Einheit mit Gott. Der Tod durch das Absterben von allen Kreaturen und das schauende (kontemplative) Leben ist Höhepunkt der unio mystica.109 Das Buch von der geistigen Armut weist mindestens zwei bedeutende Differenzen zu Johannes Tauler auf: Zum einen wird die Bedeutung des Willens als Voraussetzung zur mystischen Vereinigung stärker betont als in den Predigten. Zum Zweiten fordert das Buch im Unterschied zu Tauler und der dominikanischen Tradition neben der inneren geistlichen auch die materielle Armut.110 Wie stellt sich nun der Kaufmann Johann Heinrich Locher zur These, dass es zum Seelenheil der materiellen Armut bedürfe? Teilt er diese Auffassung, die oftmals im Pietismus anzutreffen war?111 Rezipierte er seinen Lesestoff ungefiltert, oder nahm er bloss in eklektischer Weise einzelne Bausteine auf, aus welchen er dann sein Gedankengebäude erstellte? Am 8. Februar 1694 weilte der Bonstetter Pfarrer Johann Kaspar Hardmeyer in Zürich und besuchte seinen Freund Johann Heinrich Locher. Beim Mittagessen kamen die beiden auf den großen Nachlass des verstor108 Erst seit der 1877 erschienenen Arbeit von Heinrich Denif le kann Tauler nicht mehr als der Verfasser des Buches von der geistigen Armut gelten. Siehe das Nachwort in: Largier (Hg.), Das Buch von der geistigen Armut, S. 237. 109 Hier verwendet: D. Joh. [Pseudo-]Tavleri, Nachfolgung des | armen Lebens Christi | In zwey Theilen abgetheilet: | Deren der erste sagt viele Unterschiede | der wahren Armuth | Der ander lehret/ wie man soll kommen | zu einem vollkommen armen Leben. | Nun zuerst aus einem alten/ vor ein hundert und sibenzig | Jahren geschrieben Exemplar/ von Wor zu Wort teulich und | gantz unverfälschet nachgedruckt, Frankfurt/M. 1692 [ZB Zürich TT 4592]. 110 Largier (Hg.), Das Buch von der geistigen Armut, S. 251–257; Gnädinger, Johannes Tauler, S. 426. 111 Beispielsweise vertrat Christian Thomasius in seiner pietistischen Phase die Forderung nach materieller Armut. Im Eigentum erblickte er die Ursache der menschlichen Verdorbenheit. Thomasius, Einleitung zur Sittenlehre, S. 302 ff.

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benen Kaufmanns Johann Konrad Hartmann (1609–1693) zu sprechen, einer der erfolgreichsten Zürcher Seidenhändler der Zeit. Er hinterließ die gewaltige Summe von 390’000 Gulden.112 Johann Heinrich Locher bedauerte nun angesichts eines zur damaligen Zeit unermesslichen Reichtums, was man nicht alles Gutes mit diesem Vermögen hätte ausrichten können. Er meinte, was ihme Godt so viel anvertraute, Er wolte darmit Stadt und Land beherschen, ob Er schon nicht an den Steür Ruder stühnde: das Gelht müeste sin Knecht seÿn, der ihme auswürkte alles, was er durch Godtselige und vernünftige Gründe nicht würde thun könen, dann die Welt wölle nur mit Gelt beherschet werden, und so wolte Er hofen, daß es recht zu gehen wurde!113

Der Bonstetter Pfarrer erwiderte, er sei der Ansicht, die Welt werde so ihre Tücken so wenig los wie der Leopard seine Flecken. Eine durch Geld verbesserte Welt würde Gott nicht lieben, diese sei durch die »Erkantnuß aller Hertzen« zu verbessern. Es sei vielmehr so, dass eher die Gottlosen denn die Frommen über die irdischen Schätze verfügten. Lochers Einstellung zu Reichtum und Geld ist eine ungebrochene, ganz wie man sie von einem Kaufmann erwartet. Seine Einstellung ist abgeklärt und rational, indem er sich des ökonomischen und gesellschaftlichen Einf lusses des Kapitals bewusst ist. Verklärt wird sie erst, wenn er in gläubiger Absicht meint, mit finanziellen Mitteln die Welt in eine frommere Welt umformen zu können. Locher ist anscheinend nicht der Auffassung, dass ein Leben in Armut – ob nun selbst gewählt oder als Schicksalsschlag – die Voraussetzung für ein frommes Leben sei. In seinem Denken steht vielmehr die Frage im Vordergrund, wie man mit dem Reichtum, der durch Gott jemandem anvertraut werde, in gottgefälliger Absicht umgehe. Johann Heinrich Locher setzte seine Ansicht auch in die Tat um und strebte danach, mit seinem bescheidenen Vermögen ein gutes Werk zu tun und einen Beitrag an die Verbesserung der Welt zu leisten: Es ist bekannt, dass er etwa zum selben Zeitraum als das zitierte Gespräch über die Rolle des Geldes stattfand, die Übersetzung und Drucklegung der Werke Jane Leades finanziell förderte.114 Die beiden Diskutierenden einigen sich schließlich, dass es unabhängig davon, ob mit dem Geld die Welt nun in gottgefälliger Weise verändert werden könne, und ob einem das Geld dazu zur Verfügung stehe, es einzig auf die Absicht zu einem guten Werk ankomme. Sie einigen sich damit auf eine durch Thomas von Kempen verbreitete Ansicht.115 112

U. Pfister, Die Zürcher Fabriques, S. 541. ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, Band 1 (1694–95), S. 27, Eintrag vom 8. Februar 1694. 114 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 6, Wahrhafftige Erzellung, S. 34. Siehe auch Kapitel 2.6.4.2. 115 Beispielsweise NC , I, 15. 113

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2.2.2.2 Thomas Hemerken von Kempen (Thomas à Kempis) Die Nachfolge Christi von Thomas Hemerken von Kempen (ca. 1380–1471)116 muss bei Johann Heinrich Locher einen großen Stellenwert gehabt haben. In seiner Bibliothek befanden sich sechs verschiedene Ausgaben der mystischen Schrift. Jeweils zwei Exemplare in deutsch und französisch sowie je ein Exemplar in holländisch und italienisch. Nur die Bibel besaß Locher in noch größerer Anzahl. Das Werk des Thomas à Kempis muss offenbar einen Platz eingenommen haben, der jenem der Bibel nahe kam. Locher, des Lateins unkundig – und somit nicht in der Lage die Nachfolge Christi in der Originalsprache zu lesen –, beabsichtigte offenbar, durch vergleichende Lektüre unterschiedlicher Ausgaben und Übersetzungen dem ursprünglichen Geist der Schrift nahe zu kommen. Nur so kann erklärt werden, warum Johann Heinrich Locher mehrere Ausgaben des Werkes in unterschiedlichen Übersetzungen sammelte. Anhand der Konfiskationsliste lassen sich nicht alle sechs Ausgaben der Nachfolge Christi eindeutig bestimmen. Bloß zwei wurden mit genügenden bibliographischen Angaben festgehalten: Es handelt sich um die beiden ersten deutschsprachigen protestantischen Editionen. Die beiden protestantischen Ausgaben lassen jeweils das vierte Kapitel, welches der katholischen Sakramentsfrömmigkeit gewidmet ist, aus.117 Bei der einen handelt es sich um eine 1535 in Zürich gedruckte Ausgabe, welche aber nicht mehr auffindbar ist. Sie ist lediglich eine Übersetzung in Auszügen. Als Übersetzer wird der »Melanchthon der Zürcher Reformation« – und vorübergehende Sympathisant Kaspar Schwenckfelds – Leo Jud vermutet118. Das Büchlein blendet auf weiten Strecken die mystischen Aspekte aus und betont stärker die Askese.119 Die zweite Ausgabe hat Kaspar Schwenckfeld zum Herausgeber.120 Interessanterweise wurde Johann Heinrich Locher das in Zürich verlegte Exemplar wieder zurückgegeben, die Schwenckfeldsche Edition hingegen als gefährliches Werk eingestuft und zurück116 Heutger, Thomas von Kempen, S. 1396 ff.; Lanczkowski, Thomas von Kempen, S. 495 f. 117 E. Weber, Johann Arndts vier Bücher vom Wahren Christentum, S. 42. 118 Zu Leo Jud: Raupp, Jud, Leo, S. 1118–1122; K. Deppermann, Schwenckfeld and Leo Jud, S. 211–236. 119 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 11, S. 1, spricht von »Kempis zu Zürich getrukt 1535«. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist folgendes ein Nachdruck: Thomas von Kempen, Nachuolung | Christi/ vnnd verschmä=|hung aller ytelkeit disser welt/ so | von einem wolgelerten liebhaber Got=|tes/ vor vil jaren beschriben/ ist | yetz abermals f lyssig überle=| sen/ un[d] allen ernsthafften | nachuolgern der war=|heit zu lieb vnd trost | widerumm von nü=|wem vßgangen, Zürich (Augustin Fries) 1539 [ZB Zürich AX 5216]. 120 Thomas von Kempen, Nachfolgung Christi, vnd verschmähung aller eytelkeit diser welt/ So von einem wolgelerten liebhaber Gottes [d. h. Thomas à Kempis], vor vil Jaren beschriben. Jst jetzt abermals vom […] Caspar Schwenckfelden f leissig vbersehen, vund von newem außgangen, o. O. 1581 [HAB Wolfenbüttel A: 1005 Theol. (1)].

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behalten. Noch zwei weitere Thomas von Kempen-Drucke wurden eingezogen, auch wenn sie nicht als gefährlich taxiert wurden: eine italienische und eine französische. Offensichtlich wurde der Besitz der Nachfolge Christi durch die Obrigkeit durchaus toleriert. Zur Konfiskation Anlass gab vielmehr der Herausgeber. Bei der eingezogenen französischen Ausgabe kann vermutet werden, dass es sich unter den unzähligen französischen Übersetzungen um jene von Pierre Poiret handelte121 – konkrete Anhaltspunkte haben wir jedoch nicht. Die Nachfolge Christi ist – folgt man den Titelüberschriften der ersten drei Bücher – eine Ermahnung an jene, die ein höheres, göttliches Leben, d. h. ein innerliches Leben des inneren Trostes führen möchten. Das Werk steht unter dem Leitspruch Joh 8, 12 »Der Herr spricht: Wer mir nachuolget/ der wandlet nit in der finsternuß/ sonder wirt das liecht des lebens haben/ spricht der Herr. Dieses sind die wort Christi/ durch welche wir vermanet werden/ daß wir seinem leben vnd seinen sitten sollen nachuolgen/ so wir warlich erleüchtet und von aller blindheit des hertzen wöllen erledigt werden (NC I. 1).«122 Ein mystischer Schlüsselbegriff ist bei Thomas von Kempen das Herz. Es nimmt den Geist Christi in sich auf. Dieses In-Sich-Aufnehmen ist die Grundvoraussetzung, um das Leben Christi nachzubilden. Geduld, Liebe und Demut bilden dazu die Tugenden (NC, I, 1). Die Schrift ist als praktische Anweisung gehalten und wendet sich teilweise in der zweiten Person und im Befehlston direkt an den Leser, welcher nach dem höchsten Gut streben soll. Die Imitatio steht in einer neuplatonisch-stoischen Tradition: Es gilt Gott als höchstes Gut anzustreben. In ihm ist das höchste Leben, beziehungsweise die Ruhe der Seele zu finden. Der Weg zum Eins-Sein in Gott führt über eine strenge Askese. Der Beschreibung der asketischen Lebensregeln und der stoischen Haltung in allen widrigen Lebenssituationen räumt Thomas à Kempis den größten Platz ein. Enthaltsamkeit und der innere Seelenfriede sind die konkreten Regeln einer Nachfolge. Elend sei der Mensch, wenn er nicht danach trachte, sich mit Gott zu vereinigen. Aus Liebe zu Gott solle er seinen Eigenwillen brechen lernen und dem göttlichen Willen gehorchen. So werde er von aller Trübsal befreit werden. (NC I, 22) Es sind denn auch Elemente der stoischen und asketischen Verinnerlichung, welche Johann Arndt in sein erstes Buch des 121

Kempis Commun, ou Les Quatre Livres De L’Imitation De Jesus-Christ, Partie traduits, partie paraphrases, selon le sens interieur & mistique, pour l’edification commune de tous les Chrêtiens qui desirent de s’avancer dans le solide de la pieté / [Trad.: Pierre Poiret], Amsterdam (Wettstein) 1683. Eine zweite Auf lage erschien bei Christoff le le Blon, Amsterdam 1695. Vgl.: Chevallier, Bibliotheca Dissidentium, S. 157 ff. 122 Thomas von Kempen, Nachfolgung Christi, vnd verschmähung aller eytelkeit diser welt, S. 1.

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Wahren Christentums aufnahm. Themen, die sich um die innere Sammlung und weltf lüchtige Askese drehen. Oder um die Frage der christ lichen Stoik, wie es die Überschrift des 19. Kapitels in Anlehnung an NC I, 22 zum Ausdruck bringt: »Wer in seinem Herzen der elendeste ist, den hat Gott am liebsten«.123 Die Lebensregeln, welche Thomas von Kempen aufstellt, münden wie bereits bei Johannes Tauler in die Vereinigung mit Gott. Das asketische Programm lässt sich in folgender Maxime fassen: »Verlaugne dich selbs/ heb auff dein Creütz/ vnd volge mir [= Jesus Christus] nach.« (NC II, 12)124 Der tägliche Leidensweg eines Nachfolgers bestehe darin, dass der Mensch sich selbst überwinden und das Fleisch durch den Geist besiegen müsse. Konkret heißt dies, ein innerliches Leben zu führen: zurückgezogen leben, einfache Nahrung zu sich nehmen, wenig sprechen, früh aufstehen und viel arbeiten. Damit dieses asketische Programm eingehalten werden könne, müsse streng über sich selbst gewacht werden (NC I, 25). Thomas von Kempen schlägt daher eine rigide Selbstkontrolle vor, am Morgen solle man gute Entschlüsse fassen, abends das Tagwerk auf Gedanken, Worte und Werke hin prüfen (NC I, 19). Dann werde Christus in dir einziehen, dich stärken und trösten, wenn du ihm in deinem Innern eine würdige Wohnung bereit hältst (NC II, 1). Die Überwindung der Eitelkeit ist auf diesem Weg erst der Anfang: Der Ehrsucht und den Gelüsten des Fleisches sei zu entsagen. Der Mensch müsse sein Herz von den sichtbaren, irdischen Gütern lösen und sich dem Unsichtbaren, Geistigen zuwenden (NC I, 1). »Lern der welt sterben/ so würstu dann anfahen mit Christo zuleben.« (NC I, 23)125 Der wahre Friede des Herzens werde erst gefunden, wenn den Leidenschaften widerstanden werde, wenn der Mensch in sich selbst abgestorben sei (NC I, 6). Wer in den Spuren Christi wandeln wolle, erreiche dies, indem er sich für gering halte. Die Aufgabe sei es, sich selbst wahrhaft zu erkennen. Denn wer sich selbst erkenne, der schätze seine Persönlichkeit gering (NC I, 2). Die demütige Selbsterkenntnis führe sicherer zu Gott als wissenschaftliche Untersuchungen. Mit unseren äußeren Sinnen sei es nicht weit her. Hingegen spreche Gott in uns (NC I, 5). »Beschleüß die thür deiner sinlichkeit/ auff daß du mügst gehören was Gott dein Herr in dir redt« (NC III, 1)126 . Diese Einkehr und radikale Abwendung von der sinnlichen Welt hat auch epistemologische Konsequenzen: Eine neue Erkenntnisquelle und eine höhere Wahrheitskategorie werden erschlossen. Wäre der Mensch vollständig der Welt abgekehrt (sich 123

E. Weber, Johann Arndts vier Bücher vom Wahren Christentum, S. 45–49. Thomas von Kempen, Nachfolgung Christi, vnd verschmähung aller eytelkeit diser welt, S. 150. 125 Ebd., S. 83. 126 Ebd., S. 164 f. 124

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selbst abgestorben) und somit innerlich an nichts gebunden, so könnte er die göttlichen Geheimnisse erkennen und würde eine tiefere Einsicht in alle Dinge gewinnen. Würde der Mensch die Gotteserkenntnis nur durch äußere Beobachtungen zu erlangen suchen, dann hätte der Erkenntnisgewinn bald ein Ende (NC I, 11). Je mehr aber ein innerliches und geistiges Leben geführt werde, umso schmerzlicher werde wahrgenommen, wie unvollkommen das äußerliche Leben und wie verdorben das menschliche Herz sei (NC I, 22). Letztlich sei aber der Mensch unwissend, einzig durch die Einwohnung Gottes könne er an dessen Wissen teilhaben: Der Gläubige solle stets seiner eigenen Unwissenheit bewusst sein, da nur Gott in ihm wahrhaft wissend sei. Wer viel gelesen und erfahren habe, dürfe dennoch nicht vergessen, dass alles wahre Wissen von Gott ausgehe. Er sei die Urquell, von der das Wissen ›ausf ließe‹ (NC III, 34). Die innere Erkenntnis, die direkt von Gott herrühre, hat schließlich auch Folgen für das Verständnis der Bibel und der Religion. Gott soll man mit dem Herzen zugetan sein und nicht durch Bücher. Mit dem Geist solle man nach Göttlichem trachten, sich dem Vergänglichen lossagen und sich der inneren Anschauung hinwenden. Ebenso sei eine Überschätzung der Zeremonien ein Hindernis, um göttliche Dinge erkennen zu können. (NC III, 3 und 24) Mit dieser reservierten Haltung gegenüber dem äußerlichen Gottesdienst schimmert ein erstes Mal die spätere radikalpietistische Kritik an der Kirche und der dogmatischen Theologie durch. Eine bezeichnende Stelle verdeutlicht exemplarisch die große Bedeutung, welche Kempis Nachfolge Christi für Lochers religiöse und irenische Haltung einnahm. In einer autobiographischen Schrift, die vermutlich ebenso wie das Glaubensbekenntnis in handschriftlichen Kopien unter den Interessierten zirkuliert haben dürfte, berichtet Locher über seine Freundschaft mit Johann Heinrich von Schönau und über seine Reise nach Holland, auf der er diesen in der Labadistischen Kolonie in Wieuwerd abholte und nach Zürich zurück begleitete. Ich gebe hier die Erzählung Johann Heinrich Lochers wieder:127 Locher reiste am 2. August 1679 mit dem »Baßel bodten« Richtung Basel. Dort stieg er auf ein Rheinschiff um und traf auf drei oder vier reformierte Glarner, die Steinplatten geladen hatten. Auf dem Schiff befand sich zudem eine ältere Katholikin – eine große »Eÿfferin«. Bald entbrannte ein heftiger Religionsdisput, »daß es recht erbarmlich an zu hören wahr«. Johann Heinrich Locher hielt sich aus dem Disput heraus und versuchte bloß, die Streitenden zu trennen. Als ihm dies gelungen war, verwickelte er die Katholikin in ein Einzelgespräch. Er fragte sie, welcher Art der Geist dieser hitzigen und eifrigen Diskussion wohl sei – jener eines Engels oder jener des Teufels? Die Frau erschrak und meinte, der Geist die127

ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 18, S. 2–4.

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ses heftigen Streites sei ein bösartiger. Die Frau zeigte reuige Einsicht und fragte Locher um Rat, wie sie sich bessern könne. Locher meinte, er sei nicht Katholik sondern reformiert, aber er billige das Verhalten der Glarner nicht. Der Streit sei kein Ausdruck des christlichen Geistes gewesen, denn dieser sei ein Geist des Sanftmutes, der Demut, der Gerechtigkeit und der Wahrheit. Nur weil die Gesprächspartnerin keinen besseren Geist kennen würde, verabscheue sie diese Zänkerei nicht. Er glaube nicht, dass die katholischen Prediger sie zu diesem Religionszwist anleiteten. Er glaube auch nicht, dass ihr Beichtvater ihr Tun billige. Sie möge ihn als Reformierten für parteiisch halten, er sei aber im eigentlichen Sinne des Wortes katholisch, bzw. einer allgemeinen Religion verpf lichtet, so wie es auch Jesus gewesen sei, indem er das Trennende zwischen Juden, Griechen und Heiden beseitigt habe. In diesem Sinne könne er raten, in Demut und Niedrigkeit zu leben und niemanden zu hassen, nicht zu lästern oder zu verletzen. Sie solle bedenken, dass Gott selbst die Vielheit der Religionen geduldig ertrage und dass der »Samen des Zwÿtrachts, unreinigkeit und Sectiererei nicht von Gott, sonder vom Tüffel dem Ertzfeind aller Menschen in die Religion geseÿet worden« sei. Um ein Jünger, d. h. Nachfolger Christi zu werden, müsse man sich verleugnen. An der gegenseitigen Liebe werde man die Jünger erkennen. Die Frau seufzte und weinte. Sie meinte mit Locher an ihrer Seite müsste sie sich um ihr Selenheil keine Sorgen mehr machen, doch die gemeinsame Reisezeit sei gar kurz. Was sie tun solle? Locher meinte, er sei selbst ein schwacher Mensch, und riet ihr, bei Gott selbst durch rechtes Gebet Beistand und Hilfe zu suchen, unter Anwendung des Innersten unseres Herzens. Im Weiteren werde er ihr den Thomas à Kempis, ein in Köln verlegtes Büchlein in Straßburg kaufen. Wenn sie die Nachfolge Christi täglich lese und bedenke, werde sie genügende Anleitung erhalten. Falls ihr Beichtvater das Büchlein missbilligen sollte, dann müsse sie auch für sein Seelenheil beten. Im Reisebericht sind der direkte inhaltliche Bezug zur Nachfolge Christi sowie deren Interpretation im Zeichen des Glaubensstreites augenfällig. Der Wendepunkt in der Erzählung ist der Moment, an welchem Johann Heinrich Locher die streitbare Katholikin zur Einsicht veranlasst, dass ein religiöser Disput sich nicht mit ihrem Glauben vertrage, und sie zur Reue bewegt. Er kann nun der konfessionell gebundenen Religiosität seine eigene an der Nachfolge Christi orientierte Religiosität als allgemeine Religion gegenüberstellen. Ihr irenischer Gehalt liegt in der Imitation des Geistes Jesus und in der Innerlichkeit. Diese werden zum Programm der Irenik, zum Ersatz der Konfessionskirche stilisiert. Johann Heinrich Locher nennt hier explizit die Schrift Thomas von Kempens und er legt dar, was er darunter für sein tägliches religiöses Leben versteht: Den Anfang nimmt er beim Bild des schwachen, niedrigen Menschen, der den Beistand des Schöpfers braucht. Der im Innersten seines Herzens die An-

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Abbildung 5: Frontispiz aus Bunyan, Eines Christen Reise nach der Ewigkeit, Hamburg 1694. Ein alter, mit schwerer Last bepackter Pilger steht vor einem Tor, welches auf den gewundenen und steilen Weg zu einem stilisierten himmlischen Jerusalem auf dem Berggipfel führt, hinter dem die Sonne aufgeht. Über dem Tor die Inschrift: »Klopffet an so wird euch auff gethan«. [HAB Wolfenbüttel M: Th 374]

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lage zu Höherem hat und ein geistiger Jünger Jesus werden könne, wenn er sich zu ›verleugnen‹ verstehe. Dazu brauche es den Geist der Demut und Sanftmut, der Verinnerlichung und der stoischen Zurückhaltung. Niemanden zu hassen, nicht zu lästern oder gar zu verletzen ist das Gebot. Nach Lochers Auffassung der Mystik Thomas von Kempens wird die Religiosität tief ins Innere des Menschen verlegt und mit einer christlichen Stoik als Kern des Glaubens gepaart. Ein Kern der sich – zumindest der Vorstellung nach – in einer Geisteshaltung und alltäglichen Lebenseinstellung ausdrücken soll. Auf einen weiteren Punkt ist hinzuweisen, da er den Stellenwert der Nachfolge Christi erhellt: Der Traktat hat die Funktion einer Anleitung: Das Büchlein diente offenbar als Wegweiser in der täglichen Glaubenspraxis. Johann Heinrich Locher kam darauf zu sprechen, als die Katholikin fragte, wie sie einen wahren christlichen Glauben leben solle. Für Johann Heinrich Locher beruhte der Wert dieser mystischen Schrift in der praktischen Anleitung zur alltäglichen Nachfolge, welche auf der Introspektion und auf der Demut basierte. Das Motiv der Nachfolge zieht sich seit alters her durch die mystische Literatur. Ursprünglich wurde darunter das Martyrium der ersten Christen verstanden und als nachgeahmten Opfertod Christi interpretiert. Die Standhaftigkeit angesichts der Christenverfolgung wandelte sich im Laufe der Zeit zu einem metaphorischen Martyrium, das in der Entsagung der Welt bestand. Was verstanden die radikalen Pietisten unter der Imitatio? Worin bestand ihr Heilsweg? Einen ersten Eindruck, wie Pietisten ihren soteriologischen Weg interpretierten, vermitteln zwei Werke aus der Locher schen Bibliothek. Einerseits der Schatz der Gottbegierigen Seelen128 des Kastiliers Miguel Comada in einer niederländischen Übersetzung und anderseits John Bunyans (1628–1688) aus dem Englischen ins Deutsch übertragene Eines Christen Reise nach der Seeligkeit129, welches der baptistische 128 Comada, Schatz der Gott |begierigen Seelen/ | Das ist/ | Eine sehr lehrhaffte Unter | = = richtung darinnen ein jeder Christ | unter einem gantz lustigen und über allemaß | lieblichen Gespräch gelehret und un=|terwiesen wird. | Wie er der Sünden absterben/ | Sein Adamisches/ f leischliches Leben hassen/ | Sich selbst verleugnen und Christo leben soll/ | auff daß er zu der wahren Liebe GOttes und sei=|nes Negsten gelangen möge. | Bereits vor 200. Jahren in der Castiliani=|schen Sprach geschrieben/ und nachmahls in die | Frantzösische/ Italänische/ Lateinische/ Teutsche und Nieder =|ländische Sprachen übergetragen […], Ratzeberg auffm Dohm (Niclas Missen) 1668 [HAB Wolfenbüttel M: Ll 218]. Eine niederländische Ausgabe war nicht auffindbar. Dem Titel ist jedoch zu entnehmen, dass eine solche existiert haben muss. 129 Bunyan, Eines Christen | Reise | Nach der Seeligen | Ewigkeit/ | Welche in unterschiedlichen | artigen | Sinnen=Bildern | Den gantzen Zustand einer Buß=|fertigen und Gottsuchenden See=|len vorstellet/ | In | Englischer Sprache beschrieben | Durch | Mr. Johann. Bunian, | Predigern in Betford/ | Hernach in Niderländische/ und nun | umb seiner Fürtreff lichkeit willen in die | Hochteutsche Sprache übersetzt | Durch J. L. M. C.,

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Laienprediger 1670 im Gefängnis zu schreiben begann. Beide Bücher wurden seitens der Examinatoren zurückbehalten. Die zwei Schriften waren unter Pietisten beliebt.130 Ihr Thema ist eine allegorische Peregrination. Bunyans A Pilgrim’s Progress handelt von einem bußfertigen Menschen. Dieser wendet sich von seinem verderbten alten Zustand ab und verlässt sein Vaterhaus. Nun richtet er seinen Weg nach dem himmlischen Jerusalem. Der Suchende wird auf dem Weg verspottet und als irr erklärt. Seine Pilgerschaft ist das Verlassen dieser Welt; was ihm dabei alles an Anfechtungen zustößt und wie er widersteht, ist das Grundmotiv. Er lernt dabei Menschen kennen, welche ihn vom Tugendweg abbringen und auf ungute Abwege locken wollen, die ihn am Ende in die Hölle bringen und ihm den Seelentod eintragen würden. Dasselbe Motiv findet sich auch in der älteren spanischen Schrift. Sie zeichnet den Weg nach, wie man »Von der Begierde/ zu der rechten und vollkommenen Weißheit und Liebe Gottes zu gelangen« kann. Der nach Gott Suchende, der seine Trägheit und Faulheit, den dunklen Ort der Sünde aufgeben will, gelangt an einen einsamen, bescheiden lebenden Hirten, der ihm den mystischen Weg weist. Der Suchende trifft nun auf seinem Weg auf edle oder verführerische Jungfrauen, welche die Tugenden und Untugenden personifizieren. So begegnet er der »Demuth« und der »eitle Ehre«. Als der Held die Prüfung besteht, geleiten ihn neuerlich Jungfrauen weiter von der Demut zur Liebe Gottes. Die Begleiterinnen tragen die Namen »Verachtung der Welt« und »Verachtung seiner selbsten«. Wegstationen sind: Gerechtigkeit, Weisheit, Stärke, Mäßigung, Glaube, Liebe und Hoffnung. Die Demut hilft ihm im Streit gegen Hoffart, Fleischeslust, Bosheit, Trägheit, Zorn und Neid. Und er lernt von ihr, wie diese Laster zu überwinden sind. Sie zeigt ihm, dass alles gut sei, was Gott zugehöre und alles böse sei, das der kreatürlichen Welt zugehöre. Er lernt weiter die Armut als eine Tochter der Geduld kennen. Beide Schriften sind in allegorischen Bildern gehaltene Popularisierungen des mystischen Programms. Der Weg zum Heil wird mit einem fiktiven Alltag konfrontiert. Die Beliebtheit der zwei Schriften lässt darauf schließen, dass die alltäglichen Konfrontationen des Suchenden dem Leser als authentisch erscheinen mussten. Auch hier ist zudem bezeichnend, dass die konfessionellen Zugehörigkeiten der Autoren nur nebensächlich sind. Hanburg (Gottfried Liebernickel) 1694 [HAB Wolfenbüttel M: Th 374]. [Orig.: The pilgrim’s progress from this world to that wich is to come, 1678.] 130 Auch Johann Heinrich Schütz hatte beispielsweise den Schatz der Gottbegierigen Seelen in seiner Bibliothek stehen: Gottfried Arnold nahm später das Werk in seine Liste der mystischen Theologie auf. A. Deppermann, Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus, S. 72 f.

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2.2.2.3 Deutsche Theologie (auch Der Franckforter) Die dritte mystische Schrift, die Arndt für sein Wahres Christentum verwendete und mit welcher sich Johann Heinrich Locher beschäftigte, ist die anonyme Deutsche Theologie – nach dem Titel der Bronnbacher Handschrift auch »Der Franckforter« genannt131. In der Locherschen Bibliothek befand sich nicht etwa die von Johann Arndt besorgte Neuausgabe, sondern Locher besaß quasi das Original, d. h. einen Nachdruck von 1520132 . Leider wissen wir nicht genau, über welche Ausgabe Locher verfügte: Denkbar ist ein Nachdruck (Wittenberg 1520) welcher auf der zwei Jahre früher erfolgten Ausgabe durch Martin Luther basierte. Es handelt sich hierbei um den sogenannten Luther-Druck B, der sich vom 1516 edierten Luther-Druck A unterscheidet, indem ihm eine neue und – was das Textkorpus anbelangt – vollständige Handschrift zugrunde liegt133; möglich ist aber auch die in Augsburg verlegte Ausgabe, welche ebenfalls auf dem kompletten Lutherdruck von 1518 basiert. Denkbar ist schließlich eine in Straßburg verlegte Ausgabe, die sich ihrerseits auf den Augsburger Druck stützt.134 Der Herausgeber hielt große Stücke von diesem Werk der mittelalterlichen Mystik; Martin Luther pries die Deutsche Theologie im Vorwort, er habe nebst Bibel und Augustin viel aus ihr gelernt und auch wenn der Verfasser in einer einfachen Sprache schreibe, so danke er Gott, dass er auch auf deutsch Gott hören könne.135 Interessanterweise wurde die Lektüre der Theologia Deutsch im Gegensatz zu Taulers Werken und der Nachfolge Christi – sofern die jeweils genannten Herausgeber nicht selbst als heterodox galten – durch die Zürcher Examinatoren nicht erlaubt. Das Werk, welches Luther in den höchsten Tönen lobte, wurde als gefährliche Schrift eingestuft und zurückbehalten. Es ist zu vermuten, dass nicht der Herausgeber hier das negative Urteil der Obrigkeit beeinf lusste; vielleicht lag es einfach daran, dass Calvin und die reformierte Kirche die hohe Wertschätzung des Wittenberger Reformators für dieses Werk nicht teilten.136 131

von Hinten, ›Der Franckforter‹ (›Theologia Deutsch‹), S. 3. Eyn deutsch Theologia. das ist | Eyn edles Büchleyn/ von rechtem vorstandt/ was | Adam und Christus sey/ und wie Adam yn | uns sterben/ und Christus ersteen sall, [Martin Luther (Hg.)] Wittenberg 1520 [HAB Wolfenbüttel: H: G 70.4° Helmstet (1)]; Theologia teutsch | Diß ist ain Edles und kostliches | büchlin/ von rechtem verstand | was Adam und Christus sey | Vnd wie Adam in vns | sterben/ vnd Christus ersteen soll, Augsburg 1520 [HAB Wolfenbüttel A: 86.1 Theol. (3)]. 133 von Hinten, ›Der Franckforter‹ (›Theologia Deutsch‹), S. 16 f. 134 Zur Editionsgeschichte vgl.: Baring, Bibliographie der Ausgaben der ›Theologia Deutsch‹ (1518–1961). 135 Im Folgenden wird die Augsburger Edition verwendet: Theologia teutsch, Augsburg 1520, S. ii (Vorrede). 136 von Hinten, ›Der Franckforter‹ (›Theologia Deutsch‹), S. 4. 132

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Abbildung 6: Titelholzschnitt der Deutschen Theologie, Wittenberg 1620 [HAB Wolfenbüttel H: G 70.4° Helmstet (1)]. Es wurde derselbe Schnitt verwendet wie bei der Erstausgabe von 1618.

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Über den Verfasser des geistlichen Traktats ist nur soviel bekannt, wie er von sich selbst im Prolog preisgibt: Er war ein Priester und Kustos im Deutschherrenhaus in Frankfurt. Die schmale Information gab Anlass zu vielfältigen Spekulationen über den Namen des Autors, ohne dass daraus eine wissenschaftlich haltbare Erkenntnis resultiert hätte. Im 17. Jahrhundert wurde zeitweise die Ansicht vertreten, beim Autor handle es sich um Tauler. Spekuliert wurde auch über die Datierung der Schrift. Heute geht man von einer Entstehungszeit um die Mitte des 14. Jahrhunderts aus. Die Theologia Deutsch müsste dann also in der zeitlichen Umgebung von Tauler und Meister Eckhart angesiedelt werden.137 Die zweite Luther-Edition gliedert sich in 56 Kapitel, ohne dass dabei eine zusammenhängende Entwicklungslinie auszumachen wäre. Das Leitmotiv der Theologia Deutsch ist die Vergöttlichung des Menschen. »Vnd [wo] die Creatur auß gehen/ sol Gott eingehen«. Wer das Vollkommene erkennen will, der muss das Kreatürliche, die Eigenliebe, den eigenen Willen, die Ich- und Selbstheit sowie die f leischlichen Sinne überwinden. Wo Gott, das Vollkommene, Einzug hält, da wird das Kreatürliche, das Selbst etc. verschmäht und für nichts gehalten (ThD, 1). Für den Vorgang, bei dem der Gläubige seine diesseitige Bindung an irdische, geschaffene Dinge aufgibt und sich hinwendet zu einem vollkommenen Leben, das mit der Einwohnung Gottes umschrieben wird, entwirft der Franckforter das Bild, welches Johann Arndt für den Untertitel seines ersten Buches verwendete: Das Bild des absterbenden, alten und sündigen Adams und des auferstehenden Christus. Es steht gleichbedeutend mit der Vorstellung des absterbenden alten Menschen und der (Wieder)-Geburt des neuen Menschen. Dieser Prozess steht offenbar in einem Gleichgewicht und kann sich auf beide Seiten hin entwickeln: Alles was in Adam untergehe, stehe in Christo auf, und was in Christo untergehe, stehe in Adam auf. Das Absterben Adams bedeute, dass die Menschen zu reinen Wesen werden, ohne Selbstheit und Ichheit bzw. ohne eigenen Willen und Egoismus (Eigenliebe). Der Mensch solle alle Dinge für nichts halten und allein in Gott alle Dinge ehren. Er müsse eine Wohnung Gottes werden, ohne Kreatürlichkeit (ThD, 13). Gefordert wird schlicht die radikale und völlige Selbstaufgabe, die Aufgabe des eigenen Willens. Der Mensch solle willenlos, begierdenlos und ehrenlos werden. Er solle nur begehren, wissen, lieben, wollen, was Gott in ihm begehre, wisse, liebe, wolle, so dass alles nicht menschlich oder kreatürlich sei, sondern lauter und vollkommen (ThD, 5). Die Figur Adams steht für eine besondere Sicht des Sündenfalls, für einen Sündenfall der offenbar durch die Wiedergeburt, durch den neuen Menschen, überwunden oder zurück genommen werden kann. Wie posi137

Ebd., S. 2 f.

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tioniert sich das mystische Traktat zur Frage des menschlichen Falles? Der Fall Adams bestand gemäß dem dritten Kapitel der Theologia Deutsch nicht darin, dass er den Apfel aß, sondern dass Adam sich Dinge anmaßte, die Gott gebühren, wie die Liebe als Selbstliebe, oder der Wille als Eigenwille, Ehre und Weisheit. Hätte Adam den Apfel ohne diese Anmaßung gegessen, wäre er nicht gefallen. Wie kann nun der Fall Adams korrigiert werden?, fragt der Traktat. Der Mensch könne sich bessern, indem er in derselben Weise, wie er der Sündenfall verursachte, diesen wieder rückgängig mache. Wir haben es hier interessanterweise nicht mit einem bis an den jüngsten Tag währenden Sündenfall zu tun, wie dies der Prädestinationsbegriff der Formula Consensus von 1675 festlegte, sondern mit einem Sündenfall, der sich fortwährend reproduziert. Ein Sündenfall aber, der auch rückgängig gemacht werden kann. Diese Denkfigur fand, wie bereits gezeigt, auch Eingang ins Wahre Christentum. Bemerkenswert ist weiter, dass, obwohl der persönliche Wille verleugnet wird, das Individuum in der Nachfolge Jesu in seine Gefallenheit eingreifen kann: Die Besserung könne nicht ohne Gott und Menschen geschehen: »also muß auch mein fal gebessert werden/ Ich vermag sein nit on got/ vnd got soll oder will nit on mich/ wann soll es geschehen/ so muß got auch in mir vermenscht werden«.138 Denn Gott habe eine menschliche Natur, und der Mensch eine göttliche. Gott vereinigt sich mit dem Menschen und er nimmt alles an sich, das dem Menschen innerlich und äußerlich ist. Die Vereinigung mit Gott geschehe im Menschen. Diese Wiederbringung vollziehe sich in der menschlichen Passivität (ThD, 3). Der wahre vollkommene Mensch sei ohne Eigenwille, Eigenliebe und Eigentum. »Auch sol man mercken das ain/ da got vnd mensch verainet seind/ on sichselber vnd on all / vnd alles ledig steet und ist/ das ist gotes halben/ vnd nit des menschen oder der creaturn halben.«139 (ThD, 22) Der eigene Wille und die eigene Liebe im alten Menschen oder Adam sollen sterben und Christus im neuen Menschen auferstehen. Zum wahren Licht und Leben Christi gelange man nicht durch Fragen oder Lesen, man erreiche es nicht durch natürliche Kraft, Geschicklichkeit oder Vernunft. Man erreiche es durch Verzicht, durch das Verleugnen seiner selbst und der Dinge (ThD, 17). Der Seelenzustand eines »vergotteten« Menschen, in dem Gott einwohne, wird schliesslich mit Demut und geistlicher Armut beschrieben. In den abschließenden Kapiteln geht die Theologia Deutsch einer spannenden Frage nach, die eng mit dem Willen, einem Schlüsselbegriff des Traktates, in Verbindung steht: Wie kommt die Sünde in die Welt? Das Kreatürliche für sich genommen sei nicht Sünde, es stamme von Gott und sei somit gut. Einzig die Sünde sei nicht gut und Sünde sei alles, was 138 139

Theologia teutsch, Augsburg 1520, (ThD, 3) S. Aii. Ebd., (ThD, 22) S. Civ.

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wider Gott sei, alles was gegen den Willen Gottes strebe. Das sei der alte Adam, die Selbstheit und der Eigenwille. Der alte von Gott abgefallene Mensch sei sündig. Nichts stehe gegen Gott, als des Menschen eigener Wille. Nichts sei gegen Gott oder ohne Gott, »allein [das] wöllen anders dann der ewig will wil«140 sei gegen ihn. Adam und Luzifer seien durch den eigenen Willen gefallen. (ThD, 34, 42, 47.) Die durch Gott erschaffene diesseitige Welt ist demnach nicht Teil der Sünde. Sünde beginne erst dort, wo der menschliche Wille sich auf die weltlichen Güter bezieht. Der Wille des Menschen ist demnach frei und scheint außerhalb von Gott zu stehen141. Die menschliche Sündhaftigkeit kann somit erst überwunden werden, wenn der freie eigene Wille aufgegeben wird und wenn der neue Mensch sich dem Willen Gottes unterordnet. Mit dieser Erklärung, warum ein allmächtiger Gott die Sünde zulasse, ist das Grundproblem noch nicht gelöst. Das scheint auch der Verfasser des Traktates zu wissen. Er fragt daher im 48. Kapitel rhetorisch: »Nun möcht man fragen. Seyd das diser poum [Baum des Lebens?] das ist aigner will/ got vnd dem ewigen willen also wider ist/ warumb hat in dann gott geschaffen und gemacht.«142 Diese Frage zu ergründen sei Teil der Wissbegierde des alten Menschen. Aber: Wille und Erkenntnis gehören zusammen, ohne diese beiden gebe es keine vernünftigen Kreaturen. Bloß »viehische Creaturen« würden existieren und Gott hätte seine Eigenschaft nicht vollendet. Vernunft und Wille seien zusammen erschaffen worden und sollten den Menschen lehren, dass beides von Gott sei und nicht vom Menschen selbst herrühre. Und deshalb auch nicht zum Selbstnutzen und Selbstzweck des Menschen bestimmt sei. (ThD, 48.) Die Erklärung der Sünde in der Theologia Deutsch verdeutlicht immerhin, dass in diesem Traktat nicht der Impekkabilität das Wort geredet wird. Der »vergöttlichte« Mensch ist keineswegs sündlos, solange nicht einzig der in ihm einwohnende Gott durch ihn wirkt. Im weitern gilt es zu bemerken, dass gegenüber der Helvetischen Konsensformel143 ein radikaler Optikwechsel stattfindet: Nicht der Sündenfall ist die Ursache der Sünde, sondern ein egoistischer freier Wille. Die Thematik des freien Willens – dies sei vorweggenommen – zieht sich wie ein roter Faden durch die weitere Lektüre des Zürcher Pietisten Johann Heinrich Locher. 140

Ebd., (ThD, 42) S. Giv. Deutlicher zur Frage, ob der Wille des Menschen frei sei, äußert sich ThD, 50: Der Adam, die falsche Natur, nehme den Willen und mache ihn für sich eigen. Er entzieht den menschlichen Willen offenbar dem göttlichen Einf luss. 142 Theologia teutsch, Augsburg 1520, S. Hii v. 143 Zur Helvetischen Konsensformel vgl.: Wernle, Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert, S. 90 ff.; Hornig, Lehre und Bekenntnis im Protestantismus, S. 89–94 (§ 5 Grundzüge der reformierten Orthodoxie). 141

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Johann Heinrich Locher hat noch weitere mystische Autoren in seiner Bibliothek gesammelt, die durch Johann Arndt rezipiert worden waren. So beispielsweise Valentin Weigel, den ich weiter unten behandeln werde, oder Bernhard von Clairvaux (1090–1153), auf dessen Schriften die oben behandelten Autoren teilweise fußen. Locher besaß ein Büchlein von ihm, dessen Titel die Konfiskationsliste mit »Bernardus von der Seelen Innerlichem Hauß« verzeichnet.144 Diese Schrift habe ich nicht auffinden können. Die Begegnung Johann Heinrich Lochers mit den rheinischen Mystikern vermittelte ihm wichtige Elemente seines theologischen Weltbildes. Bei Tauler erlebte er eine Art kopernikanische Wende, indem der Mensch zum Zentrum des theologischen Denkens wird. Die radikale Verinnerlichung geht einher mit der Neigung zu psychologischen Betrachtungen. Bei Tauler setzt ein Ineinanderf ließen von theologischen und psychologischen Elementen ein, wie es für die weitere Lektüreauswahl Lochers charakteristisch sein wird. Das Zentrum dieses Denkens ist die Selbstwahrnehmung als Wahrnehmung der inneren, erlebten Realität des Göttlichen. Die Nachfolge Christi festigt den verinnerlichten Glauben. Selbstprüfung und Werkethik erlangen als Form der Vergewisserung dieses Glaubens eine herausragende Rolle. Und nach der Theologia Deutsch vollzieht sich die Vereinigung mit Gott – ganz im Unterschied zum tätigen Christentum Johann Arndts – in der vollkommenen menschlichen Passivität. Die Nachfolge erscheint nach der Deutschen Theologie nicht als Weg zur Wiedergeburt, sondern wer zur Nachfolge befähigt ist, manifestiert in der äußeren Welt seine innere Wiedergeburt. Die Selbstüberwindung und Selbstdisziplinierung ist somit nicht der Weg, sondern ein Zeichen, das Ziel des individuellen Heils erlangt zu haben. In der Theologia Deutsch wird schließlich das mystische Denken mit einem Denken in Antagonismen verknüpft. Der Grundgegensatz zwischen dem alten und neuen Adam wird in vielen Variationen in der von Johann Heinrich Locher bevorzugten Lektüre wiederkehren. Der Kontakt mit der mystischen Literatur war in Johann Heinrich Lochers Biographie ein einschneidendes Erlebnis. Er selbst betont in seinem Glaubensbekenntnis – wie oben zitiert – ausdrücklich, dass er dank der Lektüre der Werke der mittelalterlichen Mystiker ein neues Verständnis der Bibel gewonnen habe. Die Schrift sei nicht bloß nach dem Buchstaben, sondern vielmehr nach dem Geist auszulegen. Er nimmt somit das mystische Konzept der inneren Wahrnehmung auf. Seine Erkenntnis Gottes basiert nun offenbar auf der Anschauung, dass die Bibel nicht in ihrer äußerlichen Erscheinungsform, d. h. durch eine textgerechte Hermeneutik auszulegen sei. Seine Vorstellung von einer korrekten oder wahren 144

ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 11 und Nr. 12.

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Inter pretation geht dahin, dass der Geist Gottes – angeregt durch die Lektüre – wirken müsse, dass der Text in Analogien zu entschlüsseln sei. In einem Brief vom 21. März 1695 an den Berner Pietisten und Spitalprediger Christoph Lutz145 beantwortet Johann Heinrich Locher dessen Frage, was seine Haltung gegenüber der heiligen Schrift sei, wie folgt: Wer nun die heilige biblische Schrifft liset, anderst als wie sie durch den Finger Gottes selbsten in das Hertze geschrieben ist, der lieset Sie nicht wie sichs gebührt und wie man soll, und versündigt sich wider das dritte Gebodt, darum gehört ein großer Ernst und Sorgfeltigkeit darzu, und solle man den welcher Sie lißt oder nicht liset nicht so leichtlich oder lieblos urtheilen, sonderlich wan es ein Mensch von gutem Willen ist, der auf dem Weg der Widergeburth wandelt in seinem ineren Grunde, in welchem ineren Grunde Er auch offters die Bibel liset, wan Er schon kein aüßerlich Buch oder Schrifft vor sich hat, dan Er lieset den aüßeren Buchstaben nicht anders, als nur zu Erweckung des inneren Gesichts und Auges, durch welches Er Gotes lebendiges Wort in sich lesen und deßen Eigenschafften darvon oben andeütung geschehen, lernen kan.146

In dieser Briefpassage wird deutlich, wie sich Johann Heinrich Locher das hermeneutische Prinzip der Mystik zu Eigen machte. Besonders Taulers Vorstellung des inneren Schauens wird hier rezipiert. Ein im menschlichen Innern, im (Taulerschen) Ab-Grund Erkennen und Schauen des Göttlichen. Die Bibel ist eine äußere Anregung für die innere Erkenntnis, die praktisch unabhängig vom Außenbezug stattfinde. Voraussetzung des inneren Sehens ist das Wandeln »auf dem Weg der Widergeburth«. Erst wenn eine Vereinigung mit dem Göttlichen, eine Einwohnung erfolgt, ist das innere Erkennen, das Lesen des inneren lebendigen Wort Gottes, möglich. Dann wird seine Stimme im Menschen aktiv. Bibellesen heißt demnach für Locher nicht, die Schrift exakt nach dem Text auszulegen, wie dies beispielsweise Spinoza 1670 im Tractatus Theologico-Politicus vorexerzierte,147 sondern allegorisch. Entscheidend sei der Fingerzeig Gottes im Herzen. Worauf es Locher ankommt, ist die richtige Inspiration. Im Verhör vom Dienstag, dem 1. November 1698 durch die Examinatoren gibt Johann Heinrich Locher seine Interpretation des mystischen Programms preis. Er legt auf die Frage, ob er die Heilige Schrift für das wahre Wort Gottes halte, unumwunden sein mystisches Bibelverständnis dar. Er gibt zu Protokoll, er sei überzeugt, die Bibel sei die Offenbarung des ewigen unfehlbaren Wortes Gottes. Jesus Christus aber, welcher in 145

Zu Christoph Lutz vgl.: Dellsperger, Die Anfänge des Pietismus in Bern, S. 125 ff. u.

133. 146 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 6, S. 101 ff. Abschrifft eines Brieffs, welcher von Heinrich Locher zum Meÿen in Zürich an Herr Christoph Lutz, Spitalprediger in Bern den 21 Martz 1695 geschriben worden. 147 Spinoza, Theologisch-politischer Traktat.

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unseren Herzen wohne, wirke durch seinen Geist. Wer nun also Christus in sich habe, der könne nicht fehl gehen in der Bibelinterpretation, denn in uns rede das Wort Gottes durch ihn. Und dieses Wort sei das untrügliche Wort. Diese Auffassung der Bibelrezeption löste bei den Examinatoren keine Zustimmung aus; sie wiesen Locher zurecht und meinten, das geschriebene Wort Gottes müsse nach dem Befehl Christi ergründet und nicht mit absonderlichen geistigen »Einf ließungen und Erleuchtungen ausprobiert« werden.148 Auch in seinem Selbstbekenntnis gibt Johann Heinrich Locher ein Beispiel, wie er nach seinem Verständnis die Bibel auslegt: [Die mystischen Texte,] welche mir den verstandt der Heil: Schrifft, nicht so fort nach dem bloßen Buchstaben, sonder vornemblich nach dem Geist und Geistlich anzusehen lehrten, Wie ich dann könfftige Zeith beÿ lesung der Heiligen Biblischen Schrifft je mehr und mehr solches in der Schrifft selbs gewahrete, als einig folgende Exempel zeigen: […] Gen 12 V. 1 Sprach Godt zum Abraham dem Vadter aller Gloübigen gehe auß deinem vadterland, und von deiner fründtschafft in ein Landt das ich dir zeigen will. Hier ist wol zugewahren Act. 7. cap: Item Hebr. 11: V. 8. durch den Glouben ward Abraham gehorsamb, dann Er wartete auf eine Stadt die einen grund hat, welcher Boumeister Godt ist.149

Wie Johann Heinrich Locher dieses Zitat aus der Genesis, in welchem Abraham angewiesen wird, seine Heimat zu verlassen und eine neue Stätte des Bleibens zu suchen, interpretiert, legt er in einem mit NB. gezeichneten Einschub im Text dar. Dieses Notabene steht an einer Schlüsselposition im Text des Selbstzeugnisses, es markiert den Übergang von der Lebenserzählung hin zum zweiten Teil, welcher Lochers religiöses Programm zum Gegenstand hat. NB: Es ist in der Schrifft deüthlich gelehrt, daß Christus der grund ist, und daß

durch die Stadt verstanden werden müeße, die Erneüwerung und widergeburth oder die geburdt aus Godt: Eine Neüwe Creatur werden, was nun neüw werden muß, ist gewüßlich alt, Solches erstreckt sich auf alle Kinder Adams.150

Die Anweisung Gottes an Abraham, sein Vaterland zu verlassen, ist nach Locher eine Analogie auf einen göttlichen Auftrag, den alten Menschen, den sündigen Adam, zu verlassen und aufzubrechen zur »neuen Creatur« oder eben Jesus nachzufolgen. Urheber dieses inneren Wandels sei Gott und der Auftrag erstrecke sich auf alle Menschen. Die Geschichte vom Stammvater Israels des auserwählten Volkes wird hier in die Lehre der 148 149

ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 6, Wahrhafftige Erzellung, S. 56. ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Hein-

rich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 6 f. 150 Ebd., S. 7.

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Wiedergeburt uminterpretiert, in die Lehre von den auserwählten Kindern Gottes. Nun stellt sich die Frage, ob diese Passage des Glaubensbekenntnisses bloß einen theoretischen Einschub darstellt, oder ob hier Johann Heinrich Locher in unpersönlicher Weise von seiner eigenen Wiedergeburt spricht? Dass dieses Notabene fast am Ende der Lebensbeschreibung steht, ist doch recht eigentümlich: Schließlich war Locher in seiner Erzählung schätzungsweise erst etwa Mitte Zwanzig. Es spricht einiges dafür, dass er mit der Wiedergeburt seinen Entwicklungsweg zum Pietisten – um die Mitte der siebziger Jahre – als abgeschlossen betrachtete. Sie nimmt in seiner Selbstbiographie eine Sattelstellung ein.151 Was nachher folgt, ist in der Hauptsache noch die Begegnung mit den Texten Jakob Böhmes, die ihn in seinem Glauben und in seiner Weltanschauung bestärkten. Die Rede von der Wiedergeburt steht zudem am Ende der Schilderung seiner zweiten Glaubenskrise. Die aus der Beschäftigung mit den Mystikern f ließende Konsequenz für sein Leben ist nicht nur die Überwindung der Krise sondern auch eine Katharsis. Nur so kann die Sattelstellung des NotabeneEinschubes verstanden werden. Zudem gilt es zu bedenken, dass Locher offenbar Mühe hatte, seine inneren Vorgänge zu beschreiben. Die Parallelen zu der in Bibelzitaten geschilderten Selbstspiegelung und zur Darstellung der Wiedergeburt sind offensichtlich. Im Weiteren deutet auch der oben zitierte Ausschnitt aus dem Brief an Christoph Lutz darauf hin, dass sich Johann Heinrich Locher auf dem ›Weg der Widergeburt‹ wähnte. Mit Fug kann daher angenommen werden, dass im Kontakt mit der Mystik ein auslösendes und anleitendes Moment zur Wiedergeburt Lochers lag. In Johann Heinrich Lochers Wiedergeburtserlebnis dominieren die ref lexiven und argumentativen Elemente. Es hat den Anschein eines rationalen Prozesses. Dagegen fehlen visionäre und ekstatische Erlebnisse gänzlich.152 Solche intellektuelle Wiedergeburten waren für den Pietismus – zumindest für radikale Tendenzen – gar nicht so unüblich. Über Johann Wilhelm Petersen wissen wir beispielsweise, dass auch er eine »rationalintelektuelle« Wiedergeburt erlebte.153 151 Zur Bedeutung der Wiedergeburt im Pietismus vgl.: M. Schmidt, Speners Wiedergeburtslehre, S. 169–194. Gestützt auf die Spenersche Schrift, Wahrhafftige Erzehlung dessen, was wegen des sog. Pietismi in Deutschland vor einiger Zeit vorgegangen (1697), sieht Martin Schmidt in der Wiedergeburt die »innere Mitte« bzw. das Wesensmerkmal des Pietismus. 152 Zur Typologie der Wiedergeburt: Rosenau, Artikel Mystik III, S. 581–889, hier S. 581. Selbstverständlich gab es im Pietismus auch die gefühlsbetonte, ekstatische Wiedergeburt. Vgl. dazu beispielsweise den Wiedergeburtsbericht des Berner Pfarrers Samuel Schumacher: Reitz, Historie Der Wiedergebohrnen, III Theil, 1701, XV. Historie Samuel Schumachers/ Pfarrers zu Melchenau, S. 215–236. 153 Wesseling, Petersen, Johann Wilhelm, S. 267–273.

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Kann nachvollzogen werden, woher Johann Heinrich Locher die entwickelte Vorstellung der Wiedergeburt bezog?154 Die Wiedergeburtsidee ist bereits bei Johann Arndt angelegt. Edmund Weber bemerkt aber zu Recht, dass bei Arndt die Wiedergeburt sehr dezent behandelt wurde.155 Das Wahre Christentum misst ihr nicht die zentrale Bedeutung zu. Sie erscheint eher am Rande der Schrift und dient als Mittel zum ethischen Leben. Sie vermittelt dort kein Lebensgefühl oder Lebensziel. So ist Johann Arndt zwar in Johann Heinrich Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen aufgeführt. Seine Biographie schildert ihn als Lehrer und Vorbild auf dem Weg zu einem guten und ethischen Leben. Bezeichnenderweise aber gibt es von ihm kein Wiedergeburtserlebnis zu berichten, noch spielt der Wiedergeburtsgedanke eine Rolle in seinem Lebensbericht.156 Es scheint denn auch, dass Johann Heinrich Locher den Wiedergeburtsgedanken nicht von Arndt bezog, denn im Selbstzeugnis taucht diese Idee erst am Ende der Schilderung seines Kontaktes mit den mystischen Werken auf und wird direkt als eine Frucht der Beschäftigung mit ihnen dargestellt. Mit Recht dürfen wir daher annehmen, dass Johann Heinrich Locher erst durch die Lektüre mystischer Texte mit diesem Gedanken ernsthaft in Kontakt kam und diesen danach zu einem Lebenskonzept ausweitete. Das soll nicht heißen, dass nicht auch andere Autoren, wie beispielsweise Jakob Böhme, ihren Beitrag leisteten, aber der primäre Impuls musste ganz offensichtlich von Tauler, Thomas à Kempis und von der Deutschen Theologie ausgegangen sein. Zu fragen bleibt hier, ob Johann Heinrich Locher seine Wiedergeburt, die entschieden intellektueller Natur ist, nicht nachträglich konstruierte. Ob ihm das Erlebnis der geistlichen Erneuerung erst in der Retrospektive als logischer Abschluss und als Konsequenz seiner Beschäftigung mit den Texten der mittelalterlichen Mystik erschien? Es ist gut möglich, dass er diesen inneren Vorgang in seinem Selbstzeugnis chronologisch vorverlegte und zu einem idealtypischen Vorgang stilisierte. Entscheiden lässt sich diese Frage nicht. Wichtiger ist hier die Selbstwahrnehmung Lochers und welche Bedeutung er für sein Curriculum dieser Textsorte beimisst. – Letztlich ist ein Wiedergeburtserlebnis eine transzendentale Erfahrung, die sich einer realistischen Beschreibung verschließt. Nun stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Erfahrung einer Wiedergeburt zur Überwindung der zweiten Glaubenskrise und als Katharsis Lochers geleistet haben mag. Dass die Wiedergeburt oder die einer Wiedergeburt ähnliche intellektuelle, aus den mystischen Texten genährte Er154 Die biblische Grundlage der Wiedergeburtskonzeption bilden Joh 3.7 und 1 Kor 15.44–50. 155 E. Weber, Johann Arndts vier Bücher vom Wahren Christentum, S. 181 f. 156 Reitz, Historie Der Wiedergebohrnen, II Theil, 1701, VIII, Historie von Johann Arnd/ gewesenem General-Superintendanten zu Lünenburg, S. 89–101.

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fahrung einen entscheidenden Wendepunkt in Johann Heinrich Lochers Leben war, wurde oben dargelegt. Die Beschäftigung mit der mittelalterlichen Mystik, die in der Erneuerung gipfelte, half, die durch Arndts tätiges und ethisches Christentum verursachte Verunsicherung zu überwinden. Eine Verunsicherung, die hervorgerufen worden war durch den hohen Anspruch, das Programm des Arndtschen Christentums an der täglichen Realität und an sich selbst zu messen. Der Rückbezug auf die Grundlagentexte des Arndtschen Werkes half offenbar – um hier erneut auf Christian Braw zurückzugreifen – Arndts Anspruch umzudrehen: Die Einwohnung Gottes sowie die Erneuerung des Menschen sollen nicht mehr Mittel zu einem tätigen, der christlichen Ethik verpf lichteten Christentum sein, sondern eine ethische, christliche Praxis ist nun Ausf luss und Resultat eines inneren Prozesses der Hinwendung zu Gott: eines Existenzwandels. Steht bei Arndt die christliche Einwirkung auf die Welt, konstruiert über mystische Vorstellungen, im Vordergrund, so rückt nun bei Locher der innere seelische oder psychologische Zustand, das Gefühl der Wiedergeburt, in den Vordergrund, und die christliche Praxis ist eine nachgelagerte Aufgabe, der Einwohnung Gottes im täglichen Leben so weit als möglich gerecht zu werden. Oder anders ausgedrückt, die christliche Handlungsweise, wie sie das Wahre Christentum fordert, ist nach Auffassung der Mystiker, insbesondere nach Tauler, lediglich eine Vorstufe zur Vereinigung mit Gott. In diesem Sinne wird über Arndt hinausgegangen. Der Askese wird somit das Ziel der introvertierten Vereinigung gesetzt und nicht mehr in erster Linie jenes der extrovertierten Weltveränderung. Die rigorose Ethik des Wahren Christentums wird in der mystischen Wiedergeburt passiv in die Hände Gottes gelegt, der nun von innen heraus im Menschen wirkt: Das Ethikproblem wird delegiert. Diese enge Verschränkung der mittelalterlichen Mystik mit pietistischen Wiedergeburtsvorstellungen ist exemplarisch durch den Gründliche[n] Traktat von der wahren Gelassenheit157 dokumentiert, eine anonyme Schrift, die sich ebenfalls in Johann Heinrich Lochers Büchersammlung befand. Die Gelassenheit ist ein wichtiger Begriff in der rheinischen Mystik. Er steht am Ende des soteriologischen Weges, der in die unio mystica mündet. Der Gründliche Traktat von der wahren Gelassenheit nimmt diesen Begriff auf und legt dar, was die Gelassenheit sei, wozu sie geeignet sei und wie man sie erringen könne. Die anonyme Schrift bleibt dabei stark dem Programm Thomas à Kempis und der Theologia Teutsch verpf lichtet, und greift diese Thematik erneut auf: Die Gelassenheit sei der wahre selig machende Glaube, indem man sich Gott überlasse und sein Vertrauen auf ihn setze. 157 Gründlicher | Tractat | Von der wahren | Gelassenheit/ | Was dieselbe sey und worzu | sie nütze/ | Allen Kindern GOTTES | zu Stärckung und Wachsthum | Am | Innern Menschen, Frankfurt/M. (Heinrich Wilhelmi) 1693 [HAB Wolfenbüttel Ts 356 (3)].

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Hier wird der passiven Kontemplation das Wort geredet, wonach der Glaube, dass alles was jemandem widerfahren möge, von Gott herkomme und zu des Gläubigen Besten diene. Der rechte Glaube sei, wenn der Mensch sein eigenes Wesen, seine Vernunft, seine Macht und Weisheit dieser Welt absterben lasse und sich gänzlich Gott überlasse. Armut und Krankheit, Verfolgung, Verspottung und Verachtung durch die Ungläubigen seien nichts gegen den inneren Frieden durch Gottes Liebe. Diese Vorstellung steht in der strikten Abgrenzung zur Selbstheit. – Der Eigenwille sei die Hölle, hingegen sei der Wille Gottes der Himmel. Man dürfe nicht den Eigenwillen in sich herrschen lassen und so zu einem »Abgott«, d. h. zu einem falschen Abbild Gottes, werden. Gelassenheit wird in origineller Weise etymologisch mit ›Verlassen der Welt‹ und mit das ›Sich dem Willen Gottes überlassen‹ gedeutet: Gelassenheit sei dann das Verschmelzen des eigenen Willens mit dem Willen Gottes. Der pietistische Traktat verwendet Gelassenheit synonym mit der Wiedergeburt. Der Fokus liegt dabei auf dem Individuum und seiner persönlichen Entwicklung. Die Schrift ist ganz auf das Subjekt bezogen, die Verdorbenheit der Welt spielt hingegen kaum eine Rolle. Das tätige ethische Christentum, wie es bei Arndt im Vordergrund stand, erscheint hier bloß noch am Rand. Die Akzentverschiebung in der Rezeption der Mystik, wie sie Johann Arndt (gemäß Braw) vorgenommen hat, wurde im (radikalen) Pietismus – wenn wir Johann Heinrich Locher als pars pro toto nehmen wollen – teilweise wieder zurückgenommen. Das tritt bei Johann Gerhardts Betonung der täglich sich erneuernden Wiedergeburt besonders deutlich zu Tage. Wiedergeburt ist bei ihm wie auch bei Johann Arndt ein täglicher Kampf mit sich selbst, ein täglicher Beweis des Glaubens im ethischen Handeln. Beide legen den Akzent in der Wiedergeburtslehre weniger auf einen inneren oder seelisch-psychologischen Zustand, der erlangt werden kann! Wiedergeburt ist ein permanenter, tätiger Prozess. Bei Tauler dagegen durchläuft der Mensch einen Weg, er durchschreitet mehrere Stufen und erreicht am Ende die unio mystica als einen passiven Zustand. Er legt den Akzent mehr auf den Zustand. Das Prozesshafte ist lediglich der Weg: Die Wiedergeburt muss man erringen und man kann sie auch wieder verlieren. Der Aspekt der täglichen permanenten Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse wird weniger gewichtet. Pointiert könnte man formulieren, bei den Mystikern liegt das Gewicht auf dem inneren Himmelreich, bei Arndt auf dem inneren Bußkampf. Ins Zentrum der pietistischen Spiritualität rückt nun die Wiedergeburt. Sie wird besonders zu einem Wesensmerkmal des radikalen Pietismus, die ethische Erneuerung steht nun in Abhängigkeit zu ihr. Für Arndt war die Wiedergeburt ein alltäglicher Kampf, der sich in der Ethik ausdrückte. Für den Pietismus rückte die Wiedergeburt eher an die Stelle eines oftmals singulären Ereignisses, das den Durchbruch markierte. Im Extremfall

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konnte die Vorstellung von der Wiedergeburt in die Impekkabilitäts-Vorstellung münden. Arndt konnte den Pietisten als »Mystiker« nicht genügen. Aus diesem Grund fand im (radikalen) Pietismus oft ein Rückgriff auf die ursprünglichen mystischen Texte statt, die Arndt als Grundlage seines Wahren Christentums dienten. Auch Johann Heinrich Locher setzte sich intensiv mit der mystischen Literatur auseinander. Es macht ganz den Anschein, als wäre Johann Arndt für ihn ein intellektueller Auftakt gewesen, der ihm eine neue Lesewelt erschloss. Eine Lesewelt, mit der er sich tief auseinander setzte und die ihn letztendlich stärker prägte als das Wahre Christentum. Diese mystische Wende radikalisiert den Innenbezug, die Konzentration auf das Selbst. Der Außenbezug wird sekundär, wenn auch nicht vernachlässigbar. Wie wir noch sehen werden, wurzelt in dieser Wende nach innen das folgende, dritte Glaubensproblem. Die Mystik wird oftmals als Form des Individualismus beschrieben. Bertrand Russell erblickt beispielsweise in der mittelalterlichen Mystik Überreste eines antiken Individualismus.158 In der Forschung wird zudem der Beitrag des Pietismus (und insbesondere des radikalen Pietismus) am Prozess der Individualisierung hervorgehoben.159 Sind es die mystischen Elemente, welche die Entstehung des individuellen Selbst in der frühen Neuzeit begünstigten? Es scheint auf der Hand zu liegen, dass ein Programm, welches eine Loslösung von der kirchlich vermittelten Religiosität hin zu einer verinnerlichten fordert, welches eine Selbstspiegelung als religiöse Praxis verlangt und das der Konzeption des freien Willens verpf lichtet ist, das Individuum und seine Selbstwahrnehmung fördert. Ebenso kann aber eingewendet werden, dass die weltabgewandte Passivität, die asketisch-kontemplative Selbstaufgabe einem Prozess der Individualisierung radikal entgegensteht. Diesem Einwand kann relativierend entgegengehalten werden, dass es sich bei den Pietisten um keine Mönche handelte, die sich in ihrer Klause einschließen konnten. Johann Heinrich Locher war ein Kaufmann, der, um beruf lich erfolgreich zu sein und seine ökonomische Lebensgrundlage verdienen zu können, mit beiden Beinen im aktiven diesseitigen Leben stehen musste. Hier schließt eine weitere Frage an: Wie löst Johann Heinrich Locher den Widerspruch zwischen dem Anspruch der mittelalterlichen Mönchsmystik und seinem weltlichen Beruf? Eine Frage, die uns weiter unten beschäftigen soll. Auslöser der zweiten Krise Johann Heinrich Lochers bildete jedenfalls die erwähnte Schrift von Johann Arndt. Die mittelalterlichen mystischen Texte, Thomas von Kempen, Johannes Tauler und die Deutsche Theologie 158 159

Russell, Philosophie des Abendlandes, S. 607. van Dülmen, Die Entdeckung des Individuums, S. 51 ff.

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boten Hand zur Überwindung der zweiten Krise in Form der Wiedergeburt – als Katharsis. Hier schließt die Frage an, welche grundsätzliche Bedeutung Johann Arndt für den Pietismus am Beispiel der Biographie Johann Heinrich Lochers zukommt. Es ist evident, dass die Wiedergeburt Lochers nicht direkt durch Arndt ausgelöst wurde. Vielmehr ist die mittelalterliche rheinische Mystik hier das auslösende Element. Arndt muss eher als Vermittler der Mystik angesehen werden, als Katalysator und Wegbereiter des Pietismus. Zumindest für den radikalen Pietismus kann gesagt werden – sofern man Locher als Maßstab nimmt –, dass nicht das Wahre Christentum das zentrale Erlebnis war, sondern die Begegnung mit den Mystikern. Die Arndtsche, praktische Deutung der mystischen Texte wird zwar beibehalten, diese erlangen aber im radikalen Pietismus eine zentralere Funktion als bei Arndt. Was Johann Arndt als Grundleger pietistischer Anschauungen erscheinen lässt, ist die gemeinsame Sprache, welche der Pietismus später bei ihm entlehnte. Es darf daher mit guten Gründen gesagt werden, dass Johann Arndt eine wichtige Rolle in pietistischen Biographien einnahm – zumindest in Johann Heinrich Lochers Selbstbiographie wird die Begegnung mit seinen Texten als höhere Schickung geschildert –, eine Rolle, die ihn weit über andere Erbauungsschriftsteller hinaushebt. Ohne hier die begriff liche Differenzierung des Pietismus in ein engeres und weiteres Verständnis in Zweifel ziehen zu wollen, stellt sich die Frage, ob die Fixierung auf Arndt für die frömmigkeitsgeschichtlichen Anfänge des Pietismus gerechtfertigt ist.160 Die geistige Entwicklung Johann Heinrich Lochers lässt vermuten, dass Arndt ein einfach zugänglicher Vermittler von mystischen und paracelsischen Strömungen war; Strömungen, die durch die Orthodoxie in den »Untergrund« abgedrängt wurden.161 Es ist zumindest offensichtlich, dass Locher für seine Entwicklung zum radikalen Pietisten weitere Impulse benötigte als bloß das Wahre Christentum, auch wenn dessen Schlüsselrolle für die religiöse Entwicklung des Zürchers – neben anderen Werken – unbestritten ist. Johann Heinrich Locher fand in Johann Arndt den Schlüssel zur irenischen Überwindung seines konfessionellen Dilemmas. In der Mystik fand er anschließend den Ausweg aus dem uneinlösbaren ethischen Rigorismus eines lebendigen Glaubens. Ein weiteres Werk, auf dem Arndt seine Erbauungsschrift auf baute, half Locher ein neues, drittes Dilemma aufzulösen: Die Rede ist von Paracelsus.

160 Stoeffler, The Rise of Evangelical Pietism, S. 202 f.; Wallmann, Der Pietismus, S. 10. 161 Vgl.: Schneider, Johann Arndt und die Mystik, S. 59–90.

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2.2.3 Arndts Quellen: Paracelsus In der Arndt-Forschung wurde der beträchtliche Einf luss Paracelsus relativ spät erkannt. Sein Name wird in den vier Büchern des wahren Christentums nur an einer einzigen Stelle erwähnt. Dass er aber dem Werk als wichtige Vorlage diente, war den zeitgenössischen Arndt-Kritikern sehr wohl bekannt: Lukas Osiander d. J. attackierte den Rückgriff auf ›unreine‹ Quellen und zählte Schwenckfeld, Weigel und Paracelsus auf.162 Auch der gelehrte Vertreter der lutherischen Orthodoxie, Johann Gerhard, ein Schüler und Freund Arndts, erblickte in dessen Werk ›unangemessene‹ Wendungen, welche er auf die mangelnde theologische Bildung des Autors und auf dessen Begeisterung für paracelsische Schriften zurückführte.163 Die jüngere Forschung bewertet den tatsächlichen Einf luss Paracelsus auf Johann Arndt neu. Edmund Weber hat als einer der Ersten die Bedeutung des Hohenheimers im Arndtschen Werk nachgewiesen. Er zeigte auf, dass das vierte Buch über weite Strecken den kosmologischen Texten und dem Paramirum folgt. In seiner Textanalyse kommt er jedoch zum Schluss, der Einf luss Paracelsus habe sich lediglich auf die Naturbetrachtung beschränkt. Arndt habe darauf verzichtet, dessen Theologie ins Wahre Christentum einf ließen zu lassen.164 Dieser Auffassung widerspricht Hans Schneider in seinem Artikel »Johann Arndt als Paracelsist« entschieden.165 Er weist nach, dass der Verfasser des meistgelesenen protestantischen Erbauungsbuches nie ein theologisches Studium absolvierte, sondern sich nach dem Grundstudium der Medizin zuwandte. Den ersten Text, den wir von Johann Arndt besitzen, schrieb er als Medizinstudent in Basel an seinen Lehrer Theodor Zwinger; bereits dieser Brief weist ihn als Anhänger des Paracelsus aus. So beschäftigte sich Arndt mit den Werken des Hohenheimers und er besaß auch die Schriften weiterer bedeutender Paracelsisten seiner Zeit. Schließlich soll er sich auch als Alchemist betätigt haben.166 Entgegen der gewählten Studienrichtung wurde Arndt jedoch nicht Arzt, sondern Pfarrer. Seine medizinische Ausbildung fand allerdings Eingang in die Metaphern vom ›geistlichen Arzt‹ und in die medizinische Ausdrucksweise in religiösen Angelegenheiten.167 162 E. Weber, Johann Arndts vier Bücher vom Wahren Christentum, S. 110 ff.; Schneider, Johann Arndt als Paracelsist, S. 89–109. 163 Honecker, Gerhardt, Johann, S. 448–453. 164 E. Weber, Johann Arndts vier Bücher vom Wahren Christentum, S. 108 ff. 165 Schneider, Johann Arndt als Paracelsist, S. 89–109. 166 Geyer, »die pur lautere Essenz und helles Licht«, S. 84 f. 167 Beispiele für die Arzneimetaphorik lassen sich beliebig anfügen, einigen sind wir bereits begegnet. Es muss aber kritisch angemerkt werden, dass der Vergleich eines wieder herzustellenden Christentums mit der Aufgabe eines Arztes ein beliebtes Bild war. Es sei hier stellvertretend für viele auf die Schrift Kaspar Schwenckfelds hingewiesen, die Christian Hoburgs Hinwendung zum Spiritualismus auslöste: Von der himmlischen Arznei.

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Hans Schneider vertritt die These, dass sich der Einf luss des Paracelsus nicht einzig auf das vierte Buch Arndts, das Liber naturae, beschränkt. Der Einf luss lasse sich im ganzen Werk nachweisen. Schon im ersten Buch schimmere der Hohenheimer durch. Die These stützt sich auf die Tatsache, dass in allen vier Büchern neben den kosmologischen Schlüsselbegriffen, wie Mikro- und Makrokosmos, eben auch anthropologische und theologische Eingang fanden: Es ist die Vorstellung von der doppelten Natur des Menschen als f leischliche, viehische, alte, irdische Geburt des Adam und als neue, himmlische Geburt aus Christus sowie die Vorstellung des göttlichen Lichts, das im Menschen wirke und ihm erst in der Gotteserkenntnis und -nachfolge ermögliche, den Menschen des Sündenfalls zu überwinden. Das Thema des Heilsweges, welcher in der neuen Geburt, in der Wiederherstellung des inwendigen Gottesbildes und in einer asketischen Weltverachtung und Nachfolge bestehe, zieht sich wie bei Paracelsus auch bei Arndt durchs ganze Werk. Arndt hat aber in eklektischer Weise das paracelsische Motiv mit mittelalterlichen mystischen Autoren amalgamiert.168 Es ist zu vermuten, dass Johann Heinrich Locher durch den Arndtschen Einf luss auch zur Lektüre des Paracelsus fand. In welchem Lebensabschnitt er sich mit den Schriften des Philippus Theophrastus Bombastus von Hohenheim auseinander setzte, wissen wir jedoch nicht. In den Quellen ist auch keine explizite Erwähnung des Paracelsus zu finden, die Aufschluss über den Stellenwert des »Luthers der Medizin« bei Johann Heinrich Locher geben könnte. Indirekt darf aber auf einen hohen Stellenwert geschlossen werden, denn die Paracelsus-Edition, die sich in seiner Bibliothek befand, war prachtvoll aufgemacht. Die zweibändige Werkausgabe war in weißes Schweinsleder gebunden und mit Schließen versehen. Es muss Locher denn auch besonders geschmerzt haben, dass der Paracelsus durch die Obrigkeit behalten wurde. Er nennt diesen in seinem nach der Beschlagnahmung der Bibliothek aus dem Gedächtnis erstellten Inventar als abschließenden Höhepunkt: »Daneben wurde weiter konfisziert: Paracelsus Werke, haben mindestens R [=Reichstaler] 10 gekostet; Ein Foliant von Schwenckfeld«.169 Die Paracelsus-Ausgabe war sehr kostspielig. Die Werke von Kaspar Schwenckfeld und Paracelsus werden wohl deshalb in einem Atemzug genannt, weil beide Ausgaben ausgesprochene Raritäten waren. Johann Heinrich Locher verfügte über die bei Lazarus Zetzners Erben 1616 und 1618 in Straßburg gedruckte Ausgabe in zwei Folio-Bänden. Es handelt sich dabei um einen zweiten – laut Karl Sudhoff fehlerhaften und nachlässigen – Nachdruck der von Johannes Huser besorgten und

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Schneider, Johann Arndt als Paracelsist, S. 97 u. 99–101. ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 10.

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in Basel verlegten Werkausgabe, welche für lange Zeit die editorischen Maßstäbe setzte.170 In Johann Heinrich Lochers Selbstzeugnis finden wir zentrale Momente der paracelsischen Anthropologie und Weltsicht. Er schließt die weiter oben zitierte Passage, wo er in der Vielheit der Religionen deren Gemeinsamkeit in der Verdorbenheit der Religionsausübung bemerkt, mit folgender Bemerkung: Also fande ich die große Welth außerth und die kleine Welth in mir gantz gleich; Weil aber die Güthe und Gnad Godtes noch ein füncklin der begird zum guten überbleiben ließe, achtete ich weislich zuthun mich zum selbigen fünklin zu wenden als zum verborgenen Schatz im Acker, nach welcher zugraben die Zeith nicht übel angewandt sein könte.171

Wir stoßen hier erneut auf das Problem der Selbstspiegelung. Das Schlechte in der Welt ist auch im Menschen selbst. Die Introspektion basiert nun auf dem theoretischen Konzept einer verdoppelten Welt: Die Scheidung der Welt in eine große, das Individuum umschließende und in eine kleine, das Individuum einschließende Welt. Mensch und Umwelt stehen in direkter Entsprechung zueinander. Das Schlechte in der Welt ist somit auch zwingend im Menschen selbst. Locher rezipiert hier das paracelsische Welt- und Menschenbild, welche aufs engste mit einander verknüpft sind. Sie sind geleitet von der Vorstellung einer Entsprechung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos.172 Der Makrokosmos ist die Welt, Himmel und Erde. Das Weltganze besteht weiter aus zwei Teilen: aus einem greif baren und aus einem unsichtbaren Teil. Der greif bare Teil ist die materielle, stoff liche Welt, welche aus den Elementen aufgebaut ist. Der unsichtbare Teil ist die obere Sphäre, das Gestirn. Unter Gestirn ist nicht bloß der Sternenhimmel zu begreifen, sondern es sind vielmehr die kosmisch-astrologischen Kräfte und Wechselwirkungen mit der unteren Welt. Beide Teile oder Sphären bilden eine Einheit. Die große Welt ist in sich abgeschlossen, so dass nichts aus ihr 170 Aureoli | Philippi Theoprasti Bombastis von | Hohenheim Paracelsi/ deß Edlen/ Hoch=|gelehrten/ Führtreff lichen/ Weitberümbtesten | Philosophi vnd Medici | OPERA | Bücher und Schrifften/ so viel | deren zu Hand gebracht: und vor we=|nig Jahren mit und auß ihren glaubwürdigen | eygener Handgeschriebenen Originalien collacio=|niert/ verglichen/ verbessert: | Vnd durch | Johannem Huserum Brisgouiom | in zehn verschiedenen Theilen in Truck gegeben. | Jetzt von newem mit f leiß vbersehen/ auch mit | etlichen bißhero vnbekandten Tractaten gemehrt/ (…), 2 Bd. Strassburg 1616 [HAB Wolfenbüttel A: 29.1 Med. 2°]; Sudhoff, Bibliographia Paracelsica, Nr. 300 und 302, S. 505–508. Der Einfachheit halber stütze ich mich hier auf: Paracelsus, Sämtliche Werke. 171 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 6. 172 Vgl.: Weder, »das jenig das am subtilesten und am besten gewesen ist«, S. 3–48.

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hinaus gelangt.173 Dem Makrokosmos ist der Mikrokosmos beizustellen. Die kleine Welt besteht neben der großen und ist gleichfalls die ganze Welt. Beide unterscheiden sich bloß in ihrer Erscheinungsform: beide sind »allein ein ding und ein wesen«174. Der Mikrokosmos ist der Mensch, welcher durch seine Haut umschlossen werde. Die Haut scheidet beide Welten.175 Der irdische, materielle Körper bildet die Hülle, welche das menschliche Leben umschließt. Und das menschliche Leben ist wie die äußere Welt zweifach: Es besteht aus dem tierischen und siderischen Leib. Der tierische Leib ist der materielle Leib und besteht aus den Elementen Wasser und Erde. Sie bilden Fleisch und Blut. Der Gestirnleib dagegen bewirkt erst, dass in den stoff lichen Leib die Bewegung des Lebens kommt. Er ist ein f lüchtiger Leib und besteht aus Feuer und Luft. Er kann auch als Hauch oder Seelenleib aufgefasst werden. Beide Leiber sind sterblich und mit einander in einer Einheit verbunden, so dass schließlich der Mensch aus den vier Elementen bestehe.176 Sinngemäß zerfällt auch die kleine Welt in einen greif baren und einen unsichtbaren Bereich, welche zusammen erst das menschliche Leben ausmachen. Das Greif bare ist der materielle Leib, das Unsichtbare wiederum das Gestirn. Unter dem inneren Gestirn des Menschen sind nun geistige oder seelische Eigenschaften wie Gemüt, Weisheit und Kunst, bzw. das menschliche Vermögen zu verstehen.177 Das innere und äußere Gestirn stehen in Entsprechung zu einander: Das innere Gestirn des Menschen ist in seiner Eigenschaft, Art, Wesen und Natur in seinem Lauf, Stand und Einteilung gleich dem äußeren Gestirn und unterscheidet sich bloß in der Substanz. Beide Gestirne stehen in einer Wechselbeziehung und die kosmische Konstellation wirkt auf die menschliche Seele ein. Dem Menschen sind die Planeten eingebildet. Der Mensch sei das Abbild der äußeren Welt, d. h. des Makrokosmos. Erst wenn man dies begriffen habe, werde offenbar, was im Menschen selbst angelegt sei.178 Die Einprägung der kosmischen Konstellation in die seelischen und charakterlichen Eigenschaften des Menschen ist nicht rein deterministisch astrologisch zu verstehen. Der Himmel prägt (trukt) uns nichts ein; es ist die Hand Gottes, die uns zu seinem Ebenbild schuf. Unsere Art, Eigenschaf173 Paracelsus, Sämtliche Werke, I/9 (Die drei Bücher des Opus Paramirum, S. 37–230), S. 178 u. 193. 174 Ders., Sämtliche Werke, I/8 (Von den hinfallenden Siechtagen ( de Caducis, Epilepsie) vier Paragraphen. Erste Ausarbeitung Ostern 1530, S. 261–308), S. 280. 175 Ders., Sämtliche Werke, I/9 (Die drei Bücher des Opus Paramirum, S. 37–230), S. 178. 176 Ders., Sämtliche Werke, I/14 (Spuria: l) De Pestiliitate, S. 597–661), S. 598. 177 Ders., Sämtliche Werke, I/12 (Astronomia Magna oder die ganze Philosophia sagax der großen und der kleinen Welt, S. 1–444), S. 20. 178 Ders., Sämtliche Werke, I/8 (Das Buch Paragranum letzte Bearbeitung in vier Büchern, S. 133–224), S. 160, 164 u. 180.

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ten und Gewohnheiten habe uns Gott gegeben.179 Somit ist der Mensch nicht von den Sternen her determiniert, sondern es ist ein individuelles Wirken Gottes. »[D]ie weisheit aber des menschen ist in keiner dienstbarkeit, kein knecht hat sein freiheit nit von sich gegeben noch aus der hant gelassen, darum muß das gestirn im nachgehen und im sein und nicht dem gestirn«. Der Mensch könne noch so ein Kind der Sternzeichen sein, welche seine Geburt überschattet haben; der Mensch kann sich dem Einf luss der Planeten entziehen, er kann ihn überwinden und ein Kind der Sonne werden.180 In dieser menschlichen Freiheit besteht die Voraussetzung zum individuellen Seelenheil oder Wiedergeburt. Das Wissen um das Schlechte in der Welt hat für Johann Heinrich Locher, wie oben gezeigt, dem paracelsischen Denkmuster folgend eine Selbstanalyse zur Folge. Und die Besserung beginnt beim Individuum. Es ist die Suche nach dem göttlichen Funken im Menschen. Ein Funke, der das reinigende Licht der Gotterkenntnis entfachen sowie die Wiedergeburt und Gottähnlichkeit einleiten soll. Das Bild des Funkens als dem Menschen einwurzelnde Anlage zur Überwindung des Sündenfalls ist taulerisch, aber es ist ein Motiv, das als Lichtmetaphorik auch bei Johann Arndt und Paracelsus anzutreffen ist.181 Mit der Vorstellung des inneren Lichtes nähert sich Paracelsus deutlich den mittelalterlichen Mystikern an182 – so nahe, dass Hans Schneider vermutet, das Wahre Christentum verstecke seinen paracelsischen Einf luss hinter den Namen Taulers und Thomas à Kempis. Paracelsus folgt einer neuplatonischen Vorstellung, wonach das göttliche Licht die Quelle des menschlichen Erkennens ist: Der Mensch sei von allen tierischen Wesen verschieden, weil er mit göttlicher Weisheit und göttlicher Kunst begabt sei. »[D]an in uns ist das liecht der natur und das liecht ist got. aus dem dan folgt, das wir götliche weisheit im tötlichen [= vergänglichen] leib tragen«.183 Gott im Menschen ist somit das Erkenntnisvermögen, welches durch das Licht der Natur im Menschen wirkt. Im Menschen sei Gott, der auch im Himmel sei und alle Kräfte des Himmels wirkten sich auch im Menschen aus. Gott ist ein Gott des äußern Himmels und des menschlichen Innern: Wo anders als im Menschen sei der Himmel 179 Ders., Sämtliche Werke, I/9 (Die drei Bücher des Opus Paramirum, S. 37–230), S. 115. 180 Ders., Sämtliche Werke, I/11 (Die 9 Bücher de Natura rerum, S. 307–403), S. 378. 181 Goldammer, Lichtsymbolik in philosophischer Weltanschauung, S. 677; Schneider, Johann Arndt als Paracelsist, S. 101. 182 Berührungspunkte zwischen den Gedankengängen Paracelsus mit jenen der Mystiker und Spiritualisten hat Kurt Goldammer nachgewiesen: Goldammer, Paracelsische Eschatologie, S. 111. 183 Paracelsus, Sämtliche Werke, I/12 (Astronomia Magna oder die ganze Philosophia sagax der großen und der kleinen Welt, S. 1–444), S. 120.

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wieder zu finden? – Schön und groß, edel und gut habe Gott sich seinen Himmel im Menschen errichtet. Gott im Himmel sei auch Gott im Menschen.184 Hier nähert sich Paracelsus eindeutig der Mystik an, indem er der Mikro- und Makrokosmos-Entsprechung folgend das Vermögen zur Erkenntnis mit der Vorstellung von Gott im Menschen in eins setzt. Diese Annäherung geht so weit, dass er die »neue Geburt« als Voraussetzung für die Erkenntnis Gottes in seinem Wesen annimmt. Der Mensch sei aus Erde entstanden, deshalb habe er auch eine irdene Natur. In der »neuen geburt« nehme aber der Mensch sodann Gottesnatur an, er werde vom heiligen Geist erleuchtet um Gottes Wesen zu erkennen. Denn niemand könne Gott erkennen, der nicht selbst göttliche Natur an sich habe.185 Die Paracelsische Epistemologie erinnert stark an jene Taulers. Trotzdem bestehen beträchtliche Unterschiede: Beide setzen den Geist Gottes im Erkenntnissubjekt voraus; Tauler beschränkt sich jedoch bloß auf eine introvertiertes Erkennen, Paracelsus hingegen geht nach außen: Für ihn ist das innere göttliche Licht notwendig, um geistig in die Objekte der Natur eindringen zu können. An einer anderen an die ersten mystischen Erfahrungen anschließenden Stelle im Selbstzeugnis entwickelt Locher sein Menschenbild. Er gibt einen Gedankengang wieder, der auf Paracelsus zurückgehen könnte: Also habe und erkandte zween menschen, wie außereth mir in der großen also auch in mir in der kleinen welth: Namlich Adam und Christum, f leisch und Geist; Erkandte auch die wahrheit deßen was stehet Rom: 8. V. 1. So ist nun nichts verdammliches an denen die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem f leisch wandlend, sondern nach dem Geist. V. 5. dann die da f leischlich sind die sind f leischlich gesinnt, die aber Geistlich sind, die sind geistlich gesinnet. V. 6 aber f leischlich gesinnet sein ist der Todt, aber geistlich gesinns sein ist leben und friede.186

Der Gedankengang nimmt die paracelsische Auffassung der zweifachen Verdoppelung auf: Einerseits eine Entsprechung zwischen dem Mikrokosmos und dem Makrokosmos und anderseits eine Scheidung in eine irdische, materielle und eine geistige, himmlische Welt, die wiederum in der großen und kleinen Welt anzutreffen ist. Der Mensch ist – Paracelsus folgend – zusammengesetzt aus einem stofflichen und einem siderischen Bereich. Und beide Bereiche haben ihre Auswirkung auf den Menschen. Zum einen wirkt die Materie auf den 184

Ders., Sämtliche Werke, I/9 (Die drei Bücher des Opus Paramirum, S. 37–230), S. 219 f. 185 Ders., Sämtliche Werke, I/12 (Astronomia Magna oder die ganze Philosophia sagax der großen und der kleinen Welt, S. 1–444), S. 326. 186 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 9.

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Abbildung 7: Das Frontispiz zur Paracelsus Werkausgabe, Straßburg 1616. Die Sophia oder Sapientia nimmt als spagirische und metallurgische Alchemie die unteren beiden Ecken ein. Darüber erheben sich die beiden Vermittler der Weisheiten der Ägypter, Vergil und Hermes. Sie tragen die Geometrie und Astrologie im linken und rechten oberen Eck. Dazwischen das Portrait von Paracelsus. [HAB Wolfenbüttel A: 29.1 Med. 2°]

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Menschen ein: zu ihr gehören Unkeuschheit, Essen, Trinken und alles was das Fleisch und Blut betreffe. Zum andern wirke das »Licht der Natur« im Menschen. Es stamme vom Gestirn her und zu ihm zählen Eigenschaften wie Weisheit, Vernunft und menschliche Fertigkeiten.187 So wie die beiden menschlichen Leiber verschieden seien, so seien auch ihre Eigenschaften verschieden: Der materielle und der himmlische, bzw. siderische Leib seien zweifach in ihrem Wesen, aber sie seien wie ein Ehepaar. Erst beide Teile bilden den ganzen Menschen, dies sei zu verstehen, wie wenn zwei Menschen in einem Leib vereint wären188: »[D]ieweil nun solches so weit von einander ist, so mags on [= ohne] ein contrarium nicht sein«. Im Menschen existiert ein Widerspruch. Beide Eigenschaften des Menschen, die materiell-leibliche und die himmlisch-geistige seien einander gegensätzlich. Der stoff liche Leib will Üppigkeit und Unkeuschheit, der f lüchtige Leib dagegen will studieren, lernen und Künste treiben. So entstehe im Menschen der Gegensatz zwischen der unteren und oberen Sphäre. »der leib wil das, das unsichtbar wil ein anders, und keins ist wie das ander.« In beiden Leibern wohne ein Trieb, und keiner wolle maßhalten und die Mitte anstreben.189 Den Geist-Leib-Gegensatz dreht Paracelsus mit diesem Gedankengang ins Psychologische und verlegt ihn in den Menschen. So wie es gute und böse Menschen in der Welt gibt, so gibt es im Individuum nebeneinander eine Neigung zum Guten und eine Neigung zum Bösen. Auch bei Paracelsus lässt sich die Dualität eines geistigen, himm lischen Menschen und eines irdischen, f leischlichen Menschen antreffen. Er personifiziert den Gegensatz zwischen Fleisch und Geist wie die Teutsche Theologia und das Wahre Christentum mit Adam und Christus. Das mystische Weltbild erfährt bei Paracelsus eine Entäußerung: Seine Antagonismen werden nun auch als Anlagen der äußeren Natur aufgefasst. Die nach innen zentrierte mystische Weltanschauung wird bei Paracelsus regelrecht nach außen gekehrt. Dieser Vorgang führt dazu – wie noch zu zeigen sein wird –, dass für einen Mystiker paracelsischer Prägung zum Auftrag zur Selbsterkenntnis auch ein Auftrag zur Naturerkenntnis hinzutritt. Sollte Locher wirklich zu jenem Zeitpunkt in Venedig, als er seine Faszination für Johann Arndt vertiefte und sich mit den dem Wahren Christentum zugrundeliegenden mystischen Werken auseinander setzte, die oben zitierte Weltanschauung bereits gehegt haben, so könnte dies die Vermutung nähren, dass er sich sehr früh mit Paracelsus beschäftigte. Sein para187 Paracelsus, Sämtliche Werke, I/12 (Astronomia Magna oder die ganze Philosophia sagax der großen und der kleinen Welt, S. 1–444), S. 22. 188 Ders., Sämtliche Werke, I/9, (Entwürfe zu den vier Bücheren des Opus Paramirum, S. 231–248), S. 253. 189 Ders., Sämtliche Werke, I/12 (Astronomia Magna oder die ganze Philosophia sagax der großen und der kleinen Welt, S. 1–444), S. 62.

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celsisches Weltbild wäre dann vor der Auseinandersetzung mit den Werken Jakob Böhmes geformt und nicht durch den Philosophus Teutonicus vermittelt worden. Doch diese Annahme muss Spekulation bleiben, da wir nicht wissen, ob Johann Heinrich Locher erst in der Retrospektive seine Gedankengänge und Ideen in eine geordnete chronologische Reihenfolge brachte. Die zwei Zitate aus dem Selbstzeugnis, die stark an Paracelsus anklingen, stehen an Anfang und am Ende jener Textpassage im Selbstzeugnis, in welcher Locher seine wiedergeburtsähnliche Bekanntschaft mit der Mystik schildert. Das bei Paracelsus geborgte Welt- und Menschenbild fügt sich nicht nur nahtlos in den mystischen Bereich ein, sondern umklammert und erweitert ihn sogar. Es bildet eine zusätzliche Grundlage für die mystischen Erfahrungen, welche in einer Wiedergeburt gipfeln. Es kann davon ausgegangen werden, dass Johann Heinrich Locher erst durch eine Verknüpfung der Paracelsischen Anthropologie und Weltsicht mit der mystischen Tradition seine eher der radikalen Seite des Pietismus zuneigenden Einstellung entwickelte.190 Paracelsische Elemente, sei es nun im Original, sei es vermittelt durch Johann Arndt oder Jakob Böhme, haben offenbar eine bedeutende Rolle bei der Herausbildung pietistischer Glaubensmerkmale gespielt. Nachdem Ich nun erkanndte den eigentlichen Willen unseres Godtes, ließe Ich mich nit mehr von menschen Irr machen, sonder trachtete solche wahrheit in mir zu bevestigen, will Ich aber immerzu auch mit zimlich vilen Welt-geschäfften beladen ware, durch welche meine schwache gedechtnus, das Schon gefaßete unachtsamblich wider verlohre, bef liße ich mich meine Ruwstunden mit lesung solcher Schrifften und bücheren zu zubringen, welche mir die gemeinschafft Jesu Christi kräfftig beybringen und die H. Bibel: Schrifft uns menschen verheißene himlische Schätz und Reichthümber beßer zu lehren erkennen tüchtig sein mochten.191

Dieses Zitat leitet die Beschäftigung Johann Heinrich Lochers mit den Schriften Jakob Böhmes ein. Es kann aber der Funktion nach auch auf Paracelsus zutreffen. Johann Heinrich Locher zielt hier allerdings auf Jakob Böhme ab. Das hängt wohl damit zusammen, dass dieser für ihn einen höheren Stellenwert besitzt, weil er – wie noch gezeigt werden soll – gewissermaßen paracelsische Vorstellungen weiter ausbaut und mystische Elemente in eine systematische Verbindung mit naturmystischen 190

Zu einem ähnlichen Schluss kommt Harry Lenhammer in seiner Untersuchung über die pietistische Familie Hjärne, wenn er den grossen Einf luss paracelsisch-hermetischer Gedanken auf die Herausbildung des Pietismus in Schweden nachweist: Lenhammer, Paracelsus, Dippel und die Familie Hjärne, S. 43. 191 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 10 f.

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und kosmologischen Elementen bringt. Der Passus des Selbstzeugnisses verweist auf ein drittes, nun nicht mehr als Krise empfundenes Problem im Werdegang Johann Heinrich Lochers: die Weltgeschäfte. Die mittelalterlich-mystischen Texte haben ihn einen Rückzug ins Innere gelehrt. Taulers soteriologisches Ziel war – wie gezeigt – die reine Kontemplation. Johann Heinrich Locher lässt sich daher der Taulerschen Maxime folgend nicht mehr von anderen Menschen irritieren. Es findet eine Abgrenzung von der Welt und von den weltlich orientierten Menschen statt. Doch Locher kann sich nicht von der Welt zurückziehen. Die Texte von Tauler und Thomas à Kempis, die er begeistert las und als Offenbarung empfand, waren ursprünglich für Mönche bzw. Nonnen geschrieben worden. Doch er ist kein Mönch; er kann sich nicht in eine weltabgewandte Zelle eines Klosters zurückziehen und sich in seinem Innersten seiner Religiosität hingeben. Eine unio mystica der reinen kontemplativen und passiven Gottesschau steht diametral zu seiner Lebensrealität. Er ist Kaufmann und steht mitten in der Welt. Im weltlichen Geschäft muss er sich bei Strafe des ökonomischen Ruins bewähren. Den Gegensatz zwischen innerer Frömmigkeit und äußeren Geschäften empfand er als neues Problem, das er in erster Linie als Gedächtnisproblem wahrnahm. Er sah sich damit konfrontiert, dass seine Glaubenserkenntnisse jeweils durch praktische ökonomische Aufgaben und Herausforderungen mental konkurrenziert und verdrängt wurden, was er als eine Vereinnahmung durch die äußere Welt und als Veräußerlichung empfand. Die Ambiguität der Pietisten zwischen asketischer Weltf lucht und dem sich Behaupten in der Welt wird durch ein Gespräch Johann Heinrich Lochers mit Johann Kaspar Hardmeyer vom 26. Februar 1695 illustriert, als er mit seiner Familie im Pfarrhaus in Bonstetten weilte. Sie unterhielten sich über Antoinette Bourignon und Miguel de Molinos und kamen schließlich auch auf den aus Zürich stammenden Herrn Hirzel im Thurm zu sprechen. Dieser war nach Holland gereist und dort angeblich unter den Einf luss von Böhme-Anhängern geraten. Er habe sich mit Herrn Wenzel unweit von Leiden auf einem Landgut niedergelassen und lebe nun »von der Bepf lanzung seines Gartens«. Er führe ein gottseliges Leben und verbringe die Tage im Gebet.192 Ein ähnliches Gespräch ist in Johann Kaspar Hardmeyers Tagebuch unter dem Eintrag vom 15. Juni 1694 festgehalten. Auch diesmal drehte sich die Diskussion um Böhme-Anhänger. Der Bonstetter Pfarrer wollte wissen, was dies für Menschen seien. Viele der Anhänger würden in Amsterdam und der nahe gelegenen Landschaft leben, berichtete Locher. Er sei selbst einmal bei einem »Böhemist« in Amsterdam untergebracht gewesen, »welcher keinen anderen Geschäf192

ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 290 f., Eintrag vom 26. Februar 1695. Wahrscheinlich handelt es sich um die Nummer 58 des Pietistenkorpus.

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ten sich unterfinge als der […] Liebe und des Gebedtes«. Unweit von Rotterdam habe er zwei Böhme-Anhänger angetroffen, die zusammen mit einer Magd auf einem kleinen Landgut hausten und ihre Zeit mit Beten und dem Bebauen des »Gütleins« zubrachten, das bloß aus einem Garten mit wenigen Obstbäumen bestand, »und mit Liebesdiensten jedermäniglich zur Hand giengen«. Sie hädten ihne auch öfters darzu aufgemuntert ER [Locher] habe aber bezeuget, ihr Leben gefiehle ihm wol; aber er könne sich nicht darzu bekennen; dann Er auch noch mit der Welt zu thun hädte. Ich [Hardmeyer] sagte, Es wäre auch Godte gedienet in Mitten unter dem gewüehle der Welt, wann jeder seines Berufe Godts förchtiglich nachwandelte, [wie] Paulus Befehle ausdrüken 1 Cor VII: 20.193

Die Rezeption der Mystiker und insbesondere Böhmes konnte offenbar zu einer gemeinschaftsfeindlichen und weltf lüchtigen Lebenseinstellung führen, wie die Beispiele aus den zwei Gesprächen belegen.194 Diese Lebenshaltung war jedoch nicht die einzige Interpretationsweise der Mystik. Die abwägende Antwort Johann Heinrich Lochers auf die Aufforderung, sich dem zurückgezogenen, einsiedlerischen Landleben anzuschließen, hinterlässt den Eindruck einer großen – der Mystik immanenten – Ambivalenz zwischen dem »Gewüehle der Welt« und der Weltf lucht. Locher hatte sich aber für eine Einstellung entschieden, wonach er seinen Glauben in der Auseinandersetzung mit der Welt und nicht in der Abgeschiedenheit leben wollte. So ist auch zu verstehen, dass er sich – trotz seiner Sympathie für die reine Kontemplation – bemühte, ähnlich wie im Fall Johann Heinrich von Schönaus auch Herrn Hirzel im Thurm zur Heimkehr zu bewegen. Seine Briefe blieben aber diesmal ohne Erfolg.195 Die Texte von Paracelsus dürften genau in diesem Spannungsfeld zwischen innerer und äußerer Welt ihre Attraktivität entfaltet haben. Die Auffassung einer verdoppelten Welt, die in Entsprechung zueinander steht, dürfte diese Spannung aufgefangen haben. Was innen ist, ist auch außen; was gut und schlecht ist in der Welt, das ist auch im Menschen anzutreffen und kann im Innern überwunden werden. Dem Anschein nach ermöglicht erst ein in einander verschränktes Menschen- und Weltbild ein asketisches weltf lüchtiges Leben und erfolgreiches tätiges Bestehen in der Welt. Die paracelsische Ethik ermöglicht in zweifacher Weise eine Verbindung zwischen einer vita contemplativa und einer vita activa.196 Das paracel193

Ebd., S. 90, Eintrag vom 15. Juni 1694. C. B. Hylkema nennt diese Bewegung zusammenfassend »Reformateurs«, vgl.: van Ingen, Böhme und Böhmisten in den Niederlanden, S. 7. 195 ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 290 f., Eintrag vom 26. Februar 1695. 196 Vgl. zur Frage der Vereinbarkeit der »vita activa« und der »vita contemplativa«: Marti, Gesellschaftliches Leben und ›unio mystica‹, S. 199–209. 194

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sische Werk bildet eine Brückenfunktion zwischen einem spiritualistischen inneren Christentum und der empirischen Naturschau. In ihm ist naturwissenschaftliches und theologisches Denken verwoben.197 Ein Schlüsselbegriff in der Konstruktion der paracelsischen Ethik ist das Licht der Natur. Ein Begriff, der der mystischen Auffassung sehr nahe kommt und anderseits auch darüber hinaus weist. Die Dualität des Menschen ist auch eine Dualität der Welt, die es wie den Menschen zu erkennen gilt. Alles, was der Mensch zu sehen und zu ertasten vermag in der Welt, sei nur der halbe Kosmos. Jenseits der sensitiven Wahrnehmung gebe es jene Welt, die wir nicht sehen können. Sie bilde die andere Hälfte des Kosmos. Diese unsichtbare Welt wirke auch in der unsichtbaren Hälfte des Menschen.198 Diese Fähigkeit, die unsichtbare geistige Sphäre wahr zu nehmen, entspringe dem Licht der Natur199 im Menschen, die selbst eine Wirkung des unsichtbaren menschlichen Leibes sei. Nichts sei im Menschen, das ihm nicht aus dem Licht der Natur herrühre, was aber im Licht der Natur sei, das stehe unter der Einwirkung des Gestirns, der unsichtbaren Welthälfte.200 Wie das Licht der Sonne den Mond überstrahle, »so scheint das liecht der natur uber alle gesicht und kreft der augen«.201 Die dem Mensch eigene Erkenntniskraft des »Lichtes der Natur«, welches oben mit den sterblichen Eigenschaften Vernunft und Weisheit umschrieben wurde, übersteige das Erkenntnisvermögen der bloßen Sinnesorgane. Diese innere Erkenntniskraft scheint aber nun auch selbst intuitive Erkenntnisquelle zu sein: »dan alein im menschen, das ist das buch, darinnen alle heimlikeiten geschriben stehen, aber der ausleger dises buchs ist got«. Er sei das »Buch«, in welchem die Geheimnisse sichtbar, erkennbar, lesbar und greif bar stehen. Alles was man wissen könne, sei in diesem Buch enthalten, denn alles in diesem Buch sei durch den Fingerzeig Gottes eingeschrieben worden. Die rechte Erkenntnis liege somit 197 Bereits Lenhammer hat auf diese Brückenfunktion hingewiesen, wobei er die Vermittlung zwischen Spiritualismus und Naturerfahrung im Werk Johann Arndts angelegt sieht. M. E. rezipiert das Wahre Christentum bloß diesen Brückenschlag, der originär im Paracelsischen Werk angelegt ist. Besonders unter dem Blickwinkel des Artikels von Hans Schneider zu Arndt als Paracelsist neigt man zu diesem Schluss. Vgl.: Lenhammer, Paracelsus, Dippel und die Familie Hjärne, S. 38 f. Siehe auch: Goldammer, Paracelsische Eschatologie, S. 104 f. – Zur charakteristischen Durchdringung von Theologischem mit Naturkundlichem im Pietismus vgl.: Schrader, Salomonis Schlüssel für die »halbe Höllenbrut«. 198 Paracelsus, Sämtliche Werke, I/9, (Entwürfe zu den vier Bücheren des Opus Paramirum, S. 231–248), S. 253 f. 199 Vgl.: Goldammer, Lichtsymbolik in philosophischer Weltanschauung, S. 675 ff. 200 Paracelsus, Sämtliche Werke, I/12 (Astronomia Magna oder die ganze Philosophia sagax der großen und der kleinen Welt, S. 1–444), S. 22 f. 201 Der., Sämtliche Werke, I/9, (Entwürfe zu den vier Bücheren des Opus Paramirum, S. 231–248), S. 253.

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im Menschen selbst. Werde dieses Buch nicht korrekt gelesen, so blieben auch die anderen Bücher – d. h. die Bibel und die Natur – nur tote Buchstaben. Das menschliche Wissen sei – ähnlich der platonischen Anamnesis – im Menschen selbst durch Gott vorgeformt.202 In diesem Gedankengang des Paracelsus lässt sich erneut das hermeneutische Prinzip Johann Heinrich Lochers angelegt finden, wie er es in seinem bereits erwähnten Brief an Christoph Lutz formulierte. Dieses hermeneutische Prinzip ist nach Paracelsus zugleich ein Auftrag an den Menschen zur Erkenntnis: Der Mensch habe das Licht erst mit der Vertreibung aus dem Paradies empfangen. Erst zu diesem Zeitpunkt sei der »inner mensch«, der Mensch der zweiten Schöpfung, entstanden. Adam habe erst nach dem Fall die Erkenntnis durch einen Engel empfangen. Das Wissen liege schon in den Kindern vorgeformt, es brauche nur erweckt und aufgerufen zu werden. »dan wir sind zu schlafen nicht geboren, sonder zu wachen, zu allen seinen [= Gottes] werken bereit zu sein.«203 Der Mensch müsse im Lichte der Natur lernen, damit alles, was verborgen sei, erkannt werde.204 Ähnlich wie der ›Schatz im Seelen-Acker‹ der Mystiker ist auch das transzendentale Erkenntnisvermögen bei Paracelsus im Menschen angelegt. Das Licht der Natur unterscheidet sich von der epistemologischen Vorstellung der Mystik. Es bleibt nicht auf die innere Selbst- und Ebenbildlichkeit Gottes sowie auf das rechte Verständnis der Bibel nach dem Geist beschränkt; der Verdoppelung der Welt folgend, entfaltet das Licht der Natur auch in der objektiven, äußeren Welt seine Erkenntniskraft. Demzufolge gibt es drei Bücher – Mensch, Bibel und Natur –, in welchen sich das Wirken Gottes offenbare. Das Erkennen wird zur ethischen Aufgabe des Menschen: Gott wolle, dass dem Menschen im Lichte der Natur nichts unerkannt bleibe. Er müsse erforschen, was in der Natur verborgen liege. Gott habe seine Geheimnisse nicht sichtbar offengelegt, aber er wolle, dass sie durch den Menschen erkannt würden, deshalb habe er alles – einer Entsprechung des Innen und Außen folgend – mit äußeren Zeichen und Merkmalen versehen.205 Die Aufgabe des Menschen sei es, Gottes Schöpfung zu erforschen, die gött202 Ders., Sämtliche Werke, I/14 (Spuria: k, Liber Azoth sive de ligno et linea vitae, S. 547–596), S. 547 f. 203 Ders., Sämtliche Werke, I/9 (Die Bücher von den unsichtbaren Krankheiten, S. 249– 350), S. 256. 204 Ders., Sämtliche Werke, I/8 (Das Buch Paragranum letzte Bearbeitung in vier Büchern, S. 133–224), S. 291 f.; Paracelsus, Sämtliche Werke, I/13 (De Fundamento Scientiarum Sapientiaeque, drei Traktate, S. 287–334), S. 298 f. 205 Ders., Sämtliche Werke, I/12 (Astronomia Magna oder die ganze Philosophia sagax der großen und der kleinen Welt, S. 1–444), S. 149 u. 177. Auf dieser Vorstellung basiert beispielsweise die Physiognomik.

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liche Natur an ihren Werken zu erkennen, denn diese seien Zeichen und Zeugnisse Gottes. »[D]er ist reich, der in [= Gott] erkent aus seinen werken und glaubet aus denen in in, nicht als ein blinder in ein farben«, d. h. der nicht wie ein Farbenblinder an Gott und seiner Natur vorbei gehe. Gott verlange, dass man ihn erkenne.206 Denn erst aus dem Wissen entstehe Glauben. An die Aufgabe des Menschen, sich und die Schöpfung zu erforschen, schließt eine weitere ethische Position an: Nichts sei erschaffen worden, damit es nicht durch den Menschen erforscht werde und alles sei erschaffen worden, damit der Mensch nicht müßig gehe, sondern in seinen Werken und Taten auf dem Weg Gottes wandle und sich der Laster enthalte.207 Das Licht der Natur im Menschen als eine Äußerung des Geistes Gottes hat nicht nur epistemologische Bedeutung, sondern auch eine ethische. Der richtige Gebrauch des Lichts führe den Menschen auch auf einen tugendhaften Pfad, er lasse ihn auf den Wegen Gottes wandeln: Denn Gott habe dem Menschen die Grundstoffe wie beispielsweise das Erz gegeben, damit er tätig sich seiner Kunstfertigkeit und seines Lichtes der Natur bediene und daraus einen Pf lug anfertige. Im Arbeiten müsse sich der Mensch bewähren um nicht als Träumer und Müßiggänger zu gelten. Wo gearbeitet werde, dort seien der Teufel und seine Rotten nicht anzutreffen. Die Arbeit sei die Bestimmung des Menschen. An den Werken werde der Mensch erkannt. An den Werken werde ersichtlich, ob der Mensch auf dem Pfad Gottes wandle oder nicht, ob er erwählt oder nicht erwählt sei, ob er ein Sohn der neuen oder alten Geburt sei.208 Die introvertierte Wiedergeburtsfrömmigkeit erfährt durch Paracelsus eine äußere Konkretisierung: Die Werkethik ist das äußere Zeichen eines rechtschaffenen Lebenswandels. Wer aus innerer, göttlicher Weisheit heraus sein Leben führe als Ebenbild Gottes, der gelte als weiser Mensch. Der weise Mensch lebe dem Vorbild Gottes nach und richte sich nicht nach der Welt. Wer dem Bildnis Gottes nachlebe, der überwinde das Gestirn, d. h. dessen Schicksal unterliegt nicht irgendeiner determinierten astrologischen Konstellation. Eine Vorstellung, die dem Menschen bezüglich seines Seelenheils eine gewisse Gestaltungsfreiheit einräumt und der Prädestinations-Idee radikal widerspricht. Ja, es ist der menschlichen Freiheit dabei anheim gestellt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Im Mensch wohnen die guten und bösen Triebe, so wie im Menschen zwei sich widersprechende Menschen wohnen: Es liegt am Menschen, dem zu 206 Ders., Sämtliche Werke, I/13 (Weiteres in Konzepten und Ausarbeitungen zu den Meteoren, S. 209–286), S. 248. 207 Ders., Sämtliche Werke, I/14 (Philosophia magna, S. 1–378), S. 116. 208 Ders., Sämtliche Werke, I/12 (Astronomia Magna oder die ganze Philosophia sagax der großen und der kleinen Welt, S. 1–444), S. 241 u. 388.

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folgen, was der eine oder andere Trieb ihm rät. Bei ihm liegt die Freiheit, zu folgen wem er will.209 Aus dem ethischen Konzept des wiedergeborenen Menschen, in welchem die himmlische Weisheit herrscht, und aus der Werkethik als äußerlichem Zeichen eines Gott nachfolgenden Lebenswandels erwächst eine Religiosität jenseits aller Konfessionen.210 Die Distanznahme zur Konfessionskirche, welche sich aus einem auch zu mystischen Elementen kompatiblen Denkgebäude herleitet, stieß bei Johann Heinrich Locher eindeutig auf reges Interesse. Als neues Element kommt bei Paracelsus nun die heftige Kirchenkritik hinzu, die Rede von der »Mauerkirche« als negative Abgrenzung zur inneren Gotteserkenntnis. Die Kritik lässt sich beispielsweise an der Frage der Sakramente darstellen: »Nun aber das ich den ceremonien ein austrag mache, so wissent das sie ie nit sein sollen. dan haben wir etwas gegen [= von] got erworben, so sicht er die herzen und nit die ceremoni; hat er etwas gegeben, so wil er auch nit das wirs in ceremoniis verbrauchen sonder mit user arbeit«.211 2.2.4 Johann Valentin Andreae und die Rosenkreuzer Eine ideengeschichtliche Sonderstellung nimmt Johann Valentin Andreae (1586–1654) ein. Er kann als ein Zeitgenosse und geistig Verwandter Johann Arndts und zugleich als dessen Anhänger bezeichnet werden. Er schlug in seinem Denken eigenständige Wege ein, war aber Zeit seines Lebens ein Verehrer Arndts und ein Propagandist von dessen Hauptwerk.212 Beide verfolgten das Ziel, das Christentum moralisch zu erneuern und beide waren stark durch Paracelsus beeinf lusst. Johann Valentin Andreae scheint ein vielseitig begabter Mensch gewesen zu sein, er erlernte nicht nur mehrere Sprachen, sondern beherrschte auch das Schreiner- und Goldschmiedehandwerk. Er war ein Theologe, der auf eine rigide Kirchenzucht setzte, und ein Dichter, den Herder später hoch schätzte. Andreae war nicht nur Miterfinder des RosenkreuzerMythos, er war auch Verfasser einer Sozialutopie und eines pädagogischen Werkes. An der Tübinger Universität muss er mit einer kritischen Strömung in Berührung gekommen sein, die sich am dogmatischen Lehrbetrieb stieß. Die Kritik wendete sich gegen die lutherische Orthodoxie 209

Ebd., S. 41 f. u. 298. Ebd., S. 20. 211 Paracelsus, Sämtliche Werke, I/9, (Die Bücher von den unsichtbaren Krankheiten [1531/32], S. 249–350), S. 344. 212 Brecht, Das Auf kommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland, S. 151; ders., Der alte Johann Valentin Andreae und sein Werk, 82 f.; ders., J. V. Andreae und Herzog August zu Braunschweig-Lüneburg. 210

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und gegen die aristotelische Scholastik. Andreae, der bereits durch seine Eltern mit der Alchemie vertraut gemacht worden war, lernte unter den kritischen Geistern Tobias Heß, einen nach paracelsischem Vorbild praktizierenden Arzt und Christoph Besold, einen von der Endzeiterwartung überzeugten Juraprofessor, kennen. Diese drei gelten als die Schöpfer der Rosenkreuzer-Legende.213 Die alchemistische Reinigung der unedlen Metalle zu Gold ist bei den Rosenkreuzern mehr als profane Goldmacherei. Sie ist allegorisch und will »Weltverwandlung«214. Ziel der imaginären Rosenkreuzergesellschaft ist die Verbesserung der Welt. Angestrebt wird eine zweite Reformation, welche sich auf Ethik, Religion, Wissenschaften und Politik erstreckt. Kurz, eine Generalreformation. Gründer und Leitfigur dieser Bewegung ist Christian Rosencreutz, dessen Leben und Werk in der Fama Fraternitatis einem idealisierten Paracelsusbild nachempfunden wurde und der als weltabgewandter tugendhafter Sucher und weltzugewandter Forscher geschildert wird. Er war ein adliger, aber verarmter Klosterzögling, der Lateinisch und Griechisch erlernte und auszog zu einer Pilgerreise an das Grab Christi. In der arabischen Welt wurde er ins Buch der Welt (Liber Mundi) eingeweiht. Er eignete sich Kenntnisse in Physik, Mathematik und Alchemie an und vertiefte sich in der Kabbala. Diese neu erworbenen Kenntnisse stellten seinen Glauben auf eine neue Grundlage: Die ganze Welt stand für ihn nun in einer harmonischen Beziehung. Daraus schloss Rosencreutz, dass wie in einem Baumsamen bereits der ganze Baum enthalten, so auch im Menschen die ganze Welt angelegt sei: Des Menschen »Religion, Policey, Gesundheit, Glieder, Natur, Spraache, Worte und Wercke, aller in gleichem tono und Melodey mit Gott, Himmel und Erden ginge, was darwider des were irrung, verfälschung und vom Teuffel, welcher allein das erste mittel und die letzte Ursach der Weltlichen Dissonantz, Blindheit und Dumbensucht [sei].« Wer aber sich selbst untersuche, der erkenne, dass das Gute und Wahre in ihm selbst angelegt, aber mit Irrtümern verunreinigt sei. Die rosenkreuzersche Utopie strebt nach einer Harmonie zwischen dem Subjekt und dem Objekt. Die inwendige Gleichförmigkeit mit Gott wird zu einer extrovertierten Mystik: Sie sucht ihre harmonische Entsprechung in einer gottförmigen, gottgefälligen Welt. Die Disharmonie oder Abweichung vom harmonischen Ideal ist deshalb eine zu reformierende Abweichung, deren Ursache im Un-Christlichen oder beim Teufel zu suchen ist. Das harmonische Weltbild und die Forderung nach der Generalreformation stehen in einem engen Verhältnis. Überzeugt von der unchristlichen Disharmonie und den Missständen in der Welt gründete Christian Rosencreutz eine Sozietät mit der Absicht, 213 214

Gilly, Die Rosenkreuzer als europäisches Phänomen, S. 38. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2, S. 740.

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die Mängel in der Kirche und im täglichen Leben zu verbessern. Die Idee der Generalreformation wird getragen von der chiliastischen Vorstellung vom Ende der Zeit, in welcher Gott sich den Menschen zu offenbaren beginnen werde. Für Andreae ist die Zeit angebrochen, in welcher »das helle offenbahre Liecht« Gottes die menschliche Erkenntnis in Religion und Naturwissenschaft zu vermehren beginne, so dass die alten »Leyren« wie Papst, Galenus und Aristoteles überwunden werden können. 215 Und die Confessio Fraternitatis formuliert das Ziel der Rosenkreutzer im Aufwecken der Welt, die nunmehr ihren »Feyerabend« erreicht habe. Der erste Schritt besteht im Niederreißen des alten irrigen aristotelischen Weltgebäudes.216 Im Rosenkreuzer-Mythos kristallisierte sich somit die Ablehnung eines orthodoxen, aristotelischen Lehrgebäudes. Diese äußerte sich in der Hoffnung auf eine neue reformierend und weltverändernd wirkende Geisteshaltung, die in Paracelsus einen Vordenker hatte. Wir dürfen annehmen, dass Johann Heinrich Locher die beiden Rosenkreuzerschriften, die den Mythos begründeten und sich eng an das zeitgenössische Paracelsusbild anschlossen, zumindest ansatzweise kannte. Denn zwei weitere Rosenkreuzer-Schriften fanden die Examinatoren im Bücherschrank Johann Heinrich Lochers. Das eine Werk ist die anonym erschienene, umfangreiche Rosenkreuzer Programmschrift Chymische Hochzeit: Christiani Rosencreutz. Anno 1459 217, zu der sich der Württemberger Pastor später in seiner Autobiographie als Verfasser bekannte. Die andere Schrift ist in der Konfiskationsliste als »von RosenCreützern 1620« 218 verzeichnet und konnte nicht identifiziert werden. Es ist gut möglich, dass es sich bei dem zweiten Werk um eine der vielen Schriften handelt, die auf die Chymische Hochzeit folgten, und nicht Valentin Andreae selbst zum Urheber haben. Beide Bände wurden als schädlich klassiert und von der Obrigkeit eingezogen. Die Chymische Hochzeit ist ein Roman, welcher von der Wiedergeburt des Menschen handelt; einer Wiedergeburt, die auf einer eigentümlichen 215 Andreae, Fama Fraternitatis, Oder Brüderschafft des Hochlöblichen Ordens des R. C., An die Häupter, Stände und Gelehrten Europae, Kassel 1614. Nachdruck: Joh. Valentin Andreae, Fama Fraternitatis, Confessio Fraternitatis, Chymische Hochzeit: Christiani Rosenkreutz. Anno 1459, Eingeleitet und herausgegeben von Richard van Dülmen, S. 91–99. 216 Ders., Confessio Fraternitatis, Oder Bekantnuß der löblichen Bruderschafft deß hochgeehrten Rosen Creutzes an die Gelehrten Europae geschrieben, 1615. Nachdruck: Joh. Valentin Andreae, Fama Fraternitatis, Confessio Fraternitatis, Chymische Hochzeit: Christiani Rosenkreutz. Anno 1459, Eingeleitet und herausgegeben von Richard van Dülmen, S. 54 u. 60. 217 Ders., Chymische Hochzeit: Christian Rosencreutz. Anno 1459. Straßburg 1616. Nachdruck: Joh. Valentin Andreae, Fama Fraternitatis, Confessio Fraternitatis, Chymische Hochzeit: Christiani Rosenkreutz. Anno 1459, Eingeleitet und herausgegeben von Richard van Dülmen. 218 ZB Zürich Ms. S. 276, Nr. 12.

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Verschränkung alchemistischer und moralischer Reinigung und Veredelung des Menschen beruht. Die Erzählung greift in paracelsischer Manier die bildliche Entsprechung zwischen dem menschlichen Innern und der äußeren Natur auf, indem die Wiedergeburt im Geiste einer alchemistischen Transmutation gleichgesetzt wird. In beiden Prozessen ist die verborgene innere Qualität des Menschlichen bzw. des natürlichen Feuers die reinigende und wandelnde Kraft.219 Wir begegnen hier erneut der bei Paracelsus angetroffenen Verknüpfung von naturwissenschaftlichen mit mystisch-spiritualistischen Vorstellungen. Die Erzählung der ersten drei Tage des Rosenkreuzer-Romans gleicht in der Art und Funktion dem späteren Pilgrim’s Progress, bzw. Eines Christen Reise John Bunyans. Auch hier muss der Held, Christian Rosenkreuz, den richtigen Weg zur chymischen Hochzeit, an welche er eingeladen wurde, finden. Und er muss etliche Prüfungen und Gefahren überstehen, die ihm in symbolhaften Figuren begegnen. Als neues Element auf diesem allegorischen Weg, der zur Teilhabe an der Wiedergeburt oder chymischen Hochzeit führen soll, kommt zur asketischen Lebenseinstellung die Erkenntnis der Natur, oder genauer: des den Sinnesorganen verborgenen Wesens der Natur, hinzu. Christian Rosencreutz wird, kurz nachdem er die Einladung zur Hochzeit durch eine engelhafte Erscheinung erhalten hat, von ernsthaften Zweifeln geplagt, ob er überhaupt ein würdiger Gast sei. Dem Programm der Selbstspiegelung verpf lichtet, bemerkt er: »so befand ich auch bey mir […], das in meinem Kopff nichts dann grosser unverstandt und blindheit in geheymen sachen were, auch daß nit verstehen kundt, das mir unter den Füssen gelegen, und mit dem ich täglich umbgangen, viel weniger daß ich solte zu erforschung und erkandnuß der Natur Secreten gebohren sein.« Und sein Lebenswandel sei gleichsam f leischlich und »auch nit recht gereiniget und geseübert«.220 Als Gegenbeispiel zu diesem Ideal, dem sich Christian Rosencreutz nicht gewachsen glaubt, beschreibt Andreae die Tischgesellschaft der Hochzeitsgäste im Schloss, wo »leichtfertige Leut« in spöttischer und verächtlicher Manier sich in unredlichen Wissenschaften üben. Ein Tischgenosse behaupte beispielsweise, die Atome des Demokrit zu zählen und ein anderer gibt vor, die Ideen des Platon zu sehen.221 Die negative Abgrenzung verdeutlicht nochmals, worum es Andreae in seinem erkenntnistheoretischen Programm geht: Wahre Erkenntnis der Natur ist nicht die quantitative Wissenschaft, die sich auf das Sichtbare und Zählbare stützt. Wissenschaft ist für ihn das Erkennen der den Sinnen verborgenen Qualitäten in der Natur. Qualitäten, die letzt219 Edighoffer, L’énigme paracelsienne dans les noces chimiques de Christian Rosenkreuz, S. 244 u. 259 f. 220 Andreae, Chymische Hochzeit: Christian Rosencreutz. Anno 1459, S. 6. 221 Ebd., S. 28 f.

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endlich ein Ausdruck des Wirkens Gottes sind. Nur dank der geistgeleiteten Erkenntnis von Gott und der Natur gelingt es Christian Rosencreutz in seinem prüfungsreichen Abenteuer, als einziger Hochzeitsgast nicht hinters Licht geführt zu werden und keiner Täuschung zu erliegen: Er allein kann am Prozess der chemischen Hochzeit teilhaben, einem Prozess, bei dem christliches Leben und chemische Verwandlung spiegelbildlich verwendet werden. Wir begegnen in den rosenkreuzerischen Lebensmaximen explizit einer Kombination aus kontemplativer Wiedergeburtslehre mit der aktiven Naturerkenntnis, welche als neues ethisches Programm neben der mystischen Forderung nach Askese die paracelsische ›Empirie‹ 222 aufgreift. Die Lebensmaximen, die Johann Valentin Andreae für seine fiktive Bruderschaft entwirft, verbindet eine vita activa mit einer vita contemplativa. Die Forderung nach der richtigen Erkenntnis Gottes im (Mikrokosmos) Mensch wird in der Andreaeschen Ethik in der Welt (im Makrokosmos) verdoppelt: Es wird zusätzlich die richtige Erkenntnis der Natur gefordert. Die Verknüpfung der beiden ethischen Forderungen besteht darin, dass nur ein wahrhaft Gläubiger, der den Geist Gottes besitzt, zur Naturerkenntnis befähigt ist. Deutlich tritt diese Verknüpfung zwischen der mystischen Nachfolge und der »empirischen« Naturerkenntnis in den ersten Sätzen zur Fama Fraternitatis von Johann Valentin Andreae zutage: »Nachdem der allein weyse und gnädige Gott in den letzten Tagen sein Gnad und Güte so reichlich über das menschliche Geschlecht außgegossen, daß sich die Erkanntnuß beydes seines Sohnes und der Natur, je mehr und mehr erweitert […]« 223. Es handelt sich hier zwar um ein Zitat aus einer Schrift, von der wir nicht wissen, ob sie Johann Heinrich Locher kannte; Sinn und Geist dieses Zitates bilden jedoch auch in der Chymischen Hochzeit den roten Faden, auch wenn dort das chiliastische Moment224 fehlt. Die Vorstellung vom Ineinandergreifen der Natur- und Gotteserkenntnis, welche letztendlich von Gott selbst ausgeht, bildet die Grundlage des Rosenkreuzer-Mythos, den die Jugendschriften Andreaes konstruierten. Im Rosenkreuzer-Mythos fand Locher weitere weltanschauliche Denkformen, die ihm erlaubten eine vita contemplativa mit einer vita activa zu verknüpfen.

222

Der Begriff »paracelsische Empirie« steht nicht im Widerspruch zu einer qualitativen Wissenschaftskonzeption, wenn man bedenkt, dass nach Paracelsus Auffassung sichtbare Zeichen (Signaturen) auf die verborgenen Qualitäten und das Wirken Gottes in der Natur verweisen. 223 Andreae, Fama Fraternitatis, S. 91 f. 224 Zur Bedeutung Tobias Hess’ und Christoph Besolds für die Entwicklung des chiliastischen Denkens: Brecht, Chiliasmus in Württemberg im 17. Jahrhundert, S. 25–49.

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2.2.5 Valentin Weigel Auf der paracelsischen Religionsauffassung baute Valentin Weigel (1533– 1588)225 sein spiritualistisches Werk auf. Weigelianismus, mit diesem polemischen Begriff belegte die protestantische Orthodoxie ganz allgemein spiritualistische Abweichungen. Auch Johann Arndt wurde Weigelianismus vorgeworfen. Der Vorwurf war nicht ganz aus der Luft gegriffen: Das Wahre Christentum baut streckenweise auf Valentin Weigels Gebetbüchlein auf, wie Edmund Weber nachwies.226 Auch Johann Heinrich Locher hat auf Valentin Weigel zurückgegriffen und sich ebenfalls mit diesem im Wahren Christentum rezipierten Autor auseinandergesetzt. So fanden die Examinatoren anlässlich der Bibliotheksbeschlagnahmung das Gebetbüchlein sowie zwei weitere Schriften vor, deren Titel sie aber nicht weiter erwähnten.227 Welche Stellung nahm Weigel in der Rezeption Johann Heinrich Lochers ein? Leider tappen wir bei der Beantwortung dieser Frage im Dunkeln. Allein aber die Tatsache, dass Locher sich intensiv und geradezu systematisch mit Schriften aus dem Umfeld von Paracelsus und Arndt auseinandersetzte, lässt auf eine große Akzeptanz dieser Literatur schließen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit erweiterte und vertiefte Locher seine mystische Erkenntnis durch die Lektüre solcher Schriften. Weigels Gebetbüchlein 228 handelt – einmal mehr – von der Wiedergeburt. Es fußt dabei auf Tauler, Thomas von Kempen und auf der Theologia Deutsch. Besonders aus letzteren entlehnt er für seine Wiedergeburtslehre das Gegensatzpaar Adam und Christus, welche beide als Prädispositionen im Menschen angelegt seien. Er erweitert die mystische Anthropologie und will den Nachweis erbringen, dass sich Adam und Christus als charakterliche Anlagen im Menschen und nicht außerhalb von diesem befinden. Alle würden diesen Schatz, das Reich Gottes, in ihrem irdischen Gefäß (d h. dem Körper) tragen. Man müsse auf die innere Offenbarung warten. Der Mensch sei verpf lichtet, Christus in sich selbst zu suchen und Adam absterben zu lassen. Die Wahrheit werde man in sich selbst finden.229 Die225

Zu Weigel vgl. u. a.: Wollgast, Philosophie in Deutschland 1550–1650, Kap. 9; Pfefferl, Die Überlieferung der Schriften Valentin Weigels. 226 E. Weber, Johann Arndts vier Bücher vom Wahren Christentum, S. 71 f. 227 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 11. 228 Weigel, Ein schön Gebetbüchlein | Welches die | Einfeltigen vnter |richtet. | Erst= lich/ Wie das Hertz | durch gründliche Vorbetrach=|tung zum jnnigen Gebet erwecket vnd | bereitet werde. | Zum Andern/ Wie Adam vnd | CH ristus beyde in vns/ seyn vnd | nicht ausser vns/ dahin die gantze | H. Schrifft sihet. | Zum dritten/ Warumb das Ge=|bet von Ch risto befohlen/ so doch Gott | vns weit zuvor kömpt mit seinen Gü=|tern/ ehe wir beten. | Durch | Walentinvm Weigelivm. | Gedruckt zu der Newen Stadt 1618 [ZB Zürich E 351]. 229 Ebd., S. Aiii v-Av r.

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ser Gedankengang Weigels ist eine bedeutende Erweiterung und Vertiefung der mystischen Heilslehre und eine bemerkenswerte Annäherung an pantheistische Auffassungen. Gott wird nun direkt in den Menschen gelegt. Es ist nicht mehr ein Abbild Gottes, welches nach Tauler im Grund des Gemüts aufgerichtet werden soll. Nun ist das menschliche Gemüt selbst Himmel oder Hölle, je nach dem, wie sich der menschliche Wille und Geist auf Gott beziehen. Weigel vollendet die Verschmelzung der Paracelsischen »Psychologie« des Dualismus eines irdischen und himmlischen Leibes mit der mystischen Tradition. Er begreift Gott kosmologisch, als ein weltumgreifendes Ganzes. Gott ist sowohl in der Welt wie auch in den Menschen. Wiedergeburt und Auferstehung werden somit verschränkt als eine individuelle, gegenwärtige sowie endzeitliche Eschatologie. Wenn nun aber Gott mit seinem Wesen in allen Menschen ist, so heißt dies noch nicht automatisch, dass alle mit ihrem Willen in Gott sind230: Deshalb muss nach Weigel ein wahrer Christ den schmalen Weg in Christo einschlagen, und er solle nicht den breiten Weg in Adam gehen. Dazu müsse das menschliche Gemüt aus dem Schlaf aufgeweckt und zum innigen Gebet im Geiste und in der Wahrheit erweckt werden. Der Mensch solle im Gebet in sich kehren und selbst zuhören, was Gott in ihm rede und lehre: Das wahre Gebet finde im Geist und in der Wahrheit statt.231 – Ein Motiv, das dann Johann Arndt im Paradiß=Gärtlein aufgriff. Benrath beurteilt Weigels Mystik folgendermaßen: »In einer Ausschließlichkeit, wie sie in der mittelalterlichem Mystik noch nicht erreicht war, wurde hier Gott und die Seele zum wirklich einzigen Thema.«232 Das mystische Programm wird bei Weigel entschieden in Richtung Spiritualismus ausgebaut. Die starke Präsenz spiritualistischer Literatur in Johann Heinrich Lochers Bibliothek lässt wenig Raum für einen Zweifel daran, dass der Zürcher diese Erweiterung gedanklich nicht nachvollzogen hätte. Die Vorstellung, dass Gott in allen Menschen sei, hat eine weitere logische Konsequenz: Die Gleichheit der Menschen. Für Valentin Weigel ist Gott unparteiisch und nicht die Ursache der Ungleichheit. Dass Gott ungleich aufgenommen werde, sei einzig die Schuld der Menschen. Gott privilegiere niemanden, er sei »kein Anseher der Person«.233

230 231 232 233

Vgl.: Benrath, Die Lehre außerhalb der Konfessionskirchen, S. 595. Weigel, Ein schön Gebetbüchlein, S. Aiii, Av r. Benrath, Die Lehre außerhalb der Konfessionskirchen, S. 596. Weigel, Ein schön Gebetbüchlein, S. Aiii, Miiii r ff.

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2.2.6 Die radikalen oder »linken« Arndtianer Unter den deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts bilden die Anhänger und Schüler Johann Arndts hinsichtlich ihrer gemeinsamen geistigen Wurzeln, ihres gemeinsamen Kontaktnetzes und ihrer Wirkung eine eigenständige Gruppe. In Anlehnung an die politische Terminologie des 19. und 20. Jahrhunderts werden Joachim Betke, Christian Hoburg, Friedrich Breckling und weitere Exponenten wahlweise als ›linker Flügel der Arndtschule‹ oder als ›radikale Arndtianer‹ bezeichnet.234 Diese spiritualistischen Strömung, die auf Johann Arndts Werk fußte und sich bei weiteren wesensverwandten, älteren Autoren wie Schwenckfeld oder Böhme bediente, sammelte Johann Heinrich Locher in unterschiedlicher Intensität. Er besaß Werke der bedeutenden Vertreter dieser Schule, wobei Christian Hoburg aufgrund der Zahl, der von ihm vorhandenen Bücher, Lochers besonderes Interesse geweckt haben muss. 2.2.6.1 Joachim Betke Joachim Betke (1601–1663)235 lebte im Unterschied zu seinen Glaubensgenossen ein gleichförmiges Leben. Er wurde in Berlin geboren, studierte Theologie in Wittenberg und verwaltete über dreißig Jahre lang bis zu seinem Tod die Pfarrei in Linum. Sein Pfarrhaus wurde zeitweilig zum Unterschlupf rastloser Geister wie Breckling und Hoburg. Noch eine weitere für den Pietismus wichtige Person fand in Betkes Pfarrhaus ein neues Zuhause: Sein Adoptivsohn Hendrick Beets, der nachmalige unter dem Pseudonym Heinrich Betke wirkende Amsterdamer Verleger von Böhmes Schriften.236 Von Joachim Betke besaß Johann Heinrich Locher mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Drey Geistreiche Tractätlein 237. Das Konfiskationsregister verzeichnet bloß: »Joachim Betki Tractaten«. Es ist aber anzunehmen, dass damit nicht der Typus der Schrift sondern der Titel dieses Sam234

Brecht, Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts, S. 221–237; Wallmann, Der Pietismus, S. 21 ff. 235 Gröschel-Willberg, Christian Hoburg und Joachim Betke, S. 13 f.; Bornemann, Der mystische Spiritualist Joachim Betke. 236 Heijting, Hendrick Beets, S. 250–280. 237 Betke, Drey | Geist reiche | Tractätlein/ | I. Misterium Crucis | Crux | Angusta = porta est & stricta via, qvae | adducit ad viam: | Hoc est: | Schrifftliche Eröffnung der Ge=|heimnissen und Krafft des | Kreutzes Christi/ | Nebenst Beweisung /daß dasselbe Creutz | die enge Pforte und schmaler Weg sey/ | der zum Leben führet. || II. | Mensio Christianis-|mi & Ministerii Germaniae || III. | Speculum Fidei | Alles aufs f leißisgste nach dem alten Exempla=|ren durchgesehen/ und aufs neue in Druck | befördert, Amsterdam (Heinrich Betke) 1694 [HAB Wolfenbüttel M: Ts 356 (2)].

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melbandes aufgenommen wurde. Für diese Annahme spricht auch, dass es sich um eine Neuauf lage handelt, die für Locher somit erreichbar war. Das Leitthema der Drey Geistreiche[n] Tractätlein ist die Kreuznachfolge. Die Schriften orientieren sich an manchen Stellen deutlich an Thomas von Kempens Programm. Doch Betke kopierte nicht bloß den rheinischen Mystiker, er erweiterte die Lehre von der Nachfolge mit eigenständigen Bildern und Vorstellungen. Bei ihm ist beispielsweise das Bild des schmalen Weges und der engen Pforte, die zur Seeligkeit führen, anzutreffen, welches auf Mt 7.13 zurückgeht und bereits bei Weigel angedeutet wird. Ein Weg, der nicht in den weltlichen Genuss führt: »Dieser Weg zum ewigen Leben ist schmal thöricht/ närrisch/ und für der Welt verächtlich und ärgerlich/ darum find ihr wenig/ die ihn finden und seelig werden.« 238 Diese Vorstellung vom schmalen Weg zum Heil, den die Auserwählten einschlagen und vom breiten Weg, den die große Mehrheit wählt, wird später im Pietismus zu einem charakteristischen Element, welche auch bildlich als einprägsames Mahnmal dargestellt wird.239 Joachim Betke interpretiert nun die Bibel so, dass die Nachfolge Christi und die Wiedergeburt zur zentralen Aussage der Schrift werden. Er geht von der verbreiteten Annahme aus, wonach das alte und neue Testament in Entsprechung zu einander stehen: Der Weg des Volkes Israel war der Weg des Streites um die Eroberung Kanaans. Die Israeliten reinigten das Land von den alten, dem Weltlichen verhafteten Menschen. Die Geschichte Israels symbolisiert den neuen wiedergeborenen Menschen.240 Betke baut hier eine Analogie auf zwischen dem Bund Gottes mit Israel im Alten Testament und dem Bund Gottes des Neuen Testamentes mit den auserwählten, wiedergeborenen Christen. Demnach wurde Kanaan zum Land und zur Wohnung Gottes. Kanaan steht als äußerliches Zeichen für die Einwohnung Gottes, die nur durch die Hilfe Gottes allein errichtet werden könne. Der Mensch selbst sei nicht in der Lage, die ›unreinen Geister‹ aus sich zu verjagen. Der Kampf der Israeliten gegen die Abgötterei und gegen die heidnischen Völker wird mit dem inneren Kampf gegen die Fleischeslust und Sünde gleichgesetzt.241 Pessimistisch stellt aber Betke fest, es seien wenige, die diesen Weg des Bußkampfes in »unserem Römischen oder heydnisch Jüdischen Christentumb« betreten. Tyrannei, Raub, Blutvergießen und Brennen, das sei die Liebe der vermeintlichen Christen. Wie die Fürsten der Finsternis in Kanaan müssten die Christen den Teufel in sich ausrotten. So wie Israel unter den Zorn Gottes geraten sei, weil es mit den Heiden zusammen lebte, so gerieten die Christen, wenn sie nach 238 239 240 241

Ebd., Der II. Theil, S. 68. Scharfe, Die Religion des Volkes, S. 84–87. Betke, Drey Geist=reiche Tractätlein, Der I. Theil, S. 9 ff. Betke, Drey Geist=reiche Tractätlein, Der I. Theil, S. 12–19.

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weltlichen Lüsten trachteten und nach der Weise des Alten Menschen lebten, unter den Zorn Gottes.242 Die Nachfolge Christi, der »Creutz=Weg«, ist nach Betke bereits im alten Testament sinnbildlich angelegt: Gott befahl Abraham sein Land zu verlassen und es begannen 400 Jahre der Mühsal und Qualen, der Armut und des Elends, bis sein Volk schließlich im schönen Kanaan ankam. Gott wollte sein Volk prüfen, was in dessen Herzen gewesen sei. Dies sei unser Vorbild, denn Gott habe uns ein himmlisches Kanaan gegeben: das himmlische Jerusalem, das gelobte Land der Seligkeit. Wer aber die Seligkeit erlangen wolle, der müsse Christus nachfolgen.243 Die Vorstellung, dass die Geschichte Israels ein äußerliches Abbild des soteriologischen Weges sei, fand bei Johann Heinrich Locher Anklang. Er schildert beispielsweise seine Wiedergeburt, wie bereits gezeigt, mit der wohl bei Betke entlehnten Analogie des Auszuges Abrahams und wie dieser durch Gott in ein neues Land geführt wurde. Noch um einen weiteren Begriff erweitert Betke die mystisch-spiritualistische Gedankenwelt: Es ist von der »Krafft des Creutzes Christi« die Rede. »Das Creutz Christi/ hat grosse geheime und verborgene Krafft/ Stärcke/ Trost/ Freude/ Leben und Segen/ und niemand befindet dieselbe in sich/ als welcher Gemeinschaft mit Christus Leben und Creutz hat.« 244 Diese Kraft sei das Mysterio des Kreuzes. Sie befinde sich bei demjenigen, dem Christus einwohne. Mit dem Kraft-Begriff 245 führt Betke ein Element in die Lehre der Nachfolge ein, das neben dem bloß passiven Martyrium die aktive Seite betont: – eine Kraft, um die Dualität zwischen Innerlichkeit und alltäglichem Leben bestehen zu können. 2.2.6.2 Friedrich Breckling Friedrich Breckling (1629–1711)246 gilt als Vertreter des Vor- bzw. Frühpietismus. Er entstammte einer alteingesessenen Pastorenfamilie des Herzogtums Schleswig. Während zehn Jahren studierte er an fast eben so vielen Universitäten Theologie. In Gießen führte ihn sein Lehrer in die hermetischen und paracelsischen Schriften ein, und er entwickelte sich unter dem Einf luss der Lektüre Jakob Böhmes zum Theosophen. In Amsterdam begegnete er u. a. Christian Hoburg, Friedrich Gifftheil und Petrus Serrarius und in Hamburg bewegte er sich in spiritualistischen Kreisen, wo ein 242

Ebd., Der I. Theil, S. 20 ff. u. S. 34. Ebd., Der I. Theil, S. 38–42. 244 Ebd., Der III. Theil, S. 93. 245 Der Kraftbegriff wird dann auch bei Christian Hoburgs mystischer Theologie zu einem eigentümlichen Bestandteil. 246 Bruckner, Breckling, Friedrich, S. 33–38; Klosterberg, Libri Brecklingici. Bücher aus dem Besitz Friedrich Brecklings, S. 871–881. 243

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Apothekergehilfe ihn mit den Schriften Joachim Betke bekannt machte. Und Breckling widmete sich dem Studium mystischer Schriften. Von seinem ersten Amt wurde er binnen Jahresfrist bereis enthoben: er geißelte den Krieg mit Schweden in Anlehnung an Betke als Strafe für die Unredlichkeit der Pastoren. In ihnen sah er die Verursacher aller Sünden. Breckling musste nach Amsterdam f lüchten; dort verdiente er als Korrektor seinen Lebensunterhalt und war als Nachlassverwalter Joachim Betkes tätig. Er gilt als aktiver Vermittler mystisch-spiritualistischen Gedankenguts an den Frühpietismus. Von den über 50 Traktaten aus der Feder Friedrich Brecklings besaß Johann Heinrich Locher lediglich einen, die Biblia Paupera 247, ein Pamphlet, welches zu den bedeutenderen Schriften Brecklings zählt. Sie ist ein erstrangiges Dokument seiner Kirchen- und Sozialkritik. Allein schon der Untertitel, »Zur Vorsorge/ Trost und Schutz der Armen/ zum Schrecken aber und Zeugniß den Reichen […]« zeigt die Radikalität der Anklage: Die obrigkeitlichen Examinatoren stuften denn auch diese Schrift im Besitz Lochers als höchst bedenklich ein. Die Biblia Paupera geht von der Taulerschen Armutskonzeption aus: Gott habe begonnen, ihm, Breckling, das »Creutz-Reich« zu offenbaren. Deshalb wähle er das Beispiel Moses und entscheide sich lieber für Armut, Schmach und die Nachfolge Christi. Er wolle die Reichtümer dieser Welt hinter sich lassen. In der Schmach der Armut, im »Creutz-Reich«, finde er die höhere Freude, die größeren Reichtümer und die innere Ruhe, welche er in den weltlichen Herrlichkeiten nicht finden könne.248 Nach diesem Bekenntnis zum Armutsideal folgt nun aber nicht die Beschreibung des inneren Weges zum Besseren. Das asketische mystische Programm wird hier offenbar als bereits bekannt vorausgesetzt. Diente bis anhin den Mystikern die verdorbene Welt als Gegenpol um ihr Programm als heilbringenden Ausweg darstellen zu können, so dreht nun Breckling die Argumentation um: Der mystische Heilsweg dient jetzt als Ideal, an welchem die Welt zu messen sei. Die passive Weltverneinung schlägt um in eine 247 Breckling, In Nomine Jesu. | Biblia Paupera. | Evangelium der Armen: | Darinnen den Armen Christi ihre | Seligkeit/ Trost/ Gut/ Theil/ Erb=|theil/ Schutz / Frewde/ Ruhm/ Hoffnung/ | Schatz/ Herzligkeit/ Privilegien und künf=|tige Erlösung aus Gottes Wort |angekündigt werden. || Sampt einer Vermahnung an die | Reichen/ sich der Armen und Elenden in | diesen teuren Zeiten also anzunehmen/ wie sie es | einsstig mit ihnen bey GOtt in der Ewigkeit geniessen | wollen: Und schrecklicher Ankündigung des Gerichtes | an die Gottlose-Reichen/ die bisher Christum | in seinen Armen beraubet/ unter=|drucket und gecreutziget | haben. || Zur Vorsorge/ Trost und Schutz der Ar=|men/ zum Schrecken aber und Zeugniß den | Reichen/ und zur Rettung seiner Seele an | dem Untergang der Armen in diesen tewren | Zeiten/ | Aufgesezet durch | Fredericum Brecklingium, | Diener und Prediger der Armen, o. O. 1662 [HAB Wolfenbüttel A: 1240.16 Theol. (9)]. 248 Ebd., S. 3.

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aktive Weltkritik: Die Reichen und Großen dieser Welt wollten nicht mehr das »Creutz-Reich Christi« annehmen, sie schämten sich der Armut. Deshalb beschloss Breckling, nicht länger den Verächtern des Abendmahls um »Geld- und Welt-lohn/ [gemeinsam] mit den Bauch-dienern/ […] zu predigen«, sondern sich zu den Armen, Blinden und Krüppeln zu gesellen.249 An dieser Argumentation fällt auf, dass neben die Auffassung der Mystiker aus dem Mittelalter, welche passiv auf die Gnade und Hilfe Gottes in ihrem Prozess hin zur Wiedergeburt hofften, nun neu ein aktives Element hinzutritt: Der Rückzug von der Welt geschieht bei Breckling auch aus einer Weltkritik heraus. Setzt man nun wie Breckling die mystisch-spiritualistische Lebensmaxime als Maßstab, an dem die Welt zu messen ist, so erscheint zwangsläufig die reale Welt als verkehrte Welt. Die Weltkritik ist für den Theologen in erster Linie Kirchenkritik: Die ›Welt‹ liebe und belohne die weltlich gesinnten Geistlichen, die als ›Bauchdiener‹, ›Seelen-Mörder‹ und Verführer bezeichnet werden. Die Bekehrer und »Seelen-ärtzte« hingegen, die der Verkehrtheit der Welt abhelfen und diese heilen wollten, würden verfolgt. Wer die Verkehrtheit der Welt nicht mehr predigen wolle, der werde gehasst. »Weil nun die Welt […] Geitz und Welt-lust der himmlischen Hochzeit schon längst vorgezogen/ und da in ihrem Geitz/ Eigennutz und verachtung Gottes/ mit Schindung und Unterdrückung der Armen und Elenden sich ernehret und erhöht/ dazu die Bauchdiener der Welt bey solchem mehr denn Heidnischen und Satanischen Wesen/ mit den alten Phariseern nur ihre ordentliche Texte immer hin predigen/ wie es die Reichen und Grossen gerne hören/ unterdeß aber die Armen und Elenden/ die ihnen kein Geld/ Wein/ Geschencke Gaben und fette Suppen einbringen können/ versäumen […]«.250 Eine Nachfolge Christi ist für den Autor ein Eintreten für die Armen, Waisen und Elenden. In ihnen scheint er das Subjekt zur Gotteskindschaft zu sehen. Breckling setzt sich intensiv mit Armut und Reichtum auseinander: In Anlehnung an (Pseudo)Taulers Armseliges Leben Christi ist er der Auffassung, dass die Besten diejenigen seien, die ihre Armut freiwillig als Kreuz Christi trügen und die geistliche und materielle Armut lebten. Oft seien dies solche, die um ihres Glaubens willen verfolgt und ihrer Güter beraubt wurden. Breckling ist jedoch nicht der Auffassung, dass allein die Armut, ob selbst gewählt oder unfreiwillig, die Voraussetzung zum Seelenheil sei, denn zu den armen Kindern Gottes gehörten auch bußfertige, fromme Reiche, die ihre Seelenarmut erkannt hätten und vorab den himmlischen Reichtum suchen würden.251 Die Armut betrachtet Breck249 250 251

Ebd., S. 4 f. Ebd., S. 5. Ebd., S. 13.

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ling aber als eine gute, nützliche und zur Bekehrung heilsame Gabe Gottes, die angenommen werden solle. Doch die mystisch-fatalistische Sicht der Armut schlägt bei ihm erneut in radikale Sozialkritik um: Auch wenn die Armut eine heilsame Gottesgabe sei, so seien dennoch die gottlosen Reichen nicht unschuldig an der Armut. Gott habe die Welt für alle geschaffen, wer nun Reichtum an sich raffe, sei ein gottloser Dieb und Räuber. Gott nehme auch die Buße der Reichen nicht an, solange diese den ungerechten Reichtum nicht an die Armen verteilt, bzw. zurückgegeben hätten.252 Die Kritik an der Einkommensverteilung baut er weiter aus zu einer grundlegenden Herrschaftskritik, indem er ›gottlose Obrigkeiten‹ bezichtigt, sie seien nicht mehr die Väter und Beschützer, sondern Schinder, Räuber, Wölfe und Tyrannen der Armen.253 Brecklings mystischer Spiritualismus nimmt hier eine bemerkenswerte Wende ins Politische.254 2.2.6.3 Christian Hoburg (Elias Praetorius) Sieht man einmal ab von den Werkausgaben Jakob Böhmes und einer umfangreichen Sammlung der Werke Hiels, so ist Christian Hoburg mit neun zum Teil umfangreichen Titeln der bestvertretene Autor in der Bibliothek Johann Heinrich Lochers. Jane Leades Werke, deren Übersetzung und Drucklegung Locher finanziell förderte, sind im Vergleich dazu mit bloß fünf Titeln am vierthäufigsten in seiner Büchersammlung anzutreffen. Mit gutem Grund, kann somit allein anhand der Anzahl Werke auf einen nicht unbedeutenden Stellenwert Christian Hoburgs in der Entwicklung Johann Heinrich Lochers hin zum Pietisten geschlossen werden. Es muss leider bei dieser quantitativen Wertung des Einf lusses dieses Spiritualisten bleiben. Eine qualitative Wertung ist dagegen nicht möglich, da der Zürcher Pietist Christian Hoburg in seinen Selbstzeugnissen nirgends erwähnt. Auch in den von Johann Kaspar Hardmeyer aufgezeichneten Gesprächen ist nie die Rede von ihm. Welche Denkanstöße konnte Johann Heinrich Locher den Schriften Christian Hoburgs, der als bedeutender Wegbereiter des Pietismus gilt 255, entnehmen? Christian Hoburg (1607–1675) entstammte einer Lüneburger Tuchmacherfamilie. Früh verwaist, konnte er sich vermutlich nur ein verkürztes und unsystematisches Theologiestudium leisten; denkbar ist auch, dass er gar nie an der Universität studiert hatte. 1732 fand er eine Anstellung als Hilfsprediger. Die Lektüre Arndts und Schwenckfelds stürzte ihn in 252 253 254 255

Ebd., S. 16–20. Ebd., S. 29. Vgl.: Bruckner, Die radikale Kritik an der Obrigkeit im Vorpietismus, S. 217–222. Gröschel-Willberg, Christian Hoburg und Joachim Betke, S. 2.

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eine religiöse Krise, und er entwickelte sich zum Spiritualisten. Seine obrigkeits- und kirchenkritischen Publikationen kosteten ihn rasch Amt und Würde. Er schlug sich als Hauslehrer und Korrektor durch. In diese Zeit fielen die meisten seiner Publikationen. Eine neue Pfarrei, die er dank der Protektion durch Herzog August d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel erhalten hatte, musste er bereits nach einem Jahr wegen kirchenkritischen Schriften wieder verlassen. Er fand im Pfarrhaus seines geistigen Verwandten Joachim Betke vorübergehend Unterschlupf. Später kam er in Amsterdam mit Jean de Labadie, Friedrich Breckling und Antoinette Bourignon in Kontakt und fand dort als mennonitischer Prediger sein Auskommen, ohne täuferische Glaubensgrundsätze übernehmen zu müssen.256 Die Schriften Hoburgs, welche sich in den Bücherregalen Lochers befanden, lassen sich eindeutig bestimmen. Es handelt sich dabei um die folgenden: Praxis Arndiana, 1642, Heutiger langwieriger verwirreter Teutscher Krieg, 1644, Spiegel der Misbräuche beym Predig=Ampt, 1644, Apologia Praetoriana, 1653, Theologia Mystica, 1655, Praxis Davidica, 1640, Teutsch-evangelisches Judentum, 1644257, Vaterlandes Praeservatif 1677 und den Christ-Fürstlicher Jugendspiegel von 1645. Alle Werke Hoburgs stuften die Examinatoren als ›schädlich‹ und ›bedenklich‹ ein und gaben sie ihrem Besitzer nicht mehr zurück. Hoburgs Denken geht – der Haltung Brecklings nicht unähnlich – von der Grundforderung zur Wiedergeburt aus. Dabei lässt er als neuer Mensch die Welt nicht einfach hinter sich, sondern er urteilt über die reale Welt aus diesem neuen Stand. Sein Ziel ist die Überwindung der Sünde. Dieses Grundprinzip bestimmt wesentliche Teile seiner Weltanschauung und beruht auf Johann Arndts vier Büchern vom Wahren Christentum. Die Praxis Arndiana von 1642 258 , ist eine ausgedehnte 700 Seiten starke Interpretation 256

Zur Biographie Christian Hoburgs: Schrader, Hoburg, Christian, S. 133–137. Hoburg, Teutsch Evangelisches | JUDENTHUM: | Das ist: | Gründlicher Beweiß | Auß den Heil. Propheten GOttes/ | daß wir Evangelische in Teutschland grö=|sten Theils/ dem Jüdischen Volck im Alten | Testament ietzo gleich: | An | 1. Empfangenen Wolthaten GOttes: | 2. Uberhäufften Sünden: | 3. Allgemeinen Landplagen: | 4. Allgemeiner Bezeigung mitten unter dem Plagen: | 5. Erbärmlichem Außgang solches Wesens: | Nebenst angehängtem treuen Raht | und Vorschlag Gottes/ durch die H. Propheten/ | wie diesem Unheil gründlich zusteueren/ ietzige Frie=|dens=Tractaten fruchtbarlich anzustellen | und | Das heutige fast Jüdische Christenthum in | Teutschland auß dem Schlaaff der Heucheley und | Sicherheit zuerwecken: | Zum ernsten | Buß=Spiegel | in dieser Zornzeit/ da iederman auff den Frieden | hoffet/ treuhertzig vorgestellet/ | von Christiano Hoheburgk/ Lünaeburg. | vor dem zu | Frankfurt M. 1644. | Jetzo von neuen verbessert herauß gegeben | auf Kosten etlicher Freunde. | In Pamphilia. MDCCV, o. O. 1705 [ZB Zürich III N 186 b]. 258 Ders., Praxis Arndiana || das ist/ | Herzens Seufftzer | Uber die 4. | Bücher Wah |ren = = Christenthumbs S. Jo=|hann Arnds/ welche den Kern/ Marck | vnnd Safft der Lehr dises Hocherleuchteten | vnnd Geistreichen Lehrers allen andächtigen | Gottergebenen Seelen einfältig vor=|stellen vnd erklären: || Bey jetziger Heuchel=Zeit hertzgründ=|lich 257

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dieses Standardwerks der Frömmigkeitsliteratur. In der Vorrede umreißt er die Absicht, die er mit dem Traktat verfolgt, nämlich das ärgerliche und beinahe heidnische Leben der meisten Menschen, die sich Christen nennen, abzumildern. Der Name Gottes werde durch den Missbrauch des Evangeliums gelästert. Es werde bloß äußerlich der Schein der Gottseligkeit gewahrt, in Tat und Wahrheit werde diese aber verleugnet. Die beste Methode, »das falsche Heuchel=Wesen in unserem Christenthumb vmmzustürtzen« sei, das Wahre Christentum zu propagieren. Denn Arndt wolle, dass wir den Glauben nicht bloß im Munde führen, sondern diesen in der Tat darlegen: Für die tägliche Übung und Praxis hat nun Hoburg die Praxis Arndiana verfasst. Doch Christian Hoburg blieb nicht beim Propagieren eines praktischen Christentums stehen: Er griff die Kirche und ihre Amtsträger mit dem Spiegel der Misbräuche beym Predig=Ampt259 unter dem Pseudonym Elias Praetorius frontal an. Er attackiert die Geistlichen: »Die Inwendige Wiedergeburt/ dardurch der Mensch in den Stande der Gnaden gesetzt wird/ wird so kalt bey ihnen [den Geistlichen] gelehrt/ daß es zu erbarmen [sei]«. Das habe damit zu tun, dass die inwendige Erleuchtung durch den heiligen Geist »da er mit dem Glantz seines Liechtes vnsere finstere Hertzen durchdringe« den Geistlichen fehle, sie würden den Geist Gottes einzig im Buchstaben der Bibel suchen. Der Tempel Gottes sei die gläubige Seele, dagegen sei die Kirche bloß ein steinernes Haus.260 Christian Hoburg akzentuiert hier Arndts Vorgaben in Richtung Wiedergeburt und Innerlichkeit261 und er radikalisiert ihn, indem er ihn als allgemeingültige Antithese der kirchlichen Orthodoxie entgegenstellt. Er vollzieht hier eine ähnliche Wende wie Breckling – jedoch bereits vor diesem – indem die Einzu betrachten/ vnd in täglicher übung deß | Christenthumbs inniglich zu practicieren: Auff | daß das falsche/ heuchel= schein= vnd spott=Chri=|stentumb falle/ vnd das wahre lebendige Her=|tzens=Christenthumb wider auffgehe. | Das Erste Buch. | Auffgesetzt | Von Christian Hoheburck/ Luneburgens, o. O. 1642 [HAB Wolfenbüttel Yj 28 Helmst 8°]. 259 Ders., Spiegel | Der Misbräuche beym Predig |Ampt im heutigen | Christenthumb | = Vnd wie selbige gründlich vnd | heilsam zu reformieren. | Aus Brüderlichem wolge=| meintem Gemüth/ senen Herrn | Mitbrüdern in Teutschland/ bey jetziger | langwiriger Vnruhe ihres Vatterlands höchst | zu betrachten/ vnd Christlich zu prüffen/ mit | greundlichen glimpf lichen Worten auffge=|setzet vnd herauß gesandt/ | Von | Elia Praetorio | Evangelischern Prediger in | Liff land, o. O. 1644 [HAB Wolfenbüttel A. 698.6 Theol.]. 260 Ebd., S. 114–120. 261 Hoburgs Wiedergeburtslehre gleicht der Arndtschen insofern, als der Mensch ständig im Kampf zwischen Gott und Satan sei. Die Ethisierung des Glaubens wird übernommen. Dagegen ist für Hoburg die Wiedergeburt nicht bloß der gelebte Glauben nach ethischen Maximen als Resultat dieses Ringens, sondern ein innerer Wandel: Es ist, wie die Einleitung zum zweiten Teil der Theologia Mystica es ausdrückt, die Wirkung des heiligen Geistes, der die »Seelen-Kräffte« reinigt. Vgl. auch: M. Schmidt, Christian Hoburgs Begriff der »mystischen Theologie«, S. 67–72.

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wohnung Gottes und die Innerlichkeit nicht bloß zum Ort der Weltf lucht werden, sondern auch zur Basis, von der aus seine Kritik an der gesellschaftlichen Realität anhebt. Dass die Lutheraner das Werk Johann Arndts kritisieren, ist ihm Beweis genug dafür, dass die lutherische und calvinistische Kirche »verkert und verwirrt« seien. Die Prediger würden lästern, was sie nicht verstehen, weil sie nicht wissen, was Adam und Christus in uns seien, und keine Vorstellung von der Wiedergeburt und der Verleugnung seiner selbst hätten. Und noch schlimmer: »Daß die heutigen Prediger/ leyder! Feinde seynd deß Creutzes Christi«. Die Prediger würden durch ihr »wollüstiges Ehr vnd Weltgeitziges Leben/ Christum mit seinem Chreutzleben verläugnen vnd verwerffen.« Ihre Lebensführung widerspreche dem christlichen Anspruch. Zudem sei auch ihre Lehre gegen das Kreuz, weil es sie nicht zur Nachfolge des Leidensweges mit Nachdruck verlange. Sie lebten die Kreuzigung des alten Adam nicht nur nicht nach, sie forderten diese auch nicht ein. So machten sie auch ihre Zuhörer zu Feinden des wahren Glaubens.262 Womit auch gesagt ist, dass in den Augen Hoburgs die Kirche die Hauptschuld an der sündigen Welt trägt. Was Christian Hoburg dem entgegensetzt, ist die Bereitschaft zu einem ethischen Leben und zur echten Buße. Eine Bußfertigkeit die er – wohl aus der Erfahrung seiner eigenen Glaubenskrise – in der Praxis Davidica als ein Flehen um die Erhörung durch Gott in Worten wie »Ach/ so neige deine Ohren her/ und höre das Seuffzen meines herzens« beschreibt.263 Doch die Kirche verspüre keine Neigung zu einem innerlichen Leben nach christlichen Grundsätzen: Auch wenn die Geistlichen behaupteten, sie verträten die wahre Religion und meinten, ihre Kirche sei die Kirche Gottes, so würden sie dennoch lügen. Man müsse sein Leben bessern und wenn das nicht geschehe, so helfe alles Kommunizieren, Kirchengehen und Beichten nichts264. Es bleibe vergebliche Heuchelei. Man dürfe sich nicht mit dem äußerlichen »Abgott« begnügen, sondern müsse das Innerliche suchen. Das Reich Christi habe im Inneren seinen wahren Grund und werde nicht mit äußeren Ritualen und Gebräuchen erlangt. Die Geistlichen praktizierten aber bloß ein äußerliches Christentum.265 Den Grund für die – aus Hoburgs Warte betrachtet – fehlgeleitete Kirche 262 Hoburg, Spiegel Der Misbräuche beym Predig Ampt, Vorwort (unpaginiert) u. = S. 60–65. 263 Ders., Praxis Davidica | Das ist | Davidische Seelen übung | Oder | Gottseelige = Bußgedanken über etliche Psalmen | Des Königs vnd Propheten Davids/ als 83.63.73.23. | Allen | Gott=ergebenen/ in dem Streit stehenden/ vnd | wider sich selbst vnd die Welt kämpfenden | Hertzen wolmeinend an tag gegeben, Schaff hausen ( Johann Kaspar Suter) 1668 [ZB Zürich VI 392]. 264 Zu Hoburgs Haltung gegenüber der Abendmahlsfrage vgl.: M. Schmidt, Die spiritualistische Kritik, S. 91–111. 265 Hoburg, Spiegel Der Misbräuche beym Predig Ampt, S. 97–101. =

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ortet Hoburg in der Ausbildung der Theologen: Die Prediger seien nicht in die rechte Schule gegangen, »darumb sie auch vnerfahrene Schüler der Geheymnussen Gottes seind«. Denn in den falschen Schulen werde »die liebe zarte Jugend zu aller Uppigkeit vnd Hochmuth erzogen/ in ihrer Fleischlichen Adamischen angeborenen bösen Wesen gestärcket/ vnd aller Muthwille und Leichtfährigkeit ihnen gestattet […]/ vnnd solches absonderlich vff allen Academien, Vniversiteten vnd Hohenschulen.«266 Die Schulen hätten so viele Mängel, dass es den Autor nicht wundern würde, wenn Gott sie mit Blitzen »zerschmetteren« würde. Ein Theologiestudium sei zwar nützlich für das Predigtamt, aber nicht ausreichend, denn dieses sei kein Amt des Buchstabens, sondern des Geistes. Hoburg fordert dagegen eine ›innere Schule des heiligen Geistes‹.267 In ähnlicher Weise kritisiert er den orthodoxen Lehrbetrieb an den Hochschulen in der Theologia Mystica. Aus seiner indifferentistischen Haltung gegenüber konfessionellen Sonderlehren stellt Hoburg in Anspielung auf die Konfessionskirchen fest, dass die Menschen nach ihrem Gutdünken unterschiedlich gefährliche und irrige Wege einschlagen und sich am Ende als Betrogene wiederfänden: »Wahrlich wir sehen ja wie die Menschen in dieser letzten Zeit ihnen so viele wege suchen zu ihrem GOtt/ einjeder bey seinem Gottes=dienst/ die gelehrten [und] verkehrten suchen ihren Gott Viâ Scholasticâ, auff ihrem Schul=wegk/ mit subtilen disputieren, glossieren, und distinguiren, vermeinen durch diesen wegk zur verborgenen Weißheit GOttes zu gelangen«. Für den Schulweg – der ein teuf lischer Weg sei – stehe beispielsweise Thomas von Aquin. Die Reformation habe versucht, sich von diesem falschen Weg zu befreien. Sie bekämpfe aber den Schulweg mit einem anderen Schulweg, was letztendlich diesen Weg nur verfestigte. (Der Turm zu Babel sei noch höher aufgerichtet worden.) Der »Krafft=weg« dagegen wolle die Lehre der Bibel in die Praxis, in die »selige übung« umsetzen. Hoburg propagiert, neben dem äusserlichen Kirchenweg auch den inneren Kraftweg einzuschlagen, was er nicht als Separation verstanden haben will.268 Dem Schulweg der orthodoxen Theologie setzt er den Kraftweg – als eine verborgene Theologie der Innerlichkeit – gegenüber. Wie bei Paracelsus steht hier der Begriff Verborgenheit für dasjenige, was der Sinneserkenntnis unzugänglich und bloss durch die innere Erkenntnis eines Wiedergeborenen wahrgenommen werden könne. 266

Ebd., S. 262 Ebd., S. 262–264. 268 Hoburg, Theologia Mystica, | Das ist; | Verborgene Krafft-Theologie | der Alten/ | Anweisend den WEG | Wie | Auch der Einfeltigste Mensch/ zum | lebendigen Erkentnis ja zur gemeinschafft | seines GOTTES/ ohne einige andere Kunst | und Wissenschafft/ nur einig durch Abster=|ben sein selbst in Erleüchtung des Heiligen | Geists empfindlich kommen kan, Amsterdam (Cornelius de Bruyn) 1655 [ZB Zürich XXI 419], Vorrede (unpaginiert). 267

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Ziel der Theologia Mystica sei es, die selbst geschmeckte Liebe Gottes mitzuteilen, die der Autor auf dem verborgenen Weg erfahren hatte. Diesen Weg der verborgenen Theologie hätten bereits die alten Kirchenväter dem Inhalt nach in drei Stufen eingeteilt: 1. die Reinigung des Herzens von allen f leischlichen und weltlichen Einf lüssen, 2. die Bußfertigkeit und innerliche Erleuchtung durch den heiligen Geist und 3. die Vereinigung, die unio mystica.269 Christian Hoburg ist ein Vertreter einer Mystik, bei welcher es primär um eine intellektuelle Repräsentation und nur sekundär um ein persönliches Erlebnis geht. Er unterscheidet sich in diesem Punkt von der mittelalterlichen mystischen Theologie und betont besonders den praktisch-ethischen Aspekt der Mystik, welcher in scharfer Zeitkritik und in vielfältigen Reformvorschlägen mündet. Vergegenwärtigen wir uns Johann Heinrich Lochers intellektuelles Wiedergeburtserlebnis, so haben wir Anlass zur Vermutung, dass Locher eher einer mystischen Theologie der Art Hoburgs zuneigte als jener des Mittelalters. Ein wichtiger Bestandteil der Kritik Hoburgs an seiner Zeit ist sein Pazifismus und die Verurteilung aller Kriege. Im Spiegel der Misbräuche beym Predig=Ampt ist er überzeugt, der 30-jährige Krieg sei der Beweis für den schlechten Zustand der Kirche: Das Christentum predige den Frieden, wer aber Religionskriege führe, der sei gegen das Christentum. Die Prediger würden an erster Stelle die Verantwortung für den Krieg tragen. Ihre Schuld werde durch »Philosophischen Heydnischen Wortglossen« beschönigt. An der Frucht des Krieges erkenne man die Lehre des AntiChristen. Hoburg verwendet im Anschluss dieselben Schimpfnamen für die Theologen, wie sie dann auch Breckling verwendet: Sie seien falsche Propheten, »Miedlinge/ Bauchdiener/ ja echte Seelen=Wölfe«.270 In zwei weiteren Schriften wendet sich Christian Hoburg gegen den Krieg. Im Heutiger langwieriger verwirreter Teutscher Krieg wird der 30-jährige Krieg kosmologisch gedeutet. Er erhebt Klage über die elende Zeit. Das grimmige Zornfeuer Gottes, das nun seit dreiundzwanzig Jahren wüte, bleibe niemandem verborgen. Der Zustand Deutschlands sei noch schlimmer als jener Ägyptens zur Zeit der zehn Plagen. Das Geschrei der falschen Priester, die zum Krieg auf hetzen, sei wie das Froschgeschrei der ägyptischen Plage. Wie die Läuseplage sei das viehische unreine Leben. Der nun tobende Krieg stelle den Zornhagel Gottes gegen das verkehrte Spott-Christentum dar. Solange die Missbräuche im Gottesdienst – und zwar nicht bloß in der Theorie, sondern auch in der praktischen Lebens-

269 Ebd., Vorrede (unpaginiert). Zu Hoburgs Theologia Mystica vgl.: M. Schmidt, Christian Hoburgs Begriff der »mystischen Theologie«, S. 51–90. 270 Hoburg, Spiegel Der Misbräuche beym Predig Ampt, S. 35–42. =

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Abbildung 8: Frontispiz aus Heutiger Langwieriger/ verwirreter Teutscher Krieg. Das grimmige Zornesfeuer Gottes wird als wüste Kriegsszene zur Abschreckung dargestellt. Den Zorn symbolisieren weiter Totenkopf, Rute und Flegel Gottes sowie der Zornesblitz. Ebenso darf der Komet als kosmischer Vorbote des Unheils nicht fehlen. [ZB Zürich D 376]

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übung der Pfarrer – Bestand hätten, sei Gott ein verzehrendes Zornfeuer über Deutschland.271 Vaterlandes Praeservatif, die zweite Antikriegsschrift Hoburgs in Lochers Literaturfundus interpretiert den Krieg erneut als »Straff=Ruhte« Gottes, weil die vom Krieg heimgesuchten Völker Gott durch ihren Gottesdienst und ihre Lebensweise erzürnt hätten. Erneut nimmt Hoburg die Kriegswirren des Holländischen Krieges zum Anlass für seine radikale Kirchenkritik. Doch er wendet das Ziel der Schrift ins Positive: Er wolle alle Patrioten in seinem Vaterlande aufwecken, denn er ist überzeugt, dass der Zorn Gottes im letzten Moment noch abgewendet werden könnte.272 Bemerkenswert an dieser Aussage ist einmal die Vorstellung, dass die Geschicke der Welt von Gott nicht von Beginn der Welt her vorbestimmt und determiniert seien, sondern dass es am Willen der Menschen liege, wie sich die Geschichte entwickelt. Christian Hoburg geißelt im ersten Teil des Werks erneut die Zustände in der Kirche und lässt seine Kritik in der Aussage kulminieren, dass inzwischen selbst die Reformation missbraucht worden sei; wir hätten heute wenig Evangelisches und Reformiertes an uns.273 Hoburg erhebt anschließend die Forderung nach einer zweiten Reformation, die selbstverständlich im Zeichen des mystisch-spiritualistischen Programms zu erfolgen habe – eine Forderung, die später im Pietismus oftmals aufgegriffen wurde. Die scharfe Kirchenkritik Hoburgs im Spiegel der Misbräuche beym Predig=Ampt blieb nicht unbeantwortet. Hoburg, der sich als livländischer Pfarrer mit dem Pseudonym Elias Praetorius tarnte, wurde anhand der Druck-Typen identifiziert. Ein Jahr nach dem Erscheinen des Spiegels wurde mit ihm eine umfangreiche Abrechnung vorgenommen. Das Kollegium Tripolitanum, in welchem die Kirchen Hamburgs, Lüneburgs und Lübecks zusammen geschlossen waren, beauftragte Johann Müller, den 271 Ders., Heutiger/ Langwieriger/ | verwirreter | Teutscher Krieg/ | In einem | Nachdencklichen/ Gründli=|chen Gespräch vorgestellt/ | Darinnen begriffen/ | 1. Woher selbiger vrsprünglich entstanden. | 2. Warumb auch bißhero er noch nicht habe | auff hören können. | 3. Weniger anjetzo auff hören könne/ | vnd werde | 4. Wie aber er endlich fruchtbarlich könne | beygelegt werden. | Vnserm hochbeträngten Vatterland/ | darinnen das grimmige Fewer deß Zorns | Gottes/ so lange Jahr hero gebrennet hat/ | vnd noch jetzo lichterloe brennet: || Zur höchtnötigen Erinnerung/ denen sichern | Welthertzen vnd SpottChristen aber zum Zeug=|nuß wolmeinentlich auffgesetzt/ | Von | Christiano Hoheburgk/ Lüneb., o. O. 1644 [ZB Zürich D 376], S. 5–21. 272 Ders., Vaterlandes Praeservatif. | Das ist: | Feurige Seufftzer/ | und andere heilsahme Mittel/ wie | die grosse Kriegs=Flamme/ in unserem | lieben Vaterlande / ja in der gantzen | Christenheit/ gründlich könne | gelöschet wer=|den. || Aus Liebe zu GOtt und dem Va=|terlande/ für die Siebentausend/ welche | ihre Knie für den Baal nicht gebeu=|get/ auffgesetzt | Von | Christian Hoburg, Hamburg und Frankfurt/M. 1677 [Uu LB Halle Im 1062 l], S. 6–13. 273 Ebd., S. 55.

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Hamburger Hauptpastor an St. Petri, mit dieser Arbeit. Das Interesse Johann Heinrich Lochers an Christian Hoburg muss so groß gewesen sein, dass er sich auch mit diesem Glaubensdisput beschäftigte und sich einerseits mit der sich über 500 Seiten hinweg ziehenden kirchlich-orthodoxen Widerlegung des Spiritualisten auseinandersetzte und dass er andererseits die fünf Jahre darauf erschienene Replik Apologia Praetoriana 274 las, die Christian Hoburg – der die orthodoxen Theologen gerne der »Zänkerei« bezichtigte – unter Mithilfe Joachim Betkes verfasst hatte. Die Nothwendige […] Warnung für dem Gotteslästerlichen/ Ergerlichen SchandBuch […] Eliae Praetorii bezichtigt Hoburg des scheinheiligen Enthusiasmus. Die Leser sollen sich vor dem Buch des Praetorius hüten, wie vor dem Teufel selbst. Das Werk wird als gotteslästerlich bezeichnet, das Buch sei eine Pasquille und eine reine Schmähschrift. Es sei durch die Eingebung des bösen Geistes geschrieben worden. Hoburg wird mit der Gefährlichkeit eines Thomas Müntzer verglichen: Obwohl Thomas Müntzer seit langem tot sei, sei er in Elias Praetorius wieder auferstanden.275 Der Hamburger Hauptpastor stellt mit diesem zwar starken Vergleich dennoch nicht ganz zu Unrecht eine Wende des Hoburgschen mystischen Spiritualismus ins Politische fest. Der harschen Kritik an der Kirche haftete eine nicht unwesentliche Portion Obrigkeitskritik an. Hoburg versuchte sich auch in der Apologia Praetoriana entsprechend zu rechtfertigen, indem er richtig stellte, nicht gegen die von Gott eingesetzte Obrigkeit sei die Kritik gerichtet gewesen, sondern lediglich gegen die schweren Missbräuche derselben.276 Dem Verdacht einer allgemeinen Obrigkeitsfeindlichkeit versuchte Hoburg bereits 1645 entgegenzutreten, in dem er den Söhnen des Wolfenbütteler Herzogs August d. J. die Schrift Christlich=Fürstlicher Jugend=Spiegel widmete.277 Dieser Traktat sei notwendig, weil die f leischliche und böse 274 Hoburg, Apologia | Praetoriana | Das ist: | Spiegels derer Mißbräuche beym | heutigen Predig=ampt/ | Gründliche Verthedigung: | Wider die | Lutherische Prediger in Lübeck/ | Hamburg und Lüneburg. | Darinnen | Dero gedruckte Warnung von Wort zu Wort | ordentlich vund gründlich wiederleget/ auch dero Crimina | falsi, in verfälschung der Allegaten, zerstümelung vnd | verkehrung der Worte/ fein deutsch vor | augen gestellet werden. | Jhnen | Zur nottürfftiger Vberweisung ihrer Verfüh=|rung/ Heucheley vnd Falschheit/ auch zu besserer | Prüffung/ vnd da es beliebet zur redlichen | Beantwortung/ fein deutsch | vorgehalten. | Vor dem nunmehr hereinbrechenden Gerichtstage | des Herrn/ Herrn Zebaoth. | Von | Eila Praetorio | Evangelischer Prediger in Lief lande, o. O. 1653 [ZB Zürich C 334]. 275 Kurtze | Nothwendige / in GO ttes Wort | gegründete | Warnung | Für dem Gotteslästerlichen/ | Ergerlichen Schand=Buche/ wel=|ches unter dem Nahmen Eliae Prae=|torii von dem Bißbreuchen deß Pre=|dig=Ampts herauß kommen/ und zu Ver=|führung der Einfältigen betrieglich auß=|gestreuet worden/ | gestellet | durch | Das Predigt=Ampt der Christ=|lichen Gemeine zu Lübeck/ Hamburg und Lüneburg, Hamburg 1645 [HAB Wolfenbüttel H: K 455.8° Helmst.], S. 469, 514 u. Vorrede (unpaginiert). 276 Hoburg, Apologia Praetoriana, Protestatio (unpaginiert). 277 Schrader, Hoburg, Christian, S. 135.

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Regierung großen Schaden anrichten und ein ganzes Land vergiften könne. Die Ursache der schädlichen Obrigkeit sei die ungenügende Erziehung der jungen Regenten zur Praxis der Gottseligkeit. Gerade weil die Herrscher ihre Macht von Gott hätten, sollten sie diese auch mit Gottesfurcht ausüben. Sie seien nicht befugt, nach eigenem Gutdünken gegen Gottes Gebote zu handeln. Die Regenten in der Zeit des neuen Testamentes müssten sich an die Gebote Gottes halten und sich ihnen unterwerfen. Ein guter Regent sei derjenige, der nach dem Willen Gottes in Gottesfurcht regiere.278 Auch wenn Hoburg hier seine Kritik ins Positive dreht, so ist evident, dass seine mystisch-spiritualistische Ethik eine eminent politische Komponente entfaltet. Der Katalog der christlichen Nächstenliebe ist das Merkmal der guten Obrigkeit. Gleichzeitig wird die absolutistische Herrschaftslegitimation, das Gottesgnadentum, mit dem ethischen Katalog verknüpft: Wer seine Macht von Gott habe, der müsse auch in dessen Geist und nach dessen Vorbild regieren. Die Herrschaftslegitimation gibt Hoburg Anlass dazu, die absolutistische Macht aus theologischer Überlegung heraus zu beschränken. Das Gottesgnadentum wird gegen den unumschränkten Herrscher gewendet. Bedeutend an dieser Kritik der verruchten Kirche und der Obrigkeit mit ihren falschen Schulen ist die Wende ins Pädagogische. Der Christlich= Fürstlicher Jugend=Spiegel ist eine Erziehungsschrift. Sie will den angehenden Regenten zu einem christlichen Leben erziehen: denn die richtige Erziehung zur Bekehrung ist für Hoburg der Schlüssel zur Überwindung der in der Welt herrschenden Sünde. Seine Kritik redet einer zweiten Reformation das Wort, sie will die Welt verändern. Und dieses Reformvorhaben ist zu einem großen Teil ein pädagogisches Vorhaben. In Hoburgs Schriften erblickt Carl Hinrichs infolgedessen den Grundstein der universellen Zielsetzung des Halleschen Pietismus, welcher Kirche und Schule für das Instrument der durchgehenden wirklichen Reformation hielt und überzeugt war, dass die Erneuerung von innen heraus beginne. Mit der Vorstellung, die in der Welt herrschende Sünde sei durch die reale Besserung des Einzelnen durch Erziehung zu überwinden, hielt laut Hinrichs erstmals der Fortschrittsgedanke im reformierten Glauben Einzug.279 Eigenartigerweise wurde auch die Nothwendige Warnung seitens des Zürcher Examinatorenkollegiums eingezogen. Das Kollegium war zwar nicht 278 Hoburg, Christlich Fürstlicher | Jugend Spiegel: | Allen Jungen Regenten/ vnd | = = denen/ so die Regierung bedienen/ | oder schierkünfftig bedienen möch=|ten/ wol zubeschawen/ || Zur höchstnöthigen Erinne=|rung/ wie bey jetziger verwirrten | Zeit selbige ihre Consilia also füh=|ren können/ damit sie ein gutes | Gewissen behal=|ten | Auß dem Wort des HERREN/ | vnd glaubwürdigen Hisorien ein=|fältig vnd wolmeynlich vorge=|halten | von | Christiano Hoheburgk Lunaeb., Frankfurt/M. (Matthias Merian) 1645 [HAB Wolfenbüttel A: 138.4 Ethica (2)], S. 15 u. 167 f. 279 C. Hinrichs, Preußentum und Pietismus, S. 6–9.

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der Meinung, dass diese Verteidigung der lutherischen Orthodoxie schädlich sein könnte. Das Werk ist aber aufgelistet im »Verzeichnus der Bücherne welche von den Herren Theologi zwar gut betittelt gleichwohl solche zum Zeugnus Ihrer Treü und Liebe behalten haben« 280. Den Ausschlag zum fürsorgerischen Entzug des Bandes dürfte wohl die Auseinandersetzung mit Hoburg als solchem gegeben haben. Auf ein Element ist hier noch hinzuweisen, das ansatzweise auch bei Breckling anzutreffen war – und sich auf Böhme zurück führen lässt281 –, ein Element, das später für den Pietismus und besonders für den radikalen Pietismus konstitutiv wurde282: Hoburgs voluntaristischer Spiritualismus. Diese Denkweise betont die aktive willentliche Eigenleistung, um die Wiedergeburt zu erlangen. Dem gegenüber steht die passive Haltung der Mystiker des Mittelalters oder beispielsweise Kaspar Schwenckfelds, wonach Gott den Funken in der Seele entfachen müsse, und erst wenn Gott das Feuer im Herzen entfache, sei der Mensch befähigt, der unio mystica entgegen zu streben. Ist bei jenen die Wiedergeburt eine Gnade Gottes und der freie Wille bloß der Grund der Sünde, so wird dieses Konzept bei Hoburg um einen individuellen willentlichen Anteil erweitert. Das Individuum kann sich demnach nicht nur willentlich der Welt entsagen, d. h. den eigenen Willen willentlich verneinen (– was an sich ein Widerspruch ist –), sondern die Einwohnung Gottes kann auch im aktiven Sinn willentlich beeinf lusst werden.283 Aus dem religiösen Denken heraus wird hier der freie Wille des Menschen und die Autonomie des Individuums postuliert. Das soll aber nicht heißen, dass das Gnaden-Element in der Wiedergeburt in den Hintergrund träte. Zumindest in Johann Heinrich Lochers Selbstbekenntnis wird die Gnade, die Gott den Menschen durch die Wiedergeburt zukommen lässt, immer wieder betont.284 Aber genauso 280

ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 12 [Die Konfiszierten Bücher Johann Heinrich Lochers]. Beispielsweise Böhme, Mysterium Magnum, 26.10. 282 Sowohl bei Gottfried Arnold wie auch bei Konrad Dippel arbeitet F. Ernest Stoeff ler im Abschnitt über den radikalen Pietismus die voluntaristische Wiedergeburtsvorstellung schön heraus. Stoeffler, The Rise of Evangelical Pietism, S. 179 u. 187 f. 283 Den Voluntarismus Hoburgs hat Martin Schmidt anhand des dritten Kapitels der Theologia Mystica dargelegt: M. Schmidt, Christian Hoburgs Begriff der »mystischen Theologie«, S. 80 f. Es sei hier nebenbei bemerkt, dass auch für Malebranche die Interaktion von besonderer Gnade und willentlicher Leistung des Menschen zu einem wesentlichen Merkmal seiner occasionalistischen Philosophe wird. Vgl. beispielsweise den – gegen die Jansenisten gerichteten – Traité de la nature et de la grâce (1712), i. b. 2, 30 ff. 284 »Also kan der mensch weder von Natur noch durch verdienste das Reich Godtes erlangen, sonder allein durch den glauben in Christo Jesu, durch deßen Geist und Krafft Er von neuwem gebohren werden muß.« ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 14. 281

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stark betont Locher auch das willentliche Element. Im Verhör vom 1. November 1698 antwortet er folgendermaßen auf die Frage, was er unter Christus verstehe: Christus seÿe der Weltheiland durch den Glauben und seinen Geist, die den Menschen widergebehren, daß wie Er [= der Mensch] zuvor einen guten Willen habe, […] also bekome ein Widergeborener das Recht zum Leben [, er] werde Selig. 285

Auch Johann Heinrich Locher vertritt hier eine tendenziell synergistische Wiedergeburtskonzeption. Er teilt die Meinung, dass es einen guten christlichen Willen als menschliche Vorleistung benötige.286 Die Betonung der individuellen Willensleistung, damit das Seelenheil erlangt werden könne, führt hier zu einer paradigmatischen Erweiterung mystischer Vorstellungen. Die Mystik, wie sie Johann Heinrich Locher bei Tauler und Thomas à Kempis kennen gelernt hatte, wurde durch Böhme und seine Schüler, vielleicht aber auch schon durch die Analogie zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos bei Paracelsus, grundlegend umgestaltet: Leszek Kolakowski spricht im Zusammenhang mit der f lämischen Böhmeanhängerin Antoinette Bourignon (zu der auch Hoburg Kontakt hatte) von der mystique égocentrique – ein Begriff der sich auf die meisten neuzeitlichen Mystiker aus Johann Heinrich Lochers Bibliothek anwenden lässt. Egozentrische Mystik – ist das nicht ein innerer Widerspruch? Eingedenk dieses Gegensatzes spricht Kolakowski auch von einer »falschen« Mystik: »On peut dire que sa mystique [= jene von A. Bourignon] est ›fausse‹ dans la mesure où elle est sous-tendue par un désir fondamentalement contraire à la tradition mystique: pour elle, l’experience de la divinité n’est qu’une forme d’autoaffirmation de sa propre personalité. La mystique authentique est toujours une tentative pour se ›fuir soi-même‹. (…) La mystique égocentrique se réalise uniquement en traitent Dieu en instrument de son propre salut; autrement dit, elle nie la formule dont elle est partie: ›renoncer à sa volonté propre‹. Si la fin dernière de l’homme est le salut et si le salut ne peut être atteint que par renoncement à sa volonté de faire son salut personelle«.287 Für Kolakowski führt dieses neuartige Verständnis der Mystik dazu, dass diese komplett umgestaltet, wenn nicht gar ›vom Kopf auf die Füße gestellt‹ wird,288 indem nun der Mensch 285

ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 6, Wahrhafftige Erzellung, S. 58. Die orthodoxe Reformationskirche lehnte die Konzeption eines Zusammenwirkens von Gott und Mensch als Ursache des Heilsempfangs konsequent ab. Vgl.: Kaufmann, Synergismus I, S. 508–518. 287 Kolakowski, Chrétiens sans église, S. 675. 288 Es stellt sich hier die Frage, ob nicht bereits in der mystique égocentrique der Gottesbegriff Ludwig Feuerbachs, wie er ihn im Das Wesen des Christentums – keineswegs in atheistischer Absicht – entwickelte, ansatzweise angelegt ist. Sätze, wie »Gott ist das offenbarte Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen« oder »Das Bewusstsein Gottes ist das Selbstbe286

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nicht mehr zu einem Instrument Gottes, sondern Gott zu einem Instrument des Menschen gemacht wird. Dieser Widerspruch zwischen einer theozentrischen und einer anthropozentrischen Mystik hilft uns auch, den Widerspruch zwischen einer vita contemplativa und einer vita activa besser zu verstehen. Eine egozentrische Mystik hilft dieses Spannungsfeld besser auszuhalten, gerade weil dieser Widerspruch selbst als immanentes Moment in der Konzeption der »falschen« Mystik angelegt ist. Welchen Niederschlag die Lektüre von über 4000 Seiten der Hoburgschen Schriften sowie weiterer Vertreter der radikalen Arndt-Schule bei Johann Heinrich Locher fand, kann nicht eindeutig nachvollzogen werden. Mit Fug darf aber davon ausgegangen werden, dass Hoburg und seine Mitstreiter den Pietismus nachhaltig beeinf lussten. Um diese These belegen zu können, sei ein Optikwechsel erlaubt, der für einmal die obrigkeitliche Beanstandung pietistischer Glaubensgrundlagen zum Thema macht: Im Verhör vom 1. November wurde Locher gründlich über sein Verhältnis zur Bibel befragt. Weil seine Antworten die Examinatoren in keiner Weise befriedigen konnten, holten diese zu einer belehrenden Zurechtweisung aus, die Locher aus seiner Optik wiedergibt: [Die Examinatoren meinen,] daß Es sehr gefahlich und irrig seÿ beständig der H. Schrifft Abzuweichen und auf ein innerlich Wort oder Liecht wie die Täufer oder Quacker zu achten. […] [D]ann die bücher welche ich [= Locher] gebraucht, haben eine gleiche Leseart und bauind die außwürkung unserer Seligkeit auf einen ganz unrecht und irrig Grund welche auch Herr Chorherr Schweizer mit einer nachrede bestetigt. Herr Professor Hoffmeister klagte die Bücher von Christian Hoburg (deren eine Zimliche anzahl unter meinen Bücheren sind) gleichen Irtums an welches ich aber mit Stilschweigen beandtwortete, weilen Disputieren meines Thuns nicht ist.289

Einmal abgesehen davon, wie Lochers demütige Lebenseinstellung ihm die Gewissheit gibt, über den konfessionellen Glaubensstreitereien zu stehen, fällt auf, dass die Examinatoren auf die spiritualistische Grundtendenz seiner Bibliothek zielen; sie heben als Spitze des Eisbergs einen einzigen Autor hervor: Christian Hoburg. Die beiden Theologen sahen in ihm ganz offensichtlich die wichtigste Quelle zu Lochers heterodoxem Denken. Gänzlich falsch dürften die Examinatoren mit dieser Einschätzung wusstsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes [ist] die Selbsterkenntnis des Menschen«, treffen wir in ähnlichen Formulierungen auf Schritt und Tritt in der Lektüre Lochers an, mit der Ausnahme, dass erst bei Feuerbach diese Anthropologisierung des Gottesbegriffs auch ans »gegenständliche Wesen des Menschen« geknüpft wird. Vgl.: Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, u. a. S. 51. 289 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 23 »Anlagen und beschuldigungen mit welchen Heinrich Locher zum Meyen schon seither einigen Jahren belegt worden, erbaut selbiger bescheidenlicher beantwortung«, Bogen D.

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wohl nicht gelegen haben. Man braucht sich lediglich das aus der Erinnerung angefertigte Bibliotheksinventar zu vergegenwärtigen, welches Locher erstellte, und in welchem Hoburg noch vor Johann Arndt rangiert. Die Bewertung der Bedeutung Hoburgs für Lochers Denken durch die Examinatoren deckt sich hier augenfällig mit der Hochschätzung durch Locher selbst. War Christian Hoburg mehr als bloß ein Wegbereiter des Pietismus? Der breite Platz, den die Werke Hoburgs in Johann Heinrich Lochers Bibliothek einnahmen, lässt auf einen wichtigen Stellenwert in der geistigen Entwicklung des Zürcher Pietisten schließen. Es stellt sich die Frage, ob Johann Heinrich Locher den Werken Hoburgs eine ähnliche Bedeutung beimaß, wie sie Generationen von gemäßigten Pietisten den Werken Philipp Jakob Speners beimaßen. Einen solchen Schluss scheint E. Bayreuthers Bemerkung nahezulegen, wenn er schreibt, Spener habe in maßvoller Form die Reformationsvorschläge der spiritualistischen Schwärmer, welche nach dem Dreißigjährigen Krieg ihre Stimme erhoben, in der Pia Desideria zusammengefasst.290 Eine Auffassung, die auch Martin Kruse in seiner Untersuchung über Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment teilt, worin er besonders Hoburg neben Betke und Weigel als eine wichtige Quelle der Kirchenkritik in den Pia Desideria hervorhebt.291 Evamaria Gröschel-Willberg formuliert dieselbe These in ihrer Dissertation vorsichtiger. Sie verneint einerseits eine direkte Abhängigkeit Speners von Hoburg und Betke – auch wenn die beiden auf ihn anregend gewirkt haben mögen –, stellt anderseits fest, dass Speners Kirchenkritik und Reformvorschläge allesamt bereits durch Hoburg und Betke formuliert wurden. Sie folgert weiter, »dass Hoburg und Betke mit ihren Schriften gleichsam den Boden für den Pietismus bereitet haben. Sie waren beide Pietisten ante Pietismum.«292 Es ist daher naheliegend, dass die Entwicklung von Lochers pietistischer Anschauung direkt auf den radikalen Kirchenkritikern fußte und nicht den Umweg über Speners Grundlagenwerk des Pietismus nahm. So ließe sich auch der überraschende Befund erklären, dass in Johann Heinrich Lochers Bibliothek bloß zwei Werke des »Vaters des Pietismus« anzutreffen sind: Einmal das Theologisches Bedencken über den von Einigen des E. Hamburgischen Ministerii publicierten neuen Religions=Eid. 1690 293. Diese Schrift steht im Zusammenhang mit der Hamburger Pie290

Bayreuther, Artikel Pietismus, S. 218. Kruse, Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment, S. 174 f. 292 Gröschel-Willberg, Christian Hoburg und Joachim Betke, S. 134–138 u.143 f. 293 Spener, Chursächsischern Ober Hoff Predigers | und Kirchen Raths/ | Erfordertes | = = = Theologisches | Bedencken/ | über den | Von Einigen des E. Hamburgischen | Ministerii | publicierten | Neuen Religions=Eid, o. O. 1690 [ZB Zürich XVIII 468]. Spener spricht in sechs rhetorisch gestellten Fragen der hamburgischen Kirchenbehörde die Zuständigkeit, eine neue Glaubensformel zu erlassen, ab. So geht es in der zweiten Frage darum, ob 291

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tistenkontroverse und deren Weiterungen 294, für die sich Locher brennend interessierte. Er trug gemeinsam mit Johann Kaspar Hardmeyer akribisch alle in dieser Kontroverse gewechselten Streitschriften zusammen.295 Die zweite Schrift trägt den Titel Die ewige Geburt Des Sohnes Gottes296 . Es handelt sich dabei um eine Predigt, die die Trinitätslehre erläutert und sich gegen sozinianische Anschauungen wendet – welche angeblich in Brandenburg-Preußen stark verbreit seien. Eine Schrift, welche die Examinatoren als »ungefährlich« einstuften und dennoch konfiszierten. Dass in Lochers Bibliothek die Schriften Speners eher einen marginalen, dagegen die Hoburgschen Werke einen gewichtigen Platz einnahmen, wirft die Frage auf, ob die Einschätzung Christian Hoburgs als Wegbereiter des Pietismus nicht im Sinne Evamaria Gröschel-Willbergs 297 stärker gewichtet werden muss. Jedenfalls erweckt die Zusammensetzung der Locherschen Bibliothek stark den Eindruck, dass nicht Spener, sondern Hoburg ein entscheidender Impulsgeber zur pietistischen Ausgestaltung von Lochers Religiosität war. Den sogenannten linken Arndtianern, mit denen sich Johann Heinrich Locher auseinandersetzte, ist gemeinsam, dass sich in ihren Werken nebst den Einf lüssen Johann Arndts auch deutliche Spuren der Auseinandersetzung mit Jakob Böhme nachweisen lassen. Die Interpretation der Geschichte Abrahams und die Eroberung Kanaans durch die Juden als Allegorie auf die Wiedergeburt als Kernaussage der Heiligen Schrift erinnert stark an die Methode der Auslegung der Genesis im Mysterium Magnum. es einer »Particular=Kirche« zustehe, eigenständig neue Religionsregeln zu erlassen und die übrigen Gläubigen auf diese zu verpf lichten. Und Spener gibt in Frageform gleich selbst die Antwort, ob dies nicht eher in ein Schisma münden würde. In der nachfolgenden Fragestellung fordert er Toleranz ein, wenn er wissen will, ob es einzelnen Theologen zustehe, zu entscheiden, ob der Chiliasmus zu den Glaubensgrundsätzen gehöre oder nicht, und ob es Formen des Chiliasmus gebe, die zu tolerieren seien und welche Formen mit einer Exkommunikation zu ahnden seien. 294 Die mit Druckschriften ausgetragene Kontroverse um Speners Schwager Johann Heinrich Horb hat Martin Gierl als eine Wegbereiterin der aufgeklärten Kultur der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen aufgearbeitet: Gierl, Pietismus und Auf klärung, S. 109 ff. 295 Der Zürcher Kirchenbehörde fiel ein Brief Hardmeyers an Locher als belastendes Dokument im Pietistenprozess von 1698 in die Hand, in welchem der Bonstetter Pfarrer eine mehrseitige bibliographische Liste über pietistische Streitschriften erstellt und anmerkt, welche Schriften er bereits kenne. Siehe St AZ E I 8.5, Nr. 8. »[…] Es ist auch vorhanden ein Catalogus aller Pietistischen und ihrer Widerpart Schriften den He. Hart-M. eigenhändig geschrieben, mit andeütung derer so He Locher noch manglen.« 296 Spener, Die ewige Geburt | Des | Sohnes Gottes | Aus dem | Wesen des Vaters/ | Auf den dritten Christ=Feyertag | den 27. Dec. 1693. | Aus dem ordentlichen Evangelio | Joh. I, 1–14. | Zu S. Nicolai in Berlin | betrachtet/ | Und auff Christlicher Hertzen | Verlangen zum Druck überlassen | von Philipp Jacob Spenern/ | D. Churf l. Brandenb. Cons. Rath und | Probsten in Berlin, Berlin 1694 [HAB Wolfenbüttel M: Ts 289 (4)]. 297 Gröschel-Willberg, Christian Hoburg und Joachim Betke, S. 3.

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Ebenso hat die scharfe Kritik, welche Breckling und Hoburg298 an Kirche und Gesellschaft üben, ihren Ursprung zum großen Teil in Böhmes Schriften. Und schließlich ist die voluntaristische Wiedergeburtslehre Hoburgs ein charakteristisches Merkmal jenes Gedankengutes. Halten wir zum Abschluss dieses Abschnittes die ersten Erkenntnisse nochmals fest: Ich habe Johann Heinrich Locher und seine Lesetätigkeit anhand des Literaturkomplexes in der Tradition des zentralen Erbauungsbuch von Johann Arndt beleuchtet. Drei Glaubensprobleme, die sich ihm stellten, konnte er mit Hilfe des Wahren Christentums und mit Schriften auf welchen dieses basiert, bewältigen. Arndt leitete ihn auf eine überkonfessionelle und irenische Ebene, indem er ihn ein tätiges, moralgeleitetes Christentum lehrte. Und Arndt wies ihm den Weg zur Mystik. Die rheinischen Mystiker zeigten Locher, dass das tätige (werkethische) Christentum nicht Selbstzweck, sondern lediglich Ausf luss des Glaubens ist. Christentum wurde für den Zürcher nun zu einem individuellen, psychologischen Prozess, der von der Dualität zwischen guten und sündigen Charaktereigenschaften geleitet ist (Adam und Christus in mir) und in der Wiedergeburt mündet. Mystik heißt aber auch, dass das Individuum seinen Heilsweg selbstbestimmt in die Hand nehmen kann: Der Wille wird frei und die protestantische Erbsündentheorie radikal umgedeutet. Bei Paracelsus erfährt Johann Heinrich Locher anschließend, wie der introvertierte mystische Glauben mit der Außenwelt und dem realen Alltag in Bezug gesetzt werden kann. Die Brücke schlägt eine Mikro-/Makrokosmos-Entsprechung, die bei Weigel zusätzlich durch eine pantheistische Allgegenwart eines geistig-göttlichen Prinzips aufrechterhalten und zum mystischen Spiritualismus ausgebaut wird. Der mystischen Selbst- und Weltbetrachtung geben schließlich die »linken« Arndtianer weitere Konturen: Ein Optikwechsel findet statt, indem die Welt nicht in mystischer Kontemplation verlassen wird, sondern aus dem Anspruch der Wiedergeburt Maßstab an die Welt angelegt wird. Mystik wird zur Basis einer harschen Kirchen- und Weltkritik, so dass zu fragen bleibt, ob nicht das religiöse Programm eines Hoburg für Lochers pietistisches Denken konstitutiver war, als dasjenige Speners.

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F. Ernest Stoeff ler ist hingegen der Auffassung, der Einf luss Böhmes auf Hoburg sei nur gering gewesen. Vgl.: Stoeffler, The Rise of Evangelical Pietism, S. 169.

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2.3 Der alte und neue Mensch: Jakob Böhme 2.3.1 Jakob Böhme Die mystischen Werke, welche sich Johann Heinrich Locher durch die Lektüre Johann Arndts erschlossen hatte, lösten bei ihm eine durch den Intellekt initiierte Wiedergeburt aus. Noch war aber Lochers neuer Glaube nicht gefestigt und wurde durch alltägliche Geschäfte immer wieder von neuem bedroht. Ich zitiere hier nochmals die Passage, die Lochers Konf likt mit der mystischen Kontemplation einerseits und der kaufmännischen Aktivität andererseits zum Gegenstand hat. Wie gezeigt, fand diese Antinomie im Denken des Paracelsus’ Ansätze zu einer Vermittlung. Dies gilt nun auch explizit für Jakob Böhme: Nachdem Ich nun erkanndte den eigentlichen Willen unseres Godtes, ließe Ich mich nit mehr von menschen Irr machen, sonder trachtete solche wahrheit in mir zu bevestigen, will Ich aber immerzu auch mit zimlich vilen Welt-geschäfften beladen ware, durch welche meine schwache gedechtnus, das Schon gefaßete unachtsamblich wider verlohre, bef liße ich mich meine Ruwstunden mit lesung solcher Schrifften und bücheren zu zubringen, welche mir die gemeinschafft Jesu Christi kräfftig beÿbringen und die H. Bibel: Schrifft uns menschen verheißene himlische Schätz und Reichthümber beßer zu lehren erkennen tüchtig sein mochten; Unter welchen ich das von Godt hochErlüchteten Jacob Böhms bücher sehr dienstlich fand, deswegen ich solche mit großem ÿfer und aufmerksambkeit lase […].299

In knappen Sätzen skizziert Locher hier nochmals die wichtigsten Erkenntnisse seines Studiums der Mystiker: Es geht ihm darum, den tatsächlichen Willen Gottes zu entdecken, dies ist ein erfahrbarer Prozess, der im Innern des Menschen stattfindet und auch dort gefestigt werden muss. Die Erfahrung des wirkenden Willens Gottes ist ein subjektiver Vorgang und kann anscheinend nicht aus der äußeren Welt bezogen werden. Im Gegenteil: Sich nicht durch die äußere Welt beeinf lussen zu lassen, ist die Voraussetzung für die Bekanntschaft mit dem wahren Willen Gottes. Nun kann aber die objektive Welt nicht ausgeblendet werden. Locher muss seine tägliche Arbeit verrichten. Die Tagesgeschäfte sind – wenn nicht Antipode zur inneren Erkenntnis Gottes – so doch eine Gefahr, dass die innere Erkenntnis wieder verschüttet werden könnte. Die Lektüre dient Locher als Mittel zur Festigung seiner mystischen Erfahrungen. Er konstruiert eine Lesewelt als Gegenwelt. Der zentrale Autor in seinen Bemühungen, seine innerliche Gotteserkenntnis aufrecht zu erhalten, ist Jakob Böhme (1575–1624). Böhmes Theosophie erlaubt ihm die innere 299 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 10 f.

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Religiosität mit der »Welt« in einen harmonischen Einklang zu bringen – oder wie es ein Kritiker ausdrückte: Böhme vermenge in ungebührlicher Weise das Christentum mit einer Kosmogonie und spekulativen Naturerklärungen. Dass Johann Heinrich Locher auf die Werke des »Philosophus Teutonicus« stieß, ist kein göttliches Wunder mehr, wie er dies noch bei der Entdeckung Johann Arndts und der Mystiker erlebte. Locher hat nun seine Wiedergeburt erlebt, das göttliche Wunder an ihm ist geschehen. Von Jakob Böhme heißt es bloß noch, er sei von Gott hoch erleuchtet. Den Werken des Görlitzer Schuhmachers kommt somit primär eine stabilisierende und festigende Funktion zu. Sie stießen Locher nicht mehr das Tor zu einer neuen Welt auf, wie dies die Werke Johann Arndts, des Thomas von Kempen oder Taulers bewirkten. Böhmes Schriften scheinen ihm eher seine Weltanschauung abgerundet zu haben und zum Zentrum seines Denkens geworden zu sein – auch wenn er selbst zugibt, dass ihm einiges an dessen Schriften unklar und dunkel sei. Die Begeisterung für die Bücher Jakob Böhmes teilte Johann Heinrich Locher in Venedig über die Konfessionsschranken hinweg mit drei weiteren Personen: Erstens mit einem lutherischen Kaufmann, dessen Identität Locher nicht preis gibt, zweitens mit einem katholischen »Sprachmeister«, bei dem es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um Peter Erich oder latinisiert Petrus Ericus handelt, und drittens mit dem Bündner Dr. Nikolaus Zaff. Besonders die letztgenannte Person des Lesezirkels scheint auf Johann Heinrich Locher großen Einf luss genommen zu haben. Nikolaus Zaff dürfte es gewesen sein, der ihm die Werke Böhmes näher gebracht hat, der ihn in der schwierigen und dunklen Lektüre des Mysterium Magnum unterwies, zum beharrlichen Studium ermunterte, anspornte und ihm Mut machte, damit er das Werk nicht vorzeitig aus den Händen legte. Noch dreißig Jahre später erinnert sich Johann Heinrich Locher in Dankbarkeit an Nikolaus Zaff und schreibt in seinem freimütigen Glaubensbekenntnis über ihn und die damalige Böhme-Lektüre: […] dieser [= Nikolaus Zaff ] bezeügete mir, daß Jacob Böhms mysterium magnum Zehne in Eilf mahl durchlesen habe, und könne es nit genugsamb lesen, dann Er jedes mahle neüwe geheimbnußen finde, die Er zuvor nit gewahret habe, also hatte Er mich zu lesung und ernstlicher erdauerung dieses Seligen Jacob Böhms Schrifften angemahnet.300

Wer war dieser Bündner, der einen solch großen Einf luss auf Johann Heinrich Locher ausübte? Aus dem Glaubensbekenntnis geht bloß hervor, dass Nikolaus Zaff in Zürich studiert hatte und zum Theologen ausgebildet worden war und danach den Reformierten in Venedig predigte.301 300 301

Ebd., S. 12. Ebd., S. 12.

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Nikolaus Zaff weilte bis 1672 in Venedig, wo er als »Geheimprediger« der Evangelischen gewirkt haben soll. Er stammte aus der Engadiner Gemeinde Sils. Sein Geburtsjahr ist nicht bekannt. Er besuchte in Zürich die Lateinschule und sein Name taucht erstmals 1638 in den Zürcher Acta Scholastica auf. Bis Herbst 1644 studierte er in Zürich, anschließend war er als Hauslehrer in Niederösterreich bei Freiherrn Viktor von Althan tätig. Von 1649 bis 51 wirkte er in seiner Heimatgemeinde Sils als Pfarrer. Dann verliert sich seine Spur, bis er 1654 in den Matrikeln der Universität von Padua auftaucht. Es wird vermutet, dass er in Padua die Doktorwürde in Medizin erlangte. Danach muss er einige Jahre in Venedig gewirkt haben, denn ab 1672 finden wir ihn für zwei Jahre als Pfarrer in Castasegna. Später reiste Nikolaus Zaff erneut nach Venedig, wo er eine Art »Hilfswerkkoordination« einrichtete, die sich in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Rat dank Spenden aus der Kaufmannschaft um protestantische Glaubensgenossen aus Ungarn kümmerte, die zu Galeerenstrafen verurteilt worden waren.302 Nikolaus Zaff war der älteste eines Geschlechtes, das in drei Generationen sechs Pfarrer stellte. J. Jürgen Seidel zählt mehrere Mitglieder der Familie Zaff zum Kreis des Bündner Pietismus.303 Es ist in Anbetracht des Böhme-Anhängers zu vermuten, dass die pietistische Fami lientradition der Zaffs bereits bei Nikolaus Zaff dem Älteren ihren Ausgang nahm, was bedeuten könnte, dass die Anfänge des Pietismus in Graubünden nochmals um einiges früher zu veranschlagen wären, als dies Seidel bereits nachgewiesen hat. 2.3.1.1 Mysterium Magnum Die Gemeinschaft mit Jesus suchte Johann Heinrich Locher in der Lektüre. Er erhoffte sich, die den »Menschen verheißenen himlischen Schätze und Reichthümber«, die in der heiligen Schrift verborgen liegen, aus dem Mysterium Magnum erschließen zu können. Das Werk Jakob Böhmes fand er für sein Vorhaben geeignet: deswegen ich solche mit großem ÿfer und aufmerksambkeit lase, und zwar mit solcher absicht, daß ich die darinn enthaltene gar hoch und tiffe geheimbnußen, welche ich nit fassen könte ohen beurtheilung stehen ließe, bis mir Godt nach seinem H: Willen mehrere Erkandtnus und auffschließung geben möchte, und mich dem so ich wol begreiffen und verstehen könte, Sedtigte, und Godt darfür danken.304 302

Truog, Ein ausgestorbenes Geschlecht aus dem Engadin, S. 159–162. Seidel, Die Anfänge des Pietismus in Graubünden, S. 565 f. 304 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 11. 303

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Doch das Buch handelte nicht bloß vom großen verborgenen Geheimnis Gottes; das Buch war selbst ein Mysterium. Göttliche Intervention ist der Schlüssel: Zum richtigen Verständnis Jakob Böhmes bedarf es der höheren Offenbarung. Nur die Würdigen und Wiedergeborenen können in die Symbole und Allegorien des Werks eindringen. Die Geheimnisse der Schrift bleiben somit einzig den Eingeweihten vorbehalten, die den göttlichen Geist besitzen. Demütige Beharrlichkeit und der Geist der Wiedergeburt machen die Einweihung in das Lesemysterium möglich: den wahren Verstand der kryptischen Werke über das verborgene Wesen und die geheimen Eigenschaften Gottes. Die Uneingeweihten bleiben dagegen von der tieferen Erkenntnis ausgeschlossen.305 Welche »himmlische Reichtümmer« wurden Johann Heinrich Locher durch diese Schrift erschlossen? Das Mysterium Magnum306 ist eines der letzten Werke Böhmes, das er im September 1623 etwas mehr als ein Jahr vor seinem Tod fertigstellte. Es ist das umfangreichste Werk seines Schaffens, wurde aber wenig beachtet. Das Buch ist eine Interpretation der Schöpfungsgeschichte. Sie unterliegt dem methodischen Ansatz, der bereits bei der Erörterung der mystischen Epistemologie anzutreffen war: Dem Autor kommt es nicht auf eine sogenannt »schriftmäßige« Auslegung nach hermeneutischen Grundsätzen an, sondern auf eine Auslegung durch den Geist. Aber nur ein Wiedergeborener ist der Anschauung im Geiste fähig. Nur der gelassene Wille eines Wiedergeborenen kommt demnach zur »Schaulichkeit«, zum inneren Schauen oder Erkennen durch das Wort und Wirken Gottes (MM 67.14). Gegen mögliche Kritiker an seiner Erkenntnisgrundlage wendet Jakob Böhme vorsorglich ein: »Und soll uns niemand für unwissend ausschreyen, denn ob ichs wol nicht weiß, so weiß es aber Christus in mir, aus welcher Wissenschaft ich schreiben soll« 305 Ebeling, »Geheimnis« und »Geheimhaltung«, S. 74 f. Das Denken in einem esoterischen, geschlossenen System ist auch in unserer Zeit noch anzutreffen. Andreas Gauger beispielsweise drückt in seiner Böhme-Studie in der Vorbemerkung die Überzeugung aus, dass die Mystik Böhmes nur aus sich selbst erfasst werden könne: »Dabei ist der Hauptzugang zum metaphysischen System Böhmes nur dort möglich, wo Böhme innerhalb seiner eigenen Voraussetzungen (weniger kulturhistorischer, als vielmehr auch geistiger Art) erfasst wird.« Gauger, Jakob Böhme und das Wesen seiner Mystik, S. 9. 306 Böhme, Mysterium Magnum, | oder | Erklärung | über | Das Erste Buch Mosis, | Von der Offenbarung Göttlichen Worts | durch die drey Principia Göttliches Wesens, | auch vom Ursprung der Welt und der Schöpfung, | Darinnen das Reich der Natur und das | Reich der Gnaden erklärt wird. || Zu mehrerem Verstande des Alten und | Neuen Testaments, was Adam und Christus sey; | und wie sich der Mensch im Licht der Natur selber erkennen | und betrachten soll, was Er sey, und worinnen sein | zeitliches und ewiges Leben auch seine Seligkeit | und Verdammniß stehe. | Eine Erklärung des Wesens | aller Wesen: | Den Liebhabern in Göttlicher Gabe weiter | nachzusinnen. | Angefangen zu schreiben noch vorm Jahr 1622. | und vollendet im Jahr 1623. | von | Jacob Böhmen. Gedruckt im Jahr ausgebornen grossen Heils | 1730 [Neuausgabe: Will-Erich Peuckert (Hg.), Stuttgart 21958].

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Abbildung 9: Frontispiz des Mysterium Magnum von 1730, das aus der Ausgabe von 1682 übernommen wurde. Die Gegenüberstellung von Moses mit dem Messias symbolisiert die Analogie der beiden Testamente. Der apokalyptische Engel mit der Posaune enthüllt das Angesicht Moses und verweist auf das Ende der Zeit, symbolisiert durch den Zodiak und Jesus mit der Lilie. [UB Basel Aleph F VI 30]

(MM 18.1). Böhme lässt sich in seiner Schriftauslegung von der paracelsischen Vorstellung leiten: Für ihn ist die unsichtbare geistige Welt in der sichtbaren äußerlichen oder stoff lichen Welt verborgen (MM Vorrede 1). Die äußere Welt sei die Offenbarung der inneren. Und das Innere sei das Verlorene, welches der Mensch suchen müsse (MM 10.1 u. 5). Das wiederum hat eine unmittelbare Auswirkung auf seinen Gottesbegriff: Gottes Wort, welches »durch und in den [sichtbaren] Elementen wohnet, und durch das empfindliche [äußerlich wahrnehmbare] Leben und Wesen wircket […]«, sei dem Sichtbaren und Stoff lichen verborgen (Vorwort 2/1). Es307 ist ein unsichtbares Wesen einer unbegreif lichen Kraft, die in den 307 Der Begriff Wort (»das ewig-sprechende Wort«) ist hier – im Sinne der Schöpfung durch das Wort – als ein kontinuierlich bewegendes göttliches Prinzips zu verstehen. Vgl.: Wehr, Jakob Böhme – Geistige Schau und Christuserkenntnis, S. 40.

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wahrnehmbaren Dingen wirkt. In pantheistischer Weise folgert er, Gott könne nicht anders gedacht werden, als der innere und verborgene Grund aller Wesen. Er mildert aber die Aussage insofern sogleich ab, als er versichert, Gott sei nicht bloß auf die innere Wirkung zu reduzieren.308 Die sichtbare Welt ist demnach das ausgesprochene, geformte Wort Gottes.309 Eine Verdinglichung der ewigen Natur des Geistes. Diese Vorstellung folgt dem neuplatonischen Ansatz, wonach das Vergängliche und Bewegte, das Stoff lich-Wahrnehmbare eine Emanation des ewigen immateriellen unsichtbaren Gottes ist. Die in der sichtbaren Welt verborgene, geistliche Welt stellt nun für Böhme das große Mysterium dar. Das Verborgene bleibe den menschlichen Sinnesorganen unzugänglich. Aber im Menschen finde sich ein Funke dieser verborgenen geistigen Kraft, weshalb der Mensch im Grund der Seele befähigt ist, die großen Geheimnisse der Welt, oder wie Böhme es nannte, das Mysterium magnum zu verstehen (MM Vor. 9). Das Werk handelt von der Erkenntnis mittels des inneren Auges, dessen sich nur diejenigen bedienen könnten, die sich von weltlichen Einf lüssen befreit hätten. Abgehandelt wird die wahre Erkenntnis Gottes, welche in der Erkenntnis des Vergänglichen und Stofflichen und des Unvergänglichen und Verborgenen in der Natur beruhe (MM Vor. 11). Dieses Vorhaben wird nun in der Auslegung des ersten Buches Mose eingelöst, denn Böhme ist überzeugt, dass analog zur Dualität der sichtbaren und verborgenen Natur auch die Bibel eine duale Struktur aufweise. Das Alte Testament sei ein Vorbild (eine Figura) des Neuen Testamentes (MM Vor. 12). Das heißt, im alten Testament seien die wahren christlichen Erkenntnisse über den menschlichen Urzustand, den Sündenfall, die Wiederbringung, den ersten Adam und über die Wiedergeburt als verborgene Weisheiten enthalten. Böhme ist der Ansicht, dass nun die Zeit der Offenbarung dieser in der Genesis verborgenen Mysterien gekommen sei (MM Vor. 16)! Die Weltanschauung Jakob Böhmes ist durch die Dualität beherrscht. Diese ist im ersten Schöpfungsakt Gottes angelegt. Durch Gottes Wort »es werde Licht« sei auch die Begierde und der freie Wille geschaffen und das Feuer angezündet worden, welches Licht und Finsternis trenne und das Gute durch das Böse offenbare (MM 3.2). Das Feuer scheide zwei Reiche (MM 4.1): Einerseits die Lichtwelt, welche für Gottes Liebe, Demut und Gelassenheit stehe, und andererseits die Welt der Finsternis, bestehend aus dem Zorn. Die Schöpfung des Himmels und der äußeren Welt begründe 308 Gerhard Wehr glaubt, Jakob Böhme gegen den Pantheismus-Vorwurf verteidigen zu müssen, indem er dessen geistigen Pantheismus von Spinozas Pantheismuskonzeption abgrenzt, welche Gott als Grundsubstanz der Natur einverleibt. Wehr, Jakob Böhme, S. 90 f. 309 Zum Materieproblem bei Jakob Böhme vgl.: Deghye, Die Natur als Leib Gottes, S. 71–111.

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den Gegensatz zwischen Innerlich und Äußerlich, zwischen dem Verborgenen und dem sensitiv Wahrnehmbaren (MM 10.52). Die Dualitäten werden im Verlauf der Schrift von biblischen Geschwisterpaaren symbolisiert, beispielsweise durch Kain und Abel: Durch den Sündenfall habe der Mensch seine androgyne Urnatur verloren. Die Bildung weiblicher und männlicher Prinzipien habe zum Verlust der Ebenbildlichkeit Gottes im Menschen geführt. »Irdigkeit«, Eigenwille und Eitelkeit seien an deren Platz getreten. Deshalb gebar Eva zum ersten Mal einen eigenwilligen, hoffärtigen Mörder, nämlich Kain (MM 19.8 ff.). Die Geschichte von Kain und Abel übersetzt Böhme nun in die Dualität zwischen Adam und Christus, wie sie uns bereits in der Theologia Deutsch begegnet ist: Kain suchte die irdische Welt zu beherrschen, Abel dagegen suchte die Liebe Gottes (MM 26.24). Kain war das Bild des ersten verdorbenen sündigen Adams, Abel dagegen ein Bild Christi, des anderen, himmlischen Adams (MM 26.21). »In dieser Welt=Geburt [= der Mensch nach dem Fall] liegen zwey Reiche offenbar, Als GOttes Liebe=Reich in Christo, und GOttes Zorn=Reich in Lucifer; In aller Creatur sind die zwey Reiche im Streit, denn im Streite ist der Urstand aller Geister, und im Streite des Feuers und des Licht offenbar« (MM 26.27). Diese zwei Reiche sind bei Böhme zwei in der Psyche des Menschen angelegte Prinzipien, die miteinander in Konf likt liegen. Er illustriert diesen Gedanken anhand der Zwillingsbrüder Jakob und Esau. Sie verkörpern für ihn die zwei Reiche, die gegeneinander streiten (MM 52.19–21). Es sei ein Streit zwischen Jakobs Geist Gottes und Esaus ›adamitischem‹ Geist im Menschen. Der innere schmerzhafte Kampf werde in der Bibel durch die Schwangerschaftsbeschwerden Rebekkas, der Mutter der beiden Zwillinge, symbolisiert (MM 52.31). Das Glaubensbekenntnis Johann Heinrich Lochers baut genau auf diesem Bild des durch Kain und Abel oder Esau und Jakob personifizierten Antagonismus in der menschlichen Psyche auf. Über weite Strecken schildert er seine Vorstellung von der Wiedergeburt als ein Ringen mit diesem Antagonismus: Wie nun Kain in unß den Habel in unß tödet, also soll Ihme wider tödung geschehen: Oug umb Oug, Zahn umb Zahn, wund umb wund, blut umb blut. Coll 3. V. 5. So töden nun Eüwere glider die auf erden sind (die Kainsche Eigenschafft) Item V. 8. leget alles ab von eüch den grimm, Zorn, boßheit, Schandbar worth, liegen nit und nimanden, ziehen auß dem alten menschen (die Esaitischen Eigenschafft) mit seinen werken, und zichen den neüwen an (die Jacobischen Sünden übertreterische Eigenschafft des Schlangentredters Christi) der da vernüwert wird zu der Erkanntnus nach dem Ebenbild deßen der Ihn geschaffen hat.310 310 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 18.

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Johann Heinrich Locher interpretiert das 1. Buch Moses somit in Anlehnung an Jakob Böhme. Die Wiedergeburt bedeutet ihm einen Wandel des menschlichen Wesens, indem der Antagonismus überwunden wird. Auffallend ist hier, dass er Kain und Esau, Abel und Jakob synonym verwendet. Er rezipiert hier eindeutig das Mysterium Magnum, dagegen wirkt seine Bibelinterpretation aufgesetzt. Es scheint eher, dass die Bibelzitate herhalten müssen, um sein angelesenes Weltbild transportieren zu können. Der innere Gegensatz zwischen den Eigenschaften, die Jakob und Esau personifizieren, wird zudem auch in der Welt ausgetragen. Gleich zu Beginn des zweiten Teils, dort, wo das Biographische in sein theologisches Bekenntnis übergeht, ist die Anlehnung an Jakob Böhme greif bar: Der häuffige Streith zwüschendt der alten geburdt und der neüwen geburdt, dem alten und neüwen menschen des f leisches und des Geistes ist mir und allen darum die augen des Geistes geöffnet sind klar vorgestellt in folgenden Schriftorthen: Gen 25. V. 23 sprach der Herr zu Rebecca Zweÿ Völker sind in deinem leibe, vnd Zweyerleÿ Leüth werdend sich Scheiden aus deinem Leibe, vnd ein volk wird dem anderen überlegen sein, vnd der größere wird dem Kleineren dienen. 311

Die mit den Zwillingen schwangere Rebekka der Bibel, die als äußeres Zeichen für die zwei antagonistischen Eigenschaften der Menschen steht, ist zweifellos dem Mysterium Magnum entlehnt. Auch der nachfolgende Gedanke, wonach mit der Geburt der beiden Knaben der Antagonismus auch in der Welt ausgetragen wird, geht auf Böhme zurück. Er gebraucht für die Auseinandersetzung zwischen den vielen »Weltkindern« und den wenigen »Kindern Gottes« das Bild des biblischen Kampfes zwischen den beiden Völkern, mit den Stammvätern Jakob einerseits – welcher den Geist Christi verkörpert – und Esau andererseits, der den »adamischen« Geist verkörpert. An dieser Stelle im Mysterium Magnum ist auch die individuelle eschatologische Hoffnung anzutreffen, dass das Reich der Natur dem Reich der Gnade im Menschen untertan werden solle (MM 52.29 f.). Dabei müsse, so Böhme, die (scholastische) Vernunft gebrochen werden, damit der Geist Gottes das natürliche Reich untertan machen könne (MM 52.33). Die zwei Textstellen aus dem freimütigen Glaubensbekenntnis, welche exemplarisch die Grunddisposition des theologischen Teils dieser Flugschrift wiedergeben, belegen deutlich, wie stark sich das Denken Johann Heinrich Lochers an Vorstellungen und Bildern aus dem Werk Jakob Böhmes orientiert. Dieser Konf likt zwischen den beiden Prinzipien wird als eine menschliche Anlage aufgefasst. Doch der Mensch ist nach Böhmes Auffassung nicht ein passiver Gefangener dieses inneren Ringens um ein an ethischen 311

Ebd., S. 12 f.

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Maßstäben ausgerichtetes Leben: Werde nämlich der Brudermord Kains an Abel mit göttlichen Augen betrachtet, so sei dieser nicht aus göttlichem Vorsatz (»Fürsatz«) geschehen, wie dies die orthodoxe Vernunft-Erkenntnis weis machen wolle. Kain war somit nicht zur Verdammnis prädestiniert. Gott habe die Menschen nicht von vornherein in Verdammte und Erwählte eingeteilt (MM 26.4 f. u. 22). Im Mysterium Magnum wird die Prädestinations- oder Gnadenwahllehre strikt als ein uninspirierter Vernunftschluss abgelehnt: der menschliche Wille ist nach Böhmes Dafürhalten frei (MM 26.6). Und der freie Wille könne zwischen der Liebe Gottes und dem Zorn wählen (MM 26.10). »Und ist uns alhie recht zu erkennen, wie GOttes Liebe und Zorn […] in stetem Streite sey: Denn das Zorn=Ens wird vom Teufel gerüget und getrieben, und will stets das Liebe=Ente [= Ens] besitzen. Das Zorn=Ens will den Menschen haben, denn es hat seinen König am Lucifer« (MM 26.18 f.). Und so habe Kains freier Wille das falsche Prinzip gewählt – den Mordwillen, den Willen des Teufels (MM 26.20). Es sei der freie menschliche Wille, der die bösen menschlichen Eigenschaften ausmache, der zu Eigenliebe und Selbstsucht tendiere und die Seele verdamme (MM 40.32). Die Prädestination hingegen sei eitles Geschwätz und nichtig. (MM 40.49 ff. u. 67 ff.). Denn laut Prädestinationsund Gnadenwahllehre gäbe es in der Natur und im menschlichen Wesen keine Freiheit. Alles was der Mensch tun würde, müsse gemäß der Prädestinationslehre unvermeidlich geschehen, ob er nun morde, raube oder Gott lästere. Und diese Grundannahme, so folgert Böhme, müsste sämtliche Gebote und alle Gesetze nutzlos erscheinen lassen. Denn nur weil der Mensch einen freien Willen habe, könne er von Gott gerichtet werden. Wäre der Mensch hingegen an eine göttliche Determination gebunden, so könnte er nicht gerichtet werden (MM 26.54–56). »Jedes Ding hat Gutes und Böses in sich, [… Es] ist aber frey, und kann schöpfen aus Liebe und Zorn.« Allein aus diesem Grund habe Gott die Gesetze gegeben. Wer nun dagegen handle, der habe das Gericht in sich (MM 26.64 f.). – Mit dem Gericht in sich meint Böhme wohl das individuelle Gewissen. Auch ein Kernstück der spiritualistischen Religiosität, die Buße, hätte gemäß Böhme im Prädestinationsglauben keine echte Funktion. Deshalb steht für ihn fest: Wer die Prädestination lehre, der entheilige Gott (MM 40.50 f.). Böhme lehnt die deterministische Prädestinationslehre zugunsten eines individuellen, selbstbestimmten Heilswegs ab. Konsequenterweise gestaltet er auch die protestantische Erbsündentheorie radikal um: Der Mensch habe im Sündenfall die innere Ebenbildlichkeit mit Gott, das geistige Prinzip, verloren, das irdische von Eigenwille und Eitelkeit geleitete Prinzip sei danach an dessen Platz getreten. Der erste in Adam eingehauchte Wille sei gut gewesen, aber im irdischen Leib sei die teuf lische Eigenliebe (»Sucht, Selbstheit«) inbegriffen gewesen. Daraus sei nach dem Sünden-

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fall ein neuer Wille entstanden, der noch heute im Menschen vorherrsche (MM 26.66 ff.). Die Kraft der himmlischen Demut sei verblichen. Deshalb nun müsse der Mensch eine »vihische Eigenschaft« im Leibe tragen: Der Schrecken, die Angst und Not im Menschen seien groß (MM 20.26, 34 u. 38). Noch ist aber für Böhme nicht alles verloren, der göttliche »Liebe=Wille« habe Adam nicht ganz verlassen: »Daher ist das Reich der Neuen Geburt, daß das Englische Bild soll wiedergeboren werden, das GOtt in Adam hat geschaffen (MM 19.21).« Verdammnis oder Erwählung, irdischer und himmlischer Wille liegen als Potentiale in jedem Menschen. Der alte, erste, göttliche Wille sei als Keim noch in allen Menschen vorhanden. Diese wahre Seele sei aber durch die Selbstliebe (»Eigenheit«) gefangen- und niedergehalten. Dennoch gehöre allen Menschen das himmlische Gut der Gnade, sobald der »Schlangische Eigen=Wille wird ausgestossen«. Der Eigenwille und die groben »vihischen Eigenschaften« müssten verlassen werden (MM 40.42 f.). Darum solle der Mensch die »Eigenheit« überwinden und sein Wollen in Christus setzen, damit der Prozess zur neuen Geburt in Gang gesetzt werde (MM 26.66–74). Nur der »gelassene und verlassene« Wille, die bloße Seele, werde von Gott angenommen (MM 72.8 f.). Und es komme zu einer Einwohnung Gottes, er spreche dann seine Kraft in die Seele ein. In der neuen Geburt rede Gott »essentialiter« im Menschen mit dem Menschen (MM 72.13 u. 18). Böhme wertet die Erbsündentheorie komplett um. Sie ist nicht mehr ein über die ganze Menschheit verhängtes Urteil, sondern ein anthropologisches Prinzip und Teil der individuellen Psyche. Die Prädestinationslehre verwerfend ist er überzeugt, dass jeder Mensch in seinem Innern den Sündenfall überwinden kann. Er will die ursprüngliche, durch den Sündenfall verlorene Gleichförmigkeit und Harmonie des Menschen mit Gott zurückgewinnen. Der Mensch solle sich daher prüfen, ob das Leben, das Wort und das Licht in ihm seien. Und Paracelsus folgend meint er, der Mensch sei die kleine Welt und in ihm sei der Himmel (MM 2.5 f. u. 8 f.). »Gott wohnet durch alles, und wircket von Jnnen heraus«. Die göttlichen Eigenschaften Liebe und Zorn erkenne man in sich selbst. »Oben ist soviel als innen« (MM 43.1–4 u. 9). Radikal wendet Jakob Böhme schließlich seine Wiedergeburtskonzeption ins Überkonfessionelle; er ist überzeugt, dass alle Wiedergeborenen – ob Juden oder Heiden – die Gnade erlangen können (MM 40.52). Einen Gedanken, den er letztlich bei Sebastian Franck entlehnt haben mag. Böhme denkt seine Konzeption des freien Willens konsequent zu Ende. Der synergistische Ansatz einer Wiedergeburtslehre, wie wir sie bei Hoburg streiften, ist schon im Mysterium Magnum angelegt. Der freie Wille ist für ihn die Kraft, welche den Prozess zur neuen Geburt in Bewegung setze. Das geht bereits aus dem Gesagten hervor, wonach der Mensch frei sei, zwischen dem Geistigen oder Irdischen zu wählen. Somit ist der menschliche

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Wille frei. Und der freie Wille kann zwischen der Liebe Gottes und dem Zorn wählen (MM 26.10). Es bedarf ganz offensichtlich nicht einzig eines Gnadengeschenks Gottes, um der Welt entsagen zu können. Die Einwohnung Gottes setzt eine willentliche, selbstbestimmte Hinwendung zu Gott voraus. Entsprechend wandelt sich auch die Böhmesche Psychologie. Das Gemüt ist bei ihm nicht mehr ein passiver Abgrund, in welchem das Abbild Gottes durch göttliche Fügung wiederersteht, wie dies beispielsweise Tauler definierte. Das Gemüt wird nun zum bestimmenden und bewegenden Willen: Das menschliche Gemüt sei ein »unsichtbares ungreif liches Quell=Feuer« und Ursache des Lebens. Das Gemüt ist nicht das Leben selbst, sondern der Wille des Lebens. Das Gemüt habe dem Körper voraus, dass es den Leib erkennen, begreifen und führen könne (MM Vor. 2). So wie Kain und Abel für ein irdisches und himmlisches Prinzip stehen, so würden sie auch zwei Arten von Kirchen symbolisieren. Es gebe zwei Kirchen auf der Welt: Die eine suche weltliche Wollust, Macht, Ehre und den äußeren Gott. Die andere suche Gottes Reich und werde von der »Cainschen Kirchen« verfolgt, verspottet und verhöhnt (MM 26.25). Auf dieser Basis hebt nun Jakob Böhme zu einer rigorosen Kirchenkritik an. Der babylonische Turmbau dient ihm dazu als biblische Chiffre: Der Turm sei ein Sinnbild für den abgefallenen sensualistischen Menschen. Er sei ein biblisches Symbol der Vernunftsgelehrten und des äußerlichen Gottesdienstes. Er sei ein Symbol für die Herrschaft des Antichristen und der Finsternis. Die Kirche sei die Wohnung des Teufels. Deshalb bekleide sie sich mit dem äußerlichen »buchstabischen« Wort und rufe: Hier ist die Kirche Gottes. Die Kirche sei ein Monstrum, halb Teufel, halb Vieh. »In diese Hure der Selbheit [= des Egoismus], haben sich alle falsche Geistlichen gekleidet.« Aus dem Buchstabenglauben sei schließlich auch die Glaubensspaltung entstanden. Denn der Buchstabe töte. Der äußere Gottesdienst sei nur eine »Abgötterey und eine Heucheley«. Der Mensch solle eins in Gott bleiben, so entstehe kein (Glaubens-)Streit. Denn der Streit drehe sich nur um Bilder und steinerne Häuser. Die babylonische Hure, das Tier der Apokalypse, sei nun am Ende, und die Sekten würden fallen (MM 36.4–69). Nach Böhmes Dafürhalten sind alle Konfessionskirchen bloß Sekten und Kains-Kirchen, welche immerzu die Kinder Gottes morden würden (27.57 f.). Das weltliche Trachten der Kirche hat weiterreichende Konsequenzen für die Welt. Die Menschen würden eitel und egoistisch nach Herrschaft streben, weshalb der Teufel Oberhand habe und Kriege sich aus der finsteren Welt entfalteten (MM 38.1–8). Ja, alle Kriege hätten ihre Ursache (»urständen«) in Gottes Zorn (MM 22.73). Diese seien eine »Zornes-Rute Gottes« und ein Missbrauch der Macht: »Kein Regent kann Blut vergiessen aus eigener Macht, darum auch die Tyranney wieder Gottes Ordnung laufft« (MM 33.16 f.). Jakob Böhmes pazifistische Einstellung geht an diesem

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Punkt in eine radikale Sozialkritik über: Das Reich der Natur, die weltliche Gesinnung, habe sich eigenmächtig zur Herrschaft aufgeschwungen. Die »vihischen« Eigenschaften würden dem Menschen »die Herrschung, da ein Mensch über den andern herrschet,« vorgeben, dabei sollte doch eigentlich der innere Mensch über den äußern herrschen (MM 33.7–11). Denn Gott kenne nach Böhme weder Herrn noch Knecht, weder Edle und Unedle, er habe alle Menschen gleich gemacht. Und er habe die Güter allen gemeinsam gegeben und niemanden bevorzugt (»keine Person angesehen«). Kurz: »daß keiner über den anderen herrschen solte« (MM 33.5 f.). Jakob Böhme ist daher überzeugt, dass ein wahrer Christ in dieser Welt kein Eigentum habe. Er herrsche bloß als ein Diener seines Herrn über die irdischen Güter (»das Zeitliche«). Er wandle in Christi Fußstapfen und habe Gottes Reich im Innern. Darum sei der Adel nicht von (aus) Gott, denn Christus war arm: Die Teilung der Menschen in Adel und Leibeigenschaft sei heidnisch – »teufels Hoffart und Eigenwille« (MM 66.3–5 u. 18 ff.). Jakob Böhme wollte aber seine Betrachtung der Welt nicht bei dieser pessimistischen Sozialkritik stehen lassen, in welcher das schlechte, finstere Prinzip über das gute, helle dominiert. Er war überzeugt, dass das Ende der Welt nahe sei, und Christus dem Licht-Prinzip zum Durchbruch verhelfen werde. Will-Erich Peuckert brachte dies im Vorwort zur Faksimile-Ausgabe in der Vermutung auf den Punkt: »es scheint, als habe er [= Böhme] sich mit dem Mysterium Magnum in die endzeitliche Angst hineingeschrieben«312 . Böhme ist überzeugt, dass Gott jetzt wieder Propheten und Lehrer sende, damit die Welt vor der »Abgötterey« gewarnt werde und damit alle Kriege auf hörten (MM 63.3 f.). Gott spreche mit den Menschen in Gleichnissen und Figuren. Die Offenbarung derselben sei ein Zeichen der Wiederkunft Christi. Jakob Böhme ist überzeugt, dass seine geistige Schau Gottes313 und die Möglichkeit, den verborgenen Sinn hinter den äußerlichen Buchstaben des Genesis-Textes zu entschlüsseln, als ein Zeichen der baldigen Ankunft Christi zu werten seien. Eine Wiederkehr, die zugleich den Fall des f leischlichen Menschen bedeute (MM 47.30–33). Dieser Welt werde jetzt das Gericht angezeigt, denn es sei Gottes Grimm in ihr (MM 63.9 u. 33). Die irdisch gesinnten Menschen würden heute in 312

Peuckert, Einleitung in: Böhme, Mysterium Magnum, S. 11. Böhme beschreibt seine »Schau« in: AURORA [2. Seite:] Morgenröte im Aufgang/ | Das ist: | Die Wurtzel oder Mutter | Der | Philosophiae, Astrologiae | und Theosophiae, | Oder | Beschreibung der NATUR / | Wie | Alles gewesen und im Anfang worden ist: wie | die Natur und Elementa Creatürlich worden seynd; | auch von beyden Qualitäten Bösen und Guten woher alle | Dinge seinen Ursprung hat/ und wie es jetzt stehet und | würcket/ und wie es am Ende dieser Zeiten werden | wird: Auch wie Gottes und der Höllen Reich | beschaffen ist/ und wie die Menschen | in jedes creatürlich werden. | Alles aus rechtem Grunde/ in Erkäntnüß des Geistes | im Wallen mit Fleiß gestellt | Durch | Jacob Böhme, Amsterdam 1682 [ZB Zürich XVII 443], 19.5–15. 313

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Abbildung 10: Kupferstich aus dem Mysterium Magnum, 1682. »So ist alsdann die Turba geboren, welche, wann sie ihr Feuer anzunden wird, die Tenne gefeget werden soll, denn es ist das Ende aller Zeit.« (MM 30.46) Dreifaches Kreuz, Zornfeuer, Schwert und Rute künden vom Ende der Zeit. [ZB Zürich XVII 444]

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einer gefährlichen Zeit leben: »Wachet! der Bräutigam ist vor der Thür« (MM 73.18). Ein deutlicher Beweis ist ihm, dass die Kirche ihre erste Kraft (die Kraft des Urchristentums) verloren habe; sie sei zur Hure geworden (MM 63.45). Die steinernen Kirchen seien ein Zeichen, dass sich das geistliche Reich über die irdische Herrschaft setzen werde. Die weltlichen Monarchien seien scheinheilig (MM 32.35 ff.). Wie stellt sich Jakob Böhme diese Wiederkunft Christi vor? Das erste Paradies habe Luzifer durch seine böse Begierde vergiftet. Gott wolle aber die Menschen durch Christus erneut ins Paradies führen.314 Darum könne der Mensch durch Christus wiedergeboren werden und das Paradies im Geiste wieder erlangen. In der siebenten Zeit aber, in der Zeit der Offenbarung, würden der Teufel und sein böses Wesen ausgetrieben. Die Welt werde rein sein und die Zeit, wie sie vor dem Fall gewesen sei, werde wieder kommen (MM 17.7 ff.). Das Ende sei nahe, sobald das Reich Christi – der Trinität entsprechend – dreifach sei; womit Böhme auf die drei christlichen Konfessionen innerhalb seines Gesichtskreises anspielt (MM 30.45). – Die sechste Zeit habe nach dem Tod der Apostel begonnen (MM 30.41). Und die siebte Zeit beginne nun mit den Offenbarungen aller Geheimnisse. – Dann werde die »güldene Zeit« anbrechen (MM 30.34–46), und die Bekehrung der Juden sei nahe (MM 37.58–61). In dieser chiliastischen Vision Böhmes ist die Wiederbringungslehre, wie sie rund siebzig Jahre später Jane Leade und die philadelphische Bewegung entwickelten, bereits angelegt. Es lassen sich jedoch keine Anzeichen bei ihm ausmachen, dass er sich ein Tausendjähriges Reich erhoffte. Im Unterschied zu Jane Leades krassem Chiliasmus dürfte er eher einen milden Chiliasmus in ›Erwartung besserer Zeiten‹ vertreten haben.315 Johann Heinrich Locher erwähnte in seinem Glaubensbekenntnis die Kirchen- und Gesellschaftskritik Jakob Böhmes mit keinem Wort. Dies ist weiter nicht erstaunlich: Nach dem Pietistenprozess von 1698 entschloss er sich, »still zu sitzen« und der Obrigkeit keinen Anlass für weitere Repressalien zu liefern. Er wird sich also gehütet haben, sich in einem handkopierten Glaubensbekenntnis – auch wenn es anonym erschien – kritisch über Kirche und Obrigkeit auszulassen. Vielleicht war ja den damaligen eingeweihten Lesern der explizite Bezug des Bekenntnisses zum Mysterium Magnum bereits Chiffre genug für eine unausgesprochene Kritik. Wir 314 Diese Passage vom kommenden Paradies war beispielsweise für Ludwig Friedrich Gifftheil die entscheidende Stelle im Mysterium Magnum für seine Entwicklung zum Propheten der Endzeit. Vgl.: van Ingen, Böhme und Böhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, S. 20. 315 Vgl. Nils Thune in Anlehnung an ein Spener-Zitat: Thune, The Behemists and the Philadelphians, S. 78. Bereits der Lübecker Theologe und Pietismuskritiker August Pfeiffer unterschied im Antichiliasmus, S. 17 ff. den Chiliasmus in einen »groben« und »subtilen« Chiliasmus.

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haben jedoch genügend Anhaltspunkte, um sagen zu können, dass Böhmes Weltanschauung teilweise das Fundament für diejenige Lochers legte und seine bereits gewonnenen Vorstellungen und Denkweisen bestätigte. Zu erinnern ist hier einmal an sein Gespräch mit dem Bonstetter Pfarrer Hardmeyer über das Geld, in welchem sie ganz in Böhmescher Manier folgerten, dass nicht die selbst gewählte Armut entscheidend sei, sondern ob man den von Gott verliehenen Reichtum zu guten Zwecken gebrauche.316 Im Weiteren werden wir noch sehen, dass Locher sich einerseits stark mit chiliastischen Werken beschäftigte und sich in der Mitte der Neunzigerjahre intensiv mit der durch Jane Leade und dem Ehepaar Petersen verbreiteten Lehre der ›Wiederbringung aller Dinge‹ auseinandersetzte, und anderseits in der Prädestinationsfrage die ablehnende Haltung Jakob Böhmes vollständig teilte.317 Wie nachhaltig schließlich Jakob Böhme das Gedankengut Lochers prägte, kann an einer weiteren Schrift Lochers mit dem Titel Sophia abgelesen werden, welche ein Sammelsurium Böhmescher Gedanken ist. Ein Manuskript, dessen Sinn und Zweck im Dunkeln liegt, welches aber vermutlich auch unter Glaubensgenossen zirkulierte. Die Schrift handelt von der kosmologischen Überzeugung, die himmlische Weisheit Sophia habe in dieser Welt alles geordnet »in Persohn, Zeit und Orth; in Zahl, Gewicht und Maaß«.318 Über weite Strecken adaptierte Johann Heinrich Locher die Spekulationen Jakob Böhmes in seinem Selbstbekenntnis. Er machte diese Gedankengänge zu seinen eigenen. Jakob Böhme wurde ihm zum Zentrum des Denkens. Dieser Stellenwert mag auf die wichtige Rolle der Wiedergeburt im Mysterium Magnum zurückgeführt werden. Dabei ist zu beachten, dass das Werk im Unterschied zur mystischen Tradition den Fokus weniger auf den Prozess der Wiedergeburt in Stufenfolgen legt, sondern auf das Ringen des Menschen mit den guten und schlechten Charaktereigenschaften. Böhmes Auseinandersetzung mit der Wiedergeburt ist weder Erlebnisbericht noch Anleitung; er sucht vielmehr die Wiedergeburt philosophisch zu ergründen. Dies kam Johann Heinrich Lochers intellektuellem Zugang 316

Siehe Kap. 2.2.2.1. Ausgehend von der Esau-Jakob-Dualität äußert Locher beispielsweise seine Kritik an der Prädestinationslehre (die Herleitung derselben erscheint dem heutigen Leser nicht besonders stringent): »[…] und solchs lehrt auch der Geist Gottes durch die gantze heil: Schrift und sonderlich psalmen wie der, welcher geöffnete Ougen hat leicht sehen kan. Auss diesem erhellet sich wie die Lehr von der Ewigen Erwehlung vnd verwerffung vie vielen, so übel vnd unrecht gelehrt vnd verstanden werden, welche doch ein rechten verstand gantz recht ist, den Gott erzeigte sein Wolgefallen an Habel vnd an Kain Es spricht aber Gott zu Kain Gen: 4. V. 7 Wann du fromb bist, so bistu angenehm, bistu aber nit fromb so ruwet die Sünd vor der Thür. Aber lass du Ihr nit Ihren willen, sonder Herrsche über sie.« ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 14 f. 318 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 28 [»SOPhia«]. 317

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zur Wiedergeburt entgegen. Wir dürfen daher annehmen, dass Locher im Mysterium Magnum eher die Bestätigung seines Glaubens in einem rationalen, wenn auch spekulativen System suchte und in ihr weniger eine praktische Anleitung zum täglichen Glauben sah. Die Lektüre half ihm, sein Weltbild abzurunden und zu festigen. Die kosmologische und anthropologische Ausweitung der Theologie gab ihm einen systematischen Rahmen an die Hand, wie er außerhalb der hergebrachten Denkweise die Welt begreifen konnte. Böhmes Weltschau erlaubte ihm darüber hinaus, auch eine paracelsische Anthropologie, eine voluntative Wiedergeburtskonzeption, wie sie Hoburg vertrat, und eine spiritualistische Hermeneutik zu einem Ganzen zusammenzufügen. 2.3.1.2 Böhmes Wercke (1682) Betrachtet man das Konfiskationsregister, so weckt dies den Eindruck, als hätte Johann Heinrich Locher akribisch alles, was er von den Werken Jakob Böhmes greifen konnte, zusammengetragen 319. Das Register enthält eine eigene Rubrik für dessen Werke. Verzeichnet sind: zwei QuartBände in deutscher Sprache, sieben Quartbände in Holländisch, acht bis zehn Bände ohne Formatangabe von »alten Editionen« sowie sechs Oktavbände der Gichtel-Ausgabe von 1682.320 Bei den sieben holländischen Bänden handelt es sich um die von van Beyerland zwischen 1635 und 1643 übersetzten und mit Eigenmitteln zum Druck beförderten Ausgaben, die alle im Quart-Format erschienen.321 Sie setzten für längere Zeit den editorischen Maßstab, so dass beispielsweise die sogenannte Thorner BöhmeAusgabe von 1652 ff. streckenweise auf einer Rückübersetzung aus dem Holländischen basiert.322 Bei den beiden deutschsprachigen Quartbänden handelt es sich höchstwahrscheinlich um die in Amsterdam von van Beyerland zum Druck beförderte Erstausgabe des Mysterium Magnum in zwei Teilen von 1640. Nur mit dieser Ausgabe kann sich Johann Heinrich Locher in Venedig zwischen 1668 und 1674 beschäftigt haben. Eine weitere Auf lage 319 Ein Jahr nach seiner Hollandreise sandte Locher 1687 ein »Register über J[akob] B[öhme] T[eutonicus] Opera« nach Holland. Was es mit diesem Register auf sich hat, ist unbekannt. Vermutlich handelt es sich um eine Liste von Werken, die er gerne gehabt hätte. Wie auch immer, dies lässt immerhin den Rückschluss zu, dass sich Locher sehr systematisch mit den Schriften auseinandersetzte. ZB Zürich Ms. S276 Nr. 18, S. 7. 320 ZB Zürich, Ms. S 276 Nr. 12 [Die Konfiszierten Bücher Johann Heinrich Lochers]; ZB Zürich, Ms. S 276, Nr. 11. Auch wenn die Anzahl der Bände nicht mit derjenigen der Titel übereinstimmt, dürfen wir annehmen, dass Locher die vollständige Werkedition besaß, da diese, wie im 17. Jahrhundert nicht unüblich, ungebunden ausgeliefert wurde. Die Bandeinteilung oblag somit dem Käufer. 321 Buddecke, Die Jakob Böhme-Ausgaben, 2. Teil, S. 19–34. 322 van Ingen, Böhme und Böhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, S. 5; Kemp, Jakob Böhme in Holland, England und Frankreich, S. 215.

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dieses Werks ist erst wieder für 1678 nachgewiesen.323 Hinter der vagen Bezeichnung »alte Editionen« dürfen wir deutschsprachige Werke vermuten, die entweder ab den Fünfzigerjahren des 17. Jahrhunderts in Amsterdam bei Heinrich Betke erschienen sind oder aber um noch ältere Drucke. Über die Editions- und Distributionsgeschichte der Werkausgabe von 1682, welche von Gichtel besorgt wurde, ist Johann Heinrich Locher bestens orientiert. Als Locher seinen Freund Johann Kaspar Hardmeyer am 15. Juni 1694 in dessen Pfarrhaus in Bonstetten besuchte, kamen sie auf Loth Fischer zu sprechen. Der Besucher erzählte, wie er diesen kennen gelernt hatte und wie sie zu guten Freunden geworden waren. Diese Freundschaft ist eng mit der Böhme-Edition verwoben, weshalb der Erzähler seinen Bericht weitschweifig dort anhebt. In Holland wäre ein reicher Mann auß der […] Stadt gewesen, welcher einen reichen Bruder (der ohne Leibserben gestorben ware) geerbet, darüber einige gute Freünde Rahts erholet was Er mit Mamon allem beginnen solte? Die ausrichten, Er solte etwas zur Aufarbeitung der Schriften Jakob Böhmens anwendten, damit die zusamengetrukt wurden und an das Tageslicht komen; […].324

Johann Heinrich Locher nennt hier keinen Namen. Beim reichen Erben, der etwas Gottgefälliges mit all dem ererbten Geld anfangen wollte, und der seinen frisch gewonnenen Reichtum als »Mammon« betrachtete, handelt es sich offensichtlich um den Arnheimer Bürgermeister Willem Gozewijn Huygens, der die Gesamtausgabe mit einem beachtlichen Beitrag von 6000 Gulden erst ermöglichte.325 Dem Rat seiner Freunde folgend habe Er [= Huygens] eine gewüsse Anzahl Gelter aufgesezet, gewüßte Leuhte bestellet, die nach den böhmischen Schriften trachtet, den so viel in die Hände zu bringen, als vile man könete; was von eigner Hande des Jakob Böhme wäre, und wo man nicht gehaben möchte, solte wan stusen(?) in Abschrift so oft als möglich beÿzuschafen; als das geschehen, habe man die eigenhändigen Schriften Jakob Böhmens nach der Schrift in Wort und Cupfereien setzen und verfertigen lassen, ohne einige Änderung; Was aber nicht eigenhändig vorhanden ware, richtete man auß so vilen exemplaren frömder Schriften, so viel man erkriegen möge, in Schrift und verstande so eÿn, daß man den rechten begrief fassen können und sein Werk eÿnhällig worden!326 323 Buddekke, Die Jakob Böhme-Ausgaben, 1. Teil, S. XX f. Theoretisch sind weitere Böhme-Ausgaben in 4° möglich: Denkbar sind einerseits die Theosophischen Schriften, Amsterdam und Frankfurt 1675, eine Teilsammlung kleinerer Werke, die Heinrich Ammersbach edierte, oder das Bedenken über Esaiae Stiefels Büchlein, Frankfurt 1678. 324 ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 90, Eintrag vom 15. Juni 1694. Laut Frans A Janssen war es der Nachlass seiner Schwester, den der Mäzen in die Herausgabe Aller theosophischen Wercke investierte. Janssen, Böhme’s Wercken (1682), S. 141. 325 Janssen, Böhme’s Wercken (1682), S. 137–141; Geissmar, Das Auge Gottes, S. 32. 326 ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 90, Eintrag vom 15. Juni 1694.

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Die Böhme-Anhänger, die mit der Neuausgabe vertraut wurden und anscheinend in einem Auftragsverhältnis die Texte kritisch zum Druck vorbereiteten, waren Johann Georg Gichtel, Georg Christian Fuchs sowie die beiden Holländer Alhart de Raedt und Coenraad van Beuningen. Dem Editorenteam kam zustatten, dass sie bereits auf das Textkorpus zurückgreifen konnten, den Abraham Willemszoon van Beyerland zwischen 1632 und 1642 angelegt hatte. Van Beyerland war einer der ersten Anhänger Jakob Böhmes in den Niederlanden und dessen Übersetzer ins Holländische. Er war mit dem Böhmeschüler Johann Angelius Werdenhagen befreundet und wechselte mit Abraham von Franckenberg Briefe 327. Er sammelte mit missionarischem Eifer Handschriften und Abschriften mit dem Ziel, diese kritisch zu vergleichen, damit er die Böhme-Werke so verständlich wie möglich auf Holländisch und Deutsch herauszubringen vermochte. Ferdinand van Ingen ist überzeugt, dass ohne die Vorarbeiten von van Beyerland die Edition von 1682 nicht denkbar gewesen wäre.328 Auf die Frage des Gastgebers, was dies denn für Männer gewesen seien, die sich in Holland mit Jakob Böhme beschäftigten, antwortete Locher: »daß es etliche in Amsterdam auch auf dem Lande dortherum häte, welche sich einer freÿwilligen Armuht und darneben des betens beluden«329. Die Aussage Lochers bestätigt die These Ferdinand van Ingens, dass in den Niederlanden mit der Bewegung der »Reformateurs« ein besonderes Biotop für die Pf lege und Verbreitung der – nicht besonders zugänglichen – Gedankenwelt Böhmes bestand. Die selbst auferlegte Armut der Behemists – beispielsweise der Erkenntnis des Lehrmeisters folgend: »Ein wahrer Christ hat in dieser Welt kein Eigenthum […]. Er herrscht wol über das Zeitliche [d. h. irdische Güter], aber nur als ein Diener seines HErrn Christi«330 – erklärt auch, warum in den Niederlanden Menschen bereit waren, Geld für den Druck dieser Schriften aufzuwenden, warum beispielsweise Willem Gozewijn Huygens seinen ererbten Reichtum in eine Werkedition stecken wollte.331 Als nun die Werke getruket und mit geheimnußreichen Kupferstiche geziehret zu End gebracht worden, trachtete man solche den Liebhabern des Böhms bekant= zumachen sezte darauf vor die reichen einen gewüssen Preiß als 3. ReichsThaler, an Stadt man sie den armen ohne Gelt hinreichen solte; da nun war es uns Freünde 327 Der angeblich große Anteil Abraham von Franckenbergs an der Sammlung und Edition der Texte Jakob Böhmes wird in der jüngeren Forschung stark relativiert: Telle, Abraham von Franckenberg, S. 41. 328 van Ingen, Böhme und Böhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, S. 5, 12 f. u. 22. 329 ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 90, Eintrag vom 15. Juni 1694. 330 Jakob Böhme, Mysterium Magnum, 66.1 ff. 331 van Ingen, Böhme und Böhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, S. 5 ff.

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alle Ohrte zu tuhn, da dann Loht Fischer (damals zu Nürnberg als eingebohrener Burger sesshaft) als ein sonderbarer Liebhaber Jakob Böhmens angetragen war, der Verstand genug hädte dise Sachen hin und wieder bekant zu machen, zu dem Ende ward Ihme geschrieben und zugleich eine ganze Anzahl der Bömischen Werke zugeschickt, mit obigem bedinge, weil er armes tuhns und in Nürnberg verfolgt werde sogar, daß Ihm auch alle Nahrung hindertrieben wurde, solte er diese Bücher zu Nuzen und zur Ehr Godtes und seiner Erhaltung anwenden, also daß er die eine sovor sich behielt, die übrigen entweders in gesetzte Preise und nicht höher verkaufte, oder aber armen Liebhabern solche Werke vergebrauchs zu können lassen solte; solte sie auch anderen ohrten bekannt machen 332; Zum Treuen Zeichen seiner Dankbarkeit, habe er drüber nachgeforschet und auch erfahren,daß zu Venedig Hr Peter Erich Böhmens Lehr[…?], habe Er deme dreÿ Exemplaria zugesendet unter gleichen bedinge; dieser Erich aber habe darüber Hrn Loht Fischer geschrieben, daß er auch einen Freünd in Zürich hädte, der dergleichen Schriften liebte, den er auch anbefohlen solte, wie […] geschehen; darüber Er in dief Fründschaft mit Hrn Lohten gerahten, […].333

Interessant ist hier, was Locher über die Organisation des Vertriebs der Bücher berichtet. Die Werkausgabe wurde demnach nicht über den Buchhandel bzw. an Buchmessen vertrieben. Gewählt wurde dagegen ein Netzwerk aus Böhmeanhängern, die nach dem Schneeball-Effekt die Druckerzeugnisse zu den Endabnehmern brachten. Loth Fischer bediente sich offenbar seiner Kontakte und sandte den ihm bekannten Freunden des Philosophus Teutonicus mehrere Exemplare zu, und die Adressaten übernahmen dann den Endabsatz vor Ort. Zu diesem Kreis zählte schließlich auch Peter Erich, mit welchem der jugendliche Johann Heinrich Locher in Venedig gemeinsam das Mysterium Magnum gelesen hatte. Der Freund in Venedig vermittelte wiederum Kontakte zwischen Locher und Loth Fischer, so dass die Zürcher Pietisten spätestens kurz nach 1682 mit Gleichgesinnten in Deutschland und Holland im Austausch standen. Kurz: Die Distribution der Werkausgabe verlief im Untergrund! Eine Verkaufsorganisation, welche über ein heimliches Kontaktnetz erfolgte, war, was die pietistische Bücherproduktion betrifft, keineswegs eine Seltenheit 334 und es macht den Eindruck, dass der Verkauf der Bücher über diese Kanäle äußerst effizient organisiert war. Als günstiger Nebeneffekt hatte die verdeckte Distribu332 Der frühere Böhme-Editor, Hendrick Beets (Heinrich Betke), gab offensichtlich seine Böhme-Ausgaben nicht gratis an wenig kauf kräftige Anhänger ab. Joachim Betke beklagte sich darüber in einem Brief von 1661: »Herr Beeth muß nicht karg sein und auf Geld und Ruhm sehen, sondern Exemplare hergeben, damit die Welt dies Licht und Morgenröte sehe«. Zitiert nach: Heijting, Hendrick Beets, S. 266. 333 ZB Zürich, Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 90, Eintrag vom 15. Juni 1694. 334 Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus, Kap. 4; Locher wird später selbst Teil diese Verteilnetzes, er erhält beispielsweise John Pordage in vierfacher Ausführung.

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tion der Werke zur Folge, dass der gegenseitige Kontakt unter den Pietisten und Böhme-Anhängern aufrechterhalten und ausgedehnt wurde. Auffallend an diesem Bericht ist zudem die soziale Komponente: Die Wahl des klandestinen Verkaufsorganisators fiel aus Solidarität auf Loth Fischer. Der Absatz der Werkausgabe sollte dem verfolgten und durch die Nürnberger Obrigkeit ökonomisch bedrängten Glaubensgenossen helfen, seine Lebenssituation zu verbessern und sich den Pressionsversuchen zu entziehen. Noch ein weiterer sozialer Aspekt ist in der Vertriebsorganisation enthalten, nämlich die nach Kauf kraft abgestufte Preisgestaltung. Den Endverkäufern wurde lediglich eine überhöhte Preisobergrenze von 3 Reichstalern vorgeschrieben, welche Wohlhabende für die Böhme-Schriften zu entrichten hätten. Die Mehreinnahmen sollten es dann ermöglichen, die Bücher auch an weniger bemittelte Anhänger abgeben zu können. Die Herausgeber ließen sich mit dieser Verkaufsstrategie von Böhmes Überzeugung leiten, dass Gott alle Menschen gleich gemacht habe, ›ohne Ansehen der Person‹, d. h. es sollten die Böhme-Werke allen zugänglich gemacht werden. Eine derartige Preisgestaltung war übrigens nichts Neues. Bereits van Beyerlands Böhme-Übersetzungen wurden an die Liebhaber dieses Autors gratis abgegeben, wenn sie die Bücher gerne besitzen wollten und diese nicht bezahlen konnten.335 Den Anschluss Johann Heinrich Lochers an den internationalen Kreis der Böhme-Anhänger quittierte dieser mit einer tiefen Freundschaft zu Loth Fischer, eine Freundschaft, deren er sich Lebenslang nicht grämen wolte; dann er wi liebreicher, gewüssehafter, aufrichtiger, gelehrter und godtseliger eÿfrig anbitsamer Mann, der sich nicht verdriessen last öfters ihme gar weitläufige Verdolmetschungen und Erklährungen der Grundohrten H. Geschicht aufzusezen und zu überschiken. [… …] Aber er habe in Nürnberg viel erlidten, dessen Geiste nicht nachgelassen, bis sie ihm aller Nahrung beraubet, so gar daß sie endlich auß der Trukereÿe vertrieben in welcher er das Brod zu gewünnen, die Trukbressungen weggenommen; und ihn in solche Armuht gebracht, daß er durch die einige hand seines weibs erhalten werden müese, und doch nicht von der stelle weichen wöllen, wie sie durch abscheidung der Nahrung erhofet gehabt[..] ohne oberkeitliche Gewalt ihn dahin zubringen, haben sie ihn mit Gewalt vertreiben lassen; also daß er sin Flucht in Holland, nach Utrecht genommen, wo er sich jezo mit Weib und Kindern, so gerum[?] als möglich ernehret und Godt und Menschen eÿfrig diene!336

Loth Fischer blieb für Locher der entscheidende Verbindungsmann zu den englischen »Behemists«. Über ihn wurde er mit Brief kopien und deutschen Übersetzungen der Böhme-Interpreten wie John Pordage, Thomas Brom335

van Ingen, Böhme und Böhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, S. 6. ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 90, Eintrag vom 15. Juni 1694. 336

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ley und vor allem Jane Leade versorgt. Über Loth Fischer wurde auch der Druck der deutschen Übersetzungen der Leade-Schriften, an welchen sich Johann Heinrich Locher finanziell beteiligte, organisiert. 2.3.2 Böhmes Vorläufer Jakob Böhme nennt in seinem Werk die Autoren, welche ihn beeinf lussten, nicht. Einige lassen sich dennoch unschwer erkennen: Das ist einmal Paracelsus, dessen Naturphilosophie und Kosmologie deutlich auszumachen sind. Im Mysterium Magnum sind wir beispielsweise dem Konzept der Entsprechung der kleinen und großen Welt und der Dualität der verborgenen geistigen und sichtbaren körperlichen Welt begegnet. Weiter handelt es sich um Kaspar Schwenckfeld. Es ist naheliegend, dass der Görlizer mit Anhängern Schwenckfelds in Schlesien in Berührung gekommen war und Schwenkfeldsche Schriften gelesen hatte. Emanuel Hirsch ist der Meinung, »dass Jakob Böhme der entscheidende Vermittler und Überformer der im deutschen Pietismus weiterwirkenden Gedanken Schwenckfelds gewesen ist.« 337 Die dritte Inspirationsquelle des Görlizers war Sebastian Franck, mit dessen Werk er entweder direkt oder vermittelt durch die Schriften Valentin Weigels in Kontakt gekommen sein muss.338 2.3.2.1 Kaspar Schwenckfeld und die Schwenkfelder Im Mysterium Magnum lassen sich einige Gedankengänge auf Kaspar Schwenckfeld (1489–1561) zurückführen. So zum Beispiel die für dieses Werk grundlegende Vorstellung vom Verhältnis des alten zum neuen Testament oder aber die Definition des Wort Gottes als ein all Erschaffendes und Umschließendes. Die Hochschätzung Johann Heinrich Lochers für Kaspar Schwenckfeld kann an dessen Besitz des kostbaren Sammelbandes Der Erste Theil Christlichen Orthodoxischen bücher vnd Schrifften von 1564 abgelesen werden. Der Foliant ist Teil einer abgebrochenen Werkedition, welche die beiden Mitarbeiter Schwenckfelds Jakob Held und Adam Reissner kurz nach dessen Ableben erarbeiteten. Der Band versammelt auf rund 1000 Seiten 24 Abhandlungen. 339 337

Hirsch, Schwenckfeld und Luther, S. 67. Grunsky ist der Überzeugung, dass Böhme nach 1610 – vermittelt durch Karl Ender von Sercha – mit den Ideen von Valentin Weigel, Sebastian Franck und Paracelsus »zumindest in oberf lächlicher Berührung« bekannt geworden sei. Grunsky, Jakob Böhme, S. 32; Gerhard Wehr, Jakob Böhme, S. 18. 339 Zwischen 1564 und 1570 wurde neben Der Erste Theil Der Christlichen Orthodoxischen bücher vnd Schrifften noch drei Bände Epistolar verlegt, bevor die weitere Drucklegung verhindert wurde. 338

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Wenn Jakob Böhme das göttliche Wort als das Schöpfende und ewig Wirkende bezeichnet, so nimmt er einen Gedankengang Schwenckfelds auf, den dieser im Catechismus vom Wort des Creützes/ vnnd vom vnterscheid des Worts des Geistes vnd Buchstabens entwickelte. In diesem Werk, das in Lochers Sammelband enthalten ist, wird die Ansicht vertreten, dass alles durch das Wort erschaffen worden sei. In ihm sei alles enthalten und beschlossen. Im Wort sei auch alles anzutreffen, was den Menschen zur Seeligkeit bringe.340 Das abstrakte Wort, das als geistiges Wirken Gottes aufgefasst werden kann, ist bei Schwenckfeld das zentrale Argument im Abendmahlsstreit: Auch das Blut und der Leib Christi seien im Wort enthalten. Im Wort empfange der Mensch das Abendmahl Christi. Wer dagegen behaupte, das Brot sei der Leib Christi, der habe die »falsche ungegründte leere«. Eine solche Lehre würden jene vertreten, die kein geistiges Urteil hätten. Jene, die bloß nach dem Buchstaben lehren und nicht die Eigenschaft und Natur des Wort Gottes – welches Christus sei – suchten.341 Der Abendmahlsstreit, in welchem sich Schwenckfeld vorübergehend der Position Zwinglis annäherte, hatte für sein Denken, wie Emanuel Hirsch darlegte342 , eine entscheidende Bedeutung. In dieser Debatte radikalisierte er sich – nicht ohne täuferischen Einf luss – in Richtung Spiritualismus: Der Irrtum der Lutheraner liege laut Schwenckfeld darin, dass diese nur auf den geschriebenen Buchstaben achten würden. Den Spruch »Das ist mein Leib« nähmen diese einzig in materieller Weise war. Es sei aber nicht das »eusserliche gepredigte wort« das in die Schrift gefasst sei, welches die grosse Ehre und Kraft der Schrift ausmache, sondern »vil mehr ein ander höher Wort/ nemlich Gottes natürlich allmechtig Wort/ das Geist vnd leben/ ja Gott selbs ist.« Das echte Verständnis der Bibel bestehe im lebendigen und wesentlichen Wort Gottes und sei nicht durch die Buchstaben zu erschließen. Der Buchstabe des menschlichen Wortes sei die Erkenntnisweise des Verstandes, des menschlichen f leischlichen Herzens. Das sei die Lehre des äußerlichen Buchstabens.343 Die Kritik an Luther setzt bei der mystischen Bibelinterpretation, bei der Kritik am sog. Buchstabenglauben, 340 Schwenckfeld, Der Erste Theil | Der Christli |chen Orthodoxischen bücher | vnd = Schrifften/ des Edlen/ theuren/ von | Gott hoch begnadeten vnd gottseligen Hanns/ Caspar Schwenck=|feldts vom hauß Ossing/ Welche vom XXIIII. Jar an/ biß auff das LXII. | zum preise Gottes des Vattern/ Sones/ vnd H. Geists/ zur erbawung der all | gemeinen Christlichen Kirchen/ vnnd derselbigen gliedern zunutz vnd gut/ one | schmehen/ lestern vnd Iniurien/ auß gnediger schickung vnd offen=|barung Gottes/ auch göttlichem beruff/ von ihm | selbs beschrieben/ vnnd ans liecht | gegeben seind. || Jetzt aber durch die Mitbekenner vnd Liebhaber der glorien vnd warheit | Jesu Christi trewlich zusamen getragen/ vnd in folgende ordnung gebracht, o. O. 1564 [ZB Zürich III N 40], S. 564. 341 Ebd., S. 564. 342 Hirsch, Schwenckfeld und Luther, S. 35–67, i. b. S. 58. 343 Schwenckfeld, Der Erste Theil Der Christlichen Orthodoxischen bücher vnd Schrifften, S. 565.

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ein. Hier geht nun Schwenckfeld auch über Zwingli hinaus. Für ihn ist das Abendmahl ein innerliches Abendmahl des Herzens. Es ist die spiritualistische Anwesenheit des Wortes. Das natürliche ewige Wort Gottes könne der Mensch in seinem Herzen (er)fassen. Dies sei der himmlische Schatz, der uns von Christus zum ewigen Leben gegeben worden sei.344 Aus der Ablehnung des »Buchstabenglaubens« folgt Schwenckfelds radikale Bildungsskepsis. In der Abhandlung Vom Christen menschen schreibt er: »Vnd es kan der h. Geist einen ongeleerten jdioten/ so er gleubig ist vnd Christum von hertzen liebet/ bestendiger vnd balder/ ja in einer stunde mehr von den geheimnussen des reichs Gottes leeren/ weder alle kunstreiche Philosophi vnnd Dialectici jr leben lang vermögen.« 345 Dem Spiritualisten ist die innere unmittelbare Erfahrung des Religiösen das Entscheidende, die theologische Bildungs- und Wissenstradition wird dabei zur Nebensächlichkeit. Sie ist aber noch nicht wie bei späteren spiritualistischen Autoren – wie beispielsweise bei Christian Hoburg – falsch und die Ursache eines vermeintlichen Abfalls von Gott. Kaspar Schwenckfeld hatte 1519 ein durch die Lutherlektüre ausgelöstes und von ihm selbst als »Heimsuchung« bezeichnetes Erweckungserlebnis, worauf er sich ganz der reformatorischen Bewegung verschrieb, sich aber mit Luther – diesem einen neuen Papismus vorwerfend – bald wieder entzweite. Nun propagierte er als nonkonformistischer Wanderprediger die sittliche Vollendung der Reformation.346 Bei diesem gelehrten Adligen aus Schlesien konnte Johann Heinrich Locher zahlreiche Elemente der mittelalterlichen Mystik nun in reformiertem und spiritualistischem Gewand wieder erkennen. Bei Schwenckfeld gibt es der Theologia Deutsch folgend zweierlei Menschen, zweierlei Schöpfungen: Der alte Adam ist aus Fleisch erschaffen und gehört ins Reich des natürlichen Lebens, er ist kreatürlich, verdorben und verdammt. Der neue Mensch gehört dem geistigen Leben an, er ist ein Kind Gottes aus Gott in Christus, durch den heiligen Geist erzeugt und geboren. Der eine ist ganz Fleisch, der andere ganz Geist. Gott habe sich nun aus Gnade der verlorenen und verdorbenen Menschen erbarmt. Christus habe durch seinen Tod und seine Auferstehung den Menschen die Verdammung abgenommen und ihnen die Güter der Gerechtigkeit und des Geistes Gottes zugeeignet. Schwenckfeld radikalisiert hier die spätmittelalterliche Mystik. Gott habe seinen Sohn als den »himmlische Saame« in das Herz des verdorbenen Menschen gepf lanzt (»eingesenckt«). Jeder Mensch könne demnach durch den Glauben das Seelenheil erlangen. Dies geschehe, wenn Christus sich in der Seele 344

Ebd., S. 565. Ebd., S. 874. 346 Zur Biographie Schwenckfelds: Bubenheimer, Schwenckfeld von Ossig, Kaspar, S. 1215–1229. 345

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vermähle und darinnen einwohne und sich »im Geiste des glaubens vereinigt«. »Dann ist der Christen oder New mensch empfangen vnd geboren.« Dabei wird nicht bloß Christus im neuen Menschen geboren, sondern der neue Mensch auch in Christus. Dieser Prozess der Einwohnung ist für Schwenckfeld das wahre Abendmahl – die wirkliche Realpräsenz! Mit seiner Wiedergeburtslehre gelingt es ihm, den Abendmahlsdisput für sich aufzulösen.347 Wenn die nachmaligen wiedergeborenen Pietisten sich skeptisch zu äußeren Zeremonien äußern, so stützten sie sich dabei direkt oder indirekt auch auf Schwenckfelds Abendmahlskonzeption ab. Die Vereinigung von Wiedergeburt und Abendmahl hat für Schwenckfelds Kirchenbegriff eine entscheidende Konsequenz, die letztendlich in die Separation führte. Er sah in der reformierten Kirche die Sammlung der Wiedergeborenen. Seine Kirche war eine freiwillige Kirche der Kinder Gottes. Er meinte, die perfekte Kirche könne sich nur in der Gleichheit aller ihrer Mitglieder und in der Abwesenheit weltlicher Einf lüsse entwickeln. Folgerichtig forderte der gelehrte Adlige die strikte Trennung von Kirche und Staat.348 Schwenckfelds Kirchenkonzept findet sich in abgewandelter Form im radikalen Pietismus wieder. Zwar wurde in letzterem die Gruppenbildung abgelehnt und als Bildung einer neuen Sekte oder Konfession verurteilt.349 Dennoch wurde die Vorstellung der freiwilligen Kirche der Wiedergeborenen aufgegriffen, jedoch im übertragenen Sinne, als unsichtbare Kirche, als eine Sammlung der »Kinder Gottes« im Geist. Ebenso wurde das Gleichheitsgebot beibehalten: gesellschaftliche Rang- und Statusunterschiede sowie geschlechtliche Unterschiede wurden in pietistischen Konventikeln – wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt – oft ignoriert. Und schließlich fand sich im Zürcher Pietismus mit Johann Kaspar Escher [20] auch ein Verfechter einer Trennung von Kirche und Staat.350 Kaspar Schwenckfeld wird gerne als Vorläufer des Pietismus bezeichnet 351. Das mag bezüglich der Wiedergeburtslehre, wie sie in Vom Christen menschen/ Bericht auß H. Schrifft/ von seinem wesen/ geburt/ vrsprung vnd herkomen darlegt wird, seine Richtigkeit haben. Die Wiedergeburt wird – der mystischen Tradition folgend – nicht auf einmal erlangt. Sie erfolgt in 347 Schwenckfeld, Der Erste Theil Der Christlichen Orthodoxischen bücher vnd Schrifften, S. 880 ff. 348 K. Deppermann, Schwenckfeld and Leo Jud, S. 219 u. 231 f. 349 Siehe beispielsweise den Brief Johann Heinrich Lochers an Heinrich von Schönau vom 19. Januar 1686 in welchem er die labadistische Kolonie in Wieuwerd (1675–1692) als eine weitere neue Konfession ablehnte. ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 18, S. 15. 350 Vgl.: Johann Kaspar Eschers Bemerkungen über die Regierung der Grafschaft Kyburg: Siehe Kap. 3.2.3. 351 Beispielsweise Weigelt, Schwenckfeld and Pietism, S. 365–374; Peter C. Erb, Christian Hoburg und schwenckfeldische Wurzeln des Pietismus, S. 92–126.

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Abbildung 11: Titelkupfer in Der Erste Theil Christlichen Orthodoxischen bücher vnd Schrifften von 1564 mit einem Portrait von Kaspar Schwenckfeld von Ossig. [ZB Zürich III N 40]

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Etappen: »von einem grad zum anderen im geistlichen alter müessen [die Menschen] wachsen«. Das Ziel ist nun bei Schwenckfeld mit der Wiedergeburt noch nicht erreicht. Auch nach der Wiedergeburt muss der neue Mensch in seinem neuen Zustand kontinuierlich wachsen in geistlichen Graden und zunehmen im Glauben. »Darum so ist in Christo kein stillstand/ sonder ein entlicher fortgang von grad zu grad.« Ein Wiedergeborener bleibe zwar äußerlich derselbe, innerlich aber finde ein Wandel statt.352 Das permanente Arbeiten an der Perfektion ist ein Motiv, das sich später auch in der pietistischen Wiedergeburtslehre oftmals antreffen lässt. Erwähnenswert ist schließlich noch Schwenckfelds Toleranzbegriff, der eng an seine Auffassung der Reformation gekoppelt ist. Seine Toleranzforderung ist nicht Produkt der selbst erlittenen Verfolgung, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Sie ist in der Abhandlung Ein Bedencken von der Freiheit des glaubens/ Christlicher Leere/ vrteils vnd Gewissens dem Reformationsgedanken immanent: Der nach Gott suchende Geist brauche die Gewissensfreiheit. Gott sei noch nicht vollständig offenbart. Die Toleranz sei die Rahmenbedingung dieser Suche. Gott habe in unserer Zeit ein Licht aufgehen lassen, um zu zeigen, dass wir in früheren Zeiten im Irrtum gelebt hätten. Die Reformation habe aufgezeigt, dass die Gläubigen vom wahren Glauben und vom richtigen Gottesdienst abgekommen seien – und zwar schon kurz nach der Zeit der apostolischen Kirche. Schwenckfelds Ziel ist es nun, die Kirche der Urchristen wieder herzustellen. An diesem Ideal gemessen stellt er die folgende kritische Frage an die Reformation: »So ist gleichwol zu bedencken/ ob es möglich/ daß alle jrrthume in diesen kurtzen jaren vnd so schnell ersehen/ oder aber bey solchem hefftigen widerstande alles albereit restituiert/ in die erste Apostolische ordnung vnnd Christliche volkomenheit solte sein gesetzt worden«. Auch den Aposteln habe Gott nicht alles auf einmal offenbart. Für Schwenckfeld steht somit fest, dass die Reformation unvollendet und unvollkommen sei. Er fordert eine vollendete Reformation bzw. eine permanente Reformation bis zur sittlichen Perfektion. Um die Reformation weiter vorantreiben zu können, brauche es die Toleranz. Deshalb solle man in Glaubensangelegenheiten niemanden verdammen, verbannen oder verurteilen. »Es sol ihm auch keiner sein Christliche freiheit benemen/ noch sich im gewissen mit menschen artickeln verstricken lassen.« Der Staat habe sich, so die Forderung Schwenckfelds, aus reformatorischen und kirchlichen Dingen heraus zu halten.353

352 Schwenckfeld, Der Erste Theil Der Christlichen Orthodoxischen bücher vnd Schrifften, S. 882–885. 353 Ebd., S. 960 f.

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Neben der Lektüre der Texte Schwenckfelds interessierte sich Johann Heinrich Locher auch für einige der Schriften seiner Schüler: Er besaß Bücher von Daniel Sudermann, Daniel Friedrich und Adam Reissner. Adam Reissner (1496–1582) studierte bei Johannes Reuchlin Griechisch und Latein. An der Universität Wittenberg nahm er den reformierten Glauben an und lernte Luther und Melanchthon persönlich kennen. Durch den Humanisten Jakob Ziegler machte er um 1531 in Strassburg die Bekanntschaft mit Kaspar Schwenckfeld und wurde dessen Helfer und Anhänger. Nach des Meisters Tod edierte er zwischen 1564 und 1570 dessen Werke. Reissner war selbst auch als Historiker und geistlicher Dichter schriftstellerisch tätig.354 In Johann Heinrich Lochers Besitz befand sich das Psalm=Buch, eine kommentierte Psalmenübersetzung. Lochers Interesse an diesem Werk ist nicht bloß seiner poetischen Neigung zuzuschreiben – er besaß insgesamt neun Psalmennachdichtungen –, sondern vor allem auch der Art und Weise, wie die Psalmen interpretiert und ausgelegt wurden. In der Vorrede erwähnt Reissner seinen eigenen Zugang zu den Psalmen, der ganz auf der Linie einer spiritualistischen Bibelinterpretation liegt: Die Psalmen seien ein verschlossenes Buch. Ohne den »Schlüssel David«, ohne den heiligen Geist und die Kenntnis der Bibel könnten die Psalmen nicht ausgelegt und verstanden werden. Die Psalmen seien Worte, die der heilige Geist geschrieben habe.355 Jeder Psalm im Psalm=Buch ist mit einer interpretierenden Vorbemerkung und mit Randglossen versehen. Den ersten Psalm fasste Reissner als eine Zusammenfassung des ganzen Psalmenbuches sowie der ganzen Bibel auf. Er kondensiert deren Inhalt in der Aussage, das Buch der Psalmen handle in seinem Kern vom Antagonismus des alten und neuen Menschen, des guten und bösen (Stamm-)Baums, jenem der Seligkeit und der Verdammnis.356 Die allegorische Psalmauslegung hatte für Johann Heinrich Locher einen gewichtigen Wert. Neben der Genesis-Interpretation nach Jakob Böhmes Vorlage waren die Psalmdeutungen die zweite Quelle seines Glaubensbekenntnisses. Diese ist über weite Strecken eine Auslegung nach dem Schema, wie es Adam Reissner vorgegeben hatte. Sie folgt jedoch nicht wörtlich der Vorlage des Schwenkfelders. Der Aussage nach ist Lochers Psalmdeutung der Reissnerschen sehr nahe, jedoch synchronisiert Locher sie mit der Genesis-Auslegung, wie er sie aus dem Mysterium Magnum übernommen hat. Es ist gut möglich, dass Locher, der gerne mit 354

Ksoll-Marcon, Reissner, Adam, S. 1581–1584. Reissner, Psalm=Buch/ | Darinn hundert und fünffzig | Psalmen Davids/ | Auß dem Hebräischen Grund | von Wort zu Wort f leissig | verteutscht. | Mit kurtzer Erklärung auß | heiliger Schrifft/ | Durch | Adam Reußner. Frankfurt/M. 1683 [HAB Wolfenbüttel H: A 66.12° Helmst.], Vorwort unpaginiert. 356 Ebd., S. 1. 355

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Psalm-Sprüchen argumentierte, hier seiner Kreativität freien Lauf lassen konnte: So laßen nun die Sünden nit Herrschen in eüwerem sterblichen Leibe, Ihr Gehorsambe zu leisten in Ihren Gelüsten […], sonder begeben eüch selbs Godt, als die aus den todten lebendig sind […], das ist wie Ps. 1. Wandle nit in Godtlosen weg sonder hab deine Lust an godtes Gesatz. […] Halte Godt in Christo für deine Gerechtigkeit, Rüste erstlich zu Ihme wie im folgenden Ps. 5. So wird Er deine stimm frühe vnd bald höhren Ps.6. Er wird dir gnedig sein vnd dich Heilen Ps. 7. vertrauw vnd glaub an Godt so wird Er dich von allen deinen verfolgenen (f leischlichen anfechtungen vnd reitzungs Geisteren) erredten Ps: 8. So wird dein mund auß der neüwen geburdt mit der Kinder und Sauglingsstimm den Herrn loben daß du in der Starck werdung Ps: 9 von gantzem Hertzen den Herrn bekommen, seine Wund[er] erzellen vnd dich freüwen wirst, aber Kain auß Hoffardt gibet sich in Grimm vnd zorn nach deinem bösen eigen Willen, vnd undergibt sich nit in gehorsambe vnd demuth dem Willen des guten Godtes zu vollbringen wie Ps. 10 mit lebendigen farbenabgegemahlet ist, daß der ellende unschuldige Habel in Ihm vnd außet Ihm getödet werden muß. Ps. 11. der frombe aber bleibet gleichwol ein Glouben vnd vertrouwen in seinen Heiland befestent, vnd last [17] sich nit wie ein Vogel von Bergen versteüben Ps: 12 Ruffed vnd bedtet zu seinem Helffer, weil die Heilgen abgenohmen, vnd der Wahrhafften vnd den Kinderen Adams wenig worden. […] Er erzehlet die Thorheit vnd abfehl 1. Von Godt aller Kinderen Adams 2. Von der pf licht gegen Ihren armen Nachsten, deßen Rath Sie verachten vnd sein vertrauwen auf Godt bespodten. V. 7. So hart sich noch der Hilff auf Zion in gantz freüdiger Zuversicht, Ps: 15. V 1. Fraget der Geist: Also der geistlichen mensch[en] weil Ps: 14 all menschen verworffen werden, wer dann in der Hüdten Godtes wachen vnd wer auf seinem H: Berg bleiben werde, vnd beschreibt folgendes V. 3.4.5 in Substanz, daß es der nach dem Geist wandelnde seÿe.357

Reissners Psalmdeutung folgt einem sehr ähnlichen Schema: Der fünfte Psalm beispielsweise sei ein Aufruf an Christus, dass er den Anrufer bewahre vor Sünde und vor der falschen Lehre Satans und dessen Anhängern. Der nachfolgende Psalm ein Gebet an den Mittler zwischen Menschen und Gott, der mit seinem Leben den Gläubigen ein Beispiel zur Nachfolge geschaffen habe. Jesus habe das Kreuz erlitten, damit die Sünder von Satan erlöst und bekehrt würden. Dass das Volk Gottes versammelt und der Satan ›ausgetrieben‹ und bestraft werde, sei die Aussage des siebten Psalms. Der achte preise Christus, der den neuen Menschen sowie einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffe. Der neunte Psalm sei ein Gebet darum, dass die Gläubigen nicht den Verlockungen der Welt erlägen. Der zehnte beinhalte einen Klage-Psalm über die Tyran357 ZB Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 15 ff.

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nei der Sünde Satans und eine Anrufung Gottes mit der Bitte um Erlösung aus der Tyrannei. Der bekehrte Christ solle sich nicht mehr von Gott abwenden. Der 12. Psalm stelle eine Klage über die verdorbene erste Geburt dar, welche böse und trügerisch sei. Die uninspirierte menschgemachte Religion, die »Menschen=Lehre und Zunge [seien] schädlich«. Es gebe nur im Wort und in der Nachfolge Christi eine Reinigung und Erlösung. Der Satan habe bald alle Menschen verkehrt und verführt, so die Aussage des 13. Psalms. Und: der Gläubige bitte um Kraft, um der Anfechtung widerstehen zu können. Der 14. Psalm weiß, dass alle Menschen vergiftet und verdorben würden, wenn man nicht dem Rat und Beispiel des Erlösers folge. Und schließlich, im 15. Psalm: Allein Christus der neue Mensch und diejenigen, welche aus ihm wiedergeboren und ihm ›gleichförmig‹ seien, gingen ins Reich Christi ein und würden selig.358 Die Ähnlichkeit zu Lochers Psalminterpretation ist offensichtlich. Ob Locher wirklich seine Interpretationsansätze bei Reissner bezogen hatte, oder die Ähnlichkeit von gemeinsamen spiritualistischen Wurzeln herrührt, kann nicht abschließend beurteilt werden. Die duale Gut-Böse-Psychologie, die ›zwei Völker in uns‹ in Lochers Psalmenauslegung, dürften aber mehr durch Böhme und weniger durch den Schwenkfelder angeregt worden sein. Vom Schwenkfelder Daniel Friedrich (bis 1610) besaß Johann Heinrich Locher zwei oder drei theologische Abhandlungen. Das eine Konfiskationsregister verzeichnet bloß zwei Bücher »Daniel Friedrichs Schriften«359 die andere Liste spricht dagegen von drei Werken, benennt aber nur deren zwei: »Daniel Friedrichs über die 6 ersten Cap: Apoc samt einer Erklehrung über Genesis« 360. Dieser Widerspruch in den Quellen kann dahingehend aufgelöst werden, dass die erste nur zwei Bände verzeichnet, die andere dagegen die Titel der in einem der beiden Bände zusammengebundenen Werke. Johann Heinrich Locher verfügte demnach über Ein Nothwendig Bedencken/ vber die Sechs erste Capitul der Offenbahrung Johannis 361 358

Reissner, Psalm=Buch, S. 9–35. ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 11, S. 3. 360 ZB Zürich Ms. S 276 Nr. 12 [Die Konfiszierten Bücher Johann Heinrich Lochers], S. 95. 361 Friedrich, Ein | Nothwendig Bedencken/ | vber die Sechs erste Capitul der Offen | = bahrung Johannis/ Jn zwey Theil | abgetheilt. | Erster Theil. | Von den sieben Gemeinden / vnd der dreyen | ersten Capitul Außlegvng/ darinn die Summa der gan=|tzen Offenbahrung möchte gemerckt werden. | Durch | Daniel Friederich/ gewesener Predicanten zu Kir=|chart in der vnderen Pfaltz. […]|| Mit Fleiß vnd aller Trew durch ein Liebhaber der Warheit/ | auß dem ersten vom Author selbst revidierten Original abgeschrieben/ vnd ietzt zuerst | dem Herrn Jesu Christo zu Ehren/ vnd allen guthertzigen vnd eyffe=|rigen Menschen zu Nutz in Truck gefördert | vnd an Tag gegeben, o. O. 1624 [Uu LB Halle AB 144989 (2,3)]. 359

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sowie Nutzliche vnd Schöne Erklärung des Ersten Capitels Geneseos362; beide in Quart. Daniel Friedrich war ein aus Straßburg stammender Pfarrer in Justingen, der süddeutschen Zuf luchtstätte der vertriebenen Schwenkfelder. 1571 wurde erstmals die Pfarstelle durch Michael Ludwig von FreybergJustingen mit einem Schwenkfelder Pfarrer besetzt, vermutlich bereits mit Daniel Friedrich.363 Über weite Strecken folgt Daniel Friedrich in seinen Werken den Ansichten Schwenckfelds. Er zitiert ihn nicht nur häufig, sondern arbeitet in seine Schriften dessen Ideen ein, welche er jeweils mit einem »M« kennzeichnet. Zumindest in zwei Punkten weicht aber Daniel Friedrich von seinem Vorbild ab: im Kirchenkonzept und im Chiliasmus. Das wird deutlich sichtbar im Vorwort zu Ein Nothwendig Bedenken, wo er schreibt: »Die Kirch soll nach ihrer Warheit ein Tempel deß H. Geistes/ […] vnd also ein Geistlich Hauß sein.« Sie sei aber ein Tempel des äußeren Scheins, des Schalks und der Bosheit. Es sei ein Haus der Aussätzigen und der Verunreinigung. In diesem Haus finde man den Tod und die Verkehrung.364 Daniel Friedrich prägt bereits in seiner Kirchenkritik für die Prediger das Bild des »Seelenmörders«, das später beispielsweise Breckling verwenden wird.365 Friedrich vertritt – als Kontrast zur kritisierten Kirche – das Konzept der unsichtbaren, geistigen Kirche. Eine eigenständige kirchliche Gemeinschaft der wahren Gläubigen strebt er jedoch nicht an. Sein Begriff einer perfekten aber bloß ideellen Kirche setzt ihn scheinbar in Widerspruch zur Schwenkfelder Gemeinschaft, der er predigte. Die Lösung des Problems liegt in seiner chiliastischen Denkweise: Laut Friedrich ist die ideale Kirche der Endzeit eine geistige Gemeinschaft Wiedergeborener. Nun verkörpern die Schwenkfelder eine auf dem Weg zur Gemeinde der Auserwählten näher gelegene Etappe als die reformierte Kirche.366 Dementsprechend wird Kaspar Schwenckfeld als entscheidender Meilenstein auf dem Weg der Vollbringung der Offenbarung, als Beginn der ›letzten Zeit‹, gewertet: Es sei die Zeit des Frühlings, die Zeit der Offen barung 362

Ders., Nützliche und Schöne Erklärung des Ersten Capittels Geneseos und hastu hierinn einen bericht von allen Articulen Christlichen Glaubens auch anderen streittigen Puncten und von unser Zeit, o. O. 1626 [Uu LB Halle Id 1571]. 363 Eylenstein, Daniel Friedrich, S. 28. 364 Friedrich, Ein Nothwendig Bedencken, S. 5 ff. 365 Auch den Zürcher Pietisten war das Schimpfwort »Seelenmörder« für orthodoxe Geistliche geläufig. Der Bauer und Soldat Rudi Kuhn [82] wurde im März 1718 für diese unbedachte Äußerung belangt. St AZ E II 56, S. 948 f. u. St AZ E I 8.3. 366 An einer anderen Stelle schreibt er: »Ob gleich heute hin und wieder Kinder des Lichtes sind […] so sind sie doch zu schwach und ungenugsam«. Friedrich, Nützliche und Schöne Erklärung des Ersten Capittels Geneseos, S. 388. Siehe auch Eylenstein, Daniel Friedrich, S. 54 f.

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und der Erweckung der ›newen Creatur‹. Der Beginn des Frühlings habe schon erste Blumen, d. h. erste Erkenntnisse der Geheimnisse Gottes hervorgebracht. Die erste Frühlingsblume sei Kaspar Schwenckfeld gewesen.367 Der Herbst werde dann die kommende Zeit sein, in der geerntet und geoffenbart werde. Das Haus Christi, die Gemeinde der wahren Christen, würde dann hervorbrechen. Es scheint, als hätte Daniel Friedrich das Programm einer fortgesetzten, die Vollkommenheit anstrebenden Reformation, wie es sein Vorbild aufgestellt hatte, rund ein halbes Jahrhundert nach dessen Ableben nur noch in chiliastischen Kategorien angesichts des reformatorischen »Stillstandes« retten können. Daniel Sudermann (1550–1631) ist uns bereits begegnet als Herausgeber von Schriften Taulers – oder was er für Taulers Schriften hielt. Er war ein begeisterter Sammler und Kopierer mystischer und spiritualistischer Handschriften. Um 1600 gab er mehrere Einzelschriften Kaspar Schwenckfelds heraus. Die Druckkosten sollen jeweils die Freiherren Johannes Plickard und Georg Ludwig von Freyberg übernommen haben.368 Sudermann erwarb ebenfalls die Schriften von Daniel Friedrich und besorgte die Neuherausgabe. Er wurde in Lüttich geboren. Sein Vater, ein Maler und Goldschmied, arbeitete an verschiedenen deutschen Höfen. Auf diesem Wanderleben kam Daniel Sudermann mit verschiedenen Konfessionen in Kontakt. Er schreibt von sich, er sei als Katholik geboren worden, habe eine calvinistische Schule besucht und den lutherischen Gottesdienst verfolgt. Die ›Wahrheit‹ endlich, gemeint ist die Lehre Schwenckfelds, habe er 1594 erfahren.369 Sudermann lebte damals in unmittelbarer Nähe zum Territorium der Freiherren von Freyberg, welche den Schwenkfeldern Asyl boten. Sudermann war nicht bloß Herausgeber, er schrieb selbst Lieder und Gedichte, die etliches an Gedankengut aus den Schriften Schwenckfelds und wohl auch Daniel Friedrichs aufgriffen. Die Verbindung von Poesie mit einem überkonfessionellen Spiritualismus, wie ihn Daniel Sudermann pf legte, hat Johann Heinrich Lochers Interesse geweckt. Aus seiner Bibliothek wurden sowohl eine handschriftliche Kopie einer Psalmnachdichtung 370 wie auch eine Gedichtsammlung in Quart beschlagnahmt, die im Bibliotheksverzeichnis als »Daniel Sudermans Sinn367

Friedrich, Ein Nothwendig Bedencken, S. 7 ff. Pieper, Daniel Sudermann: Schwenkfelder Poet, S. 355. 369 Dies., Daniel Sudermann (1550- ca. 1631), S. 32 f. 370 Das Sudermann-Manuskript in der ZB Zürich, Ms. Car I 263 [»Geistliche Gedichte | Daniel Sudermans | vor etlicher Zeit zusammen | geläsen«] in 4° wurde im 17 Jahrhundert angefertigt. Es gehört zu einer Serie handschriftlicher Kopien von mystischen Schriften, die Teilweise das Exlibris der Familie Römer enthalten. Es ist denkbar, dass es sich beim konfiszierten »Psalter – D. Sudermans – geschrieben 4« (Ms. S. 276, Nr. 11) entweder um diesen Band oder um eine weitere desselben Abschrift handeln könnte. 368

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bilder mit schonen Kupferfiguren und versen«371 angegeben wurde. Dabei handelt es sich um ein Werk aus der fünf bändigen Gedichtsammlung, deren Einzelbände alle mit geringer Abweichung den Titel Schöne ausserlesene Figuren und hohe Lehren von der begnadeten liebhabenden Seele, nemlich der christlichen Kirchen und ihre Gemahl Jesu Christo372 tragen. 2.3.2.2 Sebastian Franck Mit drei Werken findet sich ein interessanter und unkonventioneller Denker in Johann Heinrich Lochers Bücherkollektion vertreten: Sebastian Franck (1499–1542), der entweder direkt oder indirekt über die Werke Weigels das Denken Jakob Böhmes beeinf lusste. Sohn eines Feinwebers, war Sebastian Franck zuerst Priester im Bistum Augsburg, bis er sich begeistert der reformatorischen Bewegung anschloss und evangelischer Frühprediger in Gustenfelden bei Nürnberg wurde. »Alle revolutionären Geister hatten von der Reformation eine grundlegende Wende erwartet. So auch Franck.« 373 Aus Enttäuschung über die neue sich allmählich herausbildende protestantische Scholastik gab er sein geistliches Amt auf und reiste als Gelehrter und Schriftsteller nach Nürnberg. Ein Jahr später, 1529, zog er nach Strassburg weiter, wo er vorübergehend mit Täufern sowie mit Kaspar Schwenckfeld und Michael Servet verkehrte.374 Die Konfiskationslisten weisen drei Werke von ihm aus, die allesamt als schädlich klassiert wurden: Johann Heinrich Locher besaß eine Ausgabe der Paradoxa ducenta octoginta, der philosophischen Hauptschrift Francks in einer Quart-Ausgabe, weiter Das verbüthschiert mit siben Sigeln verschlossen Buch im Folio-Format von 1559 und Van het Rycke Christi375, ein 1611 postum im holländischen Gouda erschienener Traktat.376 371

ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 11 [Bücherbesitz Johann Heinrich Lochers], S. 3. Der erste Band trägt beispielsweise den Titel: Sudermann, Schöne ausserlesene Figuren und hohe Lehren von der begnadeten liebhabenden Seele/ nemlich der christlichen Kirchen und ihre Gemahl Jesu Christo/ Zum theyl auß dem hohen Lied Salomonis/ wie auch auß der alten Christlichen Kirchenlehrern Schrifften gezogen/ vnd in Teutsche Reymen verfaßt […] / durch D. S., [Straßburg] circa 1620. Die HAB Wolfenbüttel hat zwei Bände elektronisch publiziert: http://diglib.hab.de/drucke/519–1-theol-2f-2/start.htm und http://diglib.hab.de/drucke/519–1-theol-2f-3/start.htm. Zur Bibliographie: Pieper, Daniel Sudermann (1550- ca. 1631), S. 4 f. und 196 ff., Nr. 5, 6, 7, 11 und 14. 373 Wollgast, Sebastian Franck – Leben und Werk, S. X. 374 Zu Franck vgl.: Art. Franck, Sebastian, BBKL , Bd. 2, S. 81–85; Wollgast, Der deutsche Pantheismus im 16. Jahrhundert. 375 Franck, VAN HET RYCKE CHRISTI. Een stichtelijck Trac |taet/ allen eenboudig= hen Christenen tot onderwijsinghe/ ende den Gheestelijcken verlich=|teden Menschen/ te oordeelen int Licht ghegheben/ door den verlichteden ende van van Godt-gheleerden Se-| bastiaen Franck van Werdt, Driendt van Christo/ Beminder sijns Rijcks/ ende Lief hebber der eewigher ende onpartijdi=|gher Waerheyt. Ter Goude, 1611. [SUB Göttingen 8° Th thet. I 664/9]. 376 Wollgast, Sebastian Franck – Leben und Werk, XXI. 372

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Der mystische Spiritualismus Sebastian Francks fußt auf Tauler und auf der Theologia Deutsch. In vielen seiner Gedanken ist er aber originell und durch den Humanismus geprägt – er war ein Verehrer des Erasmus von Rotterdam 377. Etliche bisher angetroffene Erweiterungen und Fortentwicklungen des mittelalterlichen mystischen Stoffes können bis auf Sebastian Franck zurückverfolgt werden. In seinem Werk finden wir unter anderem die Toleranzforderung, die Ablehnung der Prädestination, das Konzept einer unsichtbaren, universellen Kirche und schließlich treten bei ihm die pantheistischen Tendenzen erstmals ausgeprägt auf. Den besten Einblick in seine Philosophie vermittelt die Paradoxa ducenta octoginta378. Franck titelte seine »Philosophey« Paradoxa oder Wunderrede, weil der rechte Sinn der heiligen Schrift ein Paradoxon sei. Denn die Wahrheit der Schrift stehe allem Wähnen und Scheinen, allen Meinungen und jeder Hochachtung des Weltlichen entgegen. »Dann de darff niemand gedencken daß das Evangelium welt sey«. Doch Gott sei durch die Menschen verweltlicht worden. Aus Gott sei ein beweglicher wandelbarer Mensch gemacht worden: »darumm ist ihr Gott ein Abgott/ der Teüffel/ vnd gedicht ihres hertzens.« Gott ist bei Franck das, was der Mensch aus ihm für sich macht. Eine falsche Auffassung von Gott könne schließlich einen Teufel ergeben. Sein anthropomorpher Gottesbegriff ist deshalb eng an das Bibelverständnis geknüpft. Verstünden die Menschen die Bibel nicht richtig, so bleibe diese für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Sie würden mit der falschen Voraussetzung auf die Schrift »eyngehen und sind vil anderß gesinnt/ ya stracks deß widerspils«. Die Bibel werde so in ihr Gegenteil verkehrt. Das Geheimnis der Bibel bleibe unter dem Umhang des Buchstabens verdeckt. Kurz: mit dem Buchstaben hätten die »Phariseer« Christus tot geschlagen.379 Wir treffen hier erneut auf die Vorstellung der doppelten Natur der heiligen Schrift als äußerliches und weltliches Buch des Buchstabens einerseits und inneres geistiges Buch andererseits. 377

Sebastian Franck übersetzte erstmals Erasmus, Lob der Torheit ins Deutsche. Die Ausgabe der Paradoxa in Quart, welche sich im Besitz Lochers befand, kann nicht eindeutig bestimmt werden. Anhand der Formatangabe ist die Erstausgabe von 1534 denkbar. Da Locher die Pforzheimer Ausgabe des Das verbüthschiert (…) Buch von 1559 besaß, verwende ich: Franck, PARADOXA | DVCENTA OCTO=|ginta, Das ist: | Zweyhundert vnnd Achtzig | Wunderred/ gleichsam Rhäter=|schafft/ auß der H. Schrifft/ so vor allem | f leisch vngläublich vnnd vnwar seind/ doch | wider der ganzen welt wahn vnd achtung/ | gewiß vnd war: Jtem aller in Gott Philoso=|phierenden Christen Rechte/ Göttliche/ | Philosophey/ vnd Teütsche Theologey/ vol=|ler verborgener Wunderred vnd geheimnuß/ | den verstandt allerley frag vnnd gemeine | Sprüch der H. Schrifft betreffende/ Auch | zur scherpffung deß vrteils überauß dienst|lich/ entdeckt/ außgefürt/ vnd an tag ge=|ben/ durch Sebastianum Fran=|ken/ von Wörd, Pforzheim (Georg Raben) 1559 [ZB Zürich Z IV S 98]. 379 Ebd., S. 2–5. 378

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Dieser Frage des Bibelverständnisses geht Das verbüthschiert Buch380 nach. Es enthält auf über 400 Seiten Bibelzitate, die einander widersprechen. So bringt es beispielsweise Sprüche, die belegen sollen, dass das Herz, der Wille und das Gemüt des Menschen von Natur aus böse seien, und stellt diesen eine zweite Sammlung entgegen, die das Gegenteil behauptet. Sebastian Franck bemüht sich nun nicht, diese Antinomien in der Bibel aufzulösen. Den Widerspruch hält er aus, für ihn ist die Schrift eben ein Paradoxon. Er ist überzeugt, dass die Bibel so oder anders interpretieren werden könne: Gott nenne nicht zu unrecht sein Buch ein Mysterium. »Wa es nun im plossen hellen buchstaben der Schrifft stund/ so were es […] kain gehaimniß.« Sonst hätten auch die Schriftgelehrten Christus anhand des blossen Buchstabens erkennen können. Die Schrift sei aber kein »offner brieff«. »Vnd diser brieff ist versigelt mit siben Sigel/ das jn niemande lesen oder auffthon kan/ dann die mit dem Taw bezaichnet/ das lamb angehören.« Zum richtigen Verständnis der Bibel müsse man Gott um das Licht des heiligen Geistes bitten, damit dieser die Siegel öffne. Gott offenbare nur den seinen, »was seines worts vnd willens sinn vnd gaist sey/ vnder dem buchstaben der Schrifft/ der welt verdeckt«. Die Bibel habe wie der Mensch eine f leischliche, körperliche und eine geistige Seite: »Der buchstab tödt/ Das f laisch ist kein nütz/ Der gaist aber macht lebendig«. Der tote Buchstabe werde erst durch den heiligen Geist in uns, durch Christus im Herzen, lebendig gemacht. Dass die Bibel ein rätselhaftes Buch sei, hat nach Franck seinen guten Grund: Denn Gott habe das so beschlossen »vnd also gefellt/ das kain vnraine saw noch vngelaßner hund zu diesem Hailigthum vnd schatz komme«. Würdig, das versiegelte Buch aufzutun seien hingegen diejenigen mit einem leeren Willen, mit einem gelassenen und armen Geist.381 Dann werde die Bibel »mit dem finger Gottes in die tafeln deß hertzens« geschrieben.382 Aus diesem relativierenden Bibelverständnis leitet sich die ganze Epistemologie Francks ab. Eine Erkenntnistheorie, die ähnlich wie bei Paracelsus und anderen bereits betrachteten Autoren von der Dualität einer trügerischen sensitiven Welt und einer innerlich durch den Geist wahrnehmbaren, wesentlichen Welt ausgeht: Überall in der Welt sei der Schein; die 380 Franck, Das verbüthschiert | mit siben Sigeln Verschlossen Buch/ | das recht niemande auffthun/ verstehen/ oder lesen kan/ | dann das lamb vnd mit dem Thaw bezaichnet/ das lamb angehö=|ren/ sampt einer vorred von den siben Sigeln/ was die seyen/ vnd | wie die auffgethon werden. zuletst ein klain einlaitung vnd | anweysung in die Hailige Schrifft/ wie man sich inn | Mosen richten/ die Prpheten lesen/ vnd Christum | das buch des lebens verstehen soll/ allen schü=|leren Christi/ vbung/ | vnd Götlichen räterschafft/ von | Sebastian Francken | fürgestellt, o. O. 1539 [Faksimile-Nachdruck der Ausgabe von 1559, Frankfurt/M. 1975]. 381 Ebd., Vorrede unpaginiert (ii–iii u. v). 382 Franck, Paradoxa, CLXXII (S. 226).

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scheinlose Wahrheit komme allein von Gott. Denn die Wahrheit sei unsichtbar im Geist. »Was aber menschlich/ sichtbar/ vnnd weltlich ist/ das wie es allein scheint/ also gilt es auch vor aller welt. Wer nun nicht verfaren wil/ der bleib nicht herauß an dem schein/ sonder grab tieff inn acker/ vnnd reiß weit auß der welt in sich selbs/ da wirdt er den vergraben schatz finden.« Wer nach der Wahrheit trachte, der müsse sich dem Weltlichen und trügerisch Scheinenden entsagen. Die Wahrheit, die allein durch den Geist erfasst werden könne, sei als ›verborgener Schatz im Acker‹ im Menschen selbst angelegt. Gott habe das Unsichtbare und Wesentliche in das Sichtbare und Figürliche verborgen. Er habe die Wahrheit nicht für Hunde und »seüw« an den Wegrand gelegt. Das Unsichtbare und Wesentliche sei durch Fleisch, Schein und Buchstaben verdeckt. Wolle man Christus finden, so koste dies Mühsal, es bedinge die Verleugnung seiner selbst.383 Aus den multiplen – geradezu beliebigen – Interpretationsmöglichkeiten der Schrift leitet Sebastian Franck seine Toleranzforderung ab. Er folgert, dass »einer also der andere also die schrifft interpretiert/ ein yeder wie es ihm Got geben/ vnnd es bey ihm stehet.« Und Franck, der wegen seiner abweichenden Gesinnung bedrängt und 1540 am Theologenkonvent in Schmalkalden als Spiritualist verdammt wurde, stellt rhetorisch an die Adresse der sich etablierenden protestantischen Orthodoxie die Frage: »Wie kompt es dann dahin/ das jetzt etlich so Morosi vnnd abergleubig seind wann einer ein spruch der schrifft/ nit eben verstehet/ wie in der oder ein ander deüt sonder wie es bey jm stehe«. Er gesteht, dass er die Bibel nicht überall so auslege wie dies die Orthodoxie vorschreibe. Er verwahrt sich aber gegen die Glaubensvorschriften und beruft sich auf den Spruch »Prüfe alles, behalte das Beste«.384 Franck fordert in religiösen Angelegenheiten die ›Unparteilichkeit‹ und wendet sich gegen die Konfessionskirchen, die er »secten und absonderungen« nennt und als Ursache der »welt grewel vnd lastern« bezeichnet. »Also hoff ich gere auch keiner das ich nach Papistisch/ Lutherisch Zwinglisch/ oder Teüfferisch genennt werde/ weil ich sampt jhnen auff Christum ruefft/ Christo nach/ ein Christ vnd nit benedictisch/ oder Turckisch wird genennt.« Weil eben das Verständnis Gottes bei Franck anthropomorph ist – »wie es bei jm stehe« –, lässt es sich auch nicht mit konfessionellen Grundsätzen fixieren. Er ist darum überzeugt, dass er seine »brüder/ und glider des leibs Christi«, seine Glaubensgenossen in allen Konfessionen, sowohl bei den Katholiken wie unter den muslimischen Türken finden könne.385 383 384 385

Ebd., S. 10 ff. Franck, Das verbüthschiert mit siben Sigeln verschlossen Buch, S. CCCCXXVII. Ebd., S. CCCCXXVII.

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In der Apokalypse und im Buch Daniel wird ein Zweikampf zwischen dem Tier und den Frommen angekündigt. Dieser Zweikampf, der laut Francks Interpretation zwischen der toten und lebendigen Auslegung der Schrift ausgetragen werde, bestimmt sein Kirchenverständnis: Der tote Buchstabe sei der Grund aller Sekten und der Kirchenspaltungen. Seine Kirche sei nicht eine Sekte oder eine bestimmte Gruppe, die sich an einem bestimmten äußerlichen Ort versammle; sie sei im Gegenteil ein unsichtbarer Leib aller Glieder Christi, die aus Gott geboren seien und in seinem Geiste und Glauben stünden. Die Kirche sei innerlich, im Gemüt, sie bestehe aus den neuen Menschen. Aus dieser Haltung heraus kritisiert Franck die Reformation: Das Aufrichten neuer äußerlicher Kirchen sei töricht.386 Der überkonfessionelle Standpunkt und der Toleranzbegriff sind bei Franck aufs engste verwoben: Die Toleranz leitet sich aus der konfessionellen Vielfalt ab und fordert die Gleichwertigkeit der Konfessionen und Menschen. Im 82. Paradoxon steht die unkonventionelle und fortschrittliche Ansicht: Gott sei auch der Gott der Heiden. Die ganze Welt sei vor dem unparteiischen Gott gleich: »Also liebet der lieb vnparteysche Gott noch heüt alle zu gleich hertzlich/ on ansehen der Person/ Namen/ vnd völcker/ die Heiden/ wie die Juden«.387 Entscheidend für Franck ist nicht die Zugehörigkeit zu einer richtigen oder falschen Glaubensgemeinschaft, sondern die Herzensfrömmigkeit verbunden mit einer an ethischen Grundsätzen orientierten Lebensweise. Mit dieser Denkweise wurzelt er tief in der humanistischen Tradition beispielsweise eines Erasmus und formuliert einen Toleranzbegriff, der auf einer universellen, alle Konfessionsgrenzen einebnenden Religion basiert. Diese teilweise schon bei Tauler vorgeformte Anschauung Francks übernahm Locher gänzlich. Im Verhör vom 1. November 1698 macht er aus seiner theologischen Haltung kein Geheimnis: »Christus aber könne sich einem ieden Menschen, Er seÿ Jud Heid oder Türk innerlich durch seinen Geist ofenbahren, und stehe es also beÿ Godt auf die oder andere Weise einen Menschen Selig zumachen, Er verdame niemand. Wir haben vor andern aus diesen Vortheil das wir das Wort Godtes haben«388 . Diese Meinung wurde letztlich zu einem festen Bestandteil des Zürcher Pietismus. Auch noch rund zwanzig Jahre später taucht sie im Verhör vom 6. Mai 1718 mit Johannes Koch, dem Perruquier aus Stein am Rhein, erneut auf. Er wiederholt fast wörtlich, es könnten auch Heiden, Juden und »Papisten« selig werden.389 Es ist nicht anzunehmen, dass sich der Perückenmacher mit Sebastian Franck auseinander setzte, vielmehr dürfen wir hier auf die Wirkung der handschriftlich ko386 387 388 389

Franck, Paradoxa, S. 8 f. Ebd., LXXXII (S. 97ff ). ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 6, Wahrhafftige Erzellung, S. 57. St AZ , E I 8.3, 6. Mai 1718; St AZ E II 56 [Pietistenkommission], S. 947.

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Abbildung 12: Titelholzschnitt aus Das Verbüthschiert Buch, von 1559 im FolioFormat. [ZB Zürich 3:34] Der Schnitt basiert auf dem Titelbild der Erstausgabe von 1539. Das Bild zeigt einen Propheten oder Magier – der an Darstellungen Hermes Trismegistos erinnert –, welcher mit verbundenen Augen, die geschlossene und versiegelte Bibel in mystisch-spiritualistischer Weise mit dem innern Auge zu lesen vermag.

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pierten Lebensbeschreibungen und Glaubensbekenntnisse Lochers schließen. Auch das Verhörprotokoll kursierte als Anhang zur »Wahrhafftige[n] Erzellung« mit Anmerkungen Lochers unter den Gleichgesinnten. Welchen Gottesbegriff nun umreißt Sebastian Franck in der Paradoxa? Gott ist dort ein subjektiver, anthropomorpher Gott: »Gott ist vnd thut einem yeden das er ist und wil.« Gott ist für jeden das, was er selbst sei: dem Bösen ist er böse, den Guten gut. Gott sei ein freier allgemeiner Wille, und so, wie ein jeder sich diesen aneigne. Alle Akzidenzien und Affekte, die man Gott andichte, seien bloß im Menschen. Gott werde erst im Menschen zum Willen, an sich selbst sei er willenlos. Dieser Gottesbegriff, das Verständnis von einem Gott, der erst durch die mensch liche Aneignung im Menschen selbst seine Eigenschaften annimmt, vermag nun für Franck auch zu erklären, woher das Böse in die Welt komme: Das Böse entstehe unabhängig von Gott einzig aus der Schuld und Bosheit der Menschen.390 Der Mensch und sein Wille seien frei: »Allein im willen/ affect vnd hertzen ist beyde die sünd vnd frombheit«.391 Die Konsequenzen dieser Auffassung von Gott sind noch weiter reichend. Gott nimmt nicht bloß für jeden Menschen die Gestalt an, so wie sich der Mensch Gott aneignet, Gott handelt auch entsprechend. Sein Tun liegt demnach in der Hand des Menschen. Das 21. Paradoxon weiß daher: »Gottes fürwissen/will/ vnd fürsehung/ bringt niemands kein not.« 392 Gott mag für Franck allwissend sein, die Prädestinationslehre hat bei ihm jedoch entschieden keinen Platz. Folgerichtig hat die Erbsünde keine Bedeutung: Adams Sünde schade niemandem. Die Erbsünde verdamme niemanden. Deshalb nütze auch die Gerechtigkeit Christi niemandem, außer demjenigen, der sie sich aneigne (»anzücht«).393 Für das Seelenheil ist demnach entscheidend, wie der Mensch sich Gott innerlich aneigne. »Christus aussert uns/ allein im f leisch erkennt/ ist kein nutz«.394 Ein Gott der nach menschlicher Vorstellung außerhalb des Menschen bestehe, hat somit für Sebastian Franck keine Bedeutung. Einzig Gott im Menschen ist Gott. Wir werden weiter unten noch sehen, dass sich Johann Heinrich Locher in einem Brief an seinen labadistischen Freund diesem Gottesbegriff stark annäherte. Das führt uns zu einem dritten Merkmal des Franckschen Gottesbegriffs: die ausgeprägte pantheistische Tendenz seines mystischen Spiritualismus. Pantheismus gilt allgemein als eine Begleiterscheinung der Mystik. Pantheistische Anlagen mögen beispielsweise bereits bei Tauler 390 391 392 393 394

Franck, Paradoxa, XXII (S. 42). Ebd., CCLXXI (S. 351). Ebd., XXI (S. 40). Ebd., CXXX (S. 166f ). Ebd., CXIII (S. 142) u. CXXXIII (S. 169).

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bestehen, wenn er Gott als Abbild im menschlichen Gemüt erstehen lässt. Franck ist nun aber wesentlich radikaler, wenn er Gott an den Menschen fesselt, wenn bei ihm Gott erst im Menschen seine Eigenschaften erlangt und so durch den Menschen seine Bedeutung erhält. Sind Gott und Mensch mit einander verwoben, so soll uns hier noch das Menschenbild kurz beschäftigen. Francks Menschenbild ist der mystischen Tradition entsprechend ein dualistisches. Etliche Vorstellungen, wie wir sie bei Böhme angetroffen haben, sind hier vorgeformt: »Zwen menschen sind in einem yeden menschen«. Der Mensch sei aus Geist und Fleisch zusammengesetzt, weshalb er Teil zweier entgegengesetzter Naturen sei: Er sei ein äußerlicher, bildlicher und ein innerer, wesentlicher Mensch. Erst beides zusammen mache den Menschen aus. Beide Eigenschaften seien in jedem menschlichen Herzen angelegt: »Das gut vnd böß sämlein ligt schon im acker/ zu welchem nur einer still halt/ das es in ihm auffwachß vnd frücht bringe/ nach dem wird er genennet Adam/ oder Christus«. Die Linie des Kain wurde allen zum inneren Adam. Kain und Abel seien der Spiegel des Gegensatzpaares Adam und Christus. Sei der Mensch in sich selbst eingezogen und habe er sein Fleisch abgetötet, so werde er ein gemütsreicher innerlicher Mensch des Geistes. Sei er hingegen ein weltlicher kreatürlicher Mensch, so sei er ein äußerlicher Mensch des Fleisches. Er könne sich auch in kurzer Zeit vom inneren zum äußeren oder umgekehrt wandeln. Deshalb sollen wir den alten irdischen Menschen verlassen und in uns kehren und das Gewand des neuen gottgleichen Menschen anziehen. Der alte Mensch sei durch Gott geschaffen. – Der neue Mensch sei aus Gott geboren und reiner (»lauter«) Geist.395 Die Wiedergeburt ist somit die wahre Gerechtigkeit Gottes. Doch der reine innere Glaube ist soteriologisch nicht ausreichend: »Der glaube ist on die werck tod/ ya kein glaube«. Wer den heiligen Geist nicht in sich habe, sei nichts wert. Wenn aber aus dem heiligen Geist nichts Liebes – keine gutes Werk – f ließe und der Gläubige bloß in Gott passiv versinke, dann sei dessen Glauben gleichsam tot und eitel, lieblos und nichts wert.396 Sebastian Franck wendet durch die Verbindung des Wiedergeburtsgedankens mit der Werkethik die Mystik zurück in die Welt und macht sie aktiv. Eine rein kontemplative Mystik ist für ihn so gut wie keine. Die guten Werke sind aber nicht die Bedingung zum Seelenheil, sie sind lediglich der Wiedergeburt nachgelagert und abhängig von dieser. Alle Werke seien vor der Wiedergeburt Sünde. Sie blieben dann bloß äußerlich. Nach der Wiedergeburt seien sie aber äußerlicher Ausdruck des neuen Menschen.397 395 396 397

Ebd., LXXIX (S. 91 ff.) u. CCXXXI (S. 289). Ebd., CCL (S. 308f ). Franck, Paradoxa, CCXLII (S. 301) u. CCLX (S. 320).

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Im Verhör vom 1. November 1698 äußert sich Locher ganz in diesem Sinne: »Christus seÿe der Weltheiland durch den Glauben und seinen Geist, die den Menschen widergebehren, daß wie Er zuvor einen guten Willen habe, dan Christi natur Würke in uns gute Werke, also bekome ein Widergeborener das Recht zum [ewigen] Leben werde Selig.« Die Frage der Examinatoren, ob es denn gute Werke brauche, um das Seelenheil zu erlangen, verneinte Locher hingegen.398 Er folgte damit Francks Begriff der Werkethik, der später durch Böhme, das Ehepaar Petersen oder Jane Leade aufgegriffen wurde. Schließlich sei hier noch auf einen Gedanken hingewiesen, der auf Sebastian Franck zurückgeht und sich über Weigel bis auf Johann Arndts Paradiß=Gärtlein erstreckt, nämlich das innerliche Gebet. In den 166., 168. und 170. Paradoxa ist Franck überzeugt, dass das Gebet nicht äußerlich und weltlich sein könne: »Die welt kan nicht betten.« Und: »Der mund bettet nit/ sonder ist allein deß bettenden hertzens dolmetsch. Das hertz [betet] allein/ vnd ein vnschuldiges leben mehr dann der mund.« 399 Bei Sebastian Franck aber auch bei Kaspar Schwenckfeld finden wir eine Reihe von Denkfiguren, die direkt oder über das Werk Jakob Böhmes in den radikalen Pietismus gelangten. Beachtenswert ist, wie Johann Heinrich Locher die Mühe auf sich nahm, diese als Eklektiker an ihrem Ursprung aufzusuchen. 2.3.3 Schlesische Spiritualisten Aus der politisch-konfessionellen Spannungssituation in Schlesien erwuchs gleichzeitig ein Bemühen, zwischen den Konfessionen zu vermitteln und einen Ausgleich im alltäglichen Leben herzustellen. Besonders die fürstlichen Höfe in Brieg und Liegnitz förderten evangelische Reformbestrebungen, die sich an einer lebendigen Frömmigkeit orientierten und einer konfessionellen Verhärtung, die mit der Ausbildung der protestantischen Orthodoxie einher ging, auszuweichen trachteten. In diesem Umfeld hatte auch nach dem Tod Jakob Böhmes eine Gruppe von Anhängern Bestand, die sich hauptsächlich literarisch hervor taten und unter dem Begriff »schlesische Spiritualisten« subsumiert werden.400 Zu nennen sind hier Abraham von Franckenberg, Augustin Fuhrmann und Theodor von Tschesch. Autoren, die allesamt in der Bibliothek Johann Heinrich Lochers anzutref398

ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 6, Wahrhafftige Erzellung, S. 58. Franck, Paradoxa, CLXVI, CLXVIII u. CLXX (S. 223). 400 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 3, S. 31; Zeller, Augustin Fuhrmann und Johann Theodor von Tschesch, S. 119. 399

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fen waren. Mit sechs Titeln ist Abraham von Franckenberg (1593–1652) in der Bibliothek der gewichtigste dieser Gruppe. Von ihm lassen sich die Schriften Mir Nach, 1675, Raphael oder Artzt=Engel, 1676 und Hausschule oder Kindertempel, 1648 nachweisen sowie drei nicht näher bezeichnete Traktate, die in einem Band vereinigt wurden. Gehen wir zudem davon aus, dass Lochers Auseinandersetzung mit dem Mysterium Magnum auf der Ausgabe von 1640 beruhte, so hatte er zudem die Gelegenheit, sich mit der in der Schrift abgedruckten ersten und maßgebenden Böhme-Biographie, Kurze Erinnerung des Lebens und Wandels Jacob Böhmes vertraut zu machen, die Abraham von Franckenberg zum Verfasser hat. Abraham von Franckenberg lebte nach seinen juristischen Studien in Leipzig, Wittenberg und Jena die meiste Zeit zurückgezogen auf seinem väterlichen Landgut in Ludwigsdorf in Niederschlesien. Sein abgeschiedenes Leben musste er 1642 auf der Flucht vor schwedischen Truppen für sieben Jahre aufgeben. Er fand Zuf lucht in Danzig. Abraham von Franckenberg unterhielt ein weitverzweigtes Korrespondenznetz und stand beispielsweise in brief lichem Kontakt mit Theodor von Tschesch, Abraham Willemszoon van Beyerland und mit den mystischen Lyrikern Daniel Czepko und Johann Scheff ler, genannt Angelus Silesius. Franckenberg wurde nachhaltig geprägt durch die Theosophie Jakob Böhmes. Ihm ist er auch persönlich begegnet. Er lässt sich aber nicht bloß auf einen Anhänger und Apologeten Böhmes reduzieren. Seine mystisch-spiritualistische Gedankenwelt war vielmehr in eklektischer Weise geprägt durch die deutschen Mystiker wie Sebastian Franck, Kaspar Schwenckfeld, Valentin Weigel, durch rosenkreuzerische Elemente und schließlich auch durch Johann Arndt.401 Der 1637 geschriebene Traktat Mir Nach 402 steht in der Tradition der Wiedergeburts- und Nachfolgeschriften. Er hebt sich lediglich bezüglich des f lüssigen und eleganten Stils ab: Der dritte Teil des Traktates mündet in eine religiöse Gedichtsammlung.403 Der erste Teil wird getragen von einer kosmologischen Gerichtsvorstellung. Eine Gerichtsvor401 Telle, Abraham von Franckenberg, S. 23 f.; Gilly, Abraham von Franckenberg und die Rosenkreuzer, S. 216–232. 402 von Franckenberg, Mir Nach | Das ist/ | Eine Ernstliche und Träwhertzige | Ermahnung | An alle | Christliche Gemainden/ | Zu Heiligem und GOttsehligen Wandel | in dem | Forbilde und der Nachfolge | Jesu Christi. […] || Aufgesetzt von Abraham von Franckenberg, Frankfurt/M. und Amsterdam (Heinrich Betke) 1675 [HAB Wolfenbüttel S: Alv Bd 493 (4)]. 403 Franckenbergs Frömmigkeitsprogramm ist beispielsweise im folgenden Gedicht kondensiert: Jesu Creutz/ Leben und Pein: Jesu dir sey Ewig Lob/ | Den du bist gecrönet/ | Durch dein eigne LeibesGab | Uns Gott hast versöhnet: | Durch dein unmäßliche Lieb/ | Laß uns nicht verterben/ | Sondern hilff durchs Geistes Trieb/ | Daß wir dein Reich erben. | Christe der du bist erhöht | Zum weigen Ehren/ | Unsren Alten Adam tödt/ | Den Geist thue ernähren: | Zeuch uns allesambt zu dir; | Daß wir empor schweben: | Begnad unsers Geists Begir/ | Mit deinem Newen Leben. Ebd., S. 111.

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Abbildung 13: Zweites Titelblatt zu Raphael oder Artzt=Engel von 1676. Die Bildsprache beinhaltet bereits theosophische Elemente, wie sie dann für die Stiche der Böhme-Ausgabe von 1682 charakteristisch sein wird. [ZB Zürich Md E 37]

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stellung, die als Reaktion auf die Konfessionskriege gelesen werden kann. Infolge des konfessionellen Zanks und des Unglaubens könne, so Franckenberg, die Strafe unmittelbar über die Menschen hereinbrechen. Denn wer die Gottesfurcht erkalten lasse, der müsse urplötzlich mit dem Zorn Gottes rechnen. Ein Zorn, der sich in Naturgewalten wie Springf luten und Sturmwinden äußere, oder aber in Hunger, Pest und Krieg: »das haben jehnige erfahren/ welche entweder von dem grimmigen Zorn-Feure des Herrn Urplötzlich verzeret; oder/ durch schröckliche SturmWinde und Weter zerschlagen; oder grausame Wasserf lüeten überschwämmet; oder/ durch grosse Erdbeben und Felsenbrüche verfallen; oder/ durch Feur und Schwerdt/ Hunger und Pest/ wüttende wilde Thiere/ und andere Leibes-Straaffen/ verfolget/ umbkommen/ darniedergerißen/ und also/ mitten in ihren Sünden/ ergriffen/ und dahin gefahren«.404 Dem strafenden Gericht entkomme der Mensch nur, wenn er in seinem Herzen Gottes Wohl- und Wundertaten selber empfinde. Die Menschheit kann in der Theologie Frankenbergs ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und das Strafgericht abwenden. Doch der Mensch solle nicht bloß aus Gottesfurcht sein Seelenheil suchen; Franckenbergs Frömmigkeit strebt nach mehr: man solle in einem gottseligen Leben einen lebendigen Glauben leben. Das heißt in die Fußstapfen Christi treten. Ist in Mir Nach der Einf luss von Jakob Böhme weniger deutlich, so ist er im Raphael oder Artzt=Engel405 ausgeprägt. Die kurze Schrift verklammert in naturmystischer Weise eine Kosmogonie, wie wir sie im Mysterium Magnum angetroffen haben, mit einer geistlichen Arznei paracelsischer Prägung. Abraham von Franckenberg war nicht nur ein unermüdlicher Sammler und Herausgeber der Schriften Böhmes, er übersetzte und edierte mehrere Schriften spiritualistischer Autoren.406 In Johann Heinrich Lochers Bibliothek lassen sich aus Franckenbergs editorischem Schaffen weitere Werke nachweisen. Zum einen Werke Bartholomäus Scleus sowie eine Schrift von Johannes Beer. Von Bartholomäus Scleus besaß Locher einerseits drei unter dem Titel Theosophische Schrifften vereinigte Traktate407 sowie die Auslegung des Vater404

Ebd., S. 7 f. von Franckenberg, Raphael | oder | Artzt=Engel. | Auff ehemahliges Ersuchen eines Gottliebenden | Medici A. S. || Auffgesetzt von | H. Abraham von Franckenberg, | Equite Silesio im Jahr 1639. | Jetzo aber durch zuthun guter Hertzen und | Forderer verlegt und ans Licht gebracht, Amsterdam ( Jacob von Felsen) 1676 [ZB Zürich Md E 37]. 406 Zeller, Augustin Fuhrmann und Johann Theodor von Tschesch, S. 144; Zu Franckenbergs Schaffen vgl.: Bruckner, Abraham von Franckenberg. A bibliographical catalogue. 407 Scleus, Theosophische Schrifften: | Oder | Eine Allgemeine und Geheime/ jedoch | Einfältige und Teutsche | Theologia; | Anweisend/ wie ein jeder Mensch durch des Geheimnuß | JE su Christi in uns/ zu dem wahren und lebendigen | Glauben und Erkäntnuß des Drey=Einigen | Gottes/ seiner selbst und aller Creaturen we=|sentlich gelangen/ und also das Reich Gottes | in der Seele wieder finden/ eröffnen/ und | im rechten Gebrauch 405

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Unser, Pater Noster, 1639408. Beide Werke wurden von Abraham von Franckenberg aus dem Polnischen übersetzt und mit einem kurzen Vorwort versehen. Mit dem Pater Noster war die Schrift Gewinn vnd Verlust 409 von Johannes Beer in einem Band vereinigt.410 Johannes Beer war Arzt und gehörte zum Freundeskreis Jakob Böhmes. Er lebte laut der Einleitung von Abraham von Franckenberg bei Bolckenheim in Schlesien und war durch die Mystik Taulers geprägt.411 Sein Werk wurde vorübergehend für eine Schrift des Philosophus Teutonicus gehalten.412 In dem schmalen Bändchen wird die spiritualistische Theorie eines geistigen Antagonismus zwischen einem »Englischen« oder himmlischen Geist und dem »verteuffelten Menschen Geist« entwickelt. Für Beer ist Gott selbst ein Geist, der alle Dinge durchdringt und umfasst (»der alle dinge durchgehet/ und alle dinge vmbfähet«). Dieser Geist sei das Leben und der Tod, das Licht und die Finsternis. Die Aufgabe des Gläubigen sei daher, die Geister zu unterscheiden, ob sie aus und in Gott seien oder außer und wider Gott. Er könne die innere Beschaffenheit und den Ursprung eines Geistes anhand der äußerlichen Werke und Früchte erkennen und unterscheiden. Nur durch diese Erkenntnis könne der Mensch sich selbst erkennen. Und erst wenn er wisse, was für ein Geist im Menschen sei, könne er Gott erkennen.413 aller Dinge/ | empfindlich geniessen solle: | Gegründet und angewiesen | In dem Dreyfachen Göttlichen Offenbahrungs=Buche/ | Als | Der H. Schrifft/ der Grossen und Kleinen Welt. | Geschrieben aus Göttlichem Liecht und Liebe zur Warheit vor alle | Menschen Anno 1596 in Klein Pohlen: Anietzo aber we=|gen seiner Vortreff lichkeit und hohen Nützen in dieser | Zeit/ zum gemeinen Besten ans Liecht befördert/ | und mit einem Register versehen, o. O. 1686 [ZB Zürich N 175]. 408 Ders., PATER NOSTER | Das ist | Eine geheime vnnd allgemeine Außlegung | Des heiligen Vater Vunsers/ | Darinnen gehandelt wird/ Was BETHEN seye? Was Anbethen solle? | Vnd wer der seye/ der da bethet? | Nebenst einem Anhange ettlicher Notwändiger Puncten zum Verstande des Wahren Christenthumbs gehörig: | Durch | D. Bartholomaevm Sclei, o. O. 1639 [ZB Zürich MFA 1:33]. 409 Beer, Gewinn vnd Verlust | Das ist ein | Geistlicher vnd Nützlicher | Bericht/ | Wie man allerley | Geistliche vnd Leibliche | Himlische und Irdische | Gütter | gewinnen vnd verliehren kan. | Allen denen | So diß anhero Schaden gelitten/ | Nun aber/ | durch wahre Buß vnd Glauben | In GOTT REICH vnd SEELIG | zu werden gedencken. | Zu erbawlichem Trost vnd Nutz auß | den Schätzen Gottes herfür gegeben | Durch einen getrewen Liebhaber | der | Göttlichen vnd Natürlichen Warheit, o. O. 1639(?) [ZB Zürich MFA 1:33]. 410 »gwün und verlust samt Scleys Paternoster«, ZB Zürich Ms. S. 276, Nr. 12 [Die Konfiszierten Bücher Johann Heinrich Lochers], S. 93. Vermutlich wurden beide Schriften vom Verlag als Einheit geliefert. Auch in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek lassen sich beide Schriften vereinigt nachweisen [12 Theol.14(1–2)]. 411 Wehr, Jakob Böhme, S. 23. Beer, Gewinn vnd Verlust, S. 10. 412 Bruckner, Abraham von Franckenberg, A bibliographical catalogue, S. 7. 413 Beer, Gewinn vnd Verlust, S. 6–9.

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Augustin Fuhrmann (1591–1644) stammte aus dem Fürstentum Brieg in Schlesien. Er schlug die Lauf bahn eines Pastors ein und wurde spätestens 1639 zum zweiten Hofprediger in Brieg berufen. Fuhrmann ist der kirchlichen Erneuerungsbewegung zuzurechnen, die am irenisch gesinnten Hof in Brieg gefördert wurde. Eine Stigmatisierung als radikaler kirchenkritischer Außenseiter blieb ihm so erspart. Fuhrmann darf nicht einfach als Böhmist betrachtet werden. Sein Denken wurde genauso durch Tauler, Arndt und Prätorius bestimmt.414 Die Schriften Fuhrmanns, mit denen sich Johann Heinrich Locher beschäftigte, lassen sich nicht eindeutig identifizieren. Das Konfiskationsregister erwähnt einzig zwei Bände: »Von Augustin Fuhrman Nebent etlich anderen Traktaten« und »Augustin Fuhrmans Schriften«, wobei letzterer bloß als »halbgute« Schrift bezeichnet wurde.415 Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit dürfte es sich um die von Henry Wilson 1679 in Amsterdam als Einzeldrucke herausgegebenen sämtlichen Schriften handeln.416 Es ist wahrscheinlich, dass Locher einige – wenn nicht gar alle fünf – Schriften in einem, bzw. zwei Bänden zusammenbinden ließ. Augustin Fuhrmann wollte mit seinen Schriften keine theologischen Neuerungen einführen. Er dringt vielmehr im Sinne Arndts auf eine Erneuerung des christlichen Lebens: »Diese Lehre ist nichts Neues; ist die Lehre Gottes/ der Ertzväter/ der Propheten/ Christi/ der Aposteln. Daß aber diese Lehre in der heutigen Christenheit Neu scheinet/ kömt daher/ daß man Praxin Christianismi hindan setzet.«417 Die vergessene, im Urchristentum wurzelnde Lehre ist der Weg in das menschliche Innere. Dieser Weg basiert nach Fuhrmann auf dem Gedankengut der deutschen Mystik und insbesondere auf Johannes Tauler. Die Vorstellung von der Geburt Gottes in der Seele, vom freien Willen, der erst wirklich frei sei, wenn er mit dem Willen Gottes übereinstimme sowie von der geistigen Armut sind einige wiederkehrende Elemente.418 Die mystische Verinnerlichung ist bei Fuhrmann – ähnlich wie sich das auch an der geistigen Entwicklung Johann Heinrich Lochers nachweisen lässt – die Möglichkeit, um die konfessionellen Gegensätze aufzuheben. Die verinnerlichte Frömmig414

Zeller, Augustin Fuhrmann und Johann Theodor von Tschesch, S. 122 ff.; Brecht, Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts, S. 215. 415 ZB Zürich, Ms. S 276, Nr. 12 [Die konfiszierten Bücher Johann Heinrich Lochers], S. 93 f. 416 Zeller, Augustin Fuhrmann und Johann Theodor von Tschesch, S. 122, Anm. 34. Die fünf Traktate werden ausführlich durch Zeller referiert. 417 Fuhrmann, Der Seelen Friedens-Ruhe. Wie die Seele in ihre Friedens-Ruhe solle wieder einkehren/ in dieser Zeit/ daß sie in Frieden ruhen möge in Ewigkeit (…) Amsterdam 1679, S. 149. Zitiert nach: Zeller, Augustin Fuhrmann und Johann Theodor von Tschesch, S. 129. 418 Diese Elemente der deutschen Mystik sind deutlich in: Fuhrmann, Brust-Bild der Liebe Jesu. Vorgestellt an dem Jünger/ welcher an der Brust Jesu lag, […], Amsterdam 1679.

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keit ist die Basis eines irenischen Christentums, das sich in einer christlichen Lebenshaltung äußert. Als Negativfolie zu dieser theologischen Haltung kritisiert Fuhrmann, die weltlich gesinnten Menschen glaubten, es sei hinreichend »wan sie nur sich Reformiert, Lutherisch oder Catholisch nennen«. Die Menschen würden sich mit dem konfessionellen Etikett zufrieden geben, so dass sie »um Religions-namen einander hassen/ verdammen/ verfolgen/ einer frömmer als der andere/ wegen des Nahmens/ wil gehalten werden/ da sie doch am sündigen Leben einander so gleich sind […]«.419 Diese Einschätzung Fuhrmanns, wonach sich die Konfessionskirchen bezüglich eines christlichen Lebens kaum voneinander unterscheiden, gleicht frappant der Kritik Johann Heinrich Lochers an den Konfessionskirchen in seinem Selbstzeugnis. In Venedig stellte Locher in jungen Jahren fest, dass Reformierte, Lutheraner, Katholiken, Griechen und Armenier sich darin ähnlich seien, dass sie alle bloß nach »Zeitlicher Nahrung, Reichthumb, Ehre und Wollust« trachten würden. Und er fasst seine kritische Beobachtung zusammen: Dieses alles bewoge noch mehr zu zweifeln, oder vil mehr zu glouben, dass kein einiger grosser partheyschen Hauffen, Er möchte auch Nammen und Titul haben wie er wolte, eine Reine Religion oder Kirche Gottes oder Gemeinde, Wie Paulus Eph: 5. sie beschreibt ausmachen könte.420

Sehr ähnlich klingt Fuhrmann in der Rettung. Auf die rhetorische Frage, wie es sich verhalte mit den christlichen Religionsgemeinschaften, den Katholiken, Lutheranern und Protestanten, die wegen unterschiedlichen Glaubensgrundsätzen miteinander im Streit liegen, antwortet Augustin Fuhrmann: »Aber ein wahrer Christ hat zum Zeugnüs und unterschied/ nicht ein Religions-Nahmen/ sondern ein Gottseliges Christliches Leben.« Ob man denn nicht einer Religionsgemeinschaft angehören müsse?, lautet die anschließende Frage. Fuhrmann antwortet, das Bekenntnis zu Jesus genüge, der Rest sei Menschenwerk. Das christliche Leben und die christliche Lehre gründen auf Gottes Wort und nicht auf ›Religionsmeinungen‹. Nur so werde wahres und falsches Christentum offensichtlich und für Sekten gebe es keinen Platz.421 419 Fuhrmann, Der Näheste und Kürtzeste, jedoch Warhaltige Weg, aus dem Fleisch und Eußeren in den Geist un Innern Menschen und aus dem Geiste durch Christum zu Gott zu kommen. Für die Einfältigen und Anfahenden auff eine Kindliche Weise auffgesetzt von Augustin Fuhrman. Amsterdam 1679, S. 24 f. Zitiert nach: Zeller, Augustin Fuhrmann und Johann Theodor von Tschesch, S. 131. 420 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 27, Freimüthiges GlaubensBekanthnus N. N. [ Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700, S. 4 f. 421 Fuhrmann, Rettung | Der | Alten Wahren Christlichen | Catholisch-Evangelischen | Religion, | Wieder etliche Hinderungen/ | Welche unter den | Religions-Kriegen | der Sathan unvermerckt gesäet. || Aus GOttes Wort und Geist | auffgesetzet durch |

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Wenn Johann Heinrich Locher auf seiner Reise in die Niederlande auf dem Rheinschiff nach Strassburg einen Glaubensstreit zwischen einer Katholikin und glarnerischen Reformierten schlichtet und von sich behauptet, er sei im ›eigentlichen Sinne des Wortes katholisch‹, so meint er dies im Sinne des Titels der Rettung als alte, wahre, christliche katholisch-evangelische Religion, d. h. als überkonfessionellen Rückbezug auf den tätigen Glauben der Urchristen und als eine Überwindung des Konfessionellen. Im eigentlichen Sinne katholisch heißt für ihn, einen Standpunkt jenseits des »Namen-Christentums« einzunehmen. Johann Theodor von Tschesch (1595–1649) wurde in Voigtsdorf in der Grafschaft Glatz geboren. Er studierte Jurisprudenz in Marburg. 1619 berief ihn der Winterkönig zu seinem Rat. Danach bekleidete er vorübergehend Hofämter in den schlesischen Herzogtümern Liegnitz und Brieg. Ein lebensgefährlicher Unfall – er stürzte im Schloss Liegnitz von der Treppe – markierte 1621 einen Wendepunkt im Leben Tscheschs. Von da an zog er sich auf ein verinnerlichtes Leben in Christus zurück. Ende 1622 veranstaltete er ein Gespräch mit Jakob Böhme, an welchem auch sein Freund, Abraham von Franckenberg, teilnahm. Tief beeindruckt von Jakob Böhme wurde Tschesch zu seinem Propagandisten und Verteidiger, namentlich während der Jahre, die er als Flüchtling des 30-jährigen Krieges in Amsterdam zubrachte. Er war aber nicht einseitig durch Böhme beeinf lusst, er bekannte sich auch durch das Studium Johann Arndts zur Lehre des »Christentum[s] in uns«.422 Von Johann Theodor von Tschesch besaß Johann Heinrich Locher einen oder vielleicht zwei Traktate. Das Konfiskationsregister weist bloß ein als gefährlich eingestuftes »Büchlein von Tschtsche[?]« aus und verzeichnet seinen Namen noch in einem weiteren unklaren Eintrag als »Wider Tschetsch von J B – Schriften«. Mit diesem Eintrag könnte die Zweifache Apologia, 1676, eine Verteidigung Jakob Böhmes gegen die Kritik des Utrechters, David Guilbertius, gemeint sein. Wahrscheinlicher ist aber eine Entgegnung auf die Böhme-Apologie durch Johann Theodor von Tschesch. Was Johann Heinrich Locher von Johann Theodor von Tschesch genau las, können wir nicht rekonstruieren; jedenfalls dürfte er sich mit einer

Augustin Fuhrman | Pfarrern in Tscheplowitz in Schlesien/ | und der Fürstlichen Schloß= Kirchen | zum Brieg Diaconum, Amsterdam (Heinrich Betke) 1679. Hier zitiert nach der Ausgabe Amsterdam (Heinrich Betke) 1658 [HAB Wolfenbüttel A: 1252.3 Theol.], S. 18–22. 422 Zschoch, Tschesch, Johann Theodor von, S. 655 ff.; Zeller, Augustin Fuhrmann und Johann Theodor von Tschesch, S. 137 ff. u. 142. Siehe auch: Brecht, Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts, S. 215.

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der Jakob Böhme propagierenden Schriften beschäftigt haben.423 Diese Schriften haben das gemeinsame Ziel, Böhme als rechtgläubigen und hocherleuchteten Christen gegen jede Kritik zu verteidigen und gleichzeitig in dessen Werk einzuführen. In der Zweifachen Apologia versucht er ihn beispielsweise vor dem Vorwurf David Guilbertius zu verteidigen, der den Philosophus Teutonicus des Enthusiasmus, der Nigromantia, der Widersprüchlichkeit und der Ketzerei bezichtigte. Tschesch verwirft die Anschuldigungen mit einem polemischen Vergleich: Wie die Religionskriege, so seien auch die theologischen Streitschriften ein Ausdruck der von Christus abgefallenen »creatürlichen Vernunft«, die im Teufel ihren Ratgeber finde; auch bei der vermeintlichen Widerlegung des hocherleuchteten Jakob Böhmes durch David Guilbertius, der »freventlich/ blindlings und unverständig« gegen Böhme polemisiere, handle es sich um eine solche.424 2.3.4 Die Böhme-Literatur und -Streitschriften Die nicht eindeutig bestimmbare Schrift »Wider Tschetsch von J B – Schriften« ist bloß eine von mehreren Schriften aus Johann Heinrich Lochers Bücherbesitz, die eine publizistische Kontroverse um das Werk Jakob Böhmes zum Gegenstand haben. Vier weitere Streitschriften, die Anhänger und Gegner des Görlitzer Theosophen gegen einander verfassten, sind in der Konfiskationsliste verzeichnet. Dabei fällt auf, dass Locher sich mit beiden Seiten befasste, was bestimmt auf seinen suchenden Charakter zurückzuführen ist. Er scheint sich keineswegs der kritischen Auseinandersetzung mit Jakob Böhme verschlossen zu haben, getreu seinem eklektischen Motto aus dem ersten Thessalonicherbrief: Prüfe alles, behalte das Gute! Je zwei Werke sprechen sich für bzw. wider Jakob Böhme aus. Ein Traktat, den die Examinatoren mit »wider J. Bohmen, ohne autor« umschrieben, konnte anhand der spärlichen bibliographischen Angaben 423 Zur Bibliographie der Werke von Tschesch vgl.: Koffmane, Die religiösen Bewegungen in der evangelischen Kirche Schlesiens, S. 61 ff. Koffmane weist insgesamt 24 Werke nach. 424 Tschesch, Zweifache | Apologia, | und | Christliche Verantwortung | auf die lästerliche Hauptpuncte | David Gilberti von Utrecht/ | ins gemein: | Wider die Person und Schriften | des theuren und hocherleuchteten | Manns Jacob Böhmens von | Görlitz aus der Ober=Lausitz ge=|bürtig/ sonsten Teutonici genant. | Zur Ehre Gottes/ vertheidig= und | Beschirmung der Warheit und ieder=|manns Erbauung/ von diesem in | Holländischer Sprache an den | Tag gegeben/ | Durch Johann Theodorum Tschesch/ | einem Gott-ergebenem Schlesischem | Edelmane. | An ietzo aber | Wegen seiner Vortreff ligkeit/ und der | darinn befindlichen herzlichen Erklärung vie=|ler/ denen anfahenden Leser dieser Wunder=|schrifften schwerer/ und fast anstößlicher Wör=|ter und Redensarten/ getreulich in un=|ser Hochteutsche Muttersprach übersetzt/ | von | Eine[m] Liebhaber Göttlicher Geheimnisse, o. O. 1676 [ZB Zürich Gal Tz 1271], S. 3.

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nicht identifiziert werden. Vielleicht handelt es sich um die allenfalls anonym erschienene Schrift des Thüringer Pfarrers Johann Möller gegen Jakob Böhme. Auf diesen nicht auffindbaren Traktat bezieht sich die Wolgemeinte Gegen=Erkärung eine weitere Schrift aus der Bibliothek Lochers. Ob die zwei aufgeführten Schriften aus Lochers Bibliothek gegenseitig auf einander verweisen, muss offen bleiben. Ein direkter Zusammenhang lässt sich dagegen zwischen Johann Christoph Holtzhausens Teutscher Anti-Barclajus, in welchem auch vor den Werken Jakob Böhmes gewarnt wird, und Johann Jakob Zimmermanns Orthodoxia Theosophiae Teutonico Böhmianae herstellen. Die Wolgemeinte Gegen=Erkärung, 1685425 aus der Feder eines unbekannten Autors richtet sich gegen die Angriffe Johann Möllers, eines Pfarrers in Notleben gegen den Görlitzer: Besonders Jakob Böhme sei dem Spott der Stolzen und Weltgesinnten ausgesetzt; einer dieser Lästerer sei jüngst der Pfarrer Johann Möller aus Notleben in Thüringen, ein »Fanatische[r] Atheist« der in seinem »Lästerbuch nichts als ein Mischmasch« aus Unverstand der Böhme-Schriften anfertigte.426 Diese Apologie ist kaum eine echte inhaltliche Auseinandersetzung mit Möller und dessen Text, sie besteht vielmehr in Kraftausdrücken. Der Text des Widersachers dient hauptsächlich als Zielscheibe für Verbalinjurien wie »Läster=Brühe« oder »heidnischer Schulgeist«. Über weite Strecken ist die Schrift eine Hagiographie Böhmes, indem er zum Warner und Ankläger stilisiert wird: Gott habe Jakob Böhme als Werkzeug ausersehen, als einen »Ankündiger und Vorstrahl des herannahenden großen Sabbath-Tages«. Er habe die Ratschlüsse und den Willen Gottes nochmals und zum letzten Mal allen Menschen zum Heil dargelegt. Der anonyme Autor misst Böhme hier eine messianische Bedeutung zu. Daraus konstruiert er eine Dreiheit aus Tauler, Luther und Böhme, die alle zum Werkzeug des Herrn erweckt worden seien. Und die Folge dieser Erhöhung des schlesischen Schuh machers zum Propheten: man dürfe nicht gegen Böhme auftreten, ohne sich wie die Ankläger Jesu schuldig zu machen.427 Das Werk Böhmes sei durch das Nachdenken des Herzens, von irdischen Gedanken abgesondert, entstanden. Auf der anderen Seite der Frömmigkeitsskala siedelt der Apologet die pharisäischen Geistlichen an und holt – 425

Wolgemeinte | Gegen=Erklärung | über die Theosophische Schrifften/ | Des von

GOtt hoch=erleuchteten | Jacob Böhmens: | Aus Veranlassung des unter dem Namen | Jo-

hann Möllers/ Pfarrers zu Notleben in | Thüringen/ | Vor wenig Jahren über dieselbe aus dem Reiche der Finster=|nuß herfürgegebenen verläumbderischen Urtheils/ | der Fanatische Atheist genannt/ | Und an seinen Mahlzeichen Handgreiff lichen dafür erkandten | Guten Freunden/ So die helle klare Warheit und nichts | Geschmincktes lieben/ zu Liebe aufgesetzet, o. O. 1685. [HAB Wolfenbüttel M: Tq 427]. 426 Ebd., S. 3 f. 427 Ebd., S. 9–13.

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in brecklingscher Manier – zu seiner Kirchenkritik aus: Die Geistlichen würden die knechtische Vernunft zum Maßstab der Bibelauslegung erheben. Und er tituliert sie als weltfröhlich, trunken und zänkisch. Sie freuten sich mit den Mächtigen über die Ausbeutung und Qualen der Untergebenen. Und sie würden »das Frevel=Regiment mit grossem Kirchen=Pracht schmücken«. Gott werde durch das äußere Werk der Geistlichen gelästert, es werde bloß »Ceremonie-Werk« geleistet.428 Schließlich wendet sich die Wolgemeinte Gegen=Erkärung noch einer Frage zu, der für die damaligen Böhmeanhänger und ihrem Selbstverständnis eine wichtige Rolle zukam: Es ist die Diskussion, ob es im Zeitalter des Neuen Testamentes noch Weissagungen und Propheten geben könne. Die Orthodoxie war entschieden der Meinung, dass mit der Etablierung der christlichen Kirche keine Propheten mehr notwendig seien. Der Verfasser des apologetischen Textes ist von der Auffassung überzeugt, dass auch in neuerer Zeit Gott Propheten zur Warnung der abgefallenen Christen aussende – Jakob Böhme sei der Beweis.429 Ernsthafte Bedenken, ob Böhme nicht doch prophetische Autorität zukomme, hatte Johann Christoph Holtzhausen (1640–1695) als er im Teutscher Anti-Barclajus, 1691430 im Anhang auch den Görlitzer Theosophen angriff. Philipp Jakob Spener musste ihn in mehreren Briefen trösten. Mit der Argumentation, Böhme habe zwar das Licht der göttlichen Wahrheit erblickt, sei selbst aber nicht göttlich gewesen, konnte der »Vater des gemäßigten Pietismus« Holtzhausen dann die Skrupel nehmen.431 Als Student neigte Johann Christoph Holtzhausen zum Spiritualismus, weswegen er aus Hamburg vertrieben wurde und vorübergehend im Pfarrhaus Friedrich Brecklings eine Bleibe fand. Er weilte später in Sulzbach und wandelte sich schließlich zum gemäßigten Pietisten. Er fand zurück in den Beruf eines Pfarrers und wurde 1682 in Frankfurt einer von Speners Kollegen.432 Noch ein weiterer Skrupel plagt den Autor des Teutscher Anti-Barclajus: Der Vorwurf, er sei ein Vertreter des »Schul=Gezäncks«. Er beteuert mehr428

Ebd., S. 14, 4. u. 8 f. Ebd., S. 30. 430 Holtzhausen, Teutscher Anti-Barclajus, | Das ist: | Außführliche Untersuchung | Der gantzen | Quäckereÿ | und Apologiä | Roberti Barclay, | Darinn | Dessen höchst= gefährliche Jrrthümer/ | schändliche Sophisterey/ und greuliche | Verkehrungen der Sprüche H. Schrifft | auffgedecket und widerleget; | Hergegen unsere Evangelische Lehr= Puncten | gegen seine Beschuldigungen und Lästerungen | sattsam behauptet werden. | Sampt einem | Kurtzen Anhang einiger Anmerckungen | Uber Jacob Böhmens Schrifften/ | sonderlich seine so genandte Auroram: | Zur Warnung und Verwahrung | gegen solche falsche Lehre: | Auffgesetzt von | M. Johann Christoph Holtzhausen/ | Evangelischer Prediger in Franckfurt am Mayn, Frankfurt/M. 1691 [ZB Zürich MFA 272]. 431 Brecht, Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, S. 320. 432 Ders., Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts, S. 231; Wallmann, Philipp Jakob Spener, S. 205. 429

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fach, dass er aus seinem Glauben heraus vor dem falschen Sekten und »Ketzerischen Büchern« warnen müsse. Das 1200 Seiten starke Werk enthält einen Anhang, in welchem Holtzhausen auch kritisch auf die Aurora Jakob Böhmes eingeht. Er sieht sich dazu veranlasst: »Weil dann nun in diesem Seculo bey einigen so viel Wercks gemacht ist von des Böhmens Schrifften; und dann selbige geschickt befunden werden/ die Gemühter der fürwitzigen Menschen zu der Quackerey zu praeparieren/ also werden unsere Zuhörer auch bilich dafür gewarnet.« 433 Holtzhausen stellt einen Zusammenhang fest zwischen der begeisterten Aufnahme der Werke Böhmes und der Herausbildung alternativer Glaubensformen, wie beispielsweise derjenigen der radikalen Pietisten, die Anfang der Neunzigerjahre oft noch als Quäker bezeichnet wurden. Er bemängelt an Böhme, dass er naturphilosophische und alchemistische Begriffe in die Theologie einführe. »Er [Böhme] will nicht allein Jesum Christum lehren/ sondern wie alles gewesen in der Natur und im Anfang worden ist/ wie die Natur und Elemente creatürlich worden sind.« Er verurteilt die theosophische Weltanschauung. Er hält sie für schädlich, da sie die Phantasie bloß mit unnützen Spekulationen verwirre. Die Liebhaber solcher Bücher seien im Kopf beinahe verrückt. Deshalb könne er, so Holtzhausen, nicht anerkennen, dass »diese Wahnes Schrifften zu einiger wahrer Christlicher Andacht Anlaß geben könne«. Darum höre er aus dem Werk Jakob Böhmes keinesfalls die Stimme Gottes.434 Noch im selben Jahr antwortet Johann Jakob Zimmermann (1642–1693) unter dem Pseudonym Johannes Matthaei auf die Angriffe Johann Christoph Holtzhausens auf Jakob Böhme mit einer 350 Seiten starken Verteidigungsschrift: Orthodoxia Theosophiae Teutonico Böhmianae contra Holtzhausium defensa, 1691435. Einleitend macht der Autor klar, dass er nicht auf 433

Holtzhausen, Teutscher Anti-Barclajus, S. 1155. Ebd., S. 1156 f. u. 1160. 435 J. J. Zimmermann, Orthodoxia Theosophiae Teutonico Böhmianae | contra Holtzhausium defensa, | Das ist | Christliche | Untersuchungen | der Holtzhäusischen | Anmerckungen | Uber und wider Jacob Böhmens | Aurora | Oder | Gründl. Vertheidigung der Alt=Evangel. | Lehre des hocherleuchtet. J. Böhmens/ eines in seinen jungen Jah=|ren gewesenen Viehhirten seines Vaters/ und nachmahls ge=|wordenen Schusters zu Görlitz/ gegen Hr. Joh. Christoph Holtz=|hausen/ verordneten Predigern in der Käysfreyen Reichs=|Wahl= und Handel=Stadt Franckfurt am Mayn/ welcher | im Anhang seines Anti=Barclaji, mit übel=|ständigen Anmerckungen dessen Buch Au=|roram genandt/ | Gleich wie Amasias der verordnete Priester im Königl. | Stifft Bethel die Weissagungen des Propheten Amog | des gewesenen Kühhirten von Thecoa/ | Ohne wahre Erkäntnuß seiner Göttl. Mysterien | in jüngst verwichener Herbstmeß unevange=|lischer Weise zu beschmützen sich | unternommen: | Nebens einem Anhang/ worinen andere Anti=Böhmisen kürtz=|lich beantwortet werden; auff Begehren in Einfalt | zu Papier gebracht | Von | M. Johanne Matthaei [= Johann Jakob Zimmermann] | einem Evangel. Prediger, Frankfurt/M. und Leipzig 1691 [HAB Wolfenbüttel Xb 7431]. 434

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die Auseinandersetzung um Robert Barclay eingehen wolle, er gehöre nicht seiner »Partei« an. Aber die Auseinandersetzung um Jakob Böhme lässt er zu einer Auseinandersetzung über den (radikalen) Pietismus werden. Johann Jakob Zimmermann führt somit ein neues Element in den Streit um den Philosophus Teutonicus ein. Er, schreibt Zimmermann, möge als Separatist scheinen: »Die Ursache dessen ist der offenbahre gottlose und ärgerliche Wandel so vieler Antipietistischen [Kirchen-]Vorsteher«. Und er fährt fort, wenn Luther mit der Schrift zeige, dass es kein größeres Unglück auf der Erde gebe, als den Antichrist, so könne ihn niemand tadeln, wenn er gegen die Wider-Christen vorgehe. Denn die Antipietisten seien heutzutage die größten Ketzer und Antichristen. Sie verstünden das Wort nicht und schrieben deshalb gegen die Kraft der Wiedergeburt. Diese Antipietisten wollten nicht dem Leben Christi nachfolgen, hingegen finde man unter ihnen die »Advocaten des Fleisches«. Sie würden versuchen die Obrigkeit gegen die radikalen Pietisten in Glaubenssachen zu vereinnahmen. Der Tradition der Böhmeverteidiger folgend schließt er: »Summa/ sie [= die Gegner der radikalen Pietisten] roten Christum/ so viel an ihnen ist/ bey den Zuhörern aus/ und lästern die Nachfolg Christi an den armen Layen.«436 Für Johann Jakob Zimmermann ist es ebenfalls gewiss, der Schuster Jakob Böhme müsse als ein prophetisches Werkzeug Gottes betrachtet werden. Umso schwerer wiege es, dass sich Holtzhausen nun zum Richter gegen dieses göttliche Werkzeug aufschwinge. Dabei habe sich Gott ab dem Theologengezänk erbarmt und den Menschen die göttliche Philosophie durch Jakob Böhme offenbart. Nach Ansicht des Verfassers ist diese Offenbarung dringend notwendig, denn seit Luthers Tod seien die Vorsteher der Kirche untereinander heillos in Streit geraten. Die Katholiken zerfallen in Quietisten und Anti-Quietisten, die Lutheraner in Pietisten und Anti-Pietisten und die Calvinisten in Labadisten und Anti-Labadisten. Den Grund des konfessionellen Streites erkennt Zimmermann im schädlichen Geist der scholastischen-aristotelischen Lehre. Der Aristotelismus habe die Hochschulen erobert und unterdrücke die göttliche Lehre. Dabei habe doch Luther mit dem Papst gebrochen, weil dieser den Aristoteles als ›Neben-Licht‹, als zweite Wahrheitsquelle neben Gott, installiert habe. Die Schriften Böhmes würden nun dem Aristoteles zuwider laufen. Da aber die meisten Theologen sich auf eine aristotelische Scholastik abstützen würden – was Luther ganz zu wider gewesen sei –, würde Böhme nicht nur nicht verstanden, sondern auch als mit der Bibel unverträglich angesehen. Dabei hätten ja bereits die Cartesianer gezeigt, dass Aristoteles auf schwachen Beinen stehe.437 Die Auseinandersetzung um Jakob Böhme 436 437

Ebd., Vorwort unpaginiert (2 Bogen 3r-6r). Ebd., Vorwort unpaginiert (2v-7r).

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wird hier explizit zu einer radikalen Ablehnung der aristotelischen Orthodoxie, womit Zimmermann ein weiteres und neues Element in die Kontroverse einbringt: Böhmes Werk ist eine göttliche Offenbarung wider die aristotelische Scholastik. Der Kämpfer gegen das aristotelische Weltgebäude war ein überzeugter Anhänger des Kopernikus. Zimmermann war selbst mathematisch-astronomisch tätig und verfasste mehrere Werke über Kometen und über die Planetenbewegung. In der Schrift Exercitatio Teoricorum Copernico-Coelestium Mathematico-Physico-Theologica, 1689 stellt er nicht bloß auf der Grundlage von Kepler, Descartes und Newton Berechnungen über Mond- und Sonnenfinsternisse an, sondern versucht diese – angeregt durch Jakob Böhme und Hermes Trismegistos – mit der Bibel in Einklang zu bringen, um auch aus theologischer Perspektive das kopernikanische System zu beweisen. Und in der Cometoscopia 1681 interpretiert er in chiliastischer Weise die Kometenerscheinungen der Jahre 1680 und 1681 als endzeitliche Zeichen eines bevorstehenden Strafgerichtes durch Krieg, Hunger und Teuerung. Die Kometen stellen für ihn ein göttliches, kosmisches Zeichen dar. Sie haben die Aufgabe, die Menschen zur Buße aufzuwecken. Martin Brecht vermutet, dass Zimmermanns Auswanderungspläne mit seiner Kometendeutung zusammenhingen. Er wollte nach Pennsylvanien, weil er glaubte, der neue Kontinent werde vom Strafgericht verschont werden. Schließlich übte er sich auch in endzeitlichen Berechnungen.438 Johann Heinrich Locher beschäftigte sich neben der Orthodoxia Theosophiae Teutonico Böhmianae noch mit einer weiteren Schrift Johann Jakob Zimmermanns. Die anonyme Beantwortung der vierzig kritischen Fragen des pietistischen Pastors Abraham Hinckelmann über Böhme: Verlangte Christliche Beantwortung, 1693439. Auch in dieser Abhandlung trachtete Zimmermann, den Görlitzer Schuster gegen die Angriffe seitens der Orthodoxie zu verteidigen. Er will nachweisen, dass Böhme sehr wohl mit der lutherischen Theologie übereinstimme. Das Buch ist in der Konfiskationsliste nicht verzeichnet. Vermutlich verblieb es in der Bibliothek des mit Johann Heinrich Locher befreundeten Bonstetter Pfarrers, mit dem er ein Jahr nach Erscheinen des Werkes am 15. Juni darüber disku438 Zu Johann Jakob Zimmermann vgl.: Brecht, Chiliasmus in Württemberg im 17. Jahrhundert, S. 36–49; Wolfes, Zimmermann, Johann Jakob, S. 1587–1597. 439 [ J. J. Zimmermann,] Verlangte | Christliche Beantwortung | Deren Viertzig | Wichtigen Fragen/ | betreffende | Jacob Böhmens | Lehre/ so in seinen Schrifften soll | enthalten seyn/ | Welche von | (S. T.) H. Abraham Hinckelman D. | Allen Liebhabern derselbigen sanfftmühtig zu | beantworten/ in öffentlichen Druck fürgelegt | worden/ || Gantz unpassioniert und unpartheyisch ( jedoch einem anderen/ | der tieffere Einsicht in diese hohe Tieffe hat/ nicht zu praejudicieren[)]/ | nach dem Maaß das GOtt darreichte/ entworffen | und an Tag gegeben. Von J. J. M. E. D., Amsterdam 1693 [SUB Göttingen Th Polem. 148/ 1:3 (22)].

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tierte. Johann Kaspar Hardmeyer notierte in seinem Tagebuch das zustimmende Urteil über Zimmermanns Schrift: »Ich gestehe selbs, daß die Beantwortung der angezogenen 40 Fragen ahrtig und tiefsinnig belegt ist«. Und Locher konnte nähere Angaben zum anonymen Autor machen: Hernach waren wir zu Rede der Beantwortung des von Dr: Abraham Hinkelmann aufgesetzten 40 Fragen über Jakob Böhmen Lehr, daß sie einen wichtigen Vortrabe hädten und wolauf aufgesezet wären wer doch der Verfasser seÿn möchte? Antwort: Es wäre Hr Zimmermann, der seiner Bekantnuß nach ein Lutherischer Prediger gewesen, darneben sich auf die mathematischen Künste sich tref lich geleget, endlich aber durch die Veiduns[?] Jakob Böhmens Schriften willen wäre verjagt worden, seÿe nachher nach Frankfurt kommen, wo er ihn auch besprochen hädte, endlich nach Hamburg und von da gen Amsterdam sich verfüegt, wo er vorhabens worden in Pensilvania abzuschifen, Godt aber hat Ihne zuvor in sein Reich gefordert; inndessen seine Witwe und Waisen von Gönern unterstüzet worden, auch sich nach Pensilvanie zu begeben entschlossen gehabt.440

Johann Heinrich Locher lernte Zimmermann auf der Rückreise aus Wieuwerd im September 1686 persönlich in Frankfurt kennen. Er logierte bei seinem Glaubensgenossen Christian Fende und traf auch mit Johann Jakob Schütz, der zentralen Figur des radikalen Pietismus, zusammen. Zur selben Zeit befand sich Johann Jakob Zimmermann im Frankfurter Exil, wo er in Schütz’ Haus gastlich aufgenommen wurde. Zuvor war er wegen seiner chiliastischen Neigung aus dem württembergischen Kirchendienst entlassen worden.441 Offensichtlich interessierte sich Locher weiterhin für den Lebensweg Zimmermanns, so dass er bis zu dessen Tod in Rotterdam über sein Wirken bestens unterrichtet war. Noch eine weitere Frage beschäftigte und irritierte Locher und Hardmeyer im Zusammenhang mit Zimmermann. Eine Frage, die wohl eng an die Diskussion anschließt, ob es in neuerer Zeit noch Propheten gebe, ob Gott durch einzelne Menschen spreche und sich ihrer als Werkzeug bediene: Es ist die Frage der auf keimenden Inspirationen. Locher berichtet: Hr. Zimmermann hädte auch viel auf den Entzukungen gelegen, wiewol er beÿ sich dennoch nichts dergleichen verspüret, ungeachtet unter seiner Gebete seine Angehörige und andere Zuhörer wäre des He[iligen] Geist überfallen worden, welcher sie auch als würkung des Gebedts gegen ihne erkannt und gerümet. Beÿ dieser Anlagten fragte mich Hr Locher was ich von dergleichen Verzukungen sonderbar aber von des Knaben zu Birmensdorf seines bescheÿnungen hielte? Ich antwortete; Es wäre in diesem fahle mit dem Urtheil vernünftig zu gehen, und müesse man alle umstähnde zu vor klüglich durchforschen, ehe man darvor was 440 ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 90, Eintrag vom 15. Juni 1694. 441 ZB Zürich Ms. S. 276, Nr. 18, S. 6.

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endliches schliessen könnte, und gestehe ich gern, daß ich diesen falle ein zweifelder Cartesianer wäre, der weder gutes noch böses darvor schliessen, sonder das ganz Geschäft dem lieben Godt übergeben wöle! dann gewüß daß der Satan sich in einen Engel des Geistes zu vergestalten angewannt habe; daß aber auch deßwegen ein Liebloses Urtheil zu fällen wäre gefärlich, wolte derowegen weder grüblen noch wüssen wie es Godt gefallen werden zuentdeken der Sache Eigenschaft und Wesen! Wormit Hr. Locher vergnüegt, von Hrn Zimmermann fortfuehre zuerzehlen, daß er ein klein unachbares Männlein darneben auch in der Gesellschaft und und dem Umgang (Conversation) so gar angenehme nicht; Jedoch sehr tiefsinnig gewesen wäre, […].442

Die Werke Jakob Böhmes polarisierten die nachfolgenden Generationen. Für die einen ist er ein Verführer, Phantast oder gar ein Wahnsinniger, für die andern ist er ein göttliches Werkzeug, ein Gesandter gegen Orthodoxie und Aristotelismus. Interessant ist, wie Böhme durch den radikalen Pietismus vereinnahmt wird und zu einem Heiligen oder Vorläufer eines wiederkehrenden Christus stilisiert wird. Aus Böhme wird ein Pietist! Er wird geradezu zum Vater des radikalen Pietismus erhoben.443 Es wird ein Bild gezeichnet, das Arndt weit überstrahlt: Ein Angriff auf Jakob Böhme wird als allgemeiner Angriff auf den Pietismus verstanden. 2.3.5 Die »holländische Krankheit« Die Niederlande und ihre Politik der religiösen Toleranz waren der Zuf luchtsort für die Nonkonformisten, Chiliasten und Spiritualisten, die in Deutschland verfolgt wurden. Besonders Amsterdam wurde zu einem Zentrum der Abweichler. »Dass die Bewegung sich gegenseitig verstärkte, liegt in der Natur der Sache begründet. Die nachhaltigste Wirkung hatte jedoch Jakob Böhme. Er muss für die ganze Zeit eine ungeheure Faszination besessen haben.«444 Auf diese Weise interpretiert van Ingen den großen Einf luss, den Jakob Böhme auf die deutsche Emigration in den Niederlanden ausübte. Als erstes denkt man hier an Gichtel und Gifftheil. Bemerkenswerterweise fehlen aber beide Autoren komplett in der Bibliothek Johann Heinrich Lochers. Dies erstaunt umso mehr, weil sich die Bibliothek durch einen umsichtigen Auf bau auszeichnet. Dass zwei gewichtige Vertreter unter den Schülern Böhmes durch Locher ignoriert oder zumindest der Anschaffung unwürdig befunden wurden, wird einen konkreten Grund 442 ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 90, Eintrag vom 15. Juni 1694. 443 Vgl.: Schneider, Der radikale Pietismus in der neueren Forschung, S. 23. 444 van Ingen, Böhme und Böhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, S. 30.

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gehabt haben. – Fehlte Gichtel, weil sich Lochers Brieffreund, Loth Fischer mit diesem überworfen hatte?445 Von den deutschen Emigranten, für die sich Johann Heinrich Locher interessierte, ist einmal Desiderius Philadelphus zu nennen, der in seinem Pseudonym bereits die Verknüpfung Böhmes mit der endzeitlichen Sammlung der Frommen anklingen lässt. Johann Heinrich Locher beschäftigte sich mit dessen Werk Der Weg zum ewigen Leben, 1683446 . Hinter dem bekennenden Philadelphier vermutet Buddecke den Böhme-Herausgeber Johann Wilhelm Überfeld. Diese Ansicht wird neuerdings von Geissmar bezweifelt.447 Der anonyme Autor ist überzeugt, die Kontroverstheologie habe die Welt böser und schlechter gemacht: Es würden von allen Konfessionen theologische Bücher geschrieben, so dass ein ganzes Leben nicht mehr ausreiche, um diese bloß durchzublättern, geschweige denn, diese durchzulesen. Doch für die Buße bedürfe es einzig der Erfahrung (»solches lehret die handgreiff liche Erfahrung«).448 Die Schrift ist eine in Dialogform verfasste popularisierte Einführung in die theosophische, mystisch-spiritualistische und chiliastische Denkwelt. Den Kern der Schrift bildet »Ein annehmliches Gespräch Vom rechten Weg zur Geniesung GOttes und des ewigen Lebens«. Der Dialog entwickelt sich zwischen dem religiösen Meister und seinem Jünger, der weder Gottes Kraft noch Licht in sich verspürt. – Im Gespräch geht es darum, dass der Jünger seinen Willen Gott übergeben solle, und so erfährt der Leser alles über den rechten Weg, die Wiedergeburt und den neuen Mensch. Eine herausragende Figur unter den Böhmisten in Holland war Johannes Angelius Werdenhagen (1581–1652). Er war mit dem ersten Herausgeber der Schriften Jakob Böhmes, Abraham von Beyerland, befreundet und beteiligte sich während seines etwa fünfjährigen Aufenthalts in Holland ebenfalls an der Editionsarbeit. Er gab Böhmes Vierzig Fragen von der Seele in lateinischer Übersetzung in Amsterdam als Psychologia vera, 1632 heraus. Werdenhagen führte ein unstetes Leben. Er war für zwei Jahre Professor für Moral in seiner Geburtsstadt Helmstedt, bis er wegen irriger 445 Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 429, Anm. 123; Dohm, Poetische Alchimie, S. 154, Anm. 71; Thune, The Behemists and the Philadelphians, S. 111. 446 [Anonymus,] Der rechte Weg | zum | Ewigen Leben: | Verfasst in | Drey und neun= tzig | Fragen und Antworten: | Zusammen getragen | Durch | DESIDERIUS PHILADELPHUS | Auch | Folgen zum Anhange | Einige denckwürdige Erinnerun=|gen/ Einem/ in dem Wege Christi/ wand=|lenden Pilgrim sehr nützlich/ zum | öfftern/ mit Ernste/ zu | betrachten, o. O. 1683 [SUB Göttingen Th thet. I, 738/15]. 447 Buddecke, Die Jakob Böhme-Ausgaben, 1. Teil, S. 87ff; Geissmar, Das Auge Gottes, S. 44 f. 448 [Anonymus,] Der rechte Weg | zum | Ewigen Leben, S. 5 f.

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Abbildung 14: Das Frontispiz in Offene Hertzens=Pforte (dritte Auf lage 1685) stellt den Gegensatz zwischen den Kindern Gottes und der Orthodoxie dar. Auf der hellen Seite steht neben Christus das Kind, das nach Mt 18 die Wiedergeborenen repräsentiert, und auf der dunklen Seite stehen die Theologen der Konfessionskirchen unter dem verdorrten Baum (des Glaubens) in dem die Giftspinne – als Symbol des Verderbens – ihre Fäden zieht. [SB Berlin Cs 11270]

Lehren 1618 seines Amtes enthoben wurde. Nach 1632 bekleidete er das Amt eines Geheimrates in Bremen und anschließend in Hamburg, wo er als Diplomat am Ende des 30-jährigen Krieges an den Friedensverhandlungen teilnahm. Werdenhagen beschäftigte sich einerseits mit Staatswissenschaften und anderseits mit Jakob Böhme und Paracelsus.449 Frucht der Auseinandersetzung mit den letzteren war seine unter dem Pseudonym Angelus Mariani erschienene Offene Hertzens=Pforte450. Ein Werk, das 449 Zu Werdenhagen: Jöcher, AGL , Bd. IV, S. 1893 ff.; van Ingen, Böhme und Böhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, S. 12. 450 Angeli Mariani [ = Johann Angelius von Werdenhagen], | Offene | Hertzens= Pforte | Oder | Getreue und freye | Einleitung/ | Zu dem | Wahren Reich Christi. || Erstlich

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ebenfalls in der Bibliothek Johann Heinrich Lochers einen Platz fand und den Examinatoren als schädliches Buch in die Hände fallen sollte. Werdenhagen lässt sich in der Widmung an Axel von Oxenstierna leiten von der unter den Spiritualisten verbreiteten Vorstellung eines Niedergangs der Welt, in der alle Werte auf den Kopf gestellt sind: Das Christentum sei »sehr leider zerrüttet und äusserst verwüstet. […] Dahero es leider so weit nunmehro kommen/ daß man Finsternuß Liecht/ Laster Tugend das bestialische Leben Gottseligkeit/ und Fleisch Geist/ mit ganz umbgekehrten Sinne heissen thut.« Niemand wisse mehr was »Neugeburt« und Liebe sei. Die Liebe erhebt Werdenhagen in seinem Traktat zum Leitmotiv. Er ist überzeugt, nur jemand, der die Liebe im Herzen habe, sei ein wahrer Christ: »Nennet sich jemand einen Christen und hat die wahre Liebe nicht im Hertzen wohnend/ der ist wahrlich ein lugner.« Es ist die fehlende Liebe, die nach Werdenhagen am Niedergang der Welt die Schuld trägt.451 Ausgehend vom ersten Johannesbrief ist nach Werdenhagen die Liebe das Glaubensprinzip schlechthin. »Dann Gott ist die Liebe selbst. Dahero wer nicht lieb hat/ der kennet Gott nicht.« Die Ebenbildlichkeit mit Gott bestehe in der Liebe zu Gott als das verbindende Moment. Wer dagegen sich selbst liebe und ehre, der handle gegen Gott.452 Werdenhagen parallelisiert im Folgenden das mystische Programm mit dem Weg zur »Vollkommenheit der Liebe«. Es ist nun die Liebe, die durch das Licht der Wiedergeburt erlangt wird. Für ihn werden unio mystica, der Geist Gottes im Gemüt und die Liebe Gottes zu synonymen Begriffen. Diese Zuspitzung des Glaubens auf die Liebe hat sodann zwei Konsequenzen. Die Liebe zeigt erstens praktische Auswirkungen, denn die tägliche Übung der Liebe besteht für Werdenhagen in der Nächstenliebe. Zweitens wird Gott zu einem Gott der Liebe, der sich den Menschen »erbarmet […] ohne auff hören«.453 Das Generalthema der Liebe, das sich durch den Traktat Werdenhagens hindurch zieht, ist eine Neuerung. Zwar ist die Liebe Gottes auch bei anderen spiritualistischen Autoren, wie beispielsweise Hoburg ein Thema, aber sie wird nie zum bestimmenden Grundton des theologischen Denkens. Werdenhagen nimmt hier einen Paradigmawechsel vorweg, der sich später bei Jane Leade ausgeprägt wiederfindet und vermutlich auf einen Mentalitätswandel hindeutet, denn auch Christian Thomasius bestimmt im selben Zeitraum die Liebe als das zentrale Wesensmerkmal Gottes.454 zu Leiden getruckt/ bey | Jacob Marci | Zum drittenmal nun auffgelegt, o. O. 1685 [SB Berlin Cs 11270]. Die Erstauf lage konnte nicht ermittelt werden, dürfte aber um 1632 erfolgt sein. Diese Jahrzahl trägt die Dedikation an Oxenstierna. 451 Ebd., S. 3–6, Widmung an Alex von Oxenstiern. 452 Ebd., S. 25 u. 19. 453 Ebd., S. 56. 454 Besonders ausgeprägt in: Thomasius, Einleitung zur Sittenlehre.

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Ich fasse zusammen: Johann Heinrich Lochers Entwicklung findet mit der Rezeption der böhmeschen Literaturgruppe einen ersten Abschluss. Die Auseinandersetzung mit den Schriften Jakob Böhmes stabilisierte sein Wiedergeburtserlebnis und prägte ihn nachhaltig. Locher schätzte ihn – und die Autoren in seinem Umfeld – als Festigung und Bestätigung seiner religiösen Weltanschauung. Die bei Paracelsus bloß in den Grundzügen angedeutete Vermittlung zwischen mystischer Introspektion und spekulativer Naturkunde findet er nun bei Böhme zu einer kosmologischen Theosophie ausgewachsen vor. Diese Kombination erlaubte ihm eine Verbindung zwischen Welt und Glaube. Es ist zu vermuten, dass Böhme ganz allgemein Locher ermöglichte, seine vielfältige Lektüre in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Es ist kein Zufall, dass die Schilderung des Leseverhaltens in Lochers Selbstzeugnis an Bedeutung verliert, nachdem er in Böhme den Mittelpunkt seines Denkens gefunden und seine Weltanschauung konsolidiert hatte. Im Zentrum der Böhme-Rezeption durch Locher steht das manichäische Weltbild, das in den Menschen hinein gelegt wird und eine duale Psychologie fundiert. Die anthropozentrische Sichtweise verändert die Wiedergeburtskonzeption der mittelalterlichen Mystik. Die unio mystica erreicht der Gläubige nicht mehr allein durch eine passive Hingabe an Gott und auch nicht durch eine rigide Askese – an der der junge Locher verzweifelte –, sondern durch den guten Willen. Diese synergistische Komponente in Lochers Auffassung von der Wiedergeburt setzt einmal die Willensfreiheit als radikales Postulat voraus. Erst wo ein freier Wille ist, besteht ein individueller Heilsweg. Letzterer ist die Aufgabe und das Wesensmerkmal eines Pietisten. Ein individueller Heilsweg hat aber zur Folge, dass weitere Eckpfeiler der protestantischen Orthodoxie eingerissen werden: Die Erbsündentheorie wird umgestaltet und die Prädestination total verworfen. Dafür wird die spezielle Providenz, die Vorstellung, dass Gott permanent in der Welt lenkend wirkt, aufgewertet und ins Zentrum des Denkens gestellt. Die theozentrische Mystik wird in eine anthropozentrische Mystik gewendet. Entsprechend geht der Blick nicht mehr in erster Linie nach außen auf einen Gott im Himmel, der sich in Prodigien äußert; der Blick geht nach innen: Inneres Gebet im Herzen, Selbsterkenntnis, Selbstkontrolle und Perfektionismus gehören zum Repertoire eines Wiedergeborenen.455 Diese neue auf den Menschen gerichtete Sichtweise verändert auch den Gottesbegriff. Gott wird in Bezug auf den Menschen verstanden und in der radikalen Auffassung eines Sebastian Francks sogar anthropozentrisch interpretiert. Der Gottesdienst findet – Schwenckfelds Abendmahlslehre adaptierend – innerlich statt. Auch die Hermeneutik ist auf den individuellen 455

Vgl.: von Greyerz, Vorsehungsglaube und Kosmologie, S. 46.

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Heilsweg zugeschnitten, indem der providentielle Gott dem Frommen den wahren Verstand der Bibel mit dem Finger ins Herz schreibe. Der Optikwechsel hat noch einen weiteren Einf luss auf das Gottesbild: Der pessimistische, strafende und verdammende Gott der Prädestination wird (durch Werdenhagen) allmählich in einen lenkenden und liebenden Gott verwandelt. Die neue Konzeption des reformierten Glaubens brachte sich in Widerspruch zur Orthodoxie und in Frontstellung gegenüber der aristotelischen Scholastik. Böhme erfährt in der radikalpietistisch gefärbten Literatur die Erhöhung zum göttlichen Werkzeug gegen den Aristotelismus, und die nachmaligen auf klärerischen Forderungen nach Toleranz und Unparteilichkeit werden hier erhoben. Für wen entfaltete dieser neue, optimistische, dem individuellen Heil zugängliche Gott seine Attraktivität? Wenn wir einen Teilaspekt der Religiosität als Form der Lebensbewältigung begreifen wollen, so kann die These aufgestellt werden, dass dieser neue Gott genau das aufstrebende Protobürgertum ansprach, das wir im ersten Kapitel als die tragende Schicht des frühen Zürcher Pietismus identifizierten. Im Unterschied zu Handwerkern, Bauern oder Adligen ( Junkern), deren Standeszugehörigkeit über Generationen hinweg vererbt wurde, war der gesellschaftliche Platz für die Mehrheit der Theologen, kleineren Magistraten und Kaufleute vom individuellen Curriculum, vom persönlichen Erfolg abhängig. Es liegt geradezu auf der Hand, dass ein auf individueller Leistung basierendes Bestehen-Müssen in der Welt seine Entsprechung in einer Religiosität findet, die auf einen individuellen Heilsweg setzt. Wer seine gesellschaftliche Position nicht auf Privilegien baut und dennoch fortkommen will, neigt tendenziell auch nicht zu einer Prädestinationsreligion, die in der Heilsfindung wiederum Privilegierte anerkennt: Deshalb ist für die im Protobürgertum verankerten Pietisten Gott ›kein Anseher der Person‹.

2.4 Das Buch der Natur: Zwischen okkulter und exakter Wissenschaft Bis anhin war meistenteils von einer theologischen Mystik, von Herzensfrömmigkeit, Wiedergeburt und Einwohnung Christi im Bücherschatz Johann Heinrich Lochers die Rede. Dies ist jedoch nur ein Aspekt mystischer Weltanschauung. Die Mystik hat einen Januskopf: Mystik ist nicht bloß der in sich gekehrte theologisch-psychologische Blick, er kann auch nach außen gehen – in die Natur.456 Bei Paracelsus und Johann Valentin Andreae haben wir die Naturmystik bereits gestreift. Deutlich kommt die 456

R. Ch. Zimmermann, Naturmystik, S. 9–23.

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Mehrschichtigkeit des mystischen Denkens in Jakob Böhmes pansophischtheosophischem Pantheismus zum Ausdruck. Für ihn ist Gottes Kraft in den sichtbaren stoff lichen Dingen verborgen und wirkt durch diese in der äußerlich wahrnehmbaren Welt. Wie weiter oben dargelegt, folgert er in animistischer Denkweise, Gott sei die innere und verborgene Ursache und Wirkung aller Dinge. »Der Leib kann das Gemüth nicht begreiffen, aber das Gemüthe begreift den Leib, und führet ihn zu Lieb und Leid: also auch von GOtts Wort und Kraft zu verstehen ist, welches den sichtbaren empfindlichen Elementen verborgen ist und doch durch und in den Elementen wohnet, und durch das empfindliche Leben und Wesen wircket, wie das Gemüthe im Leibe« (MM, Vorwort 3). Mit diesem Vergleich zwischen der inneren Wirkung Gottes im Menschen und in der stoff lichen Welt schafft Böhme die naturmystische Klammer zwischen Mensch und Natur oder zwischen Mikro- und Makrokosmos. Gleiches gilt auch für Johann Valentin Andreaes Chymische Hochzeit, in der das Ineinandergreifen der beiden Spielarten der Mystik in spielerischer und allegorischer Weise dargestellt wird.457 Die naturmystischen Schriften in der Bibliothek Johann Heinrich Lochers haben meist den pansophischen Ansatz als Gemeinsamkeit. Keine dieser Schriften bleibt bei einer Mystik stehen, die sich einzig auf das Verhältnis zwischen Gott und der Seele beschränkt. Sie dehnen ihre Theologie auf den Kosmos aus. Sie schließen sich nicht ab von der Realität der Welt, sondern vertreten eine konsequente Weltzuwendung. Im naturmystischen Denkansatz können wir das Scharnier erkennen, das ein dialektisches Lebenskonzept einer vita contemplativa und vita activa ermöglicht, und einem Pietisten beides erlaubt, die innere Einkehr und die Teilhabe an einem »bürgerlichen« Leben. Johannes Hemleben beschreibt den Zusammenhang zwischen Mystik und Natur im Werk des Paracelsus folgendermaßen: »Jene Mystik, deren zentrale Verkündigung die Innewohnung Gottes im Menschen ausmacht, die Mystik eines Eckharts oder Taulers, lebt auch in Theophrast von Hohenheim. Doch während in der Regel die Mystiker sich aus der Welt zurückzuziehen pf legen, um in der Einsamkeit dem inneren Werden Raum zu geben, verficht Paracelsus die volle Anerkennung der sichtbaren Welt und des Lebens in derselben. Seine Grundanschauung lautet: Das Reich Christi ist gewiss nicht von dieser Welt, aber es soll von dem Menschen, der in dieser tödlichen Welt mit seinem sterblichen Leibe lebt, gefunden und zur Wirksamkeit gebracht werden.«458 457 Bernhard Kossmann hat in seiner Dissertation den alchemistischen Prozess und seine ihm zugrundeliegende Bildlichkeit und Vorstellungstradition herausgearbeitet: Kossmann, Alchemie und Mystik in Johann Valentin Andreaes »Chymische Hochzeit«. 458 Hemleben, Paracelsus, Revolutionär, Arzt, Christ, S. 190 f.

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Hemleben hat bestimmt Recht, wenn er das kontemplative Element der Mystik scharf zeichnet; er liegt auch richtig, wenn er die Verbindung von Mystik und Naturerkenntnis als wesentliches Element im Denken des Hohenheimers hervorhebt. Bemerkenswert ist aber, dass im Paracelsischen Ansatz ein neuer Typ von Mystik angelegt ist: Der Mensch übergibt sich nicht mehr passiv dem Willen Gottes, sondern er sucht aktiv sein Seelenheil im diesseitigen Leben zu verwirklichen. Dieser Ansatz bildet eine Brückenfunktion zwischen der mystisch-psychologischen Innenschau und dem empirischen Weltbezug. Das machte für die Pietisten die Attraktivität des hermetischen und paracelsischen Denkens aus. Dagegen greift wohl die These von Harry Lenhammer zu kurz, wenn er ausführt, das hermetisch-naturphilosophische Gedankengut sei seitens des radikalen Pietismus darum rezipiert worden, weil Paracelsische und Arndtsche Ideen auf naturphilosophischer Ebene debattiert werden konnten, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, und weil der Umweg über die Naturphilosophie eine der vielen Wege gewesen sei, wie sich der Pietismus Einf luss verschaffte.459 Die Verknüpfung der deutschen Mystik mit der Naturbetrachtung ist m. E. weniger eine verdeckte Agitation, sondern viel eher ein organischer Teil des (radikal-)pietistischen Denkens selbst. Ein Denken, das auf dem bedeutsamen – im Keime physikotheologischen460 – religiös motivierten Erkenntnisauftrag fußt. 2.4.1 Hermetismus und Paracelsismus Bei Paracelsus ist uns dieser Erkenntnisauftrag, als ein Lesen im Buch der Natur und als Form der Verehrung Gottes begegnet. Die Erkenntnis der Natur ist ein gewichtiges Element seiner Naturmystik. Sie wird getragen durch die Entsprechung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Mikround Makrokosmos, sowie durch die Entsprechung zwischen dem Innen und Außen, welche über Symbole, bzw. über die Signaturae rerum stattfindet.461 Es ist die Naturbetrachtung, die ihn – wie gezeigt –, der Mystik annähert und ihn nach den verborgenen geistigen Substanzen jenseits der sichtbaren Dinge, als wahrheitsstiftende Erkenntnisinhalte, bzw. Emana459

Lenhammer, Paracelsus, Dippel und die Familie Hjärne, S. 43. Vgl. Kapitel 2.5.4. 461 Zur Denkmethode in Ähnlichkeiten vgl.: Foucault, Die Ordnung der Dinge, Kap. 2.– Die Denkweise in Analogien und symbolischen Verweisungen war bis weit ins 17. Jahrhundert verbreitet. Es gelingt Foucault meiner Meinung nach nicht, darzulegen, wie dieses Denken durch ein neues mathematisch-messendes und vergleichendes Ordnungssystem verdrängt wird. Es ist keinesfalls so, dass mit dem Erscheinen von Descartes Discours de la méthode (1637) die Analogieschlüsse abgedankt hätten. Im Folgenden werden wir sehen, dass beide Denk-Schemata in Lochers Rezeption naturkundlicher Schriften gleichberechtigt nebeneinander bestehen können. 460

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tionen Gottes, suchen lässt. Für ihn besteht das Wissen nicht in Äußerlichkeiten oder bloßen Akzidenzien. Das zu Erforschende liegt im Ding selbst verborgen. Es wird nur durch ein geistiges Eindringen in das Objekt, durch eine Vereinigung des Naturkundigen mit dem Objekt erkannt. Eine solche unio ist dem Menschen nur dank der Analogie zwischen der großen und kleinen, zwischen der verborgenen und sichtbaren Welt möglich: dank der »Imagination« geben die Dinge ihre verborgene Natur preis. Als gewichtiges Element der Verbindung zwischen Mystik und Natur sei in diesem Zusammenhang besonders auf die Begriffe des »Arcanum« und der »Quinta essentia« hingewiesen. Das Arkanum oder Verborgene ist die geheime göttliche Wirkkraft in den Dingen der Natur. Paracelsus pantheistischer Ansatz geht nicht so weit, dass er Gott mit der Schöpfung selbst, bzw. mit der Materie, gleichsetzen würde. Aber die Suche nach dem »Arcanum« ist die Forschung nach Gott in der Natur. Denn die »Quinta essentia« ist das Unerschaffene, das bei Gott Seiende und Unsichtbare, welches sich vom sichtbaren und erschaffenen Körperlichen unterscheidet.462 Das übernatürliche Arkanum ist aber mit dem Natürlichen verbunden und kann mittels alchemistischer Experimente erfasst werden.463 Das Körperliche ist sterblich und kann zerstört werden, der »spiritus vitae«, welcher in allen Gliedern des Körpers liegt und ein »geistlichs ding« ist, kann abgesondert und extrahiert werden. Das unzerstörbare Wesen kann letztlich als eine »Quinta essentia« abgesondert werden. Die »Quinta essentia« lässt sich aus den Pf lanzen und aus allem Lebendigen gewinnen. Sie kann von allem Unreinen d. h. aus allem Vergänglichen und Körperlichen herausgelöst, verfeinert und von allen Elementen abgetrennt werden. Aus diesem Extrakt wird ein medizinischer kraftgeladener Balsam gewonnen, der mannigfaltig angewendet werden kann.464 Die Alchemie hat bei Paracelsus eine Bedeutung, die weit über eine Pharmakologie hinausgeht: Die Alchemie bringe die großen in der Natur liegenden und verborgenen Tugenden hervor, offenbare diese und mache sie sichtbar. Die Alchemie beschäftigt sich mit dem Mysterium, dass Dinge ihre Form und Gestalt verlieren können und aus dem Nichts etwas neues entstehe, das in seiner Kraft und Tugend viel edler sei als es zuvor war: »also lerne, was alchimia sei, zuerkennen, daß die alein das ist, das da bereit durch das feuer das unrein und zum 462

Pagel, Paracelsus als »Naturmystiker«, S. 55 ff. u. 62 f. Auch Newton betrieb alchemistische Experimente mit einer sehr ähnlichen Grundannahme: Für ihn war Alchemie ein Mittel zur theologischen Problemlösung. Dem »Arcanum« nicht unähnlich suchte er das rein mechanische Cartesianische Weltbild ablehnend nach einem Mittler zwischen der Natur und Gott als belebendes Prinzip, welches die göttliche Vorsehung in der Natur erst ermöglicht. Siehe: Dobbs, Alchemische Kosmogonie und arianische Theologie bei Isaac Newton, S. 148 f. 464 Paracelsus, Sämtliche Werke, I/3 (Archidoxis, 191–200), S. 118.; vgl.: Goldammer, Paracelsische Eschatologie, S. 94. 463

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reinen macht.« Alchemie ist die aufsteigende Läuterung und Vollendung der göttlichen Bestimmung der Naturdinge durch den Menschen: »das ist alchimia, das nit auf sein end komen ist zum ende bringen, das blei von erz in blei zubringen und das blei zu verwerken, dahin es gehört.« Sie ist die Verwandlung des Urstoffes, der »Prima materia« zur »Ultima materia« zum vollendeten und gereiften Endzustand. Alchemie ist die Suche nach dem vegetativen Prinzip: »dan die putrefaction ist ein umbkerung und der tot aller dingen und ein zerstörung des ersten wesens aller natürlichen dingen, daraus uns herkomet die widergeburt und neue geburt mit tausendfacher besserung«. Das Aufstreben und Zurückfinden der Naturdinge zu Gott in ihrer endbestimmten Vollendung sei das größte und höchste Mysterium, Geheimnis und Wunderwerk, das Gott den sterblichen Menschen offenbart habe.465 Der mystische Zugang zur Natur mittels der Alchemie hat schließlich eine bedeutende Folgeerscheinung: den praktischen Empirismus. Das Mysterium der Natur und die verborgenen Lebensgeister werden in der experimentellen Laborarbeit aufgespürt.466 Dabei ist aber zu bedenken, dass der Anti-Sensualismus der Mystiker nur halbwegs im Gegensatz zu Paracelsus Sinnenfreundlichkeit (Goldammer) steht, denn es geht auch Paracelsus um die Suche nach den den Sinnen verborgenen Qualitäten der Natur, auch wenn er sie alchemisch als »Quinta essentia« zu materialisieren trachtet. Paracelsus Werk ist für die Naturmystik konstitutiv. Aber noch eine zweite, ältere Textgruppe, das Corpus Hermeticum hat für die Naturmystik traditionsbildende Funktion. Ja, die Paracelsischen Schriften fußen teilweise selbst wiederum auf der älteren, hermetischen Tradition.467 Hermes Trismegistos, der »dreimalgroße Hermes« ist ein fiktiver Autor spätantiker Erbauungsschriften, der mit dem ägyptischen Gott Thot – griechisch Hermes – in Verbindung gebracht wird. Ihm wurden okkulte, durch pythagoräische und platonische Philosophie beeinf lusste Werke zugeschrieben. Die hermetische, mystische und kosmologische Deutung der Natur zog Johann Heinrich Locher an, wie ihn die mystische Schau der eigenen Innerlichkeit anzog: Er beschäftigte sich ebenfalls mit Hermes Trismegistos, der das Fundament naturmystischer Betrachtungsweisen legte. In seiner Bibliothek standen die Sesthien boeken van Hermes Trismegistus … uyt het Griecx ghebracht in ons Neder-duytsch von 1643 – eine deutschsprachige Ausgabe lässt sich erst nach 1698 nachweisen468. Das Nachwort 465

Paracelsus, Sämtliche Werke, I/8 (Das Buch Paragranum, S. 133–224), S. 191 f.; ders., Sämtliche Werke, I/11 (Labyrinthus medicorum errantium. Vom Irrgang der Aerzte), S. 188 f. und ders., Sämtliche Werke, I/11 (Die 9 Bücher De Natura rerum), S. 312 f. 466 Pagel, Paracelsus als »Naturmystiker«, S. 55. 467 Ebd., S. 52. 468 Trismegistos, Sesthien Boecken | van den | Vootreffelijcken ounden Philosooph, | Hermes Tris-|megistus. | Met groote naarstigheydt, uyt he Griecx ghe-|bracht in ons Ne-

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zu dieser hermetischen Schrift ist mit dem Kürzel A. W. V. B. unterzeichnet, was auf van Beyerland als Herausgeber schließen lässt. Dem Herausgeber der Werke Jakob Böhmes war offensichtlich der hermetische Gehalt im Denken des Görlitzers nicht entgangen.469 Die Vorrede der Sesthien boeken van Hermes Trismegistus schildert Hermes als einen weisen Mann des alten Ägyptens, der vor Moses470 gelebt haben soll. Der Autor des Vorwortes will nachweisen, dass Hermes ein Mensch, der lediglich den Namen Thot führte, und nicht der gleichnamige Gott gewesen sei. Denn die meisten griechischen und ägyptischen Götter seien Menschen gewesen, die später zu Göttern gemacht worden seien. Hinter dieser Erklärung steht die Vorstellung, dass es bereits vor Moses Zeit von Gott ergriffene und berufene Menschen gegeben haben soll. Das Interesse an Hermes basierte in der Renaissance auf der Überzeugung, dass Gott seine Wahrheit lange vor der christlichen Offenbarung in anderer Form mitgeteilt haben muss. Man begann Mitte des 15. Jahrhunderts in der Akademie von Florenz, im Corpus Hermeticum eine Offenbarung zu entdecken, die ursprünglicher als die christliche gewesen sei, ganz nach dem Motto ›je älter desto authentischer‹. Ja, man glaubte, dass Moses, der als Ziehsohn der Pharaonentocher in ägyptischer Tradition erzogen wurde, lediglich eine Lehre verkündete, die schon Thot-Hermes ursprünglich offenbart worden war.471 Auch Johann Heinrich Locher hing dieser Überzeugung der Renaissance in abgeschwächter, die christliche der-duytsch: en, in Versen | af-gedeelt, nevens veel Annotatien en ver-|klaringen; tot grondiger begrijp, des | Autheurs, sin. | Met eene schoone Voor-rede uyt | het Latijn, van | Franciscvs Patricivs, | In de welche hy bewijst, dat desen groo-|ten Philosooph heeft gebloeyt | voor Moyses. | En eene Na-rede aen den Leser; tot naarder | consideratie van de waardye en | outheyt deses Autheurs, Amsterdam (Pieter la Burgh) 1652 [NLB Hannover P-A 733]; die deutsche Neuausgabe mit einem hinten angefügten zusätzlichen 17. Buch: Die XVII Bücher des Hermes Trismegistos ergänzt durch die Tabula Smaragdina Hermetis, Neuausgabe nach der deutschen Fassung von 1789, Haar 1964. Die erste deutsche Ausgabe der 17 Bücher des Hermes Trismegistos datiert von 1706. Mindestens 14 Bücher der niederländischen Ausgabe stimmen überein mit den Traités I–XVIII des Corpus Hermeticum, Tome I und II, texte établi par A. D. Nock et traduit par A.-J. Festugière. Warum Helmut Gebelein keine Übereinstimmung dieser Schrift mit dem Corpus Hermeticum feststellen konnte, ist rätselhaft. Siehe Gebelein, Alchemie, S. 407, Anm. 11. Weil mir die niederländische Ausgabe nur kurzfristig zur Verfügung stand, stütze ich mich im Folgenden auf den Nachdruck der deutschen Übersetzung von 1789. 469 Vgl.: van Ingen, Böhme und Böhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, S. 16. 470 An eine Verbindung Hermes Trismegistos mit Moses wurde bis ins 18. Jahrhundert geglaubt. Sie geht auf Artapanos zurück, der selbst durch den griechischen Gelehrten Hekataios von Abdera (300 v. Chr.) inspiriert wurde. Siehe: Festugière, La révélation d’ Hermès Trismégiste, Bd. 1, S. 70. 471 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Band 3, S. 71 u. 75; Trepp, Hermetismus oder zur Pluralisierung von Religiositäts- und Wissensformen in der Frühen Neuzeit, S. 7–15.

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Offenbarung aufwertender Form an. In einem Gespräch mit Johann Kaspar Hardmeyer über die Wiederbringungslehre kamen sie auf Platon zu sprechen, den sie ähnlich wie Hermes für einen göttlich inspirierten Menschen hielten: Hr. Locher vermeinte: Es müeste doch Plato auch etwas Liecht gehabt haben, sonst er nicht dergl: Eÿnfäle [die Wiederbringung aller Dinge] gahabt hadte! Ich [= Hardmeyer] belegte: freÿlich! aber gar ein verkehrtes, verfinstertes und verwiretes, Hr. Locher wolte nicht Zweif len: dann daß Christus seÿe das einiges Liech, Wäg, Wahrheit und Leben; von welches Glanze alles Liecht kömme; wo aber Christus nicht leüchtet, da wäre alles Finsternuß!

Hardmeyer fasste schließlich das Gespräch zusammen. Weil Platon eben nicht christlich erleuchtet gewesen sei, sei seine Lehre voller »Eigendünkel und menschl[icher] Gedichts«. Wo aber bei diesen antiken Autoren Schönes und Wahres hervorstrahle, dort sei dies ein von Gott eingepf lanztes Licht.472 Beachtenswert ist hier, wie eine derartige, dem Renaissance-Denken entlehnte Auffassung von der göttlichen Offenbarung auf eine universelle Religion tendiert und auf die Auf klärung verweist. In den sechzehn Büchern des Hermes Trismegistos konnte Johann Heinrich Locher mit Fragestellungen und Gedankengängen in Kontakt kommen, die nahtlos an seine mystische Lektürepräferenz anschlossen. Zu nennen ist einmal der Begriff des Gemüts 473, dem auch hier eine wichtige mystische Funktion zukommt: Das Gemüt sei aus Gottes Wesen (XIII, 1) und unterscheide sich nicht vom Wesen Gottes. Es sei Teil von diesem, so wie das Licht zur Sonne gehöre (XIII, 2). »Und das Gemüt ist in dem Menschen ein Gott« (XIII, 3). Das Gemüt ist in dieser hermetischen Philosophie der Ort der ›Vergottung‹. Es ist aber keine psychische Komponente, die allen Menschen eigen ist: Das Gemüt komme nur den Heiligen, Reinen und Guten zu (I, 66). Sei also Gott im Gemüt, so habe dieses wiederum seinen Sitz in der Seele des Menschen (II, 16). Das Gemüt verwandle die Seele in eine gottselige Seele. Sie wird nun zum Anlass für ethisches Handeln: Eine Seele, in der das Gemüt sei, werde nie müde, den Menschen mit Worten und Werken Gutes zu tun, um so ihrem Vater nachzufolgen (XII, 79). Diese Vorstellung von der Vereinigung mit Gott, die durch das Gemüt in der Seele erfolge, trägt ebenfalls stark pantheistische Züge. Der Pantheismus beschränkt sich nun nicht bloß auf die mystische Beziehung zwischen den Menschen und Gott, er erstreckt sich hier auf den ganzen Kos472 ZB Zürich, Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 444, Eintrag vom 11. Dezember 1695. 473 Das Gemüt entspricht dem noûs des Orignaltextes.

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mos. Kurz: »Alle Dinge sind in Gott« (II, 71). Denn es gebe nichts in der Welt, das nicht Gott sei. Er sei im Seienden wie im Nichtseienden ( VIII, 31). An einer anderen Stelle heißt es jedoch abgeschwächt, Gott sei außerhalb der Materie. Die hermetische Schrift vertritt einen Pantheismus, welcher Gott als ein immaterielles, schöpferisches und bewegendes Prinzip der Welt versteht. Gott sei sowohl in der Welt wie im Himmel. »Darum mag man wohl sagen, daß der irdische Mensch ein sterblicher Gott und der himmlische Gott, die Welt, ein unsterblicher Mensch sei.«(XII, 98). Weitere für Locher vertraute Standpunkte der hermetischen Schrift sind die Gegensätze von Seele und Leib sowie von Geist und Materie, welche sich auf eine stoische Tradition zurückführen lassen. Die materielle Welt ist der hermetischen Schrift nach böse (XI, 18). Das »Geborene«, Kreatürliche sei voller Leidenschaft und Bewegung. Wo aber Leidenschaft anzutreffen sei, dort sei das Gute nicht anzutreffen ( X, 7 f.). Hingegen sei Gott das jederzeit Gute ( X, 1), er entspricht dem platonischen summum bonum. Gott sei das Leidenschaftslose (X, 8). Die Polarität zwischen Geist und Materie, die dem Gegensatz zwischen Gut und Böse entspringt, hat auch ihre Auswirkung auf den Menschen: Der lebendige Leib sei eine Verbindung aus der sterblichen Materie und der unsterblichen Seele (II, 41). Der Tod dagegen sei die Auf lösung der Vereinigung von Seele und Materie. Das Leben, d. h. die Seele und das Gemüt, treten dann ins Verborgene ein (II, 60). Die Seele sei unleiblich und ihrem Wesen nach unbeweglich (XVI, 1 f.). Der materielle, irdische Leib hingegen sei die Schwere. Er belaste die Seele und ziehe sie hinab [aus den himmlischen Sphären] in die ›Vergessenheit‹ des Körperlichen (»der Geburt«). Die Vergessenheit der Seele sei das Böse, in ihr habe sie keinen Anteil mehr am herrlichen und guten Wesen Gottes (XII, 55). Sobald die Seele mit dem Leib vereinigt werde, werde sie sogleich infolge Schmerz und Wollust böse (XIII, 8). Die Seele nimmt demnach nach der Geburt des Menschen die leiblich materiellen und somit bösen Eigenschaften an.474 Die Sesthien boeken van Hermes Trismegistus lassen aber die Möglichkeit zur Überwindung des Bösen offen: Diese Möglichkeit besteht in der Wiedergeburt! Locher griff das hermetische Menschenbild als Alternative zum pessimistischen Menschenbild der Sündenfalltheorie auf und legte es in seinen Gesprächen mit Kaspar Hardmeyer dar. Johann Heinrich Locher teilt die Meinung, dass der Mensch von Natur aus verdorben sei, und vergleicht ihn mit einem Wolf, der reiße und raube. Deshalb sei es schwer, selig zu werden. Aber es besteht die optimistische Hoffnung, dass Gott aus 474 Auch Lochers Zeitgenosse, der französische Philosoph Malebranche, eignete sich beispielsweise diese auf den Leib-Seelen-Gegensatz basierende Anthropologie an, der zufolge Gott nicht Urheber der Konkupiszenz ist. Vgl.: Traité de la nature et de la grâce, II, 38.

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einem Wolf ein Lamm machen und die menschlichen Eigenschaften ändern könne,475 womit Locher auf die Wiedergeburt anspielt. Die Lehre der Wiedergeburt ist demnach ein weiterer Punkt, in welchem Johann Heinrich Locher seine arkanen Lektüreinhalte durch ein Schrifttum, das angeblich älter als die Bibel sein soll, bestätigt sieht. Auch im hermetischen Denken ist der ›materialische‹ Mensch böse ( XI, 18). Es sei aber möglich, dass die menschliche Seele ›vergöttert‹ werden könne. Dann nämlich, wenn sie die Herrlichkeit Gottes erkenne (»ansehe«) (XII, 19). Das Gemüt nun, das von der Körperlichkeit gereinigt wurde, erhalte einen neuen feurigen Leib. (Das Element Feuer ist in der hermetischen Alchemie Symbol für das Himmlische.) (XII, 57) Vor der Wiedergeburt könne niemand selig werden. Zuerst müsse man das Gemüt frei machen von der betrügerischen Welt (XIV, 1 u. 5). Die Voraussetzung hierzu sei die Einkehr. Gefordert wird die Vernichtung der leiblichen Sinnlichkeit und die Reinigung von den Untugenden der Materie, wie Geiz, Neid, Unmäßigkeit, Zorn usw. (XIV, 30 f.). Die Wiedergeburt sei ein Aufgehen in einem unsterblichen, d. h. geistigen Leib, sie sei die Geburt im Gemüt. Sie ist ein kompletter Wandel der Person – ich »bin nicht mehr derjenige, der ich zuvor war« (XIV, 15). Die Wiedergeburt im Gemüt, die Auferstehung in einem geistigen Leib, ist ein sinnbildliches Verlassen der leiblichen Komponente des aus Körper und Seele zusammengesetzten Menschen (XIV, 16). »O Sohn, du musst erstlich den Leib verlassen und das sterbliche Leben überwunden haben« (V, 13). Wie bereits bei Paracelsus angetroffen, ist auch bei den auf Hermes Trismegistos zurückgeführten Ideen die Wiedergeburt an einen Erkenntnisauftrag geknüpft. Der Mensch könne herrlich und gut werden, wenn er Gott suche. Zu ihm führe aber nur ein Weg, nämlich die Gottseligkeit und die Erkenntnis (X, 23 f.). Die Seelentugend per se ist nach Hermes die Erkenntnis: Eine erkennende Seele sei gut, selig und völlig göttlich (XII, 29). Das Böse der Seele dagegen sei die Erkenntnislosigkeit. Eine Seele, die das Wesen und die Natur der Dinge nicht erkenne, bleibe der leiblichen Leidenschaft verhaftet. Diese Seele sei dann blind und könne sich selbst nicht erkennen. Sie trage die schwere Last des Körpers, über den sie nicht herrsche, durch den sie im Gegenteil beherrscht werde (XII, 28). Die Erkenntnis Gottes ist Gottesdienst ( V, 2)! Deshalb müssen die Menschen beides verstehen lernen, das sichtbare Geschaffene und den unsichtbaren Schöpfer – Wirkung und Ursache ( XV, 8, 12 u. 19). Der Erkenntisauftrag muss mit dem pantheistischen Gottesbegriff im Zusammenhang gesehen werden. Denn die Schöpfung sei gleichsam Gottes Leib (XV, 20). Und: »die zwei sind alles, der Macher und das Gemachte, und 475

ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, Band 1 (1694–95), S. 443, Eintrag vom 9 -10. Dezember 1695.

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das eine kann von den andern nicht geschieden sein, denn es ist unmöglich, daß der Schöpfer ohne das Geschöpf könne sein« (XV, 14). Wenn sich Schöpfer und Geschöpf unabdingbar bedingen, so kann Gott anhand seiner Werke erkannt werden, da er ja zugleich auch die Emanation dieser Werke ist, bzw. in diesen Werken ist. Aus diesem mystisch pantheistischen System, wonach die Schöpfung eine Ausf ließung (emanatio) des Wesens Gottes sei, folgt, dass Gott auch in der Natur erfahrbar und erkennbar sei. Wiedergeburt und Erkenntnisauftrag bedingen sich aber wechselseitig derart, dass die Wiedergeburt zur Erkenntnisvoraussetzung wird: Denn das Gemüt gehe in eine gottselige Seele ein und führe diese zum Licht der Erkenntnis (XII, 79). Auch bezüglich der Epistemologie besteht eine Parallele zum mystischen Lesestoff, der Locher begeisterte. Auch die hermetische Erkenntnis unterscheidet sich komplett von der sinnlichen Erkenntnisart. Sie ist ein Sehen mit den Augen des Herzens (III, 2). Die Sinne seien unempfindlich und mit Materie und Wollust »verstopft«. Die Sinne seien bloß ein Werkzeug: »Denn alle Wissenschaft ist unleiblich, und sie gebraucht das Gemüt zum Werkzeug und das Gemüt den Leib«. Kurz: Wissenschaft sei eine Gabe Gottes ( XXII, 33 f.). Auch die hermetische Erkenntnistheorie ist geleitet von der Grundannahme, dass im Schöpfungsprozess abgesehen von der äußerlichen Form und Größe »ein jedes Ding ein eigenes innerliches Wesen empfängt« (XVI, 14). Wie sieht nun diese Natur aus, die es zu erkennen gilt? Die Naturphilosophie der Sesthien boeken van Hermes Trismegistus klingt stark an die platonische an, beispielsweise an die im Timaios entwickelte Kosmologie.476 Im hermetischen Traktat heißt es beispielsweise: Was im Himmel ist, sei unveränderlich, was auf Erden ist, sei veränderlich (V, 24). Daraus folgt weiter, dass die Bewegung der Welt und der Lebewesen nicht von außerhalb der Welt komme. Die Bewegung der Körper habe eine innere Ursache und sie wirke äußerlich. Die Bewegung entstehe durch die Seele, durch den Geist oder durch andere unsichtbare unleibliche Dinge (VI, 35). Der Genesis-Interpretation Böhmes ähnlich, wird im ersten Buch Poemander die Schöpfung als Wirken des Wortes Gottes begriffen. Das Wort sei sowohl zur Materie, zu den »heruntergesunkenen Elementen der Natur«, als auch durch die »Ausf ließung der Seelen« zu dem in der Welt wirkenden und zum bewegenden Moment geworden (I, 29–33). Das Bewegende und das die Materie Umwandelnde sind das kosmologische und alchemistische Generalthema, das auch mit der mystischen Ethik verschränkt ist: Gott habe das Böse nicht gemacht »sondern die Umwechslung der Geburt hat es gleichsam ausgespritzt«. Das Böse sei eine Eigenschaft, bzw. eine notwendige Begleiterscheinung der materiellen, bewegten Welt. Und 476

Platon, Timaios, 28–29c.

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das Materielle sei dasjenige, in dem Gott nicht ist. Es ist quasi Nicht-Gott. Weil es nun das Böse gibt, habe Gott die Veränderung gemacht, als eine Säuberung der Geburt, des Kreatürlichen (XV, 22). Der reinigende Wandel in der von Gott geschaffenen Welt ist die Grundvorstellung alchemistischen Denkens. Eine Denkweise, die davon überzeugt ist, dass die ganze Welt aus dem Wesen Gottes ausgef lossen sei und wieder dorthin zurückkehren werde. Auch die Seele ist demnach eine Emanation Gottes. Sie durchlaufe diesen Weg vom Himmlischen ins Irdische. Ihre Bestimmung ist es, wieder in Gott als ihren Ursprung einzugehen und sich von allem Irdischen und Materiellen zu befreien. Und folgerichtig begreift schließlich die hermetische Schrift die Wiedergeburt als einen Existenzwandel (XIV, 15). 2.4.2 Alchemie, Medizin und Wunderbücher Hermes erhielt seinen Ehrentitel, der Dreimalgroße, weil er als der Begründer der drei Disziplinen, Magie, Astrologie und Alchemie galt. Während die Bedeutung der Astrologie in der paracelsisch-hermetischen Tradition des 17. Jahrhunderts eher schwer zu fassen ist,477 spielte die Alchemie eine herausragende Rolle. Die Alchemie galt geradezu als ein Wesensmerkmal des Hermetismus und Paracelsismus. Das Ziel der Alchemie war nicht bloße Goldmacherei, sondern, die Schöpfung besser zu verstehen: zu verstehen, wie Gott in den Dingen wirke und wie diese veredelt und gereinigt werden könnten. Gesucht wurde durch göttliche Erleuchtung nach der Erkenntnis der Natur. In diesem Sinne war ein alchemistisches Interesse nicht zwingend an praktische Laborarbeit gebunden. Das Weltbild der Alchemie war oft bloß in literarischer und allegorischer Form anzutreffen, wie beispielsweise die Chymische Hochzeit des Christian Rosencreutz von Valentin Andreae. Dass Johann Heinrich Locher sich mit alchemistischen Experimenten beschäftigt hätte, lässt sich nirgends nachweisen. Sein Interesse an der Alchemie könnte sich auch lediglich auf ein literarisches Studium beschränkt haben. Die Alchemie ist bei Locher eine Metapher für die Lesbarkeit einer hieroglyphisch verschlüsselten Natur.478 In seiner Bibliothek befanden sich neben den Rosenkreuzerschriften zwei weitere alchemistische Werke. Bei der einen Schrift scheint es sich um ein Nachschlagewerk zu handeln. Die Konfiskationsliste umschreibt den Titel lediglich mit »Erklährung Chymi477 Telle, Astrologie und Alchemie im 16. Jahrhundert, S. 227–253. Vergleiche auch Scheuchzers ambivalentes Verhältnis zur Astrologie: Felfe, Verdammung, Kritik und Überarbeitung, S. 269–303. 478 Vgl.: Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt.

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scher worter«. Diese Angabe führte zu keinem bibliographisch gesicherten Resultat.479 Nachweisen lässt sich aber, dass Locher das rund 800 Seiten starke Standardwerk des Valentinus Basilius mit dem Titel Chymische Schriften besaß. Er verfügte über die Erstausgabe dieses Sammelbandes von 1677. 480 Hinter dem fiktiven Benediktinermönch, Frà Basilius, werden mehrere Verfasser des ausgehenden 16. Jahrhunderts vermutet.481 Das Werk ist über weite Strecken in allegorischer Schreibweise gehalten. Das Buch ist kaum als eine praktische Anleitung zu Experimenten und zur Herstellung von Stoffen gedacht, es ist in erster Linie eine literarische Erklärung der Weltsicht, wie sie der Alchemie zugrunde liegt. Die Vorrede des angeblichen Frater Valentinus Basilius streicht nochmals das ambivalente Verhältnis der Mystik zum kontemplativen Leben heraus und betont die Alchemie als einen Weg, um die innere Gottesschau mit einem tätigen, weltzugewandten Wirken zu verbinden. Der Autor schreibt, er habe seine alchemistischen Interessen aus der Erkenntnis der Bosheit der Menschen geschöpft, aus der Erkenntnis des Sündenfalls und dass daraus keine Bußfertigkeit auf der Welt bestehe und die Menschheit immer böser würde. Er habe sich zuerst bemüht, der Welt zu entf liehen – ihr gute Nacht zu sagen, wie sich Basilius ausdrückt – und ein Diener Gottes zu werden. Doch das klösterliche Leben habe ihn nicht zu beruhigen vermocht. Er habe durch den klösterlichen Müßiggang nicht neue Sünden auf sich laden wollen. Darum »nahm ich mir für/ die Natur von einander zu legen/ und durch solche Zerlegung ihrer Heimlichkeiten zu erforschen«. Insbesondere habe er sich mit der Kräuterheilkunde (Anatomia der Kräuter) beschäftigt. Danach erforschte er die Metalle und Mine-

479 Der Titelumschreibung am nächsten kommt: Johann Lorenz Hönnig, Kurze und deutliche Vorstellung | Der Edlen | Probierkunst/ | Was eigentlich dieselbe sey/ | worinnen sie bestehe/ was vor | Instrumenten darzu erfordert wor=|den/ wie man zur rechten Erkänntnus al=|ler Mineralien und Metallischen Ertzen zu gelangen/ | Und | Welcher Gestalt endlich die | Erkannten recht zu probieren/ und | in der Probierung zu tractieren | seyen. | Nebst einem ausführlichen Bericht von | Salpeter sieden/ und Erklärung aller Chy=|mischen Wörter und Zeichen. | Alles Liebe aus einer langwierig= und be=|währt= befundener Erfahrung/ mit | deutlichem Stylo aufgezeichnet und | wolmeinend mitgeteilet | Von einem dieser edlen KunstPreiß=|würdigst Ergebenen, Nürnberg 1695 [HAB Wolfenbüttel Xb 1803]. Das Werk wurde laut Vorrede verfasst, um die langjährige Erfahrung in der chemischen Praxis weiterzugeben. Der Autor sammelte seine Erfahrungen im Bergbau. Das Buch ist tatsächlich in einem einfachen, praxisorientierten Stil gehalten und verzichtet auf vieldeutige Redensarten. 480 [Valentinus Basilius,] FR Basilii Valentini | Benedictiner Ordens | Chymische Schriften | alle/ so viel derer ver=|handen/ | anizo Zum Ersten mahl zusammen | gedruckt auss vielen so wol geschrie=|benen als gedruckten Exemplaren ver=|mehrt und verbessert | und in Zwey Theile | verfasset, Hamburg 1677 [ZB Zürich Md F 300]. 481 Telle, Basilius Valentinus, S. 335 f.

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ralien: Gott habe ihm das Glück gegeben, die in den Metallen verborgenen Wunder der Natur zu erblicken.482 Die Alchemie sei nun die höchste der weltlichen Künste. Sie sei eine besondere Gabe Gottes. Sie diene einerseits der Ehre Gottes und anderseits auch zur Wohlfahrt der Menschen. Die Alchemie ist nach dem Vorwort der Herausgeber ein Gnadengeschenk Gottes und eine Gabe des heiligen Geistes. Gegenstand des Forschens ist der Stein der Weisen. Was darunter zu verstehen ist, erläutern die Herausgeber: »Es schreibt der heilige Augustinus, dass aller Philosophorum fürnehmste Studium dieses gewesen sey/ wie man nehmlich glückselig und wol auf der Welt leben möchte/ welche Glückseligkeit man das Summum bonum oder das höchste und edleste Gut nennet. Nun gebühret dieser Titul allein dem ewigen und allmächtigen Gott/ denn er ist das rechte summum bonum. Nach weltlichem Verstande aber kan ebener massen unser uhralter Stein der Weisen das summum bonum genannt werden.« Gott wird hier mit dem Stein der Weisen gleichgesetzt, ihm als ein in der Natur anzutreffendes Grundprinzip gelte es nachzuspüren. Der Stein der Weisen ist somit für die Herausgeber das größte Geheimnis der Natur, das der Mensch nur mit göttlicher Hilfe erkennen könne – »welches der Mensch nicht fassen kan/ ohne heimliche gnädige Einsprechung des heiligen Geistes«. Der Stein der Weisen wird als Spiegel des Reich Gottes bezeichnet, in welchem man die ganze Welt erkennen könne. Daraus folgt nun, dass die Suche nach dem Stein der Weisen das beste Werk unter den Werken sei, denn der Stein sei das höchste aller »zeitlichen Dinge«, bzw. irdischen Gegenstände, nach welchen ein frommer Mensch begehren könne. Die Suche nach dem Stein strebt nach zweierlei: religiöse Erkenntnis und Naturkunde. Im ersten der ›zwölf Schlüssel‹ setzt Basilius zudem einen frommen Lebenswandel als Erkenntnisvoraussetzung voraus. Hingegen ist das Unreine dem alchemistischen Werk unwürdig. Die Alchemie werde durch den unreinen Lebenswandel verunmöglicht.483 Die fromme geistige Wandlung des Adepten und die alchemistische Umwandlung der Natur stehen auch hier in enger Beziehung zu einander. Der Stein der Weisen ist also der Schlüssel zur Naturerkenntnis, in ihm werden alle Eigenschaften der weltlichen Dinge gefunden. Im ersten, »Vom grossen Stein der uhralten Weisen:« überschriebenen Kapitel umreißt Valentinus Basilius seine hermetische Weltanschauung. Die Metalle seien durch eine göttliche »Einf ließung« von oben herab mit den »syderischen« Eigenschaften vermischt worden. Erst durch dieses Zusammenwirken der metallischen und der siderischen Eigenschaften seien die irdi-

482 483

Valentinus Basilius, Chymische Schriften, S. 1–5. Ebd., [Vorwort der Herausgeber, unpaginiert] S. a4 ff. und S. 24.

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Abbildung 15: Holzschnitt aus Zwölf Schlüssel, einer Teilschrift aus Valentinus Basilius, Chymische Schriften. Das Bild zeigt den Adepten beim Werk. Die beiden Rosen mit dem Merkurzeichen verweisen auf die Rosenkreuzer. Der Löwe steht für das Extrakt aus Antimon, er ist die Erleuchtung und symbolisiert das Vermögen des Wandels von einer Beschaffenheit in die andere. Hier dargestellt durch das Verschlingen der Schlange, die die Materie, das Irdische repräsentiert. [ZB Zürich Md F 300]

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schen Wesen entstanden.484 Im Kapitel »Von dem Universal dieser ganzen Welt« verdichtet Valentinus Basilius seine alchemistischen Grundlagen, die eng an die Vorstellung einer göttlichen Emanation und der himmlischen Inf luenz geknüpft ist, zu wenigen Sätzen. Die Aufgabe des Alchemisten ist es, »kundbar zu machen/ dass alle Geschöpf derselbigen Mineralien und Metalle/ wie auch Erz/ durch einen einzigen Geist von oben herab gebildet/ in der Erde ihren Ursprung nehmen/ sich generieren und zu Tag kommen […]. Wisse/ dass alle Dinge herkommen auss einer himmlischen Inf luenz und impression/ elementalischer operation und Würckung/ irdischer Substanz und Wesen/ dass auss solcher Vermischung nachmahls die Elementa entspringen/ als Wasser/ Lufft und Erden/ die gebehren dann durch Hülff des Feuers/ welches darinnen verborgen liegt/ durch eine warme Kochung/ eine Seel/ einen Geist/ und einen Leib/ diese drey sind die ersten Principia, die gehen endlich durch die coagulation in ein Mercurium, in ein Sulpur, und ein Salz/ wann solche drey zusammen gesetzt werden geben sie nach Art ihres Samens/ es sey in welchem Reich/ der Minralien/ vegetabilien oder animalien, ein perfect und vollkommen corpus.«485 Die Alchemie des Valentinus Basilius baut auf der Tradition der Vierelementenlehre auf und verbindet diese mit den drei paracelsischen Grundprinzipien Quecksilber, Schwefel und Sal.486 Diese Dreiheit darf aber nicht als eine rein stoff liche begriffen werden: Die Dreiheit ist zugleich »eine innerliche Seele/ ein unbegreiff licher Geist/ und ein leibliche sichtbare Anschauung«. Die Alchemie beschäftigt sich demnach nicht bloß mit der Materie, sondern auch mit verborgenen, den Gegenständen immanenten geistigen und seelischen Elementen einer göttlichen Emanation. Das eigentliche Wesen der Dinge sei nicht äußerlich, es liege im Innern verborgen. Das geistige und beseelende Prinzip, die den Kosmos durchziehenden Kräfte, wurden mit der göttlichen Ausf ließung in Zusammenhang gebracht. Die Erforschung der verborgenen Geheimnisse der Natur führt Valentinus Basilius direkt zur Gotteserkenntnis. Alchemie und spirituelle Religiosität greifen hier ineinander. Die Suche nach den secreta naturae ist eine religiöse Tat und dem Gebet ebenbürtig. Valentinus Basilius versichert, die verschlossenen, vorgeschobenen vielfältigen Riegel der Tür zu allen Weltschätzen könne nur mit unablässigem Gebet zurückgeschoben werden. Die Suche nach dem Stein der Weisen ist identisch mit der Suche nach religiöser Erkenntnis. Der Stein wird schlicht als universeller Spiegel der Welt definiert, in welchem die Welt erkannt werden könne. Denn 484

Ebd., S. 7–12. Ebd., S. 228 f. 486 Zur Funktion der Dreiheit »Sulphur, Mercur und Sal« vergleiche die Erläuterungen von Hemleben, Paracelsus, Revolutionär, Arzt, Christ, S. 91–99. 485

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Gott wolle dem Menschen die natürlichen Dinge offenbaren und ihn lehren, dass auch die himmlischen Dinge natürlich gemacht seien und »daß aus denen desto besser seine ohnendliche unnd unerforschliche Macht und Weißheit erkandt werde.« Die göttliche Offenbarung in der Natur ist auch der Grund, weshalb die Adepten ihre Erkenntnisse zu verschleiern trachten: Die Alchemisten, die im Lichte der Natur in den Spiegel der Natur geschaut haben, redeten aus Bedacht in Rätseln, hieroglyphischen Figuren und Gleichnissen, damit zwar die Natur erkannt werden könne, doch gleichzeitig den Unwürdigen unzugänglich bleibe.487 Ähnlich wie die Bibel in der mystischen Vorstellung den Unerleuchteten ein verschlossenes Buch bleiben müsse, soll in der alchemistischen Tradition das Buch der Natur nur den Auserwählten offen stehen. Über weite Strecken bewegen sich die Chymische Schriften auf dem Boden der paracelsischen Chemiatrie. In den Zwölff Schlüssel […] dardurch die Thüren zu dem uhralten Stein unser Vorfahren eröffnet/ und der unerforschte Brunnen aller Gesundheit erfunden wird, steht die Pharmazie im Zentrum der »Erfindung«. Mit dem Stein könne nicht bloß Gold gemacht werden, sondern »incurabiles morbi« könnten geheilt werden. Das lange Leben der Patriarchen im Alten Testament wird ebenfalls der medizinischen Wirkung des Steins der Weisen zugeschrieben. Und im Triumphwagen Antimonii wird Antimon als Ausgangsstoff für medizinische Wirkstoffe gepriesen, im Widerspruch zur damals vorherrschenden aristotelisch-galenischen Schulmedizin, welche die orale Anwendung von Antimontherapeutika in ihrer Theorie strickt verwarf.488 Johann Heinrich Lochers Auseinandersetzung mit alchemistischen Lehren schlug sich offensichtlich auch in der Beschäftigung mit paracelsischer Alternativmedizin und mit der iatrochemischen Pharmazie nieder. Am Abend des 9. Dezembers 1695 besuchte Locher Pfarrer Hardmeyer und dieser verzeichnete in seinem Tagebuch, dass sein Freund ihm bei dieser Gelegenheit eine »diats«-Rezeptur gab: 1. Topf Rotwein, 24 Lose schwarzen Gallus, 2 Lose Vitriol, 4 Lose Alaun, 4 Lose arabischen Gummi und 2 Lose Kandiszucker. Gegen welche Beschwerden diese Medizin helfen sollte, notierte der Tagebuchschreiber nicht.489 Die paracelsische Medizin steht in einem engen Verhältnis zu den alchemistischen Naturauffassungen. Und Locher verfügte in seiner Bibliothek über zwei weitere paracelsische Medizinalbücher. Einmal Oswald Gabel487 Valentinus Basilius, Chymische Schriften, [Vorwort der Herausgeber, unpaginiert] S. a5v. 488 Telle, Basilius Valentinus, S. 336. 489 ZB Zürich, Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 441, Eintrag vom 9./10. Dezember 1695.

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kovers (1539–1616)490 Artzneybuch 491. Das zweiteilige Werk des Leibarztes am Württembergischen Hof in Stuttgart ist eine Rezeptsammlung für alle körperlichen Krankheiten. Nach Paracelsus’ Vorbild trug Gabelkover die volksmedizinischen Heilmittel aus dem deutschsprachigen Raum zusammen und publizierte sie auf über 800 Quartseiten.492 Die erste Auf lage des Artzneybuchs war auf dem Büchermarkt nicht erhältlich. Der Auftraggeber der Schrift, Herzog Ludwig von Württemberg, organisierte und finanzierte nicht bloß den Druck, er nahm auch die gesamte Auf lage an sich und verteilte die Bücher an auserwählte Freunde. Die andere medizinische Schrift war die Physica493 des italienischen Arztes Leonardo Fioravanti, die Locher in einer deutschen Übersetzung besaß. Der Bologneser, einer der wenigen italienischen Paracelsus-Anhänger, lebte Mitte des 16. Jahrhunderts. Er erlangte eine gewisse Berühmt490

Zu Oswald Gabelkover, ADB, Bd. 8, S. 290 f. Gabelkover war als Leibarzt des Herzog Christoph von Württemberg zugleich auch Bibliothekar. In dieser Funktion schrieb er, gestützt auf ein breites Quellenstudium, die »Neue wirtembergische Chronik«, welche posthum ohne Namensnennung und erweitert 1744 f. herausgegeben wurde. 491 Gabelkover, Artzneybuch | Darinnen/ | Avß gnädigem Befelch/ Weiland deß | Durchleuchtigen Hochgebornen Fürsten vnnd Herrn/ | Herrn Ludwigen/ Herzogen zu Würtemberg vnd Theck/ Grauen zu Mümpel=|gart. Meines gnädigen Fürsten vnd Herrn/ Hoblöblicher Christ=|milter Gedächtnuß/ || Fast für alle deß Menschlichen Leibs-Anliegen vnd Ge=|brechen/ außerlesene vnd bewehrte Artzneyen/ gemeinem Vatterland Teut=| scher Nation zu gutem/ auß vielen Hohen vnd NiderenStandsPersonen geschrie=|bnen Artzneybüchern zusamen getragen/ vnd in den Truck verfertigt sind/ | Durch Hochermeldter Ihrer F. G. HofMedicum, | Oßwaldt Gäbelhouern/ der Artzney Doctorn: […] Anjetzo aber mit Bewilligung auffs new in Truck verfertigt/ o. O. 1641(?) [HAB Wolfenbüttel Xb 6118], (Erstausgabe Tübingen 1594 f.). 492 Damit man sich ein Bild über die Art der Rezeptsammlung machen kann, sei hier ein Beispiel angefügt: »Ein herrliche Artzney für allerley Zahnwehe[:] Nim Bertramwurtz x. Lot/ stoß rein zu Puluer/ thue es in ein Kolbenglas / geuß ein halb Würtenberger Maß frisches Baumöls / daß zimlich warm gemacht worden/ daran/ mischs wol vndereinander/ verbind das Glas wol/ vnd stells an die Sonnen/ oder sonst an ein warmes Ort xiiii. Tag lang/ rührs alle Tage vmb/ seyhe dann das Oel durch ein saubers Tüchlein/ thue es wider in das Glas / thue darzu zwey Loth weissen Vitriol oder Augstein rein gepüluert/ laß wider acht Tag aneinander stehen / rührs offt vmb. Wann eins dann Schmertzen von einem holen oder andern Zahn hat/ so tunck ein Feder in diß Oel/ vnd laß ein Tropffen auff den Zahn/ auch ein kleines tröpff lein auff das Zahnf leisch fallen/ behalts ein weil im Mund/ so wirds bald besser. Gabelkover, Artzneybuch, S. 128. 493 Fioravanti Medici von Bononia | Physica, | Das ist: | Experientz vnd | Naturkündigung. | I. Von Erschaffung deß Menschen auß den vier | Elementen/ dessen Complexion/ Eygenschaff=|ten/ Sinnen vnd Kräfften/ Gesundheit vnnd | Kranckheit/ vnd den vier Jahrzeiten. | II. Von geheymen niemals erhörten Experimen=|ten der Chirurgiy und Artzney. | III. Von mancherley Kranckheiten deß Men=|schen vnd deroselben Cur. | IV. Von allerhand Alchimistischen gewissen vnd | probierten verborgenen hohen Stücken. | Jetzund auß dem Italiänischen ob sei=|ner vnsäglichen Fürtreff lichkeit/ Hocheit vnd | Geheimnuß wegen ins Teutsch | versetzt, Frankfurt/M. (Niclas Hoffman) 1604. [HAB Wolfenbüttel A: 106.1 Med. (1)]. Das Werk wurde 1618 erneut nachgedruckt [ZB Zürich Z 231].

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heit durch seine auf eigener Beobachtung basierenden Berichte über plastische Operationen, welche die Gebrüder Vianeo in Kalabrien ausführten.494 Die medizinischen Grundlagen Fioravantis fußen auf der hermetisch-paracelsischen Kosmologie. Er definiert die Medizin als eine »Cosmography des Menschen, der kleinen Welt«495. Der Entsprechungslehre folgend, beginnt die Abhandlung bei der Schöpfung des Makrokosmos. Laut Fioravanti habe Gott bei der Schöpfung die vier Elemente Wasser, Erde, Luft und Feuer zuerst geschieden. Das Wasser sei aber diejenige Materie, aus welcher alles andere erschaffen wurde. Für die ›elementarischen Dinge‹ seien alle vier Elemente nötig. Auch der Mensch sei aus den vier Elementen erschaffen worden. Aus der Vier-Elemente-Lehre leitet der Arzt dann seine Lehre der Krankheiten ab; den vier Elementen entsprechend gebe es vier sogenannte Komplexionen: Hitze, Trockenheit, Feuchtigkeit und Kälte. Und jede Komplexion habe ihre Krankheiten. »[D]ie Kunst der Artzney […] sey […] anders nichts/ als viererley Würckungen/ in welchen die gantze Kunst beruhet/ als daß man das jenige/ so allzuhitzig ist/ erkühle/ das Erkältete erwärme/ das zuviel truckene befeuchtige/ vnd das vberfeuchte/ recht vnd genugsam außtrückne:« In diesen vier Techniken bestehe, so Fioravanti, die ganze Medizin. Die Mittel des Arztes seien »Syrup/ Träncke/ Salben/ Pf laster«.496 Aufgabe des Arztes ist es nun, diese Heilmittel oder die »Quinta essentia« ausfindig zu machen. Aus diesem pharmakologischen Verständnis der Medizin heraus kritisiert Fioravanti die galenische Schulmedizin: »Denn so viel ich bißher gesehen/ sind die Theorici, so nur auff den Schulen liegen/ vnd ihr Zeit mit Profitiren oder Lesen vnnd Disputiren zubringen/ gemeiniglich reich von Wissenschafft vnd arm an Erfahrung. Vnd wo ich der Todten nicht verschonete vnd der lebendigen Ruhm zuverdunckeln begert/ könnt ich deren wol ein grosse Summ erzehlen/ so zwar viel Jahr gelebt haben vnd zu keiner rechten Experientz vnd Erfahrung kommen können. Denn viel sehen auff ihr eygen Wolfahrt/ wie sie nemlich mögen reich werden/ es komme der Kranck zu seiner Gesundheit oder nicht.«497 Und er versichert, er habe selbst auch diesen Irrtum begangen. Im Vorwort zum zweiten Buch spricht er erneut den Unterschied zwischen seiner Auffassung von Medizin und jener der galenischen Schule an: Er habe neue Arzneien ausprobiert und entdeckt. Das unterscheide ihn von der auf Bücherwissen beruhenden Tradition; »Denn die Alten unsere Vorfahren sind zwar in der Erfindung [= deduktive Theorie] sehr gut/ in der Experientz oder Erfahrung aber nichts gewesen/ wie solches auß dem Mesue, Arnoldo de Villa 494 495 496 497

Haeser, Fioravanti, Leonardo, S. 523. Fioravanti, Physica, Das ist: Experientz vnd Naturkündigung, S. 4. Ebd., S. 5 ff. u. 14–19. Ebd., S. 33.

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Noua, Galeno, Laminari maiori vnnd andern genugsam erscheinet.« Er dagegen schreibe nur von Arztneimitteln, die er mehrfach ausprobiert und experimentell getestet habe. Seine Methode sei es, der Ursache der Krankheiten auf die Spur zu kommen und dann setze er den Heilungsprozess am Schwachpunkt des Patienten an.498 Auf dieser Grundlage entwickelt nun Fioravanti seine Chemiatrie und alchemistischen Experimente. Im zweiten Buch behandelt er »Der Alchimistischen Sachen/ so deß Menschen Wolfardt dienen vnd allerley Kranckheiten so wol innerliche als eusserliche gebraucht werden sind viel vnd mancherley«. Fioravanti beschreibt eine ganze Reihe medizinischer Rezepturen. Das Werk Fioravantis ist ein gutes Beispiel für das Ineinandergreifen von paracelsischer Medizin und Alchemie. Wobei die Alchemie als Speerspitze zur Erneuerung und Verbesserung der Wissenschaft und Medizin eingesetzt wurde. In der Alchemie kristallisierte sich ein neuer Wissenschaftsansatz, der auf der Beobachtung der Natur beruht und sich den hergebrachten Denkgewohnheiten entzieht, indem sich die Adepten über konfessionelle und aristotelische Dogmen hinwegsetzten. Die Alchemie steht dabei im Zentrum eines Programms, das auf die Verbesserung der Wissenschaften und der Künste dringt. Dieses alchemistische Programm konnte sich auch zur reformatio mundi auswachsen, wie beispielsweise im Rosenkreuzertum, indem sich die alchemistische Opposition gegen den Aristotelismus ganz allgemein auch als kirchliche und politische Reformbewegung verstand.499 Dem alchemistischen und hermetischen Weltbild verwandt sind die beiden Werke aus der Literaturgruppe der sogenannten Kunst- und Wunderbücher, die sich in Johann Heinrich Lochers Bücherbesitz befanden. Das eine ist Wolfgang Hildebrands Magia naturalis, das andere, das Compendium Miraculorum, hat den Arzt und Alchemisten Michael Maier zum Verfasser. Diesen beiden Büchern, die verschiedene Unregelmäßigkeiten und Abweichungen in der Natur sowie deren Kuriositäten zum Gegenstand der Betrachtung machten, kommt nach Christoph Meinel eine Bedeutung in der Herausbildung eines neuen Begriffs von Wissenschaft zu. Sie sind Teil der Opposition zur aristotelischen Weltauffassung. Während der aristotelische Wissenschaftsbegriff von den Universalien ausging und sich an allgemeinen Regeln orientierte, weshalb das Zufällige nicht für wissenschaftsfähig gehalten wurde, orientierten sich die Wunderbücher im Gegensatz dazu an den Anomalien und am Merkwürdigen. Diese gewannen so an theoretischem Interesse und verstärkten die Tendenz zur Empirie. 498

Ebd., S. 236 ff. Vgl.: Telle, Alchemie II, S. 204. Charles Webster erachtet den Beitrag, den die paracelsische Medizin zur Herausbildung der modernen Naturwissenschaft leistete, als bedeutender denn die kopernikanische Astronomie: Webster, From Paracelsus to Newton, S. 4. 499

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Das Buch der Natur: Zwischen okkulter und exakter Wissenschaft

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»Die Curiositas des Wissenschaftlers, bis dahin eher suspekt, war damit (…) rehabilitiert.« 500 Michael Maier (1568–1622) war ein angesehener Alchemist, Leibarzt und Rat Kaiser Rudolfs II., einem Liebhaber okkulter Künste. Für seine alchemistischen Leistungen wurde er in den Adelsstand erhoben.501 Das Compendium Miraculorum502 , das unter anderem von der »Vermischung« böser Geister mit den Menschen und von Werwölfen handelt, soll zur Erkenntnis der Natur anleiten. Die Schrift trachtet nach der Erkenntnis der Wunderwerke und der Kräfte in der Natur, damit man die Ursache – d. h. Gott – ergründen könne, so dass der Leser mit Herz und Mund dem Glauben zustimmen können. Das Werk handle, so der Autor, nicht von Prodigien, in welchen Gott seinen Willen oder seine Strafe zu erkennen gebe, sondern von Wunderwerken, aus welchen ganz allgemein die verborgene wundersame Ursache und Wirkung der Natur erkannt werden könne.503 Michael Maiers Spekulationsinteresse zielt somit auf das Arkanum, auf die verborgenen Qualitäten der Dinge. Unter den qualitas occulata versteht er eine in der Natur wirkende göttliche Kraft. Denn im Unterschied zur peripatetischen Schule ist er der Überzeugung, die Natur sei nicht ewig wie Gott und deshalb auch nicht allmächtig. Das Prinzip der Natur sei eine göttliche Kraft, die dem Universum und den »cörperlichen Substanzen« bloß verliehen sei.504 Die Wunderwerke der Natur sind für Maier die geeigneten Gegenstände, an welchen die Forschung nach dem Wirken Gottes in der Natur durchgeführt werden könne. Er will nun aufzeigen »welche Stück durch die Natur ordentlicher weise generiert vnd geboren werden/ vnd was auch ausser solcher Ordnung [stehe]«. Michael Maier beabsichtigt beispielsweise anhand der »orcadischen« [= hebridischen] Wildgänsen aufzuzeigen, dass ihre anormal und wundersam vorgestellte Fortpf lanzung durch eine ›Putrefaktion‹ geschehe. Das ist ihm Beweis für das Wirken einer göttlichen Kraft in der Natur. Eine Kraft, die einer rein sensualistischen Wissenschaft verborgen bleiben müsse. 500 Meinel, Okkulte und exakte Wissenschaften, S. 26 f.; vgl. ebenfalls: Kempe, Die Sintf luttheorie von Johann Jakob Scheuchzer, S. 497. 501 Zu Michael Maier vgl.: Arnold, La Rose-Croix et ses rapports avec la franc-maçonnerie, S. 118 f. 502 Maier, Compendium Miraculorum | Das ist | Kurtze/ jedoch klare | Beschreibung | vnterschiedlicher Wunder=|werken vnd Geschichten: Insonderheit | der Gänse/ so in den Orcadischen | Insuln auff Bäumen | wachsen: | Deßgleichen | Von Vrsprung vnd Geburt etlicher sehr | frembder Vegetabilien/ Menschen vnd Thier: | Wie auch dem Vogel Phoenix, Wehrwölffen/ Geniis, | Waldtgöttern/ Lamiis, Hexen/ vnd anderer Gedächt=|nußwürdigen Sachen Erör=|terung. | Von H. Michale Mayern D. u. Lateinisch | beschrieben/ vnd an jetzo ins Teutsche | versetzt/ durch | M. Georgivm Beatvm, Frankfurt/M. (Lukas Jennis) 1620 [HAB Wolfenbüttel M: Na 220]. 503 Ebd., S. 4 f. 504 Ebd., S. 8 u. 12 f.

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Die Magia naturalis505 ihrerseits ist das Hauptwerk Wolfgang Hildebrands (um 1570/80–1635), eines Notars und Ratsschreibers aus dem thüringischen Gebesee. Das Werk soll einem deutschsprachigen, lateinunkundigen Publikum gelehrtes Fachwissen zugänglich machen. Es ist ein Sammelsurium von praktischen Ratschlägen und Rezepten, wie man beispielsweise Haare färben oder entfernen könne. Die Magia naturalis ist aber auch eine populäre Einführung in das hermetisch-paracelsische Gedankengut und soll die Kenntnis von Kunststücken, die auf verborgenen Naturkräften beruhen, darlegen.506 In der Vorrede »An den Kunstbegierigen Leser« legt Hildebrand seine Motivation und Erkenntnisgrundlage dar, die stark an Paracelsus erinnert. Er zitiert einen Ausspruch des heiligen Antonius, der auf die Frage, was er in der Wüste studieren möchte, ohne ein Buch bei sich zu haben, geantwortet habe, ›die Natur‹. Denn die Natur sei »ein lebendiges Buch/ darauss er [Hildebrand] GOtt lerne erkennen«. Gott vollbringe in der Natur herrliche Wunderwerke, die nicht zu zählen seien. Der Mensch sei es Gott schuldig, ja er sei dazu geboren, die Natur zu erforschen.507 Der Autor sieht in seinem Kunst- und Wunderbuch einen Beitrag zur Erforschung des Buchs der Natur, in welchem Gott sich nebst der Bibel offenbare. Auch Hildebrand bezieht sich auf eine ähnliche erkenntnistheoretische Basis wie die Alchemisten. Joachim Telle folgert aus dem großen Erfolg der Schrift Hildebrands auf eine naturkundlich aufgeschlossene und an wissenschaftlicher Unterrichtung interessierte Laienleserschaft.508 Derart kann mit Sicherheit auch die Beschäftigung Lochers mit der Magia naturalis bewertet werden. Zur Literaturgattung der Wunderbücher dürfen wir am Rand noch zwei weitere Werke aus Lochers Bibliothek zählen: Die Magia d. i. christlicher Bericht von der Zauberey und Hexerey ins gemein, 1628509 des Theologen 505 Hildebrands new augiert | weitverbesserte vielvermehrte | Magia Naturalis: | Das ist | Kunst und Wunder=|buch Darinnen | begriffen wunderbahre Secreta, Geheimnüsse/ | und Kunststücke/ wie nan nehmlich mie dem ganzen Mensch=|lichen Cörper/zahmen und wilden Thieren/ Vogeln/ Fischen/ Vnziffern | vnd Insecten/ allerley Gewächsen/ Pf lantzungen vnd sonsten fast vnerhöre wun=|derbarliche Sachen verrichten/ Auch etliche Wunderschrifften künstlich bereitet/ | zu Schimpff/ Kurtzweil/ löblicher vnd lustiger Vbung/ vnd Nutz gebauchen/ | vnd damit die Zeit vertrieben kan: Beneben erzehlung vieler wunderlichen | Dingen/ so hin vnd wieder in der Welt gefunden werden. | […] Mit Privilegien begnadet 10. Jahren nicht nachzudrucken, Jena 1625 [ZB Zürich: Z 139], (Erstausgabe o. O. 1609). 506 Vgl.: Telle, Hildbrand, Wolfgang, S. 309 f. 507 Hildebrand, Magia Naturalis, [Vorwort unpaginiert]. 508 Telle, Die »Magia naturalis« Wolfgang Hildebrands, S. 120. 509 Albrecht, MAGIA , | Das ist: | Christlicher Bericht | von der Zauberey vnd Hexerey ins gemein/ | vnd dero zwölfferley Sorten vnd Arten insonderheit: | Was es für ein Grewel vor Gott sey: vnd wie schwerlich bey=|des die Zauberer selber/ vnd dann die jenige sich

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Bernhard Albrecht (1569–1636)510. Ein Buch, das die Examinatoren vorsorglich einzogen. Und die Magiologia, 1674511 des reformierten Bündner Pfarrers Bartholomäus Anhorn (1616–1700).512 Beide Werke wollten die Grenzen der teuf lischen Zauberei bestimmen. 2.4.3 Naturphilosophie und Erkenntnistheorie Das Buch der Natur liege offen vor unseren Augen. Doch der Mensch könne es erst lesen, wenn er mit der Sprache und den Schriftzeichen vertraut sei, in dem es geschrieben stehe. Diese Sprache sei die Mathematik. Diese Ansicht bildete das Fundament einer neuen Wissenschaftskonzeption, die sich gegen den Aristotelismus wendete: Descartes, Kopernikus oder Galilei können als Beispiel für diese Auffassung angefügt werden.513 Johann Heinrich Locher setzte sich außer mit mystischer und theosophischer Literatur auch intensiv mit mathematischen Werken auseinander. Davon zeugt beispielsweise ein Tagebucheintrag von Johann Kaspar Hardmeyer. Am 8. Februar 1694 weilte er in Zürich und besuchte seinen Gesinnungsfreund Johann Heinrich Locher, wo sie zusammen zu Mittag speisten. Anschließend durfte Hardmeyer einen Blick auf den Bücherschatz Lochers werfen: »Eine durchsicht siner Bücheren fand ich neben anderen mathematische Bücheren, ein schönes artiges, welches eine Vermäßkunst zweÿer burgern von Zürich ist, deren der eint, so viel ich mich zu versündigen/ welche bey ihnen | Rath und Hülffe suchen. Item: Daß eine Christliche Obrigkeit recht | daran thue/ wann sie die Hexen vnd Zauberer am Le=|ben straffet/ | Aus heiliger göttlicher Schrifft/ vnd an=|dern bewährten Historien gestellt/ vnd in zwölf | Capitel abgetheilet | Durch | M. Bernhard Albrecht/ Pfarrern zum heiligen | Creutz/ vnd Seniorem des Evangelischen | Ministerii zu Augspurg, Leipzig 1628 [SUB Göttingen Jus crimin. II, 2651]. 510 Jöcher, AGL , Bd. 1, S. 221. 511 Anhorn, Magiologia | Christliche Warnung | für | dem Aberglauben | vnd Zauberey: | Darinnen gehandlet wird | Von dem Weissagen/ Tag=|wellen und Zeichendeuten/ von dem | Bund der Zauberer mit dem Teufel: von | den geheimen Geistern/ Waarsagen/ Loosen vnd | Spielen: von den Quellen/ Heiss=Eisen vnd Wasserprob: | von den Laden in das Thal Josaphat/ vnd Bluten der er=|mordeten Lichnam. Von der Gauklerey/ Verblendung vnd | Verwandlung der Menschen in Thiere: Von der Hexen Sa=|belreiten/ Versamlung/ Mahlzeyten/ Beischlaff/ Wetter=|machen/ Leut und Vieh beschädigen. Von dem Nestelkni=|pfen/ Diebstall weisen/ Treffschiessen/ Segnen/ Magneti=|schen Cux/ vnd Königlichem Kropf heilen. Von der Passa=|wer Kunst/ Schatzgraben/ Allraunen/ Alchimey/ Schlan=|gen beschweeren vnd Liebgifften. Von dem Grewel der | Zauberey/ der Zauber Straff/ und müglig=|heit der Bekehrung zu Gott. | Der fürwitzugen Welt zum Ekel/ Schewsal | vnd Underweisung fürgestellt | Durch Bartholomaeum Anhorn/ Pfarrern der | Evangelischen Kirchen vnd Gemeind zu Bischoffzell, Basel 1674 [ZB Zürich VI 265]. 512 Wenneker, Anhorn, Bartholomäus d. J., S. 30–34. 513 Blumenberg, Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit, S. 53 u. 58 f.

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entsinnen, ein Goldschmid Zuber, Ist von meines lieben Grossvadters Johann Hardmeyer getruckt A° 1607.«514 Die Vermesskunst erscheint nicht in der Konfiskationsliste der Zürcher Examinatoren. Lediglich ein mathematisches Grundlagenwerk ist in der Liste verzeichnet. Schenken wir aber dem Augenzeugenbericht Hardmeyers Glauben, so musste Locher über weitere mathematische Werke verfügt haben. Ob sich Lochers mathematisches Interesse auf die Vorstellung, das Buch der Natur sei in mathematischer Sprache geschrieben, zurückführen lässt, lässt sich nicht abschließend beurteilen. Bemerkenswert und wohl kein Zufall ist jedoch, dass ein prominenter Verfechter der Konzeption mit zwei Werken im Bücherschrank des Zürcher Pietisten vertreten war: Galileo Galilei. Die Liste der konfiszierten Bücher nennt »Galileo Galilei Astronomisch buch« und »Galileo Galilei Mathematische Schrifften«.515 Die bibliographischen Angaben sind ungenau, sie lassen aber kaum einen Zweifel daran, dass es sich bei den genannten Werken einerseits um den Sidereus Nuncius, 1610 und um die Unterredungen und mathematische Demonstrationen, 1638 handelte. Für diese bibliographische Annahme spricht zudem, dass die Examinatoren den Bericht über die Entdeckungen mit dem Fernrohr für harmlos hielten, dagegen die Unterredung als schädlich klassierten und einzogen. Denn das letztgenannte Werk entwickelt ein neues auf Mathematik und Empirie basierendes Wissenschaftskonzept und stellt die Naturphilosophie der aristotelischen Schule in Frage. Im Weiteren lassen uns die bibliographischen Angaben der Konfiskationsliste über die Sprache der Schriften Galileis im Ungewissen. Die Discorsi E Dimonstrazioni Matematiche konnte Locher in der italienischen Originalausgabe lesen. Den lateinisch verfassten Sidereus Nuncius ließ er sich vielleicht übersetzen; oder er besaß die 1681 als Le messager céleste erschienene französische Ausgabe.516 Die Abhandlung Sidereus Nuncius, 1610 517 berichtet von den Entdeckungen, die Galileo Galilei (1564–1642)518 dank der Erfindung des Fernrohrs gemacht hatte. Der Florentiner berichtet, nachdem er von einem optischen Gerät eines Belgiers gehört habe, mit dem man Gegenstände vergrößern könne, habe er sich sofort mit der Optik beschäftigt und eigenhändig ein Fernrohr nachgebaut. Und Galilei richtete das neue Gerät Richtung Himmel. Der Sidereus Nuncius liest sich wie das Forschungsprotokoll atemberaubender Beobachtungen. Zwischen dem 7. Januar und 2. März 1610 514

ZB Zürich, Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 27, Eintrag vom 8. Februar 1694. 515 ZB Zürich, Ms. S 276, Nr. 11, S. 2 f. 516 Carli/Favaro, Bibliografica Galileiana (1568–1895), S. 82, Nr. 349. 517 Galilei, Sidereus Nuncius. 518 Zur Biographie Galileis vgl.: Krämer-Badoni, Galileo Galilei; Fölsing, Galileo Galilei.

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betrachtete Galilei erst zufällig, dann systematisch den Planeten Jupiter. Im Umfeld des Planeten konnte er vier neue Himmelskörper erkennen, die er anfänglich für neue Fixsterne hielt. Ihre Bewegung mit und um den Planeten auf dessen Ekliptik ließen keinen anderen Schluss zu: Der Jupiter wird von Trabanten umkreist, wie die Erde vom Mond. Die Entdeckung der Jupitermonde – Galilei nannte sie Mediceisches Gestirn – hatte für ihn eine weitreichende Konsequenz: »Außerdem haben wir jetzt ein ausgezeichnetes und durchschlagendes Argument, um denjenigen ihre Bedenken zu nehmen, die zwar das Kreisen der Planeten um die Sonne im kopernikanischen System noch ruhig hinnehmen aber von der einzigen Ausnahme, dass der Mond sich um die Erde dreht, während beide eine jährliche Kreisbahn um die Sonne vollenden, sich so verwirren lassen, dass sie dieses Weltbild als unmöglich verbannen zu müssen glauben.« 519 Galilei hatte nun mit den Jupitermonden einen der Erde ähnlichen Fall beobachten können. Für ihn war somit der letzte Zweifel an der Richtigkeit des kopernikanischen Systems beseitigt. Erst 22 Jahre nach seiner Beobachtung der Jupitermonde kam er auf die publizistische Verteidigung des kopernikanischen Modells zurück. Im Dialog über die Weltsysteme 1632 520 stellte er dem ptolomäischen Modell das kopernikanische als plausibler gegenüber und widerlegte eine Reihe physikalischer Fehlschlüsse der aristotelischen Schule. Er wählte dazu die Dialogform, weil er sich dem Denken Platons verbunden fühlte. Mit dieser Abhandlung handelte sich Galileo Galilei die Verfolgung durch die Inquisition ein: Das Indexdekret von 1616 verbot die Beweisführung zugunsten des kopernikanischen Modells. Es durfte nur in hypothetischer Form vorgetragen werden.521 Unter Hausarrest gestellt, setzte Galilei auf seinem Landsitz nahe Florenz seine schriftstellerische Tätigkeit dort fort, wo er mit dem Dialog über die Weltsysteme geendigt hatte. 1638 erschien bei den Gebrüdern Elzevir in Holland die Unterredungen und mathematische Demonstrationen in italienischer Sprache.522 Die Teilnehmer an der fortgesetzten Diskussion sind dieselben Personen wie bereits im Dialog: Sagredo, ein 519

Galilei, Sidereus Nuncius, S. 130. Galilei, Dialog über die Weltsysteme. 521 Galilei verteidigt sich denn auch im zweiten Verhör vom 30. April 1633 vor der Inquisition gegen den Vorwurf, er habe dem Kopernikanismus das Wort geredet, mit dem Hinweis, er habe ja nur dialogisch das Für und Wider abgewogen. Vgl.: Blumenberg, Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit, S. 8. 522 Galilei, Discorsi | E | Dimonstrazioni | Matematiche, | intorno à due nuoue scienze | Attenenti alla | Mecanica & i Movimenti Locali, | del Signor | Galileo Galilei Linceo | Filosofo e Matematico primarion del Serenissimo | Grand Duca die Toscana. | Con una Appendice de centro die grauità d’alcuni Solidi, Leyden 1638 [ETH Zürich 4098]; Deutsche Übersetzung von A. von Oettingen: Galilei, Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend. 520

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scharfsinniger Edelmann und Salviati, ein Gelehrter, dessen einziger Genuss das Forschen und Nachdenken ist. Beide reden der neuen mathematischen Methode das Wort. Und dann noch ihr Widersacher, den Galilei ironisch Simplicio nennt und dem laut Dialog »nichts so sehr die Erkenntnis der Weisheit erschwert, als der Ruhm, den er durch die Auslegungen des Aristoteles erworben hatte«.523 Dem Simplicio ist die Rolle des Verteidigers Aristoteles zugedacht, der durch tollpatschige Fehlschlüsse die Stichworte gegen die peripatetische Schule liefert. Die Unterredung installiert die Mathematik, als die höchste Erkenntnisform. Sie setzt an konkreten geometrischen und physikalischen Beispielen auseinander, was programmatisch im Dialog folgendermaßen formuliert wurde: »Wahrheit bedeutet […], dass der menschliche Intellekt einige Wahrheiten so vollkommen begreift und ihrer so unbedingt gewiss ist, wie es nur die Natur selbst sein kann. Dahin gehören die rein mathematischen Erkenntnisse […]. Die Erkenntnis der wenigen [Wahrheiten] aber, welche der menschliche Geist begriffen, kommt […] an objektiver Gewissheit der göttlichen Erkenntnis gleich […] und eine höhere Stufe der Gewissheit kann es wohl nicht geben.« 524 Die mathematische Erkenntnisform ist nach Galilei die Teilhabe an der göttlichen Weisheit. Es besteht eine Analogie zwischen dem göttlichen und menschlichen Wissen. Ein Gedankengang, der für den in paracelsischen und hermetischen Figuren bewanderten Locher bestens vertraut sein dürfte.525 Diese programmatische Analogie ist die implizite epistemologische Grundlage der Unterredung. Auf ihr basiert die Vorstellung der Übereinstimmung der nach mathematischen Prinzipien eingerichteten Natur mit einer der mathematischen Methode verpf lichteten menschlichen Erkenntnis. Der aristotelischen Scholastik wird in der Unterredung Platon entgegengehalten. Das Denken in syllogistischen Figuren wird durch eine mathematische Methode der Definitionen und schrittweisen Erörterungen von Schluss zu Schluss in Frage gestellt. Am zweiten Tag ruft Sagredo nach der Herleitung des Hebelgesetzes durch Salviati aus: »Was sollen wir hierzu sagen, Herr Simplicio? Ist nicht die Geometrie das mächtigste Werkzeug zur Schärfung des Verstandes, das uns zu jeglicher Untersuchung befähigt? Wie hatte doch Plato Recht, wenn er allem zuvor seine Schüler gründlich in Mathematik unterrichtete.«526

523

Galilei, Dialog über die Weltsysteme, S. 138. Ebd., S. 157. 525 Mit dieser Analogie weniger vertraut war die Inquisition. Die Anklageschrift von 1632 enthält diese Behauptung an sechster Stelle. Vgl. Blumenberg, Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit, S. 58. 526 Galilei, Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, S. 113. 524

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Gleich ab dem ersten Tag des Gesprächs wird mit Aristoteles hart ins Gericht gegangen. Die Gesetze der Kinematik behandelnd widerlegt Galilei die Fehlschlüsse der peripatetischen Schule über die Innexistenz des Vakuums sowie über das Fallgesetz. Das Grunddogma, dass schwere Körper fallen und leichte steigen – und daraus abgeleitet, dass die Fallbeschleunigung vom Gewicht des fallenden Körpers abhängig sei – lässt er in der Gesprächsrunde durch Salviati, seinen Protagonisten, sezieren. Galilei hält Aristoteles den Archimedes entgegen und falsifiziert ihn mit dem Gesetz des Auftriebes. Er zeigt, dass etliche schwere Körper in der Luft zwar fallen, im Wasser aber schweben oder gar schwimmen. Demnach wirkt der Gravitation der Auftrieb entgegen. Und Salviati formuliert die These, dass – wenn der Widerstand der Luft weggelassen werde – alle Körper gleich schnell fallen würden. Und er rechnet nach, dass der Auftrieb der Luft beinahe vernachlässigbar ist.527 Der der empirischen Methode verpf lichtete Salviati zweifelt schließlich, ob Aristoteles je seine Behauptung, ein zehnmal schwererer Körper würde zehn mal schneller fallen, experimentell überprüft habe.528 Ob der geballten Kritik an Aristoteles muss Simplicio bereits am Ende des ersten Tages das Handtuch werfen. Er gesteht ein, »wenn ich von Neuem meine Studien anfangen könnte, ich würde Platos Rat befolgen und mit Mathematik beginnen, denn diese Disziplin geht peinlich genau vor und lässt nur das zu, was folgerichtig dasteht.«529 Auf den ersten Blick mag es irritieren und sogar verwirren, dass ein Mystiker und Anhänger okkulter Wissenschaften sich für einen Protagonisten der modernen, mathematischen Naturwissenschaft interessiert. Handelt es sich bei mystischem Spiritualismus einerseits und empirischer Wissenschaft anderseits nicht um gegensätzliche Denkmodelle? Wie soll jemand, der seine Erkenntnisquelle aus dem göttlichen Geist in seinem Herzen bezieht, sich in einer Welt mit rationalen Experimenten zurechtfinden? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir zuerst von unserem heutigen Wissenschaftsbegriff abstrahieren. Galileo Galilei ist keineswegs der Erfinder einer neuen, empirisch rationalen Wissenschaftskonzeption, wie dies populäre Philosophiegeschichten gern darstellen. Hans Blumenberg widerspricht der geläufigen Ansicht, mit der Verdrängung der aristotelischen Naturphilosophie »sei ein Inbegriff spekulativer, erfahrungsferner Aussagen über die Natur ersetzt worden durch ein Aus527

Ebd., S. 56 f. u. 65. Ebd., S. 57. Galilei selbst ist aber keineswegs der Vorreiter physikalischer Experimente. Die Legende von seinem Experiment zum freien Fall, das er auf dem schiefen Turm von Pisa durchgeführt haben soll, ist widerlegt worden. Bei den Experimenten Galileis handelt es sich hauptsächlich um Gedankenexperimente. Vgl.: Blumenberg, Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit, S. 49. 529 Galilei, Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, S. 80. 528

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sagesystem durch und durch empirischer Herkunft«. Es handelt sich nicht um ein neues, fertiges Wissenschaftskonzept, basierend auf einem mechanisch-empirischen Weltbild, das an die Stelle des alten trat. Den Anfang des wissenschaftlichen Umbruchs markierten die Kritik und Zurückweisung des hergebrachten aristotelischen Systems als ein unzulängliches Instrument zur Verortung der zunehmenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse.530 An der Herausbildung der modernen Wissenschaften waren sowohl Religion wie auch die okkulten Wissenschaften – beispielsweise die hermetisch-paracelsische Alchemie – neben Empirie und Mathematik beteiligt. Einige Wissenschaftler, wie Frances Yates oder Charles Webster531, vertreten sogar die These, dass sich die moderne Naturwissenschaft aus der hermetischen Tradition heraus entwickelte. Eine Auffassung, die natürlich nicht unwidersprochen blieb.532 Vermutlich sind es mehrere Strömungen, die parallel nebeneinander existierten und ihren Anteil an der Herausbildung der modernen Wissenschaft beisteuerten. Strömungen, die den damaligen Menschen gar nicht als gegensätzlich erscheinen mussten: Es bestand beispielsweise für Newton kein Gegensatz zwischen seiner Beschäftigung mit Physik und der jenigen mit Alchemie.533 Wenn dem hermetischen und paracelsischen Wissenschaftskonzept das »Odium des Abstrusen und des Abwegigen« anhaftet, so resultiert dies aus unserer zeitgenössischen Betrachtungsweise. Wir können Wilhelm Kühlmanns Feststellung nur zustimmen: »Die entscheidende Trennung ›occulter‹ und von heute aus gesehen seriöser und ›exakter‹ Naturwissenschaft ist ein Gedankenprodukt des 18. und 19. Jahrhunderts. Der paracelsische Alchemismus wurde attraktiv, weil er sich an einer Problemlösung abarbeitete, an dem der naturkundliche Aristotelismus gescheitert war. (…) In diesem Sinne wurde die Alchemie für geraume Zeit zur Leitwissenschaft der modernen Naturbeherrschung, sie folgte den Postulaten der empirischen Überprüfung und empraktischen Vervollkommnung von Verfahren.«534 Das Verhältnis von okkulter und exakter Wissenschaft und ihr Ineinandergreifen im Prozess, der zur wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahr530

Blumenberg, Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit, S. 38. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition; Webster, From Paracelsus to Newton. 532 Vgl.: Vickers, Okkulte Wissenschaften, S. 124–129. Vickers beurteilt die Yates-These als irreführend. Der wissenschaftliche Durchbruch hat für Vickers den Ursprung in mehreren gegenläufigen Traditionen, die schließlich einen philologisch verstandenen Wissenschaftsbegriff überwinden halfen. Einen historiographischen Überblick zu dieser Debatte geben Meinel, Okkulte und exakte Wissenschaften, S. 40–43 und von Greyerz, Alchemie, Hermetismus und Magie, S. 415–432. 533 Dobbs, Alchemische Kosmogonie und arianische Theologie bei Isaac Newton; Fischer, Isaac Newton und das verlorene Wissen der Alten, S. 41–62. 534 Kühlmann, Paracelsismus und Hermetismus, S. 22. 531

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hunderts führte, muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Wenn Brian Vickers gegen Frances Yates einwendet, dass die Wiederentdeckung und Anwendung der Mathematik einen entscheidenden Anteil an der Überwindung einer nach philologischen Maßgaben betriebenen Naturwissenschaft leistete und zum wissenschaftlichen Fortschritt beitrug535, so ist doch überaus bemerkenswert, dass Johann Heinrich Locher als theologischer Laie und Hermetiker gerade auch in Mathematik dilettierte. Interessant ist, wie beide Strömungen, die letztlich in den modernen Wissenschaftsbegriff mündeten, durch eine zentrale Person des zürcherischen Pietismus aufgenommen wurden. Die Standardwerke einer paracelsisch-hermetischen Naturphilosophie stehen scheinbar widerspruchsfrei mit dem Grundlagenwerk der modernen mathematisch-mechanischen Physik in derselben Bibliothek. Wenn ich den Pietismus im ersten Teil als eine Bewegung dargestellt habe, die von einem Protobürgertum getragen wurde und die Auf klärung vorbereiten half, so erscheint hier der Pietismus – wenn wir von Locher auf die gesamte Bewegung schließen dürfen – nun als eine Strömung, die sich intensiv mit dem Prozess der Herausbildung einer neuen Wissenschaftsauffassung beschäftigte und diese in ihr Glaubenssystem integrierte. Galileo Galilei musste deshalb in Lochers mystisch-spiritualistischer Religiosität kein Fremdkörper sein. Natürlich gibt es auch Unterschiede, denn Galilei war kein Hermetiker, aber die Differenzen waren vielleicht aus zeitgenössischer Optik kleiner als aus heutiger Sicht. Es gibt aus der Sicht des Lesers mystischer und hermetischer Schriften genügend Berührungspunkte, die Galilei in das naturmystische und spiritualistische Weltbild integrieren ließen. Berührungspunkte, die sich nicht einzig in der gemeinsamen Stellung als Außenseiter erschöpften: Beiden Denkansätzen war erstens eine gemeinsame Frontstellung gegen die aristotelische Scholastik gemein; beide beriefen sich sodann auf den Neuplatonismus. Die eigene Erfahrung und Beobachtung wurde gegenüber Dogmen und Autoritäten hochgehalten. Es besteht zudem kein Zweifel, dass in pietistischen Zirkeln das kopernikanische System verfochten wurde. Sowohl der mechanisch-mathematische wie der hermetische Ansatz setzten sich zweitens in der Naturerkenntnis dasselbe Ziel. Beide stützten sich auf die Vorstellung, dass das Buch der Natur eine der Bibel ebenbürtige Quelle der Gotteserkenntnis sei. Eine solche Ansicht setzte wiederum eine gewisse Emanzipation von konfessionell gebundenen Standpunkten voraus. Teilweise kam es sogar zu einer Umkehr der Autoritäten: die Naturerkenntnis musste nicht mehr der Bibel untergeordnet werden, sondern die Bibel der Naturerkenntnis.536 So interpretierte beispielsweise Johann Jakob Zim535 536

Vickers, Okkulte Wissenschaften, S. 125. Vgl.: Jacob, Alte und neue Wissenschaften und Weltdeutungen, S. 411.

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mermann, den Locher persönlich kannte, das für das aristotelische Weltbild entscheidende Zitat aus dem Buch Josua ( Jos 10.12–14) mit großem philologischem Aufwand in kopernikanischer Weise um,537 – eine Interpretation, die der Zürcher Pietismus adaptierte.538 Schließlich gibt es auch methodologische Berührungspunkte. Da sind einmal die Analogieschlüsse zu erwähnen, die nach wie vor im Denken Galileis ihren Platz haben.539 Es ist keineswegs so, dass Galilei bereits eine vollendete mathematischmechanische Denkstruktur entwickelt hätte, die für hermetisch-analogische Ansätze undurchlässig gewesen wäre. Weiter muss auf die gemeinsame empirische Grundlage hingedeutet werden. Beide Richtungen, die mechanische wie die alchemistische, legen Wert auf die Beobachtung der Natur und auf Experimente. Der Sidereus Nuncius dürfte sich so wohl in ein hermetisches Weltbild eingepasst haben. Die Entdeckung des Mediceischen Gestirns wäre so ein Eindringen mittels des Fernrohres in die okkulte, der Sinnlichkeit verborgene Welt. Und die Jupitermonde können als eine Sonderheit oder ein sogenanntes Wunderwerk der Natur – den orkadischen Wildgänsen vergleichbar – gesehen werden, die empirischen Stoff liefern, um die aristotelischen Universalien zugunsten eines Kopernikanischen Weltsystems in Zweifel zu ziehen. Das neue Denken zog Johann Heinrich Locher auch in Form eines Buches an, das die empirische Methode auf psychologische, gesellschaftliche und politische Themen lenkte. So fanden die Examinatoren in seinem Schrank auch Francis Bacons (1561–1626)540 Essays in der ersten deutschen Übersetzung von 1654 unter dem Titel Getreue Reden: die Sitten= Regiments= und Haußlehre betreffend 541. 537

Brecht, Chiliasmus in Württemberg im 17. Jahrhundert, S. 40. In einer Schrift der Kirchenbehörde an den Zürcher Magistrat von 1701 mit dem Titel »Apologia oder Schutzschrifft darin die den 2then Juny 1701 […] [dem] Magistrat übergebene bittere Klagschrifft, wider aufgekommen gefahrliche Neüe Lehr in unserer Kirch und Schul, grundtlich beantwortet und widerlegt wird« werden 11 pietistische Glaubenspunkte aufgeführt und weitschweifig entkräftet. Der VI. pietistische Glaubenspunkt lautet: »Dass die wunderwerck, die Jos. 10: 12 […] erzellet worden, von dem still stehen und zurück weichen der Sonnen nit wahrhafftig, sonder nur zum schein, und einbildungs-weise geschehen, weil eigentlich die Sonn am firmament stillstehe, und die Erde bewegt werde und derhalben die Schrifft in disen und anderen dergleichen offenbaren dingen, benanntlich auch, wann sie redet von dem Leben und der Empfindlichkeit der Thiere, die nur als ein uhrwerk bewegt werden, nicht nach der wahrheit der sache sonder nur nach der Irrenden meinung des Täufels rede.« ZB Zürich Ms. L 104 [ Joh. Leu: Collectanea HelvetoTuricensia ecclesiastica], S. 1074. 539 Zur analogisch gebundenen Denkstruktur Galileis, vgl.: Blumenberg, Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit, S. 40. 540 Zu Francis Bacon vergleiche beispielsweise: Rossi, Francis Bacon, From Magic to Science; Vickers, Francis Bacon, S. 9–37. 541 Francisi Baconis | Grafens von Verulamio, | weiland | Englischen Reichscantzlers | Getreue Reden: | die Sitten= Regiments= und | Haußlehre betreffend/ || Aus dem Latei538

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Es wurde im 19. Jahrhundert behauptet, Bacon sei ein Anhänger der Rosenkreuzer gewesen. W. F. C. Wigstone will eine große Ähnlichkeit einer Rosenkreuzer-Schrift von 1660 mit der utopischen Schrift NeuAtlantis dahingehend erklären, dass im 17. Jahrhundert den Eingeweihten bekannt gewesen sein musste, dass Bacon ein Rosenkreuzer gewesen sei. Paul Arnold hat eine Reihe von Berührungspunkten zwischen der Neu-Atlantis-Schrift und den Rosenkreuzerischen Schriften Johann Valentin Andreaes hervorgehoben. Er ist der Auffassung, dass eine Beeinf lussung Bacons durch die Fama denkbar ist, auf direkte Verbindungen und Abhängigkeiten könne aber nicht geschlossen werden.542 Frances Yates sieht zwischen Bacon und der Rosenkreuzerbewegung ebenfalls starke, jedoch unergründliche Parallelen. Zum einen wurzelte auch Bacon in einer magischen und kabbalistischen Tradition der Renaissance. »Auch Bacons Wissenschaft ist noch zu einem Teil okkulte Wissenschaft. Unter den Themen, denen er nachgeht, sind natürliche Zauberkraft, Astrologie (…), Alchemie (…) und andere Gegenstände, die von denen, die die moderne Seite Bacons unterstreichen wollen, einfach ignoriert werden.«543 Zum andern galt sein Interesse trotz empirischen Ansätzen ebenfalls mehr den Analogien und weniger der wissenschaftlichen Lehre an sich.544 Was Locher zum Erwerb der Essays bewegte, wissen wir nicht. Vielleicht war es die Nähe zum Rosenkreuzertum, vielleicht war es der neue, empirische Blick, der nun auch auf alltägliche Bereiche ausgedehnt wurde. Das Bestechende war für ihn wohl das Beiseiteschieben der aristotelischen Autoritäten und deren Ersetzen durch eigene Beobachtungen und Erkenntnisse. Diese neue Art der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit dürfte Johann Heinrich Locher angezogen haben. In den Essays fand er thematische Beispiele für eine Denkmethode jenseits von Autoritätenglauben und Syllogismen. Eine Denkmethode, die auf Abwägen und Beobachten setzt. Beispielsweise im Essay über das Studieren legt Bacon seine kritische Haltung gegenüber Theorien dar, welche nicht in empirischer Erkenntnis gründen. »Die guten Wissenschaften machen die Natur vollkommener; werden solches aber selbst/ durch die Erfahrung«. Ohne Einschränkungen des (reinen) Theoretisierens durch die Empirie würde die Wissenschaft sofort ins Kraut schießen. Diese brauche die Schranken der Erfahrung. Die reine Gelehrsamkeit als Selbstzweck – gemeint ist die aristotelische Scholastik – lehnt er dagegen ab. »Verschlagene Leute verachten die guten Wisnischen gedolmetscht/ | durch ein Mitglied der Hochlöblichen | Fruchtbringenden Gesellschaft. | den | Unglückseligen, Nürnberg (Michael Endters) 1654 [ZB Zürich Y 444]. 542 Arnold, La Rose-Croix et ses rapports avec la franc-maçonnerie, S. 128–131. 543 Yates, Auf klärung im Zeichen des Rosenkreuzes, S. 130 ff. Vgl. auch: Rossi, Francis Bacon, From Magic to Science, S. 11–22 (The heritage of magic). 544 Vickers, Francis Bacon, S. 27.

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senschafften; Einfältige verwundern sich darob; Vernünfftige bedienen sich deren Hülffe […] Dann die gelehrten Wissenschafften lehren ihren eigenen Gebrauch nicht genugsam/ sondern dieses Ding ist eine Vorsichtigkeit/ die ausser ihnen/ und über dieselbige ist/ bloß durch Beobachtung erworben«. Inhalt des Lernens sei das Prüfen und Nachdenken.545 Falsche Erkenntnis hat für Francis Bacon etwas zu tun mit dem verderbten »Sinnen und Trachten der Menschen«. Es sei der Geist der Lüge, den er mit Eitelkeit, Hoffart, Überschätzung und Einbildung umschreibt. Darum falle es den Menschen beschwerlich, die Wahrheit zu erkennen. Mit der Ansicht, die falsche Erkenntnis stehe mit einer falschen, unethischen Lebensweise in Zusammenhang, greift Francis Bacon einen bekannten, mystischen Topos auf. Und wie bei den Rheinischen Mystikern ist die wahre Erkenntnis auch für ihn eine Erleuchtung durch den Geist Gottes: »Aber/ ob sich schon dieses in der Menschen verderbten Urtheilen und Sinnregungen also verhält/ so lehrt doch die sich selbst allein richtende Warheit/ daß die Erforschung der Warheit so um selbige/ wie ein Liebhaber buhlt/ die Erkenntnus der Warheit/ so selbige gegenwärtig darstellt/ und die beifällige annehmung der Warheit/ so deren Genuß und Kuß ist/ das höchste Gut menschlicher Natur seye. Das erste Geschöpfe Gottes/ unter denen Werken der sechs Schöpfungstäge/ ist das sinnbare Liecht gewesen/ das letzte/ das Vernunftliecht; Ja/ seine Sabbatsarbeit/ die er immer fort treibt/ ist die erleuchtung seines Geistes. Erstlich/ bläst er das Liecht dem Gesichte des allgemeinen Stoffes oder ungeformten Weltklumpens ein/ nachmals dem Antlitze des Menschen. Ja/ er bläst noch immer und ewig das Liecht denen Antlitzen der Auserwehlten ein.«546 Man mag überrascht sein, dass Bacon Erkenntnis mit Erleuchtung oder mit dem Licht, das den Erwählten eingehaucht wird, verbindet. Weiter überrascht die religiöse Steigerung der Erkenntnis in der Gleichsetzung mit dem höchsten Gut, d. h. mit dem Göttlichen. Diese Bilder dürfen, so Frances Yates, nicht als bloße Rhetorik angesehen werden.547 Es handelt sich bei diesen Bildern vielmehr um Denkstrukturen, die in Bacons stoischem und neuplatonischem Ansatz gründen und eine beträchtliche Verwandtschaft zum hermetischen Gedankengut aufweisen.548 Die Vorstellung, dass Gottes Licht der Erkenntnis die Auserwählten erleuchte und die vornehme und tugendhafte Auserwählung in der Vermählung mit der von Gott ausgehenden Wahrheit bestehe, dürfte zumindest dem Leser theosophischer Schriften keine große Verständnismühe bereitet haben. 545

Bacon, Getreue Reden, Vom Studieren und Bücherlesen, S. 364 ff. Ders., Getreue Reden, Von der Weisheit, S. 3 f. 547 Yates, Auf klärung im Zeichen des Rosenkreuzes, S. 130. 548 Brian Vickers spricht jeweils von einer »platonisch-ciceronianischen Tradition«. Siehe Vickers, Bacons ›Utilitarismus‹, Quellen und Einf lüsse, S. 66. 546

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Die Methode des vorurteilsfreien Beobachtens und Prüfens in den Essays förderte religiöse und theologische Erkenntnisse zutage, die sich mit denjenigen Johann Heinrich Lochers in einem hohen Grad deckten. Bei Bacon stoßen wir erneut auf eine Verbindung zwischen »moderner« Wissenschaft und der Reformation der Kirche. Das Essay über den Aberglauben entwickelt eine scharfe Kritik an der Konfessionskirche. Die Ursache des Aberglaubens führt Francis Bacon auf »angenehme und äusserliche Gebräuche/ und Kirchengepränge« zurück. Es sei ein »Uberf luß äusserlich und Phariseischer Heiligkeit […] / welches alles die Kirche nohtwendig überlästigen muß.« Das Ganze diene bloß dem Gewinnstreben der vornehmen Geistlichkeit. Kurz: »Und gleich wie die gesunden Speisen/ zu Würmern verwesen/ also verwesen die gut- und heilsamen Gebräuche in zwerghaffte überf lüssige Beobachtungen.« Die verkehrte Kirche hat nach Bacon neben der Fixierung auf Äußerlichkeit und Gewinn noch eine weitere Stütze: die Lehre der Scholastik. Auf das seiner Auffassung nach nicht haltbare kopernikanische Weltmodell anspielend meint er: »die Schullehrer seyen denen Sternkundiger gleich gewesen/ welche die Kreise ohne Mittelpunkte/ und dergleichen Kreisgerüste erdacht haben/ die Himmelslichter herzuhalten/ ob sie schon genugsam gewust/ es seye im Werck nichts dergleichen zu finden«. Genau so hätten die Scholastiker eine Anzahl verwickelter Lehrsätze entwickelt, um die heutige Praxis der Kirche zu retten.549 Francis Bacons Kirchenkritik wird begleitet von der Toleranzforderung. Wer gegen die religiöse Toleranz eintrete, ist Bacon überzeugt, der habe keine hehren Ziele. Den Essay über die Einigkeit in der Kirche beschließt er mit der Aussage: »diejenigen/ welche darzu rahten/ daß man die Gewissen beschwären/ und selbigen Gewalt anthun solle/ f lechten unter solche Lehre/ ihre Begierden mit ein/ und geben an Tag/ diese Sache betreffen ihre Angelegenheiten.«550 In der Intoleranz und in der religiösen Zwietracht sieht Francis Bacon die Ursache der Sektenbildung: Sekten würden dann entstehen, wenn der Lebenswandel der Geistlichen zerrüttet und Ärgernis erregend und das Zeitalter dumm, unwissend und roh sei.551 Auch bezüglich der Naturphilosophie ist schließlich eine gewisse Übereinstimmung mit Lochers Denkweise festzustellen. Das Essay über den Atheismus beginnt folgendermaßen: »Es klingt nicht so hart/ wann man denen allerabenteuerlichsten Gedichten des Alcorans/ Talmuds oder der Legend (Päbstlicher Heiligen Lebensbeschreibung) glauben zustellt/ als wenn man glaubt/ dem Baue dieses alles/ wohne kein Gemühtssinn bey. Derhalben hat Gott nie kein Zeichen noch Wunder gethan/ die Gottesverlaugnung zuüberweisen/ sintemahl seine gewöhnliche Wercke darzu 549 550 551

Bacon, Getreue Reden, Vom Aberglauben, S. 126 ff. Ders., Getreue Reden, Von Einigkeit der Kirche S. 25. Ders., Getreue Reden, Von Wechslung und Wandel der Dinge, S. 419.

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genugsam seyn.«552 Das beste Argument gegen den Atheismus sei die Natur. Aus ihr könne Gott unmittelbar erkannt werden, selbst wenn ein Ungläubiger die Bibel verwerfen sollte. Noch eine weitere Berührung zwischen Bacon und Lochers Lektürepräferenzen ist feststellbar: Auch der empirische Philosoph pf legt ein animistisches Weltbild. Den Dingen des Universums haftet, ähnlich der hermetischen Auffassung, ein arkanes, okkultes Moment an. Bacons Welt ist beseelt. Das beseelende Prinzip in der Welt ist für ihn der beste Beweis Gottes. Oder anders ausgedrückt, im beseelenden Prinzip erkenne der Mensch – auch ohne Bibel – Gott. Eine rein mechanische Auffassung der Welt ist somit seiner Auffassung nach Atheismus. Er nimmt in seiner Warnung quasi den Materialismus des 18. Jahrhunderts vorweg, wenn er meint, »oberf lächliches« – nicht auf die verborgenen, beseelenden Prinzipien der Dinge zielendes – Philosophieren verführe den menschlichen Geist zur Gottlosigkeit. Allein das tiefe Eindringen in die Dinge würde den Atheisten automatisch zur Religion zurück lenken. Dann würde er gezwungenermaßen an Gott und seine Vorsehung glauben müssen. Providentielle Religion und animistisches Weltbild gehören für Bacon zusammen und er formuliert gegen eine oberf lächliche, mechanische Wissenschaft gerichtet seiner animistischen Kosmologie folgend eine Naturkunde, die in die Dinge eindringen und das Wirken Gottes erkennen will. In der Methode des Eindringens in die Dinge unterscheidet sich aber Bacon deutlich von einer Paracelsischen Sympathetik. Tiefes Eindringen heißt für ihn das Verknüpfen von Erkenntnissen zu einer zusammenhängenden, überschaubaren Kette. Diese neue Art der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit dürfte Johann Heinrich Locher angesprochen haben. Im Lichte seines Werdegangs erscheint offensichtlich, dass sein Denken der empirisch-induktiven Methode Francis Bacons verwandt ist. Er will sich eben nicht durch vorgeschriebene Glaubensformeln binden lassen. Er beobachtete als jugendlicher Ausreißer die Differenzen zwischen der katholischen und der reformierten Konfession und versuchte, beide gegeneinander abzuwägen. Er beobachtete in Venedig die großen Religionen und maß sie an seinen ethischen Kriterien. Er war ein Suchender und Abwägender, dem das Thessalonicher-Zitat »Prüfe alles, behalte das Beste« ein echtes methodisches Anliegen war. So kann ich mit Fug behaupten, dass Johann Heinrich Locher einen pragmatisch-empirischen Zugang zur Wirklichkeit hatte und sich nicht durch dogmatische Systeme leiten lassen wollte. Zwei weitere Bücher nichtreligiösen Inhalts aus Johann Heinrich Lochers Bibliothek sind hier zu erwähnen. Zwei Werke, die den Einf luss eines rationalistischen und vorurteilsfreien, humanistischen Renaissance-Denkens auf den Zürcher Pietisten illustrieren. Es handelt sich um zwei Schriften 552

Ders., Getreue Reden, Von der Gottesverlaugnerey, S. 116.

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von Erasmus von Rotterdam (1466–1536): Die Lucubrationes, 1536 und Von der Zung, 1544553. Letztere ist eine Schrift über »das Lob und den Nutzen des wenig Redens«. Erasmus formuliert darin die These, dass die Zunge der »Dolmetsch des Gemüths« sei. Diese Schrift des Erasmus war nicht die einzige in Lochers Besitz, die den Blick auf den Menschen und dessen Psyche schärfte. Johann Heinrich Locher war ganz offensichtlich neugierig auf weitere Möglichkeiten und Anwendungsbereiche des neuen wissenschaftlichen Ansatzes. Er beschäftigte sich auch mit Vorschlägen zu einer empirischen Psychologie. Er besaß die schmale Schrift von Christian Thomasius (1655– 1728), Das Verborgene des Hertzens anderer aus der täglichen Conversation zu erkennen, ca. 1692554. Die Schrift ist ein Memorandum an Friedrich III. von Brandenburg. Der Fürst wird durch Thomasius aufgefordert, die Freiheit der Wissenschaft zu fördern, und Thomasius schlägt ihm gleich ein neues Wissenschaftsgebiet vor. Worin besteht nun die Wissenschaft, das Verborgene des Herzens anderer Menschen zu erkennen, auch wider ihren Willen, aus der täglichen Konversation? Die Wissenschaft bestehe, so Thomasius, darin, aus Regeln, die in der menschlichen Natur gründen, anhand von Gesprächen die Hauptaffekte der Menschen zu ergründen. So könnten der verborgene Wille und die Absichten der Menschen erkannt werden. Es reiche oft, etwa eine Stunde lang während eines Gespräches auf die Mimik zu achten, um mehr über eine Person zu erfahren, als in langen Freundschaften. Dies sei eine Wissenschaft, durch welche man »das Innwendige und Heimliche eines Menschen nothwendig erforschen könte.« Diese Wissenschaft sei auch nützlich, und Thomasius nennt Richelieu als Beispiel. Dieser habe sich auf das vortreff lichste in jener Wissenschaft verstanden und sei immer über die Absichten seiner Untertanen im Bilde gewesen. Bisher werde aber diese Wissenschaft nicht an den Universitäten gelehrt, sie könne bloß am Hofe erlernt werden.555 553 Erasmus von Rotterdam, Von der Zung. | Des nimmer hoch gelob |tenen D. = Erasmi von Rotterdam/ vnd wirdt | darinn anzeigt/ was die Zung sei/ wie sie das best vnnd das | böst glied sei/ auch jren stand/ thün vnd lassen/ was je böß darauß | entstanden/ Auch was güts dauon kommen sei/ wider | alle Blapperer vnnd Schwetzer/ die Jrer | Zungen knecht seindt, Basel, 1544 [ZB Zürich Gal Ch 83]. 554 Thomasius, Dem Durchlauchtigsten/ Großmächtigsten | Fürsten und Herrn/ Herrn | Friderich | dem III. | Marggraffen zu Brandenburg/ | […] | Offeriert in Unterthängsten Gehorsamb die neue Erfindung | einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen | höchstnöthigen Wissenschafft/ | Das Verborgene des Hertzens anderer | Menschen auch wider ihren Willen/ aus der täglichen Conversation zuerkennen/ | Christian Thomas, Halle o. J. [HAB Wolfenbüttel M: Vb 4° 13]; Die Niederschrift ist auf Dez. 1691 datiert. Lieberwirth datiert den Druck auf 1692. Vgl.: Lieberwirth, Christian Thomasius, S. 30, Nr. 59. 555 Thomasius, Das Verborgene des Hertzens, S. 2r-3r.

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Bemerkenswert an diesem Vorschlag zur Einrichtung eines psychologischen Faches an der Universität ist der methodische Ansatz. Die Psychologie Thomasius’ gründet einerseits auf der Empirie und andererseits auf der paracelsischen Signaturenlehre, die entfernt an Lavaters Physiognomik erinnert: Zu beobachten sind äußerliche Zeichen, welche mittels Analogien auf die verborgenen Eigenschaften des Menschen, auf seine Seele und seinen Charakter schließen lassen. Auch im Wissenschaftsbegriff des Frühauf klärers und Naturrechtlers finden wir somit ein Nebeneinander von sogenannt exakten und okkulten Ansätzen. Eine weitere Schrift in Johann Heinrich Lochers Bibliothek belegt das Interesse des Zürcher Pietisten an der zeitgenössischen Psychologie: John Barclay (1582–1621), Spiegel Menschlicher Gemüths Neigung, 1660 556 . Mit seiner Schrift beabsichtige Barclay, schreibt der Übersetzer Hans Just Wynckelmann in der Dedication, dass jeder seine Gemütsneigung zum Guten oder Bösen erkenne. Die Tugendhaftigkeit beginne erst, wenn man den Spiegel seiner selbst betrachte.557 John Barclay, ein aus Schottland stammender Satiriker und Kritiker des Protestantismus entwirft ein psychologiegeleitetes Weltbild und beschreibt die Charaktere der unterschiedlichsten Völker, Stände und Berufsgruppen. Kern seiner Überlegung ist die Auffassung, dass Veränderungen in der Welt durch die Veränderung des Menschen geschähen. Dieser Gedanke ist geleitet von der Überzeugung von der Freiheit des Menschen. Barclay beschreibt das menschliche »Gemüth« als einen »Schatzkasten«, der unbeschreibbar sei. »Wie viele Hoheiten und Künsten; wie viele Spitzfindiger Anschläge hat die Natur in diesem inneren Kämmerlein des Hertzens nicht verstecket: Doch ist keine Verenderung in dem Menschen mehr Wunderkündiger: als daß er zur Freyheit ist geboren; Denn wie könnten sie sich sonsten regieren; oder das Lob suchen/ oder vor Schand und Straffe sich hüten/ und ihre Händel bös oder gut anstellen.« Diese Möglichkeit des Menschen zur Selbstbestimmung ist gemäß Barclay auch der Motor des gesellschaftlichen Wandels. Er merkt an, dass alle hundert Jahre die Menschen eine gewisse Neigung zu besonderen sittlichen Eigenschaften und Handlungen verspüren würden. Diesen Wandel erkenne man, so ist er überzeugt, in der Bildung und Wissenschaft, aber auch in der Staats- und Kriegsführung. Barclay entwirft ein Fortschrittsmodell, das auf der menschlichen Psyche basiert: »Es kommet dieses alles [= die Phänomene des Wandels] nicht aus dem Einf luß der Sternen/ sondern vielmehr aus der Menschen verenderlichen Unbeständigkeit/ deren ein gewisser Geist muß 556 J. Barclay, Spiegel | Menschlicher | Gemüths Nei |gungen | Auß dem Latinischen | = ins HochTeutsche | versetzt, Frankfurt/M. (Erhard Bergers in Bremen) 1660 [SB Berlin No 348]. 557 Ebd., Dedication (unpaginiert).

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vorstehen.«558 Diese auf der Wandelbarkeit der menschlichen Psyche basierende Theorie des gesellschaftlichen Wandels war natürlich Wasser auf die Mühle der Pietisten, die sich die reformatio mundi durch die ›Besserung‹ des Menschen erhofften. Beachtenswert ist schließlich noch die Pädagogik, die Barclay auf seinen psychologischen Grundsätzen auf baut. Er entwirft im ersten Kapitel ein Modell, das die Selbstbestimmung der Kinder fördern will, und er setzt dabei auf intrinsische Erziehungselemente. Äußere Gewalt als Mittel der Erziehung lehnt er hingegen als ungeeignet ab. Wie Johann Heinrich Locher auf das Büchlein aus der Feder von Thomasius aufmerksam wurde, berichtet Johann Kaspar Hardmeyer in seinem Tagebuch. Dieser weilte Anfang Mai 1696 anlässlich der Kirchensynode in Zürich. Bevor er am 1. Mai mit seinen Freunden Reutlinger und Ott in der Wasserkirche zu Tafel saß und über Meineid und Betrug bei den Wahlen zu den Zwölfern disputierte, besuchte er Locher. Dort lernte er Herrn Pasdorff aus Augsburg, einen lutherischen Geistlichen und Anhänger August Hermann Franckes, kennen, der soeben aus Bern ausgewiesen worden war. Sie sprachen – in Anlehnung an die Forderung nach einer zweiten Reformation – vom Mut der Reformatoren. Am 6. Mai schaute Hardmeyer erneut bei Locher vorbei. Am Mittagstisch kamen die drei wieder auf das Thema zurück. Der Lutheraner erzählte von den »Lutherischen unruhen, die dero Prediger gegen die sogenannten Pietisten erwekten«. Und in diesem Zusammenhang fiel das Gespräch auf Christian Thomasius, der Hofrat des Kurfürsten in Sachsen und Rechtsprofessor in Leipzig gewesen war. Er hatte »das Jus civile auf dem verböseten Stand des Menschen« begründet. Daher sei er von der Leipziger Professorenschaft verfolgt und bei Hofe durch seine Gegner verklagt worden. Er habe f liehen müssen und in Brandenburg eine neue Bleibe gefunden, wo er nun in Halle Recht lehre, berichtet der lutherische Pastor und schloss, Thomasius habe neulich ein Büchlein herausgegeben: »Des Menschen Art zu kennen«.559 Dieses Memorandum an Friedrich III. ist nun aber mehr als bloß ein Vorschlag zur Verbesserung der Menschenkenntnis. Es ist ein Credo für Toleranz und Wissenschaftsfreiheit. Dieses Credo war wohl der Grund, weshalb die Schrift des verfolgten Naturrechtlers und zeitweiligen Sympathisanten des Pietismus an Lochers Gastmahl erwähnt wurde. Der Traktat bestätigte und nährte Lochers Toleranzforderung. Es war Christian Thomasius durchaus bewusst, dass sich die Wissenschaften nur entwickeln können, wenn sie nicht durch konfessionelle 558

Ebd., S. 38 f. u. 45. ZB Zürich Ms. E 137, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, Band 2 (1696–1700), S. 57 u. 60, Eintrag vom 1. und 6. Mai 1696. 559

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Schranken und Dogmen eingeengt werden. Wissenschaftliche und religiöse Freiheit sind für ihn zwei Seiten derselben Medaille.560 Offenbar sah er im brandenburgischen Fürsten und seiner toleranten Politik gegenüber dem Pietismus den richtigen Adressaten für seine Forderung. Der Traktat Das Verborgene des Hertzens anderer aus der täglichen Conversation zu erkennen will ergründen, wieso in Holland, England und Frankreich die Wissenschaft in seinem Jahrhundert Fortschritte mache, in Deutschland dagegen stagniere. Es liege, nach Thomasius, nicht an der Freigiebigkeit und auch nicht am unterschiedlichen »Genio« der Nationen. Die Ursache müsse in einem dritten Grund gesucht werden: »Es ist die ungebundene Freyheit/ ja die Freyheit ist es/ die allen Geiste das rechte Leben giebt/ und ohne welche der Verstand/ […] gleichsamb todt und entseelet zu seyn scheinet.« Der Wille des Menschen möge, was die äußere Lebensführung betreffe, von der menschlichen Gesellschaft abhängig sein, aber der Verstand erkenne außer Gott keinen »Oberherrn«. Lege man ihm das Joch einer menschlichen Autorität auf, die ihm das Denken vorschreibe, so werde ihm der Verstand unerträglich oder aber, er werde zur Wissenschaft untauglich. Wer sich die von Gott verliehenen Freiheiten nicht nehmen lassen wolle, fährt Thomasius fort, der sei mit jenen beschäftigt, die ihn seiner Freiheit berauben wollten und habe schließlich keine Zeit mehr für die Wissenschaften. »Ist aber ein Verstand […] eines wiewohl harten Jochs gewohnet/ so wird er nicht alleine für sich nichts Verständiges und Wahrhafftiges erfinden/ sondern er verfolget auch andere freye Gemüther/ und hindert sie auff alle Mittel und Wege/ daß sie ihm gleich werden/ und sich ihrer unschätzbaren Freyheit nicht bedienen sollen.« Das treffe besonders für das arme Deutschland zu. Wo nun in Deutschland mit Intelligenz bestehende Irrtümer aufgedeckt und der verborgenen oder unterdrückten Wahrheit zum Durchbruch verholfen würden, da müsse leider mit der Verfolgung durch Gefängnis oder gar durch Feuer und Schwert gerechnet werden. In diesem Umfeld könne die Wissenschaft nicht gedeihen, schließt Thomasius sein Toleranzcredo.561 An dieser Schrift über die Glaubens- und Wissenschaftsfreiheit fanden die Zürcher Examinatoren keinen Gefallen. Das Memorandum an Friedrich III. wurde Locher nicht mehr zurückgegeben. Johann Heinrich Locher ist in diesem Kapitel etwas aus dem engeren Blickfeld verschwunden. Die Analyse der in seinem Besitz nachgewiesenen naturkundlichen Bücher ermöglicht dennoch folgende Erkenntnisse über seinen Denkhintergrund: Das Leitmotiv seiner Beschäftigung mit der Natur ist eine neuplatonische Grundhaltung, die in mathematisch-pytha560 Zur Frage des Verhältnisses zwischen den neuen Wissenschaften und der religiösen Toleranz vergleiche: Jacob, Alte und neue Wissenschaften und Weltdeutungen, S. 410 f. 561 Thomasius, Das Verborgene des Hertzens, S. 3v-5r.

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goräischer oder gnostisch-hermetischer wie auch stoischer Ausprägung auftreten konnte. Die mannigfaltigen Ausprägungen haben die Frontstellung gegenüber dem Aristotelismus gemein. Kern dieser Naturbetrachtung ist die animistische Vorstellung, dass Gott sich auf die ganze Natur erstrecke und als verborgenes und immaterielles Prinzip in ihr schöpferisch und bewegend wirke. Die Emanation Gottes erstreckt sich nicht bloß auf die Menschen, sie ist auf die ganze Natur ausgedehnt. So wie Gott als »Schatz im Acker« der menschlichen Innerlichkeit (Gemüt) verborgen ist und als das Prinzip zur inneren Umwandlung gilt, so ist in Entsprechung dazu Gott in seiner Ausdehnung auf den ganzen Kosmos auch hier das unsichtbare Moment der Veränderung. Die providentielle Theologie, die Vorstellung vom ständigen Wirken Gottes in der Welt, leitet nahtlos über in eine animistisch und pantheistisch gefärbte Naturmystik. Der Wille der anthropologischen Mystik, Gott im Selbst zu suchen und zu erfahren, findet seinen Außenbezug in der Erkenntnis (der Omnipräsenz) Gottes in der Natur. Wiedergeburt und Erkenntnisauftrag sind miteinander gekoppelt. Und der Gegensatz zwischen Gut und Böse oder Seele und Leib wird auf die Außenwelt als Gegensatz zwischen Geist (natura naturans) und Materie (natura naturata) übertragen. Der neue, naturmystische Blick auf die Welt setzt sich wie der mystische Spiritualismus in Opposition zum aristotelisch-ptolemäischen Weltsystem. Die Forderung nach religiöser Toleranz wird folgerichtig mit der Forderung nach Wissenschaftsfreiheit erweitert. Die Gegnerschaft zur hergebrachten Naturauffassung ermöglichte es Locher, verschiedene alternative Konzeptionen zu rezipieren, anscheinend ohne das Konglomerat aus Galilei, Alchemie und Wunderbüchern als großen Widerspruch zu empfinden. (Erst für später Geborene, nachdem sich eine Strömung der oppositionellen Konzepte der Naturbetrachtung als neues Wissenschaftsparadigma durchgesetzt hat, erscheint das Konglomerat als miteinander unvereinbar.562) Zudem gibt es innerhalb dieses Konglomerates auch Gemeinsamkeiten, wie beispielsweise die gemeinsame Wurzel im Renaissance-Platonismus oder die Betonung der Empirie in Abgrenzung zum reinen Bücherwissen. Zu beachten gilt es zudem, dass Naturwissenschaft bei Paracelsus, Valentinus Basilius, Fioravanti oder Andreae teleologisch verstanden wurde: Wissenschaft soll dem Menschen dienen und die Welt verbessern helfen. Das Verständnis von Wissenschaft als Mittel zum Perfektionieren der Welt enthält Keime eines Fortschrittsdenkens. Dieser wissenschaftliche Fortschritt wurde chiliastisch gedeutet. Die im 17. Jahrhundert einsetzende wissenschaftliche Revolution wurde beispielsweise in der Rosenkreuzerbewegung so gelesen, dass Gott nun, am Ende der Zeit, den Frommen seine Geheimnisse der Natur offenbare. Die theo562

T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 28 ff.

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sophische Naturfrömmigkeit bleibt damit nicht mehr auf die Vorstellung beschränkt, dass Gott sich in der Natur zu erkennen gebe. Ihre Naturerkenntnis selbst ist an einen Fortschrittsgedanken geknüpft: Gott gebe sich sukzessive den frommen Menschen in der Natur zu erkennen, bis er sich am Ende der Zeit vollkommen offenbare. Das Naturverständnis Lochers – gemessen an seiner Büchersammlung – ist aber nicht einseitig auf einen modernen Wissenschaftsbegriff ausgerichtet. Es ist vielmehr, wie so vieles im Pietismus, widersprüchlich und schwankt zwischen einem magischen, okkulten und einem mathematischexakten Wissenschaftsbegriff hin und her. Das wirft die Frage nach dem allgemeinen Verhältnis des Pietismus zur modernen Wissenschaft auf. Es wird gerne bemerkt, dass nur wenige bekennende Pietisten mit eigenen Forschungsleistungen zum wissenschaftlichen Fortschritt beitrugen.563 Zu bedenken ist hingegen, dass der wissenschaftliche Fortschritt erst möglich ist, wenn die neuen Erkenntnisse auch aufgenommen werden und wenn sie sich als neue Sichtweise der Wirklichkeit in der Gesellschaft durchsetzen können. So gesehen braucht es nicht bloß direkte Forschungsleistungen, sondern auch eine gebildete Gesellschaftsschicht wissenschaftlicher Laien, die sich wie die neue Wissenschaft in Opposition zur herrschenden Weltanschauung befindet, und die die neuen Erkenntnisse aufnimmt, weiterträgt und diesen zum Durchbruch verhilft. Eine solche Betrachtungsweise ließe Raum für die Vermutung, dass wissenschaftliche Invention nicht an eine bestimmte Gruppe gebunden sein muss, die wissenschaftliche Innovation hingegen durch eine tragende Gesellschaftsschicht vollbracht wird.564

2.5 »Wachet! der Bräutigam ist vor der Thür«: Endzeiterwartungen Zwischen Mystik und Naturerkenntnis besteht – nicht bloß in der rekonstruierbaren Gedankenwelt Lochers – eine Verbindungslinie. Noch zu einem weiteren Phänomen kann eine Linie gezogen werden, zur Eschatologie. Die Alchemie der hermetischen Tradition und ihr Konzept der Erneuerung von Mensch und Natur entfaltete ihre Attraktivität besonders für Menschen, die auf eine reformatio mundi, auf die Erneuerung der Wissen563

Beispielsweise Toellner, Medizin und Pharmazie, S. 343. Pierre Bayle richtete seine zwischen 1684 und 1687 erschienene Zeitschrift Neuigkeiten der Gelehrtenrepublik auf eine gebildete Öffentlichkeit aus. Das Zielpublikum seiner Berichte über naturwissenschaftliche, philosophische und historische Entwicklungen waren »ganz allgemein tausend Personen, die lesen und Geist besitzen, ohne Gelehrte zu sein«. Zitiert nach: von Treskow, Der Zorn des Andersdenkenden, S. 6. 564

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»Wachet! der Bräutigam ist vor der Thür«: Endzeiterwartungen

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schaften und Künste sowie auf eine Reform der Kirche und der weltlichen Herrschaft, drängten. Die in der Natur nach Gotteserkenntnis Suchenden verbanden ihre tiefe Religiosität mit dem Streben nach geistigem Wandel. Sie hofften auf eine grundsätzliche gesellschaftliche Erneuerung, ja auf eine Weltumwandlung. Am konsequentesten konnten sie dies im spiritualistischen Chiliasmus einlösen:565 Wir brauchen uns bloß die Denkweise Paracelsus, die im Rosenkreuzer-Mythos verlängert wird, in Erinnerung zu rufen: Nämlich die Erkenntnis der Dinge in der letzten Zeit. Die Vorstellung, dass Gott den Auserwählten am Ende der Welt seine Geheimnisse offenbare und dass er dann in der Natur erkannt werden könne. Endzeitliches Denken, mystischer Spiritualismus und Naturerkenntnis werden hier in einen systematischen Zusammenhang gebracht.566 Klammer für diese drei Denkfiguren bilden laut Siegfried Wollgast die unterschiedlichen Spielarten pantheistischer Denkansätze bei Mystikern und Spiritualisten.567 Es ist die Verklammerung des Wirkens und der Anwesenheit Gottes in der frommen, wiedergeborenen Seele wie auch in der Natur. Daraus folgt der Auftrag, Gott nicht nur in sich, sondern auch außer sich, in der Natur, zu suchen. Die Mystik wird in diesem pantheistischen und anthropozentrischen Ansatz zu einer tätigen und weltgestaltenden Mystik.568 Das scheint nicht unwichtig, denn die Mystik wird wegen ihrer Tendenz zur Verinnerlichung oft auch als »ein lebendiger Gegenpol« zum eschatologischen Denken begriffen, welcher die Reichserwartung nach innen verlege und das erwartete Gottesreich vergeistige und als Seelenzustand vorwegnehme.569 Das mag auf die deutsche Mystik des Mittelalters zutreffen. Und es mag auf Hiel 570 zutreffen, einen unter dem biblischen Pseudonym schreiben565 Vgl.: Dohm, ›Götter der Erden, S. 189–204; Trepp, Religion, Magie und Naturphilosophie, S. 485. 566 Zur gegenseitigen Verweisung des wissenschaftlichen und eschatologischen Denkens bei Paracelsus vgl.: Webster, From Paracelsus to Newton, Kap 2. 567 Wollgast, Chiliasmus und soziale Utopie im Paracelsismus, S. 122. 568 Der durch Wollgast geprägte Begriff »Pantheistische Mystik« und der Begriff der »Anthropozentrischen Mystik«, wie ihn Kolakowski definiert, können als Spielarten einer »falschen« Mystik (Kolakowski) betrachtet werden. Der eine Begriff definiert sich bezüglich der Naturbetrachtung und der andere bezüglich der Selbstbetrachtung. 569 Konrad, Chiliasmus III (Mittelalter), S. 736. Auch Klaus vom Orde meint zu Antoinette Bourignon, sie zeige »zwar Anklänge an die Mystik, [lasse] aber Motive des Chiliasmus erkennen, die sich nicht mit mystischer Frömmigkeit verbinden lassen.« vom Orde, Antoinette Bourignon in der Beurteilung Philipp Jakob Speners und ihre Rezeption in der pietistischen Tradition, S. 60. Dem ist entgegen zu halten, dass der Begriff einer »falschen«, egozentrischen Mystik, wie ihn Kolakowski zu Bourignon entwickelte, diesen vermeintlich scharfen Gegensatz zwischen Mystik und Chiliasmus aufzulösen vermag. Ernestine van der Wall prägt im Bezug auf Pierre Serrurier den Begriff »Mystical millenarianism«: van der Wall, Mystical Millenarianism in the Early Modern Dutch Republic, S. 40. 570 Biographie von Hiel [ Heinrich Jansen] in: Reitz, Historie Der Wiedergebohrnen, = Teil II, 23.

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den, niederländischen Mystiker, der um 1550 lebte, und dessen Schriften Johann Heinrich Locher besaß. Hiels Werke wurden 1687 auf Deutsch übersetzt und erschienen ohne Ortsangabe, vermutlich aber in Amsterdam in acht Einzelausgaben. Die Erklärung Der Offenbarung Johannis571 ist eine assoziative und allegorische Auslegung des Apokalypse-Stoffs im Sinne der Wiedergeburtsvorstellung. Hiel liest den Offenbarungstext mit dem ›geistigen Auge‹. Er entwickelt eine individuelle, verinnerlichte Eschatologie. Die Schlüsselbilder – wie die sieben Siegel und die sieben Posaunen – werden als Etappen auf dem soteriologischen Weg zur Wiedergeburt gedeutet. Sie sind Symbole des Sieges des himmlischen Menschen über den irdischen. Das letzte Siegel steht für den Durchbruch des inneren Menschen: die Sünden, die dem Tod gleich das Leben des göttlichen Wesens versiegelten, werden überwunden. Das Siegel zum Empfang der Erkenntnis Gottes ist nun aufgebrochen. Dementsprechend wird das erwartete Gottesreich, der neue Himmel und die neue Erde des 21. Kapitels der Offenbarung, innerlich und geistig gedeutet als ein neues, wiedergeborenes Leben, vereinigt mit dem himmlischen Wesen.572 Die Offenbarung wird bei Hiel gerade nicht zeitlich gedeutet. Sie ist eine momentane individuelle Auseinandersetzung mit dem mystischen Antagonismus zwischen dem irdischen und dem himmlischen Wesen. Die Offenbarung wird als Triumph Gottes über das Irdische ausgelegt. Hiels individuelle Eschatologie ist die Wiedergeburt, der Weg zu Gott im diesseitigen Leben. Die Offenbarung wird letztlich in das verinnerlichte mystische Programm integriert. Ähnlich interpretiert auch Sebastian Franck, Hiels Zeitgenosse, die Reich-Christi Idee: »Godes rijcke hier in deser tijt en is niet anders dan dat regiment Godes door Christum in onsen geist ende herte/ tot den welcken de Geest Godes getuygenisse geest/ dat wy kinderen Godes zijn«.573 Die Verinnerlichung eschatologischer Heilsvorstellungen bildet weiterhin ein Merkmal der protestantischen Mystiker und Spiritualisten. Doch die »protestantische Opposition« (Wollgast), bleibt nicht bei einem introvertierten Gottesreich stehen. Ihr Begriff der Eschatologie ist zugleich zeitlich und extrovertiert. Er wird geschichtlich und auf die Welt bezogen, verstanden. Eschatologie und Chiliasmus entwickeln sich zum Medium der sozialen, religiösen und politischen Kritik und zur Hoffnung auf eine kommende, bessere Welt.

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Hiel (Barrefelt, Hendrik Jansz), Erklärung | Der | Offenbarung Johannis | Aus dem Visionischen Gesichte/ in das | wahre Wesen | Jesu Christi, | Alles durch | Hiel, | Das einwesige Leben Gottes. | Anfänglich in Nieder=Teutsch ge=|druckt/ nun aber seiner unschätzbaren | Vortreff lichkeit halber/ ins Hoch=Teut=|sche übergesetzt und zum druck | befördert, o. O. [Amsterdam?] 1687. [HAB Wolfenbüttel Ts 413 (1)]. 572 Ebd., S. 47 f. u. 101. 573 Franck, Van het Rycke christi, S. 1.

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Der protestantische Chiliasmus ist bis heute erst durch Pilotstudien in Ansätzen erforscht.574 Das mag auch damit zusammenhängen, dass innerhalb des Protestantismus chiliastische Strömungen eine Außenseiterrolle spielten. Chiliasmus wurde schnell als Täufertum verurteilt, ihm haftete der Ruch der Heterodoxie und der politischen Aufwiegelung an. Auch die zweite Helvetische Konfession von 1566 verurteilte im 26. Artikel die Vorstellung einer tausendjährigen Herrschaft Christi auf Erden. Die protestantische Orthodoxie trennte scharf zwischen einer gesunden Eschatologie und dem gefährlichen und aufrührerischen Chiliasmus. Diese Trennung hielt auch die Kirchengeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts mit ihrer Begriff lichkeit bei. Hartmut Lehmann hat in Bezug auf Matthäus Meyfarts Buch vom Jüngsten Gericht aufgezeigt, dass eine strenge begriff liche Trennung zwischen Apokalyptik, Eschatologie und Chiliasmus dem Phänomen der Endzeiterwartung nicht gerecht werden kann. Er postuliert eine andere Einteilung: »die Einteilung nämlich in die Gruppe jener, die an die nahe Wiederkunft Christi glauben, diese gar berechnen und mit genauer Beweisführung zu belegen versuchen, und in die Gruppe jener, die sich an dieser präsentistischen Aktualisierung der biblischen Heilsbotschaft nicht beteiligen«. Die entscheidende Frage sei nicht, ob jemand ans Millennium glaube oder nicht, sondern ob die Wiederkunft unmittelbar bevorstehe.575 Bei der Durchsicht der Literatur über die »letzten Dinge« und das »Ende der Zeit«, mit der sich Johann Heinrich Locher auseinandersetzte, kam auch ich zum Schluss, dass eschatologische Vorstellungen nahtlos mit apokalyptischen Ängsten und chiliastischen Hoffnungen verbunden sein können. Eine Orientierung an den hergebrachten Begriffen scheint mir dagegen wenig hilfreich, weil sonst das Generalthema dieser Literaturgattung methodisch verschüttet worden wäre, nämlich die Naherwartung des Endes der Welt und der Wiederkunft des Erlösers. Die mystische Literaturgruppe, mit der sich Johann Heinrich Locher intensiv auseinandersetzte, wird entwicklungsgeschichtlich etwa ab dem Zeitpunkt der Integration paracelsischer Elemente mit endzeitlichen und chiliastischen Momenten durchzogen. Die Hoffnung auf bessere Zeiten ist bereits bei etlichen mystischen und spiritualistischen Autoren hervor getreten als zukunftsfroher Antagonismus zu einer in ihrer Realitätswahrnehmung verdorbenen und unchristlichen Gegenwart. Zu erinnern ist hier beispielsweise an Jakob Böhme oder Johann Valentin Andreae. Weil die 574

Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus, Kap. III. 3; Brecht, Chiliasmus in Württemberg im 17. Jahrhundert. Einen Überblick über die Literatur gibt: Wollgast, Chiliasmus und soziale Utopie im Paracelsismus, S. 111–139; Narbuntowicz, Reformorthodoxie, spiritualistische, chiliastische und utopische Entwürfe; Schneider, Die unerfüllte Zukunft, S. 187–212. 575 Lehmann, Die Deutung der Endzeichen in Johann Matthäus Meyfarts Buch vom Jüngsten Gericht, S. 24.

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Ausbildung endzeitlicher und oft chiliastischer Hoffnungen in der mystisch-spiritualistischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts ihren Ausgangspunkt vielfach bei Paracelsus ansetzte, möchte ich kurz auf diese facettenreiche Grundlage eingehen. Bei Paracelsus finden wir eine Vielzahl von Elementen, die in der nachfolgenden Literatur immer wieder auftauchen. Kurt Goldammer, einer der profundesten Paracelsus-Kenner, hat in einem umfangreichen Aufsatz das eschatologische Denken Paracelsus herausgearbeitet:576 Der Jüngste Tag ist für Paracelsus die Vollendung der Welt nach einem festgesetzten und sinnvollen Ablauf. Das Ende der Welt kommt, »so der jüngst tag kompt«; »als dann ist die stunt aus des laufs der ersten welt.« Doch das Weltende ist bei Paracelsus verbunden mit seiner eschatologischen Hoffnung auf eine andere Welt: »so ist es alles nichts dann ein jamertal, aus dem wir müessen in ein andere welt, da nichts wird sein als freud und lust in ewigkeit.« In dieser »anderen welt« herrschen paradiesische Zustände und es werde keinen Tod mehr geben.577 Zur Fernerwartung des Jüngsten Tages tritt in der Paracelsischen Eschatologie der urchristliche, aus der Apokalypse gespeiste Glaube an eine Naherwartung. Es ist die Hoffnung auf einen irgendwann – vielleicht schon bald – eintretenden besseren Zustand, die Hoffnung auf eine hereinbrechende Neuordnung der Welt. Es ist nach Goldammer »die Erwartung eines baldigen großen Umbruchs, einer kosmischen und geschichtlichen Katastrophe, die ein neues Weltzeitalter, bzw. eine neue Welt mit völlig veränderten Verhältnissen heraufführt; und die Vorstellung von einer (…) in absehbarer Zeit oder nicht allzu ferner Zukunft eintretenden organischen Umgestaltung der gegenwärtigen Verhältnisse, von einer Hineinentwicklung des Menschen in ein Gottes- oder Endreich auf Erden, das gleichsam die Verlängerung der letzten Phase der Weltgeschichte ist, irgendwie noch zu ihr gehört, aber doch nicht ganz.« 578 Diese postmillennaristische Naherwartung wird in der Paracelsischen Vorstellung angekündigt durch die Zeichen des Himmels. Die Botschaften der Himmelskörper reden von der unmittelbar bevorstehenden Katastrophe. So interpretierte Paracelsus beispielsweise den am 12. August 1531 in der Nähe von St. Gallen beobachteten (später nach Halley benannten) Kometen, als ein »zeichen der zit«. Es sind für ihn besondere Zeichen in Notzeiten.579 Die Himmelszeichen kündeten davon, dass Christus 576

Goldammer, Paracelsische Eschatologie, S. 87–152. Paracelsus, Sämtliche Werke, I/3 (Die beiden Bücher Der renovatione et restauratione und vom langen Leben, S. 201–246), S. 233. 578 Goldammer, Paracelsische Eschatologie, S. 125. 579 Paracelsus, Sämtliche Werke, I, 9 (Uslegung des Kometen und Virgultae 1532, S. 414–420), S. 414 u. 418. 577

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bald kommen werde, schnell und unerwartet, wie der Strahl eines Blitzes. Darum gelte es stets, auf der Hut zu sein.580 Man lebe im letzten Stadium der Welt, ist Paracelsus überzeugt. Kurt Goldammer bezeichnet das Denken Paracelsus als absolut gegenwartsbezogen: »Es ist so gegenwärtig, dass es auch die eschatologische Zukunft mit in die Gegenwart einbezieht.« Die Fernerwartung des Jüngsten Tages wird so aktualisiert. Paracelsus glaubt, dass die Welt alt geworden sei und dass man jetzt im letzten Stadium lebe. Der Glaube an die »letzten Dinge« erhält eine unmittelbare Aktualität: Eine hereinbrechende kosmische Katastrophe, die Umgestaltung sämtlicher Verhältnisse und das Anbrechen einer neuen Welt wird ernsthaft in Betracht gezogen.581 Die Welt des Paracelsus entwickelt sich auf ein teleologisches Ziel hin, auf die Vervollkommnung. Er bedient sich der Figur des »annus Platonis«. Es ist das Weltenjahr, »das sich endet mit sonne und mond und mit der zergehung aller elementen«.582 Der »zergehung aller elemente« folgt als letzte Entwicklungsstufe »ein ander welt«. Es handelt sich um die Welt der Ewigkeit. Die neue, ganz andere Welt »ist ein tochter dieser [gegenwärtigen Welt] dem namen nach, aber nicht der form, der essenz und dergleichen. dan die selbige wird nicht hingen, sonder wie die sol bleiben.«583 Für Paracelsus ist gewiss, dass das Gottesreich nahe und im Anbrechen begriffen ist. Doch dies ist noch nicht die kosmische Umwälzung selbst, noch nicht der Jüngste Tag und die neue Welt. Er entwickelt als Bindeglied zwischen seiner Naherwartung – der Hoffnung auf eine bessere Zeit – und der Fernerwartung die Lehre vom Zwischenzustand. »Es ist vielmehr offenbar zunächst mit einem vorläufigen irdischen Endzustand zu rechnen, in den ein glatter Übergang, keine kosmische Katastrophe, hineinführt. Es handelt sich um den eschatologischen Zustand der neuen Gemeinde, einer erneuerten Christenheit, der vor dem Weltende steht.«584 Der bald schon eintretende Endzustand besteht für Paracelsus in der Überwindung der bösen Mächte, er ist noch Teil dieser Welt und betrifft somit die Lebenden. Paracelsus vertritt die Auffassung, dass ein Teil der eschatologischen Hoffnung sich bald und noch in dieser Welt verwirklichen werde. Die Sehnsucht nach einem vorläufigen Endzustand hat zudem einen bedeutenden politischen Aspekt, denn sie betrifft die Frage der Gesellschaftsord580 Ders., Sämtliche Werke, I, 13 (Liber meteorum, 125–208), S. 191; ders., Sämtliche Werke I, 8 (De Eclipsi Solis, 225–231), S. 252. 581 Goldammer, Paracelsische Eschatologie, S. 125 f. 582 Paracelsus, Sämtliche Werke, I, 1 (Elf Tractat vom Ursprung, Ursachen, Zeichen und Kur einzelner Krankheiten, S. 1–162), S. 68. 583 Ders., Sämtliche Werke, I, 13 (Philosophia de generationibus et fructibus, 5–125), S. 9. 584 Goldammer, Paracelsische Eschatologie, S. 128.

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nung und ihrer Umgestaltung zum Besseren. So meint er beispielsweise zur Kirchenspaltung, es »wird in der religion und in der kirchen kein vereinigung und frid werden, bis zu der guldinen und letzten zeit, aber hernach wird der tag des herrn nicht weit sein.«585 Die Utopie der goldenen Welt ist dann Wirklichkeit, wenn die Menschen ihr verdorbenes Wesen aufgeben: »als dan ist die güldin welt, das ist als dan wird der mensch in sein rechten verstant komen und menschlich leben, nicht vihisch, nicht seuisch, nicht in der spelunken.«586 In der ›letzten Zeit‹ wird der Mensch vollkommen sein. Paracelsus war seinen Zeitgenossen hauptsächlich durch seine prophetischen und astronomischen Traktate bekannt. Mit wenigen Ausnahmen waren es diese Werke, die zu seiner Lebzeit verlegt und nachgedruckt wurden.587 Es ist daher nicht erstaunlich, dass bei Autoren wie Weigel, Andreae oder auch Böhme, die sich auf Paracelsus stützten, Denkmomente anzutreffen sind, die große Verwandtschaft mit der Paracelsischen Eschatologie aufweisen.588 Zu erinnern ist hier beispielsweise an die Vorstellung Andreaes, dass man in der »letzten Zeit« lebe und eine Generalreformation der Welt verbunden mit der Offenbarung der letzten Geheimnisse Gottes bevorstehe, wovon heute bereits der Zuwachs wissenschaftlicher Erkenntnisse zeuge. Oder an Jakob Böhme, der ein goldenes Zeitalter anbrechen sah. Eine ›neue Reformation‹, welche die sündlose und paradiesische Welt vor dem Sündenfall sowie eine urchristliche Kirche wieder herstellen werde. Eine Überzeugung, die sich auch im Titel seines Erstlings spiegelt: Aurora oder die Morgenröte im Aufgang. In der prophetischen Literatur aus der Bibliothek Johann Heinrich Lochers begegnet uns eine Vielzahl derartiger und ähnlicher Elemente. Zum einen die Überzeugung, dass die Menschheit in der »letzten Zeit« lebe und dass die Welt auf ihre Vollendung hin tendiere. Es ist weiter die Rede von den »Zeichen der Zeit«, die von einer Bestrafung der unchristlichen Welt und vom baldigen Anbrechen besserer Zeiten künden. Schließlich wird ein goldenes Zeitalter verheißen, oft in millennaristischer Form der Herrschaft Christi auf Erden und manchmal zudem mit dem sogenannten Platonischen Weltenjahr verknüpft.

585 586 587 588

Paracelsus, Sämtliche Werke, I, 13 (Liber de imaginibus, 359–386), S. 373. Ders., Sämtliche Werke, I, 2 (Von den natürlichen Dingen, 59–176), S. 97. Webster, From Paracelsus to Newton, S. 26 f. Vgl.: Wollgast, Chiliasmus und soziale Utopie im Paracelsismus, S. 124.

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2.5.1 Die Zeichen der Zeit, das Strafgericht Gottes und apokalyptische Visionen Der eschatologische Blick der Naherwartung braucht sich nicht direkt auf das kommende Ende und das Reich Christi zu richten. In seiner apokalyptischen Ausprägung fokussiert er das bevorstehende Gericht Gottes, in dem die Sünder vernichtet werden. Dagegen tritt oft die millennaristische Hoffnung in den Hintergrund oder es wird nach der Vernichtung der Sünder ein allmählicher Übergang in die Herrschaft Christi, an der auch die verschonten Frommen teilhaben werden, ersehnt.589 Die Protagonisten solcher Apokalyptik sehen sich selbst als einen Teil des endzeitlichen Geschehens. Sie sind selbst aktiver Teil der anbrechenden Veränderung in dieser »letzten Zeit«. Sie sind Warner und Propheten. Sie rufen auf zur Buße, damit ihre Anhänger und die wahren Gläubigen vom Gericht verschont bleiben. Ein Vertreter des apokalyptischen Denkens ist Christian Hoburg, dem – wie gezeigt – Johann Heinrich Locher große Aufmerksamkeit schenkte. Dieser sah nun nicht in außergewöhnlichen Himmelserscheinungen die Prodigien des Strafgerichts, sondern hielt die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges bereits für den ersten Vorgeschmack auf den Zorn Gottes. Hoburg war der Überzeugung, er lebe in der »letzten Zeit«. Die Überzeugung, im Endstadium der Welt angelangt zu sein, speist sich aus dem Glauben, die Welt sei auf ihrem moralischen Tiefpunkt angelangt, sie sei gottlos und durch und durch bösartig. Er gelangte zur Ansicht, es herrsche eine unchristliche, ja antichristliche Lebensweise in allen Ständen und Orten. Weder im Herzen und in der Gesinnung noch im Lebenswandel seien die Menschen mit Gott.590 In seiner Antikriegsschrift Vaterlands Praeser vativ tritt Christian Hoburg als Warner vor dem drohenden Strafgericht auf und mahnt zur Umkehr. Er wolle – so sein Vorwort – alle Patrioten im deutschen Vaterlande »aus dem Schlaff der unbußfertigen Sicherheit« aufwecken. Die Mitmenschen müssten die Zeit erkennen, in der sie jetzt leben. Hoburg definiert sich eine aktive Rolle in diesem drohenden endzeitlichen Drama: Sein Seufzer zu Gott sei – in Anlehnung an den Propheten Daniel – eine Beichte und eine Klage über den Zustand der Gesellschaft. Er vergleicht seine fromme Aufgabe mit jener des biblischen Endzeitpropheten. Drohend weissagt er, wenn die Zeit der Heimsuchung Gottes nicht erkannt werde, so ergehe es Deutschland wie einst Jerusalem. Er habe diese Schrift aufgesetzt, schreibt Hoburg, damit die Deutschen erkennen, was zum Frieden mit Gott notwendig sei. Sein Ziel ist es, aufzuzeigen, wie sie Gottes Zorn beruhigen 589 590

Seebass, Apokalyptik/Apokalypse IV (Reformation und Neuzeit), S. 281. Hoburg, Vaterlands Praeservatif, S. 23 f.

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könnten. Es gebe nur einen rettenden Weg, die Busse und moralische Besserung. Seine sündigen Landsleute sollten »das grosse Zornfeuer mit heissen Bußthränen außlöschen«. Er will aufzeigen, wie der Zorn Gottes »in dieser Zeit/ bey dem Einbruch der schweren Urtheil Gottes« im letzten Moment noch abgewendet werden könne.591 Weil Hoburg überzeugt ist, dass die Ungläubigen und Sünder demnächst vernichtet und einzig die Frommen in einer besseren Welt übrig bleiben werden, ruft er im zweiten Teil des Traktates alle auf, ihr Leben zu bessern. Er entwickelt ein Programm, wie eine »Reform nach dem Wort und Wille Gottes« erreicht werden könne. Hoburgs Publikationen sind zu einem bedeutenden Teil dem Ringen um eine bessere Welt gewidmet. Dazu gehören beispielsweise seine prophetischen Warnungen, die Kirchen- und Obrigkeitskritik sowie pädagogische Vorschläge. Zwei apokalyptische Visionen beschäftigten Johann Heinrich Locher. Beide Traktate mussten sich gemessen an den mehrfachen Auf lagen in der Mitte des 17. Jahrhunderts einer beachtlichen Popularität erfreut haben. Keinen Gefallen daran fand die Zürcher Kirchenbehörde: Beide Schriftstücke wurden für schädlich befunden. Die erste ist die göttliche Vision eines Bauern, Göttliche Offenbahrungen Hermans von der Hude/ eines frommen Baueren im Lande Lüneburg, die 1633 erstmals erschien. Locher besaß eine erweiterte Neuauf lage von 1665.592 Die erste Offenbarung widerfuhr Hermann von der Hude (1580–1660) mitten im Dreißigjährigen Krieg, am 7. März 1633. Er befand sich gerade auf dem Weg nach Hause. Ein Engel am Wegrand sprach ihn an: Gott werde die Welt strafen, weil zu viel Bosheit in ihr sei, und die Bosheit noch weiter zunehmen werde. Deswegen würden auch Gottes Zorn und Strafe zunehmen. Die Menschen würden nur einen »außwendigen, scheinheiligen« Lebenswandel pf legen, aber »innwendig« seien sie dem Bösen zugeneigt. Gottes Barmherzigkeit sei zwar groß, er werde aber einzig den Bußfertigen verzeihen, die Anderen hingegen schrecklich bestrafen. Dann hörte Hermann von der Hude Gott zu sich sprechen, der ihm befahl, seine Offenbarung dem Bürgermeister von Hamburg zu überbringen. Denn bisher habe Gott Hamburg aus reiner Gnade (vor den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges) verschont.593 591

Ebd., (Vorrede), S. 6–13. von der Hude, Göttliche Offenbahrungen | Hermans von der Hude/ | eines frommen Baueren im Lande Lüneburg. | So ihme durch zwei Englische Erschei=|nungen (25. Jahre nacheinander/ nemlich | von 1633 biß ins 1658. Jahr) | widerfahren. || Jetzo zusammen geleset/ und dem Teut=|schen Lande zur überf lüßigen Warnung/ und | gleichsam letzten Zeugnüß/ ans | Liecht gegeben. || In dem Wunderzeichen/ Krieg und Kriegsgeschrey/ | auch von allenthalben her verwirrens/ | Schrecken und Jammern/ vollen | Jahre, o. O. 1665 [Uu LB Halle AB 38 10 i, 12]. 593 Ebd., S. 27 ff. 592

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In der ersten Vision wurde Hermann von der Hude das nahe Ende verkündet. Der Krieg sei ein erstes Gericht über die böse Welt, bloß die wahren Christen würden verschont werden. Und der Beschauer Gottes wird beauftragt, dieses Wissen in die Welt zu tragen. Der ungenannte Verfasser der Einleitung zu den Visionen ist denn auch überzeugt, dass Gott Hermann von der Hude als Propheten auserwählt habe, damit er zur Umkehr aufrufe, ähnlich wie einst Hosea oder Habakuk dem jüdischen Volk weissagten: »Also ist auch unter den Neuen Propheten/ welche GOtt zu unserer Zeit/ die Welt zu warnen/ erwecket/ dieser Herman von der Hude ein rechter Teutscher Prophet zu nennen.« Er habe mitten im Krieg, mitten in Hunger, Pest und Teuerung prophezeit, dass noch schlimmere Strafen Gottes kommen werden, wenn sich die Menschheit nicht bessere und Busse tue. Selbst der Westfälische Frieden konnte Hermann von der Hude nicht versöhnlich stimmen. Er war überzeugt: »Kein Friedmachen werde helffen, weil die Menschen keine Busse thun«.594 Hermann von der Hude sei ein einfacher Bauer gewesen, berichtet die Einleitung. Er sei in jungen Jahren zum Waisen geworden. Zeit seiner Jugend sei er sehr gottesfürchtig gewesen, was ihm viel Spott und Schimpf eingebracht habe. Mit fünfzig Jahren habe er eine Witwe geheiratet und auf seinem Bauernhof bei Woltern im Gebiet des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg dreißig Jahre lang »Christlich gelebt/ und sich ehrlich mit seiner Arbeit und Ackerbau/ im Schweiß seines Angesichts/ mit seinem Weib genehrt«. Da er selbst nicht schreiben konnte, diktierte er seine Offenbarungen einem Schreiber. Nicht alle waren von der göttlichen Herkunft der Offenbarungen überzeugt. Die Hamburger Geistlichkeit meinte etwa, es seien ihm bloß böse Geister erschienen. Die Lebensbeschreibung zielt deshalb darauf ab, den prophetischen Gehalt der Visionen zu untermauern; sie baut auf dem Topos auf, dass Gott sich einfache und ungebildete Menschen, die für ihre Frömmigkeit verlacht und verspottet werden, als sein Sprachrohr und Medium aussuche. Im Laufe der Jahre hatte Hermann von der Hude eine Reihe weiterer Visionen und seine Ankündigung des Strafgerichts verschmilzt mit chiliastischen, quintomonarchistischen Erwartungen. So unterstreicht er seine Engelsvision vom schrecklichen Ende der Welt mit der Aussage, Gott werde den Papst stürzen und verbrennen. Auch die zweite apokalyptische Schrift handelt von spiritualistischen Visionen über das drohende Gericht. Es sind die Offenbarungen Gottes, die dem Tuchmacher Hans Engelbrecht (1599–1642) 595 widerfuhren. Auch er legte Zeugnis von diesem ›Wunder‹ ab: Eine Warhafftige Geschicht und 594 595

Ebd., S. 24. Biographie von Hans Engelbrecht in: Reitz, Historie Der Wiedergebohrnen, Teil II,

11.

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Gesicht vom Himmel und der Hellen, 1625. Locher verfügte über eine Ausgabe dieses Werks von 1686.596 Die »Vorrede an den Christlichen Leser«, seit der Ausgabe von 1640 ein integraler Bestandteil des Berichtes über die Vision, bedient sich ebenfalls des Topos, dass Gott sich schlichten und ungebildeten Menschen offenbare, und unterstreicht damit die Authentizität der göttlichen Eingebungen: Hans Engelbrecht behauptet von sich, er habe als Ungebildeter in seiner Schlichtheit das Wunder, das ihm Gott widerfahren ließ, aufgeschrieben; sein Lehrmeister sei einzig der heilige Geist und nicht gelehrte Leute. Die Gelehrten hätten ihn und sein Wunder bloß verspottet. Seit dem ersten Bericht vor 14 Jahren habe er viele Verfolgungen erleiden müssen. Der Leser solle darum weder auf die Gelehrten noch auf den Erzähler hören, sondern nur auf den heiligen Geist in diesem Bericht. Engelbrecht ist überzeugt, der Leser könne durch seinen Bericht nicht betrogen werden, wenn man das gute Leben annähme, in dem man sich durch den heiligen Geist regieren lasse. Und er zählt den mystischen Tugendkatalog auf: Glaube, Liebe, Demut, Sanftmut, Geduld. Hans Engelbrecht berichtet von sich, er sei ein Handwerksgeselle und Sohn eines Schneiders.597 In seiner Jugend habe er viele Seelenängste durchlebt und sei oft traurig gewesen. Er habe Selbstmordabsichten gehegt, sei aber durch Gott gerettet worden. Zuvor habe er in der Kirche Trost gesucht, das aber habe nichts geholfen. So habe er die Gesellschaft seiner Mitgesellen gemieden. 596 Mir lag eine Ausgabe von 1684 vor: Engelbrecht, Eine Warhafftige | Geschicht und Gesicht | vom Himmel und der Hellen. | Diß ist nun die Historie und Gesicht/ | das erste Gesicht/ da GOtt der Heilige Geist mich | Hans Engelbrechten hat wieder vom Todte erwecket/ | und da mein Leib ist todt gewesen/ steiff und kalt | wie manchem Menschen in Braunschweig bewust und | bekandt ist/ und mein Leib ist in kurtzer zeit wieder starck und | lebendig worden/ ohn alle irrdische Speise/ Tranck und | Docterie. Mitteler weile nun mein Leib todt war/ so hat | der Heilige Geist meine Seele geführet für die Helle / und | richen lassen den Stanck der Hellen/ und hören lassen wie | die Verdampten schreien in der Holle/ in der Finsternisse/ | in dem Rauch und Dampff/ der Gott losen zur Warnung. | Und darnach hat er meine Seele auch geführet in den Him=|mel/ und seine Herrligkeit den Betrübten zum Tro-|ste / und was mir da befoheln ist. Solches wird ein jeder | auß diesem Schreiben umbständlich zu vernehmen haben/ | denn bey GOtt ist kein Ding unmüglich/ und wie GOtt | meinen SpecialBeruff und Befehl mit Wunder=Zeichen | für Menschliche Augen und Ohren bekrefftiget und | bestetiget hat/ wie den Leuten zu Braunschweig | bewust und bekandt ist. | Diese Wunder aber sind geschehen/ im | Jahre 1622. umb die Zeit da wir daß Evangelium | haben/ am andern Sonntag deß Advents/ Es | werden Zeichen geschehen/ an Sonn und Mond | und Mond und Sternen/ und den Leuten wird | auff Erden bange werden/ da gesach diß Zeichen | auch an mir/ den GOttlosen zur Warnung/ und | den Betrübten zu Troste/ wie ein jeder auß | diesem Schreiben wird zu vernehmen | haben, o. O. 1684 [Uu LB Halle AB 42 7 K8 (3)]. 597 Ebd., Bogen F.

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Am zweiten Advent 1622 sei er so betrübt über die Gottlosigkeit der Menschen aus der Kirche gekommen, dass er sich unverzüglich ins Bett gelegt und nicht mehr essen und trinken gekonnt habe. Er sei in Streit und Kampf gelegen wegen seiner Sünden und habe Herzenspein empfunden. Nach acht Tagen ohne Nahrung sei er dann gestorben. Seine Seele habe sich vom Körper gelöst. Im Moment des Todes könne Gott den Menschen mehr lehren, als man sonst im ganzen Leben lernen könne. Das lasse sich nicht aussprechen und mit der Vernunft begreifen. Es sei schlicht übernatürlich, bloß im Geiste zu erfahren. Er setzt seine Vision fort und erzählt, wie seine Seele in die Finsternis vor den Hölleneingang geführt worden sei und schildert drastisch: Er habe den Gestank gerochen und das Schreien der Gottlosen gehört. Anschließend sei er in den Glanz der göttlichen Herrlichkeit, in den Himmel geführt worden. Der heilige Geist habe ihm dort die ganze Bibel erläutert. Und schließlich habe ihm ein Engel gesagt, was er der Welt verkünden müsse:598 Wer ins Reich Christi eingehen wolle, der beachte folgende Regeln: Der Glaube solle ein »lebendigen Glaube« sein und man solle »seinen Glauben in der Liebe darthun und beweisen«, und es brauche eine Busse von Herzen. Denn Gott könne den heuchlerischen, scheinheiligen Glauben nicht mehr ertragen, welchen die Welt an den Tag lege. Ein Glaube im Geist und im Herzen sei nötig. »O ihr Heuchler und Scheinheiligen/ […] und wenn Christus also mit seinem Jüngsten Tag herein bricht/ wer wird selig werden! Meinet Ihr/ das euch euer Kirchen gehen/ Absolution und Abendmahl gehen/ Allmosen geben/ euch hilft/ wenn ihr es nicht […] aus Christlicher Liebe thut/ so ist es doch alles ein Greuel vor Gott.« Er schliesst mit der Empfehlung, man solle die Vernunft gefangen setzen und demütig im Herzen den Geist Gottes empfangen. Nach zwölf Stunden erlebte Hans Engelbrecht eine zweifache, physische und geistige Wiedergeburt: Er wurde zum Leben erweckt und vollzog seine geistige Katharsis. Gemäß seinem Bericht starb er von unten herauf und wurde zum Leben erweckt von oben herab. Er ist nun überzeugt, dass an ihm ein Wunder geschehen sei, und Gott ihn angewiesen habe, Priester über die ganze Welt zu sein: Durch Gottes Wunder sei ihm »in dieser letzten Abendzeit der Welt« aufgetragen worden, die Menschen über ihre Gottlosigkeit aufzuklären und zu ermahnen, sich zu bessern.599 Auch Engelbrechts Vision ist von der apokalyptischen Vorstellung geleitet, wonach Gott nun in diesen letzten Zeiten etliche Offenbarungen den Menschen als Warnung zukommen lasse. Die Offenbarungen sind als letzte Chance für die ungehorsame Menschheit zu verstehen. Ein Finger598 599

Ebd., Bogen G 2 und 3. Ebd., Bogen J 3.

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zeig Gottes, damit sich die Menschheit kurz vor dem Weltende zu einem frommen Leben bekehre. Der Prophet erfüllt nach dieser Vorstellung lediglich den göttlichen Auftrag, wenn er verkündet, dass die Gottlosen bestraft werden und die Frommen verschont bleiben, und wenn er frohlockt, der heilige Geist werde in seinem »Straffampte« die Priester, die sein Werk auf der Kanzel lästerten, bestrafen. In der Neuauf lage von 1640 ist er angesichts des konfessionell legitimierten Dreißigjährigen Krieges überzeugt, dass der Krieg und das Blutvergießen in den f leischlich orientierten ›Streitpredigten‹ und in den ›Streitbüchern‹ begründet sei. Die wahre spiritualistische Frömmigkeit gibt Engelbrecht die Gewissheit: Am jüngsten Tag werde Christus nicht fragen, ob man lutherisch, calvinistisch oder katholisch sei, er werde nicht nach »Menschlichen Rahmen und streitige[m] Glauben« fragen, sondern nach dem rechten Glauben, der »durch die Liebe thätig ist«. Wie populär solche apokalyptischen Visionen waren, in denen das Strafgericht über die verdorbene und verkehrte Welt verkündet wird, in der Gott bloß noch von Armen, Ungebildeten, Verspotteten und Verfolgten verehrt wird, belegt eine weitere Broschüre aus der Locherschen Bibliothek. Es handelt sich nochmals um ein Wunderzeichen in der ›letzten Zeit‹, gegen das der Lübecker Kirchensuperintendant August Pfeiffer heftig anschrieb. Der Traktat Freymüthiges Theologisches Bedencken von 1695600 enthält sowohl die kritische Beurteilung des Wunderzeichens wie auch den Bericht über die wundersame Erscheinung selbst. Der Bericht mit dem Titel Curieuse Nachricht Von einem Besonderen Geiste/ Der sich in diesem Jahre zu Ober=Crossen bey Rudolphstadt gelegen/ unter Tauben=Gestalt in eines Bauern Hause von unzehligen Geist= und Weltlichen/ Hoch= und Niederen StandsPersonen mit Verwunderung sehen und hören lassen/ und wie er endlich Abschied genommen handelt von einer wundersamen Taube, die Anfang April im Haus des Kirchenvorstehers mit einer regenbogenartigen Krone aufgetaucht sei. Die Taube konnte sprechen und riet: »Ruff GOtt in allen Nöthen an«. Acht Tage später wiederholte sich das Wunder. Die Hausvorsteherin hörte die Taube das Kirchenlied singen: »Allein auff GOtt setz dein Vertrauen«. Darauf habe die Taube gesagt, sie sei ein Bote Gottes. Einige Tage später habe die Taube gerufen: »Busse/ Busse/ habt ihr nicht Zeichen und Wunder gesehen«. Am folgenden Samstag, als die Bauersfrau zur Beichte gehen wollte, habe die Taube gesagt, sie würde 600

Pfeiffer, Der Lübeckischen Kirchen Superinten-|dentis, | Freymüthiges | Theologisches | Bedencken/ | Was von den Geiste/ der sich in diesem | itzlauffenden Jahre im Dorffe Ober=Croßen/ bey Ru=|dolphstadt gelegen/ in gestalt einer weissen Tauben / in eines | Bauern Hause hat sehen und hören lassen/ auch für einen Boten des | dreyeinigen Gottes Außgegeben/ zu=|halten sey? | Dabey den zugleich | Die gantze Relation von besagten Geiste/ | Wie sie zu Arndstadt gedruckt/ zu finden ist, Lübeck 1695 [Uu LB Halle Yc 3257].

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sich besser im Herzen zu Gott bekehren. Die Taube verweilte mehrere Wochen im Haus, und kritisierte, die Welt sei eine »Heuchel-Welt«. Die Taube habe schließlich Psalmen gebetet und auch aus dem Paradiesgärtlein Johann Arndts rezitiert. Am 25. Juni sei die Taube endlich in den Himmel zurück gef logen, verkündend, sie komme wieder.601 Das chiliastische Moment tritt bei diesen populären apokalyptischen Verkündungen des Strafgerichtes in den Hintergrund. Es bleibt lediglich in der Hoffnung, dass die Frommen und Bußfertigen das Gericht überstehen und dass ihnen dann die Ära nach dem Gericht gehören werde, angedeutet. In zwei älteren apokalyptischen Werken aus der Bibliothek Johann Heinrich Lochers sind die chiliastischen Hoffnungen expliziter formuliert. Es handelt sich einmal um die Werke von Hendrik Niclaes (ca. 1501- nach 1570). Locher besaß von ihm sechs bis acht Schriften, deren Titel aber bis auf ein »Christliches Sendschreiben« nicht erwähnt werden. Die Konfiskationsliste begnügt sich lediglich mit »H. Niclaes opera« bzw. mit »6 andere Tractate von H. N.«. Von Niclaes 51 Schriften, die mehrheitlich beim Antwerpener Buchdrucker Christoph Plantin unter den Kürzel H. N. erschienen sind, gingen die meisten verloren. Ein Sendschreiben konnte nicht nachgewiesen werden.602 Hendrik Niclaes lebte als Kaufmann in Amsterdam, wo er 1540 durch eine Offenbarung zum Propheten berufen wurde. Das Generalthema seiner Schriften ist die Verkündigung des bald anbrechenden Reiches der göttlichen Majestät auf Erden. Niclaes verknüpft das mystische Programm der Nachfolge und der Wiedergeburt mit chiliastischen Verheißungen. Die neue Ära war für ihn das sündenfreie Zeitalter der Liebe, eine Gemeinschaft der Erwählten. Auf die ersehnte neue Zeit vorgreifend, gründete er die »Familie der Lieben«. In Eine Roepende-stemme des Geistes der Liefften, ca. 1560 603, prophezeit er in Anlehnung an die Nachfolge Christi, Gott habe den Tag des Gerichts festgesetzt. Darum solle man sich dem »Hüs der Lieften« zuwenden und das bisherige Leben bereuen. Der Gläubige solle sich von der argen Welt, dem falschen Licht, dem überf lüssigen Geschwätz abwenden.604 Niclaes’ Wirkung war nur von kurzer Dauer. Seine Gemeinschaft der Familisten löste sich vermutlich bereits zu seinen Lebzeiten auf. Einzig in England hatten das »Haus der Lieben« einen etwas längeren Bestand. 605 601

Ebd., S. 4–14. Vielleicht handelt es sich um die in englischer Übersetzung erhalten gebliebene Schrift: Niclaes, The first Epistle, 1648(?). 603 Niclaes, Eine Roepen |de-stemme des Geistes der | Liefften/ Där alle Völckeren; = uth lütter | Genade; to dat Hüs der Lieften, mede | geroepen/ unde genödet | werden, Antwerpen (Christophe Plantin) ca. 1560 [HAB Wolfenbüttel A: 1164.107 Theol (5)]. 604 Ebd., S. 2–10. 605 E. Kuhn, Niclaes, Heinrich, S. 657 ff. 602

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Das andere Werk mit chiliastischem Inhalt ist die Apokalypseauslegung des Paul Lautensack (1478–1558), eines Malers aus Nürnberg. Er beschäftigte sich intensiv mit der Offenbarung des Johannes und verbreitete seine schwärmerischen Ansichten in Form gemalter apokalyptischer Figuren. Sein sogenanntes Bilderbuch bescherte ihm ernsthafte Händel mit der Obrigkeit. Er wurde schließlich 1542 aus Nürnberg ausgewiesen.606 Valentin Weigel sammelte die Schriften Paul Lautensacks. Sie erschienen nach dessen Tod 1619 durch einen anonymen Herausgeber bei Lukas Jennis in Frankfurt am Main zusammen mit Weigels Erläuterungen unter dem Titel Offenbarung Jesu Christi 607. Kern der Frömmigkeit Paul Lautensacks bildet die Offenbarung und deren Interpretation anhand kosmologischer und meteorologischer Phänomene.608 In der 1538 verfassten Schrift Ein Anzeigung mit Schrifft/ Was in der Erbaren Frawen Gundelfingerin Behausung an spitzen Berg/ daselbsten ihren Soller vor gemähle ist angestellt/ nemlich das erste theil von der Offenbarung Jesu Christi beklagt er sich, dass die ›Welt‹ kein Interesse an der Offenbarung habe. Sie glaube von Gott zu wissen, was es zu wissen gebe: Die weltlich Gesinnten wollten Gott, der sich in seinem Werk zu erkennen gebe, nicht wahr haben.609 Und Weigel doppelt in seiner Auslegung der Lautensackschen Schriften nach: Es gebe viele Gelehrte, die Gott nicht zu erkennen in der Lage und darum verdammt seien. Diese studierten zwar viel, aber nicht das Richtige – eben nicht die Apokalypse.610 Der Autor setzt sich deshalb zum Ziel, die Offenbarung Gottes in seinem Werk darzulegen. Schlüssel zum echten Verständnis der Offenbarung ist ihm die 606

Jöcher, AGL , Bd. 2, S. 2318; Jöcher/Adelung, AGL Fortsetzung, Bd 3, S. 1416 f. Lautensack, Offenbarung Jesu Christi | Das ist: | Ein Beweiß durch den | Titul vber das Creutz Jesu Christi/ | vnd die drey Alphabeth/ als Hebreisch/ Graegisch/ | vnd Lateinisch wie auch etliche | wunderbahre Figuren. | […] | Durch den Gottsäligen Paulum Lautensack Mah=|leren und Organisten weilandt in Nürnberg. Uber | welche vmb völligers Verstandts willen die Außle=|gung M. V. Weigelij herzu gesetzt | worden, Frankfurt/M. (Lukas Jennis) 1619 [HAB Wolfenbüttel A: 494.2 Theol. (3)]. In der jüngeren Forschung ist umstritten, ob Weigel tatsächlich der Sammler und Kommentator der Schriften von Lautensack war: Pfefferl, Die Überlieferung der Schriften Valentin Weigels, S. 383, Nr. 6. 608 Ein wichtiges Zeichen für die Wiederkunft Christi ist bei Lautensack der Regenbogen, dessen Farben er in seiner chiliastischen Spekulation eingehend untersucht. Vgl. dazu auch Böhme, MM 33.29. 609 Lautensack, Ein Anzeigung mit Schrifft/ | Was in der Erbaren Frawen Gundelfingerin Behausung an spitzen Berg/ daselb=|sten ihren Soller vor gemähle ist angestellt/ | nemlich das erste theil von der Offen=|barung Jesu Christi, || Paulus Lautensack | der Elter ein Mahler, Anno 1538, in: ders, Offenbarung Jesu Christi, S. 3. 610 Weigel, Ander Theil/ | Darinn begriffen die | Erklehrung mit Figuren vnd Sprü | = chen Heyliger Schrifft vber vorgehende Bü=|cherlein Pauli Lautensacci/ einem liechteren vnd | völligeren Verstandt in gemeldten | Büchern zu erzichen/ ge=|stellet von | M. V. Weigelio gewesener Pfarherren zu Zschopaw, Frankfurt/M. 1619, in: Lautensack, Offenbarung Jesu Christi, S. 8. 607

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mystische Epistemologie. Wie Sebastian Franck ist er der Auffassung, die Bibel sei ein den Menschen verschlossenes Buch. Das versiegelte Buch erhält nun bei Lautensack eine eschatologisch-zeitliche Dimension: Christus habe das Buch verschlossen und er werde es dereinst öffnen und offenbaren. Das werde Gott mit wunderbaren Zeichen am Himmel ankünden und aus der Schrift sowie aus dem Namen Christi werde die Jahrzahl angezeigt, wann das versiegelte und verschlossene Buch der Offenbarung geöffnet werde. Es werde in der letzten Zeit sein, die Lautensack mit der siebten Posaune (Off 11.15) gleichsetzt. Der Beginn der Offenbarung werde durch die Sonne, den Mond und die Sterne angekündigt werden. In seiner eigentümlichen Interpretation der Dreieinigkeit weissagt er, die Sonne werde den Geist Gottes, der Stern Christus und der Mond das Wort anzeigen.611 Im Tractatus von 1545 ist er dann der Überzeugung, dass die drei Kometenerscheinungen zwischen 1531 und 1533 (die auch Paracelsus beschäftigten) die Trinität repräsentierten und die Zeit der Offenbarung der Bibel ankündeten: Nun könne sie der Mensch anhand der drei Sprachen, in der die Bibel geschrieben stehe, aufschlüsseln. An einer anderen Stelle im Tractatus sind es besondere Regenbogen, die in Verbindung mit der Offenbarung des Johannes gebracht werden. Ein doppelter Regenbogen mit drei Sonnen, der am 22. Februar 1534 zwischen drei und vier Uhr nachmittags zu beobachten war, ist ihm endgültig der Beweis, dass der zweite Teil der Offenbarung – d. h. der Teil nach der siebten Posaune, der vom messianischen Jerusalem kündet – nun den Menschen eröffnet werde.612 Die Dreiheit setzt sich in Lautensacks Zeitbegriff fort: Er übernimmt die Joachimitische Auffassung der drei Zeitalter. Das erste ist die Epoche des Alten Testaments, die zweite die Epoche des neuen Testaments und die dritte Zeit sei die letzte Zeit, in der sich Christus erst offenbaren werde.613 Einen ersten Vorgeschmack der kommenden Zeit erfährt Paul Lautensack durch den göttlichen Geist, der ihm mit den sechs Tagen der Schöpfung die 6000 Jahre bis zum Jüngsten Gericht angezeigt habe.614 – Eine weit verbreitete Denkfigur, die eine wichtige Rolle bei der Berechnung des Jüngsten Tages spielte. Eine Denkfigur, die gern den siebten Tag der Schöpfung mit dem Tausendjährigen Reich Christi am Ende der Zeit chiliastisch interpretiert. 611

Lautensack, Ein Anzeigung mit Schrifft/ […] Anno 1538, S. 4 f. Ders., Tractatus | Des Gottseligen/ frommen/ | Hocherleuchteten/ vnd Geistreichen Mannes gottseliger | Gedächtnuß || Pauli Lautensacks/ deß ältern/ Mahlers vnd Bürgers in Nürnberg, | Von ihme geschriben vnd hinderlassen/ | Anno 1545, in: ders, Offenbarung Jesu Christi, S. 7 u. 9 ff. 613 Ders., Ein Anzeigung mit Schrifft/ […] Anno 1538, in:ders, Offenbarung Jesu Christi, S. 42. 614 Ders., Tractatus Des Gottseligen […] Pauli Lautensacks, S. 51. 612

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Zu den populären apokalyptischen Schriften in Lochers Bibliothek zählt weiter das Testament der zwölf Patriarchen 615, eine Schrift des hellenistischen Judentums, welche die Hoffnungen auf das Millennium nährte. 2.5.2 Endzeitberechnungen Die populären Ängste vor dem Jüngsten Gericht, wie beispielsweise die Visionen von Hermann von der Hude oder Hans Engelbrecht bilden ein Fundament für eschatologische und chiliastische Denkweisen. Sie können im weitesten Sinne selbst als Spielarten chiliastischer Erwartungen betrachtet werden. Das drohende Gericht und der Ruf nach Busse und Umkehr sind Fanal der anbrechenden Wiederkehr des goldenen Zeitalters.616 Die Hoffnung auf das goldene Zeitalter schwingt in der Erwartung mit, dass nach dem Zornfeuer Gottes nur die wahren Gläubigen übrigbleiben werden. Neben dieser populären Eschatologie existierte auch eine gelehrte Strömung.617 Die Auslegung der Offenbarung des Johannes und die Berechnung der Endzeit waren lange als wissenschaftliches Teilgebiet anerkannt. Viele namhafte Gelehrte wie Alsted, Leibniz, Mede oder Oldenburg setzten sich mit derartigen Berechnungen auseinander. Hier feierte in der zeitgenössischen Wahrnehmung die neue mathematische Methode weitere Triumphe.618 Ein bedeutender Mathematiker unter diesen Wissenschaftlern mit prophetischer Ader ist beispielsweise John Napier (1550–1617). Der schottische Edelmann und Humanist fand eine allgemeine Methode zum Ziehen der Wurzel beliebiger Potenzen. Weitere zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte Napier mit der Entwicklung der Theorie des Logarithmus, worüber er mit Tycho Brahe und Johann Kepler korrespondierte. Er gab den Logarithmen schließlich auch den Namen. Den Hauptzweck seiner neuen Rechenmethode sah er in der vereinfachten Berechnung der Zahlenangaben des Apokalypsetextes.619 Zwischen den beiden großen 615 Testament vnd Abschrifft | Der | Zwölf Patriarchen/ der Söhne Jacobs/ wie | ein jeder vor seinem End seine Kinder gelehret/ zur | Forcht GOTTES vnd Gotteseligem Leben | vermahnet hat. | Auch wie einjeder insonderheit / von Christo | durch den Prophetischen Geist (klärer dann das | Liecht) zeuget. | Darinnen viel schöne Lehren vnd tröstiche Verheis=|sungen von Christo begriffen sind/ sehr tröstlich/ auch | zu einem wahren Gottseligen Leben gar dienlich. | Auß dem gedruckten Menardi Moltri, vnd Augustini Lantzkorni (hundert | vnd dreyzehn Jahre alten Exemplar) neulich verdolmetschet, o. O. 1544(?) [HAB Wolfenbüttel A: 103.1.Quod. (1)]. Neuausgabe: Becker (Hg.), Die Testamente der zwölf Patriarchen. 616 Seebass, Apokalyptik/Apokalypse IV (Reformation und Neuzeit), S. 283. 617 Vgl.: von Greyerz, Wissenschaft, Endzeiterwartungen und Alchemie in England des 17. Jahrhunderts, S. 203–217. 618 Vgl.: Webster, From Paracelsus to Newton, S. 36 ff. 619 Hill, Antichrist in Seventeenth Century England, S. 25.

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mathematischen Leistungen liegen fünf Jahre, in denen sich John Napier ausschließlich mit theologischen Problemen, namentlich mit der Offenbarung des Johannes, auseinandersetzte.620 Frucht dieser Arbeit war die 1594 erschienene A Plaine Discovery of the whole Revelation of St. John, die Johann Heinrich Locher in der deutschen Übersetzung des Basler Pfarrers Wolfgang Mayer in einer Ausgabe von 1615 oder 1627 besaß. 621 Napier geht mit mathematischer Methode an die Interpretation der Offenbarung. Das Werk ist in zwei Teile gegliedert: Der erste Teil enthält 36 Propositionen, in denen in Euklidscher Manier die exegetischen Grundlagen formuliert werden, mit denen dann im zweiten Teil der Johannestext ausgelegt wird. Hinter dieser Vorgehensweise steht die tiefe Überzeugung, dass auch Gottes Wort, wie Gottes Natur, einer Logik entspringt, die mit geometrisch-mathematischer Analytik aufgeschlüsselt werden kann. Werfen wir einen Blick in den ersten Teil, um einen Eindruck von Napiers Denkweise zu erhalten, wie er mit logischer Konsequenz seine Apokalypsedeutung auf baut: In der ersten Proposition setzt er das verbreitete Axiom, dass ein prophetischer Tag einem realen Weltenjahr entspreche. Danach bestimmt er den Zeitablauf in der Prophezeiung des Johannes, indem er die kryptischen Bilder der sieben Schalen und der sieben Posaunen synchronisiert und deren Abfolge als gleichzeitig betrachtet. In der dritten Proposition setzt er nun einen zeitlichen Anker in der Chronologie: Der gefallene Stern und die Heuschrecken, von denen in der fünften Posaune (Off 9.2–3) die Rede ist, umschreibe nicht die Macht des Antichristen, sondern den auf 1051 datierten Aufstieg der Türkenmacht. In der nächsten Proposition datiert er die sechste Posaune ins Jahr 1296: denn unter den vier am Euphrat gefesselten Engeln seien die vier mohammedanischen Völker unter der Herrschaft der Osmanen zu verstehen. In hoch spekulativer Weise legt Napier somit zwei historische Fixpunkte fest, die es ihm ermöglichen, in den darauf folgenden Propositionen den chronologischen Ablauf der Weissagung zu bestimmen. Er definiert einmal, dass zwischen jeder Posaune die Zeitspanne gleich groß sei und 245 Jahre betrage. So glaubt er die in den sieben Posaunen niedergelegten apokalyptischen Weissagungen als historische Wegmarken verorten und als ein620

Macdonald, John Napier, S. 63. Napier, Herren zu Merchiston/ | Eines treff lichen Schottländischen | Theologi, schöne vnd lang gewünschte | Außlegung der | Offenbarung Jo=|hannis/ | In welcher erstlich etliche Propositiones | gesetzt werden/ die zu Erforschung deß wahren Ver=|stands nothwendig sind: Demnach auch der ganze Text | durch die Historien vund Geschichten der Zeit erklärt/ vnnd | angezeigt wirdt/ wie alle Weissagungen biß daher | seyen erfüllt worden/ vnd noch in das künftige | erfüllt werden sollen. || Auß begierd der Warheit/ vnd der öffnung der Ge=|heimnussen/ nach den Frantzösischen/ Englischen vnnd | Schottischen Exemplaren/ dritter Edition jetzund auch | vnserem geliebten Teutschen Verstand | üvergeben, Frankfurt/M. 1615 [HAB Wolfenbüttel M: Td 235]. 621

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getroffene Prophezeiungen bestätigen zu können: Alle 245 Jahre habe es große Veränderungen in der Geschichte gegeben. Im Jahr 71 n. Chr. wurde Jerusalem durch Titus zerstört bis schließlich das Jahr 1541 die Reformation – in Schottland – markiert. Die schottische Reformation beschließt die durch die Posaunen symbolisierten Ereignisse.622 Aus der Erkenntnis, dass die schottische Reformation die prophetische Abfolge der sieben Posaunen und Schalen beende, folgen für Napier zwei weitere Erkenntnisse. Einerseits formuliert er in Anlehnung an quintomonarchistische Vorstellungen in der 26. Proposition, dass der Papst der alleinige Antichrist sei. Andererseits weiß er in der 10. Proposition nun, dass die Zeit der letzten Posaune im Jahr 1541 begonnen hat und in 245 Jahren 1786 zu Ende gehen wird. Er veranschlagt den Tag des Jüngsten Gerichts auf einen Zeitraum zwischen 1688 und 1700.623 Doch Napiers theologische Zeitrechnung mündet nicht in einer chiliastischen Hoffnung, die am Ende der Zeit in Erfüllung gehen wird. Bei ihm sucht man vergebens nach chiliastischen Elementen. Es fehlt die Vorstellung eines Tausendjährigen Reichs Christi. Die Anspielung der Offenbarung (Off 20.2) auf die 1000 Jahre, in welchen der Satan gefesselt sei, deutet er in Übereinstimmung mit der calvinistischen Orthodoxie als eine Epoche, die vor dem Gericht liege.624 Die Epoche interpretiert er als eine Schonfrist, die den beiden unchristlichen Reichen, Gog und Magog, bzw. dem Papsttum und dem Islam, eingeräumt wurden. Die 1000 Jahre siedelt er in der 34. Proposition zwischen dem Konzil von Nizäa und den beginnenden Kreuzzügen an. Nun würde der entfesselte Satan den Völkern wieder Krieg und Blutvergießen bringen.625 Napier legt die Offenbarung des Johannes vollkommen unchiliastisch und in konfessioneller Abgrenzung zum Papsttum aus. Diesem Umstand trugen auch die Examinatoren Rechnung, die das Werk des Mathematikers als bedenkenlos klassierten und es dem Besitzer anstandslos zurückgaben. Die theologische Schrift des Mathematikers war nicht das einzige Buch in der Bibliothek Lochers, das sich mit der Endzeitberechnung auseinandersetzte. Die Konfiskationsliste nennt noch eine Reihe weiterer Zeitrechnungen, die sich aber nicht alle mit restloser Gewissheit bibliographieren ließen. Es ist beispielsweise die Rede von einer »Zeit Rechnung der H. Schrifft« sowie von einer »Biblischen Chronologia«, ohne dass ein Verfasser genannt wird. Auf die Zeitrechnung des Nürnberger Astronomen und Mathematikers, Andreas Goldmayer (1603–1664) nimmt hingegen Locher 622 623 624 625

Ebd., S. 1–12 (Propositionen 1–5). Ebd., S. 68 u. 18–23 (Propositionen 26, 10 u. 14). Bauckham, Chiliasmus IV (Reformation und Neuzeit), S. 738. Napier, Außlegung der Offenbarung Johannis, S. 108–111 (Propositionen 34 f.).

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Abbildung 16: »Anno Mundi«: Johann Heinrich Lochers handschriftliche chronologische Tabelle mit der er das Ende der Welt nach 7000 Jahren bestimmte. Die ausführlichen Endzeitberechnungen ließ er in seinem Exemplar von Thomas Beverleys Zeit=Register (1695) vor dem Titelblatt einbinden. Zusatz von fremder Hand oben rechts: »manus Henr. Locheri, fanatismi insimulati«. [ZB Zürich FF 435]

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in einem erhaltenen Manuskript direkt Bezug. Wir wissen jedoch nicht, welches Werk er exzerpierte; Goldmayer fehlt in der Konfiskationsliste. 626 Diesen Schriften ist gemein, dass sie das Weltalter und -ende nicht aus spekulativen Auslegungen der prophetischen Texte herleiten wollen, sondern aus den biblischen Angaben über die Lebensalter der Stammväter und die chronologischen Daten über die jüdischen Herrscher. Diesen Datierungsversuchen anhand der biblischen Texte liegt die Überzeugung zugrunde, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen habe und auch 6000 Jahre stehen lasse (II Petr 3.8 – der siebte Tag bedeutet dann oftmals das Tausendjährige Reich Christi auf Erden). Dass sich Johann Heinrich Locher ernsthaft mit biblischen Chronologien beschäftigte, davon zeugen zwei weitere Schriften aus seiner Büchersammlung. Es handelt sich einmal um die Allgemeine Welt=Geschichten 627 des sogenannten Philo Chronographus. Das ab 1671 in mehreren Auf lagen aufgelegte Werk des unbekannten Autors enthält im Anhang eine »Zugabe Allgemeiner Welt=Geschichten mit Register der Zeitberechnung«, die bei der Schöpfung Adams einsetzt und die Geburt Jesu auf das Jahr 4140 berechnet. Nur minimal weicht Heinrich Horch (1652–1729) von der Altersbestimmung der Erde anhand der biblischen Genealogien von den Berechnungen Pseudo-Philos ab. In einer handschriftlichen Notiz vergleicht Locher verschiedene Chronologien, wobei ihm Horch als eine Referenzgröße dient. Bemerkenswert ist nun, dass sich diese Zeitrechnung in einem Lehrbuch für Algebra befindet! Johann Heinrich Locher, als Kaufmann mit Bestimmtheit in den mathematischen Grundoperationen geübt, dürfte sich die Anfangs=Gründe, 1695 628 wohl aus Interesse an den genealogischen Berechnungen angeschafft haben: Sein Interesse am eher trockenen Schulbuch dürfte der Antwort auf die eingangs vom Autor gestellten Frage, wozu die Mathematik diene, geschuldet sein: Der Gotterkenntnis! Das siebte Kapitel des ersten Buches rechtfertigt dann die Kunst des Addierens und Subtrahierens als eine nützliche Technik, damit die Zeitfragen der heiligen Schrift aufgelöst und in ein ordentliches Zeitregister gebracht werden können. An dieser Stelle fügt der in mathematischen Fragen in626

Das Manuskript befindet sich im Exemplar der ZB Zürich von Beverley, Zeit=Register, Frankfurt 1695 [ZB Zürich FF 435]. Zu Goldmayer: Bruhns, Goldmayer, Andreas, in: ADB, Bd. 9, S. 338. 627 Philo Chronographus, Allgemeine | Welt Geschichten | Von | Anfang derselben/ = biß auff das | Geburts=Jahr Christi/ | 4140. | Nach Wahrer und Richtiger | Zeit= Rechnung/ | Mit Fleiß zusammen getragen | Durch | Philonem, | Chronographum, Isni im Allgöw 1671 [ZB Zürich WI 938]. 628 Horch, Anfangs-Gründe | einer Vernunfft = und Schrift=übenden | Zahl= und Buchstab=|Rechen=Kunst/ | Deren diese sonst | Algebra | heisset/ | Zum gebrauch der nidrigen und hohen Schulen/ | Deutlich beschrieben | von | Heinrich Horchen/ | Der H. Schrifft Doctore, Prof. und der zeit Rectore | wie auch Predigern zu Herborn, Leipzig 1695 [HAB Wolfenbüttel Xb 6466].

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teressierte Theologieprofessor die biblischen Chronologien als Rechenbeispiele an. Dass das Werk des Pseudo-Philo Locher zurückgegeben wurde, nicht jedoch das Lehrbuch der Algebra, muss an der Person Heinrich Horchs gelegen haben. Der reformierte Theologieprofessor in Herborn wurde wegen seiner radikalen antikirchlichen Einstellung im Jahr 1697 durch den Grafen von Nassau-Dillenburg suspendiert und Anfang 1698 endgültig aus seinem Amt gejagt. Anschließend zog er als chiliastischer Wanderprediger durch das Land und propagierte philadelphische Gemeinschaften. Den schweizerischen reformierten Theologen war Horch nicht erst seit seinem Auftreten als pietistischer Separatist in Bern ein Dorn im Auge: Seine an der apostolischen Urkirche orientierten Reformvorschläge machten den Herborner Professor in den Augen der Zürcher Geistlichkeit des Täufertums verdächtig. Das Gerücht, die Zürcher Kirche verbiete ihren Studenten wegen Horch den Besuch der Herborner Fakultät, belastete ihn schwer. Als die Herborner Schule nach der Amtsenthebung Horchs am 22. Juni 1698 über ihn ein Gutachten bei der Zürcher Hohen Schule einholen ließ, brachte dies an der Limmatstadt die Pietistenverfolgung erst richtig ins Rollen.629 Dass dann der Kirchenbehörde noch heterodoxe Traktate aus Sulzbach in die Hände fielen, diente Professor Schweizer als willkommener Anlass, um gegen Johann Heinrich Locher und weitere Pietisten loszuschlagen. 2.5.3 Millennarismus Wie Napier und Horch war auch Christian Knorr von Rosenroth (1636– 1689) überzeugt gewesen, dass es einer mathematischen Beweisführung bedürfe, um die Offenbarung zu entschlüsseln. Weil bereits ein Grossteil der Offenbarung eingetroffen sei, brauche es aber gleichzeitig auch eine historische Methode, damit der Johannes-Text verständlich ausgelegt werde. Die pseudonym erschienene Eigentliche Erklärung über die Geschichte der Offenbarung S. Johannis/ … Geschrieben durch Peganium, 1670 630 befand sich nicht bloß in der Bibliothek Johann Heinrich Lochers, sondern außerdem 629 Hochhuth, Heinrich Horche und die philadelphischen Gemeinden in Hessen; Dellsperger, Die Anfänge des Pietismus in Bern, S. 117–121; Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 406–410. 630 Knorr von Rosenroth, Eigentliche Erklärung | über die | Geschichte der Offenba | = rung S. Johannis/ | Voll unterschiedlicher neuer Christ=|licher Meinungen. | Darinnen | Das wahre und falsche Chri=|stenthum/ kürtzlich doch eigentlich | abgemahlet/ und eines jeden Zeit ziem=|lich genau ausgerechnet/ auch auf Ma=|thematische Art/ gar gründlich bewiesen/ | und anbey die Zeit des allgemeinen Jüngsten Tages vorge=|stellet wird. || Geschrieben durch Peganium, o. O. 1670 [HAB Wolfenbüttel M: Td 235].

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auch in der Bibliothek des radikalen Pietisten Johann Jakob Schütz, der mit Knorr von Rosenroth im persönlichen Kontakt stand. Und sie war auch im Haushalt Philipp Jakob Speners anzutreffen, so dass Wallmann in dieser Schrift die Anfänge der Spenerschen Eschatologie vermutet.631 In Knorr von Rosenroth wird heute ein Wegbereiter des Pietismus gesehen, der bereits auf die Auf klärung vorverweise. Der gebürtige Schlesier diente nach seinen Studien ( Jura, Theologie, Geschichte, Philosophie) und nach seinen Bildungsreisen in Frankreich, Holland und England dem Pfalzgrafen Christoph August im Herzogtum Pfalz-Sulzbach als Hofrat und Kanzleidirektor. Knorr von Rosenroth hatte einen maßgeblichen Anteil daran, dass aus Sulzbach ein hermetisch-kabbalistisches Zentrum und Hort einer irenischen und toleranten Religionsauffassung wurde. Er wandte sich der Kabbala, zeitgenössischer barocker Wissenschaftsliteratur, Naturphilosophie und Alchemie zu. Sein Korrespondenznetz erstreckte sich bis nach England, wo er beispielsweise mit Quäkern, Mitgliedern der Royal Society (Oldenburg, Boyle) sowie mit John Locke Briefe wechselte. Der englische Einf luss ist auch in der Eigentliche Erklärung über die Geschichte der Offenbarung S. Johannis spürbar, die in Anlehnung an Joseph Medes Clavis apocaliptica von 1627 entstand. Eine chiliastische Beeinf lussung Knorr von Rosenroths kann weiter auch auf Paracelsus zurückgeführt werden, in dessen Einf lussbereich er unter anderem durch Johann Baptista van Helmont, dem Erforscher der Gase und Vater seines engsten Freundes gelangte.632 Die Auslegung der Offenbarung will dem Leser aufzeigen helfen, zu welchem Teil der Christenheit er gehöre und was Gott mit seiner Kirche in Zukunft vorhabe. Knorr von Rosenroth stellt dem Werk eine zusammenfassende Tabelle voran, in welcher er die Prophezeiungen der Apokalypse mit historischen Ereignissen in Konkordanz bringt. Danach formuliert er am Beispiel der mathematischen Beweisführung folgend 25 Sätze, auf welchen er seine Exegese auf baut. Im dritten Satz legt er das zeitliche Nacheinander der Visionen des Johannes fest und vertritt die Auffassung, dass die Bilder der Siegel und Posaunen nach einander abliefen und die ganze Zeitspanne der Prophezeiung der Offenbarung umfassten. In den letzten vier Grundsätzen setzt er sich mit der Frage auseinander, wie die siebte Posaune oder die letzte Zeit zu verstehen sei und verbindet die siebte Posaune zeitgleich mit den Bildern des Tausendjährigen Reiches und des neuen durch die ›Palmträger‹ besiedelten Jerusalems. Abschließend kommt er im 25. Satz zur Erkenntnis, dass auf das Reich Christi die allgemeine Auferstehung folge.633 631

Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, S. 344–348. Telle, Knorr von Rosenroth, S. 413 ff.; Dienst, Knorr von Rosenroth, Christian, S. 169 f. 633 Knorr von Rosenroth, Eigentliche Erklärung über die Geschichte der Offenbarung S. Johannis, S. 12 f. 632

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Knorr von Rosenroth setzt sein Augenmerk nicht wie beispielsweise Napier auf eine zwingende Abfolge von Ereignissen, aus denen sich die Endzeit schließen lasse. Er fokussiert stärker auf die chronologische Abfolge der Offenbarungs-Visionen. Den einzelnen Bildern werden Ereignisse als Beweise für die tatsächliche Erfüllung der Voraussagen Johannes beigeordnet. Wie bestimmt Knorr von Rosenroth den Zeitpunkt, an welchem das Reich Christi anbrechen wird? Es gewinnt die entscheidende Jahrzahl aus einem quintomonarchistischen Interpretationsansatz; es ist das Jahr 1860! Die Jahrzahl 1860 errechne sich aus den 42 Monden, welche die Zeit der Finsternis anzeigen, es seien 1260 Jahre (d. h. 42 Monate zu 30 Tagen und jeder Tag zählt als Erdenjahr). Die Zeit der Finsternis habe um 600 eingesetzt, als Papst Gregor die Verehrung der Heiligen einführte. Um 1860 werde es dann wieder viele fromme Lehrer und Regenten geben, die ein aufrichtiges Christentum fördern würden. Rom und das Papsttum würden geschwächt werden und Rom höre auf, päpstliche Residenz zu sein.634 Nachdem nun Knorr von Rosenroth den Zeitpunkt der Wiederkehr Christi umrissen hat, kann er sich auf den verbleibenden Seiten der Beschreibung der »Herrlichen Zukunft« widmen: Die siebte Posaune bedeute die Wiederaufrichtung des wahren Christentums und gleichzeitig das »Weh« über die römische Kirche. Das Christentum werde von Abgötterei gereinigt, Könige wie Fürsten würden sich endlich in der Nachfolge Christi üben. Und er ist überzeugt, mit dem Tausendjährigen Reich beginne das siebte Jahrtausend seit der Erschaffung der Erde. Es ist die Zeit des neuen Jerusalems. Christus selber werde zwar nicht leiblich die Herrschaft auf Erden ausüben, aber er werde unsichtbar regieren durch die Anwesenheit seines Geistes. Kurz: Das göttliche Leben werde wieder eingeführt, Christus über die ›tierische Lebensweise‹ triumphieren und das Papsttum untergehen. Für Knorr von Rosenroth kommt die Zeit der ersten Auferstehung am Anfang des Tausendjährigen Reiches: Auferstehen würden mit den Märtyrern auch diejenigen, die sich der abtrünnigen Kirche widersetzt hätten, indem sie sich durch die wahre Nachfolge erhöht hätten. Die Märtyrer würden mit Christus im Himmel herrschen, die Rechtgläubigen auf der Erde. Die übrigen müssten warten, bis die 1000 Jahre vorüber seien. Nach den 1000 Jahren komme das Ende der Welt. Dann komme das Gericht über Satan, das identisch mit dem Jüngsten Gericht ist, und die Erdkugel werde brennen.635

634 635

Ebd., S.170–200. Ebd., S. 170 f. u. 186–190.

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2.5.3.1 Die Bekehrung der Juden Ein weiterer Vermittler englischer chiliastischer Einf lüsse an den Pietismus ist Pierre Serrurier (Petrus Serarius) (ca. 1600–1669).636 Es wird angenommen, dass er in England mit chiliastischen Ideen in Kontakt kam. Er wurde als Flame in England geboren und wirkte auch später von Holland aus als Vermittler zwischen dem Festland und der britischen Insel. Er diente beispielsweise auf seinen regelmäßigen Reisen nach London als Kurier für die Briefe zwischen Spinoza und Oldenburg.637 Weiter wird vermutet, dass Serrurier – der sich als Diener Gottes in einer allgemeinen Kirche bezeichnete – lange vor der Ankunft Labadies in den Niederlanden kräftig für den Chiliasmus warb. Ja, dass er schließlich auch auf Labadie selbst, zu dem er freundschaftliche Kontakte pf legte, einen starken chiliastischen Einf luss ausübte. Ein zentrales chiliastisches Denkmoment war seine Überzeugung, dass vor der baldigen Herrschaft Christi auf Erden und der ersten Auferstehung zuerst die Juden bekehrt würden.638 Der niederländische Kollegiant übte nicht bloß einen markanten Einf luss auf Jean de Labadie aus, auch der radikale Pietist Johann Jakob Schütz setzte sich mit dessen Chiliasmus auseinander.639 Und Johann Heinrich Locher besaß ebenfalls diese Schrift, die das Konfiskationsverzeichnis unscharf mit »Serarii Erklahrung der Apocalipsy« wiedergibt und als hochgradig gefährlich einstuft. Es handelt sich um die Assertion du règne de mille ans, ou de la prospérité de l’église De Christ en la Terre, 1657640. Diese Schrift setzt sich mit der Johannesoffenbarung auseinander, besonders mit dem für 636 Bergmans, Serrurier, Pierre,, S. 277 ff.; Art. Serrurier, Petrus, in: A. J. van der Aa (Hg.), Biographisch Woordenboek der Nederlanden, Bd. 17, Haarlem 1874, S. 632 ff.; Goters, Die Vorbereitung des Pietismus in der reformierten Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krise, S. 47 ff. u. 160; van Ingen, Böhme und Böhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, S. 29 f.; van der Wall, Mystical Millenarianism in the Early Modern Dutch Republic. 637 Theun de Vries, Baruch de Spinoza, S. 72. 638 Beispielsweise in der frühen Streitschrift Serruriers gegen Samuel Maresius: Ser rurier, Apologetica responsio ad […] Samuelem Maresium, […] super Disputatione theologica, ab ipso habita 30. Martii in Acad. Groningana, de conjunctione omnium Planetarum in facta die 1/11. Decemb. 1661 […], Amsterdam 1663 [HAB Wolfenbüttel A: 464.7 Theol. (2)]. Zum Verhältnis des Pietismus zum Judentum vgl.: Schrader, Sulamiths verheißene Wiederkehr, S. 71–107. – Um 1659 stellte auch Paul Felgenhauer in seiner Schrift Anti-Prae Adamita, Amsterdam 1659 die chiliastische Behauptung auf, dass die Weissagungen der Propheten in Erfüllung gingen mit der Rückkehr Israels zu Gott. Siehe: Schoeps, Philosemitismus im Barock, S. 19 f. 639 Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, S. 149 f. 640 Serrurier, Assertion | du règne de | mille ans, | ou de la | prospérité de l’église | De Christ en la Terre. || Pour servir de Responce au Traitté | de Monsieur Moyse Amyraut | sur se méme suject. || Descouvant | Le triste Prejugé qui possede aujourd’huy la pluspart | des Eglises contre la Regne du Seigneur | de toute la Terre, Amsterdam 1657 [ZB Zürich N 201].

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den Chiliasmus klassischen 20. Kapitel. Serrurier wendet sich mit diesem Werk gegen Moyse Amyraut, den umstrittenen hugenottischen Theologieprofessor in Saumur.641 Im an Amyraut adressierten Vorwort gibt sich Serrurier betrübt und schreibt, er habe Amyrauts Traktat gegen das Tausendjährige Reich gelesen, und es habe ihn mit Trauer und Missfallen berührt, dass ein Diener Christi gegen die Herrschaft Christi auf Erden anschreibe (escarmoucher). Diese Haltung habe inzwischen leider unter den heutigen Christen überhand genommen.642 Kapitel für Kapitel versucht Serrurier seinen Widersacher zu widerlegen. Im zehnten Kapitel stellt er schließlich das 20. Kapitel der Offenbarung auslegend zwei Thesen auf: »1. Qu’ il y a deux distinctes Resurrections des Corps, dont l’une se fera à l’entrée du Regne de Christ, & l’autre, lors que Christ aura resigné le Regne à son Père.« Und: »2. Que l’Emprisonnement du Dragon ou du Diable n’est pas encore arrivé, Mais est à venir«. Die Auffassung, die Einkerkerung des Satans, wovon die Offenbarung spricht, stehe noch bevor, ist die Grundlage der Reich-Christi-Hoffnung: Für Serrurier ist es gewiss, dass es dereinst auf Erden eingerichtet werde. Diese Weissagung des Johannes werde eintreffen wie die Prophezeiung vom Opfertod Jesu eingetroffen sei. Die Meinung Amyrauts, dass dem Tausendjährigen Reich bloß eine geistige Realität zukomme, weist Serrurier entschieden zurück. Im vierten Kapitel der Assertion will Serrurier das kommende goldene Zeitalter beweisen, denn das irdische Tausendjährige Reich sei in der Bibel symbolhaft vorgezeichnet. Aus diesem Interpretationsansatz folgert Serrurier schließlich, dass es beim Anbruch der Herrschaft Christi auf Erden auch zur leiblichen Auferstehung der Märtyrer und der Gläubigen kommen werde, wogegen der Rest der Menschheit erst nach den tausend Jahren, am Tag des Gerichts auferstehen würde. Es ist bezeichnend für Johann Heinrich Locher, dass er sich in dieser Kontroverse auch für den Gegenspieler interessierte. In seiner Bibliothek stand ebenfalls ein Werk von Moyse Amyraut (1596–1664). Es handelt sich dabei aber nicht um Du règne de mille ans ou de la prospérité de l’église, 1654, jenes Werk, das für Serrurier den Stein des Anstosses bildete. Locher setzte sich auch nicht mit der umstrittenen Schrift Traité de la prédestination, 1634 auseinander, einer Abhandlung, die die Prädestination abzumildern trachtete und besonders unter den Schweizer Reformierten eine heftige Abwehrreaktion auslöste, die in der »Formula consensus Helvetica« von 1675 gipfelte.643 641 Stein des Anstosses ist das Werk Amyrauts, Du règne de mille ans ou de la prospérité de l’église, Saumur 1654. 642 Serrurier, Assertion du règne de mille ans, Preface à Monsieur Moyse Amyraut (unpaginiert). 643 Art. Amyraut, Moyse, in: BBKL , Bd 1, Hamm 1975, S. 154 f.

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Er besaß die Betrachtungen Über den Zustand der Gläubigen nach dem Tode, 1696 644. Amyraut entwickelte in diesem Traktat die unorthodoxe Auffassung645, dass die Seelen der Frommen sofort zu Gott in den Himmel gelangen würden und nicht erst am Tag des Jüngsten Gerichts. 2.5.3.2 Philadelphia – die sechste Gemeinde Doch Johann Heinrich Locher beschäftigte sich nicht einzig mit den von der britischen Insel vermittelten chiliastischen Strömungen. Er setzte sich auch mit Strömungen auseinander, die sich an Jakob Böhmes subtilem Chiliasmus orientieren und diesen zu steigern trachteten. Zu nennen ist hier einmal Paul Felgenhauer (1593–1677), eine überaus interessante Figur, deren Leben, Werk und Bedeutung zu Unrecht nur schlecht erforscht sind.646 Locher scheint große Stücke auf ihn gehalten zu haben: Er besaß von ihm fünf Werke oder Bände. Die Bücherliste berichtet leider bloß »von Paul Felgenhowers wercken«. Angesichts der 68 Druck- und Handschriften, die Ernst Georg Wolters nachweisen kann, ist es schier unmöglich zu rekonstruieren, womit sich Locher befasste. Felgenhauers Werk ähnelt in vielem dem Schaffen Jakob Böhmes. Ob er epigonenhaft sich am Görlitzer orientierte oder – wie er selbst behauptete – eigenständig sehr ähnliche Gedanken entwickelte, kann hier offen gelassen werden. Bereits einige Titel, die an Werke Jakob Böhmes anklingen, belegen die große Nähe. Das Schlüsselereignis, das seine Theosophie bestimmt, ist seine Vision vom 17. Januar 1617, in der ihm Gott erstmals erschien.647 Seither verkündet Felgenhauer die Weisheit, die er von oben erhalten habe, wonach in der eitlen, sichtbaren und vergänglichen Welt die Gläubigen den Geist Christi in sich, und somit die verborgene heimliche Weisheit direkt von 644

Amyrault, Betrachtungen | Über den Zustand der | Gläubigen nach dem | Tode. | Aus dem frantzösischen ins | Deutsche übersetzt | von | R. F. g. S., Leipzig 1696 [Uu LB Halle AB 37 20 K, 11 (3)]. Die französische Originalfassung: Discovrs De l’estat des fideles après la mort: Par Moyse Amyravt. A Savmvr 1646, [HAB Wolfenbüttel A: 523. 9 Theol.]. 645 Kunz, Protestantische Eschatologie, S. 51 f. 646 Die umfangreiche Studie stammt von Ernst Georg Wolters. Sie blieb unpubliziert und wurde nach dem Tod des Verfassers in einer Zusammenfassung veröffentlicht durch P. Meyer, Paul Felgenhauers Leben und Wirken. Schoeps, Philosemitismus im Barock, S. 18–45. 647 Vergleiche beispielsweise: Felgenhauer, Clavis Sapientiae || Schlüssel der Weisheit; | Das ist | EinSehung deß gesprechs des HErrn | JE su/ mit Nicodemo Johan. 3. welches zum | Evangelio/ am Sontage Trinitatis gele=|sen wirdt; Da denn über einen iegklichen | versicul eine besondere Rede als zu einer | Auslegung vorgestellt wirdt. || Allen Liebhaberen der Weisheit zum besten | und zu Nutz / die Weisheit zuerkündigen | zuerkennen und zu lernen. | Durch | Paulum Felgenhawer, | der Göttlichen Weisheit Liehabern, Amsterdam 1656 [HAB Wolfenbüttel A: 1250.2 Theol. (3); ZB Zürich I 461], Vorrede an den Leser (unpaginiert).

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Gott haben würden. Dementsprechend sind einige Schriften bloß Variationen seiner hermetisch-paracelsischen Theosophie, wie beispielsweise sein ›Fundamentalwerk‹ (Wolters) Das Geheymnus Vom Tempel des Herrn, 1631648 oder Das Büchlein Iehi Or oder Morgenröthe der Weißheit, 1640. Letzteres trägt nicht nur das Druckjahr im Titel, sondern vermerkt in chiliastischer Weise zugleich auch das Weltalter, das der Autor mit 5870 Jahren angibt.649 Besonders in seinem Jugendwerk widmete sich Paul Felgenhauer, der sich sein Leben als Arzt verdiente, vornehmlich endzeitliche Spekulationen. Erst nach seiner Begegnung mit Hans Engelbrecht Ende 1624 oder Anfang 1625 verzichtete er auf seine Weissagungen, die er nun als hoffärtigen, pharisäischen Eigendünkel betrachtete. Zuvor war er als leidenschaftlicher Anhänger des Winterkönigs überzeugt gewesen, dass das Ende des Römischen Reiches angebrochen sei.650 Der dünne Traktat Speculum Temporis, 1620 651 kritisiert die Verdorbenheit der Welt und interpretiert diese als untrügliches Zeichen für die große eschatologische Wende. Er kritisiert besonders die Verdorbenheit der Geistlichkeit und ihres Vorbildcharakters in einer Weise, die etliche Schmähungen vorweg nahm, mit denen später Breckling oder Hoburg 648 Ders., Das Geheymnus | Vom | Tempel des Herrn | in seinem | Vorhof, Heyligen vnd Allerheyligsten, | In drey vnterschieden theilen, | Offenbahret in diesem Büchlein zum | wahrem Erkentnuß deß Grossen geheymnus GOTTES/ | CHRISTI vnd seines Geistes: dasselbe zu | erkennen/ in/ vnd an den Menschen selbst/ zu seiner selbst rechten Erkaentnus. | Nach der heymlich verborgenen weißheit / zubetrachten | fürgestelt / allen lieben Glaubigen/ Außerwehlten | vnd Kindern der weißheit/ denn Gemeinen | CHRISTI / durch die gnade des | Geistes/ am dienst der sechsten Gemei=|ne zu Philadelphia, o. O. 1631 [ZB Zürich I 499]. 649 Ders., Das Büchlein | Iehi Or | oder | Morgenröhte der Weißheit. || Von den drey Principiis aller Din=|ge/ die immer sein mögen/ dadurch die | grossen vnnd viel Geheimnüssen beydes in | GOTT, der Natur vnd Elementen/ so biß | daher verborgen gewesen/ entdeckt offenbaret/ | vnd klar erkant werden. || Zur Ehre GOttes/ Liebe des menschen/ | vnd den Kindern der Weißheit zur | tröstlichen Frewde. Gedruckt im Jahr CHRISTI 1640. | Im Jahr der Welt 5870 [HAB Wolfenbüttel Xb 6428]. 650 P. Meyer, Paul Felgenhauers Leben und Wirken. Nach der Darstellung von Dr. Ernst Georg Wolters (1956), S. 65 f. 651 Felgenhauer, Speculum Temporis | Zeit Spiegel/ | Darinnen neben Ver |mahnungen = aller Welt wird vor Augen ge=|stellt/ was für Zeit jetzt sey vnter allerley Stän=|den/ besonders vnter den meisten Geistlich genan=|ten vnd Gelerten. || Hierinnen ist auch ein Kurtze doch deutli=|che Erweysung deß Geheimnuß der drey Gemei=|nen/ in der Offenbarung Johannis/ beneben einer kurtzen Unterre=|dung mit der Sechsten gemeine Philadelphia den genandten | F. R. C. vnd andern Gelerten von denen Zeichen dieser letzten Zeit/ | Auch verantwortet sich der Author, warumb er in der Chronolo-|gia gesetzt/ das ihm Gott die Zeit deß Endes offenbahret hab/ neben | 14. Anweisungen vnd Orten in der Schrifft/ wo solch Geheim=|nüß in seinen gewissen Numeris vnnd deutlichen | Zahlen zu finden. | Durch Gottes Gnade vnd Antrieb deß | Geistes Gottes geschrieben/ | Durch | Paulum Felgenhauern Putschwi=|zensen Bohemum Theosophiae Discipulum, o. O. 1620 [ZB Zürich XVIII 3 5].

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über die Kirche herzogen. Fressen, Saufen, Zanken, Huren und Geizen sind schon nach Felgenhauer die Eigenschaften der Kirchendiener. Diese orientierten sich bloß an der weltlichen Weisheit und hätten keine göttliche Berufung. Weil die Geistlichkeit alle Wahrheit für sich beanspruchen würde, gäbe es Streit zwischen den Konfessionen. – Auch Felgenhauer bezeichnet die Konfessionskirchen pauschal als Sekten. Der Irrweg der Kirchen bewirke weiter, dass auch im weltlichen Stand der Streit vorherrsche und die Tyrannei zunehme. Nun lägen alle Völker gegeneinander im Krieg, bilanziert Felgenhauer und sieht die Ursache des soeben ausgebrochenen Dreißigjährigen Krieges im moralischen Niedergang des geistlichen und weltlichen Standes. Er wertet den neuen Konfessionskrieg apokalyptisch: »Meinstu auch lieber Mensch/ das da werde Friede werden? O nimmermehr/ dann es wird nun forthin Krieg sein/ biß an den Tag deß Gerichts/ vnd jetzt geht an/ da erfüllet wird das Wort deß HErrn«. Ja selbst die Natur befinde sich im Niedergang, alles werde schwach und selbst die Vögel und Fische hätten zahlenmäßig abgenommen! Die Zeit der sieben Plagen habe begonnen. Und die Würgengel des Sohnes Gottes werden im weltlichen und geistlichen Regiment eine »treff liche Reformation anstellen«.652 Die heutige Zeit sei nichts als Finsternis. Die liebliche Sonne der Wahrheit dringe nicht mehr durch die Wolken. Gleichzeitig zeige sich aber auch, ist Felgenhauer überzeugt, dass sich die Auserwählten zum Licht der Sonne und Wahrheit halten würden. Die Auserwählten suchen die Weisheit Gottes – die heute verachtet werde – und sie werden sich am Tag des Herrn sammeln. Wer die Zeichen der Zeit erkenne, der merke, dass die Zukunft Christi sehr nahe sei. Die Zeichen werden durch das Geheimnis des Geistes Gottes offenbart, ohne menschliches Buch. Nun heiße es »libri aperientur!« 653 Und Felgenhauer macht sich an die Auslegung der Johannesoffenbarung. Er bezieht sich aber nun nicht auf das klassische 20. Kapitel, sondern auf den ersten Teil, auf die Briefe an die Gemeinden in Asien. Jede dieser Gemeinden interpretiert er als eine Stufe hin zur perfekten Kirche. Thyatira die vierte Gemeinde wird auf die Hussiten bezogen. Der griechische Zahlenwert der Buchstaben im Wort Sardes ergebe die Jahrzahl 1514, so dass die fünfte Gemeinde das Zeitalter der lutherischen Reformation anzeige. Die sechste Gemeinde gehöre den Philadelphiern, die Felgenhauer auch als Rosenkreuzer bezeichnet. Die letzte Gemeinde, Laodizea, sei dann die Gemeinde, mit welcher Christus sprechen werde.654 Es besteht kein Zweifel, dass Felgenhauer sich im Zeitalter der Philadelphier wähnte. Die sechste Gemeinde bedeutet ihm die Sammlung der Frommen 652 653 654

Ebd., E-F. Ebd., Fi u. Gi v. Ebd., Biii.

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und Geistigen. Er ist 1620, mitten in der Zeit der Rosenkreuzereuphorie überzeugt, dass es diese Bruderschaft gibt. Gegen den Schluss des Speculum Temporis bittet er sogar einen Bruder der Rosenkreuzergemeinschaft zu sich.655 Später gründet Paul Felgenhauer dann selbst eine Art Bruderschaft, die er Philadelphische Gemeinschaft nennt. So ist beispielsweise die Clavis Sapientiae von 1656 einigen Mitgliedern dieser Gesellschaft gewidmet. Bemerkenswert ist einmal, dass vermutlich die philadelphische Idee, als eine überkonfessionelle Sammlung der Gläubigen am Vorabend des Weltendes zumindest teilweise auf Felgenhauer zurückgeht und dass die chiliastisch motivierte, endzeitliche Geisteskirche mit dem Rosenkreuzertum korreliert.656 Die Hoffnung auf die »große Reformation« enthält somit zwei Aspekte. Einerseits steht die Reformationshoffnung für den weltverbessernden Einf luss in ethischer, erkenntnistheoretischer, pädagogischer Weise, welchen die wahren Christen auszuüben gewillt sind. So sollen die als Philadelphier bezeichneten in der endzeitlichen Geistgemeinschaft gesammelten Frommen aktiv auf das nahe Kommen des Erlösers hinarbeiten. Anderseits steht sie ganz allgemein für die Hoffnung auf eine Besserung der Welt am Ende der Zeit. Gottfried Seebass bemerkt mit Blick auf den Pietismus zutreffend, dass aus chiliastischer Naherwartung ein guter Teil des Erneuerungswillens, den der Pietismus auf gesellschaftlichem und kirchlichem Gebiet bewies, resultierte.657 Locher, der sich intensiv mit dem philadelphischen Gedankengut auseinandersetzte, war zweifellos mit den wichtigsten Elementen des Felgenhauerschen Denkens vertraut. Namentlich zu nennen sind die theosophischen, chiliastischen und philadelphischen Motive, die sich wie ein roter Faden durch dessen Werk ziehen. Noch ein weiterer Autor beschäftigte sich mit der Auslegung der ersten sechs Kapitel der Apokalypse: Der Schwenkfelder Daniel Friedrich mit seinem Werk Ein Nothwendig Bedencken/ vber die Sechs erste Capitul der Offenbahrung. Er ist überzeugt, der erste Teil der Johannesoffenbarung handle vom Zustand der Kirche in der »letzten Zeit« und »von ihrem Trübsal vnd Leyden vnder dem Antichrist«.658 In dem vier Jahre nach dem Speculum Temporis erschienenen Buch kommt Daniel Friedrich zu einer ähnlichen Interpretation der sieben Gemeinden – eine Anlehnung an Paul Felgenhauer ist nicht auszuschließen. Auch für ihn symbolisieren die Gemeinden die verschiedenen Zustandsphasen der Christenheit. Wie bei Felgenhauer verkörpern die einzelnen Gemein655

Ebd., Fiii v. Schoeps, Philosemitismus im Barock, S. 35 ff. 657 Seebass, Apokalyptik/Apokalypse IV (Reformation und Neuzeit) S. 283. 658 Friedrich, Ein Nothwendig Bedencken/ vber die Sechs erste Capitul der Offenbahrung Johannis, S. 14. 656

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den Etappen in der Kirchengeschichte. Eine Geschichte, die nach göttlichem Plan auf die Vollendung des paradiesischen Endzustandes hintendiert. Und am Ende dieser Heilsgeschichte steht die Wiederherstellung der verlorenen, wahren, urchristlichen Kirche und Lebensform. Sollte Locher die philadelphische Hoffnung im Werk Felgenhauers entgangen sein, so kam er spätestens hier mit dem Gedanken der sechsten Gemeinde als einer Geistkirche am Vorabend der großen Klimax in Berührung. Die erste Gemeinde, jene zu Ephesus, steht nach Friedrich für die urchristliche Kirche und ihren anschließenden Abfall vom wahren Glauben. Die erste Kirche sei von falschen Aposteln verführt worden. Sie hätten das Evangelium ohne »new Hertz« und Geist ausgelegt und dem Menschen nach irdischen und äußerlichen Gesten mit Zeremonien gedient. So sei die apostolische Kirche in eine äußerliche und falsche Kirche verkehrt worden.659 Die Gemeinde zu Pergamon bezeichnet Friedrich als katholische Kirche, als das Reich des Papstes und der Ketzer.660 Thyatria und Sardes repräsentieren wie bei Felgenhauer die Hussiten und die Lutherische Reformation. Und schließlich sei die Gemeinde zu Philadelphia die Gemeinde der Auserwählten. Es sei die Gemeinschaft der »newen Cratur«, die ihre kirchliche Gemeinschaft einzig im inwendig empfangenen Geist Christi hätte. Diese Vorstellung Daniel Friederichs von einer in der Johannesoffenbarung vorgezeichneten historischen Abfolge der Kirchen wurde später in der philadelphischen Bewegung direkt – beispielsweise durch Johann Wilhelm Petersen – rezipiert. 2.5.3.3 Die Zeit der Kühlung Unmittelbar an Jakob Böhme entzündete sich der Chiliasmus Quirinus Kuhlmanns (1651–1689), einer äußerst schillernden Gestalt des 17. Jahrhunderts. Das Urteil über ihn schwankt zwischen närrischer Sonderling und genialer Dichter. Kuhlmann selbst zählte die Attribute auf, mit welchen er belegt wurde: »ein Enthusiast/ Phantast/ Fanatik/ Melancholik/ Narr/ Thor/ Quäker/ Sie meinen/ ich sei unsinnig/ daß ich auf diesem dornenweg wandle/ und nicht ihre gleißnerische strasse mit ihnen gehe.« 661 In Moskau fand er ein tragisches Ende. Zum Verhängnis wurde ihm der begeisterten Böhme-Zirkel, den er in der deutschen Gemeinde gründete. Denunziert durch den Pastor der Lutheraner wurde er zum Tod verurteilt und auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Bereits als Gymnasiast zeigte sich Kuhlmanns poetische Begabung. In Leiden – er wollte an der dortigen Universität seine juristische Disserta659 660 661

Ebd., S. 29–33. Ebd., S. 53. Zitiert nach Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 3, S. 279.

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tion beenden – geriet er ein paar Tage nach seiner Ankunft in den Bann des Mysterium Magnum und war sofort von Jakob Böhme gefesselt. Kurz darauf erlebte er seine »Wunderwoche«: In einem Traum offenbarte sich ihm Gott und gab ihm den Auftrag, die falsche Hure Babylon zu Fall zu bringen. Mit theosophischem Sendungsbewusstsein bediente er sich seiner dichterischen Begabung: Die Poesie war für ihn nun mehr ein propagandistisches Mittel zum Zweck seines höheren Auftrages. Das erste Ergebnis seiner Berufung war der Neubegeisterte Böhme. Mit diesem Werk focht er gegen die Irrlehren Luthers. Er wollte das Babel der Kirchen und Akademien vernichten. Er verband von nun an böhmesche Elemente mit seinen chiliastischen Prophezeiungen, welche auf der Lehre von der Quintomonarchie beruhte. Kuhlmann reiste nunmehr rastlos umher von Enthusiastengruppe zu Enthusiastengruppe. Zwischen 1684 und 1686 gab er im Selbstverlag sein poetisch-prophetisches Hauptwerk, den Kühlpsalter in vier Bänden heraus.662 Der Kühlpsalter gilt als eines der Hauptwerke des deutschen Barock überhaupt. Das Werk entwickelte aber kaum eine Nachwirkung und wurde nach 1684 erst in jüngster Zeit wieder neu aufgelegt.663 Das liegt daran, dass der Kühlpsalter ein geistliches Lehr- und Gesangbuch für eine erst noch zu schaffende Gemeinde sein wollte, das sich bloß an erleuchtete Leser wandte. Einer Mehrheit der Zeitgenossen blieb Kuhlmanns Hauptwerk als abstruses Buch unzugänglich.664 Johann Heinrich Locher wusste die Kombination aus Lyrik und böhmistisch gefärbtem Chiliasmus zu schätzen. Er besaß mindestens einen Teil des Kühlpsalters665 sowie das 36 Seiten umfassende Pariserschreiben, 1680 666 . Im Pariserschreiben, das an vier zeitgenössische Propheten gerichtet war, darunter auch an seinen Lehrmeister in Sachen Chiliasmus, Johannes Rothe, beginnt Quirinus Kuhlmann seine Theorie der »Kühlzeit« zu ent662 Zu Leben und Werkinterpretation vgl.: Dietze, Quirinus Kuhlmann, Ketzer und Poet; Vordtriede, Quirinus Kuhlmanns »Kühlpsalter«, S. 501–527; Rusterholz, Klarlichte Dunkelheiten, Quirinus Kuhlmanns 62. Kühlpsalm, S. 225–264; Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Band 3, S. 279–311. 663 Kuhlmann, Der Kühlpsalter, Bd. 1 und 2, Robert L. Beare (Hg.), Neudrucke deutscher Literaturwerke; Kuhlmann, Aus dem Kühlpsalter, ausgewählt und mit einem Nachwort hg. von Werner Vordtriede. 664 Vordtriede, Quirin Kuhlmanns »Kühlpsalter«, S. 501. 665 Die Konfiskationsliste verzeichnet »Kühl Psalter Kühlmanns« und »Kühlmans Paryser Schreiben«. Daraus geht leider nicht hervor, ob es sich um mehrere zusammengebundene Teile handelte oder lediglich um einen Teildruck. Beide Gedichtbände wurden als ›böse Bücher‹ eingestuft und seitens der Examinatoren eingezogen. ZB Zürich, Ms. S 276, Nr. 12 [Die konfiszierten Bücher Johann Heinrich Lochers], S. 93. Eine Bibliographie der Werke Quirinus Kuhlmanns befindet sich in: Dietze, Quirinus Kuhlmann, Ketzer und Poet, S. 535–547. 666 Kuhlmann, Pariserschreiben an H. Johannes Rothe, Fr. Tanneke von Schwindern, H. Fr. Mercurius von Helmont und Antoinette Bourignon, Amsterdam 1680 [Hochschulbibliothekszentrum NRW].

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wickeln, die dann den Inhalt des Kühlpsalters prägte. Durch eine allegorisch-personalisierte Sprachmystik gelangt er zu seiner chiliastischen Gewissheit: »O heiligfünfftes Wesen! | Der thier Vier wird (Wonn!) in dir entthiert! | Dein Thron ist auserlesen! | Pfeil eilends, pfeil! Es ist vollführt! | Das bald di Welt durch dich di Welt regiert!« 667 Die vier Tiere im Traum des Propheten Daniel (Dan 7) bedeuten die vier Weltreiche, auf die, laut der quintomonarchischen Lehre, das zukünftige Gottesreich folgt. Das fünfte Reich wird mit dem Wort Quinarius bezeichnet und klingt an Quirinus an. Dessen Vorname spielt im 44. Kühlpsalm zudem auf den Quirinal, das Zentrum Roms an, und bedeute den baldigen Niedergang des Papstes: »Quirinusstadt! Quirinus klopft ans Tor! | Er klopft und klopft, daß deine Mauren splittern!«. Aufgrund seines Vornamens ist er überzeugt, dass so wie Jesus unter Quirinus Landpf legerschaft in Syrien geboren worden sei, nun unter Quirinus der Messias geistlich wiedergeboren werde. Die Weissagung des Apostels Paulus von der Zeit der Kühlung nach dem Vulgatatext »tempora refrigerii« (Apg 3.19 f.)668 gibt Kuhlmann endgültig die Gewissheit, dass er aufgrund seines symbolträchtigen Namens als Auserwählter Gottes die Wiederkunft des Messias ankünden solle. Die Hitze Roms müsse nun der nördlichen Kühle weichen. Die ›Zeit der Kühlung‹, von der die Apostelgeschichte spricht, bedeutet nach Kuhlmann die ersten Anzeichen der dritten Zeit, die auf die Epochen des alten und des neuen Testamentes folgen werde.669 Der chiliastische, auf Joachim di Fiore zurückgehende Gedanke vom dritten Testament ist nun aufs engste mit der Person Kuhlmanns verknüpft: Er ist der Prophet der kommenden »Kuhlmonarchi«. Die »Kühlzeit ist die Periode seines Wirkens und Hinarbeitens auf die Endzeit. Er selbst erhöht sich als Vorläufer des Millenniums.670 Kuhlmann teilte trotz seiner gedanklichen Nähe zu den Philadelphiern deren Hoffnung auf eine leibliche Wiederkunft des Messias nicht.671 Er vertrat die These einer geistigen tausendjährigen Herrschaft Christi. Wenn er, wie oben zitiert, dichtet, die Welt werde »entthiert« und die Welt werde die Welt durch den Heiland regieren, so meint er damit, dass im Tausendjährigen Reich allein aus dem Willen Christi heraus die Welt durch gottgefällige Herrscher regiert werde. So sieht sich der Verkünder und 667 Zum zentralen 62. Kühlpsalm vergleiche die hervorragende Deutung durch Rusterholz, Klarlichte Dunkelheiten, S. 230. 668 Der Vulgatatext lautet: »Poenitemini igitur, et convertemini ut deleantur peccata vestra: Ut cum venerint tempora refrigerii a compectu Domini …«, Luther dagegen übersetzte frei mit »Zeit der Erquickung«. 669 Rusterholz, Klarlichte Dunkelheiten, S. 226 f. und Vordtriede, Quirin Kuhlmanns »Kühlpsalter«, S. 515. 670 Dietze, Quirinus Kuhlmann, Ketzer und Poet, S. 246 f. 671 Ebd., S. 238.

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Vorbereiter der »Kühlmonarchi« als Vorläufer des kommenden Heilands veranlasst, Drohungen gegen die Häupter der Welt auszustoßen. Mit einer gehörigen Portion politischer Utopie fordert er »Kaiser und Printzen« auf, ihr Amt niederzulegen. Die Zeit der großen religiösen, aber auch sozialen Umwälzung sei nahe: »Hoehr, Kaiser! es ist aus mit solchem thierschem jagen! | Geht, Voelker, ein als Jesu Christi Schaaf! | Tyrannen legt den zepter nider! | Mein Jesus nimmt sich seiner glidmass an. | Hoehrt Printzen! Wer verfolgt, der sol verfolget werden! | Das Leben ist zur Buß euch nur gelehnt. | Di unschuld blüh! Di schuld sei verurtheilet! | Der Fromme wachs und der Gottlose dort! | Verdrückte, jauchtzt! Verdrükker, heulet, heulet! | Eur Mordschwerd sei selbst gegen euch gebraucht!«672 Überzeugt, dass das Ende der falschen und heuchlerischen christlichen Herrscher gekommen sei, dichtet Kuhlmann auf Ludwig XIV. im Pariser-, bzw. 131 Kühlpsalm: »Weh/ Ludwig/ weh! Es ist mit dir gethan! | Di stoltze Saule wird dem Saule zu Staub faule!«. Wie stellt sich Kuhlmann den verheißenen paradiesischen Endzustand vor? Er folgt über weite Strecken böhmistischen Motiven. Die endzeitliche Monarchie des Erlösers ist End- und Höhepunkt des göttlichen Heilsplanes, der in der Wiederherstellung des Paradieses gipfelt. Im 62. Kühlpsalm reimt er: »Di Lilien und Rosen | Sind durch sechs tage gebrochen spat und früh: | Si Kräntzen mit libkosen | Nun dich und mich aus deiner müh. | Dein Will ist mein, mein will ist dein: Vollzih.« Die Rosen und Lilien symbolisieren in der Denkwelt Böhmes den eigenen alchemistischen prophetischen Existenzwandel sowie die Wiederkunft der heiligen Jungfrau Sophia.673 Rosen und Lilien bedeuten bei Böhme weiter – wie Sibylle Rusterholz treffend analysiert – das weibliche und männliche Prinzip. Während den sechs Schöpfungstagen, die als Sinnbilder für die sechstausend Jahre der Welt stehen, seien die beiden Prinzipien fortwährend gebrochen und getrennt gewesen. Mit dem Anbruch des siebten Tages, mit dem Beginn der paradiesischen Herrschaft Jesu ist die Trennung von Rose und Lilie aufgehoben, und sie werden im liebkosenden Kranz neu zusammengef lochten. Die Erde wird in ein Paradies zurückverwandelt: Der ganzheitliche, androgyne Mensch, der erste Adam, wird wieder hergestellt. Hier rekurriert Kuhlmann auf eine Denkfigur Böhmes, der zufolge der vollkommene Mensch das männliche und weibliche Prinzip verkörpere und erst durch den Sündenfall in Mann und Frau, Adam und Eva aufgespalten worden sei. So sei durch den Fall der zweite Adam als ein Knecht der f leischlichen oder viehischen Vernunft entstanden. Am siebten Tag werde nun das verlorene göttliche Bildnis im (neuen androgynen) Menschen, das durch den Fall Adams verloren gegangen ist, wieder 672 673

Zitiert nach Dietze, Quirinus Kuhlmann, Ketzer und Poet, S. 292. Dohm, Poetische Alchimie, S. 146 ff.

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hergestellt. Die Wiederbringung des ersten Adams ist der göttliche Heilsplan: »O Reich von allen Reichen! | Das Davids Reis! Des Constantinus Bluhm! | Der Engelwelt zugleichen! | Des ersten Adams erster ruhm! | Du Jesuels gesegnet Herrschafftsthum!« 674 2.5.3.4 Alles in allem Eine Art Synthese aus der böhmistischen und der englischen Strömung im Chiliasmus vollzog Thomas Beverley (bis 1702). Der englische Theologe stand der philadelphischen Bewegung um Jane Leade sehr nahe. Seine Schriften wurden im deutschen Sprachraum durch eine Zusammenstellung mehrerer Texte in einer Übersetzung unter dem Titel Zeit=Register675 bekannt, die Konrad Bröske676 1695 besorgte. Eine Edition, bei der die Grenze zwischen den Beiträgen des Herausgebers und der Originaltexte verf ließen. Über Thomas Beverley sind nur wenige biographische Angaben bekannt. Er verbrachte die 1680er-Jahre bis 1691 im Gefängnis. Dort lernte er den Mithäftling und Presbyterianer Richard Baxter kennen und korrespondierte mit ihm über chiliastische Themen. Danach wurde er Pastor in Cutlers’ Hall bei London.677 Das Zeit=Register taucht in der Konfiskationsliste nirgends auf. Vielleicht hatte sich Locher die Schrift erst später beschafft oder sie blieb unentdeckt. Durch einen glücklichen Zufall befindet sich heute der 230 Seiten umfassende Oktavband in der Zentralbibliothek Zürich. Die handschriftlichen, vor dem Titel eingebundenen Notizen mit vergleichenden Zeitberechnungen weisen Johann Heinrich Locher eindeutig als dessen Besitzer aus. Im Vorwort schärft Konrad Bröske dem Leser ein, dass die Zeichen der Zeit allesamt in der Bibel aufgezeichnet seien. In der Bibel stehe nichts Überf lüssiges, alles habe seinen Sinn und Zweck: Die Zeichen der Zeit 674

Rusterholz, Klarlichte Dunkelheiten, S. 247 u. 249. Zitate: S. 229 f. Herrn | Thomas Beverley’s | Eines vortreff lichen Englischen Gottes=|Gelehrten/ auch auch f leissigen Untersuchers deß | Profetischen=Wortes/ und in Außlegung | dessen/ eines rechten | Wunder=Mannes | Zeit=Register | Mit denen | Zeichen der Zeiten/ | Vom | Anfange biß ans Ende | der Welt. | Wie beyde von GOtt selbsten in senem Worte ge=|offenbahret seynd. […] | Alles auß dises Mannes verschiedenen | herrlichen Schrifften zusammen gezogen/ und | ins Hochteutsche gebracht | Durch | Konrad Brüßken/ Hoch=Gräf l. Ofenburg= | und Bündingischen Hof=Predigern zu | Offenburg am Mayn, Frankfurt/M. und Leipzig 1695 [ZB Zürich FF 435]. 676 Zu Konrad Bröske vgl.: Strieder, Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten und Schriftsteller Geschichte, Seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten, Erster Band, Göttingen 1781, S. 51–56 [ZB Zürich XXXII 294] und Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus, S. 131–162. 677 Johnston, Thomas Beverley, S. 599 f. 675

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Abbildung 17: Alles in Allem. Von Ewigkeit zu Ewigkeit: Graphische Darstellung der siebentausend Jahre der Welt aus Thomas Beverleys Zeit=Register, 1695 [ZB Zürich FF 435]. Die Darstellungsweise erinnert stark an J. Medes The Apocalyptik Type in: Clavis Apocalyptica, 1627.

könnten anhand der Zahlenangaben aus der Bibel herausgelesen werden. 678 Beverley unterteilt das siebentausendjährige Bestehen der Welt in drei historische Hauptepochen. Demnach dauert die erste von Adam bis zur Herrschaft Salomons und entspricht der sogennanten historischen Zeit der Bibel, die auf den genealogischen Daten der Stammväter basiert. Die nachfolgende Epoche ist die Zeit bis ans Ende der babylonischen Gefangenschaft. Sie wird auch als historisch-prophetische Zeit bezeichnet und aus den Herrscherdaten bestimmt. Und schließlich folgt die Offenbarungszeit. Die Zeitangaben der letzten Epoche werden aus der Auslegung Daniels und der Apokalypse gewonnen. Im Zentrum der prophetischen Zeit steht die »Zeit und die halbe Zeit« (Dan 12. 7)679. Beverley bestimmt die so678 Beverley, Zeit Register Mit denen Zeichen der Zeiten, (Vorrede an den Leser – un= paginiert). 679 »Darauf hörte ich die Stimme des Mannes, der in Leinen gekleidet war und über dem Wasser des Flusses stand […] und sagte: Es dauert noch eine Zeit, zwei Zeiten und eine halbe Zeit. Wenn der am Ende ist, der die Macht des heiligen Volkes zerschlägt, dann wird sich das alles vollenden« (Neuer Jerusalemer Bibel).

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genannte »halbe Zeit« mit dem Reformationsjahr 1517. Diese Zeit des Abfalls werde gemäß der Prophezeiung Daniels nach 1260 Jahren im Jahr 1697680 enden. Die jetzige Zeit sei eine Zeit des Niedergangs. Doch die Wende stehe kurz bevor: Es dauere bloß noch ein paar Jahre. Die Zeit der vier Monarchien sei demnächst am Ende und es beginne die Vorbereitungsphase zum Tausendjährigen Reich. Die Judenbekehrung werde in den nächsten 75 Jahren erfolgen!681 Eine Tafel der gantzen Zeit/ von der ersten Schöpfung an/ biß Christus das Reich Gott und dem Vater überantwortet/ daß der Alles in Allem sey. Die gantze Zeit=Länge. 7000 Im Jahr Im Jahr der Welt Christus Die Zeit von der ersten 5759 Schöpfungs=Ruhe/ biß zur Ruhe der Wieder=Erstellung/ welche übrig ist vor das Volck Gottes Von der Schöpfung biß auf Sem A 1658 1658 Von Sem biß auff die Verheissung deß B 425 2083 Landes Kanaan dem Abraham gegeben Von da biß zum Außgang der Kinder C 430 2513 Israels auß Egypten Vom Ausgange der Kinder Israel auß D 480 2993 Egypten biß auff Salomons Tempel Von da biß auff Salomons tod E 36 3029 Von Salomons Tode/ als sich Israel F 390 3419 von Juda absonderte/ die in Ezechiels Gesichten auffzeichnet 390 Tage vor Jahren Von diesem Gesichte biß auff Kores G 40 3459 außgehenden Befehl Jerusalem wieder zu bauen. Von da an/ biß aufs neue Jerusalem/ in einer gantzen Profetischen Linie 2300. Abend=Morgen/ Dan. 8. welche in folgenden sechs Neben=Linien ablauffen. 1. Der außgehende Befehl durch H 75 3534 Kores/ biß auf Artaxerxes siebendes Jahr 680 Als Beverley realisieren musste, dass seine Vorhersage nicht eintraf, revidierte er seine Endzeitberechnung und fixierte das Jahr 1701 als neue Endzeit. Vgl.: Johnston, Thomas Beverley, S. 599 f. 681 Beverley, Zeit Register Mit denen Zeichen der Zeiten, S. 5–13. =

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2. Von da an biß zur Aufferstehung I 490 4024 37 Christus sampt der letzten halben Woche. Die Zeit der Siegeln K 400 4424 437 Der grosse Abfall; Zeit/ Zeiten und halbe L 1260 5684 1697 Zeit; Die Zeugen in Säcken; Das Weib in der Wüsten/ der Heyden und des Thiers 42 Monden. Die sieben Stimmen M 30 5714 1727 Die sieben Stimmen deß Zorns N 45 5759 1772 Das neue Jerusalem O 1000 6759 2772 Die Lösung des Satans mit seinem Got und P 241 7000 3013 Magog. Das Gott und dem Vater überantwortete Reich/ und Gott Alles in Allem in der Ewigkeit.

In einem tabellarischen ›Zeitregister‹ (siehe oben) legt Beverley einleitend die historische Abfolge des göttlichen Heilsplanes dar und visualisiert den siebenhundertjährigen Zeitlauf von Ewigkeit zu Ewigkeit:682 Der Denkfigur der Fifth Monarchy Men folgend ist Beverley voller Hoffnung, dass die Zeit der vier Monarchien ablaufen werde. Er formuliert seine utopische Vision, wonach die »Verwegenheit« der jetzigen Zeit getilgt werde, die im Hochmut, Ehrgeiz und im eifrigen Kaufen und Verkaufen bestehe. Dann werde die Obrigkeit gerecht werden und schädlichen Personen nicht mehr gnädig gestimmt sein, und die Widerchristen werden verdammt werden. Ja, die aufgeblasenen protestantischen Priesterwürden werden abgelegt und eine philadelphische Gleichheit werde schließlich herrschen. Beverley lebte in Erwartung einer philadelphischen Gesellschaft als Vorbild und Wegbereiterin zu einem neuen Jerusalem.683 Das bevorstehende Millennium fasste Beverley als die Wiederbringung aller Dinge und Befreiung der ganzen Schöpfung von der Eitelkeit. Er schlug den heilsgeschichtlichen Bogen vom Anfang zum Ende der Welt: Die Welt sei aus der ersten Ruhe entstanden und werde erneut in die letzte Ruhe zurückgebracht. Dazwischen liege die Zeit der Eitelkeit. Am Anfang habe sich in der Schöpfung die große Weisheit und Macht Gottes offenbart. Der Mensch sei vollkommen und sündlos gewesen und es hätten paradiesische Zustände geherrscht. »In diesem ersten Stande war das Kö682 Ebd., S. 2 f. Interessanterweise verlässt aber Beverley die gängige Auffassung, dass die Welt gemäß den sechs Schöpfungstagen nach Ablauf von 6000 Jahren ins letzte Stadium treten werde. 683 Ebd., S. 18 ff.

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nigreich Gottes und deß ewigen Worts gantz allgemein.« 684 Das paradiesische Zeitalter werde am Ende wieder hergestellt und das herrliche Reich Christi werde anbrechen. Diese Gewissheit der Wiederbringung aller Dinge bezog Beverly, ebenso wie Quirinus Kuhlmann seine »Kühltheorie«, aus der Apostelgeschichte 3.19 – 21685. Daraus folgerte er für seine Endzeithoffnung: »Es ist ein neuer Himmel und eine neue Erde/ und folglich eine Wieder=Erstellung aller Dinge.« So wie es in der Schrift stehe: Christus werde vom Himmel her erscheinen und über seine Feinde siegen und sein Reich für 1000 Jahre einrichten. »Und also hebet das Reich Christus mit einem Gerichte an/ nemlich/ indem es entscheidet/ wer diese Heiligen seyn/ welche in der Herrlich= und Seligkeit […] als aufferstandene Heiligen; oder als lebende und überlebende/ aber doch verwandelte« am Tausendjährigen Reich teilhaben werden. Dieses würde nach Beverleys Berechnung 1772 beginnen. Hartmut Lehmann hat die Frage aufgeworfen, in wie weit der Pietismus als soziale Erscheinung durch kollektive Ängste bestimmt gewesen sei.686 Diese Frage drängt sich im Zusammenhang mit eschatologischen und chiliastischen Endzeiterwartungen geradezu auf: Werner Vordtriede sieht im Wechselspiel von »Religion als Angst, Angst als Religion« die wesentliche Grundlage für Quirinus Kuhlmanns Chiliasmus.687 Die Angst als eschatologisches Leitmotiv ist regelrecht mit den Händen zu greifen in den Buß- und Mahnrufen Hermann von der Hudes oder Hans Engelbrechts. Gebetsmühlenartig werden die Drohungen aufgezählt, die von Kriegen – namentlich vom Dreißigjährigen Krieg – ausgingen. Auch Naturkatastrophen wie Pestzüge, Hungersnöte und Unwetter haben einen festen Platz unter den kollektiven Ängsten und schließlich gehören auch ökonomische Krisenerscheinungen, wie die Teuerung – die interessanterweise zu den widrigen Naturereignissen gezählt wird – ins Arsenal der Angst. Die zahlreichen Ankündigungen, das Jüngste Gericht stehe kurz bevor, ist ein starker Ausdruck der ganz eindeutig weit verbreiteten Ängste dieser Zeit. Jean Delumeau weist eine lange Tradition dieser sich in Gotteserwartungen ausdrückenden Ängste nach, die sich vom Spätmittelalter über die Reformation bis ins »lange 17. Jahrhundert« erstrecken. Besonders im deutschen Sprachraum findet er Belege für eine langlebige Endzeiterwartung.688

684

Ebd., S. 97 ff. Laut Neuer Jerusalemer Bibel: »Ihn [ Jesus] muss freilich der Himmel aufnehmen bis zu den Zeiten der Wiederherstellung von allem, die Gott von jeher durch den Mund seiner heiligen Propheten verkündet hat.« 686 Lehmann, »Absonderung« und »Gemeinschaft« im frühen Pietismus, S. 65 f. 687 Vordtriede, Quirinus Kuhlmanns »Kühlpsalter«, S. 502. 688 Delumeau, Angst im Abendland, Bd. 2, Kap. 6 (Die Gotteserwartung). 685

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Eschatologisch gewendete Ängste sind kein rein pietistisches Phänomen, sie sind eine im Untergrund f ließende Strömung, aus der sich eine pietistische Glaubenswelt nährte. Anhand der eschatologischen Schriften, die Johann Heinrich Locher besaß, lässt sich beobachten, wie sich diese eschatologischen Ängste wandeln und wie sie verarbeitet und bewältigt werden. So ist augenfällig, wie neben den urwüchsigen, populären und – aus unserer heutigen Sicht – irrationalen Ängsten vor dem hereinbrechenden Weltende, welches sich mit allen Schrecknissen dieser Welt ankündigte, eine zweite – mehrheitlich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstandene – Literaturgruppe Lochers Interesse weckte: Hier treffen wir auf einen verwissenschaftlichten Endzeitbegriff. Das Bemühen, die Endzeit zu berechnen, birgt den Versuch, die Angst mit Hilfe der Ratio zu bewältigen. Wird das jüngste Gericht berechenbar, verliert es einen Teil seiner schrecklichen Macht über die Menschen. Die bange Hoffnung der Apokalyptiker, dass am Jüngsten Tag wenigstens die wahren Gläubigen davon kommen würden, kann sich in einer rationalisierten Eschatologie zur heiteren Zukunftshoffnung, dass demnächst die Welt wieder in ihrem paradiesischen Zustand hergestellt werde, wandeln. Die Angstvorstellungen können in der verwissenschaftlichten Endzeiterwartung in einem chiliastischen Utopiedenken689 aufgehoben werden, wobei Angst und Hoffnung weiterhin miteinander verschränkt sind. 2.5.4 Naturphilosophischer Chiliasmus Schließen wir den Bogen zur einleitend in diesem Abschnitt aufgestellten Behauptung einer Verbindungslinie zwischen naturwissenschaftlichem und chiliastischem Denken. Ein treffendes Beispiel für bestehende Zusammenhänge zwischen den beiden Denkungsarten ist Thomas Burnets690 (ca. 1635–1715) Theoria Sacra Telluris, die Johann Heinrich Locher in einer deutschen Übersetzung von 1693 besaß. Die deutsche Ausgabe wurde 1698 und 1703 erneut aufgelegt.691 Besorgt worden war diese von Johann Jakob 689

Zum umstrittenen Verhältnis von Chiliasmus und Utopie vgl.: Wollgast, Chiliasmus und soziale Utopie im Paracelsismus, S. 114 f. 690 Stephen, Burnet, Thomas, S. 408 ff. 691 Mir lag die zweite Auf lage von 1698 vor: T. Burnet, Theoria Sacra Telluris | d. i. | Heiliger Entwurf oder Biblische | Betrachtung | Des Eedreichs/ begreiffende/ Nebens dem Ursprung/ die allgemeine Ende=|rung/ welche unser Erd=Kreis einseits allschon aus=|gestanden/ und anderseits noch auszustehen hat; | Anfangs von Herrn | Thomas Burnet | in Latein zu London heraus gegeben. | Anjetzo aber ins Hochteutsche übersetzt/ und dem curiosen Le=|ser zu Dienste mit einem doppelten Register/ mehreren | Figuren und diensamen Anmerkungen erläutert | Durch | M. Joh. Jacob Zimmermann/ | Vayhingen-Wurtenbergicum. | cum Gratia & Privilegiis singularibus, Hamburg 1698 [ZB Zürich Gal. XXV 181].

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Zimmermann, einem Böhmisten und radikalen Pietisten, den Johann Heinrich Locher persönlich im Umfeld des Johann Jakob Schütz kennen gelernt hatte. Das in vier Teile gegliederte Werk des Engländers erschien mehrmals zwischen 1681 und 1757 und erfuhr drei lateinische und acht englische Auf lagen. Es war innerhalb der englischen Bildungsschicht über mehrere Generationen sehr populär.692 Thomas Burnet versuchte, die Erde und ihre Geschichte nach biblischen Gesichtspunkten zu betrachten. Er verknüpfte theologische und naturkundliche Sintf lut-Diskussionen. Seine Absicht war es, die Entstehung der Welt und deren (stetigen) Wandel zu beschreiben. Er wollte in seinem Unterfangen die Bibel mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang bringen und schlug als Methode die vorurteilsfreie Wissenschaft vor.693 Zu diesem methodischen Vorgehen hatte er allen Grund: Burnet bezweifelte, dass die Sintf lut so stattgefunden habe, wie sie in der Bibel geschildert wird. Er fragte sich: »Wo werden wir in der gantzen Natur so viel Wasser finden und zusammen bringen?«, damit auch der höchste Berggipfel unter Wasser gesetzt werden konnte. Er berechnete, dass dafür die sechs bis achtfache Wassermasse aller Ozeane notwendig gewesen wäre.694 Noch radikaler formuliert diese Position der Übersetzer, der selbst in der Auslegung von Josuas ›Zurückweichen der Sonne‹ die Autorität der Bibel – zumindest in der scholastischen Auslegung – der Naturwissenschaft unterordnete, um beide miteinander in Einklang bringen zu können: »Die Scriptur und Natur/ sollen uns/ da wir uns der unmittelbaren Offenbarung nicht zu rühmen haben/ die Pforten zu der Warheit anweisen; werden aber von wenigen gebührlich gebrauchet/ und sind den meisten/ wie ein verschlossen und versigelt Buch.« Die Entsiegelung der »Danielschen Geheimnisse« sei ein Weg zu Gott und diene der Läuterung. »Hierzu hilft heuzutage vieles/ die Außnüchterung auß den Stricken und der Knechtschafft der Aristotelischen Sophisterey und Ergreiffung der freyen Philosophey: worzu Cartesius die Bahn gemacht/ und ob gleich bey ihme nicht alles Gold/ was gläntzet/ so ist doch die Freyheit/ seine eigene Verstandes=Kräfften/ sonder anderwertiger Sclaverey/ […] daß er hierzu das Eys gebrochen.« Und in Anlehnung an das beliebte Motto der Pietisten formuliert er: »Alles zu prüfen ist eine Freyheit/ ja ein Gebot/ […] sondern auch allen andern Gott= und Warheit=liebenden Seelen.« 695 Zim692 von Greyerz, Wissenschaft, Endzeiterwartungen und Alchemie in England des 17. Jahrhunderts, S. 209. 693 T. Burnet, Theoria Sacra Telluris, Vorrede des Autoris an den Leser (unpaginiert) S. iii und 1. Buch, 1. Kap., S. 2. 694 Ebd., 1. Buch, 2. Kap., S. 9 f. 695 Ebd., Vorrede [des Übersetzers] (unpaginiert), S. bf.

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Abbildung 18: Titelkupfer der Theoria Sacra Telluris, 1698: Die sieben Gestalten der Welt mit Jesus als Anfang und Ende: 1. Finsternis (Erschaffung aus dem Chaos); 2. paradiesischer Zustand (Eden; Herrschaft des ersten Adams); 3. makrokosmische Taufe (Wassertaufe durch die Sintf lut); 4. heutige Welt; 5. makrokosmische Taufe (bevorstehende Feuertaufe als Wiedereintritt ins Paradies); 6. paradiesischer Zustand (Tausendjähriges Reich, Herrschaft des anderen Adams) und 7. Licht (»Consumation aller Dinge«). [ZB Zürich Gal. XXV 181]

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mermann fordert nichts weniger als die Wissenschaftsfreiheit, dabei ist ihm trotz seiner Präferenz eines animistisch-pantheistischen Denkansatzes die cartesianische mechanische Philosophie ein willkommener Bündnispartner gegen die Dominanz der Scholastik. Die Heilige Schrift und das Buch der Natur sind ihm komplementäre Erkenntnisquellen Gottes, die erst, wenn sie in Einklang zu einander stehen, von echter Gotteserkenntnis zeugten. Gegen die scholastische Theologie gewendet, meint Burnet angriffig: Die Theologen seien keine Naturkundler, ihre Aufgabe sei es lediglich, gottselige Andacht im Herzen zu erwecken. Sie sollten die Naturerkenntnis besser den »Welt=Weisen« überlassen. Burnet plädiert für eine Arbeitsteilung zwischen Theologie und Naturwissenschaft; er spricht der Kirche das Interpretationsmonopol in naturwissenschaftlichen Bereichen ab. Schließlich differiere die Welterklärung aus der Bibel der Theologen oft erheblich mit den »Beweiss=Gründen« der Wissenschaft und deren Naturwissenschaft.696 Burnets methodischer Ansatz, wie eine Harmonie zwischen theologischem und naturkundlichem Wissen vermittelt werden könne, mündete im frühen 18. Jahrhundert in die physikotheologische Ausrichtung, beispielsweise Johann Jakob Scheuchzers.697 Wie löst Thomas Burnet nun das erkannte Problem, wonach die gesamten auf Erden verfügbaren Wassermassen nach naturkundlichen Gesichtspunkten für die Sintf lut der biblischen Erzählung nicht ausgereicht hätten? Er stellt eine radikal neue These auf und postuliert, die Erde habe sich etappenweise verändert: »Es sey die erste und vor der Sündf luth hergegangene Gestalt des Erdreichs gantz anderst gewesen als heutigs Tags.« Diese Annahme stützt Burnet einerseits auf die Schrift und anderseits auf die Vernunft. Nach seiner These habe die Erde erst im Laufe der Zeit ihre Form und Gestalt erhalten. Durch seine These eines stetigen morphologischen Wandels bekommt die Erde selbst eine Geschichte. Die Erdgeschichte ist somit neben einem zyklischen nun auch einem linearen Zeitbegriff unterworfen.698 Indem Burnet – modern gesprochen – eine dynamische Morphologie der Erdkruste postuliert, gelingt es ihm, den vermeintlichen Widerspruch zwischen der Bibel und seinen naturkundlichen Berechnungen aufzulösen. Er greift erstaunlicherweise auf die Theorie der Plattentektonik vor, wenn er behauptet, dass die Sintf lut mehr als lediglich eine Überschwemmung war: »Es sey dieselbe [die Sintf lut] nicht wie man insgemein geglaubet/ aus einer blossen Überschwemmung und alleinigen Uberf luß der Wasser geschehen/ sondern über diß eine Zerreissung des 696

Ebd., 1. Buch, 11. Kap., S. 98 f. von Greyerz, Wissenschaft, Endzeiterwartungen und Alchemie in England des 17. Jahrhunderts, S. 210; Kempe, Die Sintf luttheorie von Johann Jakob Scheuchzer, S. 485– 501; ders., Wissenschaft, Theologie, Auf klärung. 698 T. Burnet, Theoria Sacra Telluris, 1. Buch, 4. Kap., S. 23 ff. 697

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äusseren Erdreichs darzu kommen/ und dieselbe in die grosse Tieffe hinunter gesunken.« 699 So seien durch die Gewalt der Sintf lut die Kontinente, Meere, Bergen und Inseln entstanden, ist er überzeugt. Anders kann sich Burnet die Sintf lut logisch nicht erklären, denn er stellt fest, dass die heutige Gestalt der Erde mit ihren hohen Bergen die Wirkung der Sintf lut vereitelt hätte. Er glaubt, die äußeren »Gegenden« (d. h. die neu entdeckten Kontinente) der Erdkugel seien auseinandergebrochen und die Spalten lägen dort, wo die Meere am tiefsten sind. Diese These des Bruchs stützt er mit der – wohl selbst beobachteten – geologischen Struktur der Felsen in den Bergen. Diese Unordnung der Klippen, Inseln etc. hätte vor dem »Erden=Fall« nicht entstehen können, denn vorher sei die Erde perfekt gewesen. Auch die Naturgewalten wie Erdbeben und Vulkanausbrüche können zwar die »Unebenheit« der Erde vermehren, aber sie reichten niemals aus, die Welt so zu formen, wie sie heute bestehe.700 Indem Thomas Burnet eine lineare Erdgeschichte entwirft, kann er diese mit der Menschheitsgeschichte in Einklang bringen und vor dem Hintergrund der Entsprechung des Mikro- und Makrokosmos synchronisieren. So wie der Mensch durch den Sündenfall seine erste, paradiesische Natur verloren hatte, so hat der »Erden=Fall« der Welt die paradiesische, perfekte Gestalt geraubt. Was danach folgt, ist entsprechend der Vorstellung der Menschheitsgeschichte eine Zeit des Niedergangs, eine viertausend Jahre währende »allgemeine Verderbung der Welt« durch die Sintf lut.701 Diese Schilderung der Naturgeschichte als Verfallsprozess, das sei hier nebenbei bemerkt, brachte Thomas Burnet in Widerspruch zur gängigen utilitaristisch-optimistischen Haltung der Physikotheologen.702 Ist die Erd- und Menschheitsgeschichte erst einmal eng verzahnt, so bezieht sich die eschatologische Hoffnung sowohl auf den Menschen wie auf die Natur. Oder anders ausgedrückt: auch aus der Erdgeschichte können Erkenntnisse über die letzten Dinge gewonnen werden. Burnet folgert aus den Schriften antiker Autoren, namentlich Platon und Pythagoras, sowie aus dem Buch Moses, dass die Welt dereinst untergehen werde, so wie sie schon einmal durch die Sintf lut untergegangen sei. Die antike Lehre vom Untergang der Welt stimmt für ihn mit der Bibel überein. Gemeint ist mit der antiken Lehre die platonisch-pythagoräische Vorstel699

Ebd., 1. Buch, 10. Kap., S. 85. Ebd., 1. Buch, 10. Kap., S. 87–92. 701 Ebd., Vorrede (unpaginiert) S. b2. 702 Der britische Theologe und Botaniker John Ray (1627–1705) kritisierte Burnet und meinte, die Erosionsprozesse seien zweckmäßig von Gott zum Wohl des Menschen eingerichtet worden. Auch der deutsche Albert Fabricius (1668–1736) wandte gegen Burnet ein, dass die Veränderungen in der Natur im einzelnen als Verschlechterung empfunden werden können, in der Gesamtschau aber keineswegs. Vgl.: Krolzik, Physikotheologie, S. 590–596. 700

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lung von der Wiederbringung und »Wieder=Umbwendung der Sachen«.703 Thomas Burnet ist mit den Kirchenvätern überzeugt, dass das Zeitalter bis zur großen Umwandlung der Dinge 6000 Jahre umfasse. Er versucht im vierten Kapitel des dritten Buches das Ende der »heutigen Welt« zu bestimmen. Die Berechnung lasse sich astronomisch aus der »Wiederbringung des Himmels« ableiten. Burnet teilt die platonische Auffassung, wonach das Ende der Welt, das »Grosse Jahr« dann eintreten werde, wenn die Sterne in der gleichen Konstellation stehen würden wie am Anfang der Welt, wenn der Weltenlauf zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt sei. Das Ende der Welt ist nach Burnet im Ablauf der Natur angelegt und das Wissen darüber kann allein aus der Naturerkenntnis gewonnen werden. Das Weltende hat somit eine naturwissenschaftliche Komponente. – Burnet muss aber am Ende des Kapitels eingestehen, dass er den gesuchten astronomischen Zeitpunkt nicht bestimmen könne.704 Umso mehr weiß er über das bevorstehende Tausendjährige Reich zu berichten: »Dann also wird auff dieses Trauer=Spiel der Welt eine erfröhliche Veränderung erfolgen«. Christus werde nach dem Weltenbrand wie ein Sieger auf die Welt niederkommen. Die Gottlosen würden dem Teufel überantwortet und die Heiligen triumphieren.705 Das letzte Buch ist ganz der Verheißung gewidmet und der Leser erfährt, dass die Welt bei der Verbrennung nicht ganz zunichte gehen, sondern erneuert werde. Diese erneuerte Welt – das zweite Paradies – werde wieder schön und geordnet sein: im zweiten Paradies sei immer Frühjahr. Kurz: nach der Verbrennung fange das glückselige Jahrtausend auf Erden an. Erst nach dem Tausendjährigen Reich erfolge die Vollendung aller Dinge. Angesichts des Eintretens Thomas Burnets für die antike Wiederbringungslehre erstaunt es nicht sonderlich, dass er in Thomas Beverley einen eifrigen Verteidiger der Theory of the Earth fand. Dieser Sachverhalt zeigt, dass Burnets Buch nicht zufällig den Weg in die Bibliothek Lochers gefunden hatte und dass zwischen einer mystisch-theosophisch gefärbten chiliastischen Diskursebene einer Jane Leade und einer naturphilosophischgelehrten durchaus enge Verbindungen bestanden.706 Über Johann Heinrich Lochers eschatologisches Verständnis lässt sich bislang zusammenfassend feststellen, dass er intensive Studien zur Endzeitberechnung betrieben hat und verschiedene Modelle zu synchronisieren trachtete. Hinter diesen Berechnungen steht die theosophische Vorstellung, dass Gott sich in der Bibel, im Individuum und in der Natur zu 703

T. Burnet, Theoria Sacra Telluris, 3. Buch, 2, Kap., S. 292 u. 295. Ebd., 3. Buch, 4, Kap., S. 309–317. 705 Ebd., 3. Buch, Beschluß., S. 401. 706 Johnston, Thomas Beverley, S. 600; vgl.: von Greyerz, Wissenschaft, Endzeiterwartungen und Alchemie in England des 17. Jahrhunderts, S. 209. 704

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erkennen gebe. Wenn Gott sich nun nach geometrischen und mathematischen Gesichtspunkten aus der Natur erfahren lasse, so war man überzeugt, dass sich diese neue Wissenschaft auch auf die biblische Gotteserkenntnis anwenden lasse. Wie Locher sich die Endzeit vorstellte, kann vorerst bloß aus den gemeinsamen Tendenzen in den eschatologischen Schriften seiner Bibliothek plausibel gemacht werden. Aus Lochers Berechnungen zum Alter der Welt und seinen akribischen Vergleichen verschiedener Modelle wird es wahrscheinlich, dass er sich einen rationalen Zugang zu den letzten Dingen erschließen wollte. Er neigt somit eher zu einem Eschatologiebegriff, wie er in England von einer gebildeten Oberschicht gepf legt wurde. Das passt soziologisch gesehen gut ins Bild, wird Locher doch fassbar als Repräsentant eines pietistischen Milieus, das sich hauptsächlich aus Bildungseliten rekrutiert. Psychologisch gesehen, haftet einem sozusagen verwissenschaftlichten Eschatologiebegriff neben allen Momenten der Angst auch eine gehörige Portion Optimismus an. Die Zukunftshoffnung lässt sich an zwei Tendenzen ablesen: Die chiliastische Lektüre, die Locher pf legte, ist erstens einem Postmillennarismus verpf lichtet. Und zweitens spielt immer wieder die kirchengeschichtliche Vorstellung eine Rolle, wonach man sich im letzten endzeitlichen Stadium der als Philadelphia bezeichneten Geistkirche oder Sammlung der Frommen befinde. In diesem Optimismus ist die Hoffnung auf bessere Zeiten angelegt und das (politische) Bestreben des Pietismus, auf eine Reformation der Welt hinzuarbeiten, damit baldmöglichst die Voraussetzungen zur Wiederkunft Christi gegeben seien. Diese Vorstellungswelt wird zudem verdichtet durch weitere Elemente, wie das große Weltjahr Platons und die Wiederbringungslehre – Elemente, die Jane Leade in ihre chiliastische Vision einband. Es ist daher gut möglich, dass sich Locher erst als Reaktion auf die Engländerin mit Burnet und Beverley auseinander zu setzen begann. Mit Block auf Lochers geistigen Haushalt ist Hans Schneiders im Aufsatz »Die unerfüllte Zukunft« vertretene Auffassung, der eschatologische Paradigmenwechsel sei mit dem Wirken Speners und seiner Hoffnung auf bessere Zeiten verbunden, zumindest für den radikalen Pietismus zu relativieren. Ebenfalls anzuzweifeln ist Schneiders Vermutung, der radikalpietistische Chiliasmus hätte seine soziale Basis in der krisengeplagten Handwerksgesellschaft und im verarmten Adel gefunden: Es scheint viel mehr plausibel, dass die chiliastische Mischung aus endzeitlicher Angst und millennaristischem Optimismus im Bürgertum, das sich in einer frühen sich konstituierenden Phase befand, eine beachtliche Anhängerschaft fand. Hans Schneiders treffende Feststellung, dass die große Zeit der eschatologischen Naherwartung im zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts vorbei gewesen sei, als sich in Europa die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse stabilisierten, würde so einen neuen Sinn

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erhalten.707 – Zu dieser Zeit begann sich das Bürgertum als neue gesellschaftliche Formation zu etablieren und die Auf klärung erreichte inzwischen breitere Bevölkerungsschichten. Schließlich kann anhand von Johann Heinrich Lochers Sammlung eschatologischer und chiliastischer Schriften abgeleitet werden, dass Mystik und Chiliasmus damals keineswegs einen unüberbrückbaren Gegensatz bilden mussten und sich auch mit kosmologischen Naturbetrachtungen kombinieren ließen. Eine egozentrische Mystik, ein animistischer und pantheistischer Naturbegriff und das chiliastische Hoffen auf bessere Zeiten verschränken sich in der Vorstellung eines im Menschen wie in der Natur wirkenden und lenkenden Gottes, der seine Schöpfung auf die Vollendung hin steuert. Es entsteht ein organischer Zusammenhang zwischen Natur und Endzeit, der zum Motor für eine Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft wird. Leitbild dieses Wissenschaftskonzepts ist der Gedanke, dass die Erforschung der verborgenen Kräfte der Natur lediglich eine Wiederaneignung des ursprünglich durch Gott offenbarten Wissens sei: Wissensakkumulation versteht sich als Vorbereitung auf die Wiederkunft Christi. – Im rosenkreuzerischen und hermetischen Wissenschaftsdenken steckt ein Keim eines optimistischen Fortschrittsglaubens. Ein Glaube an den Fortschritt, der noch ganz in die Vorsehung eingebettet ist; der Fortschritt wird zwar als solcher wahrgenommen, aber noch heilsgeschichtlich interpretiert. Zugleich jedoch scheint er bereits auf einen modernen Begriff zu verweisen, indem die Welt als veränderbar und verbesserbar verstanden und der Mensch als Hervorbringer des Fortschritts – wenn auch noch als Werkzeug Gottes – erkannt wird. Der Mensch tritt mit der speziellen Providenz in die Geschichte ein, denn der menschlich beeinf lusste Fortschritt in der diesseitigen Welt wird als wahrnehmbares Zeichen für die Hoffnung auf eine bessere Welt gedeutet. Es stellt sich die Frage, inwieweit sich Fortschritt und Vorsehung als Denksysteme ausschließen, oder ob der eine Begriff sich aus dem anderen entwickelt. Karl Löwith bemerkte dazu: »Nur nolens volens wurde das Christentum in den Strudel der Weltgeschichte hineingezogen und nur als säkularisiertes und rationalisiertes Prinzip kann die providentielle Absicht Gottes in ein System [der Geschichtsphilosophie (kb)] gebracht werden.«708 Löwith begreift das christliche Glaubenssystem ahistorisch und die Vorsehung rein auf das Jenseits bezogen. Die gegenteilige Meinung nimmt 707

Schneider, Die unerfüllte Zukunft, S. 208, 207 und S. 212. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 207. Zu Löwith ist zu bemerken, dass er den Begriff der Providenz generell im Sinne der Prädestination verwendet. Ob sein Denkgebäude unbeschadet den Begriff der speziellen Providenz aufnehmen kann, scheint mir fraglich. Vgl. ebenfalls: Ders., Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit [Rezension], S. 195–201. 708

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Hans Blumenberg ein: Er interpretiert den Prozess der Säkularisierung nicht als Verweltlichung der Eschatologie, sondern als Verweltlichung durch Eschatologie.709 – Die Frage anders gestellt: Dürfen wir in den chiliastischen Denkströmungen, die auf der speziellen Providenz fußen, erste Ansätze eines Fortschrittsdenkens und einer beginnenden Säkularisierung des Geschichtsbewusstseins erkennen?

2.6 Die Wiederbringung aller Dinge: Literatur im radikalpietistischen Umfeld Nach dem Wiedergeburtsereignis und der Festigung im Glauben durch die Lektüre Jakob Böhmes haben wir keine Zeugnisse mehr, die einen direkten Rückschluss auf Lochers Leseverhalten und seine geistige wie religiöse Entwicklung zuließen. So war ich gezwungen, allein anhand der Bücherliste und aus eingestreuten Äußerungen des Zürcher Pietisten die weitere Entwicklung seiner Interessen und Anschauungen zu rekonstruieren. Für die letzten Jahre vor der Konfiskation der Bibliothek eröffnen nun die Tagebücher Johann Kaspar Hardmeyers einen neuen, aufschlussreichen Einblick in die Gedankenwelt Lochers. 2.6.1 Einflüsse aus Parallelbewegungen Das beinahe gleichzeitige Auftreten des Pietismus mit ähnlichen Bewegungen in England, den Niederlanden wie auch im katholischen Raum öffnet die Frage nach der gegenseitigen Beeinf lussung und nach gemeinsamen religionssoziologischen Wurzeln. Weiter stellt sich die Frage nach direkten und indirekten Beziehungen zwischen den Vertretern dieser Strömungen. Welche Werke paralleler Bewegungen wurden durch Pietisten übersetzt und rezipiert? Gab es persönliche Kontakte? – Diesem auf den protestantischen Raum fokussierten Fragenkomplex ist beispielsweise der Auf bau des ersten Bandes der Geschichte des Pietismus verpf lichtet, und der von Hartmut Lehmann u. a. herausgegebene Sammelband »Jansenismus, Quietismus, Pietismus«710 geht den Gemeinsamkeiten zwischen dem Pietismus und den innerkatholischen Reformbewegungen nach. Anhand des Bücherbesitzes Johann Heinrich Lochers kann im Einzelfall nachgezeichnet werden, welche parallelen Bewegungen indirekt durch die Rezeption ihrer Hauptwerke den Pietismus beeinf lusst haben könnten. 709 710

Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 55. Lehmann (Hg.), Jansenismus, Quietismus, Pietismus.

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Es interessieren die Herkunft dieser Schriften, ihre Menge, und schließlich die Frage, wie sich diese Schriften in Lochers Lesewelt einbetten lassen. 2.6.1.1 England: Puritaner und Quäker Kehren wir nochmals zurück zu Johann Christoph Holtzhausen und dessen Teutscher Anti-Barclajus von 1691. Johann Heinrich Locher hat wahrscheinlich diese Schrift im Zusammenhang mit der Kontroverse um Jakob Böhme gelesen. Darauf deutet die Tatsache hin, dass er auch die Entgegnung aus der Feder des radikalen Pietisten Johann Jakob Zimmermann besaß. Es besteht deshalb die Vermutung, Locher könnte durch diese Streitschrift auf Robert Barclay aufmerksam geworden sein: Denn im Anhang wendet sich der Kollege Speners gegen Böhme und kritisiert: »Weil dann nun in diesem Seculo bey einigen so viel Wercks gemacht ist von des Böhmens Schrifften; und dann selbige geschickt befunden werden/ die Gemüther der fürwitzigen Menschen zu der Quackerey zu praeparieren.«711 Denkbar ist also, dass durch Holtzhausens Streitschrift das Interesse des Zürcher Pietisten und Böhme-Anhängers auf den Theologen und Apologeten des Quäkertums in England gelenkt wurde. Beachtenswert ist jedenfalls, dass sich Johann Heinrich Locher nicht bloß Zimmermanns Orthodoxia Theosophiae Teutonico Böhmianae beschaffte, sondern eben auch Robert Barclays Apologie, 1684712 , gegen die sich der Teutsche Anti-Barclajus in erster Linie wendet. Auch wenn die These, Locher sei durch die Auseinandersetzung um Jakob Böhme erst auf die Verteidigungsschrift der Quäker aufmerksam geworden, bloß eine Annahme bleibt, so erkennen wir immerhin deutlich die Systematik, mit der sich der Zürcher durch die Literatur arbeitete. Der schottische Adlige, Robert Barclay (1648–1690)713, schuf mit der Apologie das theologische Hauptwerk der Quäker. Das Ziel der Schrift ist es, die unter Karl II. verfolgten Quäker zu rehabilitieren. Mit fünfzehn »Gotts=gelehrten Sätze[n]« will Barclay gegen die über die Lehre der Quäker verbreiteten Lügen und Schauermärchen anschreiben. Und er gibt 711

Holtzhausen, Teutscher Anti-Barclajus, S. 1155. R. Barclay, Eine | Apologie | Oder | Vertheidigungs=Schrifft/ | Der | Recht= Christlichen | Gotts=Gelehrtheit/ | Wie solche | Unter den Leuten/ die in dem Englischen und Teutschen spöttisch (wie=|wol von diesen noch darzu unteutsch) Quaker benahmet seynd/ | gehalten und gelehret wird. | Oder | Eine völlige Erklärung und Vertheidigung derselbigen ihrer Gründe und Lehren/ | durch unterschiedliche aus denen H. Schrifften/ gesunder Vernunfft/ und dem Zeugnüß einiger | in denen alten als itzigen Zeiten berühmter Männer gezogene Darstellung. | Nebenst einer vergnüglichen Antwort auf die schärffesten Gegensätze/ | so gemeinlich wider sie gebrauchet werden. | Welche | Dem König in Groß=Britannien/ | Carl Dem Anderen/ | überreicht worden, o. O. 1684 [HAB Wolfenbüttel Xb 86]. 713 Art. Barclay Robert, BBKL , Bd. 1, S. 367 f. 712

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zu bedenken, dass, was er schreibe, weniger aus dem Kopf und viel mehr aus dem Herzen stamme. Die fünfzehn Glaubenssätze haben eine große Ähnlichkeit mit den religiösen Vorstellungen, die Johann Heinrich Locher aus seiner breiten Lektüre aufsog. Beispiel hierfür bildet das Bibelverständnis Barclays: Auch er ist überzeugt, dass die Bibel aus der Eingebung des Geistes entstanden sei. Daher sei die Bibel bloß eine Erklärung der geistigen Erkenntnisquelle und nicht die Quelle selbst.714 Weitere Übereinstimmungen sind feststellbar in der Ablehnung der Prädestinationslehre und in der großen Bedeutung, die der Wiedergeburt als Form der Rechtfertigung beigemessen wird: Die Wiedergeburt geschehe weder rein willentlich noch durch gute äußere Taten, sondern es sei Christus selbst, der diese Wirkung im Menschen hervorbringe. So werde der durch Adams Fall böse gewordene Mensch mit der Wiedergeburt wieder vollkommen. Die Vollkommenheit sei aber bloß graduell und lasse dennoch die Möglichkeit der Sünde zu.715 Daraus folgert Barclay ebenfalls, dass der wahre Gottesdienst innerlich im Geist geschehe. Es gibt aber durchaus auch Unterschiede zwischen den Quäkern und einer pietistischen Haltung, wie sie Johann Heinrich Locher geteilt haben dürfte. Eine Differenz dürfte in der Bildung einer eigenständigen Glaubensgemeinschaft bestehen. Locher lehnte dies, wie wir am Beispiel der Labadisten sehen werden, strikt ab. Aus diesem Grund beteuerten auch viele Pietisten, sie seien keine Quäker. Eine weitere Differenz dürfte wohl im Habitus und in der gesellschaftlichen Absonderung der Quäker bestanden haben. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Zürcher Pietistinnen und Pietisten aus ihrer inneren Gemeinschaft mit Gott abgeleitet hätten, dass sie vor der eitlen Gesellschaft gerettet seien und darum allgemein gültige Umgangsformen, wie die barocke Anrede, das Heben des Hutes oder Verbeugungen getrost ablegen dürften.716 Über den pietistischen Wortführer der zweiten Generation, Johann Heinrich Bodmer, wird ein gegenteiliges Verhalten überliefert: Er soll nach seiner Amtsenthebung am 17. März 1716 im Anschluss an die Ratsversammlung mit Stock und Degen auf der unteren Brücke hin und her gewandelt sein, als wäre nichts geschehen. Die Provokation des Pietisten bestand somit nicht in der quäkerischen Verweigerung der Insignien der Macht, sondern in deren demonstrativen Inanspruchnahme.717 Ein weiteres Werk einer führenden Persönlichkeit der Quäker-Bewegung befand sich in Lochers Besitz: William Penns (1644–1718)718 Forderung der 714 715 716 717 718

R. Barclay, Eine Apologie, S. 40 [3. Glaubenssatz]. Ebd., S. 134 u. 168 [7. und 8. Glaubenssatz]. Ebd., S. 383 f. [15. Glaubenssatz]. Meister, Helvetische Szenen der neuen Schwämerey und Intoleranz, S. 141. Aring, Penn, William, S. 186 ff.

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Christenheit fürs Gericht, 1678719, eine Schrift, die wie jene von Robert Barclay als hochgradig gefährlich eingestuft und konfisziert wurde. Der Traktat rückt eschatologische Denkfiguren in den Vordergrund, die unter den fünfzehn Glaubenssätzen Robert Barclays gänzlich fehlen. William Penn vertritt eine populäre Apokalyptik. Er meint, der ›Letzte Tag‹ breche jetzt an und die Christenheit solle sich munter darauf vorbereiten. Der Tag des Herrn werde brennen wie ein Ofen und die Gottlosen und Verächter würden wie Stroh von den Flammen verzehrt. Der Herr werde mit Feuer und Schwert das Fleisch und die Anbeter des Fleischlichen richten, denn groß sei die Scheinheiligkeit der Christen. Der Traktat ist eine Ermahnung zur Umkehr nach quäkerischen Grundsätzen: Penn fordert die Menschen auf, das göttliche Licht im Herzen zu suchen.720 Nichts deutet darauf hin, dass Johann Heinrich Locher zentrale Denkfiguren aus der Quäkerbewegung entlehnt hätte. Es erscheint plausibler, dass er sich lediglich für diese in einzelnen Glaubenssätzen recht ähnliche Glaubensrichtung – die auch einige Zeit als Fremdbezeichnung für seine eigene Überzeugung herhalten musste – interessierte. Für diese Annahme spricht, dass rein numerisch die Zahl der antiquäkerischen Schriften jene der quäkerischen übersteigt. Locher befasste sich mit zwei theologischen Streitschriften, die sich früh gegen eine befürchtete Verbreitung des Quäkertums in Deutschland wandten. Der Quäcker=Grewel, 1661721 wurde im Namen des Hamburger Ministeriums verfasst und hat den dortigen Hauptpastor Johann Müller zum Autor, denselben, der bereits gegen Hoburg die Feder erhoben hatte. Über die Quäker schreibt er, sie seien Wölfe im Schafspelz, die gegen Bosheit, Geiz, Tyrannei und Ungerechtigkeit der Herrschenden 719 Penn, Forderung der Christenheit | fürs Gericht: | Sampt | Einer freundlichen Heymsuchung | in der Liebe Gotes/ an alle diejenige un=|ter allerly Secten und Religionen, welche | eine Begierde und Verlangung haben nach der | wahren Erkändtnüß Gottes/ auff daß sie ihm | in der Warheit und Gerechtigkeit möchten | dienen und anbeten/ sie seyen auch wie | sie wollen. || Wie auch | Ein Sendbrieff an alle diejenigen/ die | unter der Christlichen Confession, und | von den eußerlichen Secten und Gemeinden | oder Kirchen abgesondert sind. || Und auch zuletzt | Ein Sendbrieff an alle diejenigen/ die | von dem Tag ihrer Heymsuchung empfind=|lich seyn geworden. || Welches alles in Englichser Sprache | geschrieben ist | von | Wilhelm Penn, | und in Hochteutsche Sprache treulich transferieret, Amsterdam ( Jakob Claus) 1678 [ZB Zürich Gal XXVIII 444]. 720 Ebd., S. 3 f. u. 11. 721 Müller, Quäcker Grewel | Das ist | Abscheuliche/ auffrürische/ verdam |liche = = Jrthumb der Neuen Schwermer/ | welche genennet werden | Quäcker | Wie sie dieselbige in ihren Scar=|tecken/ Allarm/ Standarte/ Pannier/ | Königreich/ Eckstein/ und sonst schrifft=|lich und mündlich mit grossem Er-|gernis außgebreitet. | Auff Anordnung Eines Edlen Hochweisen | Raths der Stadt Hamburg | Dem Einfältigen zu treuhertziger War=|nung kürtzlich gefasset/ gründlich wiederlegt/ | und in Druck gegeben | Durch | Etliche hierzu verordnete deß Ministerii | in Hamburg | Mit einem vierfachen Register, Hamburg (Michael Pfeifer) 1661 [HAB Wolfenbüttel Xb 115].

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und für Warmherzigkeit und Gerechtigkeit predigten. – Doch alles zum Schein, denn sie predigten eine irrige Lehre, kritisierten die Sakramente und hielten die Leute von der wahren Erkenntnis Gottes ab. Aufgeschreckt durch vermeintliche quäkerische Versammlungen, die im Sommer 1660 in Hamburg stattfanden, und an denen sogar Frauen – den geistlichen Stand verspottend – gepredigt hätten, vermischt Müller nun im Folgenden das Quäkertum mit deutschen Frömmigkeitsformen: Er bezichtigt die Quäker eines betrügerischen und tückischen Geistes. Eines Geistes, der sich auf Nikolaus Storch, Andreas Karlstadt, Thomas Müntzer, Kaspar Schwenckfeld, Jan van Leiden, Valentin Weigel, Paracelsus, Hans Engelbrecht und Elias Praetorius (»ein heilloser Schandbube«) berufe. Die Quäker würden vorgeben, nie Dagewesenes zu verkünden und wärmten dabei – nach Müller – bloß altes längst widerlegtes Zeug auf.722 – Dass die Pietisten über lange Zeit als Quäker bezeichnet wurden, dazu trug Johann Müllers Streitschrift gegen den »Abscheuliche[n]/ auffrürische[n]/ verdamliche[n] Jrthumb der Neuen Schwermer« gewiss seinen Teil bei. In Lochers Bücherschrank stand weiter Johann Lassenius (1636- ?)723 kritische Auseinandersetzung mit dem Quäkertum. Dieser Theologe ist überzeugt, es sei die Absicht des Teufels, Ketzer zu erzeugen und die Menschen von Gott fort zu ziehen. So seien auch die Quäker vor fünf Jahren in Schottland entstanden, von wo aus sie sich nach England und Holland ausgebreitet »und endlich leider! auch in Teutschland eingeschlichen« hätten.724 Bemerkenswert ist, wie Lassenius die Lehre der Quäker beschreibt: Die Quäker würden von sich behaupten, dass Christus in ihnen einwohne und sie »rege und bewege zu reden«. Das sei die grundlegende Gemeinsamkeit im quäkerischen Glauben. Daneben gebe es viele verschiedene Meinungen, wie beispielsweise, ob der Messias bereits gekommen sei oder eben noch nicht. Lassenius wertet die Quäker als eine sehr pluralistische Bewegung; eine Beobachtung, die in hohem Grad letztlich auch auf den Pietismus übertragen werden kann.

722

Ebd., S. 13–19. Carsten, Johann Lassenius, S. 788 ff. 724 Lassenius, Historische und Schriftmässige | Erörterung/ der vor wenig Zeit in En=|geland und Schottland entstandenen | neuen Secte | Der | Quacker/ | Darin so wol aus allerhand hiervor | ausgegebenen Englischen Schrifften/ als eigen=|ner Erfahrung und f leißiger Nachforschung/ nicht al=|lein der Quacker Ursprung/ Fortgang und Leben/ klar und deut=|lich angezeiget/ sondern auch ihre Lehre und Glauben/ wie sie den=|selben so wol durch ihre gedruckte Schrifften als auch Mündliche | Predigten darthun/ sampt ihren Beweisthümern aus H. Schrifft | genommen/ iedermänniglich zum Asehen einer solchen greulichen | Lehre vor Augen gesellt wird: Zusampt kurtzer iedoch | deutlicher Widerlegung aller deroselben | Irrthümern. | In XIV. Capiteln abgefasset. | Alles zur Ehre GOttes/ und Erbauung | der Christlichen Kirchen, Hamburg 1661 [ZB Zürich Gal XVII 446], S. 6 ff. 723

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2.6.1.2 Miguel de Molinos Früh wurde Johann Heinrich Locher auf den spanischen Jesuiten Miguel de Molinos (1628–1696/97)725 aufmerksam. Schon Mitte der Neunzigerjahre des 17. Jahrhunderts berichtete er seinem Freund Johann Kaspar Hardmeyer begeistert über den spanischen Mystiker. Dass dieser wegen seiner Frömmigkeit verfolgt und eingekerkert wurde, dürfte Lochers Glauben an die Endzeit, in welcher der Vorstellung nach in allen Konfessionen die echten Frommen verfolgt würden, nur bestärkt haben. Der Bonstetter Pfarrer fasste das Gespräch vom 26. Februar 1695 in seinem Tagebuch zusammen: Von Michael Molinos dem Urheber der Molinisten, daß der in den 24. Jahren wie keiner Maß gehalten sich bekenet hädte beÿ seiner Rechtfertigung: war ein Welt Priester, aber damit er desto freÿer den Mysticis Meditationibus abwarten möchte! Wäre hernach verurtheilt worden, daß er mit Wasser und Brod bis auf den Tod auf rauhem Geliger büessen solte ob er wol zu erst zum Feüer verurtheilt gewesen: dann er ihme selbs geweissaget hädte der Tod des Feüers dann aber vorzubauen, […] damit er als ein Lügner darinen erfonde[n] würde, wäre ihm die lezte Todesahrt zuerkennen gewesen. Bapst Odescalchi [= Innozenz XI.] sol sin Göner gewesen seÿn. Er Miguel selbs war von einem guten Hause in Spanien gebührtig; bef lissen sich der Kunst bemühungen; ward sonst ein Ordensmann ohne Herden und ohne Pfrund den er keine begehret.726

Der Verzicht auf Reichtum oder auf eine fette Pfründe und die Erduldung der Verfolgung und des Todes um des mystischen Glaubens willen ist Teil des guten Werkes. Seine Biographie steht als Musterbeispiel für die gelebte Nachfolge Christi. Molinos wird hier nicht bloß als geistlicher Lehrer geschildert, sondern ebenso als Vorbild für die Alltagsbewältigung. Die Lebensgeschichte des Molinos ist ganz offensichtlich Bestandteil seiner Frömmigkeit und Locher interessierte sich sowohl dafür, als auch für dessen Schriften. Dementsprechend sammelte Johann Heinrich Locher auch Schriften über Miguel de Molinos und dessen Leidensweg. Das Standardwerk darüber war die Curieuse Beschreibung von 1688727, ein Reisebericht des ang725

Tellechea Idigoras, Molinos, Miguel de, S. 203–205. ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 290 f., Eintrag vom 26. Februar 1695. 727 G. Burnet, Des berühmten Englischen Theologi/ | D. Gilberti Burnets/ | Durch die Schweitz/ Italien/ auch | Oerter Deutchlandes und Franck=|reichs im 1685 und 86 Jahre gethaner | Reise | Und derselben | Curieuse Beschreibung/ | Worinnen die neusten | Im Geist= und weltlichen Staat entstandene | Revolutiones enthalten; | Anfänglich in Englisch= nachgehends Fran=|zösich= itzo aber in deutscher Sprache beschreiben/ und in | dieser andern Edition nach dem Frantzösichen mit | Fleiss übersehen und verbessert; | Nebenst beygefügter einer hochverständigen | Person vollständigen Ausführung | Des | QVIETISMI | Und | Lebens=Beschreibung Molinos, | Wie auch vieler anderen Italien betreffender | merkwürdiger Begebenheyten, Leipzig 1688 [ZB Zürich Z A III 665]. 726

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likanischen Theologen Gilbert Burnet (1643–1715)728. Der Vertreter der auf Toleranz gesinnten Latitudinaristen bereiste Frankreich, die Schweiz 729 und Italien und berichtete über seine Eindrücke in Briefform. Er weilte während dem Inquisitionsprozess gegen Molinos in Rom und berichtet im dritten Teil in anklagender Weise über den römischen Klerus, der sehr auf seinen eigenen Nutzen bedacht sei. Und er beschreibt Molinos als innerkatholischen Gegenpol: Dieser habe sich nicht dem »Markethender= Glauben« hingegeben, sondern sich der Mystik gewidmet (22), berichtet Burnet aus Rom. So gesehen wertet er den Prozess als ein Zeichen des Niedergangs. Der Widerstand gegen Molinos und seine Anhänger sei entstanden, weil sich die »Crämerey« unter den Klerikern durchgesetzt habe, und der Glaube in Abnahme begriffen sei (42). Eingehend beschreibt der Anglikaner die Strömung um Molinos als innerkatholische Reformbewegung und schildert die Lehre als eine dreistufige Anthropologie: Die unterste Stufe sei der Status animalis, danach folge der Status rationalis und schließlich die menschliche Vervollkommnung, der Status contemplationis. Das Ziel der der Kontemplation verschriebenen Personen sei, »ihre Gemüther in einer innerlichen Ruhe und Zufriedenheit zu erhalten« (30 f.). Der ganze Inquisitionsprozess gegen den spanischen Weltgeistlichen muss Johann Heinrich Locher so sehr beschäftigt haben, dass er sich auch gleich die Anklageschrift besorgte, die in einem lateinischen und italienischen Sprachengemisch abgefasst war. Im päpstlichen Decreto Innocentio XI.730 konnte er erfahren, dass die Häresie ausgerottet (abolire) werden müsse, die Molinos mit Wort und Schrift verbreitet habe. Der Inquisition gehe es darum, die Kirche von falschen Dogmen zu reinigen. Anschließend folgen die 68 Anklagepunkte, die Propositionen. Aufgrund der Verurteilung der Mystik durch Papst Innozenz XI. musste für Locher ein Bild entstehen, dass die Mystik – der eher eine katholische Aura anhaftete – eben eine konfessionsübergreifende Strömung sei, die auf ein 728

Guggisberg, Burnet, Gilbert, S. 482 f. Gilbert Burnets tolerante Haltung in Glaubensfragen kann beispielsweise an seiner Einstellung zur Konsensusformel im Anhang zum zweiten Brief aus Zürich abgelesen werden: Er schildert den Fall Amyrauts, dessen relativierende Auffassung der Prädestination in der Zürcher Geistlichkeit heftige Abwehrreaktionen auslöste: Burnet tadelt, dass sich der Staat überhaupt in diesen Glaubensstreit – den er für nebensächlich hielt – einmischte. Dass die Obrigkeit die Geistlichkeit eine Glaubensformel unterschreiben ließ, ist für Burnet einen eindeutigen Machtmissbrauch. G. Burnet, Durch die Schweitz/ Italien/ auch Oerter Deutchlandes, S. 154. 730 Decreto | Del Ss N. S. Papa | Innocentio XI. | Con cui condanna com’ Heretiche le | infraseritte Propositioni | Di Michele de Molinos | Con Scommunica maggiore (riseruatano | solo à Sua Santità l’assolutione) à chi | tenesse, leggesse ò in altro modo | fauorisse li Libri del detto | Molinos, Venedig 1687 [HAB Wolfenbüttel A: 1223.28 Theol (2)]. 729

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wahres Christentum dränge und daher in allen Konfessionskirchen ausgegrenzt und verfolgt werde. Wann genau sich Johann Heinrich Locher mit Miguel de Molinos auseinanderzusetzen begann, ist schwer zu bestimmen. Es ist denkbar, dass er über seine guten Kontakte nach Venedig sehr früh von diesem erfuhr.731 Jedenfalls war er spätestens 1694 mit ihm vertraut, einige Zeit bevor die deutsche Übersetzung des Der Geistliche Wegweiser durch Arnold 1699 herausgegeben wurde. Lochers Beschäftigung mit diesem Werk hinterlässt dasselbe Bild wie bereits seine Auseinandersetzung mit Tauler und Thomas à Kempis: Weil er die Schrift weder im spanischen Original noch in der lateinischen Übersetzung August Hermann Franckes von 1687 lesen konnte, beschaffte er sich alle Ausgaben in den ihm zugänglichen Sprachen. Aus seiner Bibliothek entfernten die Examinatoren eine italienische Übersetzung, die 1685 in Venedig erschienen war, sowie eine französische und niederländische Ausgabe, die beide 1688732 verlegt worden waren. Inhaltlich liegt die Gvida Spirituale sehr nahe bei Tauler und Thomas von Kempen. Autoren, die Molinos neben den spanischen Mystikerinnen und Mystikern rezipierte. Auffallend ist aber die starke Gewichtung des stoischen Motivs der Seelenruhe. Die Elemente der Rheinischen Mystik, wie die Betonung des Heilsweges als Lebensinhalt und -ziel, sowie die Einwohnung als Mysterium treten zurück. Ebenso ist die Abgrenzung zu einer negativ empfundenen äußerlichen Welt nicht ausgeprägt. Eine Kirchenkritik, wie sie bei den protestantischen Mystikern anzutreffen ist, fehlt. Das äußere Christentum wird lediglich als ein anderer, wenn auch schwächerer Weg dargestellt. Die Eigenliebe bzw. der Egoismus hat für Molinos nur als Gegenspieler zur Seelenruhe Bedeutung. Die Gvida Spirituale ist in ihrer Weise praxisorientiert, indem sie sich als Anleitung zur Mystik versteht. Die innere Versenkung, die Passivität und Kontemplation sind die Motive, die hier lebenspraktisch herausgehoben werden. Dies geschieht nun aber nicht in einer Weise der kompletten Kontemplation, wie es das gängige Bild des Quietismus suggeriert. Ganz im Gegenteil: Johann 731 Vermutlich hatten Frankfurter radikalpietistische Kreise schon 1686 – ein Jahr nach Erscheinen der italienischen Übersetzung – Kenntnis von Molinos Schrift. Vgl.: vom Orde, Der Quietismus Miguel de Molinos bei Philipp Jakob Spener, S. 109. 732 de Molinos, GVIDA | SPIRITUALE , | Che disinvolge l’anima, e la conduce | per l’interior camino all’acquisto | della perfetta contemplatio-|ne, e del ricco tresoro del|la pace interiore. || Del Dottor | Michele di Molinos | Sacerdote | Aggiuntovi un breve Trattato della quotidiana | communione dell’istesso Autore. | In questa nuova editione dedicata | All’Illustris & Eccell. Sig. il Sig. | Giorlamo | Gradenigo, Venedig (Giaccomo Hertz) 1685. [HAB Wolfenbüttel A: 1223.28 Theol (2)]; de Molinos, Recueuil De Diverses Pieces Concernant Le Quietisme Et Les Quietistes, Ou Molinos, Ses Sentimens Et Ses Disciples/ Miguel de Molinos, Amsterdam 1688. – Vier Teilbände, der zweite Teilband enthält: Guide Spirituelle Pour Dégager l’Ame des Objets sensibles. Die holländische Ausgabe mit Druckjahr 1688 konnte ich nicht auffinden.

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Heinrich Locher konnte sich in der Lektüre Molinos’ in der Auf hebung des Gegensatzes zwischen einer vita activa und einer vita contemplativa bestätigt fühlen. Einen Gegensatz, den er anhand der Beschäftigung mit Böhme in seinem Glaubensbekenntnis thematisiert hatte. Für Miguel de Molinos besteht kein lebenspraktischer Gegensatz zwischen aktiver Betätigung in der Welt und stoischer Innerlichkeit. Er beruft sich auf Thomas von Aquin und hebt den Gegensatz im Willen Gottes auf: »Perche tutte queste occupationi [= Verrichtungen des Alltags] non sono contro la sua [= Gottes] volontà, nè contro la tua rassegnatione, essendo certo, che Iddio vol che tu mangi, studii, satichi, negotii &c. Onde per attendere a cotesti esercitii, che son della sua volontà, e di suo gusto, tu non esci dalla sua presenza, nè dalla tua rassegnatione.«733 Johann Heinrich Lochers Strategie des »still Sitzens«, die man in quietistischer Weise deuten könnte, hat, wie gezeigt, ihre Wurzel in den Nachstellungen durch den Pietistengegner, Chorherrn Schweizer. Ein ähnliches Verhaltensmuster legte übrigens auch Lochers Freund Heinrich Bodmer an den Tag, der sich erst, nachdem seine politischen Reformbemühungen gescheitert waren, aus den ›Weltgeschäften‹ zurück zog. Es mag sein, dass Locher seinen Rückzug mit quietistischen Elementen ideologisch überformte. Beachtenswert ist hingegen, dass Hardmeyer Molinos irrtümlich als den Gründer der Molinisten bezeichnet und nicht etwa als Stifter der Quietisten. Diese sprachliche Feinheit scheint darauf zu verweisen, dass Locher bewusst eine Trennung zwischen Molinos und dem Quietismus vornahm. Locher entwirft denn auch im Gespräch mit Hardmeyer kein quietistisches Molinos-Bild, er legt den Fokus lediglich auf die stoische Bedürfnislosigkeit. Die Frage nach dem Einf luss Miguel de Molinos auf den Zürcher Pietismus lässt sich nicht eindeutig beantworten. Angesichts der starken Wertschätzung der Mystik durch Locher ist anzunehmen, dass die Gvida Spirituale diese akzentuiert hat. Eine Verschärfung eines stark weltf lüchtigen Elementes lässt sich dagegen nicht beobachten.734 Locher dürfte den spanischen Mystiker vermutlich weniger im weltf lüchtigen Sinne rezipiert haben als dies beispielsweise Gottfried Arnold tat.735 Die positive Aufnahme ist einerseits in der allgemein hohen Wertschätzung der Mystik im Pietismus und besonders im Radikalpietismus zu suchen und andererseits in der Tatsache, dass die Pietisten sich in dieser ähnlichen Strömung innerhalb der katholischen Kirche wiedererkannten, die ebenfalls einer Verfolgung ausgesetzt war, und schließlich konnte man – wie Spener – in der Unter733

de Molinos, Gvida Spirituale, Libro Primo. Cap. XV. [§]108, S. 68. Die These F. Ernst Stoeff lers, wonach der Quietismus eine Hauptquelle des Radikalpietismus gewesen sei, lässt sich in dieser Gewichtung nicht bestätigen. Vgl.: Stoeffler, The Rise of Evangelical Pietism, S. 171 f. 735 Marti, Der Seelenfriede der Stillen im Lande, S. 101. 734

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drückung der katholischen Mystik ein allgemeines Zeichen des nahenden Weltendes erkennen, was Molinos um so attraktiver erscheinen ließ.736 Dass Miguel de Molinos durch den Pietismus rezipiert wurde, ist bekannt. Beachtenswert ist einzig, wie früh die Gvida Spirituale einen festen Platz in Lochers Mystikersammlung erhalten hat. An die positive Aufnahme dieser katholischen mystischen Strömung durch die protestantische Reformbewegung schließt die Frage an, wie sich der Pietismus zum Jansenismus, einer zweiten innerkatholischen Oppositionsströmung, verhält. Verwandtschaften zwischen Pietismus und Jansenismus liegen auf der Hand737: beide sind religiöse Bewegungen, die auf eine Generalreformation drängen und die apostolische Kirche wiederherstellen wollen. Hinzu kommt, dass dem Jansenismus seitens der Jesuiten vorgeworfen wurde, er sei ein Calvinismus in katholischem Kleid. Aber hier liegt vielleicht die große Differenz zum Pietismus, denn Ritschl meint andererseits, der Pietismus sei ein Rückfall zum Katholizismus. Diese in konfessionellen Zerrbildern ausgedrückte Gegenläufigkeit der beiden religiösen Strömungen kann beispielsweise am Verhältnis zur Prädestination festgemacht werden. Die Jansenisten beriefen sich auf Augustin und die Prädestination, die sie im Begriff der »zwingenden Gnade« mit der Werkheiligung verbanden. Mit dieser pessimistischen Heilskonzeption näherten sie sich stark der reformierten Orthodoxie an.738 Die radikalen Pietisten lehnten genau dies ab. Es ist wohl kein Zufall, dass Johann Heinrich Locher oder Kaspar Hardmeyer in der Mystik Miguel de Molinos eine Gegenbewegung zum strengen Augustinismus sahen und ihn mit den Molinisten – einer jesuitischen Strömung, die den Jansenismus bekämpfte und die menschlichen Willenskräfte als Voraussetzung zum Heil betonte – gleichsetzten. So lässt sich erklären, dass Locher an der rigoristischen und heterodoxen Strömung des Jansenismus kaum Gefallen fand. – In seiner Bibliothek steht denn auch kein einziges Werk jansenistischer Provenienz. Statt Schriften von Cornelius Jansen beschaffte sich Johann Heinrich Locher die Predigtsammlung des Jesuiten António Vieira (1608–1697) 739, eines portugiesisch-brasilianischen Mystikers und Chiliasten. Der Sam736 vom Orde, Quietismus Miguel de Molinos bei Philipp Jakob Spener, S. 118. – Gerhard Tersteegen bedientes sich beispielsweise der Biographien von katholischen Mystikern, um seine Geschichte des frommen Lebens zu zeichnen. Er bevölkerte die Auserlesene Lebensbeschreibung Heiliger Seelen mit Heiligen der katholischen Kirche, namentlich mit Angehörigen des Karmeliterordens. Vgl.: Mohr, Eigenart und Bedeutung von Tersteegens »Auserlesene Lebensbeschreibung Heiliger Seelen«, S. 181–206. 737 Vgl.: E. Hinrichs, Jansenismus und Pietismus – Versuch eines Strukturvergleichs, S. 136–158. 738 O’Brien, Jansen/Jansenismus, S. 502–509. 739 Madey, Vieira, António, S. 1488–1490. Vieira, Die Predigt des heiligen Antonius an die Fische. – Loetscher, António Vieira, Portrait eines Gewissens.

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melband Prediche varie, 1679740 in Lochers Bibliothek wurde wie die Gvida Spirituale in Venedig bei Giaccomo Hertz verlegt. In den Predigten António Vieiras geht eine mystische Frömmigkeit über in ein Christentum der Aktion und wird hoch politisch. Es scheint, dass in einer vorkritischen Phase, in der für politisches Handeln weder Theorien noch Gesellschaftskonzeptionen als Referenzgrößen dienten, die individuell gewonnene Ethik zur politischen Handlungsmaxime werden konnte. Eine mystische Innerlichkeit bietet sich als Plattform an, von der aus der verdorbene Zustand der Welt kritisiert werden kann. Ähnlich wie beispielsweise Friedrich Breckling – wenn auch wesentlich subtiler – kritisiert Vieira die ›verfaulte Welt‹, in der die Prediger nicht mehr danach leben, was sie predigen. Vieiras politisches Engagement galt beispielsweise dem Kampf gegen die Sklaverei. Er setzte sich als Missionar in Brasilien zudem für die Rechte der Indianer ein und predigte gegen die Judenverfolgung durch die heilige Inquisition. Johann Heinrich Locher dürften an dieser Predigtsammlung der kritische Blick auf die Welt und die auf Reformen drängende Mystik interessiert haben. Sein überkonfessioneller Standpunkt erlaubte ihm, auch Schriften eines Jesuiten in seine Bibliothek aufzunehmen. Überkonfessionell heißt aber für Locher nicht, dass konfessionelle Gegensätze aufgehoben sind. Das zwischen den Religionsgemeinschaften Verbindende ist für Locher die innere Herzensfrömmigkeit, die auf die Wiederherstellung der wahren apostolischen Kirche der Gläubigen drängt und Konfessionen überf lüssig macht. Den Jesuitenorden hält Locher für eine Kraft, die der allgemeinen Reformation entgegen steht. Am 10. Dezember 1695 klingt ein Gespräch über die Schlechtigkeit des Menschen zwischen Hardmeyer und Locher mit der Feststellung aus, dass die Jesuiten Antichristen seien, die sich überall einnisten und die Reformation behinderten.741 2.6.2 Die Labadisten und Pierre Yvon Ein Traktat hätte beinahe eine Freundschaft zerstört: Es handelt sich um Pierre Yvons (1646–1707)742 Die Wahre Reine Lehre Von der Göttlichen Praedestinatio. Dieses Werk befand sich bei der Bibliothekskonfiskation nicht unter Lochers Büchern. Verzeichnet wurde einzig die Ontdecking van de 740 Vieira, Prediche varie del P. Antonio Vieira, […] tradotte dalla lingua spagnuola nell’italiana da Bartolomeo Santinelli […], Venedig 1679. [Das Werk ist in der Bibliothèque nationale de France nachweisbar: BnF D 54473]. 741 ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 443, Eintrag vom 9./10. Dezember 1695. 742 Saxby, The Quest for the New Jerusalem; C. Schmidt, Yvon, Pierre, S. 884 ff.

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ware religie, Amsterdam 1685, welches als »Yvons Entdekung der Wahren Religion« in der Liste der Examinatoren verzeichnet ist. Laut Saxby ist die Schrift nicht mehr auffindbar.743 Der gute Freund ist der Zürcher Junker Heinrich von Schönau. Mit ihm schien Locher seit längerer Zeit seinen pietistischen Glauben geteilt zu haben. Der adlige Zürcher war ebenfalls wissenschaftlich interessiert und gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Collegium Insulanum. – Will man der Argumentation von Kempe und Maissen folgen, so darf der Junker als ein Anhänger der Frühauf klärung betrachtet werden.744 Ende Februar oder Anfang März 1683 verreiste Johann Heinrich von Schönau745 nach Heidelberg an den fürstlichen Hof. Dort verblieb er aber nicht allzu lange. Das Leben am Hof gefiel im nicht besonders, er vernahm am Heidelberger Hof durch Matthias Kramer und weitere Professoren von Monsieur de Labadie und dessen Gesellschaft, die unter der Leitung von Pierre Yvon stand. Von Schönau begab sich darauf nach Wieuwerd in Friesland und schloss sich der labadistischen Kolonie an. Dort verweilte er drei Jahre. Johann Heinrich Locher und Heinrich von Schönau blieben im Briefkontakt. Drei Briefe von Johann Heinrich Locher an seinen Freund in Wieuwerd und einer von Schönau an seinen Freund in Zürich sind als Bestandteil einer weiteren biographischen Schrift Lochers – entgegen der Versicherung, er hätte alle Briefe verbrannt – erhalten geblieben. Der Autor – d. h. Locher selbst – entschuldigt diesen Widerspruch treuherzig und meint, es seien noch Bruchstücke (»Fätzen«) des Briefwechsels in alten Dokumenten erhalten geblieben.746 743 Auffindbar ist lediglich die französische Originalfassung: Yvon, Idée de la Vraye Religion […], Amsterdam 1684 [Oxford]. Siehe die Werkliste Yvons in: Saxby, The Quest for the New Jerusalem, S. 450–453, hier Nr. 131. 744 Kempe/Maissen, Die Collegia der Insulaner, S. 11–13. 745 Ernst Eylenstein vermerkt in seiner Dissertation über Daniel Friedrich, dass Heinrich von Schönau zum erweiterten Kreis des Freundschaftsbundes Regnum Christi gehörte. Eine geheime Gesellschaft, der neben Daniel Friedrich auch Abraham von Franckenberg angehörte. Diese sah ihre Aufgabe in der Verbreitung eines Schrifttums, welches »in letzter Stunde« ein praktisches überkonfessionelles Herzenschristentum propagierte und insbesondere Johann Arndts Wahres Christentum verbreitete. Trotz der zeitlichen Distanz zur Entstehung der Gesellschaft soll ihr Heinrich von Schönau während seiner Zeit in Wieuwerd zugeneigt gewesen sein. Über ihn wird berichtet, er habe als ursprünglicher Anhänger Jakob Böhmes später dessen Schriften als Sozinianismus verworfen und seine 1682 abgefasste Schrift Die holde Stimme der Wahrheit entgegengesetzt den unangenehmen und verführerischen Quaxen der drei Frösche aus der Offenbarung, oder von Gott gelernte Beurteilung der unter den drei Hauptteilen der heutigen Babylonischen Christenheit geführten Streitigkeiten, meistenteils aus den Wunderschriften des hocherlauchten Jacob Böhmen gezogen, vernichtet. Eylenstein, Daniel Friedrich, S. 58–67, i. b. S. 66. Er stützt sich dabei auf die Acta Regni Christi im Archiv der Franckeschen Stiftung in Halle (B 17 a und b). 746 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 18, S. 7.

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Im ersten Brief vom 14. November 1683, geschrieben in Amsterdam, teilt von Schönau dem Freund in Zürich seinen Entschluss mit, nach Friesland aufzubrechen und die »Reformierten von Labadie ersten Gemeinde« zu besuchen. Er schildert seinen Entscheid als unumstößliche Berufung: Seine »Obligation« sei unauslöschlich in sein Herz geschrieben. Locher nahm die Nachricht wenig begeistert auf. In seinem postwendenden Schreiben vom Dezember 1683 hat ihm Locher »ein sonderbares mißfallen deßwegen bezeüget«. Er kritisiert dann, dass er sich an eine Sekte hänge. Von Schönau solle nach Zürich heimkehren und hier Gott und dem Vaterland dienen – was bedeutet, er solle in Zürich als einf lussreicher Bürger auf eine kirchliche und politische Reform hin wirken. Locher versucht in seinem Brief, Junker von Schönau von seinem separatistischen Weg abzubringen und schildert ihm das familiäre Leid, welches sein Eintritt in die Labadistische Gemeinschaft verursache: Ach! häte ich es an der Zeit über Mons[eigneur] Yvons sehr schone Reden, Euch meinen Sinn weitläuffig zu zeigen, aber ich bitte lieber Fründ betrachtet, wann dießer Mons Pastor gewußt hätte die beschaffenheit meines lieben Junker Vatters, der nur zur selten mit großer Mühe ein Wort zuweg bringen kan, und wie ich vermanhne alle so zu Ihme komen müßen hören, Heiri, Heiri, Heiri mit ächzen und weinen begleitet – Als ich letst den Brieff an eüren Junker Bruder bestellet hat eüer liebe Frau Mutter, selbigen mir abgenohmen, die bezeüget auch, nach eüch zu verlangen mehrers sage ich nicht, weil Er die Haußhaltung beßer als mir bekant. Ich zweiff le aber nicht wann der Liebe Herr Yvon es so wohl gewußt, Er hette Eüch auf die Fußstapffen J. C. gewißen, welcher auch an dem Creütz hangende, seine liebe Mutter noch getrostet und versorget hat.747

Die Wendung, wenn Yvon das familiäre Leid, das der Eintritt von Schönaus in die Gemeinschaft auslöste, gekannt hätte, hätte er diesen abgewiesen, ist rein rhetorisch: So waren die Labadisten beispielsweise der Meinung, dass, wenn beim Eintritt Verheirateter zum »wahren Volk Gottes« in Wieuwerd die Gattin oder der Gatte nicht ebenso begeistert beitrete, dies als ein Zeichen eines andauernden Verhaftetseins mit dem Fleisch zu werten sei, womit die Ehe vor Gott ihre Gültigkeit verlor und aufgelöst werden könne.748 Mit dieser rhetorischen Wendung holt Johann Heinrich Locher zu seiner grundsätzlichen Kritik an der Labadistischen Gemeinschaftsbildung aus: Die angestrebte mystische Nachfolge Christi ist für ihn nicht in der Absonderung in einer von der Umwelt abgeschotteten Kolonie Gleichgesinnter zu realisieren. Er betont seine Ansicht, wonach die Nachfolge nicht in der reinen Kontemplation sondern im aktiven Leben erfolgen müsse: 747

Ebd., S. 9. Saxby, The Quest for the New Jerusalem, S. 264 f. Ähnlicher Auffassung war auch Pierre Poiret, als er seine Ehe zugunsten der Jüngerschaft für Antoinette Bourignon auflöste: Chevallier, Pierre Poiret, S. 47 ff. 748

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wan ich aber sihe, wie Ihr lieber fründ diße gemein[d]e Gottes beschreibt, daß Jesus allein seÿ den Sie leben, den Sie lieben, suchen, ehren und Preisen; So wünschte ich mir von Hertzen, ja hielte mich für hochst Glücksel[ig] auch beÿ Ihnen zu wohnen, in Hoffnung es solte ein Mittel sein das böse Thier in mir zu toden, und als ein Christ Lämlein, in den schonen Auen Gottes zu weiden Ja ein Christ aus Verlangen der Vollkomenheit soll mit Paulo wünschen auch außert dem Leibe zu wallen, aber wir müßen unßer Seelen in Gedult besitzen und gehorsam lernen, nicht nach eigener wahl, sonder wie wir beruffen sind wandlen, in Christo sind wir beruffen daß wir heilig und unsträff lich vor Ihme wandlind in der liebe, und zwar ein ieder in seinem Stand, Ich als ein HausVatter beÿ meinen Weib und Kindern und Er als ein Sohn seiner Eltern, bis ihr mit derselben Einwilligung einen anderen orden besitzen.749

Die Bildung einer abgesonderten Gemeinschaft als Weg zur Perfektion und Überwindung des Fleisches und der Sünde zweifelt Johann Heinrich Locher in seinem Brief an von Schönau ernsthaft an. Er stellt dem ein anderes Konzept entgegen: Geduld, Gehorsam und Unterordnung des eigenen Willens unter denjenigen Gottes – das ist für ihn das mystische Programm. Demütig solle jeder dort in der Liebe seine Nachfolge Christi antreten, wo ihn Gott hingestellt habe. Die Art und Weise der Nachfolge finde in Bezug zum Alltagsleben statt und entschieden nicht in einer neuen klösterlichen Abgeschiedenheit »nach eigener Wahl«. Und schließlich verwirft er ein (in seinen Augen) egoistisches Konzept einer unio mystica. Die Einwohnung Gottes scheint ihm nur mit Rücksicht auf die Mitwelt erfolgversprechend: thued was eüch Gott ermahnet, Ihne tugenlich um den rechten Entschluß bittend, und richtet eüre Absehen auf die einfeltig und aufrichtige Liebe Gottes und der Nächsten, nicht aber [auf ] eüern selbst eigner beßer bequemlichkeit suchende [»Absehen«].750

Der nächste überlieferte Brief datiert erst wieder vom 19. Januar 1686. Locher bedankt sich darin einleitend für die lang andauernde Freundschaft. Junker von Schönau hatte ihm erst wieder am 21. Dezember 1685 geschrieben. Bef lissen entschuldigt sich der Schreiber für einige theologische Differenzen und gibt seiner Hoffnung nach einer wohlgeordneten Harmonie in Religionssachen Ausdruck. Doch ein neuer Konf likt bahnt sich im Briefwechsel an: Locher kommt auf einen Traktat über die Prädestination zu sprechen, nämlich Pierre Yvons Die Wahre und Reine Lehre Von der Göttlichen Praedestinatio von 1673751. Heinrich von Schönau hatte die Ab749

ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 18, S. 10. Ebd., S. 9 f. 751 Yvon, Die | Wahre und Reine | Lehre | Von | der Göttlichen | Praedestinatio | Oder | Zuvor=verordnung | und den ewigen Rathschlüssen | Gottes. | Samt | Eigentlicher Erklärung und Außlegung des | 9. Capitels der Epistel S. Pauli an | die Römer. | 750

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handlung seinen Zürcher Freunden geschickt und fragte nun in seinem vorangegangenen Brief, was sie davon hielten. Die Antwort Johann Heinrich Lochers war totale Ablehnung. Worin besteht die Aussage des Traktates? Es gebe einige, die nicht an die »allhohe und ganz=heilige« Freiheit Gottes, alles selbst festzulegen, glauben wollten und so sich selbst und Gott schaden zufügten. Basierend auf dem 9. Kapitel des Römerbriefes verteidigt Pierre Yvon die Prädestinationslehre. Er ist überzeugt, dass alles, was in der Zeit geschehe, von Gott in aller Ewigkeit festgelegt worden sei. Nichts sei notwendig gewesen, bevor es von Gott gemacht worden sei. Die Notwendigkeit ist somit Teil des Schöpfungsaktes: Glück und Unglück seien deshalb nicht bloß von Ewigkeit her festgelegt, sondern auch notwendig. Gott habe es in seinem Ratschluss für gut befunden, nur einen Teil der Menschheit aus der Sünde zu ziehen und zu erlösen. Ein Teil der Menschen werde verdammt. Schließlich könne Gott mit seinen Geschöpfen machen, was er wolle. »[Der] Göttliche Wille/ welcher unfehlbar ist/ und woran alles hänget/ würde wandelbar seyn/ und durch den Willen der Menschen könnte vergeblich und kraftloß gemacht werden«, wendet Yvon gegen die Betonung der Willensfreiheit der egozentrischen Mystik ein. Und die Seligkeit erhalte man nicht durch die Werke, die Seligkeit erhalte man kraft der Berufung, der Gnadenwahl. »Der Brunnquell unsers Heyls kömt nicht von uns; sondern er entspringet allein aus Gott«. Es sei nicht die Frage, ob wir wollten, sondern ob Gott wolle. Wer gute Werke tue und glaube, tue dies einzig, weil er die Gnadenwahl besitze.752 In der Prädestination erblickt Pierre Yvon den Beweis gegen einen anthropozentrischen Gottesbegriff, denn hätte Gott beschlossen, die ganze Menschheit zu erlösen, so hätte er den Menschen zu seinem eigenen Gott gemacht und Gott hätte sich selbst sein Recht über alle seine Kreaturen genommen. Für Yvon ist der Sündenfall kein Ereignis, das durch Herzensfrömmigkeit überwunden werden kann: Gott offenbare sich im Sündenfall, der ihm dazu diene, der gefallenen Menschheit seine Barmherzigkeit anhand des auserwählten Teils der Menschheit zu offenbaren. Gott wolle nicht alle selig machen, sondern nur diejenigen, die selig seien. Es seien daher nicht jedem der Glaube und die Möglichkeit, Christus zu erkennen, zuteil geworden. Die meisten seien alte Menschen, die Gabe des neuen Herzens sei nicht allen gegeben. Nur einigen wenigen offenbare sich Gott und gebe ihnen das Geheimnis des Himmels zu verstehen. Diese seien sein auserwähltes Volk. Und daraus folgt: Christus sei nur für die Auserwählten gestorben.753 Durch | Petrum Yvon, Diener | Jesu Christi/ und Seelenhirten | in seiner Gemeine, Altona 1673 [Uu LB Halle AB 154703 (1)]. 752 Ebd., S. 7–10 u. 31. 753 Ebd., S. 11–15 u. 20.

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Das heißt nun wiederum für Pierre Yvon, Gott habe alle Heiden von der Seligkeit ausgeschlossen. Weil es bis jetzt Heiden gebe, sei auch bewiesen, dass Gott nicht alle erlösen wolle.754 – Hier setzt nun die zentrale Kritik Johann Heinrich Lochers an Yvons Schrift an. Er bekräftigt dagegen die Francksche Ansicht, dass allen, die eine innere mystisch-spiritualistische Religion pf legten – unabhängig von ihrer Konfession –, das Himmelreich offen stehe. Er habe mit Schrecken gelesen, schreibt Locher nach Wieuwerd, dass das 9the Capitel an die Römer ohne andere Comentary als die heilige Schrifft und eigentliche betrachtung des Apostels Hauptabsehen beides den Juden und auch Heiden allen eigenruhm abzuschneiden, daß alles das purlautere wohlgefallen Gottes seÿ, ein Jacob oder Esau, ein Pharao oder Israel (so kan ich auch sagen, ein Türck, Jud, Heid oder Christ […] oder ein Mensch, Volk, welches den Gnadenbund in Christo Jesu, in der aüßere […] Figur vor stelle) aus einem zu machen.755

Locher bestreitet die Auslegung des 9. Kapitels des Römerbriefes als Beleg für die Prädestinationslehre. Die Konfessionszugehörigkeit ist für Locher bloß eine Äußerlichkeit. Er bezweifelt, dass es die Absicht Gottes sei, die Menschen danach einzuteilen und wie Jakob anzunehmen oder wie Esau zu verwerfen. Mit diesem dem Denken Jakob Böhmes entlehnten biblischen Bild des Jakob-Esau-Gegensatzpaars geht Johann Heinrich Locher auf eine weitere strittige Stelle in Pierre Yvons Schrift ein, die er nicht akzeptieren kann. Gemeint ist die Polemik Yvons gegen Antoinette Bourignon, über die Yvon schreibt, sie verwerfe, was sie nicht verstehe, und leugne hohe göttliche Wahrheiten. Dies geschehe darum, weil es über die Verdammung (»Verwerfung«) zwei irrige Ansichten gebe. Die eine behaupte, diese sei nur vorübergehend und die andere meine, in Esau nicht einen Teil der Menschheit zu erkennen, sondern die Sünde und Bosheit als ein dem Menschen innewohnendes Prinzip.756 Yvon greift hier direkt die mystische Auffassung an, wonach einerseits die Erbsünde individuell in der Wiedergeburt überwunden werden könne und anderseits die bei Franck und Böhme angetroffene psychologische Vorstellung, wonach es zwei Menschen im Menschen gebe: einen geistig guten und einen f leischlich verworfenen – wobei letzterer auf dem individuellen Heilsweg absterben müsse. Johann Heinrich Locher verteidigt nun diese Anschauung entschieden gegen den Angriff des Vorstehers der Labadistengemeinschaft. Er schreibt an von Schönau: Aber mein freund wer will sagen ohne erschrecknus […] daß Esau in der Hell wer oder ein Tüffel seÿ, oder daß Er von Ewigkeit zur Verdamnus predestiniert wor754 755 756

Ebd., S. 16 f. ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 18, S. 12 f. Yvon, Die Wahre und Reine Lehre Von der Göttlichen Praedestinatio, S. 6 u. 33 f.

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den, betrachtet recht Malach 1 u 10. 11.757 dan wißet mein fründ, wan die Sau oder das böse Thier so der verderbten menschlichen Natur anklebt, weggeschnitten wird, so stehet das E allein als ein Engel da, Namlich die Eigenschafft des gnadenbundes oder Schlangentrettens, welche beÿ iedem Menschen durch Gottes Gnaad zu finden und dient hier Eüere Explication gar wohl, wan sich der Krancken nich will laßen pf legen, sonder dem Artzt immer nur Schilet, werstoßt und ansprüet, wie ach leider die meisten Menschen thund, so kan die Barmhertzigkeit des Samaritans nichts Nützen.758

In einer eigentümlichen Buchstabenmystik legt Johann Heinrich Locher nochmals dar, dass beide Eigenschaften, das Gute und das Böse, im Menschen selbst angelegt seien, genau wie im Namen Esau beide Eigenschaften enthalten seien. Gute und böse Eigenschaften seien daher nicht von Anbeginn auf die Menschen verteilt worden, sondern beide seien in jedem Menschen enthalten. Er betont die aktive Seite seines Glaubens, denn es bedürfe der Überwindung der »verderbten menschlichen Natur«, um von Gott angenommen zu werden. Er beschreibt den mystisch-soteriologischen Prozess mit dem beliebten Topos des Kranken. Es bedürfe einerseits eines Arztes bzw. eines Gnadengottes, der den kranken, sündigen Menschen auf den Weg der Besserung zu bringen helfe – aber es bedürfe andererseits eines Patienten, der aktiv zu seiner Genesung beitragen müsse. Die Prädestinationslehre verhindert nun nach Lochers Auffassung den aktiven Willen des Patienten zur Gesundung: Die Prädestination sei lediglich eine nutzlose Beleidigung Gottes. An die Frage, ob die Prädestinationslehre eine Beleidigung Gottes sei, schließt eine zweite Frage an, der sich Pierre Yvon in seiner Abhandlung stellt. Ob Gott, der das Heil der Menschen im Voraus festgelegt habe, ungerecht sei? Seine knappe Antwort: Es sei Gottes Entscheid, er sei niemandem etwas schuldig.759 Johann Heinrich Locher ist in dieser Frage deutlich anderer Meinung: Ich finde ja mit Eüch den willen Gottes das einige unbewegliche fundament einer wahren Demuth und Danckbarkeit seie, aber ich erkenne daß wir die Sünd, also auch die pein und verdamnus eine Widerstrebung des Heiligen Willens Gottes seÿ darum so wenig als Gott will, daß man Sünd und unrecht thun, eben so wenig will Er daß iemand verdamt werde, geschweig daß er iemand von Ewigkeit dar zu verordnet habe, darum bitte ich Eüch hütet eüch mehr als vor dem Tod, daß ihr Gott einen bösen willen andichten, und dergleichen mehr, weder redet noch schreibet.760

757 Das ist die Belegstelle mit welcher Pierre Yvon die zwei Irrtümer Antoinette Bourignons nachweisen will. 758 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 18, S. 13. 759 Yvon, Die Wahre und Reine Lehre Von der Göttlichen Praedestinatio, S. 45 f. 760 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 18, S. 14.

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Johann Heinrich Locher fährt fort und rät seinem Freund, sein Heil besser in der mystischen Versenkung zu suchen: Wißet mein fründ daß ich vor ca. 16 in 20 Jahren mit der Predestination oder absoluto Decreto so sehr eingenohmen gewesen, als Ihr selbst nun sind, aber der gute Gott hat seither durch seine Gnade diße ewig bestendige wahrheit in mein Hertz gelegt, Namlich in dem Tieffsten Grund seines Nichts, oder zu Nicht werdung findet, und so wenig das Nichts Ihme selbst helffen kan, so wenig kan der Mensch seine Seligkeit Schaffen, aber in der Nichtswerdung begegnet Ihme dißer Gottliche Wille, wan ihr nun die wahre Erkantnus dißer heiligen wahrhafftigen und guten willens, in dem Neüen Religionis verdende verloren habt, so kehret mit dem verlohrenen Sohn wider zum Vatter von welchem ich aus Gnad und Barmhertzigkeit solch Liecht empfangen habe, und bittet auch wider um Liecht im Glauben und teuffer demuth; Wißet mein Freünd, daß ich gleich so geneigt als ihr, bin, solche wahrheit mit einer feder von Liecht in eüer Hertz zu schreiben aber es stehet nich beÿ mir, achte mich auch wie mehr gemelt viel zu unwürdig, gleich wohl stelte ich Eüch abermal mein Hertz offen und bloß dar.761

Er datiert seine Auseinandersetzung mit der Prädestination in den Lebensabschnitt zwischen seinem 18. und 22. Lebensjahr. Der Lebensabschnitt wird somit begrenzt durch jene Zeit, da er sich als Jugendlicher mit den mystischen Schriften des Mittelalters auseinander zu setzen begann und als Kaufmann in Venedig sich in das Mysterium Magnum Jakob Böhmes vertieft hatte. Unmittelbare Frucht dieser Beschäftigung war die konsequente Ablehnung der Prädestination. Die Ablehnung dieses Pfeilers der Helvetischen Konfession, der in der Formula Consensus erneut bestärkt wurde,762 ist organisch mit seiner mystischen Religiosität verwoben. Ein individueller Heilsweg, wie ihn Locher anstrebte, ist grundsätzlich nicht mit der Prädestinationslehre zu verein761

Ebd., S. 13 f. Der 4. Kanon fixiert apodiktisch das Glaubenssystem der Prädestination: »Gott der Herr hat vor der Welt grundlegung in Christo Jesu unserem Herrn einen ewigen Fürsatz gemacht/ in welchem Er auß pur lauterem Wolgefallen seines willens/ ohne Vorsehung einiges Verdienstes der Werken oder Glaubens/ zu lob und Ehr seiner Herrlichen Gnad/ eine gewüsse und besitimmte Anzahl der Menschen; welche da mit den übrigen in gleicher Verderbnuß und allgemeinem Blut begriffen/ und also mit der Sünd behaftet/ ihm fürkommen; außerwehlt/ damit sie in der Zeit durch Christum/ ihren einzigen Mittler und Bürgen Heil und Selig gemachet/ und so wol durch dessen Verdienst/ als des heiligen widergebährenden Geistes allmächtige Kraft/ kräftiglich beruffen/ wiedergeboren/ und mit dem waren Glauben und Seligmachender Buß begabet werden. Und zwar so hat Gott der Herr beschlossen/ erstlich den Menschen aufrichtig zuerschaffen/ darnach seinen Sündenfall zuverhengen/ und endlich auß dem gefallenen Geschlecht sich ettlicher zu erbarmen/ und dieselbigen zu erwehlen; die andern aber in dem verlorenen Hauffen stecken zulassen/ und dannethin sie außgerechtem seinem Gericht um ihrer Sünden willen mit endlichem ewigem Untergang zustraffen.« ZB Zürich Mscr B 185 [»Religions=Sachen welche sich in Reformierter Eydgenossenschaft zugetragen Von jahr Christi 1680 bis 1701«], Nr. 2, FORMULA CONSENSUS Ecclesiarum Helveticarum Reformatarum, S. 12 f. 762

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baren. Entweder ist es möglich, sich den schlechten menschlichen Eigenschaften in der Wiedergeburt zu entledigen und sich so auf den Heilsweg zu begeben oder aber individuelles Heil und Unheil sind von vornherein festgelegt, unabhängig von persönlichem Dazutun. Im zweiten Fall verblieben Mystik und Ethik wirkungslos. Johann Heinrich Locher legt nun als Antithese zur Prädestinationslehre in knappen Sätzen ein eindrückliches Bekenntnis zur Mystik ab. Er legt sein »Hertz offen und bloß dar« in der Absicht, seinen Freund zu überzeugen – »solche wahrheit mit einer feder von Liecht in [von Schönaus] Hertz zu schreiben«. Ähnlich wie bei der Prädestinationslehre kann der Mensch seine Seeligkeit nicht selbst erwirken, aber im Unterschied zu dieser kann er die Voraussetzung der Vereinigung und Synthese mit Gott schaffen – mittels der Negation des Selbst, der Nichtswerdung. In der Nichtswerdung, die als Absterben des f leischlichen Menschen, als Überwindung der »Selbstheit«, der »Eigenliebe« und des »Eigenwilles« in der mystischen Literatur bezeichnet wird, begegne ihm der göttliche Wille, finde die Einwohnung statt. Diese unio kann nicht durch den menschlichen Willen herbeigeführt werden, aber in der Selbstnegation als Vorbereitungshandlung hat ein voluntatives Element sehr wohl einen bedeutenden Platz.763 Gott wird hier zu einer ontologischen Kategorie, zu einem seinsbestimmenden Merkmal, er ist nicht länger eine bloß außerhalb des Menschen situierte Größe. Und noch ein Sachverhalt an Lochers mystischem Bekenntnis ist bemerkenswert: Die Gleichsetzung von »mein [d. h. Lochers] Hertz« mit »dem Tieffsten Grund seines [d. h. Gottes] Nichts«. Ersetzen wir den Taulerschen Begriff des (Ab-)Grundes mit dem synonym verwendeten Begriff Gemüt, der wiederum Seele und Willen umfasst, so heißt dies nicht bloß, dass Herz und Gemüt sich entsprechen, sondern auch, dass Gottes Nichts das menschliche Herz ist. Und Gottes Nichts ist als zweite Negation vor der Nichtwerdung des Menschen zu verstehen als Nichtgewordensein Gottes. Wo die Nichtwerdung des Menschen einsetzt, beginnt die Werdung Gottes im Herzen. Dieser Schluss kann aus der zweiten Gleichsetzung in Lochers Text gezogen werden, in welchem er das menschliche Nichts und das göttliche Nichts in direkten Bezug und in Abhängigkeit zu einander setzt, wenn er schreibt: »so wenig das Nichts [die Nichtwerdung] Ihme [Gott] selbst helffen kan, so wenig kan der Mensch seine Seligkeit Schaffen«. Gott und Mensch sind in diesem mystischen Prozess aneinander gebunden. Gott wird erst durch den Menschen und im Menschen zu Gott. In dieser Vorstellung begegnen wir derselben pantheistischen Neigung, wie wir sie bereits bei Sebastian Franck, Valentin Weigel oder Hermes Trismegistos angetroffen haben. Bei Franck heißt es beispielsweise: »Gott 763

Die Nähe von Lochers Wiedergeburtslehre zu Böhme, MM. 26.66–74 ist hier offensichtlich.

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ist vnd thut einem yeden das er ist und wil«; oder: »Christus aussert vns ist kein nütz«.764 Locher scheint hier die Ansicht der Franckschen Theologie übernommen zu haben, wonach Gott und Mensch erst einen gegenseitigen Nutzen entwickelten, wenn sie in ein interaktives Verhältnis zueinander traten. Erst dann entwickelten sie gemeinsame Eigenschaften. Bei aller Demut, der Johann Heinrich Locher das Wort spricht, kann er es in seinem Brief nicht lassen, seiner Kritik an den Labadisten noch eines aufzusetzen: Daß Mons. De Labadie oder andere nicht vermocht die Römische oder reformierte Kirchen zu bekehren verwundert mich nicht, (hat doch Christus selbst, kein Gehör, beÿ den bösen Menschen gefunden) diße hete aber nicht anlas geben sollen, mit aufrichtung einer eigene Kirchen die Zahl der Religionen zu vermehren heten wir weniger Religionen und mehr Nachfolg des armen Lebens Christi, das wehre wohl beß[er].765

Hier äußert Locher nochmals seine Kritik an der äußerlichen Kirchenbildung. Johann Heinrich Lochers Kirchenbegriff orientiert sich an der Nachfolge Christi, einer Nachfolge, die primär innwendig im Geist geschehen muss und nicht durch eine äußere Konfessionskirche. Locher wertet die Labadisten und ihre Kolonie als eine äußere Kirche und spricht ihr deren Anspruch, eine ›Sammlung der Kinder Gottes‹ zu sein, rundweg ab. In der ersten Hälfte des Jahres 1686 gelang es Locher, seinen Freund zur Rückkehr nach Zürich zu bewegen. Er versprach ihm, er werde zu ihm in die Niederlande reisen, für den Fall, dass von Schönau mit ihm heimkehren wolle. Am 2. August brach Locher in Richtung Basel auf und traf schließlich am 30. August in Amsterdam ein, wo er einige Geschäfte im Auftrag des Kaufmanns Paul Usteri erledigte, dessen Buchhaltung und Korrespondenz er besorgte. Anschließend fuhr er in die Labadistische Kolonie, um mit von Schönau die Rückreise zu vereinbaren. Hier blieb Locher einen Tag und führte ein längeres Gespräch mit Pierre Yvon in holländischer Sprache. Sie einigten sich in ihren theologischen Differenzen auf die gegenseitige Toleranz: keiner solle etwas gegen das eigene Gewissen glauben und tun. Wie vereinbart, trafen Locher und von Schönau in Utrecht zusammen. Die Rückreise nutzten die beiden zur Kontaktpf lege: In Köln trafen sie mit David von den Enden (1648–1714)766 und Johann Philipp Grosstein zusammen. Anschließend ging es den Rhein aufwärts und weiter nach 764

Franck, Paradoxa, XXII u. CXXXIII. ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 18, S. 14 f. 766 David von den Enden war Diakon der Niederländisch-Reformierten Gemeinde in Köln. Er stand mit Johann Jakob Schütz im Brief kontakt und soll mit den Quäkern sympathisiert haben. Vgl.: A. Deppermann, Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus, S. 265 f. 765

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Frankfurt. Dort nächtigten sie im Haus von Christian Fende (1651–1741). Hier besuchten sie die herausragende Persönlichkeit des Radikalpietismus, Johann Jakob Schütz (1640–1690). In seinem Haus lernten sie schließlich auch Johann Jakob Zimmermann kennen, der hier vorübergehend Exil fand. Über die Gespräche im Kreis der Frankfurter Radikalpietisten ist nichts überliefert. Wir dürfen aber vermuten, dass ein Erlebnisbericht über die labadistische Kolonie Johann Jakob Schütz brennend interessierte. Er soll mit Labadie sympathisiert haben und verfolgte die Auseinandersetzung zwischen Antoinette Bourignon und Pierre Yvon sehr aufmerksam. Und Pierre Poiret, der Nachlassverwalter der f lämischen Prophetin, informierte den Frankfurter jeweils mit Kopien seiner Korrespondenz mit der Labadistin Anna Maria van Schurman.767 Zu Fuß und auf Karren reisten sie weiter, wobei Locher die Gelegenheit nutzte, um in Endigen seine inzwischen verwitwete Pf legemutter zu besuchen. Am 6. Oktober trafen sie schließlich in Zürich ein.768 2.6.3 Antoinette Bourignon und Pierre Poiret 2.6.3.1 Antoinette Bourignon und ihre Rezeption Lochers Sympathie galt der Gegenspielerin Pierre Yvons. Ihn faszinierten die Werke der f lämischen Katholikin, Antoinette Bourignon (1616–1680).769 Sie hielt sich für eine Prophetin und war felsenfest überzeugt, von Gott gesandt zu sei, um den Menschen die Wahrheit zu verkünden: »Ja! ich bin von GOtt außgeschickt das Liecht in der Welt zu bringen/ und von der Wahrheit zu zeugen/ wie er alle seine Wercke mit Gerechtigkeit/ Güte und Wahrheit auswirckt/ und niemand jemahls überfalle. Ja er hat mich ausgeschickt zu verkündigen/ daß die letzte Zeit gekommen sey/ […] und daß der HERR JEsus auff dein Erdboden/ solches [= das Gericht] zu vollenden/ kommen/ und allda/ mit den Frommen […] eine Zeitlang herrschen werde«. Sie sei weiter ausgesandt worden, um die Menschen zur Busse zu bekehren. »Ich bin von Gott gewißlich abgeschickt die Wahrheit aller Dinge zu eröffnen.« – Enttäuscht bemerkt sie aber, niemand wolle sie verstehen.770 767

Ebd., S. 288–309; Chevallier, Pierre Poiret, S. 54. ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 18, S. 1–6. 769 Zu Antoinette Bourignon vgl.: Kolakowski, Chrétiens sans église, i. b. Kap. 10; van der Does, Antoinette Bourignon; Mack, Die Prophetin als Mutter, S. 79–100; vom Orde, Antoinette Bourignon in der Beurteilung Philipp Jakob Speners, S. 50–80. 770 Bourignon, Das | Liecht der Welt/ | In unterschiedlichen wahrhaftigen Er | = zehlungen/ die wohl würdig seind/ von allen denen die | noch einiger massen ihre Gültigkeit zu befördern | trachten/ nachgelesen/ ja recht verstanden | und begriffen zu werden/ Von einer nach dem ewigen Leben ab=|gereiseten Wallfarterin/ | Anthionette Bourignon, | In Drei Teilen an dieses Tagelicht gebracht durch | Christian Cort, Amsterdam 1681. [ZB Zürich D 335], 3. Teil, S. 75 f. 768

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Durch diese Überzeugung gestärkt, suchte sie die Auseinandersetzung mit Jean de Labadie und dessen Nachfolger, Pierre Yvon. Alle drei trachteten danach, eine Gefolgschaft um sich zu scharen und träumten von einer endzeitlichen Gemeinschaft, die abgeschieden von der verdorbenen Welt auf die Ankunft des Erlösers warten wollte. Zwangsläufig geriet Bourignon den Labadistenführern in ihrem Macht- und Sendungsanspruch ins Gehege. Theologisch kristallisierte sich die Auseinandersetzung am Prädestinationsbegriff. Antoinette Bourignon, die durch Jakob Böhme inspiriert war, obwohl sie ihn nie gelesen hatte, wie Leszek Kolakowski wohl richtig bemerkte771, lehnte die Gnadenwahl radikal ab. Es ist mehrheitlich Bourignons Auffassung, die Locher in der brieflichen Auseinandersetzung seinem Freund Heinrich von Schönau mitteilte. Der Schrift Liecht der Welt von 1681 konnte er die gegen Yvon gerichtete Bemerkung Bourignons entnehmen, dass es grausam anzuhören sei, dass Gott einen Teil der Menschheit zur Verdammnis bestimmt habe. Das sei – ist dort zu lesen –, als ob man sagen würde, Gott sei bei der Schöpfung bösartig vorgegangen: »Fürwahr! man könnte GOTT keine grössere Schmach anthun«. Die Prädestinationslehre ist für sie Gotteslästerung und Aberglaube, der einzig die Atheisten in ihrer Haltung bestärke. Bourignon erkennt klar, dass die Prädestinationslehre ihrer eigenen spirituellen Mystik, die wie bei anderen Autoren in Lochers Bibliothek auf das Zusammenspiel göttlicher Gnade und menschlichen Willens auf baut, zuwider läuft. Sie hält der Gnadenwahl nun in logischer Konsequenz ihre Vorstellung vom freien menschlichen Willen entgegen. Dieser ist es, der den Menschen zum Guten oder Bösen befähige. Die Lehre vom Sündenfall als Grundlage einer deterministischen Theologie verwirft sie als »ungereimt und unrichtig«. Wäre in Adams Sünde die Gnadenwahl angelegt, folgert sie konsequent weiter, so müssten alle durch Adams Sünde zur Verdammnis prädestiniert sein. Und die Schlussfolgerung: Der Sündenfall habe keinen einzigen Menschen verdammt oder selig gemacht. Geradezu in auf klärerischer, kantscher Weise hält sie der calvinistischen Glaubensgrundlage entgegen: Wenn der Mensch seine eigene Vernunft gebrauche, dann trete er aus dem Bann des sündigen Adam heraus und mache Gebrauch von seinem eigenen freien Willen.772 771

Kolakowski, Chrétiens sans église, S. 657. »Herr [= der Gesprächspartner von A. B.]/ dieses [das Erlangen des Seelenheils entgegen der irrigen Prädestinationslehre] begibt sich/ wann ein jeder Mensch zum Gebrauch seiner Vernunfft gelangt. Als dann tritt er aus der Macht und dem Willen Adams herauß/ und wird in seine volle Freyheit gestellt.« Bourignon, Das Liecht der Welt, 3. Teil, 22. Unterredung, i. b. S. 253 ff. u. 257 ff. Antoinette Bourignons frühe Form eines rationalistischen Zugangs zur Bibel mache sie, laut Joyce Irwin, zur Vorbotin der Auf klärung: »Her view might be considered an early version of a rationalist Enlightment approach to the Bible«. – Vgl.: Irwin, Anna Maria van Schurman and Antoinette Bourignon, S. 309. 772

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Beachtenswert ist hier der ambivalente Vernunftbegriff, wie er auch für den (radikalen) Pietismus kennzeichnend ist: Auf der einen Seite behauptet Antoinette Bourignon, die Bibellektüre sei unnötig, weil sich Gott direkt im Geist erfahren lasse.773 Auf der anderen Seite argumentiert sie in theologischen Dingen ausgesprochen rational. Keineswegs lehnt die Mystikerin die Vernunft als Mittel der Gotteserkenntnis rundweg ab. Und wir müssen uns hier auch die Frage stellen, ob sich die radikale Vernunftkritik des Pietismus auf die Vernunft im Allgemeinen bezog, oder lediglich das scholastische Bibelverständnis im Visier hatte. Mit ihrer Vernunftkritik steht Antoinette Bourignon nicht alleine da: Die Ablehnung der scholastischen Rationalität ist ein Wesensmerkmal der Literatur aus dem böhmistisch-pietistischen Umfeld. So schreibt beispielsweise Desiderius Philadelphus: »Auch kan die eigene Vernunfft (so ohne GOttes Geist[)]/ nicht anders gelehrt [haben]/ dann bloß von Buchstaben und nichts in lebendiger Erfahrung« erkennen.774 Das ist interessant, weil hier die Vernunftkritik gegenüber der scholastischen Orthodoxie bei der fehlenden Erfahrung einsetzt, wobei die (persönliche) Erfahrung in spiritualistischer Weise als göttliche Eingebung oder Anleitung verstanden wird. Der Spiritualismus berührt hier den Empirismus und bezieht Front gegen eine philologischdeduktive Scholastik. Neben dem hier zitierten Liecht der Welt besaß Locher weitere umfangreiche Schriften von Antoinette Bourignon. Zum einen Das Liecht scheinend in der Finsternüß, 1679775 und die Hohe Schuhle der Gottes-Gelehrten, 1681– 1682776 . Alle drei Werke wurden als gefährlich konfisziert. Ähnlich wie bei Miguel de Molinos achtete Johann Heinrich Locher auch bei Antoinette Bourignon nicht einzig auf mystische Glaubenssätze, sondern ganz besonders auch auf die Lebensführung. Am 26. Februar 1695 notierte Johann Kaspar Hardmeyer folgendes Gespräch in seinem Tagebuch: 773

Kolakowski, Chrétiens sans église, S. 664. Desiderius Philadelphus, Der rechte Weg zum Ewigen Leben, S. 72. 775 Bourignon, Das Liecht scheinend | in der Finsternüß. | Welches alle Menschen gutes Willens | anreitzet/ die Augen ihres Geistes zu öffnen/ | solches zu erkennen. | Mitgetheilt in unterschiedliche Brieffe/ | welche Herr Christian Hoburg, Prediger/ | zum Dienst seines Nechsten in Hocht =|eutscher Sprache übersetzt. || Und in Frantzösisch beschrieben | durch Anthoinette Bourignon. | Gebohren zu Ryssel in Flandern/ den 13. Januarii 1616, Amsterdam 1679 [HAB Wolfenbüttel Xb 4176]. Die deutsche Übersetzung stammt von Christian Hoburg, der etwa zur selben Zeit wie Antoinette Bourignon seine kurze Gefolgschaft mit Labadie brach und vorübergehend in ihrem Haus wohnte. Vgl.: van der Does, Antoinette Bourignon, S. 8 u. 44 f., Anm. 10. 776 Bourignon, Hohe Schuhle Der Gotts-Gelehrten: Darinnen sie die Warheit Gottes von derselben, so auß der Menschen Studien herrühret, können unterscheiden […] lernen, Amsterdam 1681–1682 [Nachweisbar: LSB Überlingen]. 774

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Diesen morgen kam Hr. Locher mit seiner Frauen Liebsten und ihr Kinder zu besuchen. Er sprachte von unterschiedlichen Sachen, neben anderem von der Antoinette Bourinion, welche von Ryssel [= Lille] gebührtig adelichen Herkomens gewesen, und von ihren Eltern ausgestoßen, daher sie im Lande hin und her gezogen mit Piere Poiret; sol sich eines frommen godtseligen Lebens, sonderbar durch ihre Midtel armer Leuthe Kinder (Töchterli) zuerziehen sich bef lissen, darbeÿ aber das Unglük gehabt haben, daß 40. darvon von dem läidigen Satan zur Zaubereÿ verführet, die sich vielfaltig getrachtet zu erredten, Jedoch beÿ ihnen mehre nicht als eine Zeit einer gewürkt. Hädte grosse Midtel, was bis auf die 40000 Rdler gesamlet, deren sie dem Piere Poiret zum Erben eingesezet, als der beÿ ihrem Leben ihr Schrift- und Haußverwalter gewesen und das Schriftum in den Truk verfertigt. Sie habe alle Fehler und Mängel der heutigen Glaubens[richt]ungen entdekt und durchgehechelt, selbs auch der ihrigen, ob sie sich zwar zum Papstum bekenet.777

Das ist die einzige Stelle, wo Johann Heinrich Locher auf Antoinette Bourignon zu sprechen kommt. Und er tat dies offensichtlich in den besten Tönen. Dass sie Katholikin war, störte ihn keineswegs, denn beide nehmen einen in der Mystik wurzelnden überkonfessionellen Standpunkt ein, der alle Konfessionen in einem schlechten Licht erscheinen lässt. Antoinette Bourignon hatte während ihres vierjährigen Aufenthalts in Amsterdam ein ähnliches Erlebnis wie Johann Heinrich Locher in Venedig. Sie kam in der toleranten Stadt mit allerlei Religionen in Kontakt, um am Ende zum Schluss zu kommen, dass alle korrumpiert seien.778 So hebt Locher in der Lebensbeschreibung Bourignons als das verbindliche Glaubenselement den »frommen godtseligen« Lebenswandel hervor, der sich in guten, karitativen Werken äußere. Locher bezieht sich dabei auf das Heim für junge Mädchen, dass sie 1654 mit dem väterlichen Erbe gründete. Und noch etwas springt ins Auge: Die Rolle des Satans und der Zauberei. Antoinette Bourignon war von der Annahme einer Omnipräsenz des Teufels beherrscht. Satan ist für Bourignon – wie beispielsweise auch für Böhme – die Antwort auf die Frage, wie die Sünde in die Welt gekommen sei, wenn doch Gott alles erschaffen habe und ein perfekter Schöpfer sei. Auch ihre Theologie ist einem Dualismus zwischen einem guten und schlechten Prinzip verpf lichtet, für welche Gott und Satan stehen. Interessant ist nun wie sie den Teufel auffasst. In der fünften und sechsten Unterredung des Liecht der Welt definiert sie ihn als geistig und unsichtbar. Der Teufel werde erst in den letzten Tagen leiblich. Und auf die Frage, woher der Teufel seine Macht habe (die er ja nicht von Gott haben kann), meint sie: er habe sie nicht von Gott, »sondern es sind unsere Sünden selbst/ die 777 ZB Zürich, Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 290 f., Eintrag vom 26. Februar 1695. 778 Kolakowski, Chrétiens sans église, S. 649.

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ihn so mächtig machen«. Gott habe dem Menschen die Macht über den Teufel gegeben und nicht dem Teufel die Macht über die Menschen. Der Teufel werde niemals die Macht über unsere Seele haben ohne unsere Zustimmung.779 Der Teufel wird hier zwar noch als außermenschliches Prinzip aufgefasst. Es ist aber beachtenswert, wie Antoinette Bourignon dieses negative bedrohliche Bild des Teufels als eine den Menschen beherrschende äußere Macht ins Positive, Menschliche dreht, indem sie den Teufel vollkommen vergeistigt. Sie ist überzeugt, die Ursache dafür, dass Satan seine Wirkung entfalten könne, liege vollständig beim Menschen: Wie Gott wird also auch der Teufel vergeistigt und verinnerlicht und schließlich zu einem Prinzip der menschlichen Psyche erhoben. Es liege am Menschen und an seinem Willen, zwischen Gut und Böse zu wählen: Es sei ein Beweis der Güte Gottes, dass er dem Menschen das allerhöchste Geschenk mache, nämlich den freien Willen. Schließlich könne der Mensch ohne den freien Willen kein Abbild Gottes sein und Gott hätte am Menschen keinen Gefallen.780 In Bourignons Theologie trägt der Mensch die volle Verantwortung für sich selbst, denn Gott lasse den Menschen in seiner angestammten Freiheit und tue niemandem Zwang an. Darum könne der Mensch Gott verlassen und Anhänger des Teufels werden. Und falle der Mensch von Gott ab, so schade er nicht ihm, sondern einzig und allein sich selbst.781 Nur dank dem freien Willen könne der Mensch Gott gleich sein. Der freie Wille ist für Antoinette Bourignon die Voraussetzung zur Vereinigung mit Gott. Auf dieser Freiheit beruht ihre Mystik, die in der innern Einkehr des Geistes besteht und auf die »Erkäntnuß Gottes und unserer selbst« abzielt: »[D]er so Gott kennet/ wird auch allezeit sich selbst kennen: und der so sich selbst kennet/ wird gewißlich Gott kennen/ dieweil das eine an dem andern hanget.«782 Auch hier finden wir die Vorstellung einer konstitutiven Interaktion zwischen menschlichem und göttlichem Geist, wie dies Locher in den Schilderungen seiner mystischen Erlebnisse in den Briefen an Heinrich von Schönau äußerte. Antoinette Bourignons Frömmigkeit ist geprägt vom Topos, dass sich seit dem Urchristentum die Kirche und das Christentum in einem stetigen Niedergang befänden, »daß auf den heutigen Tag keine wahren Christen mehr auf der Erden sind«. Weder Glaube noch Treue seien heute anzutreffen und sie hebt insbesondere betrügerische Kauf leute und geizige Klosterbrüder hervor. Sie folgert: Der Teufel habe gesiegt.783 Sie ist mit 779 780 781 782 783

Bourignon, Das Liecht der Welt, 1. Teil, 5. u. 6. Unterredung, S. 53 f. u. 69. Ebd., 3. Teil, 2. Unterredung, S. 13 f. Ebd., 3. Teil, 2. Unterredung, S. 21 u. 1. Teil, 30. Unterredung, S. 336 f. Ebd., 1. Teil, 13. Unterredung, S. 116. Ebd., 1. Teil, 3. Unterredung, S. 40.

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Mt 24.12 überzeugt, dass nun die Bosheit überhand genommen habe und die Liebe erkaltet sei, und sie schöpft aus diesem Zitat die Hoffnung, dass die »heutig-tägigen Menschen« der Beweis für das nahe Gericht seien. Die letzten Zeiten und das Gericht Gottes seien nahe.784 Beachtenswert ist, wie Antoinette Bourignon ihre Endzeiterwartungen von kosmologischen Zeichen ablöst und konsequent nach geistigen Zeichen sucht. Die inwendigen Zeichen seien in den Seelen der Erleuchteten geschehen und äußerliche Zeichen, welche die gefährliche Zeit des Jüngsten Tages ankünden würden – wie Pestzüge, Hungersnöte oder Kriege –, werde es nicht geben. Da sich Sünden und Bosheiten mit dem Namen der Tugend und der Heiligkeit verkleideten, hätten sich die endzeitlichen Zeichen hinlänglich äußerlich offenbart. Wer das Licht der Wahrheit habe, der sehe deutlich, dass die Welt notwendigerweise an ihrem Ende angelangt sei.785 Antoinette Bourignons Denken ist von chiliastischer Naherwartung durchdrungen: »Gott werde auf Erden Herrschen, so bald als die Plagen alle die Bösen werden außgerottet haben/ oder doch den meißten Theil derselben: alsdann wird der erscheinen in den Wolcken/ und alle Welt wird ihn sehen. […] Vor mich/ ich hoffe ihn zu sehen/ und ewiglich mit ihm zu herrschen. Hier besteht meine Hoffnung und meine Freude.« Antoinette Bourignon ist offensichtlich fest davon überzeugt, dass sie das ewig auf Erden währende Königreich Jesu Christi selbst erleben werde. Sie stellt sich das Reich als ein irdisches und leibliches Paradies vor, in dem die Menschen sündenfrei leben würden.786 Antoinette Bourignon wird oftmals einer quietistischen Tradition zugerechnet.787 Das trifft so nicht zu.788 Ihre Mystik betont zwar die kontemplativen Elemente, indem der Rückzug aus der Welt propagiert wird. Sie redet aber der vollkommenen Passivität keinesfalls das Wort. Es sei hier an die eminent wichtige Rolle erinnert, die der menschliche Wille ihrer Ansicht nach auf dem Weg zum Seelenheil einnehme. In ihrer Prädestinationskritik verwirft sie eine deterministische Theologie, die dem Menschen eine passive Rolle zuweist und fordert dagegen eine Soteriologie ein, in der menschliche Leistungen honoriert werden. Und weiter kann auf ihre Zeitvorstellung verwiesen werden; Antoinette Bourignon betont neben einem linearen Zeitbegriff auch ein Bewusstwerden der Zeitlichkeit. Das menschliche Leben wird als zeitlich begrenzt gefasst, und ein frommer 784

Ebd., 1. Teil, 2. Unterredung, S. 29. Bourignon, Das Liecht scheinend in der Finsternüß, 14. Brief, S. 79 ff. und dies., Das Liecht der Welt, 1. Teil, 2. Unterredung, S. 33. 786 Dies., Das Liecht der Welt, 1. Teil, 26. Unterredung, S. 253 f., 258 u. 262. 787 Vgl. beispielsweise: MacEven, Antoinette Bourignon. 788 Vgl.: Kolakowski, Chrétiens sans église, S. 672 ff. Kolakowski anerkennt einige Analogien zwischen Bourignon und dem Quietismus, erachtet aber ihre egozentrische, »falsche« Mystik mit der quietistisch-authentischen Mystik als nicht vereinbar. 785

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Mensch dürfe die Zeit nicht verschwenden mit »eitler Geschäftigkeit«.789 Diese Vorstellung vom effizienten Ausnutzen der Lebenszeit, um das Optimum für das eigene Seelenheil zu tun, wird später zu einem wichtigen Merkmal des Pietismus. Zu erwähnen ist hier beispielsweise die Schrift des Zürcher Pietisten Johann Kaspar Füssli, Nutzlicher Zeit=Vertreib, Oder Kurtz= und grundliche Anleitung, Wie ein jeder Handwerks= und Baurs=Mann, Dienst und Taglöhner in der Forcht und Gegenwart Gottes arbeiten solle, Zürich 31735. Dieses Bewusstsein der Zeit und vom Tätigsein in der Zeit als Teil der Verehrung Gottes hat entschieden nichts mehr mit Quietismus zu tun und erinnert viel eher an einen sogenannten ›Geist des Kapitalismus‹790; der Beitrag der zeitökonomischen Theologie von Antoinette Bourignon zum ›Tugendsyndrom der Verf leißigung‹ ist offensichtlich.791 Die egozentrische, willengeleitete Mystik Antoinette Bourignons, in welcher Selbsterkenntnis mit Gotterkenntnis gleichgeschaltet wird, ist keine quietistische Selbstf lucht: Es stellt sich viel mehr die Frage, in wie weit die in der Mystik konservierten individuellen Momente der Antike beginnen, sich in einer mystique égocentrique Bourignonscher Prägung zu einem modernen Selbstbewusstsein zu entfalten. 2.6.3.2 Die pietistische Pädagogik: Pierre Poiret Die pietistische Hoffnung auf den neuen Menschen und auf eine bessere Welt hat eine erzieherische Komponente. Augenfällig wird dies anhand Christian Hoburgs Erziehungsschrift Christ-Fürstlicher Jugendspiegel, welche jugendliche Fürsten zu einer gottgefälligen Regentschaft als Keim einer Reformatio mundi erziehen will. Getragen wird diese Weltveränderung durch die konsequente Zurückweisung der bedingungslosen Sündenfalltheorie, was den Blick freimachte auf einen moralisch und charakterlich wandelbaren Menschen. In der Denkwelt der egozentrischen Mystik ist der Mensch zum Guten veränderbar. Die Wandlung des ›Gemütes‹ kann willentlich als Wiedergeburt angestrebt werden. Und sie wird bei Kindern zum Ziel der Erziehung. Die spiritualistische Mystik eröffnet der Pädagogik einen neuen Blick auf das Kind. Dass man die Kinder bereits in frühester Jugend zu einem tugendhaften und gottgefälligen Leben erziehen solle, damit sie in der Adoleszenz den Lastern der Welt erfolgreich widerstehen könnten, gehörte zum damaligen Allgemeinwissen der Kindererziehung. John Barclay rät beispielsweise, die 789 Bourignon, Das Liecht scheinend in der Finsternüß, 1. Teil, 4. u. Brief, S. 23 u. 2. Teil, 11. Brief, S. 105. 790 Vgl. Max Webers Ausführungen zum Zeitbegriff Benjamin Franklins in: M. Weber, Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus, S. 12 f. 791 Schenda, Fleissige Deutsche, f leissige Schweizer, S. 189–203.

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Tugend müssten die Erzieher den Kindern mit »zierlicher« Hand ins zarte Herz »einsencken«. Damit die Kinder nicht einen Widerwillen gegen die Tugenden entwickeln, dürfe nicht mit Furcht und Strafe gearbeitet werden, sondern mit viel Reden und mit der Belohnung der Tugend. Die Kinder sollten die Tugend nicht fürchten, sondern sie freiwillig wählen, noch bevor sie die Wollust zu entdecken begännen.792 Als einer der ersten entwarf Pierre Poiret 1690 eine Pädagogik, die auf dem mystisch-spiritualistischen Glauben fußte und diesen zum Ziel der Erziehung erklärte.793 Die wichtigsten Grundlagen einer pietistischen Pädagogik, wie sie später August Hermann Francke in Kurzer und einfältiger Unterricht, 1702 formulierte794, sind bereits in Les vrais principes de l’education chretienne des enfants in groben Zügen niedergelegt. Pierre Poiret (1646–1719), ein hugenottischer Theologe, begann durch seine Beschäftigung mit Amyraut früh an der strikten Prädestinationslehre zu zweifeln. Sein theologisches Interesse galt der Rheinischen Mystik, die er mit seinem an Descartes geschulten philosophischen Denken zu verbinden trachtete. Aus dieser Synthese resultierte seine Kritik an Locke und Malebranche, denen er eine Überschätzung der menschlichen Vernunft vorwarf. Poiret pf legte den Kontakt zu den Frankfurter Radikalpietisten um Johann Jakob Schütz und wurde zum Jünger von Antoinette Bourignon und Herausgeber deren Schriften.795 Die deutsche Übersetzung der Erziehungsschrift unter dem Titel Die Klugheit der Gerechten, die Kinder zu erziehen durchs Speners Schwiegersohn Johann Heinrich Horb (1645–1695) löste 1693 in Hamburg einen heftigen Theologenstreit aus. Die Hamburger Kirchenbehörde fand: »Das Buch ist an sich selbst fanatisch/ und mit den Enthusiasmo und andern Ketzereyen angefüllet«. Die Kontroverse fand große Beachtung 796 – aber Johann Heinrich Locher und Johann Kaspar Hardmeyer schienen davon nichts mitbekommen zu haben. Ihre Verbindungen nach Amsterdam, wo bereits 1690 erstmals Les vrais principes de l’education chretienne des enfants bei Heinrich Wettstein anonym erschienen war, waren eindeutig besser als jene nach 792

J. Barclay, Spiegel Menschlicher Gemüths Neigungen, S. 1 ff. u. 15. Wenige Jahre vor Poiret veröffentliche de la Mothe-Fénelon dessen katholisches Pendant, De l’education des filles, 1687. Vgl.: Osterwalder, Theologische Konzepte von Erziehung, S. 79–94; ders, Die Geburt der deutschsprachigen Pädagogik aus dem Geist des evangelischen Dogmas, S. 426–454. 794 Zur Pädagogik Franckes vgl. u. a.: Loch, Pädagogik am Beispiel August Hermann Franckes, S. 264–308; Juliane Jacobi, Pietismus und Pädagogik, S. 49–53; Nieden, Pastorale Pädagogik, S. 103–122. 795 Zu Pierre Poiret: Chevallier, Pierre Poiret. 796 Die Kontroverse wurde Ende 1694 oder Anfang 1695 genau dokumentiert: Acta Hamburgensia, Altona o. J. [SUB Göttingen 8° Th Polem. 148/55], hier S. 45. Siehe auch: Chevallier, Bibliotheca Dissidentium, S. 30 f. 793

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Hamburg. Noch zwei Jahre nach Ausbruch des Theologenstreites wussten die Schweizer Pietisten nichts davon. Hardmeyer, der als Meister der deutschen Sprache angesehen wurde, schickte sich an, mit Unterstützung von Locher und Knopf den französischen Traktat zu übersetzen. Kenntnis hatten sie im Frühjahr 1695 lediglich von einer niederländischen und einer lateinischen Übertragung.797 Am 7. Juni 1695 vermerkt Hardmeyer in seinem Tagebuch, dass er die Übersetzung der »Kinderzucht« fertiggestellt und das Manuskript an Locher übersandt habe. Am Sonntag 16. Februar 1696 ist es dann soweit: Locher besucht den Pfarrer in Bonstetten nach der Predigt und überreicht ihm ein Exemplar seiner Übersetzung, die bei Decker in Colmar erschienen war.798 Es macht ganz den Anschein, als hätte Locher den Druck der Erziehungsschrift organisiert. Die Hardmeyersche Ausgabe ist heute nicht mehr auffindbar.799 Vermutlich trug sie den Titel Von der Auferziehung der Kinder, denn Hardmeyer nennt sie so in seinem Tagebuch. Und auch die Examinatoren verzeichnen diesen Titel mit dem Format 12° in der Konfiskationsliste. Gemäß diesem Inventar besaß Johann Heinrich Locher 1698 noch zwei Stück davon sowie die niederländische Version (die lateinische Ausgabe gehörte dem Berner Pietisten Daniel Knopf ). Bei der Kindererziehung geht es nach Pierre Poiret ums Ganze: »Eins nun unter beiden muß nothwendig seyn/ daß Ihr sie [die Eltern die Kinder] entweder zum Himmel oder zur Höllen erzihet; nach welchem Ihr mit ihnen zur Vergeltung entweder eine seelige Ewigkeit haben werdet/ wenn Ihr wohl erziehet/ oder aber eine höchst=unseelige/ wenn Ihr sie verwahrloset«.800 Ziel der Pädagogik Poirets ist die bedingungslose Erziehung zur (pietistischen) Frömmigkeit. Eine erzieherische Leistung, die selbst wiederum Werk und Ausdruck der Frömmigkeit ist. Verfolgt wird dabei eine Erziehung des Menschen zum Guten. Grundlage der Erziehungskonzeption Poirets ist das Menschenbild der spiritualistischen Mys797 ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 297, Eintrag vom 7. März 1695. Die lateinische Ausgabe erschien in Amsterdam 1694. Eine niederländische Ausgabe ist für diesen Zeitpunkt nicht nachweisbar. Siehe: Chevallier, Bibliotheca Dissidentium, S. 95 f., Nr. 5d u. 5g. 798 ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 344, Eintrag vom 7. Juni 1695 und ZB Zürich Ms. E 137, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 28, Eintrag vom 16. Februar 1696. 799 Im Vorwort zu einer lateinischen Neuauf lage des Werks vermerkt Poiret eine Ausgabe mit Druckort Colmar. Siehe: Chevallier, Bibliotheca Dissidentium, S. 98, 5n. Die vom Druckjahr her denkbare Ausgabe Nr. 5e (S. 95) erwies sich als Abdruck in der Acta Hamburgensia. 800 Ich stütze mich hier auf die Übersetzung Horbs: Poiret, Die | Klugheit | der Gerechten/ | Die Kinder/ | Nach den wahren | Gründen des Chri=|stenthumbs/ | Von der Welt zu dem Herrn | zu erziehen. Vorgestellet | In einem Sendschreiben | an eine Stands= Person, Hamburg 1693 [WLB Stuttgart Theol. oct. 9759], S. 4 (Vorbericht).

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tik, wonach der Mensch seit dem Sündenfall zum Bösen neige, aber – entgegen der orthodoxen Auffassung – den Keim des Guten in sich trage, dem durch das Entsagen der Welt und durch eine rigide Nachfolge Christi zum Wachstum verholfen werden könne. Die Seele oder der Charakter des Menschen ist entgegen der evangelischen Lehre vom Sündenfall wandelbar, sei es durch die Wiedergeburt, sei es durch die Erziehung. Ausgangspunkt dieser Pädagogik ist die voluntative Mystik: »Die Pforte gleichsam/ dadurch GOtt zu uns kömmt mit seiner allerheiligsten Gnade/ ist das Verlangen der Seelen/ welches man sonsten nennet das Hertz oder den Willen«. Das Ziel ist die Vorbereitung der Kinder zur Einwohnung Gottes. Dies sei es »welches man muß erwecken/ unterhalten/ und bey zeiten den Kindern ohn alle Versäumnis außarbeiten«.801 Eine christliche Pädagogik ist somit die Vorbereitung der Jugendlichen zur Wiedergeburt und zur wahren Erkenntnis Gottes, noch bevor sie mit der schlechten Welt in Kontakt kommen und durch diese verdorben und zu Sündern gemacht werden. Auf der mystischen Psychologie des ›Gemütes‹ auf bauend entwirft Poiret eine zweiteilige Pädagogik: Erstens die Bildung des Geistes oder des Verstandes und zweitens die Bildung des Herzens, bzw. des Willens. Der Erziehung des Willens widmet Poiret seine besondere Aufmerksamkeit. Ausgehend vom verdorbenen aber freien Willen (bzw. ›Eigenwille‹ oder ›Selbstliebe‹) des Menschen und der Überzeugung, dass das Gute einzig von Gott her komme, entwickelt er ein pädagogisches Konzept, wie die Kinder ihren eigenen Willen auf- und sich dem Willen Gottes hingeben. Es geht dabei darum, dass die Kinder die »Kraft des Verlangens« von sinnlichen Genüssen abwenden und diese ausschließlich auf Gott lenken. »Darum so muß man auch darzu die Kinder so viel als möglich angewehnen/ und mit grossen Fleiß ihren eigenen Willen in allen Dingen brechen/ ehe als sie sich in der kläglichen Gewohnheit ihrem eigenen Kopfe zu folgen/ zu fest gesetzt haben.« Mit dieser Maßnahme will Poiret bereits den Kindern den menschlichen »Affect des Wohlgefallens« aberziehen und sie im jungen Alter zur Tugend ›abrichten‹.802 Wie Poiret sein autoritäres Erziehungskonzept in die Tat umsetzen will, verrät er in Die Klugheit der Gerechten nicht. Er entwirft lediglich das stereotype Stufenprogramm der Mystiker. Nachdem die Kinder der Welt entsagen, bzw. ihnen der Willen gebrochen worden ist, beginnt eine Erziehung zur Demut, gefolgt von der Erziehung zum Verlangen nach Gott. Abschließend werden die Kinder zur Bereitschaft zur Busse geschult. Lohn dieser Pädagogik ist, dass die Kinder engelsgleich in dieser Welt werden und somit die Gewissheit über ihre Seeligkeit bereits im irdischen Leben 801 802

Ebd., S. 18 f. Ebd., S. 21 f. u. 75.

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erlangen. Oder in Poirets poetischen Worten ausgedrückt, werden die Kinder »Mit=Bürger des Himmels«.803 Was sagt nun Poiret zur Ausbildung des Verstandes? Auch hier wird er, was die pädagogische Praxis anbelangt, nur wenig konkret. Ihm geht es mehr um den abstrakten Grundsatz, dass die Kinder zur Wahrheit und Aufrichtigkeit erzogen werden sollen. Die Kinder sollten zur Erkenntnis von Gottes Wort und Werk befähigt werden. Das sei aber erst möglich nach einer gründlichen Erziehung des Herzens. Sei ihnen einmal das wahre Christentum eingepf lanzt, so seien sie fähig, das Herz vom Bösen abzuwenden. Jetzt erst sei das Kind in der Lage, das innere Licht oder das innere Auge als Grundlage des richtigen Vernunftgebrauchs zu entwickeln. Aufschlussreich ist die Erziehungsschrift ganz allgemein hinsichtlich des ambivalenten Vernunftbegriffes des Spiritualismus. Grundsätzlich befürwortet Pierre Poiret den Vernunftgebrauch und den frühen Unterricht im vernünftigen Gebrauch der Urteilskraft. Einschränkend betont er aber, dass es zur wahren Vernunft das »Licht des Gemüths« brauche.804 Er ist demnach der Auffassung, dass die reine Vernunft transzendent sei, und zu deren Entfaltung der Mensch eines weiteren Agens, des göttlichen Lichts, bedürfe. Eine metaphysische Voraussetzung, zu der nur ein an Gott teilhaftiges ›Gemüt‹ fähig sei. Eine solche Denkweise erhellt den oben bei Antoinette Bourignon aufgezeigten Widerspruch zwischen einer grundlegenden Vernunftkritik, gerichtet an die Adresse der orthodoxen Theologie, und einer rein rationalen Dekonstruktion von religiösen Dogmen. Poiret kennt keinen Begriff von Kindheit. Der Erziehungsschrift fehlt jede praktische Ausrichtung oder Beobachtungen über die Kindheit. In diesem Bereich ist August Hermann Francke originell. Ja, Die Klugheit der Gerechten fand in Francke ihre praktische Ausgestaltung. In ihren Grundsätzen sind sich die Erziehungsschriften sehr ähnlich und eine Beeinf lussung Franckes durch Poiret liegt auf der Hand. Die These von Juliane Jacobi, dass bereits im halleschen Pietismus Erscheinungsformen einer neuzeitlichen Pädagogik, die dem Bürgertum zugeordnet werden, anzutreffen seien, darf wohl auch auf Pierre Poiret übertragen werden. Auch bei ihm ist die Verbindung einer Entwicklung der individuellen Innerlichkeit mit einer universellen Aufgabe der Erziehung verbunden.805 Eine Verbindung, die sich deutlich in der starken Gewichtung der ›Herzensbildung‹ äußert: Das Zurückdrängen der Affekte und die asketisch anmutende Selbstregulierung der Triebe kompensiert mit einer religiösen Sublimation wirft die Frage auf, ob diese zunehmende Selbstdisziplinierung 803 804 805

Ebd., S. 27. Ebd., S. 46 ff. Juliane Jacobi, Pietismus und Pädagogik, S. 53.

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und Triebkonditionierung als Differenzierung der Persönlichkeitsstrukturen zu sehen sind, die mit einem langfristigen gesellschaftlichen Strukturwandel einhergehen?806 2.6.4 »The Behmenists« und die Apokatastasis panton 2.6.4.1 Thomas Bromley und John Pordage Die Lebensbeschreibung Lochers vermerkt als großes Ereignis – so wie die Geburt und der Tod eines seiner Kinder oder eine außergewöhnliche Reise zu pietistischen Freunden nach Bern verzeichnet sind – unter der Jahrzahl 1685 den Empfang mehrerer Exemplare des Büchleins Sabbath zur Ruhe.807 Was hier als bedeutendes Ereignis registriert wurde, ist nicht der Erhalt des im selben Jahr in Amsterdam erschienenen Traktats in deutscher Übersetzung des ›Behmenist‹ Thomas Bromley (1629–1691) an sich, das Werk befand sich dreizehn Jahre später auch nicht in der Bibliothek Lochers. Dass die Büchersendung als das zentrale Ereignis des Jahres in der Lebensbeschreibung Lochers erwähnt wird, hängt damit zusammen, dass der Zürcher damit endgültig Aufnahme ins klandestine Korrespondenznetz der Böhmeanhänger gefunden hatte, und als vertrauenswürdiger Mittler galt. Bereits drei Jahre vorher hatte Locher anlässlich der Gesamtausgabe der Werke Jakob Böhmes erste Kontakte mit diesem von Loth Fischer betreuten Netzwerk geknüpft. Nun wurde Locher so etwas wie die Drehscheibe für das Gebiet der Schweiz. Er organisierte den Absatz der spiritualistischen und radikalpietistischen Literatur, die mehrheitlich in Amsterdam verlegt wurde. Anhand des Korrespondenznetzes, das Locher nun auf baute und welches er 1698 in den Verhören offen legen musste, ist ersichtlich, dass er die heterodoxe Literatur im Gebiet der Stände Bern, Schaff hausen und Zürich weitervertrieb. Das Thema von Der Weg zum Sabbath der Ruhe, 1685 808 ist die Wiedergeburt. Der Traktat handelt vom etappenweisen Fortschritt des Gläubigen bis zur Vollkommenheit. (5) Nach Bromley vollzieht sich die Wiedergeburt stufenweise in der Seele (27). Er ist überzeugt, dass die Wiedergeburt eine Veränderung der Seele sei (19). Dieser seelische Wandel sei notwen806

Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 1, u. a. S. IX. ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 16, S. 7. 808 Bromley, Der Weg zum | Sabbath der Ruhe/ | Durch der Seelen Fortgang im | Werck der Wiedergeburt/ | oder | Kurtze und gründliche Unterrichtung von der | Neuen Geburt. | Worinnen vielerley Listen der Schlange entdeckt; | Die Verborgenheiten des Creutzes geoffenbaret: | Der Tod des Alten/ das Leben des neuen Englichen | Menschen; | Sampt dem Eingang zur Göttlichen Bedie=|nung/ klärlich gezeiget und vorgetragen werden. | Durch einen Liebhaber der Wahrheit | Und Gliedmaß der wahren Kirche. | T. B., Amsterdam 1685 [SB Berlin Cs 15813]. 807

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dig, denn wenn der Mensch sich nicht verändere und werde wie die Kinder, so werde er nicht ins Himmelreich eingehen (37). Die Vorstellung des seelischen Wandels, wie sie Bromley entwirft, basiert auf der dualen menschlichen Psychologie, wie sie bereits Jakob Böhme entworfen hatte und durch die Bildmetaphorik des Frontispiz aufgegriffen wird: Bromley ist überzeugt, dass es im Innern des Menschen zwei Welten gebe: die finstere, als das Zentrum des Bösen, und den hellen, lichtdurchf luteten Garten Eden (39). Das Reich der Finsternis will er in der Geldwirtschaft erkennen: Das Absterben besteht nun zu einem großen Teil darin, dass der Mensch sich kein Eigentum mehr anmaße. »Alhier sieht man/ daß die Begeierlichkeit oder der Geitz die Ursache gewesen des Eigenthums/ des Einnehmens der Länder/ des Schrappens und zusammenkratzens/ Geldes und Guts/ darinnen die meisten Menschen verwickelt sind; und daß Christus kommen/ diß Werck des Teuffels/ durch seine Lehre und Exempel zu zerstören« (55). Nach Bromley entsteht nun ein schwerer Konf likt in der Seele des zur Wiedergeburt Tendierenden: Ein Krieg »zwischen den Weibes Saamen [= Sophia] und der Schlange. […] Christus und der Antichrist liegen ernstlich gegen ein ander zu Kampfe« (43). Dass durch die Wiedergeburt das eine Prinzip über das andere siege und bis ans Lebensende perfektioniert werden müsse, braucht hier nicht mehr weiter ausgeführt zu werden. Das Bedeutende an Bromleys Schrift ist, dass sie die Wiedergeburt zum alleinigen psychologischen Thema macht. Inhaltlich bringt sie aber wenig neues. Thomas Bromley war 1670 Mitbegründer der philadelphischen Gesellschaft, die auf Betreiben Jane Leades ins Leben gerufen wurde. Zuvor war er als Theologiestudent von der Universität verwiesen worden, weil er die staatskirchliche Liturgie nicht anerkennen wollte. Bromley entwickelte sich unter dem Einf luss der Werke Jakob Böhmes zu einem mystischen Apokalyptiker, der jede kirchliche Gemeinschaft ablehnte und die Ehe verabscheute. Er wurde zu einem Anhänger von John Pordage. 809 Auch die Schriften des Arztes und Theologen John Pordage (1609– 1681) erschienen posthum in deutscher Übersetzung zwischen 1697–1704 bei Wettstein in Amsterdam. Der Übersetzer war wiederum Loth Fischer. Anhand von Exzerpten, die Locher anfertigte, wissen wir, dass er sich mit der »Theologia Mistica Johann Pordatsch« beschäftigte.810

809

Art. Thomas Bromley, BBKL , Bd. 1, Hamm 1975, S. 756. ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 66. Pordage, Theologia Mystica: oder Geheime und verborgne göttliche Lehre von den Ewigen unsichtbarlichkeiten als vom Mundo & Globo Archetypo, das ist, vom rechtem Original Welt-Runde und uranfänglichen Haupt-Model oder Welt aller Welten, Globen […] wie sie Namen haben oder genannt werden mögen […] / von Einer Person […] J. P. M. D. Anietzo in unsere Mutter-Sprache übergesetzt, Amsterdam 1698 [Mit einer Vorrede von Jane Leade]. 810

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Abbildung 19: Frontispiz aus Thomas Bromley, Der Weg zum Sabbath der Ruhe, 1685. Der Kupferstich bedient sich derselben Bildsprache wie die Serie aus der Gesamtausgabe der Werke Jakob Böhmes von 1682. [SB Berlin Cs 15813]

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2.6.4.2 Jane Leade Es bestehen beachtenswerte Parallelen zwischen Antoinette Bourignon und der etwas jüngeren Jane Leade (1623–1704)811. Beide erheben den Anspruch geistige Führerinnen einer endzeitlichen Gemeinde zu sein und beide stehen in der Tradition Jakob Böhmes. Beide Frauen entstammten reichen Kaufmannshäusern und beide hatten in ihrer Jugend religiöse Visionen, die dazu führten, dass sie der Welt entsagen wollten. Beide verschmähten die von den Eltern auserkorenen Freier und beide verließen das Elternhaus f luchtartig, um den elterlichen Heiratsplänen zu entkommen. Im Unterschied zur Flämin blieb Jane Leade hingegen nicht ehelos. Sie heiratete gegen den Willen ihrer Eltern ihren Cousin William Leade. Durch den anglikanischen Priester John Pordage lernte Jane Leade die Werke Jakob Böhmes kennen, die sie begeistert aufnahm. Nach dem Tod ihres Gatten 1670 hatte sie mehrere Offenbarungen der »göttlichen Weisheit«. Im Garten=Brunn beschreibt sie ihre »Fortschritte des Glaubens= Lebens« tagebuchartig und schildert ihr erstes »Gesicht«. Danach weilte sie im April 1670 außerhalb Londons bei einer Freundin und fand die Gelegenheit zu einem einsamen Waldspaziergang. Bei dieser Gelegenheit beabsichtigte sie, vor Gott das Herz über ihren Lebenswandel auszuschütten: Da erschien ihr eine wundersame Wolke, in der eine kostbar gekleidete Frau zu erkennen war. Diese gab sich als Gottes ewige Jungfrau der Weisheit zu erkennen. Sie sei nun gekommen, um ihr die Schätze der Weisheit Gottes zu ›entsiegeln‹. Drei Tage später hatte Jane Leade dieselbe Vision erneut. Als sie nach London zurück kehrte, überfiel sie sechs Tage später nochmals eine Vision: Die Jungfrau erschien und teilte ihr mit, sie werde in Zukunft nicht mehr sichtbar erscheinen, sondern sie in ihrem Herzen und in ihrem Gemüt die Weisheit und den Verstand lehren, damit sie den wahren Gott erkenne und damit das Bild Christi in ihr erhellt werde.812 Die Vision der ewigen Jungfrau der Weisheit Gottes wurde ihr zur Er811 Hochhuth, Geschichte und Entwicklung der philadelphischen Gemeinden, S. 171– 290; Thune, The Behemists an the Philadelphians; Smith, Jane Lead, S. 184–203. 812 Leade, Der | Garten Brunn | Gewässert durch die Ströhme der göttli |chen Lust= = barkeit/ und hervorgrünend in mannich=|faltigen Unterschiede geistlicher Pf lantzen: die durch | den reinen Anhauch zu einem | Paradiese | Aufgeblasen/ und nunmehro ihren an=|muthig süssen Geschmack und starcken Geruch zur | Seelen=Erquickung von sich geben. | oder | Ein rechtes Diarium und ausführlich | Tag=Verzeichnus alles desjenigen/ was sich mir dieser | theuren Autorin/ in Ihrem hohen Beruffe vom Jahre | 1670 her zugetragen/ auch wie die wesentliche Weißheit | Sie auf Ihr Gebeth und Fragen in Ihrem gantzen | Glaubens=Processe und magischen Kampff und | Streite unterrichtet/ und von einem Grade zum | andern durchs Paradies hinauf ins Reich des | Berges Sions und des Oberen Jerusa=|lems eingelietet habe. | Ausgefertigt in drey Theilen | Durch | Jane Leade. | Und nun/ nebenst ihren andern Wercken/ | (wie am Ende dieses ersten Theils zu sehen) treu=|lich übersetzt/ und mit einem Nachbericht des Uber=|setzers zum Druck befördert, Amsterdam (Heinrich Wettstein) 1697 [HAB Wolfenbüttel Tq 682], S. 13–16.

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kenntnisquelle, die sie auf Böhme zurückgreifend auch als die »Weisheit Sophia« bezeichnete: Diese sei die Quelle der Offenbarung über das Reich Christi; die Jungfrau Sophia sei das Vermögen des übersinnlichen Empfindens. Sophia sei die Figur des Weibes mit dem Mond unter den Füssen, wie sie im Offenbarungstext beschrieben werde. Sie sei die Weisheit, die sich von der Weisheit des Fleisches abhebe, denn sie sei aus dem Licht geboren. Die ewige Jungfrau war es, die Jane Leade das hoffnungsvolle Nahen der letzten Tage verkündete: Was Adam und Eva vom Paradies verloren haben, das solle die Jungfrau wieder bringen.813 Sie widmete nun ihr Leben als »virgin widow« der Verkündung ihrer Visionen. Auf Befehl Gottes begann Jane Leade nach 1670 ihre mystisch-chiliastischen Offenbarungen in einem Tagebuch niederzuschreiben und gab ihre erste Schrift heraus: The Heavenly Cloud Now Breaking, London 1681. Der Erfolg ihres Erstlings blieb aus. Doch das Buch fand einen Weg nach Deutschland: Eines Tages erhielt die Autorin einen Brief eines deutschen Wohltäters, der sich anerbot, ihr Werk auf Deutsch und Englisch herauszugeben. Mit diesem Wohltäter wird der Baron Dodo von Knyphausen in Verbindung gebracht, auf dessen Gut seinerzeit bereits Antoinette Bourignon auf ihrer permanenten Flucht vorübergehend ein Asyl gefunden hatte und der später als Ober-Kammerpräsident am preußischen Hof zum Förderer des Ehepaars Petersen wurde.814 Der Baron entrichtete Jane Leade nicht nur eine jährliche Rente, er veranlasste auch den Druck der deutschen Übersetzungen, womit er Loth Fischer in Utrecht betraute.815 Die erste deutsche Übersetzung kam 1694 in Amsterdam bei Heinrich Wettstein, einem Drucker aus Basel, heraus: die Himmlische Wolcke. Johann Heinrich Locher muss durch seinen Brieffreund Loth Fischer schon früh über das Übersetzungsprojekt unterrichtet worden sein. Locher legte seinem Schreiben an Johann Kaspar Hardmeyer einen Brief bei, den er vom Berner Pietisten Daniel Knopf erhalten hatte, in dem sich der Absender nach Hardmeyers Übersetzung von Pierre Poirets Von der Auferziehung der Kinder erkundigte. Der Bonstetter Pfarrer notierte am 27. No813

Die Sophienlehre wird entwickelt in: Dies., Offenbahrung | der | Offenbahrungen; | Vornehmlich | Als ein Muster und Probe | zur Entsiegelung/ Offenbahrung und Erklärung | der | Sieben Siegel/ sieben Donner/ und eigent=|lichen Beschaffenheit und Zustand des | neuen Jerusalems. || Welche biß auf den heutigen Tag so ferne noch nicht | ans Liecht gebracht worden/ daß sie das grosse My=|sterium zum Verstande zu bringen/ einiger Massen | ein Genügen geben möchten/ (ausgenommen bey | dem geistlichen Unterscheider). || Im Jahr 1683. allbereit/ auf außdrücklich Göttlichen Befehl/ | in Englischer Sprache geschrieben und außgefertigt | durch | Jane Leade, Amsterdam (Heinrich Wettstein) 1695 [UB Basel His. 274], S. 83–98. 814 Luft, Leben und Schreiben für den Pietismus, S. 239. 815 Hochhuth, Geschichte und Entwicklung der philadelphischen Gemeinden, S. 204 f.; Thune, The Behemists an the Philadelphians. S. 81, Anm. 8.

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vember 1694 in seinem Tagebuch, dass Locher und Knopf zudem über Jane Leades »Offenbahrung der Offenbahrungen« korrespondierten, die dann 1695 erscheinen sollte. Thema war auch die »Beÿsteuer« ans Editionsprojekt.816 Offenbar war Loth Fischer als Organisator der Leade-Übersetzung auch mit dem Sammeln von Geld beauftragt. Locher war nicht nur von Beginn weg über das Editionsprojekt informiert gewesen: Er war auch mit der klandestinen Subskription der Werke Jane Leades für das Gebiet der Schweiz tätig gewesen. Teil dieser Aufgabe war auch die Geldsammlung, um das Editionsprojekt zu finanzieren. Die enge Zusammenarbeit zwischen Bern und Zürich im Pietistenprozess vom Sommer 1698 deckte Locher rasch als wichtigsten Absatzkanal für heterodoxe Schriften auf. Locher wurde der Vertrieb der Werke Jane Leades zusammen mit denjenigen von Böhme, Weigel, Hiel und Johanna Eleonora Petersen unter den Berner Pietisten vorgeworfen.817 Darüber hinaus wurde Locher durch den Bericht des Pfarrers Bachmann schwer belastet. Der Leiter des Berner Pietistenprozesses berichtete, diverse Leute aus Bern – die er einer labadistischen Sozietät zurechnete – hätten den Druck der Leade-Traktate mit unterschiedlichen Beiträgen gefördert. Locher wurde als Drehscheibe identifiziert. Dieser wandte dagegen ein, dass der Hauptteil der Druckkosten von einem deutschen Baron, dessen Namen ihm entfallen sei, aufgewendet worden sei. Abgesehen von seinem Beitrag stammten keine weiteren Gelder aus der Schweiz. 818 Die Erkenntnis der Ermittler ging bald noch weiter: Locher befand sich seit mehreren Tagen im soeben fertiggestellten Rathaus in Haft, als er am Samstag 23. Juli 1698 ein weiteres Mal vernommen wurde. Zuerst wird er sanft gefragt, ob er Jane Leades Himmlische Wolcke kenne. Er bejaht: der Traktat sei bei Heinrich Wettstein in Amsterdam gedruckt worden. Nun wollen die Examinatoren wissen, ob er den Verleger kenne. Locher bezeichnet sich als Verleger, um weitere Personen zu schützen. So richtig glauben wollen ihm die Examinatoren nicht, weil Locher gar nicht über das nötige Kapital verfügte. Auf die Frage, was es gekostet habe, kann er keine klare Antwort geben: »Ich [= Locher] sagt wüßte nit Eigentlich werde ungefahrlich 40 in 50 G[ulden] gekost haben«. Er habe wenige Exemplare erhalten, bloß etwa zwei Duzend. L[oth] F[ischer] habe den Traktat übersetzt. Zum Verhängnis wurde Locher schließlich eine Abschrift eines Briefs 819, welcher den Examinatoren in seinem Kontor bei 816

ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 251, Eintrag vom 27. November 1694. 817 Dellsperger, Die Anfänge des Pietismus in Bern, S. 128, Anm. 32. 818 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 6, Wahrhafftige Erzellung, S. 33. 819 Erhalten sind Zusammenfassungen von Dankesbriefen Jane Leades für die finanzielle Unterstützung der deutschen Ausgabe der Himmlischen Wolcke. StaZ E I 8.5 [Memoriale Betreffend He Lochers Correspondentz mit He HartMeÿer – Nr. 6 und 7].

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einer Hausdurchsuchung in die Hände fiel. Das Original war ein Dankesbrief von Loth Fischer an einen »H: R: E:«. Unter Druck musste Locher die Person hinter den Initialen preis geben: Er nennt seinen Großvater und Mentor, »Heinrich Römer Elter« (1628–1697) als wichtigen Geldgeber des Editionsprojektes. Locher zieht die Schuld auf sich und meint, das Geschäft sei durch seine Vermittlung geschehen und gibt zu, dass ihm selbst das Kapital gefehlt hätte, dass »sein beütel zu solchen Dingen nicht genugsam« gefüllt sei.820 Das obrigkeitliche Memoriale über Heinrich Locher legte ihm unter dem zweiten Punkt zur Last, dass durch verschiedene Aussagen und Ermittlungen festgestellt worden sei, er habe – mit von verschiedenen Seiten beigesteuertem Geld – die Übersetzung und den Druck der Werke Jane Leades in Amsterdam bei Heinrich Wettstein veranlasst.821 Johann Heinrich Locher war Teil des informellen Netzes rund um Loth Fischer, das die Edition und Verbreitung der Werke Jane Leades ermöglichte. Wir dürfen daher auch annehmen, dass Locher alle Schriften der englischen Visionärin besaß und kannte, die bis zum Zeitpunkt der Bibliotheksbeschlagnahmung erhältlich waren. Die Konfiskationsliste hält einzig fünf Bände »Jane Leade opera« fest. 822 Das entspricht genau den fünf bis Ende 1697 erschienenen Traktate823: Himmlische Wolcke, 1694824, Offenbahrung der Offenbahrungen, 1695, Sechs Unschätzbare Mystische Tractätlein, 1696 825, 820 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 23 [»Anlagen und beschuldigungen mit welchen Heinrich Locher zum Meyen schon siether einigen Jahren belegt worden, erbaut selbiger bescheidenlicher beantwortung«], Bogen D. 821 St AZ E I 8.4 [»Memoriale über Hr. Heinrich Lochers des Kauffmanns verdächtigen Wandel«]. 822 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 11, S. 5. 823 Zur Bibliographie vgl.: Hochhuth, Geschichte und Entwicklung der philadelphischen Gemeinden, S. 171–176. Mit Hinweis auf die Fundorte: McKenzie, A catalog of British devotional and religious books in German translation. 824 Leade, Himmlische Wolcke: | So wol auch des | HERRN Christi | Auffarths = Leiter; | Hernieder gelassen/ | Den Weg zu zeigen und anzuwei=|sen/ wie durch den Tod und Auferstehung/ | zur Himmelfarth und Glorificierung | gelangen möge. | Durch | Jane Leade. || Eine hocherleuchtete Frauens=Person/ | aus GOttes Befehl/ im Jahre 1681/ in Engli=|scher Sprache heraus gegeben/ und nun GOTT | zu Ehren/ und denen Menschen/ so es fassen | mögen/ zu Dienste/ in unsrer Mutter=|Sprache/ ans Liecht befördert, Amsterdam (Heinrich Wettstein) 1694 [UB Basel His. 274]. 825 Dies., Sechs Unschätzbare | Durch Göttliche Offenbarung und Be |fehl ans Liecht = gebrachte | Mystische Tractätlein. || Das Erste: | Der Henochianische Glaub- und Lebens=|Wandel mit Gott. | Das Andre: | Die Gesetze des Paradieses/ so bißher verloh-| ren gewesen/ und durch die Weißheit selbsten | wider an den Tag gebracht worden. | Das Dritte: | Die Wunder der Schöpffung Gottes geof-|enbart in Acht unterschiedlichen Welten/ die sich doch | alle in der Menschlichen Seele/ nach seinem begeh=|rendem Willen/ zu offenbaren vermögen. | Das Vierdte: | Eine Bottschafft an die Philadelphische Ge=|meine/ samt einem Ruffe an die sich in England befin=|dende Sechs unterschied liche Protestantische Reli=|gionen oder Secten und Kirch=Gemeinen. | Das Fünffte: | Der

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Eine Offenbarung der Bottschafft, 1697826 und die ersten beiden Teile des Der Garten=Brunn, 1697. Einen Eindruck, wie das Netzwerk rund um Loth Fischer funktionierte und wie offensiv Geld gesammelt wurde, gibt uns folgende Episode: Am 15. Mai 1695 suchte Johann Heinrich Locher aufgeregt das Gespräch mit Johann Kaspar Hardmeyer. Er erschien noch während dem Mittagessen in Bonstetten und wollte von seinem Freund dringend wissen, was dieser davon halte, »Ob H. verstorbene Seelen nach ihrem Absterben auch den ihrigen [= Angehörigen] wider erscheinen?« Er frage danach, weil er eine Abschrift eines Briefes an Jane Leade durch Loth Fischer erhalten habe. Der Absender des Briefes sei ebenfalls ein guter Freund Fischers. Der Briefschreiber beteuert gegenüber der Adressatin, er habe aus ihren Schriften viel Licht und Erquickung geschöpft. Die Lektüre veranlasste ihn zur Hoffnung, »daß zwüschen einigen Seelen in diesem und jenem Leben noch eine Sympateÿsche Communications= und Hilfsbegieren« bestehe. Es sei ihm etwas sehr Sonderbares zugestoßen, berichtet er. Denn kurz nach dem Tod seiner Frau habe er einen Brief von ihrer Hand in ihrem Nachlass gefunden, in dem sie ihn über ihren Tod tröste und ihm mitteile, sie wäre jetzt »was anderes«. Die Worte seien sonderbarerweise einzeln untereinander geschrieben gewesen, teilt der irritierte Ratsuchende der Visionärin weiter mit. Gestern nun habe Locher die Kopien der beiden Antwortschreiben Jane Leades erhalten. Das erste datierend London, 12./22. April 1695: Sie äußert darin ihren Glauben, dass eine ›sympathetische Kommunikation‹ zwischen dem Diesseits und dem Jenseits eine neue Art sei, wie sich Gott offenbare: »daß er die lebendigen durch die todten überzeüge, wie sie die beste Nachricht von dem Zustahnde der Unsterblichkeit ertheilen könen«. Ihr sei zudem eine Offenbarung zuteil geworden, die sie nun dem Briefschreiber mitteilen möchte, wonach seine Frau im Paradies nur wenige Grade unterhalb des höchsten Glanzes der göttlichen Majestät aufgenomGlaubens- oder Lebens=Baum / so im | Paradiese Gottes aufgewachsen/ daß die Jungfräuliche | Kirche sich unter demselben verbergen könne. | Das Sechste: | Die Arche des Glaubens/ oder nothwen-|diger Anhang zu ferneren Bestättigung des | Glaub= und Lebens=Baums. || Allesamt beschrieben durch das theure Werckzeug | JANE LEADE. | Neben der Autorin Lebens-Lauffe und einem | kurtzen Nachbericht des Ubersetzers an den Leser, Amsterdam 1696 [UB Basel His 277]. 826 Dies., Eine | Offenbarung der Bottschafft | des EWIGEN EVANGELII; | Welches gepredigt zu werden nimmer | auf hören soll/ bis die Stunde des | Ewigen Gerichts Christi | kommen wird: | Wordurch das Letzte Liebs=Jubel/ oder | das endliche Erlaß= und Frey= Jahr/ verkündigt | und ausgeruffen wird; und zwar zu dem Ende/ daß | die gantze gefallene Schöpffung/ es seyn Men=|schen oder Engel/ wieder in ihren er=|sten Stand eingesetzt werden/ | und | Alle Gefangnen/ durch das Blut des | ewigen Bundes/ frey gelassen werden sollen. | Durch | JANE LEADE | ans Liecht gebracht, Amsterdam 1697 [UB Basel His. 277].

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men wurde. Und Gott habe ihn durch seine Frau zu einem besonderen Werk berufen: Er solle sich in die geheime Gotteslehre schicken, damit diese in allen Nationen ausgebreitet werde. Kurz, er solle den Druck ihrer Schriften unterstützen. Ein zweites Schreiben richtete sie wenige Tage später an Loth Fischer. Am 16./26. April schreibt sie, sie habe eine weitere Vision gehabt und er solle dem Herrn Overbeck827 – so der Name des ratsuchenden Witwers – mitteilen, sie habe seine Frau mehrmals im Paradies gesehen. Locher wollte nun von seinem belesenen Freund unverzüglich wissen, was der über solche Phänomene gelesen habe und was er davon halte. Hardmeyer gibt einige Beispiele und resümiert, »Dieß ist was ich von dergleichen Sache gelesen; wass darvon jedermann glauben was er wil, halte aber darvon es seÿ ein bedenkliches und gefahrliches Ding«. Er geht mit der Theorie der »Sympathetica« ins Gericht und meint, solches sei unnötig und schädlich und gebe dem Satan Anlass zu höllischem Betrug. Er kritisiert Jane Leade, die im Brief an Loth Fischer behauptet, sie habe in einer Vision die Frau gesehen, wie sie in einem lichten Gewand den Namen des Herrn auf der Brust trage. Dies bezeichnet er als Enthusiasmus, denn die entleibte Seele stehe über der menschlichen Gesellschaft. Hardmeyer hält die englische Visionärin für ein »grund listiges Weib«.828 Wie weit die Erwägungen Hardmeyers die Verwirrung Lochers beseitigen konnten, ist im Tagebuch nicht vermerkt. Bemerkenswert ist aber, wie skrupellos und aggressiv teilweise Zuschüsse zu den Druckkosten akquiriert wurden. Dass der Bonstetter Pfarrer Jane Leade als eine listige Person qualifizierte, belastete weder Lochers Freundschaft noch dessen Begeisterung für die Visionärin. Am Abend des 9. Dezember desselben Jahres besuchte Locher Hardmeyer ein weiteres Mal, um erneut mit ihm über die letzten Neuigkeiten seitens der englischen Prophetin zu diskutieren. Locher hatte von Loth Fischer aus Utrecht einen Brief mit einem neuen Traktat erhalten. Ein Traktat, der laut dem Begleitschreiben den Prädikanten stark in die Augen stechen werde. Die Rede ist von der auf 1696 vordatierten »Henochianische Lehre von der Erlösung der Geister«,829 bzw. vom ersten Traktat aus der Sammlung Sechs Unschätzbare Mystische Tractätlein: Der Henochianische Glaub- und Lebens=Wandel mit Gott. Hier entwickelt Jane Leade ihre Allversöhnungslehre. 827

Zu Overbeck oder Overbekke siehe: Matthias, Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen, S. 269. 828 ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 330–335, Eintrag vom 15. Mai 1695. Die Abschriften des Briefes aus Holland an Jane Leade sowie der beiden Antwortschreiben siehe: ZB Zürich Ms. S. 276, Nr. 15. 829 ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 442, Eintrag vom 9./10. Dezember 1695.

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Einstiegsthema ist ihr Gottesbegriff: ein Gott der Liebe, dessen Liebe sich auf alle Menschen erstrecke. Und Jane Leade ist sich gewiss, dass diese Liebe universell ist: Gottes Liebe zeige sich in der Erlösung der Menschen aus der unendlichen Strafe durch den Sündenfall. Diese »Blume des Gemüths« sei ihr am 12./22. Mai 1694 durch göttliche Offenbarung zuteil geworden.830 Derartige himmlische Erkenntnisse, die sie als Blumen des Gemüts bezeichnet, seien dem »Leib der Sünde und des Fleisches« nicht zugänglich. Jane Leade versteht es, über ihre innere Erkenntnisweise Mystik mit Chilisamus zu verbinden. Henoch wird für sie zur Chiffre ihres mystischen, introvertiert-geistigen Lebens, das sie auch als Pilgerschaft bezeichnet. Ziel dieser versuchungsreichen Wanderschaft ist die Wiedergeburt, die bis zum Tod perfektioniert werden müsse. Diesen »geistliche Proceß« beschreibt sie in Anlehnung an Böhme in alchemistischer Terminologie auch als »Schmeltz= Probier= und Reinigungs= Oefen«.831 Erst wer auf diesem Weg wandle, ist sie überzeugt, sei in der Lage, die Offenbarung der »unerforschlichen Liebe Gottes« zu verstehen: Ihr wurde so offenbart, dass die gesamte Menschheit und selbst der Teufel zu bestimmten – zyklisch verlaufenden – Zeiten erlöst und von Gott angenommen würden. Dann würden die Menschen in ihren ursprünglichen, d. h. unschuldigen Zustand zurückversetzt: »Allein ich habe zu mehrerer Offenbahr= und Darthu- oder Rettung der Unschuld der unendlichen und unerforschlichen Liebe Gottes unsers gegen das gantze gefallene Geschlechte/ noch etwas tiefers zu eröffnen/ wie nemlich auch so gar die Engel oder Geister/ welche alle Menschen-Kinder zu versuchen und zu verleiten/ ihre bestimmte Zeit (die ihnen gewissen Periodum und Ende haben wird) haben/ noch allesamt wieder erlöst; und in ihren ersten Stand gebracht werden sollen/ nachdem bereits alle die mancherley Schauspiels=Aufzüge/ Revolutionen und Veränderungen/ so die Wunder der Weißheit Gottes in Liebe/ Krafft und Gerechtigkeit offenbahren und an den Tag bringen müssen/ vollendet seyn werden.« 832 Als Beleg dafür, dass es sich hier nicht um eine private Einbildung handle, fügt Jane Leade Epheser 1.10 an. Laut dieser Textstelle werde Gott »in der Fülle der Zeit« alle Dinge zusammenfallen lassen und in der Wiederbringung der Dinge »alles dasjenige/ was die Sünde in eine verderbliche Zerrüttung/ Unordnung und Zerstöhrung gesetzt«, wieder vollkommen machen. Und sie freut sich über die chiliastische Ankündigung, dass die Zeiten der Sünden und Verderbnisse ein Ende haben werden: Dann werde Gott die Dinge neu 830 Leade, Sechs Unschätzbare Mystische Tractätlein: Der Henochianische Glaub- und Lebens=Wandel mit Gott, Einleitung (unpaginiert). 831 Ebd., S. 13ff u. 49 f. 832 Ebd., S. 51 f.

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machen. »Das Ende soll wieder in sein ursprünglich=anfänglich Wesen kehren.« Die Gnade Gottes werde eine vollkommene Wiederbringung bewirken. Gleich wie am Anfang der Welt werde es keine Sünde geben. So werde es nach dem Gericht sein, wenn Gott die Sünde ausgetilgt haben werde. Vorbote dieser sündenfreien Ewigkeit sei die »Krafft eines Lebens der Auferstehung« – oder anders ausgedrückt, dass es bereits heute wahre wiedergeborene Christen gebe.833 In der nachfolgenden Schrift, Eine Offenbarung der Bottschafft geht Leade nochmals auf ihre Wiederbringungslehre ein und kontert den Vorwurf, ihre Vision bei Origenes entlehnt zu haben: Die Wiederbringungslehre habe sie einzig aus der inneren Offenbarung geschöpft und nicht aus »Menschen=Weißheit«. Sie habe eine klare Vision gehabt, in der sie Gott beim Gericht gesehen und ihr der »andere Adam« erzählt habe, dass das Reich der Liebe Oberhand haben werde. Erst danach seien ihr die Textstellen der Bibel zu ihrer Vision bekannt gemacht worden, wie beispielsweise Röm 5.11, 14, 19, 21 und Cor 15.22. Und der Kritik, dass die Wiederbringungslehre den Grundsätzen Jakob Böhmes teilweise widerspreche, entgegnet sie mit der verbreiteten Vorstellung, dass Gott sich immer klarer offenbare, je näher der Zeitpunkt des Gerichts rücke. So ist Leade der Meinung, sie sei bloß eine Fortentwicklerin der Ideen Böhmes: Böhme sei zu seiner Zeit ein treues Werkzeug Gottes gewesen. Eine Zeit, in der die Tiefe dieser Frage nicht habe entsiegelt werden können.834 Schließlich geht sie noch auf den Kernpunkt ihrer Allversöhnungslehre ein, indem sie den Widerspruch zur doppelten Prädestination unterstreicht und meint, sie müsse die Vorstellung, dass Gott Menschen zur ewigen Verdammnis bestimmt habe, verwerfen. Die Gnadenwahllehre hält Jane Leade – gleich wie Antoinette Bourignon – für eine Beleidigung Gottes: Wer aus Gott einen grausamen Rächer mit einem tiefen Hass gegen seine Schöpfung mache, der urteile in ihren Augen komplett falsch.835 Der mit Timotheus zeichnende Herausgeber von Eine Offenbarung der Bottschafft bringt das durch die Allversöhnungslehre aufgeworfene Problem in seinem Vorbericht auf den Punkt. Wenn Gott ein Gott der Liebe sei, fragt sich der Herausgeber, wie dieser sich dann zum Gott des Zorns verhalte, der gegen die unbußfertigen Sünder geoffenbart werde. Die Abgrenzung des Gottes der Liebe zum Gott des Zornes – wie wir ihn bei den apokalyptischen Buß-Propheten kennen lernten – wird hier als Problem wahrgenommen. Es sei der vornehmste Widerspruch, den es aufzulösen gelte: Wie könne gut und böse, Licht und Finsternis, Barmherzigkeit und Gericht in einem Gott vereint sein? Wer solch widersprüchliche Eigen833 834 835

Ebd., S. 53 f. Leade, Eine Offenbarung der Bottschafft, S. 16 ff. u. 35 f. Ebd., S. 21 f.

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schaften Gottes in Einklang bringen könne – so der Herausgeber – der müsse durch Gott selbst erleuchtet sein. Gemeint ist Jane Leade.836 Johann Heinrich Locher wollte von Johann Kaspar Hardmeyer wissen, ob dieser ebenfalls von der Allversöhnungslehre gehört habe. Der Theologe nennt ihm einige Bibelstellen (1 Petr 3.19 u. 2 Petr 2.4), die diese Auffassung angeblich untermauerten, und vermutet, dass sich auch Loth Fischer und Jane Leades Schriften auf diese Belege abstützten. Er kritisiert aber die Schlussfolgerung, »daß auch die verdamten Teufel noch werden auß dem Verderben und der Verdammnis der Hölle erlöset werden, weil sie [Leade und Fischer] die gedachten Örhter H. Schrift vor definitura Tempori ansehen, da sie doch wären definitura poenae & judicii damnationii a[e]t[er]na«. Weiter vermutet Hardmeyer Origenes als Quelle der Allversöhnung. Denn dieser habe irrigerweise geglaubt, die Barmherzigkeit Gottes sei unendlich. So habe dieser angenommen, das Elend und die Pein der Gottlosen und selbst des Teufels würden ein Ende haben. Hardmeyer will die Meinung des Origenes mit Mt 25.41 und 46 widerlegen, wonach Gottes Barmherzigkeit, aber auch sein Zorn, unendlich seien. Neu war für Hardmeyer der Zeitpunkt, wann die universelle Barmherzigkeit Gottes eintreten solle. Er nimmt dabei Bezug auf das Begleitschreiben Loth Fischers, worin vermutet wird, dass die Erlösung der Geister aus dem Gefängnis sich nach 49.000 Jahren zutragen werde. Der Pfarrer erkennt hinter dieser Zeitangabe die Vorstellung vom Weltjahr des Platon.837 Am folgenden Tag wollte Locher genauer wissen, was es mit der Erlösung der Teufel und »Plationis grosses Jahr« auf sich habe. Hardmeyer erläuterte ihm, Platon sei der Meinung, dass eine Seele von einem Körper in den andern wandere und das während Tausenden von Jahren, »da alles wider kommen wurde, was zuvor gewesen (…) diselbe Zeit heiß er das Groß Jahr«. Wie lange dies dauern solle, wisse er auch nicht. In Phaidros stehe, dass es in 10.000 Jahren nicht geschehe 838. Weiter referierte Hard836

Ebd., S. 3–6. ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 442, Eintrag vom 9–10. Dezember 1695. 838 Hardmeyer gibt die Textstelle im Phaidros mit »m: 307[?]« an, was keinen Sinn ergibt. Gemeint ist wohl 246a-249b. Es wäre kein Zufall, wenn es sich genau um die Stelle handelt, in welcher Platon seine Seelenlehre entwickelt und den Menschen mit einem Wagen lenker und zwei gef lügelten Pferden vergleicht, wobei das eine Pferd gut ist und zum Himmlischen strebt, das andere schlecht und zur Erde neigt. Diese auf antagonistischen Seelenkräften beruhende Psychologie wurde Teil des hermetischen Gedankengutes. Sie findet sich beispielsweise bei Jakob Böhme und seinen Schülern wieder. Dort werden die zwei Kräfte mit Jakob und Esau oder Kain und Abel umschrieben. Und bei Goethe, Faust I, heißt es dann: »zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust«, V. 1112. Platon, Meisterdialoge. 837

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meyer die Interpretation Marsilio Ficinos, wonach ein Umlauf 3000 Jahre dauere.839 An den Renaissance-Hermetismus anknüpfend, der von der Idee ausging, dass die Antike mehr über die göttlichen Offenbarungen gewusst haben müsse als die gegenwärtige Menschheit, meinte Locher: »Es müeste doch Plato auch etwas Liecht gehabt haben, sonst er nicht dergl: Eÿnfäle gahabt hadte!« Hardmeyer dämpfte aber diese Vorstellung, da für ihn die Bibel die wichtigste Quelle über Gott bleibt: »freÿlich!« meinte er, »aber gar ein verkehrtes, verfinstertes und verwiretes, Hr. Locher wolte nicht Zweif len: dann daß Christus seÿe das einiges Liecht, Wäg, Wahrheit und Leben; von welches Glanze alles Liecht kömme; wo aber Christus nicht leüchtet, da wäre alles Finsternuß!« Locher konnte es nicht lassen – offenbar wollte er noch ein positives Urteil über Jane Leade aus dem Mund Hardmeyers hören: so begann er kurz vor der Abreise nochmals von der Offenbarung Jane Leades zu sprechen: Dass sie ein sonderbares Licht hätte und Erkenntnisse durch göttliche Visionen erhalte, das zeige, so Locher, wie vorbildlich Jane Leade sich dem mystischen Leben und der Selbstverneinung hingebe. Locher hielt demnach die Visionen als einen Beweis für ihre echte Nachfolge Christi. Hardmeyer sah dies aber etwas differenzierter: man müsse vorsichtig (»wohl«) urteilen, welche Geister von Gott kämen. Der Probierstein sei das einige Wort Gottes, der zeige, was Gold oder die Wahrheit sei. Denn es könne sich auch ein Teufel in einen Engel »vergestalten«. 840 Hardmeyer stellt hier die Biblizität über die subjektive unmittelbare Gotteserfahrung. Die Diskussion über die Wiederbringung und Allversöhnung beschäftigte die beiden noch bis Ende August 1696: Am 3. Februar 1696 sendet Hardmeyer die Abschrift seiner Tagebuchnotizen über die Gespräche im Dezember an Locher und betont, er halte die Wiederbringungslehre für widerlegt. Vier Tage später schreibt er ihm einen ausführlichen Brief, in dem er die kosmologische Anreicherung der christlichen Theologie konsequent ablehnt: Der Erlösung der Geisteren welcher zu behaubten E Hr. und lieber Fründ einen schlechten Grund bringet, von den 49.000 Jahren; weil [nach] endigung solcher Zeit alle Sternen wieder in den Puncten eÿngehen würden, darin sie in der Schöp-

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Von der Vorstellung des Weltjahrs scheint im Renaissance-Hermetismus eine Faszination ausgegangen zu sein: Auch Francis Bacon beschäftigte sich in den Essays – die in Lochers Bibliothek standen – mit der Frage des Grossen Platonischen Jahres. Er erachtet dies kosmologisch für möglich, hält aber einen Zusammenhang mit einer körperlichen Wiederherstellung der Menschen für ein Hirngespinst (Über die Wandelbarkeit der Dinge). 840 ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 444, Eintrag vom 11. Dezember 1695.

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Abbildung 20: Portrait von Johann Kaspar Hardmeyer: Titelblatt des ersten Bandes seiner Tagebücher. [ZB Zürich Ms. E 136]

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fung eÿnstehend gewesen! Dann was gehen die Sternen die Geister und sondern die Bösen an? Weil Hr. L. F. [= Loth Fischer] dann behaubten, daß die Sternen von den Engeln beherschet werden! Wann Er zeigen wird: daß nach 49.000 Jahren die Engel auch werden eÿngehen werden in ihren Punctum Inocentia & perfectionis, worinen sie erschafen waren; dann zumahle ist auch der Erlösung zu hofen! Aber so wenig factum infectum fieri potest; sowenig können die Geister wider in den Punctum Inocentia & perfectionis genuina, sed dudum perditae widerkommen; weil Sie solches nicht verlangen. Oder was solten die Sternen zur Reinigung der Geistern beitragen? […] Wann man solche Schrifte billichen wurde, wurde viel ungereimte abscheüliche Untiehre erwachsen! […] Der Glaube aber richtet sich nur nach Godtes Wort […] Was vor ein Endwihung der Geheimnussen wurden wir zulezt krigen, wann wir auß den irigen Lehren der alten Heiden (so weltweise sie immer gewesen, waren sie doch heiden) wolten Geheimnussen suchen und so wir aus den Analogien (Gleichnussen) schliessen wolten! […] E. L[ocher]. verzeihe meinen Eÿfer hierin! Sie wird gedenken, ob der Teufel auch soviel Worte um seiner Willen gemacht werden? Ich sage aber: Eben darum, daß er es nicht wehrt ist […].841

Die Blüten des Neuplatonismus gingen Hardmeyer offensichtlich zu weit. Er stellt sich grundsätzlich auf den Boden der reinen Biblizität, weder spirituelle Erfahrungen und Analogien, noch antike Autoren als Zeugen einer früheren und ursprünglicheren Offenbarung Gottes haben für ihn theologischen Wahrheitsanspruch. An Hardmeyer scheint sich zu bestätigen, was Dellsperger zum Berner Pietismus feststellte, nämlich, dass die Theologen unter den Pietisten weniger zu radikalen Anschauungen neigten.842 Die Meinungsverschiedenheit, die sich an der Wiederbringungslehre entfachte, legte Locher schließlich mit den Worten »Wir wöllen nicht Wortzanken; sonder ein anderen sens in Liebe ertragen!« bei. Und er erzählte Hardmeyer von seiner Reise ins Wallis und wie er auf dem Weg dorthin den Pfarrer Samuel Dick in Spiez besuchte. Den Berner Pietisten, »der zwar einfalt aber in seinem Berufe eÿfrig und ohne Herschsucht, alles in Liebe suche zu gewünnen, so daß der seine Zuhörer auch bedte zur Buß«, nahm sich Locher zur gegenseitigen Tolerierung der unterschiedlichen Meinungen zum Vorbild.843 Locher versteht es, den Dissens im Grundthema der Leadschen Schriften, in der »unermesslichen Liebe Gottes«, der die Menschen nacheifern sollten, aufzulösen. Die Allversöhnungslehre basiert auf einem optimistischen Gottesbild. Im Gott der Liebe und seinem universellen Heilsversprechen liegt der Kerngedanke der Theologie Jane Leades. Die Liebe Gottes ist ein Moment, das 841 ZB Zürich Ms. E 137, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 25 f., Eintrag vom 7. Februar 1696 842 Dellsperger, Die Anfänge des Pietismus in Bern, S. 127. 843 ZB Zürich Ms. E 137, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 117, Eintrag vom 31. August 1696.

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auch bei den Spiritualisten besonders betont wurde, allerdings war dort oft der strafende Charakter Gottes stärker gewichtet worden. Auch in der Ablehnung der Prädestination – ein Thema, das in Lochers Lektüre immer wieder auftaucht – ist ein optimistisches Gottesbild angelegt, es gelangt aber erst bei Jane Leade endgültig zum Durchbruch und wird im Radikalpietismus zum alles bestimmenden Motiv eines die Menschen liebenden und erlösenden Gottes. Jane Leade geht – wie Antoinette Bourignon – vom anhaltenden Niedergang der Welt aus und will das wahre und ursprüngliche Wissen von Gott wieder herstellen. Das ist ihr göttlicher Auftrag und zentraler Gegenstand ihrer Botschaft: »Dieweil ich eine besondere Offenbahrung der unerforschlichen tieffsten Tieffe Gottes grundloser Leibe gehabt« habe, sei sie beauftragt, »die Larve und Decke abzuziehen/ wormit zur Vertuncklung seiner Gnade und guten Willens gegen alle Seelen Geister/ so ihren Ursprung aus Ihm haben/ fast alles durchgehens verhüllt und bedeckt gewesen. […] Zumal die Zeit nun kommen ist; da diese Larve abgerissen werden soll; damit das liebliche Wesen oder Gestalt und das Liebs=Angesicht des grossen Schöpffers und Vatters offenbar und klar erscheinen möge.« 844 Wie aber löst Jane Leade den Widerspruch zwischen dem strafenden Gott des alten und dem liebenden Gott des neuen Testamentes? Den strafenden Charakter Gottes hebt Jane Leade in der Liebe Gottes vermittels ihrer Eschatologie auf. In ihrer ersten gedruckten Schrift äußert sie ihre chiliastische Hoffnung auf eine Wiederbringung der Dinge. Sie prophezeit eine große und mächtige Veränderung auf Erden und beschreibt diese als »neue Schöpffung«. »[D]iese grosse Wiederumwend= und Veränderung (in ihren ersten Stand) in dem verwirrten Babylonischen Stande der Dinge/ wie anjetzo bewand stehet« werde zu diesem Zeitpunkt geschehen. Dies sei das große »zum End= und Vollkommenheit-bringende Geheimnus«, welches die Menschen zu erwarten und zu suchen hätten, damit der verdorbene Stand in seinen Anfang zurückgeführt werde, in dem sich das neue Jerusalem befinde. Dann werde das »Priesterliche Königreich« offenbart werden, das durch die auferstandenen Heiligen regiert werde.845 In der Offenbahrung der Offenbahrungen umreißt sie ihre Vorstellungen über die Auferstehung genauer: Sie ist der Überzeugung, dass es eine erste und zweite Auferstehung geben werde. Die erste Auferstehung betreffe nur diejenigen Personen, die ein inwendiges, geistiges Martyrium beschritten hätten. Nur diese würden die Posaune der Auferstehung hören und ins Tausendjährige Reich eingehen. Die Auferstehung der Heiligen werde leiblich aber nicht f leischlich sein, d. h. es ist eine Auferstehung 844 Leade, Eine Offenbarung der Bottschafft, S. 14 (Vorrede der Autorin an den Unpartheyschen Leser). 845 Dies., Himmlische Wolcke, S. 77.

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des himmlischen Leibes.846 Die übrigen Toten aber würden nicht lebendig gemacht, weil die Ungerechten nicht in Christi Reich eingehen würden.847 Am Ende des Millenniums erfolge schließlich der Jüngste Tag und die zweite Auferstehung. Und hier nimmt nun ihr Chiliasmus die entscheidende Wende, denn es geht ihr nun gerade nicht um die Frage der ewigen Verdammnis. – Im Gegenteil, in einem »Extract aus der Autorin Send=Brief den 20. December st. v. 1695« im Anhang zum ersten Traktat aus den Sechs Unschätzbare Mystische Tractätlein ist Jane Leade der Überzeugung, die Strafe für endliche Sünden könne nicht ewig dauern. Sie sei je nach Schwere zeitlich. Sie stellt ihr optimistisches Gottesbild über die orthodoxe Theologie 848 und folgert, dass unendliche Strafen für zeitliche Sünden der Liebe Gottes widersprechen würden. Der jüngste Tag komme somit erst, wenn alle ihre Strafen abgebüsst hätten, lautet der überraschenden Schluss, der es ihr nun erlaubt, Gottes Liebe zum universellen Prinzip zu erheben.849 Der Auffassung Friedhelm Groth, dass die Allversöhnung ebenso wie die Prädestination die Verantwortlichkeit des Menschen außer Kraft setze850, muss deutlich widersprochen werden. Jane Leades Millennium ist als Belohnung für die individuelle Glaubensleistung konzipiert, der zur Frömmigkeit anspornen soll. Zudem ist sie keineswegs der Auffassung, dass die Frommen passiv auf das kommende Reich Christi warten sollten. Ihr Chiliasmus hat nichts mit quietistischer oder fatalistischer Frömmigkeit zu tun. Sie misst, ähnlich wie die apokalyptischen Bußprediger, der menschlichen Aktivität eine wichtige Rolle zu bei der Aufrichtung des Tausendjährigen Reichs. Niemand dürfe sich einbilden, dass die große Veränderung dem Menschen in den Schoss gelegt werde: Der Weg zur großen Veränderung brauche ein Vorbereitungswerk, nämlich die innere Reinigung der Seele von der Sünde.851 »So erwartet nun des Tags GOttes/ der als ein Feuer=Ofen und schmeltzende Hitze über die alte Himmel und Erde kommen wird.« Und Jane Leade fragt: »Aber wo sollen wir jetzund eine solche heilige abgesonderte Brüderschafft finden [wie einst die Apostel, kb]/ die in reiner Einmüthigkeit und Liebe-vereinigung vergestellt auf 846 Diese Vorstellung geht auf den Hylozismus von Paracelsus zurück, wonach alle Dinge einen irdischen sichtbaren und einen himmlischen unsichtbaren Leib besitzen, welche erst nach der Zerbrechung oder dem Tod getrennt werden. Entsprechend haben die Dinge auch ein seelisches Leben, das sterblich ist, und einen lebendigmachenden Geist, der unsterblich ist. 847 Leade, Offenbahrung der Offenbahrungen, S. 55–59 u. 82. 848 Vgl.: Helvetica posterior XI, Damnaumus eos qui senserunt et daemonas et impios omnes aliquanda servandos, et poenarum finem futuram. 849 Leade, Sechs Unschätzbare Mystische Tractätlein, S. 104. 850 Groth, Die »Wiederbringung aller Dinge« im württembergischen Pietismus, S. 23. 851 Leade, Himmlische Wolcke, S. 73.

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das rück= und hinterstellige des Geistes zu warten pf legen/ damit sie das grosse Werck GOttes in dieser Erde/ die so lang unfruchtbar gelegen/ und dieser Art fruchtbarer Kräffte keine hervorgebracht und getragen/ auszuführen fähig werden und seyn möchten?« Diese Vereinigung im Geiste sei nötig, um sich gegenseitig aufzumuntern, »bis der helle Glantz der Majestät des H. Geistes in Krafft und grosser Glori wieder hervorbrechen wird«.852 Diese endzeitliche Gemeinschaft der wahren Frommen im Geist war für Jane Leade die philadelphische Gemeinde.853 Auch Alsted interpretierte die sieben Sendschreiben der Johannesoffenbarung als heilsgeschichtliche Etappen, ähnlich wie wir das im chiliastischen Denken Paul Felgenhauers oder Daniel Friedrichs bereits angetroffen haben. Die philadelphische Gemeinde ist die Gemeinde der vom Antichristen bedrängten Frommen. Sie ist das sechste und letzte heilsgeschichtliche Stadium bevor die Kirche Gottes (d. h. Laodizea) eingerichtet wird. Jane Leade beabsichtigte, die endzeitliche philadelphische Gemeinde der Frommen um sich zu scharen.854 Über das Verhältnis Lochers zur philadelphischen Sozietät wissen wir nur wenig. Überliefert ist einzig die Tagebuchnotiz Hardmeyers vom 1. Mai 1698, worin Locher über gewisse Abendmahlrituale der Philadelphier berichtet. Locher wurde seitens Loth Fischer durch eine Geheimschrift in diese eingeweiht.855 Der Catalogus amicorum in Germania 856 verzeichnet Locher nicht unter den Zugewandten – wobei zu bemerken ist, dass überhaupt niemand aus dem Gebiet der heutigen Schweiz verzeichnet ist. Wir dürfen vermuten, dass Locher, ähnlich wie die meisten Pietisten, der Sozietät gegenüber eher reserviert gestimmt war. Nicht aus inhaltlichen Erwägungen, sondern weil er generell skeptisch eingestellt war gegenüber neuen religiösen Gesellschaften. Lochers vehemente Abneigung gegen die Gründung neuer Sekten, wie er dies anlässlich von Schönaus Begeisterung für Labadies Endzeitgemeinde gezeigt hatte, würde jedenfalls gut mit der Kritik der deutschsprachigen Bewunderer Jane Leades übereinstimmen, die der Londoner Sozietät in der Diskussion um ein gemeinsames Glaubensstatut die Bildung einer neuen Religionsgemeinschaft vorwarfen. Der Examinator Professor Schweizer hingegen warf Locher im Pietistenprozess von 1698 vor, dieser wolle eine neue Sekte auf bauen. Nur zu 852

Ebd., S. 69 f. Vogt, ›Philadelphia‹ – Inhalt, Verbreitung und Einf luss eines radikal-pietistischen Schlüsselbegriffs, S. 837–848. 854 Narbuntowicz, Reformorthodoxie, spiritualistische, chiliastische und utopische Entwürfe, S. 142. 855 ZB Zürich Ms. E 137, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 418, Eintrag vom 1. Mai 1698. 856 Abgedruckt bei: Hochhuth, Geschichte und Entwicklung der philadelphischen Gemeinden, S. 222, Anm. 38; Thune, The Behemists and the Philadelphians, S. 125 f. 853

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diesem Zweck unterhalte er die umfangreiche Korrespondenz mit den Berner und Schaff hauser Pietisten. Der Chefankläger behauptete, Locher würde die Bücher, die er aus den Niederlanden und Deutschland kommen lasse, »Thormann, Schumacher, Lutz, Güldi, Dick, Dachs, Düntz, Altmann, Knopf, Stadtschreiber Sutter, Hans Ebersold, Jungfrau Barbara Mei alle aus Bern; In Schaff hausen, Meyer, zwei Jkr. im Thurm, Frau Stocker, Frau Keller, Frau Knopf« zu lesen geben. Locher ist in seinen Anmerkungen zur »Wahrhafftige[n] Erzellung« um Schadensbegrenzung bemüht und schränkt sein Korrespondenznetz ein: Er habe lediglich mit Schumacher, Lutz, Dünz, Altmann, Knopf und Sutter regelmäßig korrespondiert. 857 – Die Betonung liegt auf regelmäßig. Eine aufschlussreiche Passage aus Hardmeyers Tagebuch mag uns Lochers Verhältnis zu Jane Leades Theologie der Liebe erhellen. Am 10. Dezember 1695, an jenem Tag, an dem Locher und Hardmeyer zum ersten Mal über die Allversöhnungslehre debattieren, lassen sie das Gespräch zum Thema über die natürliche »Verderbung« des Menschen ausklingen. Johann Heinrich Locher äußert die Ansicht, der Mensch sei ein Wolf, der »reisse und raube«. Deshalb sei es schwer selig zu werden. Gott allein könne aus einem Wolf ein Lamm machen und die menschliche Art ändern und das Herz umwandeln.858 Diese Meinungsäußerung schließt nicht zufällig die Debatte über die Allversöhnungslehre ab. Das pessimistische Menschenbild – das sich an Thomas Hobbes Auffassung von der Wolfsgesellschaft und dem »Krieg aller gegen alle« des Naturzustandes orientiert – ist der Kontrapunkt zum optimistischen Gottesbild. In dieser Äußerung steckt die Hoffnung, dass die Liebe Gottes zu den Menschen diese zum Bessern verwandeln könne, und dass so eine bessere Gesellschaft möglich sei. Die Geschichte des Menschen, die in Lochers Lektüre als kontinuierlicher Niedergang und moralischer Zerfall aufgefasst wird, korrespondiert hier mit seiner Anthropologie. Seine Theologie predigt aber weder Fatalismus noch will sie die als korrumpiert wahrgenommene Barockgesellschaft bloß strafen oder gar rechtfertigen. Seine Theologie ist optimistisch und enthält ein großes Stück Utopie. Die Utopie, dass durch die universelle Liebe Gottes eine Umwandlung des Menschen und somit auch eine Verbesserung der Gesellschaft möglich sei. Schlüssel zu einer allgemeinen Reformation ist die Wiedergeburt. Diese Hoffnung äußert sich chiliastisch. Dabei dürfen wir aber die Aussage, dass Gott alleine den Menschen umwandeln könne, nicht im deterministischen Sinne lesen, denn Locher lehnt – wie gezeigt – die Prädestination entschieden ab und neigt nicht zu einer passiven Mystik, sondern, um bei der Terminologie 857 858

ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 6, Wahrhafftige Erzellung. ZB Zürich Ms. E 136, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 443, Eintrag vom

9./10. Dezember 1695.

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Kolakowskis zu bleiben, einer »falschen« Mystik zu, in der der Mensch aktiv auf die unio mystica hinarbeitet und auch nach der Wiedergeburt sich andauernd um die eigene Perfektionierung bemühen muss. Die Aussage, dass allein Gott die Wiedergeburt bewirke, verträgt sich – nach Lochers Vorstellungswelt – durchaus mit einer voluntativen Theologie. Im Verhör vom 1. November 1698 meint er über die Wiedergeburt, es sei dazu ein ›guter Wille‹ notwendig. In der darauffolgenden Antwort knüpft er diesen dann an die göttliche Emanation, indem er feststellt: »Der gute Wille seÿ aus Godt«.859 Im Bild des Wolfsmenschen steckt noch eine gehörige Portion der orthodoxen Vorstellung von der allgemeinen Verworfenheit des Menschen durch den Sündenfall. Es drückt ebenfalls eine pessimistische Grundhaltung aus. Lochers Menschenbild unterscheidet sich von der Sündenfalltheorie aber entscheidend dadurch, dass es rein psychologisch und dem Menschen immanent ist, während die orthodoxe Vorstellung fatalistisch von einer transzendenten, über den Menschen verhängten Strafe ausgeht. Das Bild eines zum Guten wandelbaren Menschen eröffnet neue Perspektiven in Richtung einer individuell entfalteten und wahrgenommenen Religiosität, denn wie und was der Mensch ist, liegt nun beim Individuum selbst. Lochers pessimistische Komponente in seinem Menschenbild deckt sich zudem mit unserer Beobachtung über seine zweite Glaubenskrise: Locher schien in Venedig am hohen moralischen Anspruch, den er nach der Lektüre des Wahren Christentums an sich stellte, zu zerbrechen. Ein asketisches und tätiges Christentum war für ihn in der Praxis nicht vollständig einlösbar. Da er die menschliche Natur für raubtierhaft hält, konnte er seinem Dilemma erst entrinnen, als er sich in der mystischen Wiedergeburt – mit Gottes Hilfe – seine menschliche ›Art ändern und das Herz umkehren‹ konnte. 2.6.4 Radikalpietismus: Das Ehepaar Petersen Unmittelbar verbunden mit dem Namen Jane Leades sind die beiden herausragenden Exponenten des Radikalpietismus: Johanna Eleonora (1644– 1724) und Johann Wilhelm Petersen (1649–1726). 860 Das Ehepaar wurde durch Dodo von Knyphausen auf die englische Prophetin und die Wieder859

ZB Zürich, Ms. S 276, Nr. 6, Wahrhafftige Erzellung, S. 58. Zu den beiden Petersen vgl.: Matthias, Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen; Luft, Leben und Schreiben für den Pietismus; Albrecht, Johanna Eleonora Petersen; Lüthi, Die Erörterung der Allversöhnungslehre durch das pietistische Ehepaar Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen, S. 362–377. 860

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bringung aller Dinge aufmerksam gemacht. Etwa ab 1694 begannen beide gemeinsam, sich mit der Wiederbringung auseinanderzusetzen. Sie setzten sich das Ziel, die neue Lehre exegetisch durch biblische Belege zu beweisen, weil diese »nicht aus der Heil. Schrifft bewiesen war, sondern sich nur platt auf die Offenbahrung gründete, die sie [ Jane Leade] davon vom HErrn empfangen hatte« 861, wie Petersen später in seiner Lebensbeschreibung schrieb. Sie trachteten danach, die Göttlichkeit der reinen Vision Jane Leades durch deren Biblizität zu beweisen. Johann Heinrich Locher wurde durch Loth Fischer ansatzweise über die exegetische Arbeit zur apokatastasis panton der beiden Petersen unterrichtet, noch bevor diese 1698 und dann 1701–1710 im Druck erschien. Locher führte im letzten Gespräch mit Hardmeyer über die Allversöhnungslehre vom 31. August 1696 – bevor sie zu diesem Thema eine Art Waffenstillstand schlossen – auch Johann Wilhelm Petersen als Zeugen für die Richtigkeit des Heilsuniversalismus an. Er berichtete, dass Jane Leade dem Ehepaar Petersen geschrieben habe und eine große gegenseitige Übereinstimmung in der Lehre von der allgemeinen Gnade festgestellt habe. Und er untermauert dies, indem er eine Brief kopie Petersens an einen unbekannten Adressaten mit dem Pseudonym Anthophilus hervorholte und Hardmeyer zu lesen gab: Wann die Sünde von allen Geschöpfen (creaturen) weg ist, so ist der Teüfel nicht mehr Teüfell: Alles was Godt geschaffen hat und ein Wesen hat von ihme, das wird von der Sünde endlichen nach dem gewüssen perioden von Ewigkeite Los, und komt wider in den vorigen Stand, als es war, ohne noch die Sünde war. Dann wird in der Ewigkeit die [keine?] Sünde seÿn! Hallelujah! Niderdodeleben beÿ Magdeburg JohWhelm Petersen 26. Julÿ 1696 862

Hardmeyer war erstaunt, dass Petersen nun auch an die Erlösung der Verdammten glaube und meinte nach der Lektüre über den Brief, es »wären wunderl[iche] Sachen darinen«. Johann Heinrich Locher schenkte der chiliastischen Frömmigkeit des Ehepaars Petersen große Aufmerksamkeit. Er befasste sich einmal mit Wilhelm Petersens Die Ausbreitung der Kirchen in der letzten Zeit, 1697863 861 J. W. Petersen, Lebensbeschreibung, S. 297. Zitiert nach Luft, Leben und Schreiben für den Pietismus, S. 239, Anm. 2. 862 ZB Zürich Ms. E 137, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 117, Eintrag vom 31. August 1696. 863 J. W. Petersen, Die | Ausbreitung | der Kirchen | in der letzten Zeit/ | Aus dem Esaiâ am II. v. 1. 2 3. 4. und Michâ am IV. v. 1.2.3. | Wobey die Frage erörtert wird/ | Ob der Prophet Micha aus den Esaia seine Weissagung | hievon ausgeschrieben? Oder/ ob man nicht vielmehr glauben müsse/ daß | eben derselbige Geist eben dieselbige Wahrheit mit gleichlautenden Worten | in beyden Propheten offenbahret/ und ausgesprochen habe? | Gegen | Herrn Christoph Koch/ | Welcher das gesegnete Reich Christ feindselig

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worin er wie Jane Leade einen Postmillennarismus vertrat. Der als Streitschrift gegen Christoph Koch konzipierte Traktat trägt aber noch keine Spuren der exegetischen Arbeit über die apokatastasis panton. Petersen behauptet in dieser Schrift, er habe das chiliastische Verständnis der Offenbarung zusammen mit seiner Frau 1685 in derselben Stunde erhalten.864 Er entwickelt ein an der philadelphischen Idee Daniel Friedrichs und Paul Felgenhauers orientiertes Kirchenkonzept, wonach die wahren Christen das Fundament für die kommende Kirche seien. Mystische und chiliastische Elemente werden hier in bekannter Weise verbunden und ein Wahrheitsanspruch daraus abgeleitet: Die Gewissheit der Wahrheit besäßen nur diejenigen, die Christus in sich selbst hätten, d. h. »das Wort unter vielen Trübsaalen und Freude im heilegen Geist« aufnehmen, macht Petersen gleich eingangs klar. Solche Gläubige seien – in beinahe wörtlicher Anlehnung an Daniel Friedrichs Auslegung der ersten drei Kapitel der Apokalypse 865 – die Steine der Kirche Gottes. Und »Gott redet noch in seinem Tempel [= die wahren Christen]/ und was er redet/ das ist Wahrheit/ so wol bey Gott/ als auch bei den Kindern Gottes. Gott schliesset die Hertze auff«, so dass die wirklich Gläubigen die Geheimnisse und Zeichen der Zukunft im alten Testament klar erkennen könnten.866 Gestärkt mit dieser Gewissheit macht sich Petersen ans exegetische Werk. Aus Micha und Esaia leitet er die Bekehrung der Juden in der letzten Zeit ab: In den letzten Tagen der letzten Zeit werden zuerst die Juden und dann die Heiden bekehrt. Anschließend werde das Gericht Gottes und der Tag des Zorns über die Welt kommen, wie es die sechste Posaune der Apokalypse beschreibe oder das Armagedon bei Jöel. Hernach komme der große Friede, die »heilige Stille«, und der tausendjährige Sabbat im Reiche Christi breche an.867 Zu Beginn des »beati Millennii« werde die erste leibliche Auferstehung erfolgen. Es würden alle, die mit Christus ihr »Creutz=Reich haben« daran Teil haben und sie würden zusammen mit Jesus 1000 Jahre leben und regieren.868 Die Überzeugung, dass Gott in den Herzen der Frommen die Wahrheit verkünde, machte Petersen nicht erst seit der Bekanntschaft mit Jane verleugnet/ | hergegen wider das einhellige Zeugniß der ersten Kirchen | und der gantzen Christenheit/ | Den Ertz Ketzer Cerinthum, | Von seinem f leischlichen Chiliasmo zu befreyen suchet/ | und unverantwortlicher Weise | Den | Thom. Campanellam | Zum Atheisten machen will/ | Auffgesetzt/ | Von | Iohann. Wilhelm. Petersen, D, Frankfurt und Leipzig ( Johann Daniel Müller) 1697 [HAB Wolfenbüttel H: K404.4° Helmst. (20)]. 864 Ebd., S. 27. 865 Gegen Christoph Koch, der Petersen anscheinend die große Nähe zu Daniel Friederich vorgeworfen hatte, verteidigt er sich, er habe Friedrich nicht gelesen, werde ihn sich aber beschaffen. Vgl.: Ebd., S. 76. 866 Ebd., Vorrede unpaginiert. 867 Ebd., S. 11, 15 u. 19 ff. 868 Ebd., S. 29.

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Leade empfänglich für visionäre Prophetinnen. Im anonym erschienenen Send=Schreiben, 1691869 – das ebenfalls in der Bibliothek Lochers stand – gibt er nicht bloß die prophetischen Visionen der verarmten, adeligen Rosamunde Juliane von der Asseburg wieder, sondern verteidigt diese als eine Warnung Gottes vor dem Ende der Zeit. Petersen ist überzeugt, dass sich Gott durch sie offenbare. Und er glaubt, dass es sich bei diesen Visionen des ›adligen Fräuleins‹ um »eine mächtige und überzeugende Auffschliessung des Göttlichen Prophetischen Wortes/ wie es in der H. Schrifft enthalten/ in [ihrem] Hertzen« handle, das eindeutig von den letzten Zeiten und vom Tausendjährigen Reich Christi zeuge. Das sei der Beweis, ist er nun sicher, dass seine Erkenntnis über das Gericht und die Herrschaft Christi richtig aus der Bibel erkannt wurde und dass diese Erkenntnis der Welt verkündet werden müsse. Im Weiteren, so Petersen, gebe es keinen Hinweis darauf, dass sich Gott nach der Auffahrt Christi den Menschen nicht mehr offenbaren werde.870 Ganz im Gegenteil, mit dem Propheten Joel will er beweisen, »dass Er [Gott]/ ehe da komme der grosse und erschreckliche Tag des HERRN/ seine Schrifftgelehrte zum Himmelreich gelehrt/ seine Weisen und Propheten zur Warnung der Welt/ und zum Trost seiner Gläubigen senden wolle«. Petersen ist fest überzeugt, dass Gott solche »extraordinarie« Erscheinungen und Offenbarungen den Menschen zukommen lasse. Die Visionärin Rosamunde Juliane von der Asseburg ist nun nach seinem Dafürhalten eine solche Verkünderin auf Geheiß Gottes. Denn die Zeit der Erfüllung der Prophezeiung des Joel (»[…] denn es komme der Tag des Herrn, ja er ist nahe, der Tag des Dunkels und der Finsternis, der Tag der Wolken und Wetter«) stehe noch bevor: Die Ausgießung des heiligen Geistes über das Fleisch werde erst noch kommen.871 Gott habe in »diesen unseren Zeiten« etwas Grosses an einem »adelichen Fräulein« vollbracht. Johann Wilhelm Petersen gibt nun die Visionen, die Rosamunde Juliane von der Asseburg schon als Kind aufzuzeichnen begann, wider: Mit sieben Jahren habe ihr Gott im Gebet ein »Wohlgefallen« getan. Ihr sei eine herrlich geschmückte Jungfrau mit goldenem Schild erschienen. Und ein anderes Mal habe der Heiland zu ihr gesprochen: »Ich will mich mit dir verloben in Ewigkeit/ und dein Bräutigam bleiben«. 872 869 J. W. Petersen, Send Schreiben | An einige | Theologos und GO ttes Gelehrte/ | = = Betreffend die | Frage/ | Ob GOTT nach der Auffahrt | Christi nicht mehr heutiges Tages | durch Göttliche Erscheinung den Menschen=|Kindern sich offenbahren wolle/ und sich dessen | gantz begeben habe? || Sampt einer erzehlten | SPECIE FACTI | Von einem | Adlichen Fräulein/ | Was Ihr vom siebenden Jahr ihres | Alters biß hiher von GOTT | gegeben ist, o. O. 1692 [ZB Zürich Gal Tz 946]. 870 Ebd., S. 92 ff. 871 Ebd., S. 79–83. 872 Ebd., S. 3 ff.

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Ab ihrem siebten Lebensjahr hatte sie regelmäßig göttliche Visionen. Sie erfährt aber auch ernsthafte Anfechtungen wegen ihrer sogenannten »Gesichter«, berichtet Petersen, einerseits direkt durch den Teufel und anderseits durch ihren Beichtvater, der die Visionen für teuf lisch erklärte.873 Es ist entwicklungspsychologisch interessant zu beobachten, wie die Visionen konkreter werden, je älter sie wird. Ihre innere, spiritualistische Erfahrung gibt ganz offensichtlich bloß das wieder, was sie zuvor bewusst oder unbewusst wahrnahm. So ist es bemerkenswert, wie die Visionen, die sie 1691 im Haus der Petersens hatte, einzig das widerspiegeln, was in der Lüneburger Superintendentur gelehrt und gehofft wurde. Erst im Haus der Petersens wurde Rosamunde Juliane von der Asseburg zur Prophetin des Pietismus.874 Für Petersen musste so eine Art Selbstbestätigung entstanden sein, in der er seine theologischen Anschauungen immer wieder durch die Visionen Rosamundes belegt glaubte. Durch die Petersens beeinf lusst, werden ihre Prophezeihungen in chiliastische Bahnen gelenkt: »Freuet euch/ freuet euch/ die ihr meinen Namen erkennet/ […] denn Ich wil grosse Dinge an euch thun […]. Warlich Ich sage euch/ es kommet die Stunde/ und ist schon kommen/ daß Ich richte mit Warheit und Gerechtigkeit […]. Ich habe es euch gesaget/ aber wem ist es offenbar/ was Ich im Sinne führe/ Amen! Ich hab es euch gesaget.« 875 Und mit gezielten Fragen will sich Petersen seine philadelphische Auffassung aus dem Mund der Prophetin bestätigen lassen. Bezugnehmend auf die Gemeinden der Offenbarung, wie sie Friedrich oder Felgenhauer auslegten, wurde sie gefragt, in welcher Gemeinde sie stehe, worauf sie in der nächsten Vision zur Antwort gab, in der philadelphischen, denn die laodizeische Gemeinde – gemeint ist die wiederhergestellte urchristliche Gemeinde am Ende der Zeit – streite noch mit dem antichristlichen Tier.876 In einer weiteren Vision erhärtete die Prophetin den chiliastischen Glauben der Petersens, indem sie versicherte, die erste Auferstehung werde nach 1260 Tagen geschehen und es werde eine leibliche Auferstehung sein.877 Die Enthusiastin wird zu einer Reihe weiterer für den Pietismus wichtigen Themen befragt. Der schottische Leibarzt von Herzog Georg Wilhelm in Celle, Dr. Robert Schott, der im Hause Petersen verkehrte, befragte sie wegen seiner anglikanischen Konfession über die Prädestination. Er tat dies, indem er ihr einen englisch abgefassten und versiegelten Brief mit dieser Frage übergab, den sie anscheinend nicht öffnete. In einer 873 874 875 876 877

Ebd., S. 10–13. Matthias, Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen, S. 281. J. W. Petersen, Send=Schreiben, S. 37. Ebd., S. 43 f. Ebd., S. 47 f.

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darauf folgenden Vision verkündete Rosamunde die göttliche Ablehnung dieses Dogmas: »[U]nd ich wehle keinen/ sondern ließ meine Liebe überall gehen; Wer sich nun nicht zu mir hält/ der kehre zu der Finsternüß/ und Ich habe nicht Schuld an seinem Verderben.« 878 Ganz im Sinne des Heilsuniversalismus – der ansatzweise bereits die spätere Allversöhnungslehre Petersens vorweg nimmt – wird hier die Gnadenwahl abgelehnt. Auf eine weitere Frage, die an Sebastian Franck erinnert, ob auch Juden und Heiden erwählt werden können, bestätigt sie in einer neuen Vision ihren Heilsuniversalismus: »Die aber mich lieben/ und suchen ihre Heiligung rechtschaffen durch mich/ lassen sich nicht auff das äusserliche Glauben/ […] auch nicht auff äusserliche Gottesdienste/ […] ankommen/ sondern suchen im Grunde des Hertzens mich im Geist und Wahrheit/ die haben Gnade« unabhängig der Herkunft und der Religion. Der wahre Glaube der Herzensfrömmigkeit kennt für Rosamunde Juliane von der Asseburg keine Konfessionsschranken. Gleich wie Antoinette Bourignon bemerkt sie zur Prädestination, Gott wolle die unwissenden Völker nicht verdammen, sonst wäre er nicht gerecht.879 Im Urteil von Markus Matthias ging der Pietismus mit Rosamunde Juliane von der Asseburg zum ersten Mal eine sichtbare Verbindung mit dem Enthusiasmus ein.880 Die Bibliothek Lochers zeigt, dass diese Verbindung auf eine ganze Tradition enthusiastischer und spiritualistischer Tendenzen zurückgreifen konnte, und dass der Radikalpietismus diese Tendenzen begeistert rezipierte und in sich aufnahm. Johann Wilhelm Petersen kostete seine Begeisterung für die Prophetin die Stelle als Superintendent in Lüneburg. Er war zuvor schon mit der lüneburgischen Geistlichkeit wegen seines offensiven Eintretens für den Chiliasmus zerstritten. Das Fass zum Überlaufen brachte schließlich Dr. Robert Schott, der überall von den wundersamen Visionen der Prophetin im Hause Petersen erzählte 881: Petersen wurde 1692 seines Amtes enthoben. Wie weit Johann Heinrich Locher vom prophetischen Charakter der Rosamunde Juliane von der Asseburg überzeugt war, wissen wir nicht. Da sie aber ganz auf der Linie derjenigen theologischen Meinungen lag, die Locher selbst f leißig in seiner Büchersammlung vereinigte, dürfen wir vermuten, dass er in ihr eine Verkünderin des wahren Glaubens sah, die zugleich durch ihr Auftreten vom Nahen der Wiederkunft Christi zeugte. Zumindest glaubte Locher frei nach dem 24. Kapitel des Matthäusevangeliums, dass nicht nur das gehäufte Auftreten von Prophetinnen und Pro878 879 880 881

Ebd., S. 56. Ebd., S. 70 f. Matthias, Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen, S. 255. Ebd., S. 285.

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pheten vom kommenden Reich künde, sondern dass zugleich auch falsche Propheten erscheinen würden. Für einen solchen falschen Propheten hielt er Dr. Robert Schott.882 Im eingangs zu diesem Kapitel zitierten Gespräch zwischen Locher und Hardmeyer berichtet Locher bevor er auf Petersen zu 882 »Dieser D r. Schodt ist ein Arzt an dem Hofe des Fürsten zu Zell Lüneburg, und dieser Zeit sonderbar beschreÿt wegen seiner vielfaltigen Ofenbarungen; Von Gebuhrt sol er selbs ein Schodtländer seÿn; au[…] bekantnuß nach glaubt er die Lehr von der ewigen Gnadenwahl; hat sonderbare Anhängere ihm gemachet, die seine Offenbarung hin und her außbreidten sollen; als der […us] den Jörg Ziegler von Zürich befehlet und daß er gen Bärn gereiset und daselbst die Woltherischen follkomenheit gelehret; Mit ausgetrukten Verheißte, er werde glükhaft seÿn! Nachdem es ihm aber übel ausgeschlagen; hädte Ziegler D r. Schodten verlasse[n] und hädte ihme vor dem etwan verlauhtet, Dr. Schodten magischer Geist seÿe ein falscher Magus! Dieß hädte er ein mahl an Hrn Loht Fischern überschrieben; Hr. Loht aber habe an ihn begehret, ersolte in Geheim beÿ Zieglern nach den Ursachen solcher Bemerkung forschen; daß er dann getahn, und mit Zieglern vielfaltig geredt in langen Gespreche; worin Ziegler bedeütet: Er wäre hinder die Falschheit des Geistes des D r. Schodten also kommen: da es ihne zu Bärn übel ausgeschlagen, habe er Dr. Schodten noch immer geglaubt, in der Eÿnbildung, der Unglück[liche] Auftrage zu Bärn, wäre Ziegler eigne Schuld, der den Wäg weder gebührlich angetreten noch heilig genug verwaltet hädte; deswegen er selbs nahe Zelle zu Dr. Schodten gereiset, weil er wegen beförchtete nach jagenden Herrn nicht nach Zürich dörfe. Als Er nun zu Dr.Schodten kommen, habe er Dr. Schosten oftern Verzukungen gesehen, erfahren und doch verspüret, daß sie nie den Zwek erreichet wird die Wahrheit in ihnen Ausschlagen bezeüget hädten: sonderbar, als er mit dem Royon bekant worden, der D r. Schodt, wie Zieglern gen Bärn, also den Royon gen Engelland abgesandt, das neü Reich Christi zu verkündigen, unter der süssen Hoffnung, es werde alles glüklich ausschlagen; Aber der arme Royon seÿe so elend gefahren, daß er in äüsse[r]ste Armuht gerahten und kümerlich aus Engelland wider über Meer kommen, in dem er vor Bootsknecht auf dem Schife dienen müeste, das ihn wieder in Deutschland gebracht! Weil dieser Royon nun so elend gereiset, wäre er überge[…] | und eine Verzeichnus aufgesezet vor allem was ihme von Dr. Schodten Offenbarung bekant gewesen, worbeÿ er zugleich die unglükliche und wiederwärtige Außgänge derselben gezeiget, und ihme die Augen sehr geöfnet hädte, als dis solches selbs zu eigenen Diensten sich abgeschrieben hädte: Stadesse hädte doch Dr. Schodt immer noch an diesem Royon gearbeitet, sodaß er ihm durch einen Dridtmann Gelt steken lassen: wie dann auch ihme Zieglern auf eine Zeit 1. Dukaten gegeben worden, den Royon die eÿnzubitten; und hädte sich Royon von Schodt wider so behandeln lassen, daß Er sich Schodten wider gänzl[ich] untergeben, seine zuvor Entdekte Lere des Schodten eigenhändige Widerleget, und sich zu einer neüen Absendung widerbereden lassen; die Er wider, aber sehr unglüklich angetredten, zumahle er ermördert worden auf dem Wäge! So wol als andere Aposstel Dr. Schodten nie das verkündigtes Glük erreichet, sonder alle Abred werde. Das nun habe ihme Zieglern die Augen geöfnet, daß er zu sich selbs kommen, und erkennet, daß Dr. Schodten zwar ein guter Mann und auß Bosheit ohn Vorsaze nichts tähte, sonder selbs verführet wurde durch den Geist der ihn sooft entzuke, aber wegen solchen Vilfaltigen Unglüks ein falscher Magus seÿn müeßte! Habe deßwegen billich erachtet Dr. Schodten müeßig zu gehen; und mehre nach Godtes Wort als solche Offenbarungen zu sehen. Nun hädte an diesen Dr. Schodten auch Jane Leade geschrieben, aber gar nicht vertraulich; obwohl sie ihn einen Bruder nenne; so köne man doch wol erkennen, daß sie beide nicht Harmonierten.« ZB Zürich Ms. E 137, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, Eintrag vom 31. August 1696, S. 116 f.

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sprechen kommt, warum er an Loth Fischer geschrieben habe, der Celler Leibarzt sei ein falscher Prophet. Schott muss dann nach dem Erlebnis der Visionen Rosamundes im Hause Petersen selbst Visionen und »Verzukungen« unter heftigen Verrenkungen gehabt und eine Schar gläubiger Anhänger um sich gesammelt haben. Einer dieser Jünger war der Zürcher Johann Georg Ziegler, der als Schüler Wolthers dessen Impekkabilität vertrat und aus Strafe von der Liste der Zürcher Theologen gestrichen wurde.883 Ziegler begab sich dann als Wanderprediger nach Bern, offenbar im Auftrag von Schott. Johann Heinrich Locher stützt sich nun in seinem negativen Urteil über den Leibarzt auf Ziegler ab. Dessen Bericht ist ein eindringliches Beispiel, wie die »Verzukungen« skrupellos zur Instrumentalisierung der willigen und staunenden Anhänger eingesetzt wurden, heutigen Sektenführern nicht unähnlich. Ziegler, der mehrfach durch falsche »Prognosticon« düpiert wurde und sich nur schwer aus dem emotionalen und ökonomischen Abhängigkeitsgef lecht lösen konnte, befreite sich schließlich aus Schotts Einf luss durch die Erkenntnis, dass er ein »falscher Magus« sei. Lochers Ziel ist es jetzt, mit seiner Warnung an Loth Fischer den Einf luss des falschen Propheten fern zu halten von Jane Leade, der echten Prophetin. Robert Schott war nicht der einzige, der die Amtsenthebung Johann Wilhelm Petersens beschleunigte. Einen nicht unwesentlichen Anteil daran hatte die Veröffentlichung der chiliastisch gefärbten Schrift Glaubens=Gespräch Mit GOTT, 1691884 durch dessen Frau Johanna Eleonora. Sie folgte bei der Herausgabe ihres Erbauungsbuches weniger den politischen Gegebenheiten und mehr ihrer selbstbewussten Glaubensüberzeugung. Ein Selbstbewusstsein, das sich auch darin äußerte, dass sie ihre Schrift direkt Christus zueignete, da er hierfür der einzig Würdige sei. Die fürstliche Regierung in Celle reagierte mit einem Verbot auf das Glaubens=Gespräch Mit GOTT.885 Johann Heinrich Locher verfügte in seiner Bibliothek auch über dieses Werk, nebst zwei in der Konfiskationsliste ungenau als »dita [= Johanna Eleonora Petersen] andacht buchlein« 886 widergegebenen Bände. 883

Wernle, Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert, Bd. 1, S. 131. J. E. Petersen, Glaubens=Gespräch | Mit | GOTT/ | In Drey unterschie=|dene Theile abgefasset/ | Also daß | Der I. Theil/ | Das Werck des Glaubens | in der Krafft/ | Der II. Theil/ | Das Zeugniß/ die Macht und | Herrlichkeit des Glaubens/ | Der III. Theil/ | Das Ende des Glaubens/ wel=|ches ist der Seelen Seligkeit/ | vorstellet/ | In dieser letzten Glaublosen Zeit | zur Auffmunterung und Erweckung des | Glaubens auffgesetzt | Von | Johanna Eleonora Petersen | Gebohren von und zu Merlau, Frankfurt. und Leipzig (Michael Brodthagen) 1691 [Uu LB Halle AB 41 10 i, 20]. 885 Luft, Leben und Schreiben für den Pietismus, S. 99. 886 ZB Zürich Ms. S 276 Nr. 12 (Die Konfiszierten Bücher Johann Heinrich Lochers), S. 93. 884

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Abbildung 21: Der Baum des Glaubens, Titelkupfer aus Glaubens=Gespräch Mit GOTT. Das Bild ist eine fast identische Kopie des Stichs aus dem Mysterium Magnum, Amsterdam 1678. Unten sitzen der Erde zu die eitlen Schriftgelehrten im Dunkeln und oben versammeln sich himmelwärts im Licht die Gläubigen. Im Zentrum des Baumes ist das Zeichen Tau (Ez 9.4) der Auserwählten erkennbar. [UB Halle AB 41 10 i, 20]

Dabei handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um ihren Erstling von 1689, die Hertzens-Gespräche Mit Gott. Locher ließ gleich drei Exemplare davon vermutlich in der mit Kupferstichen illustrierten zweiten Auflage von 1694 887 kommen. Hardmeyer vermerkte in seinem Tagebuch unter dem 20. Januar 1697 Ludwig Willich in Leipzig als Lieferanten der 887 J. E. Petersen, Hertzens-Gespräch Mit Gott: In Zwey Theile abgefasset/ und Zu Aufmunterung anderer frommen Gott-liebenden Seelen ans Tage-Licht gestellet/ von Johanna Eleonora Petersen/ gebohrnen von und zu Merlau. Mit einer Vorrede Hn. Christian Kortholtens […] Anietzo zum andernmahl gedruckt und mit vielen schönen Kupffern gezieret. Frankfurt u. Leipzig 1694 [Dresden, Sächsische Landesbibliothek/Staats- und Universitätsbibliothek 3.A.10092].

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Sendung.888 Die überzähligen Exemplare hatte Locher an Berner Pietisten weiterverkauft.889 Die beiden Andachtsbücher von Johanna Eleonora Petersen sind exemplarische Erbauungsbücher des Radikalpietismus. So sahen es auch die Zürcher Examinatoren, welche die beiden Werke als wenig erbaulich klassierten, sie mit dem Prädikat schädlich belegten und konfiszierten. Die Hertzens-Gespräche Mit Gott handeln von Johanna Eleonora Petersens persönlichem Kampf um den Glauben und schildern, wie sie schließlich »schmecken lernte« was Glauben sei. Das Andachtsbuch ist in einem schwülstigen und gefühlsbetonten Stil geschrieben, wie er später im Zeitalter der Empfindsamkeit dominierend werden sollte. Das umfangreiche, beinahe tausend Seiten starke Glaubens=Gespräch Mit GOTT ist als eine Art radikalpietistische Grundlagenschrift zu betrachten, in der eine Vielzahl der Glaubenselemente älterer, heterodoxer Literatur, wie sie geradezu exemplarisch in Johann Heinrich Lochers Bibliothek versammelt war, kolportiert und in neue systematische Bezüge gesetzt werden. Das Glaubens=Gespräch Mit GOTT handelt, wie es der Titel bereits ausdrückt, von den Glaubenssätzen des Radikalpietismus. Und im Untertitel wird angetönt, dass bloß Wiedergeborene solche Glaubensgespräche mit Gott führen können. Das Motiv der Wiedergeburt ist denn auch das zentrale Moment der Schrift, von welchem mannigfaltige Überlegungen ausgehen und in diesem wieder zusammenf ließen. Die Wiedergeburt ist das verbindende Scharnier zwischen Johanna Eleonora Petersens Chiliasmus und der mystischen Grundströmung. Im Vorwort beschreibt sie die Wiedergeburt als eine Art vorbezogene Utopie des kommenden Reiches Christi. Sie folgt dabei vorerst der traditionellen Vorstellung von der Einwohnung Christi und schreibt, wer im Glauben die Welt überwinde und Vater und Sohn in sich wohnen lasse, der habe Friede und Freude im Herzen. Sahen die Mystiker des Spätmittelalters darin das höchste Gut des Glaubens, so bedeutet für Johanna Eleonora Petersen die unio mystica mehr: Die Wiedergeburt ist zugleich ein zeitlicher Vorverweis auf das kommende Reich. Wer Friede und Freude im Herzen habe, notiert sie, der spüre den Vorgeschmack kommender Herrlichkeit.890 Der Wiedergeburt wohnt damit ein zukunftsgerichtetes Element inne. Und die Zukunft setzt wiederum quasi die Wiedergeburt voraus: Sie habe erfahren, »daß es sehr nöthig sey/ bey diesen letzten Zeiten ein ander auffzuwecken in dem Glauben des Sohnes Gottes/ als in welchem alle Gottes=Krafft lieget/ die zum Leben und Göttlichen Wandel 888 ZB Zürich Ms. E 137, Tagebuch Johann Kaspar Hardmeyers, S. 227, Eintrag vom 20. Januar 1697. 889 Dellsperger, Die Anfänge des Pietismus in Bern, S. 128, Anm. 32. 890 J. E. Petersen, Glaubens Gespräch Mit GOTT, Vorrede (unpaginiert). =

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dienet«.891 In der Endzeitvorstellung liegt nun ein Auftrag begründet, den die »Kinder Gottes« zu erfüllen haben. Ein Auftrag, durch den die Wiedergeburtsidee mit einem neuen, linear auf die Zukunft ausgerichteten Zeitbegriff erweitert wird. Eine Vorstellung, die der rheinischen Mystik völlig fremd war. Laut Johanna Eleonora Petersen befinden wir uns in der letzten Zeit. Gestützt auf den ersten Brief an Timotheus ist sie überzeugt, dass in den letzten Zeiten etliche vom Glauben abfallen werden. Es sei greulich mit anzusehen, so die Autorin, wie sich Christen nennende Menschen von der Wahrheit abwenden und sich bloß noch an die Sinne ihres Fleisches halten. Der Glaube werde damit praktisch ausgerottet. Und hier setzt nun ihr zukunftsgerichteter Auftrag an die Wiedergeborenen an: Die Kinder Gottes sollen sich hüten vor solchen Verirrungen. Gott werde ihnen Kraft geben, um im Glauben geborgen zu bleiben. Denn Christus werde gemäß der Johannesoffenbarung 7.4 bei seiner Wiederkunft 144.000 der seinen behalten. 892 Sie ist in postmillennaristischer Weise überzeugt, nur wer an die Nachfolge Christi glaube, der werde das ewige Leben haben und werde am jüngsten Tag auferstehen.893 Damit also das Reich Christi gemäß der Prophezeiung bald kommen könne, braucht es demnach in der Vorstellung von Johanna Eleonora genügend im Glauben Standhafte. Dafür zu sorgen, dass die verheißene Zahl der 144.000 bald voll werde, ist der aktive Beitrag der Wiedergeborenen zur ersehnten Wiederkunft Christi. Diesen Glauben beschreibt sie nun als den urchristlichen. Und erneut kommt ein zeitliches Moment hinzu, indem der Glaube der Vergangenheit zum Glauben der Zukunft werden soll: Der Weg des Glaubens ihrer Väter, der heute als Sekte verschrien werde, sei der wahre, ist Johanna Eleonora Petersen überzeugt. Es sei der Glaube an die Gesetze der Propheten. Auch die Nazarener seien bereits als Sekte verunglimpft worden. Der prophetische Glaube glaube an das Vergangene und an das, was kommen werde: Nämlich, dass in den Tagen der sieben Posaunen »alles hergestellet werden/ was noch zu erfüllen ist/ und worauf wir warten«. »O wie frölich wird das Hertz/ wenn Jesus beydes die Schrifft und das Verständniß eröffnet«. Und er werde dieses Verständnis schrittweise eröffnen in der jetzt angebrochenen letzten Zeit.894 Den auf der Wiedergeburt basierenden Glauben beschreibt Johanna Eleonora Petersen nicht mehr wie die traditionelle Mystik als einen mehrstufigen Glaubensweg hin zur Selbstaufgabe in Gott. Den mystischen Weg definiert sie viel mehr als antithetische Abgrenzung zur Orthodoxie, die 891 892 893 894

Ebd., Vorrede (unpaginiert). Ebd., 1. Teil, Kap 1, S. 1 ff. Ebd., 1. Teil, Kap 27, S. 111. Ebd., 1. Teil, Kap 5, S. 15–18.

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sie als »Mund-Glauben« bezeichnet: Glaube erfordere, laut Petersen, nicht ein mündliches Bekenntnis, sondern ein wahres Herz. Die Taufe werde erst im Menschen als ein »Bad der Wiedergebuhrt« wirksam, so dass er vor Gott als neue Kreatur erscheine.895 Handlungen wie Trinken, Essen oder Fasten hätten mit Glauben nichts zu tun.896 Glaube hat für sie hauptsächlich einen spirituellen Charakter: Wovon die Welt nur Worte des Glaubens mache, das sei die Kraft und das Leben der Gläubigen, sie erkennen wahrhaftig den Geist in den Worten des Glaubens. Ihre Herzen seien aufgeschlossen und sie ›zeugten‹ vom Geist, welcher der Geist der Wahrheit sei.897 Ausgehend von dieser Glaubenskonzeption unterzieht sie die lutherische Rechtfertigungslehre einer umfangreichen spiritualistischen Revision: Die Rechtfertigung erfolge, laut Petersen, in der Erneuerung im Geist.898 Diese Erneuerung ist die Wiedergeburt, die durch die Nachfolge Christi erlangt werden könne. Der gerecht machende Glaube sei die Erkenntnis der Kraft der Auferstehung Christi und die Gemeinschaft oder Nachfolge in seinem Leiden.899 Mit der Betonung der Nachfolge nähert sich Johanna Eleonora Petersen beträchtlich der katholischen Werkethik an. Sie mildert diese aber sogleich wieder ab, indem sie betont, dass ein wiedergeborener Mensch durch Christus gelenkt werde. Sie glaubt, dass man die Heiligkeit des Gläubigen lediglich in dessen Werken erkennen könne, dass man aber diese nicht durch die Werke erlangen könne. Und nun, im Einklang mit der Reformation, meint sie: Durch den Glauben, nicht durch das Werk erlange man die Rechtfertigung. Dennoch drängt die Radikalpietistin mit Johann Arndt auf ein tätiges Christentum. Den drohenden Widerspruch löst sie aber dahingehend auf, indem sie die Werkethik uminterpretiert und diese statt als Weg zum Ziel neu als ein Zeichen der Zielerreichung definiert. Ebenso verfährt sie auch mit den christlichen Geboten und erklärt: Christus sei das Ziel der Gesetze, wer an ihn glaube, der werde gerecht. Demnach wären die christlichen Gebote nicht mehr äußere Lebensregeln, um ein christliches Leben zu erlangen. Folgerichtig meint sie daher: Die Gesetze seien so nicht aufgehoben, sondern in uns neu aufgerichtet.900 Johanna Eleonora Petersen bringt dies auf die Formel, dass der Glaube an den Früchten des Glaubens, an den Werken, erkannt werde.901 Die Gebote werden somit zusammen mit der Werkethik internalisiert.

895 896 897 898 899 900 901

Ebd., 1. Teil, Kap 2, S. 5 ff. Ebd., 1. Teil, Kap 3, S. 8. Ebd., Vorrede (unpaginiert). Ebd., 1. Teil, Kap. 15, S. 64. Ebd., 1. Teil, Kap. 24, S. 99 ff. Ebd., 1. Teil, Kap. 15ff, S. 59, 68 ff. u. 77. Ebd., 1. Teil, Kap. 30, S. 121.

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Das ist einerseits interessant, weil dieser theologische Optikwechsel mit der Verschiebung des Gottesbegriffs bei Jane Leade von einem äußeren strafenden Gott zu einem verinnerlichten liebenden Gott korrespondiert. Andererseits kann aber auch in dieser Verinnerlichung der Werkethik und der religiösen Gebote ein Übergang von einer Sozial-Disziplinierung zu einer Selbst-Disziplinierung gesehen werden. In diesem Sinne ist auch das Postulat Johanna Eleonora Petersens auf dem ihr Gefühlschristentum beruht, zu verstehen, man müsse sich selbst prüfen, ob man im Glauben sei.902 Die Vorstellung, dass Christus dem Wiedergeborenen einwohne und ihn von innen heraus zu einem frommen Leben lenke, entspricht ganz der traditionellen Mystik. Dieser Tradition zufolge kann der Mensch sich zwar Gott hingeben, doch ob er die Gnade der Einwohnung erfahren werde, liegt einzig bei Gott. Hier unterscheidet sich nun Johanna Eleonora Peter sen entscheidend von der mittelalterlichen Mystik. Sie ist der Ansicht, wo glaubensfähige Herzen seien, da werde sich der Glaube schon einstellen. Ja, sie fordert sogar dazu auf, um den Glauben zu kämpfen.903 Johanna Eleonora Petersen vertritt hier ganz offensichtlich eine voluntative Mystik, bzw. nach der Terminologie Kolakowskis eine »egozentrische Mystik«. Aus der Verschränkung von chiliastischen Hoffnungen mit einer mystischen Verinnerlichung ergibt sich noch eine weitere Komponente: Das allgemeine Priestertum. Johanna Eleonora Petersen ist – ausgehend von der Vorstellung, dass kurz vor der Wiederkunft Christi die Juden und Heiden bekehrt werden müssen – überzeugt, derjenige, der den echten Glauben und nicht den falschen menschlichen ›Mund-Glauben‹ habe, sei auch berufen, unter den Heiden und den Ungläubigen den Glauben aufzurichten.904 Sie bezieht die Lehre vom allgemeinen Priestertum im Vorwort explizit auf sich und verteidigt sich gegen mögliche Kritiker: Es werden sich einige finden, schreibt die Autorin, die sie kritisieren würden, weil sie als Frau über religiöse Themen schreibe. Aber diese könnten nicht verhindern, dass der heilige Geist auch über Frauen ausgeschüttet werde, um zu offenbaren, was die Klugen und Weisen ohnehin nicht verstehen könnten. Gott habe kein Ansehen der Person, meint sie.905 – Von Gott her sind alle Menschen gleich. Abschließend kann festgehalten werden, dass der frühe deutschsprachige Radikalpietismus durch die umfangreichen Andachtsbücher von Johanna 902 903 904 905

Ebd., 1. Teil, Kap. 72, S. 171. Ebd., Vorrede (unpaginiert). Ebd., 1. Teil, Kap. 50, S. 191. Ebd., Vorrede (unpaginiert).

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Eleonora Petersen so etwas wie eine Grundlagenliteratur erhielt. In diesen Werken f lossen ältere heterodoxe Strömungen zusammen, die im Untergrund der reformierten Orthodoxie trotzten und sich mannigfaltiger Quellen bedienten. Die Bibliothek Johann Heinrich Lochers ist für diese Mannigfaltigkeit geradezu beispielhaft. Insbesondere besticht die Bibliothek dadurch, dass sie beinahe die ganze Breite der unorthodoxen Denkströmungen der frühen Neuzeit abdeckt. Aus dieser Fülle von Denkfiguren entsteht in eklektischer Weise ein neues Weltbild: Eine spiritualistische Mystik verbindet sich mit einer chiliastisch gefärbten Hoffnung auf eine bessere Welt und mutiert von einer weltabgewandten Frömmigkeit zu einem das Individuum bejahenden und sich im Diesseits des Heils vergewissernden Optimismus. Dreh und Angelpunkt dieses Wandels ist die Wende ins Psychologische. Eine kultische, sich in der Außenwelt abspielende Religiosität wird nun konsequent internalisiert. Innerer oder äußerer, wahrer oder falscher Glaube werden zu den entscheidenden Kampf begriffen. Ziel der neuen Frömmigkeit ist das Herz oder der als Wiedergeburt bezeichnete Wandel der menschlichen Psyche. Aus einem fremden, äußerlichen wird ein persönlicher und selbst erfahrener Gott, der als ›Herzensbräutigam‹ oder ›Seelenschatz‹ erfahren wird. Diese Selbstaneignung Gottes geht mit der Entwicklung des Individualismus und einer Dekonfessionalisierung einher. Vielleicht haftet ihr sogar etwas Revolutionäres an, indem ein äußerlicher und fremdbestimmter Gott zu einem innerlichen und selbstbestimmten Gott wird und sich der Herrschaftslegitimation über das Religiöse entzieht, sofern Herrschaft nicht in pietistischer Weise relegitimiert wird.906 Die Scharnierfunktion in dieser Umwertung des religiösen Empfindens nimmt Jakob Böhme ein. Das erkennt man deutlich an der dominierenden Rolle, die er im Denken Johann Heinrich Lochers spielte. Böhme ist aber auch das verbindende Element zwischen einer Vielzahl von heterodoxen Ansichten. Wir brauchen hier lediglich an Antoinette Bourignon und Jane Leade, die beiden Vorbereiterinnen des Radikalpietismus zu erinnern, die sich in Böhmes Tradition verstanden und ihn weiter entwickeln wollten. Die breite Böhmerezeption, welche in den Radikalpietismus mündet, kann deutlich an Johann Heinrich Lochers Lesetätigkeit abgelesen werden. Diese älteren, tieferliegenden Wurzeln erklären auch den großen Einf luss von Antoinette Bourignon und Jane Leade. Dabei handelt es sich zwar um Einf lüsse von außerhalb des deutschen Sprachraums, aber gleichzeitig auch um ein Zurückf ließen von ausgegrenzten Denktraditionen, die den 906 Das Verhältnis des frühen Pietismus zur Politik ist schillernd: In Preußen entwickelte er sich beispielsweise zu einer staatstragenden Kraft, in Württemberg dagegen zu einer oppositionellen Strömung.

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Schlussbetrachtung

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Umweg über den englischen und französischen Sprachraum nahmen. Das mag auch erklären, warum Bourignon und Leade für Locher und seinen Radikalpietismus prägend wirkten, andere heterodoxe Strömungen dagegen bloß am Rande zur Kenntnis genommen wurden. Johann Heinrich Locher beschäftigte sich zwar mit Schriften von Quäkern und mit solchen von und über Miguel de Molinos, doch es entsteht der Eindruck, dass diese Auseinandersetzung nur ein Nebengeleise war und ihm vermutlich lediglich als Bestätigung diente für seine Hoffnung, dass sich die Frommen überall zu sammeln begännen. Jedenfalls fehlt eine akribische Auseinandersetzung Lochers mit diesen zwei Literaturgruppen, wie dies sonst seiner eklektischen Art entsprach.

2.7 Schlussbetrachtung Die Mannigfaltigkeit der Denkströmungen, die Locher beeinf lussten, zu einer einheitlichen Anschauung synthetisieren zu wollen, wäre aus zwei Gründen vermessen. Erstens wissen wir nicht, wie der Vielleser die einzelnen Autoren rezipierte und zu einem Bild verarbeitete. Zweitens erscheint uns Locher in seinen Selbstzeugnissen als ein eklektischer Sucher. Dennoch habe ich einige oft wiederkehrende Elemente in der Lektüre selektiv herauszuschälen versucht und dabei auch viel Beiwerk weggelassen, das ebenfalls Beachtung verdient hätte. Das erste Ziel der Untersuchung der Bibliothek Lochers war es, den Fokus auf die Denkfiguren in Lochers Lesewelt zu richten, die in vielfältiger Ausprägung immer wieder auftauchen und sich wie Leitmotive durch die rezipierten Schriften ziehen. Die Darstellung des Lesestoffs von Johann Heinrich Locher konzentrierte sich auf die Gemeinsamkeiten zwischen den Autoren unterschiedlichster Konfessionen und Epochen. In erster Linie ging es nicht darum, das Trennende hervorzuheben: Es ist unbestritten, dass die mystischen Ansätze bei Tauler und Thomas à Kempis sich grundlegend vom Spiritualismus Kaspar von Schwenckfelds unterscheiden. Letzterer weist dann beispielsweise wiederum Differenzen zu Sebastian Franck auf, etc.907 Methodisch zielte die Darstellungsweise der Gemeinsamkeiten darauf ab, auch dort – wenigstens ansatzweise – etwas über das Denken Johann Heinrich Lochers zu erfahren, wo wir keine direkte Zeugnisse von ihm besitzen. Dabei bin ich von der Annahme ausgegangen, dass, wer eine solche Menge sich gleichender und ideengeschichtlich mit einander verwobener Texte verarbeitet, sich in seinem Denken zumindest mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner dieser Schriften identifizieren konnte. 907

Vgl.: McLaughlin, Spiritualismus, S. 703 f.

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Lesewelt und Alltagsbewältigung

Ein überraschendes Element in Lochers Denkwelt lässt sich hier bereits festhalten: Philipp Jakob Spener spielt höchstens eine kleine Nebenrolle. Ein Befund, der gar nicht mit dem gängigen Pietismusbild der heutigen Forschung übereinstimmen will. Ich habe Johann Heinrich Locher weniger als genuinen und originellen Denker vorstellen können, sondern mehr als Propagandisten und Organisator der schweizerischen pietistischen Bewegung. Seine Leistung bestand im systematischen Akkumulieren eines breiten Wissens über die radikalpietistische Denkweise und von deren zugrundeliegenden klandestinen und verschlungenen Strömungen und Quellen. Dass Locher dieses Wissen verbreitete und Gleichgesinnten zugänglich machte, war sein Verdienst. Wir dürfen ihn als eine Art Lehrmeister der pietistischen und besonders der radikalpietistischen Frömmigkeit betrachten. Und wir dürfen seine Denkfiguren in unterschiedlichen Ausprägungen als Allgemeingut des frühen Zürcher Pietismus voraussetzen. Lochers Denkwelt soll uns als ein pars pro toto für den geistigen Horizont der gesamten Bewegung dienen. Diese Annahme erlaubt, den mit der Methode der Mikrogeschichte gewonnenen ideengeschichtlichen Befund als eine Art »Mentalität« mit der Trägergruppe des Zürcher Pietismus, die ich als Teil eines Protobürgertums begreife, in Verbindung zu setzen.908 Ich spreche hier von einer Art »Mentalität«, weil es ja nicht um eine gesellschaftlich oder schichtspezifisch hegemoniale Denk- und Lebensweise geht, sondern lediglich um eine Denk- und Lebensweise, die gerade in Abgrenzung zur hegemonialen steht und die als autonomes Element in dieser Abgrenzung – wenn nicht gar Absonderung – das Sinnstiftende und das den Zusammenhang bildende Element unserer pietistischen Personengruppe ist. »Die Wurzeln des Bürgertums (…) liegen im Stadtbürgertum der frühen Neuzeit; die Vereinigung des Gelehrtenstandes und der Funktionseliten allgemein mit dem Wirtschaftsbürgertum der Kauf leute und Handwerker war nur möglich über eine gleichartige Prägung durch leitende Vorstellungen im Bereich von Tugend und Arbeit«, definiert Michael Maurer die Formationsphase des modernen Bürgertums.909 Er entwickelt die These, dass ungefähr in der Mitte des 18. Jahrhunderts der Protestantismus verbürgerlicht wurde; unter religiösen Vorzeichen hätten sich die bürgerlichen Werte herausgebildet. Er nennt beispielsweise die Werkethik als besondere Tugend, die Entkommunalisierung und Privatisierung des sozialen Lebens, die Individualisierung und Verinnerlichung so wie die 908 Grundsätzlich gilt »Mentalität« als ein makrohistorischer Begriff. Mit den Stärken und Schwächen der Mentalitätsgeschichte auf der Mikro- und Makroebene setzt sich Michel Vovelle auseinander: Vovelle, Serielle Geschichte oder »case studies«, S. 114–126. 909 Maurer, Die Biographie des Bürgers, S. 235.

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Schlussbetrachtung

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Ablösung kollektiver religiöser Rituale und Autoritäten durch einen persönlichen Vernunftglauben. Werte, die meistenteils mit den Postulaten der Auf klärung harmonierten. Am augenscheinlichsten ist der Zusammenhang zwischen einem protobürgerlichen Pietismus und einer frühen Form der Verbürgerlichung der Religiosität abzulesen an der radikalen Zurückweisung der Prädestination, des grundlegenden Glaubensdogmas des Calvinismus. Ein willkürlicher und unberechenbarer Gott entsprach nicht mehr den Anforderungen eines aufstrebenden Bürgertums910: Dieses wünschte sich einen optimistischen Gott, der Eigeninitiative belohnen sollte. Während der Adel seine gesellschaftliche Position durch Geburt und Erbe sicherte, ist das Wesensmerkmal des Bürgertums, dass es seinen Status keineswegs auf sicher hat und diesen erst durch eigene Leistung, durch Bildung, Anstrengung, Fleiß, Wille, Verzicht und Triebbeherrschung erlangen muss. Eine auf die Verf leißigung tendierende Ethik911 verbunden mit der speziellen Providenz entsprach viel mehr der Lebenserfahrung, die die Mehrheit der ersten beiden Generationen des Zürcher Pietismus machten. In einer Welt, die auf Leistung und persönlicher Verantwortung beruhte, trug die Auseinandersetzung über ein prinzipielles Verworfen- oder Angenommensein wenig zur Alltagsbewältigung bei. Die individuelle Vorsehung dagegen trug diesem Umstand vollkommen Rechnung. Das Individuum kann an der eigenen Erlösung wie auch an der Erfüllung des Schöpfungsplanes generell mitwirken. Nicht die Prädestination prägte den Geist des kapitalistischen Bürgertums, wie Max Weber postulierte, es war viel mehr die spezielle Providenz, die eine ideologische Grundlage eines frühen Bürgertums bildete.912 Folgt man dem Ansatz, wonach eine frühbürgerliche Schicht ihren gesellschaftlichen Status primär auf persönliche Leistung gründet, dann bedingt ein bürgerliches Curriculum ein gewisses Maß an Individualitätsbewusstsein. Dieses Individualitätsbewusstsein begann sich ganz besonders im Pietismus auszudrücken. Sichtbar wird dies an der Wiedergeburtskonzeption, die auf dem freien Willen und auf einer egozentrischen Mystik basiert. Im Zentrum der Frömmigkeit stand die Zielsetzung, die Gewissheit über die persönliche Gnade zu erlangen – und zwar bereits in Diesseits. Entgegen der mittelalterlichen Mystik, die den Menschen zur Hingabe an Gott bestimmte, war nun Gott zur Hingabe an den Menschen 910 Zur parallelen Entwicklung in England vgl.: Hill, Über einige geistige Konsequenzen der englischen Revolution, S. 64. 911 Schenda, Fleissige Deutsche, f leissige Schweizer, 190 f. 912 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Kaspar von Greyerz in seiner Untersuchung zum englischen Puritanismus: von Greyerz, Der alltägliche Gott im 17. Jahrhundert, S. 11–30.

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bestimmt, damit jener seine Seligkeit erreichen könne. Diese »falsche« Mystik leitet trotz propagierter Demut und Gelassenheit nicht zu einer rein kontemplativen Haltung an. In ihr gibt es genügend Freiraum zur aktiven und individuell gestalteten Lebensführung. Deutlich wird das an dem für den Pietismus zentralen Begriff der Wiedergeburt: Zu ihr führt – wie im bürgerlichen Leben – eine persönliche Leistung. Um selig zu werden bedarf es für Johann Heinrich Locher des »guten Willens«. Die persönliche Willensleistung ist aber bloß möglich, wenn der Wille frei ist und in der Eigenverantwortung des Menschen liegt. Der freie Wille, dieser Grundwert (radikal-)pietistischer Frömmigkeit, wurde in der Philosophie der Auf klärung säkularisiert und damit zur Voraussetzung des bürgerlichen Individuums. In der pietistischen Theologie gibt es nichts umsonst: alles muss individuell erarbeitet werden. Daraus folgt, dass Momente der Individualität, die in der Mystik angelegt sind, im Pietismus stark gesteigert werden: Zu nennen sind die rigiden Selbstspiegelung und Selbstkontrolle. Das Selbst, das Individuum, ist nicht bloß Ziel des Glaubens, es ist auch der Ort des Glaubens. Der individuelle Glaube kondensiert sich im Begriff des »Hertzens« und meint die komplette Verinnerlichung. Der im Pietismus stark gewichtete Gegensatz von äußerem und innerem Glauben spiegelt eine religiöse Abwendung von der kollektiven Religiosität, die sich an der Kirche als Ort und Institution festmachen lässt, hin zu einer auf das Selbst bezogenen und verinnerlichten Frömmigkeit. Man ist geneigt, in der Verinnerlichung eine erste Etappe zu einer Säkularisierung des Glaubens respektive eine Vorform einer verbürgerlichten Religiosität zu erblicken. Die irenische Ausrichtung des radikalen Pietismus zeugt nicht bloß von einer Dekonfessionalisierung, sie bereitet auch einen personalisierten Vernunftglauben913 vor. Johannes Altmann kritisierte aus gemäßigter Warte in seinem Traktat Wohlgemeintes Send=Schreiben, dass die radikalpietistische Theologie, beispielsweise jene von Antoinette Bourignon, »einige der Unterscheid der Religion wollen auf heben/ und eine pure Theologiam naturalem machen.«914 Selbst wenn der Berner Pfarrer hier über das Ziel hinausschießen sollte, greift er doch auf eine Tendenz vor, die in der Auf klärung dann vorherrschen wird. Wie weit es innerhalb des Prozesses der Verbürgerlichung des Religiösen sinnvoll ist, von innerkirchlichem und außer913 In Kants Religionsphilosophie lassen sich zahlreiche Elemente pietistischen Ursprungs erkennen: Der pietistische, anthropozentrische Gottesbegriff beispielsweise wandelt sich hier zum »moralischen Gesetz in uns« und wird zum Fundament einer natürlichen oder vernünftigen Religion, die keiner (sichtbaren) Kirche bedarf. Vgl.: Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. 914 Altmann, Wohlgemeintes | Send Schreiben | An | Die heutigen so genanten | Pie= tisten/ | In der gesamten Evangeli=|schen Kirchen/ | Von ihrem vertrauten Freund/ | Simon Nathaniel, Zürich (David Gessner) 1700 [ZB Zürich Ms. S 277, Nr. 67], S. 26.

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Schlussbetrachtung

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kirchlichem Pietismus zu sprechen, scheint fraglich: Im folgenden Teil soll gezeigt werden, dass die Absonderung der Zürcher Pietisten von der Kirche kein selbstbestimmter Weg war, sondern vielmehr eine Reaktion auf die obrigkeitliche Repression. Ein weiteres Moment, das auf ein modernes Bürgertum vorverweist, ist im individualisierten, verinnerlichten Glauben angelegt. Es ist die Tendenz zur Internalisierung und Privatisierung von Normen. Am ausgeprägtesten ist das bei Johanna Eleonora Petersen anzutreffen, die die Gesetze der Bibel, die durch Kirche und Staat durchgesetzt werden, für die Wiedergeborenen auf hebt und sie als verinnerlichte Glaubensäußerungen auferstehen lässt. Der wahre Gläubige befolgt demnach die christlichen Gesetze nicht aus einer extrinsichen Motivation, wie beispielsweise aus einer Furcht vor einer drohenden Strafe, sondern aus einer intrinsichen Motivation, weil die Befolgung dem Gläubigen die Gewissheit seines wiedergeborenen Status verleiht.915 Dieses Denkmuster zeigt einen Übergang von einer Sozialdisziplinierung zu einer Selbstdisziplinierung und verstärkten Triebkonditionierung (Norbert Elias) an. In diesem Zusammenhang ist auch der mystische Askesebegriff des radikalen Pietismus zu verstehen: Es ist der Wille zur Selbstbeherrschung, der die pietistische Askese bestimmt. Es geht dabei nicht um eine radikale Weltverneinung qua Weltf lucht, sondern um die Triebkonditionierung in der Auseinandersetzung mit der Welt. Eine intrinsische Triebregulierung verlangt offensichtlich nach einer individualisierten Frömmigkeit. Es macht den Eindruck, dass der Wille, sich regelkonform zu verhalten, auf Selbstbestimmung und Selbstkontrolle basiert; eine verfeinerte frühmoderne Herrschaftsstrategie ist hingegen bei der Herausbildung der Selbstdisziplinierung in diesem Stadium nicht auszumachen. Der verinnerlichte Glaube steht für Tugenden wie Mäßigung, Selbstbeherrschung, Verzicht, Geduld, Arbeitsamkeit und Zeitbewusstsein, oder in der zeitgenössischen Terminologie: Gelassenheit, Demut, Sanftmut, gute Werke sowie Überwindung des Fleisches und der Eigenheit. Er grenzt sich ab vom äußerlichen und weltfrohen Glauben, der wegen seinem Hang zu Luxus, Verschwendung und sinnlichen Genüssen, wegen seiner Sittenlosigkeit und reinen Gelehrsamkeit ohne Praxisbezug sowie wegen seines ausbeuterischen Wesens kritisiert wird. Es fällt nicht schwer, hier den – 915 Johann Gottlieb Fichte unterscheidet im Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1798) den kategorischen Imperativ in einen reinen und innerlichen und einen empirischen, äußerlichen. »Der Relation nach bezieht sich dieses Gefüh[l] [der Achtung der einfachen Idee des Gesetzes kb] auf das Ich, als Substanz, entweder im reinen Selbstbewusstseyn, und dann Achtung unserer höheren geistigen Natur, die sich ästhetisch im Gefühle des Erhabenen äussert; oder im empirischen, in Absicht der Congruenz unserer besonderen Willensformen mit dem Gesetze.« Das reine und unbedingte Gesetz ist für Fichte auch »ein göttlicher Funke in uns«. Fichte, Sämmtliche Werke, Bd. 5, S. 26 u. 30.

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noch in religiösen Termini geäußerten – Keim der gegensätzlichen Wertsysteme eines auf kommenden modernen Bürgertums und einer noch vorherrschenden aristokratischen Elite zu erkennen. Die eigene Moralität wurde dem Bürgertum zu einem wichtigen Distinktionsmittel, um sich von anderen Ständen und deren Amoralität abzugrenzen.916 Die bürgerliche Moralvorstellung ist im Wesentlichen von der Arbeitsamkeit geleitet. Auch hier haben wir starke Indizien dafür, dass das pietistische Protobürgertum das Terrain vorbereitete mit seinem subtilen Rückgriff auf die Werkethik. Antistes Klingler berichtet in seinem Rundschreiben vom 25. November 1710, in dem er über die Pietisten als »räudige Wölfe im Schafspeltz« und falsche Propheten herzieht, man habe in den vergangenen Tagen mit Entsetzen und Bestürzen die falsche Lehre von der Heiligkeit des Lebens feststellen müssen: »[nach] welche[r] zwahr billich einen jeden wahren Christen täglich arbeite und eüßersten bemühung seyn soll zuzeigen namlich die aufrichtigkeit des wahren glaubens, und die begierd zu leben als ein gerecht-gesprochenen und Gottliebendes Kind des himmlischen vatters: dieße werkheilige leüth [haben] ein bößes gifft.«917 Der Antistes gibt hier genau die Auffassung von der Werkethik wieder, wie wir sie als einen von Sebastian Franck bis auf das Ehepaar Petersen erstreckenden roten Faden in Lochers Bibliothek angetroffen haben. Im Unterschied zum Katholizismus erscheinen hier die Werke nicht als Teil einer Glaubensausübung, sondern als ein weltliches Zeichen der erlangten inneren Heiligkeit. Und die Werkethik verbindet sich zudem mit einem neuen Zeitbegriff. Der Pietist will sich im diesseitigen Leben perfektionieren, er will im Jetzt die Wiedergeburt und die Gewissheit seines Seelenheils erlangen: Das bedingt einen rationalen Zeiteinsatz. Im Nutzlicher Zeit=Vertreib rät der Pfarrer Johann Kaspar Füssli [33] zu Fleiß und Arbeitsamkeit als Teil des Gottesdienstes, so dass dann neben der Arbeit für die Andacht ebenfalls genügend Zeit verbleibe.918 916

Maurer, Die Biographie des Bürgers, S. 246. ZB Zürich Ms. S 352 [Historia Ecclesica], Nr. 3 [Rundschreiben Antistes Klingler an alle Dekane wegen des Pietismus vom 25. November 1710]. 918 Füssli, Nutzlicher | Zeit Vertreib, | Oder | Kurtz und grundliche Anleitung, | = = Wie ein jeder Handwerks= und | Baurs=Mann, Dienst und Taglöhner | in der Forcht und Gegenwart Gottes arbei=|ten solle, um sich dessen Beystands, Schutz= | und Segen nach Seel und Leib zutrösten. […], Zürich (Lindinner) 31735 [ZB Zürich XVIII 2009.5]. »In Ansehung der Zeit und Werken« formuliert Füssli mehrere Aspekte der Selbstprüfung als Fragekatalog, dem sich der Fromme täglich stellen muss: »1. Ob ich die Zeit nicht unnüz mit bösen Gedanken, bösen Worten oder Werken, oder im Müssiggang und Faulheit zugebracht? 2. Ob ich in meinem Stand und Beruf seye f leissig, treu und redlich gewesen? 3. Ob ich alle meine Werke um Gottes will, in= und vor Gott verrichtet als ein Knecht oder Magd Christi als unseres Herrn? 4. Ob ich etwas Gutes und Nuzliches habe gearbeitet und verrichtet auch aus Liebe zu meinem Nechsten« (S. 40). 917

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Schlussbetrachtung

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Dass sich eine gesellschaftliche Gruppe, die sich zwischen Adel und Handwerk zu etablieren begann und sich ihren sozialen Status durch individuelle Leistung erarbeitete, für ein religiöses Weltbild interessierte, das Individuum, Arbeit und Zeitökonomie gewichtet, ist offensichtlich. Eine Ethik der Leistung ermöglichte es, ein gemeinsames Band zwischen Theologen, Magistraten und Kauf leuten herzustellen, das eine Form der Vergemeinschaftung untereinander sowie der Absonderung gegenüber anderen Schichten erlaubte. Es darf vermutet werden, dass der Zürcher Pietismus eine frühe und unscharfe Kultur eines modernen Bürgertums am Beginn seiner formativen Phase darstellte. Die Übereinstimmung zwischen dem sozialgeschichtlichen und ideengeschichtlichen Befund spricht für diese Interpretation. Wenn ich von einer Vorbereiterfunktion des (radikalen) Pietismus zur Ausbildung einer für das moderne Bürgertum konstitutiven Mentalität spreche, so muss zusätzlich auf den Optimismus verwiesen werden. Diesem begegneten wir in mehrfacher Ausprägung, als spezielle Providenz, als Postmillennarismus und als Heilsuniversalismus. Die Vorstellung eines strafenden Gottes, der dem irdischen Menschen feindlich ist und der seine Schöpfung verworfen hat, wird im Pietismus in Frage gestellt. Ein zürnender Gott des Alten Testaments wird tendenziell durch einen Gott der Liebe abgelöst. Das Gottesbild des Pietismus ist weltbejahend. In dieser Welt ist die Möglichkeit zum Bessern angelegt – und es liegt am Menschen, dazu beizutragen: Er kann am Heilsplan Gottes mitwirken. Es ist die persönliche Leistung, die das eigene Seelenheil sichert und es sind die Frommen, die die Wiederkunft Christi vorbereiten. Der auf der persönlichen Leistung basierende religiöse Optimismus hat zur Folge, dass die Welt planbar, begreif bar und veränderbar ist, und dass die Menschen gleich sind, »Gott ist kein Anseher der Person«. Die pietistische Weltanschauung verweist jedoch nicht einseitig und linear auf die Auf klärung und auf eine bürgerliche Mentalität. Ihr haften ebenfalls rückwärtsgewandte Momente an. Die pietistischen Denkfiguren sind voller Antinomien, die oft nur schwer nachvollziehbar sind. Deutlich wird dies beispielsweise am spiritualistischen Vernunftsbegriff von Antoinette Bourignon: in scharfer Vernunftskritik verwirft sie die orthodoxe Theologie und bezeichnet diese als »Vernunftsglauben«; sie propagiert an deren Stelle eine Theologie, die ihre Wahrheiten aus der innern Eingebung, bzw. aus der Erkenntnis Gottes im Herzen schöpft. Den Gordischen Knoten der hochkomplexen – auf der Philologie basierenden – scholastischen Theologie zerschneidet sie mittels einer irrationalen Herzensfrömmigkeit. Das hält Antoinette Bourignon aber nicht davon ab – oder vielleicht ermöglicht es dies ihr erst –, theologische Lehrmeinungen, wie beispielsweise die Prädestinationslehre, allein aus der Vernunft zu widerlegen und sich ein rationales Bild von Gott zu machen, ohne sich auf Bi-

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Lesewelt und Alltagsbewältigung

belzitate oder Anleihen bei Autoritäten zu stützen. Die Theologie von Antoinette Bourignon ist ein gutes Beispiel für den Gleichklang zwischen einer individuellen, irrationalen Herzensfrömmigkeit und einem universellen Vernunftsglauben. Dieser Gleichklang zwischen einem irrationalen Individualismus und einem rationalen Universalismus, der unserem Empfinden eher disharmonisch anmutet, spiegelt sich auch in der Ablehnung des Bücherwissens einerseits und der Bücherproduktion des Pietismus im großen Maßstab andererseits. Es scheint, als möchte sich der pietistische Individualismus voraussetzungsfrei erfahren, doch gleichzeitig will diese Erfahrung mit der Umwelt diskutiert und begriffen werden. Das widersprüchliche Denken des Pietismus zeigt sich besonders deutlich an der Wiedergeburtsidee, auf die der von Leszek Kolakowski geprägte Begriff der mystique égocentrique hervorragend zutrifft. Hier konkurrieren sich Konzepte wie die absolute Hingabe an Gott bis hin zur Selbstaufgabe mit einem ausgeprägten Individualismus und dessen auf das Selbst bezogenen Religiosität. Aber auch Diesseits und Jenseits widersprechen einander, wenn die Pietisten sich bereits im irdischen Leben Gewissheit verschaffen wollen über ihr aus der Jenseitsvorstellung bezogenes Streben nach dem Seelenheil. Die neue Mystik, die sich von der mittelalterlichen Mönchsmystik teilweise sogar bewusst abgrenzt, öffnet ein Spannungsfeld zwischen Weltf lucht und aktivem Eingreifen in die Welt: Aus der idealen Welt der innern Einkehr wird die Kritik an der realen Welt und die Legitimität zum politischen Handeln bezogen. Es lassen sich eine weitere Reihe von gegensätzlichen Denkstrukturen benennen. Ref lektiert man zunächst die eschatologischen Vorstellungen, so wird erkennbar einerseits das Angstmoment, das noch auf einer im Mittelalter wurzelnden Vorstellung eines erbarmungslos strafenden Gottes basiert und das in der kollektiven Verunsicherung durch den Dreißigjährigen Krieg großen Rückhalt fand. Das Angstmoment kontrastiert anderseits nun deutlich mit dem neuen Zukunftsoptimismus: Gott wird hier als ein die Menschen liebender Gott gezeichnet, der am Ende alle erlösen werde. Wie weit das einvernehmliche Nebeneinander von Angst und Zukunftshoffnung Ausdruck einer sich rasch wandelnden Welt ist, muss hier offen bleiben. Ebenfalls zweideutig ist die Gleichzeitigkeit von weltverneinender Frömmigkeit und innerweltlicher Werkethik. Hier verbindet sich eine fundamentale Kritik an Reichtum und an der Geldwirtschaft mit einer rigiden Arbeitsethik. Diese parallelen Erscheinungen erschweren es, mit Max Weber von der pietistischen Ethik mechanisch auf den »Geist des Kapitalismus« zu schließen. Die konstatierte Widersprüchlichkeit erweckt vielmehr den Eindruck, als handle es sich hier um eine Übergangsform zwischen dem langen 17. Jahrhundert und dem anbrechenden Zeitalter der Auf klärung und des modernen Bürgertums. Zu dieser Einschätzung gelangte ich zumindest bei der Beurteilung der Harmonie

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Schlussbetrachtung

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zwischen einer okkulten bzw. animistischen Naturauffassung und ersten Ansätzen zu einer empirischen und mathematisch-exakten Naturwissenschaft. Das Denken der Frömmigkeitsbewegung habe ich als ein Denken erschlossen, in dem sich die alten Wahrheiten im Bewusstsein einer die Mentalität einer Epoche prägenden Gesellschaftsschicht noch nicht restlos aufgelöst und die neuen noch nicht verfestigt haben. Die Ambiguität des frühen Pietismus kann dahingehend verstanden werden, dass er eine Strömung des Übergangs war, zum Teil noch in Denkströmungen der Renaissance verhaftet und zum andern Teil bereits die Auf klärung vorwegnehmend. Und zudem: Der Pietismus überlieferte Anschauungen der Renaissance, die im 17. Jahrhundert durch die aristotelische Scholastik der protestantischen Orthodoxie an den Rand gedrängt worden waren, an die Auf klärung. Die herausragende Stellung von Paracelsus, den Rosenkreuzer-Schriften, Böhme und weiteren auf dieser Tradition auf bauenden Werken in Johann Heinrich Lochers Bibliothek vermittelt den Eindruck, dass es sich beim radikalen Pietismus, um mit Hugh Trevor Roper zu sprechen, um eine späte Form der heterodoxen und revolutionären »Paracelsian Mouvement« des deutschsprachigen Raumes handelt; eine religiös-ideologische Bewegung, die in Opposition zur nachreformatorischen Orthodoxie das neuplatonische Erbe der Renaissance bewahrte und schließlich als Scharnier zur Auf klärung wirkte.919 Betrachtet man den Pietismus unter diesem Gesichtspunkt, so erhält die Diskussion über einen erweiterten und engen Pietismusbegriff eine breitere Dimension: Johann Arndt kann dann als ›Spitze des Eisberges‹ betrachtet werden, d. h. als ein Autor der oppositionellen paracelsischen Strömung, der es schaffte, eine prekäre Stellung zwischen Klandestinität und kirchlicher Akzeptanz zu erlangen. Der frühe Pietismus erscheint in einem Übergangsstadium zwischen Mittelalter und Auf klärung, zwischen Analogiedenken und Wissenschaftlichkeit sowie zwischen Ständegesellschaft und modernem Bürgertum stehend. Ich möchte diese Zeitepoche als eine Phase bezeichnen, in der das dominierende Paradigma an Strahlkraft verliert und sich aufzulösen beginnt und ein neues sich erst allmählich herausbildet. Dieser beschleunigte Strukturwandel kann im Sinne von Hartmut Lehmann als Krise aufgefasst werden. 919 Trevor Roper, The Paracelsian Movement, S. 149–199. Zum deutschsprachigen Raum: Schlögl, Ansätze zu einer Sozialgeschichte des Paracelsismus im 17. und 18. Jahrhundert, S. 145–162. – Ähnlich äußert sich Hans Joachim Schoeps in der Beurteilung der Wirkungsgeschichte Felgenhauers: »Jedenfalls muss die unterirdische Wirkung der Schriften und Predigten Felgenhauers groß gewesen sein, wie bekanntlich überhaupt ein gut Teil religiöser Frömmigkeit im mystischen Separatismus außerhalb des offiziellen Kirchentums seine Heimat hatte. Anders würde der wenige Jahrzehnte später sichtbar werdende Erfolg des Pietismus und seiner zahlreichen inner- und außerkirchlichen Konventikelbildungen nicht erklärlich sein.« Schoeps, Philosemitismus im Barock, S. 45.

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Lesewelt und Alltagsbewältigung

Die eklektische Vereinigung von anscheinend Unvereinbarem kann als übersteigertes Harmoniebedürfnis in einer zerrissenen und sich rasch wandelnden Welt gedeutet werden. Entspricht ein solches Zerrissenheitsgefühl, das im Denken in Antagonismen und dualen Strukturen Ausdruck findet, einem Zeitgefühl? Paarten sich beispielsweise Angst und Hoffnung in einem Gefühl der Unzugehörigkeit? Mystik kann auch gedeutet werden als eine theologische Anthropologie, in der ein Nicht-Eins-Sein mit sich und der Welt verarbeitet wird.920 Es spricht einiges für die Annahme, dass in einem vor-kritischen und vor-psychologischen Denken eine Krisenepoche als Ringen zwischen Gut und Böse wahrgenommen wird und dass darin wiederum die Gegensätze im menschlichen Charakter (Gemüt) zwischen altem und neuen Adam, bzw. Jakob und Esau gesehen wurden. Mystik ist unter diesem Gesichtspunkt eine Strategie, die persönliche Krisenerfahrung und Zerrissenheit durch einen Rückzug ins Selbst und in eine innere Harmonie zu bewältigen. Die erbitterte Gegnerschaft Professor Schweizers den Pietisten gegenüber wird vor dem weitläufige Denkhintergrund des Pietismus verständlich: Hier treffen zwei weltanschauliche Konzeptionen aufeinander. Johann Heinrich Schweizer war in jungen Jahren vorübergehend ein begeisterter Anhänger Labadies und wurde später zum Cartesianer. Er versöhnte aber die anti-scholastische Philosophie Descartes mit der Orthodoxie und verfasste ein Compendium physicae Aristotelico-Cartesianae, 1685921. Schweizer geht von einer Welt aus, die Gott erschaffen und einmalig in Bewegung gesetzt hat. Eine Welt, die mechanisch-deterministisch wie eine Uhr abläuft. Darin gibt es keinen Platz für Rädchen, die nach individuellen menschlichen Entscheidungen laufen. In dieser Welt herrscht strikte Vorherbestimmung. Auf der anderen Seite steht eine auf neuplatonische Elemente zurückgreifende spiritualistische und pantheistisch gefärbte Weltauffassung. Eine Welt, die auch nach mechanischen Grundsätzen funktioniert, aber eine Welt, die ständig durch Gott in Bewegung gehalten wird, eine Welt, in welcher der Geist Gottes das belebende Moment ausmacht. Hier gibt es nun Platz für ein Mitwirken der Individuen an Gottes Plan in Form der Vorsehung.922 Dass aber auch ein animistisches und ein mechanisch-cartesianisches Weltbild miteinander korrespondieren können, belegt beispielsweise der Okkasionalismus, in welchem das permanente Walten Gottes in der Natur die Ursache mit der Wirkung vermittelt. Miguel de Molinos wurde beispielsweise auch deshalb verdammt, 920

Vgl.: Rosenau, Mystik III, S. 582 f. Schweizer, COMPENDIUM | PHYSICAE | Aristotelico-Cartesianae, | in usum Tironum | METHODO EROTEMATICA | adornatum, Amsterdam (Heinrich Wettstein) 1685 [ZB Zürich VI 327a]. 922 Vgl.: Webster, From Paracelsus to Newton, S. 65. 921

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Schlussbetrachtung

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weil seine Mystik dem Okkasionalismus Nicolas Malebranches verwandt sei.923 Mit der Ablehnung eines deterministischen Weltbildes geht ein neuer optimistischer Blick auf den Menschen einher. Ein Blickwinkel, den ich als vorpsychologisch bezeichnen möchte. Der Mensch wird nun nicht mehr bloß in Bezug auf Gott betrachtet, er rückt nun allmählich selbst ins Zentrum des Interesses und plötzlich wird Gott im Bezug auf den Menschen betrachtet. Das lässt sich beispielsweise an der modifizierten Sündenfalltheorie deutlich ablesen. Der Mensch ist nun nicht mehr per se schlecht und verdorben und allein durch göttliche Fügung zum Heil fähig, er ist nun als Teil der gefallenen menschlichen Gattung zwar schlecht, aber er verfügt als Individuum über die Anlage zum Guten. Gelingt es ihm, dieses Potential kraft seines Wiedergeburtsglaubens zu aktivieren, so kann er sich seines individuell erworbenen Seelenheils bereits im Hier und Jetzt gewiss sein. Dieser Blickwechsel bedingt, dass äußere Mächte wie Gut und Böse, Gott und Teufel zu charakterlichen Eigenschaften der menschlichen Psyche werden: Der biblische Antagonismus zwischen Jakob und Esau wird zu einem inneren Ringen des Menschen. Selbst der Teufel wird stellenweise in der bloßen Neigung des Menschen zum Schlechten aufgelöst. Die gnostische Religiosität wird in ein Widerspiel gegensätzlicher menschlicher Triebe übersetzt. Die Verinnerlichung des Glaubens ist auch eine Psychologisierung des Glaubens. Es findet eine kopernikanische Wende in der Religiosität statt: Ins Zentrum der Religiosität tritt der freie menschliche Wille als gleichwertiger Partner neben die göttliche Gnade. Die Frömmigkeit wird zur Individuation. Sie fordert für sich die Autonomie des Individuums und entwirft eine anthropozentrische Religiosität, die den Weg in Richtung Psychologie einschlägt.924 Die Konkupiszenz wird so zur bestimmenden religiösen Erfahrung: Selbstbeherrschung, Triebregulierung, Selbstdisziplinierung und Verzicht werden zu bestimmenden Merkmalen der religiösen Selbstwahrnehmung. Das Ich tritt ins Zentrum der Wahrnehmung in Form des freien Willens, der dergestalt moduliert werden will, dass er mit Gottes Willen gleichförmig wird. Die zwei untersuchten Zürcher Pietistengenerationen bewegten sich durchaus auf der Höhe der philosophischen Fragestellungen ihrer Zeit. 923

M. Schmidt, Molinos, Miguel de, S. 1089. Den umgekehrten Weg schlägt beispielsweise C. G. Jung ein in seinem programmatischen Artikel, Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychologischen, in: Jung, Grundwerke, Bd. 2, Archetyp und Unbewusstes, Olten 41990, S. 7–76. Er legt psychologische Bilder frei, die mühelos in ein (säkularisiertes) pietistisches Mystikverständnis eingeordnet werden können, wobei der Archetypus die Qualität des Mystischen bestimmt und die Mensch verändernde unio im Aktivieren des Unbewussten zu suchen ist. Die hohe Wertschätzung Jungs für Paracelsus ist hierfür charakteristisch. 924

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Lesewelt und Alltagsbewältigung

Die Auseinandersetzung mit Themen wie freier Willen, der Gnade, dem Licht der Erkenntnis, der Konkupiszenz, der kollektiven Erbsünde und der Individualität oder dem Leistungsdenken ist in dieser Frömmigkeitsbewegung in religiösen Termini bereits angelegt und braucht von der Frühauf klärung bloß weiter säkularisiert zu werden.

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3. Pietismus und Politik Wer also das Gute tun kann und es nicht tut, der sündigt. Jak 4.17

3.1 »Aber der Gerechte hält fest an seinem Weg« Friedrich Engels fasste die gesellschaftliche Bedeutung der Reformation in die griffige Formel: »Das Mittelalter hatte alle übrigen Formen der Ideologie: Philosophie, Politik, Jurisprudenz, an die Theologie annektiert, zu Unterabteilungen der Theologie gemacht. Es zwang damit jede gesellschaftliche und politische Bewegung, eine theologische Form anzunehmen; den ausschließlich mit Religion gefütterten Gemütern der Massen mussten ihre eigenen Interessen in religiöser Verkleidung vorgeführt werden, um einen großen Sturm zu erzeugen.«1 Die Reformation änderte an der weltanschaulichen Dominanz der Theologie wenig. Die Philosophie – und mit ihr andere Disziplinen – blieb bis ins Zeitalter der Auf klärung die Magd der Theologie (auch wenn sie, wie Kant später spottete, der Theologie das Licht voran trage). Es ist zu bezweifeln, dass das religiöse Moment in einer frühneuzeitlichen politischen Oppositionsbewegung als ›Verkleidung‹ gedeutet werden darf, denn das damalige Weltbild blieb weiterhin durch den religiösen Erfahrungs- und Wissensfundus bestimmt. Ähnlich werteten auch Max Weber oder Emile Durkheim das Religiöse im Denken und Wahrnehmen der Frühneuzeit. Wenn ich im ersten Teil auf bauend auf Durkheims Religionssoziologie den Pietismus als ein Kondensat des kollektiven Lebens – oder zumindest einer speziellen gesellschaftlichen Gruppe – zu interpretieren versuchte, so kann ich denn mit dem französischen Soziologen nachtragen, dass religiöses Empfinden moralische Kräfte und kollektive Gefühle sind, die tiefe menschliche Sehnsüchte nach der idealen Gesellschaft ausdrücken.2 Bringt der Pietismus zufolge dieser Theorie ein politisches Reformbestreben zum Ausdruck? Erinnert sei: In Zürcher Konventikeln wurde für ein besseres Vaterland gebetet. Dieses Verhalten darf aber nicht bloß als eine Geste der Macht1 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen Deutschen Philosophie, S. 304. 2 Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 561 u. 563.

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Pietismus und Politik

losigkeit gewertet werden. Wie gezeigt, stand das pietistische Milieu in Zürich nicht abseits der Politik. Die Pietistinnen und Pietisten rekrutierten sich in überproportional hoher Anzahl aus einf lussreichen Familien, die Abgeordnete im Großen oder im Kleinen Rat zu stellen vermochten. Gegen eine politische Abstinenz spricht weiter die große Zahl von Mitgliedern der Frömmigkeitsbewegung, die im Obrigkeitsstaat zu Amt und Würde gelangten. Der frühe Pietismus war politisch und keineswegs passiv auf reine Innerlichkeit ausgerichtet. Das Beispiel Johann Heinrich Lochers macht deutlich, dass sich eine verinnerlichte Mystik im realen Leben beweisen und bewähren konnte. Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit eine Verschiebung im religiösen Empfinden mit einer gewandelten politischen Wahrnehmung verwoben war. War das pietistische Programm, die Forderung nach einer zweiten Reformation, zugleich auch ein politisches Unterfangen? Ist die neue Frömmigkeit die Reaktion auf eine sich wandelnde Welt, ein Ringen um die Bewältigung krisenhafter Erscheinungen und politischer Unzulänglichkeiten? Handelt es sich allenfalls um ein politisches Programm einer sich formierenden neuen sozialen Gesellschaftsgruppe? Beinhaltet die neue Frömmigkeit einen Auf bruch zu neuen Utopien? 3.1.1 Das Verhältnis des Pietismus zur Politik Der Zusammenhang zwischen Religiosität und politischen Reformbestrebungen wurde an zwei sehr unterschiedlichen deutschen Beispielen dargelegt. Hartmut Lehmann machte es sich in seiner Habilitationsschrift »Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg« zum Ziel, den Pietismus im Verhältnis zu Staat und Gesellschaft zu begreifen.3 Er setzte die Anfänge des württembergischen Pietismus in Relation zum Franzosenkrieg und zur Barockkultur des absolutistischen Fürstenhofes und wies nach, dass die Trennung des Hofstaates sowie Hofadels vom Bürgertum und die beschnittenen ständischen Rechte Staat und Gesellschaft tief erschütterten. Die absolutistische Tendenz rief im Bürgertum Widerstand hervor und zog weitgehende theologische sowie soziale Veränderungen nach sich. Besonders im gehobenen Bürgertum, das durch die absolutistischen Neuerungen am härtesten betroffen war, setzte sich die Ansicht durch, dass Gott das Land für seine Neuerungen strafe. Der Spanische Erbfolgekrieg wurde als »Zeichen der Zeit« gedeutet. Die französischen Heerzüge von 1703 und 1707 erklären für Lehmann die Konjunktur der Konventikel. Die intensiven pietistischen Reformbemühungen scheiterten allesamt an den geringen Einf lussmöglichkeiten und an den obrigkeit3

Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg.

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»Aber der Gerechte hält fest an seinem Weg«

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lichen Pietistenmandaten. Anfang der Zwanzigerjahre des 18. Jahrhunderts wurde es allmählich still um die Pietisten, sie zogen sich auf pädagogische Betätigungsfelder und auf die »erbauliche« Auslegung der Bibel zurück. Das zweite Beispiel weiß hingegen von einem politischen Erfolg des Pietismus zu berichten. Carl Hinrichs und nach ihm Klaus Deppermann widmeten sich der Frage, warum der Pietismus zu einer tragenden Stütze des preußischen Staates aufsteigen konnte.4 Die Grundlage für die Integration der neuen religiösen Reformbewegung in das preußische Machtgefüge bestand in der zweifachen Dualität zwischen Reformierten und Lutheranern einerseits sowie zwischen höfischem Adel und landsässigem Junkertum andererseits. In diesem heterogenen brandenburg-preußischen Territorium konnte so kein einheitlicher zentralisierter Staat entstehen. Diese Sonderstellung Preußens machte sich der Pietismus zu Nutze: Mit seiner konfessionellen Toleranzforderung und durch seine standesübergreifende Trägerschaft bot er sich geradezu als einheitsstiftendes Medium an. Pietisten besetzten die meisten Feldpredigerstellen, organisierten das preußische Schulsystem und widmeten sich der Armenfürsorge. Sinnbildliches Zeichen der staatstragenden Funktion des Pietismus war das Hallesche Waisenhaus, die Kaderschmiede des Preußentums. Beide Beispiele belegen, dass der Pietismus in Beziehung zum Absolutismus zu verstehen ist, dass aber seine Einstellung zum Absolutismus freilich sehr ambivalent war. Diesem Problem der Ambivalenz stellt sich Mary Fulbrook. Sie beschäftigte sich in einem vergleichenden Ansatz mit der Fragestellung, warum ähnliche religiöse Bewegungen wie der Puritanismus in England und der Pietismus in Württemberg und Preußen sehr unterschiedlich auf den auf kommenden Absolutismus reagierten, und formuliert die These, Pietisten und Puritaner hätten aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen eben unterschiedliche Strategien und Bündnisverhältnisse entwickelt.5 Kurz, der frühe Pietismus war keine unmittelbar antithetische Reaktion auf den Absolutismus. Arbeiten zur politischen Bedeutung des Pietismus auf dem Gebiet der heutigen Schweiz fehlen gänzlich. Immerhin unterstreicht Rudolf Dellsperger in seinem Beitrag zum neueren Sammelband »Geschichte des Pietismus« den politischen Charakter der religiösen Bewegung in der Schweiz und warnt davor, sie lediglich als eine Gegenbewegung zur »leblosen Orthodoxie« bewerten zu wollen. Skizzenhaft hebt er ein paar Punkte heraus, die das religiös-politische Erneuerungspotential erahnen lassen. 4 C. Hinrichs, Preußentum und Pietismus, i. b. Kapitel 2 u. 3; K. Deppermann, Die politischen Voraussetzungen für die Etablierung des Pietismus in Brandenburg-Preußen, S. 39–53. 5 Fulbrook, Piety and Politics, i. b. S. 16.

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Die politische Bedeutung der sogenannten »Schwärmer« kommt am prägnantesten in einem Zitat Obmann Johann Heinrich Bodmers [6], des bedeutendsten pietistischen Politikers jener Zeit, zum Ausdruck. Es wurde überliefert in der unveröffentlichten Autobiographie von seinem bestem Freund Johann Kaspar Escher [20]. Angetan durch Letis Werk6 bemerkte Bodmer: »Er meine wohl möglich in Zürich ein Cromwell zu werden«.7 Interessant erscheint mir die Frage nach der politischen Bedeutung des Zürcher Pietismus, weil seine radikale Variante zeitgleich zur »Verfassungskrise« 8 aktiv wurde. Diese Krise entlud sich auf ihrem Höhepunkt 1713 in den Burgerunruhen. Das Ringen um eine verbesserte weltliche und kirchliche Konstitution war eng – wenn auch nicht ausschließlich – mit dem Auftreten der Nonkonformisten verknüpft. Die Niederlage der Bemühungen um eine Verfassungsreform hatte schließlich die Verfolgung des Pietismus zur Folge. 3.1.2 Versuch einer politischen Theorie des Pietismus Durch welche religiös-politischen Vorstellungen wurden die Pietisten geleitet? Wie verhielt sich die theologische Konzeption der »Erweckung« zur bestehenden Staatsordnung? Bestimmten biblische Heilserwartungen oder chiliastische Utopien das politische Handeln?9 Bereits angesichts der Bibliothek Johann Heinrich Lochers wird ersichtlich, dass dem frühen Pietismus sehr wohl ein politischer Aspekt zukam. Zu erinnern ist bloß an die rosenkreuzerische Vorstellung der Transmutation, wonach Mensch und Gesellschaft in einer zweiten Reformation zum Besseren gewandelt werden sollten, oder an Hoburg, der diese alchemistische Vision ins Pädagogische übertrug. Ein zweites Denkmuster, in dem sich politische Ideale der Pietisten ausdrücken, ist das Spannungsverhältnis zwischen einer total degenerierten Gesellschaft und dem anbrechenden Reich Christi. Wollen wir das politische Denken des frühen Pietismus ergründen, so müssen wir versuchen, das Politische aus den religiösen Hoffnungen her6 Leti, HISTORIA , | E Memorie recondite sopra alla | VITA DI | OLIVIERO CROMVELE , | detto il | TIRANNO SENZA VIZI, | IL PRENCIPE SENZA VIRTÙ, Amsterdam 1692 [ZB Zürich Q 302 u. 303]. 7 ZB Zürich FA v. Wyss III 116 [BM Hans Kaspar Escher d. J. Autobiographie. Aug.

1745], 4. Teil, S. 30. 8 W. G. Zimmermann, Verfassung und politische Bewegung, S. 9. 9 Eine Darstellung der chiliastischen Strömungen im radikalen Pietismus und i. b. der sogenannte Chiliastenstreit, der sich um das Bekenntnis des Ehepaars Petersen zum Tausendjährigen Reich entfachte, ist von der Forschung weitgehend vernachlässigt worden. Vgl. dazu: Wallmann, Der Pietismus, S. 88.

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auszulesen. Einen zusammenhängenden und das radikalpietistische Denken umfassenden Überblick über die politische »Theorie« leistet ein mehrteiliger Traktat, der den Zürcher Pietisten – vielleicht durch die Vermittlung Johann Heinrich Lochers – bekannt war. Die Unterredung zwischen einem Politico und Theologo10 hat Konrad Bröske, einen Anhänger der philadelphischen Bewegung und Übersetzer von Beverleys chiliastischen Schriften, zum Autor. Ich werde mich hier auf die siebenteilige Schrift mit religiös-politischem Inhalt stützen, weil sie mir in ihrer thematischen Dichte einzigartig scheint. Der in der Pietismusforschung wenig beachtete Traktat soll exemplarisch in die politische Ideenwelt des Pietismus einführen. Im weiteren Verlauf der Abhandlung soll untersucht werden, inwieweit in Zürich Elemente dieser oder ähnlicher Schriften übernommen wurden, bzw. vergleichbare Vorstellungen existierten. Der anonym und ohne Angabe eines Druckorts in Offenbach erschienene Traktat ist als Dialog zwischen einem Vertreter der Obrigkeit und einem Geistlichen aufgebaut. Der Theologe entwickelt ein didaktisch geführtes Gespräch, das den Weltmenschen allmählich an radikalpietistische 10

Bröske, Erste | Unterredung | zwischen einem | Politico und Theologo/ | Uber | Die letztere heraußgegebene Erklährungen/ | Daniels/ der H. Offenbarung/ | und andere Weissagungen mehr. | Worinnen | Untersuchet wird/ ob dise Bücher nicht | vor auffrüh rische Schrifften zu halten/ und deren | Urhebere als Auffrührere und Friedens= Stöhrer | zu straffen seynd. || Darüber | Die Urtheile so außfallen/ daß | diese Bücher dem Geist= und Weltlichen | Stande alles Gutes verkündigen/ deßwegen von | jederman wohl zu betrachten/ und das Gute/ | was sie verkündigen/ hertzlich zu | wünschen seye. […], o. O. [Offenbach (Bonaventura de Launoy)] 31700 [Erstausgabe: 1698]. Zweite | Unterredung | Zwischen einem | Politico und Theologo/ | Von | dem jetzigen | Zustande der Kirchen | Darinnen | untersuchet und gezeiget wird | was sich heutiges Tages bereits vor | Kennzeichen in der Kirchen hervor thun/ | Darauß | Man schliessen kan/ wie das herrliche | Reich Christi (zwar noch nicht an sich selbst | und in seinem völligen Glanze doch) in seiner | Vorbereitung würklich eingetretten | seye. […], o. O. 1698. Dritte | Unteredung | Zwischen einem | Politico und Theologo/ | Von | dem ersten Staffel der | Vorbereitung | Zum | Herrlichen Reich Christi. Darinnen | Untersuchet und gezeiget wird/ was | an demselbigen bereits erfüllet/ und nech=|stens nach Gottes Worte noch zu | erfüllen stehet. […] o. O. 1698. Vierte | Unterredung | Zwischen einem | Politico und Theologo/ | Von | Denen auff den ersten folgenden sechs | Stafeln | Der | Vorbereitung | Zum Herrlichen | Reiche Christi […], o. O. 1698. Fünffte | Unterredung | Zwischen einem | Politico und Theologo/ | Von | den | Welt=Händeln. | Darinnen | Jetzt nur ins gemein untersu=|chet und gezeiget wird/ welche Zei=|chen der Verbesserung und was vor | Vorbereitungen | Zum Herrlichen | Reiche Christi | Sich Darinnen hervorthun. […], o. O. 1698. Sechste | Unterredung | Zwischen einem | Politico und Theologo/ | Von den | Welt=Händeln. | Darinnen | an einigen besonderen Din=|gen gezeiget wird/ welche Zeichen | der Verbesserung und was vor | Vorbereitungen | Zum Herrlichen | Reiche Christi | Sich | Darinnen hervor thun. […], o. O. 1699. Siebende | Unterredung | Zwischen einem | Politico und Theologo/ | Vom | Obrigkeitlichen | Stande | Im Herrlichen | Reiche Christi. | Darinnen untersuchet und | gezeiget wird/ daß diese Lehre gar | nichts verdächtiges/ viel weniger gefähr=|liches gegen die heutige weltliche Obrig=keit in sich enthalte. […], o. O. 1700 [ZB Zürich XVII 732].

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Standpunkte heranführt, ihm den Autoritätenglauben nimmt und ihn belehrt, dass Behauptungen sich einzig auf den biblischen Text fundieren dürften. Kern des Dialogs ist ein Zitat aus 1 Kön 18.17 f.11 Der Politiker beginnt die Debatte besorgt: er habe unerhörte und aufrührerische Dinge gelesen. Jüngst erschienene Bücher handelten von großen bevorstehenden Änderungen in der Kirche und in der Welt. Er habe erfahren, dass es drunter und drüber gehen werde und Herrscher gestürzt würden. Doch der Politiker beruhigt sich mit der orthodoxen Herrschaftslegitimation und der Gewissheit, dass Gott nicht nur die Obrigkeit einsetze, sondern seine Ordnung auch bis ans Ende der Welt erhalte.12 Der Theologe tritt mit dem Postulat eines biblisch legitimierten Widerstandsrechts ins Gespräch ein: wer mit der Offenbarung spreche, der dürfe nicht als Meuterer und Aufrührer bezeichnet werden, so wenig wie Gott selbst so benannt werden könne. Das erste Buch Könige zitierend meint er, zuerst müsse untersucht werden, ob es Aufruhr und Verwirrung sei, wovon der Politiker ausgehe, oder ob es nicht viel mehr Gottes Wille und Befehl sei, der in der »argen Welt nur Aufruhr gescholten« werde. Das antichristliche Rom oder der Untergang Babyloniens im Offenbarungstext bezögen sich einzig und allein auf das kommende Reich Christi. Die tausendjährige Herrschaft Christi bedeute aber nicht, dass der obrigkeitliche Stand an sich getilgt würde, sondern lediglich die Ungerechtigkeit und die Missbräuche.13 Die gegensätzlichen Positionen werden gleich zu Beginn des Gesprächs klar abgesteckt: Der orthodox legitimierte Obrigkeitsstaat hier und der aus Biblizität legitimierte Wille zur politischen Veränderung dort. Welches Bild eines idealen Staates entwirft der Philadelphier? Wie legitimiert er seine politische Zielsetzung? Dreh- und Angelpunkt der ins religiöse Denksystem eingebetteten politischen Hoffnung ist der Chiliasmus. Aus der nahenden Herrschaft Christi werden alle Elemente einer politischen Theorie abgeleitet. Bedeutsam ist, dass das Tausendjährige Reich als irdische Utopie angelegt ist: Die Regierung werde ihre Form ändern, Kirche und Obrigkeit werden Glanz und Macht entfalten. Ungerechtigkeit, Krieg, Tyrannei und Unterdrückung hörten in der Welt auf, und in der Kirche werde Pracht- sowie Machtentfaltung abgestellt. Grosse Veränderungen stünden bevor, ähnlich wie bei der Bekehrung eines Menschen. Die Konfessionen würden sich versöhnen und die Glaubenszwänge 11 »Und als Ahab Elia sah, sprach Ahab zu ihm. Bist du nun da, der Israel ins Unglück stürzt (verwirrt)? Er aber sprach: Nicht ich stürze Israel ins Unglück (verwirre Israel), sondern du und deines Vaters Haus dadurch, dass ihr des Herrn Gebote verlassen habt und wandelt dem Baal nach« (Neue Jerusalemer Bibel). 12 Bröske, Erste Unterredung, S. 3 f. 13 Ebd., S. 12 u. 15.

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aufgehoben.14 Diese aus dem eschatologischen Denken gewonnene Utopie ist primär eine negative Utopie, die das Heute kritisieren hilft, indem sie bezeichnet, was dereinst nicht mehr so sein werde. Und sie ist positiv, weil sie die politische Veränderung zum Gegenstand macht. Denn das Reich Christi stehe unmittelbar bevor. Diese chiliastische Naherwartung schöpfte der anonym auftretende Autor aus Beverleys Zeit=Register15. Es gebe aber auch deutliche Hinweise auf das kommende Reich in weltlichen und kirchlichen Institutionen.16 Im kirchlichen Bereich werden zwei Merkmale hervorgehoben, erstens die Vermehrung der Erkenntnis: Alte theologische Traditionen seien aufgebrochen und allmählich zugunsten der reinen Schriftauslegung ersetzt worden. Gottberufene Gelehrte lösten schlechte, auf Autoritäten beharrende Professoren ab. Ein Klima der Toleranz und Diskussion halte nun Einzug und verdränge den nackten Glaubenszwang. Damit werde die Bibel neu als Indikator gelesen, der angebe, in welcher Zeit die Menschen lebten.17 Zweitens breiteten sich die philadelphischen Sozietäten aus. Protagonisten dieser Gemeinschaften seien die sogenannten Pietisten, Chiliasten und Philadelphier. Dies seien alle jene, die »die Hoffnung besserer Zeiten nach und auss Gottes Worte glauben und behaupten«. Sie gingen nicht einer äußeren Religion nach, sondern erbauten Herzen und Seelen.18 Die »Zeichen der Zeit« ließen sich ferner – so die Ausführungen des Theologen – aus den weltlichen Zuständen ablesen.19 Bröske übernimmt hier die Theorie von der Quintomonarchie. Er beruft sich auf den Propheten Daniel und dessen Weissagung über das Ende der vierten und letzten Monarchie, nach welcher der Jüngste Tag anheben werde. Diese vierte Monarchie – d. h. das Heilige Römische Reich Deutscher Nation – gehe dem Ende entgegen. Er meint damit den verheerenden Zustand Deutschlands nach dem Dreißigjährigen Krieg und die darauf folgenden bewaffneten Auseinandersetzungen. In den Religionskriegen sieht der Autor ein deutliches Zeichen, das das Ende ankündige. Er folgert, es gehe ins Verderben, alle drei Konfessionen seien korrumpiert und es herrsche ein großes Durcheinander, indem geistliche Herren sich in weltliche Belange mischten und weltliche Institutionen sich die kirchlichen dienstbar machten.20 Um die Zeichen richtig deuten zu können, entwickelt der Theologe in der fünften Unterredung eine Theorie der Herrschaftslegitimation – wie 14 15 16 17 18 19 20

Ebd., S. 18–22. Beverley, Zeit=Register. Bröske, Zweite Unterredung, S. 3 f. u. 10 f. Ebd., S. 10 ff. Ebd., S. 15 ff. Bröske, Vierte Unterredung, S. 32. Ders., Fünfte Unterredung, S. 24–34.

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sie ansatzweise auch bei Hoburg anzutreffen ist: Begründet ist der Obrigkeitsstand für Bröske auf den christlichen Moral- und Sittengesetzen. Der beste Regent sei der, welcher die Gebote am besten einhalte. Herrschaft leite sich sowohl aus den christlichen Geboten als auch aus dem Naturrecht ab. Herrschaftsansprüche fundieren nach Bröske auf dem Gebot »Ehre deine Eltern« und somit auch auf einer natürlichen Ordnung, analog zur Familie. Die Natur gebe ein besseres Beispiel einer guten Obrigkeit ab, als dies alle von den Menschen erfundenen Obrigkeiten vermöchten. Sie bestehe in den patriarchalen Rechten des Familienvorstehers. In der natürlichen Ordnung könne sich niemand – weder mit Geld noch mit Gunst, noch durch diebische Ränke – in die Herrschaft einschleichen. Durch die menschlichen Sünden – seit dem Sündenfall – werde die natürliche Ordnung allmählich verlassen. Durch die Vermehrung der Menschen, der Sünden und der Unwissenheit hätten sich einige Menschen tyrannisch über andere erhoben. In Babylon hätte diese falsche und tyrannische Ordnung ihren ersten Höhepunkt erreicht.21 Die auf dem Naturrecht beruhende väterliche Herrschaft werde am Ende der Zeitläufe wieder entstehen. Und der Traktat deutet das chiliastische Konzept der »Wiederbringung aller Dinge« politisch: Was durch Sünde in Unordnung geraten sei, das solle wieder in den ursprünglichen Zustand gebracht werden.22 Selbst die Könige Israels erhielten nach Bröskes Auffassung kein von Gott verliehenes Königreich. Israels Könige wurden von den Juden in heidnischer Weise gefordert und nicht durch Gott eingesetzt. Für den Philadelphier gibt es kein Gottesgnadentum, sondern lediglich einen zwischen Gott und den Herrschern geschlossenen Kompromiss. Ein Kompromiss, der entfernt der Vertragstheorie gleicht; er unterscheidet sich aber darin, dass er zwischen Gott und dem Herrscher und nicht zwischen dem Herrscher und den Untertanen geschlossen wurde. Der göttliche Schutzvertrag lässt es zu, dass Tyrannen über Gottlose herrschen und diese züchtigen. Aber, Gott habe die Obrigkeit zum Schutz der Frommen vor den Bösen berufen. Einzig dieser von Gott gestiftete Schutzbund könne die Obrigkeit legitimieren. Eine sündige Obrigkeit aber füge somit die eigenen Sünden ihren Untertanen zu. Hingegen gelte: was die Obrigkeit nach Gottes Wort und Willen tut, das gereiche zu Gottes Ehre und die Menschen erfreuen sich einer gottgefälligen Obrigkeit.23 Auffallend an dieser Herrschaftskonzeption, welcher ein Kompromiss mit Gott als bedingte Legitimation zugrunde liegt, ist die starke moralische Bindung der Regenten. Die Gottgefälligkeit der Obrigkeit misst sich an den Taten der Herrschenden. Der Herrschaftsvertrag ist bedingt 21 22 23

Ebd., S. 9–11. Ebd., S. 18 ff. Ebd., S. 13 f.

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durch die Moralität. Deutlich wird diese moralische Herrschaftslegitimation, wenn die Unterredung auf das Widerstandsrecht zu sprechen kommt: Man solle der Obrigkeit nur so weit gehorchen und nicht weiter, als die Regenten nach Gottes Wort und Wille handeln.24 Die verdorbene Kirche und die das Kommende Reich ankündigenden Zeichen bewegen Bröske zu seinem Bekenntnis zur Werkethik: Wo ich Wahrheit finde die fruchtbar ist vom Glauben/ der durch die Wercke lebt/ da finde ich alleine was löblich ist: Wo das aber nicht ist/ so taugt er nicht; und solte er tusendmahl Herr/ Herr sagen/ das ist/ die beste Bekäntnuß von der Wahrheit thun/ so kommt er doch nicht in das Himmelreich.25

Glaube und Handeln, Moralität und Politik bilden zusammen offensichtlich angesichts der »Zeichen der Zeit« die einzig selig machende Wahrheit. Es ist überaus bemerkenswert, dass die Werkethik ausgerechnet an dieser Stelle propagiert wird, an welcher über die Verdorbenheit der Kirche und der Obrigkeit gesprochen und das nahe Ende angekündigt wird. Ist die so verstandene Werkethik ein Aufruf zur politischen Aktivität? – Noch ein weiterer Punkt ist äußerst aufschlussreich: das Tausendjährige Reich wird nicht einzig durch Gott errichtet, sondern der Verfasser der Unterredungen führt – in moderner Terminologie gesprochen – ein »revolutionäres Subjekt« ein: Menschen die im Diesseits und auf Befehl Gottes auf das Kommende Reich aktiv hinwirken.26 In der dritten und vierten Unterredung werden die chiliastischen, die Apokalypse interpretierenden Vorstellungen entwickelt: Dem Reich Christi geht eine Vorbereitungsphase voraus, sie dauert nach Beverleys Berechnung 75 Jahre, und wir befinden uns – 1698 – im ersten Jahr. Ein f ließender Übergang zeichnet diese Phase aus. »Erweckung« hier und der Niedergang des »antichristlichen Tiers« d. h. der verdorbenen Obrigkeit dort, dies sind die prägenden Merkmale.27 Bemerkenswert an dieser Deutung der Offenbarung des Johannes ist nicht bloß, dass die Philadelphier, Pietisten und Chiliasten die Vorboten des Tausendjährigen Reichs sind, sondern ihnen kommt auf dem Weg zum Reich Gottes eine aktive Rolle zu: Die »Nachfolger Christi« sollen missionierend unter die Juden und Heiden gehen, sie sollen den »Fall Babylons« und den »Zorn Gottes« verkünden helfen. Die Erweckten haben eine Mission. Sie sollen ihre »deutliche Er24

Ebd., S. 14 f. Ebd., S. 37. 26 Bröske, Dritte Unterredung u. ders., Vierte Unterredung, i. b. S. 10. – Diese aktive Tendenz spiegelt sich auch in den Titeln von pietistischen Erbauungszeitschriften, wie Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes oder Steine und Kalck zum Bau Zions. Freundlicher Hinweis von Hans-Jürgen Schrader. Zu den Erbauungszeitschriften vgl.: Lächele, Die »Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes«. 27 Bröske, Zweite Unterredung, S. 22 ff. 25

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kenntnis und Wahrheit« predigen und verbreiten, damit sie nicht mehr allein bleiben. Sie sollen Diener des ewigen Evangeliums werden.28 Den Pietisten kommt dieser chiliastisch-politischen Konzeption zufolge keine weltabgewandte, in sich gekehrte Rolle zu. Ihre Aufgabe ist nicht, untätig auf den Jüngsten Tag zu warten, ganz im Gegenteil, sie sollen aktiv in der Welt für ihre Ansichten eintreten und mit guten Werken das Böse bekämpfen. Bemerkenswert an dieser politischen Theologie sind mehrere Gesichtspunkte. Die sieben Unterredungen leisten auf der Basis eines nicht säkularisierten Staatsbegriffs ein alternatives Konzept einer Herrschaftslegitimation. Sie leisten darüber hinaus Ansätze für eine Revolutionstheorie. Große Umwälzungen im Staat werden mit Natur und Religion verknüpft. Die legitimatorische Basis leitet sich sowohl aus der Natur – oder aus natürlich empfundenen Verhältnissen – ab, als auch aus der Theologie: Naturrecht und Ethik sind die Gradmesser für eine gute Regierungsform. Das Gottesgnadentum findet in diesem Konzept keinen Platz mehr. Dagegen wird die staatliche Ordnung in einem geschichtlichen Prozess begriffen. Es ist nicht mehr seit dem Sündenfall für ewig festgelegt, welche Regierung christlich und von Gottes Gnaden sei – wie dies beispielsweise noch in der helvetischen Konsensformel stipuliert wurde29. Adams Sünde wird nun lediglich als Ausgangspunkt gefasst: Es liege aber an jeder Regierung, wie weit diese sich durch »Sünden« vom Idealzustand entferne oder durch ethisches Handeln wieder dorthin zurückfinde. Mit der Formel der »Wiederbringung aller Dinge« wird der Gang der Geschichte als zyklische Entwicklung dargestellt – in der ein lineares (eschatologisches) Fortschrittsmoment eingeschlossen ist.30 Sie wird als Abkehr von der natürlichen und göttlichen Ordnung hin zu einer vollkommenen Verdorbenheit und als eine erneute Annäherung an das ursprüngliche Ideal begriffen. Moralität und legitimer Staat sind aufs Engste miteinander verwoben. Die Ethik ist der Maßstab einer guten Staatsordnung und -führung. In der religiösen Terminologie wird eine gute und legitime Ordnung als »gottgefällig« bezeichnet; eine tyrannische und illegitim »erschlichene« Herrschaft 28

Ders., Vierte Unterredung, S. 9 f. ZB Zürich Ms. B 185 [»Religions=Sachen welche sich in Reformierter Eydgenossenschaft zugetragen Von jahr Christi 1680 bis 1701«], Nr. 2, Formula consensus; vgl.: Trechsel, Helvetische Konsensformel, S. 647–654. 30 Für dieses Denkmuster wird gerne das Bild der Spirale verwendet. Dagegen ist der aristotelische Revolutionsbegriff bloß eine kreisförmige Bewegung zwischen Aristokratie, Demokratie und Oligarchie ohne Fortschrittsmoment. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Kap., X, sieht in Leibniz’ Apokatastasis-Fragment den Übergang im Naturbegriff von einer Natur als verschlüsseltes Buch Gottes zu einer Historisierung der Natur, in dem diese als zyklisch fortschreitende Evolution verstanden wird. 29

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dagegen als »gottlos«. Der Traktat interpretiert sie in Verbindung mit den Adjektiven »sündig« »unwissend«, »herrisch« und »verdorben«. Dieser pietistischen Konzeption nach ist die Grundaufgabe des Staates, eine Ordnung zu »Ehren Gottes« einzurichten: Das Staatsziel ist eine ethische Ordnung, der sich die Menschen erfreuen können. Die moralische Aufgabe des Staates scheint demnach das Glück des Einzelnen zu sein, so wie dies später in der Französischen Revolution formuliert wurde.31 Staat und Individuum stehen in einem engen Bezug: Was dem Individuum die »Erweckung«, das ist dem Staat die kommende grundlegende Umwälzung. In beiden Momenten kommt die göttliche Inspiration zum Tragen. Beide, Individuum und Staat, sehen sich nach pietistischer Anschauung nicht mehr mit einer universellen Gnadenwahl 32 konfrontiert, sondern beide werden am Ethos, an den guten und gerechten Werken, gemessen und vor Gott gerechtfertigt. Die Werkethik bezieht sich demnach nicht bloß auf das persönliche Seelenheil, sondern auch auf den Staat. Dem »erweckten neuen Menschen« kommt im Hinblick auf einen neuen »gottgefälligen« Staat eine aktive Rolle zu. Bei der vorliegenden Staatskonzeption handelt es sich keineswegs um eine säkularisierte Theorie. Am deutlichsten drückt sich das in der Vertragstheorie aus: Der Herrschaftsvertrag wird mit Gott geschlossen. Trotzdem sind säkularisierende Tendenzen erkennbar. Es wird u. a. beinahe eine Trennung von Kirche und Staat gefordert, oder zumindest eine scharfe Abgrenzung kirchlicher und staatlicher Bereiche. Die Tendenz kann auch in der Forderung nach Toleranz und Wissenschaftlichkeit bestätigt werden, indem die persönliche Textinterpretation dem Autoritätenglauben vorgezogen wird. Die politische Philosophie der Pietisten, die auf einen natürlichen Urzustand und eine zyklische Geschichtsauffassung abstellte, fand im pietistisch beeinf lussten Jean-Jacques Rousseau 33 eine Weiterführung: »Kehrt zu eurer früheren und ersten Unschuld zurück«, ruft er in Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, 1755 seinen Leserinnen und Lesern zu. Auch der Kritiker der französischen Hof kultur beklagt den Verlust einer ursprünglichen natürlichen und gerechten Ordnung und zeichnet in seinem negativen Geschichtsverständnis einzig einen Prozess des Nieder31 Zum Verhältnis von Moral und Glück als staatliche Grundlagen in der Französischen Revolution, vgl.: Arendt, Über die Revolution, i. b. Kap. 2 u. 3. 32 Bezeichnenderweise mussten die Geistlichen in Zürich erst ein Jahr nach den Burgerunruhen mit ihrer Unterschrift bestätigen, dass sie auf demselben religiösen Boden stehen wie die Formula consensus, jenes letzte Bollwerk zur Verteidigung des Glaubens an eine universelle Gnadenwahl. Vgl.: Trechsel, Helvetische Konsensformel, S. 654. 33 Die Baronin de Warens, die einen maßgeblichen Einf luss auf den jungen Rousseau ausübte, entstammte dem bedeutendsten Pietistenkreis der Romandie, jenem von Vevey. Vgl. dazu: Ritter, La famille et la jeunesse de J.-J. Rousseau, Kap. 13.

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gangs und der Verdorbenheit. Seine Geschichte ist gleichfalls Sittengeschichte. Erst wenn wieder Moral in die Politik komme, könne zu einer natürlichen Ordnung zurückgekehrt werden.34 Mit der Verbindung von Ethik und Politik steht Rousseaus politisches Denken noch stark in einer pietistischen Tradition. Die sieben Dialoge haben keinen unmittelbaren Bezug zu Zürich, doch es gibt Gründe anzunehmen, dass sie an der Limmat gelesen und rezipiert wurden. Bodmer [6] leitete seine Proposition vom 2. September 1713 gegen die Korruption des Bürgermeisters Holzhalb beispielsweise mit dem biblischen Schlüsselzitat der Ersten Unterredung ein, und auch andere Redewendungen könnten auf diese Traktate zurückgehen.35 Inwiefern solche eschatologisch oder sogar chiliastisch motivierten politischen Erwägungen das Denken und Handeln der Pietisten in Zürich prägten und anleiteten, soll im Folgenden genauer betrachtet werden. 3.1.3 Patriarchaler Obrigkeitsstaat und Barockkultur Bevor wir uns den Pietisten zuwenden, möchte ich in wenigen Strichen die politische Situation Zürichs skizzieren. Erst wenn wir wissen, in welchem Umfeld die Pietisten kritisierten und kämpften, kann die politische Bedeutung des Pietismus hervorgehoben werden. Werner G. Zimmermann beschreibt die Zürcher Regierungsform am Vorabend der Verfassungsbewegung von 1712/13 als patriarchalen Obrigkeitsstaat, der von einer aristokratischen Oberschicht beherrscht wurde. »Diese Oberschicht, die sich von der Masse der Bürger durch meist traditionellen Reichtum und Einf luss abhob, bildete eine faktische, d. h. nur durch rein tatsächliche Kriterien bestimmte und auch familiär nie abschließend zusammengesetzte Aristokratie. Aus ihr bildete sich der maßgebende Kern der Obrigkeit, die in ihren Formen und Ansprüchen ein der Zeit entsprechendes absolutistisches Gepräge annahmen.«36 Dennoch darf im Zusammenhang mit dem Zürcher Regiment, einem kleinen republikanischen Stadtstaat, nicht verallgemeinernd von Absolutismus gesprochen werden. Zu beachten gilt, dass die Brunsche »Verfassung« von 1336 im Lauf der Zeit nur geringfügig modifiziert wurde. Anzeichen einer konstitutionellen Zentralisierung und Konzentration der 34

Rousseau, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, u. a. S. 127. ZB Zürich Ms. G 322, S. 133. Bodmer beginnt mit 1. Kön 18.17 f. Eine andere Anlehnung an die Erste Unterredung, S. 21, findet sich in Johann Kaspar Eschers Synodalproposition, worin er die Bibel als schärfstes Schwert in politischen Auseinandersetzungen pries: ZB Zürich Ms. T 106, Nr. 34. 36 W. G. Zimmermann, Verfassung und politische Bewegung, S 18. 35

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Macht nach absolutistischem Vorbild sind nicht feststellbar. Dasselbe gilt für die Staatsorgane: Sie wurden nicht übermäßig ausgebaut, damit sie die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Sphären durchdringen und regulieren konnten. Die Tauglichkeit des Absolutismusbegriffs als Kenzeichen für eine Epoche und eines Herrschaftssystems wird in der jüngeren Forschung angezweifelt.37 Ernst Hinrichs plädiert in dieser Debatte für einen differenzierten Gebrauch des Begriffs. Er versteht Absolutismus weniger als Verfassungsrealität, sondern vielmehr als Herrschaftsprogramm, als juristisches, philosophisches und legitimatorisches Programm.38 Wird der Absolutismus in diesem Sinne verstanden, so kann die oftmals festgestellte antiabsolutistische Neigung des Pietismus als eine Opposition gegen ein Herrschaftsprogramm mit all seinen Formen von Legitimation und Loyalität interpretiert werden und erst in zweiter Linie als eine widerständische Bewegung gegen ein reales Herrschaftssystem. So gesehen gibt es Tendenzen im patriarchalen Herrschaftssystem Zürichs, welche Entwicklungen im absolutistischen Europa verwandt waren und zum absolutistischen Herrschaftsprogramm Ähnlichkeiten aufwiesen. Dies sollen ein paar Aspekte unterstreichen: 1. Konzentration der Macht: Eine Reihe von Großfamilien akkumulierte Ratssitze und gab diese an ihre Nachkommen weiter. In dieser Weise monopolisierten die einf lussreichen Geschlechter die Macht. Demzufolge hatte eine Mehrheit der zürcherischen regimentsfähigen Familien das Nachsehen. Die Tabelle 11b im ersten Kapitel mag auf den ersten Blick einen anderen Eindruck erwecken; dem ist aber entgegenzuhalten, dass die Machtkontrolle primär im Kleinen Rat oder in seinem ständigen Ausschuss erfolgte. Die zwölf Geheimräte kontrollierten beispielsweise 1713 über ihre Familienbanden 65 Großräte oder 33 Prozent der Regierenden.39 Die monopolartig regierenden Familien sicherten ihre Stellung über Generationen mittels Nepotismus, Ämterkauf und Praktizieren. Korruption war eine notwendige Erscheinung der in sich abgeschlossenen Machtausübung einiger weniger Geschlechter. 2. Im 17. Jahrhundert vertiefte sich in der Bürgerschaft die soziale Differenz. Die Einkommensunterschiede verschärften sich in diesem Jahrhundert drastisch. Während das Handwerk stagnierte, entwickelten sich der Handel und die exportorientierte protoindustrielle »Textilfabrique«. Sie ermöglichte den Fabrikantenfamilien Reichtum und sozialen Auf37 Vgl. den Tagungsband Asch/Duchardt (Hg.), Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel moderner Herrschaft in West- und Mitteleuropa, und besonders den Beitrag von Henshall, Early Modern Absolutism, S. 25–53. 38 E. Hinrichs, Abschied vom Absolutismus? Eine Antwort auf Nicholas Henshall, S. 361. 39 W. G. Zimmermann, Verfassung und politische Bewegung, S 18.

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stieg. Es verwundert nicht, dass eine Mehrheit der herrschenden Familien aus dem Umkreis des Woll- und Seidenhandels stammte.40 Wenig untersucht wurde bisher, wieweit sich eine Tendenz zur Aristokratisierung unter diesen herrschenden Familien breit machte, und wie sich diese auswirkte.41 3. Abgehobene Machtausübung: Die »Gnädigen Herren« hoben sich ab von der Bürgerschaft und verstanden sich nicht mehr als Teil derselben. Bezeichnenderweise wurde 1693 das erste Mandat gegen die Obrigkeit lästernde Flugschriften verabschiedet.42 Die Obrigkeit wurde fast ausschließlich in der Konstaffel und in den zwölf Zünften, die als Wahlkreise wirkten, als Vertreter der Gildeninteressen in das Regiment gewählt. Die Ratsmitglieder vernachlässigten aber zusehend die Interessen ihrer Wahlkörperschaften, forderten aber im Gegenzug untertänigen Gehorsam. Zwei Beispiele, die schließlich die Unruhen von 1713 auslösen halfen, sollen das absolutistische Gebaren illustrieren. a) Konstaffel und Zünften stand das verfassungsmäßige Recht zu, anlässlich ihrer Versammlungen in außenpolitischen Angelegenheiten wie Friedensschlüssen, Bündnissen und Kriegserklärungen mitzubestimmen. Seit längerem wurde dieses Mitgestaltungsrecht übergangen – so auch 1712 beim Kriegseintritt Zürichs während des Toggenburgerhandels. b) Der Kleine Rat setzte sich im Frühjahr 1713 über die Zunftgerichtsbarkeit hinweg. In rechtsbeugerischer Manier wurde der Weißgerber Heinrich Ulrich, der gegen die Handwerksordnung verstoßen hatte, geschützt. Die Gnädigen Herren des Kleinen Rats untersagten das Zunftbott und sprachen den offensichtlich fehlbaren Handwerker zur Empörung der Bürgerschaft frei.43 4. Barocker Prunk: Eine prunkvolle Machtentfaltung zelebrierte das abgehobene Regiment und legitimierte sich mit symbolischen Mitteln neu. Sinnbildliches Beispiel für diese frühbarocke Herrschaftsausübung ist das neue, 1698 fertiggestellte Rathaus. Der manieristische Repräsentationsbau lehnte sich äußerlich noch an Elemente der venezianischen Spätrenaissance an, eröffnete jedoch den barocken Bauboom in Zürich.44 Eine Prunksucht kann auch aus den in immer kürzeren Abständen erneuerten Kleiderordnungen ersehen werden. Die Vorschrift regelte die standesgemäße Kleidung. Die ehemals bescheidenen Vorschriften entwickeln sich in ihrer Blütezeit im 17. und 18. Jahrhundert zu detaillierten und peinlich genauen Regelwerken. Die Obrigkeit versuchte mit den Kleidermandaten 40

H. Meyer, Zimmerleute. Eine kleine Zunftgeschichte, S. 73. Ulrich Pfister sieht im Jahr 1713 eine Zäsur, da ab der ersten Dekade des 18. Jahrhunderts nur noch selten Kauf leute bis in den kleinen Rat vordrangen. Vgl.: U. Pfister, Die Zürcher Fabrique, S. 202. 42 Wehrli, Die Reformationskammer, S. 39. 43 Saxer, Die zürcherische Verfassungsreform vom Jahre 1713, S. 10 u. 19 ff. 44 Eggenberger/Schneider, Stadtbild und Architektur, S. 80 f. 41

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eine allzu üppige – als anstößig empfundene – Präsentation von Macht und Reichtum zu zügeln, bzw. zu monopolisieren. Die Mandate konnten aber nur mit Mühe den rasch wandelnden Modetrends folgen. Die Kleiderordnung regelte die äußere soziale Distinktion und vertiefte besonders die Unterschiede in Stadt und Landschaft.45 Ein prunkvolles Auftreten blieb aber nicht einzig den Damen und Herren der weltlichen Obrigkeit vorbehalten. Immer mehr Klagen über den protzigen Lebensstil einzelner Pfarrherren wurden erhoben. Jagende Geistliche waren dabei ein ganz besonderes Ärgernis und erlangten für die herrschaftliche Machtentfaltung der Kirchendiener geradezu symbolische Bedeutung. Daher wurde diese Leidenschaft der Geistlichen besonders intensiv erörtert, in der Synode kam das Problem aber erst 1731 nach langem Drängen zur Sprache.46 C. F. Meyers »Schuss von der Kanzel« stellt die Jagdleidenschaft der »Diener an Gottes Wort« überhöht dar, aber seine Erzählung hat keineswegs einen Einzelfall zum Gegenstand. 5. Herrschaftsintensivierung: Die Kirche hatte Anteil an der obrigkeitlichen Herrschaft und war in die Staatlichkeit integriert. Kirchliche Interessen unterschieden sich kaum von weltlichen. Das f lächendeckend über die Landschaft gespannte Kirchennetz bildete eine der Grundlagen der zürcherischen Territorialpolitik. Die Pfarrherren walteten in Personalunion als Seelsorger, Staatsbeamte, Schulvorsteher, Untersuchungsrichter und Armenpf leger. Die Kanzel diente nicht einzig dem Wort Gottes, von der Kanzel herab wurden auch die obrigkeitlichen Mandate und Erlasse verlesen. Kurz: Die Kirche war die Kontrollinstanz der dörf lichen Gesellschaft und setzte staatliche Normen, Policey-Ordnungen und Sittenmandate durch. Schließlich wurden Missetäter, die gegen die Ordnungen frevelten, im Gottesdienst vor versammelter Gemeinde »abgekanzelt«.47 Die aristokratische Tendenz zur Herrschaftsintensivierung und besonders zur Durchdringung der Peripherie lässt sich ganz allgemein an den intensivierten Visitationen ablesen.48 Die Kirchenvorsteher lieferten halbjährlich einen Visitationsbericht an die Regierung, unter der Rubrik »Gravamina« verzeichneten sie schwerwiegendere Verstöße gegen die Ordnung der Gnädigen Herren.49 Es erstaunt nicht, dass die in das patriarchale Machtgefüge eingebettete Kirche eine einheitliche orthodoxe Glaubensformel hervorbrachte, die am

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Wehrli, Die Reformationskammer, S. 36. F. Zimmermann, Die Zürcher Kirche, S. 288. 47 Gugerli, Zwischen Pfrund und Predigt, Kap. 7. 48 Zeeden (Hg.), Kirche und Visitation, S. 11 f. 49 In Zürich setzten die Visitationsberichte in den Dreißigerjahren des 17. Jahrhunderts ein und verdichteten sich erst im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts zu einer regelmäßigen Berichterstattung, die bis ans Ende des Ancien régime anhält. Vgl.: St AZ E II 112 ff. 46

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Ende des 17. Jahrhunderts in der Konsensformel gipfelte.50 Über die Einhaltung der Formula wurde peinlich genau gewacht. Ein Glaube, der auch der Mittlerrolle der Kirche zwischen Untertanen und den nur sich selbst verpf lichteten Regenten Rechnung trug und anstelle der korporatistischen Herrschaftslegitimation eine neue, religiös begründete Legitimation zur Verfügung stellte – das Gottesgnadentum. Wie der Bürgermeister Johann Heinrich Escher (1626–1710) das Gottesgnadentum zelebrierte, ist mehrfach zitiert worden 51, ich möchte daher ein anderes Beispiel erwähnen. Jost Grob, Pfarrer in Stäfa und Dekan am See, hielt eine langatmige Inaugurationspredigt zu Ehren des neuen Obervogtes Schwarzenbach in der Wädenswiler Kirche. Die gedruckte Huldigung trägt den resoluten Titel: »Der Gewalt aber der da ist/ der ist von Gott verordnet«. Und dieses vorangestellte Motto wird der ländlichen Zuhörerschaft in zahlreichen Variationen verabreicht: »So lehrnet und erkennet/ daß die Oberkeit und ihre Gewalt seye eine Göttliche Ordnung; daß sie ihre Ursprung von Gott her hat«. Oder: »Den Göttern sollst du nicht f luchen/ und den Obersten in deinem Volk solt du nicht lästern.« 52 Die Predigt des Pfarrherren Grob traf bestimmt den Zeitgeschmack der Zürcher Obrigkeit, eine andere Frage ist, ob die Wädenswiler die Herrschaftsideologie teilten und die »Gnädigen Herren« als reine Werkzeuge Gottes anerkannten. Ich will hier auf ein paar Parallelen zwischen dem Absolutismus und dem patriarchalen Obrigkeitsstaat hinweisen. Dabei interessiert weniger die reale Durchsetzung eines Absolutismus, sondern mehr die Ansprüche der Obrigkeit auf eine absolute Machtentfaltung. Dies geschieht nicht in der Absicht, die Unterschiede zwischen den beiden Begriffen zu verwischen, sondern weil der Pietismus auch in seiner Beziehung zum Absolutismus begriffen wird und ich in Bezug auf Zürich nach vergleichbaren Elementen Ausschau halten kann. Verstehen ich Absolutismus primär als eine sozial- und mentalitätsgeschichtliche Tendenz der staatlichen Durchdringung und Regulierung sozialer, wirtschaftlicher wie auch privater 50 Das Ziel der 1675 beschlossenen Formula Consensus bestand im Stipulieren einer einheitlichen Lehre und verteidigte die alte Dogmatik der Prädestination: Da der Mensch seit dem Sündenfall von Natur aus verdorben sei, läge die göttliche Gnadenwahl nicht in seiner Macht und in einer moralischen Lebensführung. Eine Rechtfertigung bestehe lediglich in der Gehorsamkeit. (Kanon 21–25). ZB Zürich Ms. B 185 [»Religions=Sachen welche sich in Reformierter Eydgenossenschaft zugetragen Von jahr Christi 1680 bis 1701«], Nr. 2, Formula Consensus. Vgl. ebenfalls: Trechsel, Helvetische Konsensformel, S. 651. 51 Die Einweihungsrede Heinrich Eschers beim Bezug des neuen Rathauses 1698 ist auszugsweise abgedruckt in der Beilage zu: von Muralt, Rede vor dem Bott der Gesellschaft der Böcke, 16. Februar 1854, S. 21–24. 52 Grob, Göttlicher und verbindlicher | Gewalt der Oberkeit/ | vorgestellt | in einer Huldigungs=predigt/ Bey dem Aufzug des Wol=Edel/ Ge=|strengen/ Frommen/ Vesten/ Ehrenvesten/ Für=|nehmen/ Fürsichtigen/ und Weisen Junkern Johann | Jacob Schwerzenbachen/ neu=erwehlten Landvogts | der Herrschafft Wädischwyl, Zürich 1681.

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Sphären, so bin ich in der Lage, nach dem Verhältnis des Zürcher Pietismus zum patriarchalen Staat zu fragen und dabei mit vergleichbaren Kategorien zu operieren, wie sie beispielsweise Mary Fulbrook oder Carl Hinrichs verwendeten, um die Beziehung zwischen dem deutschen Pietismus und dem Absolutismus zu bestimmen. Soll die politische Komponente des Pietismus in weltlichen und kirchlichen Fragen erörtert werden, so beschränkt sich diese nicht auf eine allfällige Renitenz oder Opposition wider die Obrigkeit. Vielmehr sind die dem Absolutismus inhärenten Entwicklungen, wie beispielsweise die Sozialregulierung und Sozialdisziplinierung, mit zu berücksichtigen. Gerhard Oestreich und nach ihm Winfried Schulze prägten diese Begriffe: Die Sozialdisziplin wird als Bindeglied zwischen Befehl und Unterordnung definiert. Sie sichert das Herrschaftsverhältnis im frühmodernen Staat und löst ein überkommenes Treueverhältnis zwischen Herrn und Gefolgschaft ab. Bei der Durchsetzung der Sozialdisziplinierung kam neben der weltlichen Macht auch der Kirche eine tragende Rolle zu. Die Sozialdisziplinierung ist der fundamentale Vorgang in der Epoche des Absolutismus, welcher staatliche und gesellschaftliche Strukturen grundlegend veränderte. Schulze unterscheidet schließlich zwei Stufen im Prozess der Disziplinierung: Anfänglich wurde mit rohen und äußeren regulativen Zwangsmitteln diszipliniert, erst allmählich wurden diese verfeinert und individuell verinnerlicht. Erst in der zweiten Etappe kann von Sozialdisziplinierung gesprochen werden, in früheren Stadien handelt es sich dagegen um Sozialregulierung.53 Es stellt sich somit die Frage, ob die pietistische Opposition – beispielsweise gegen die Kleiderordnung – nicht auch als eine generelle Opposition gegen die Sozialregulierung und gegen den gesellschaftlichen Wandel interpretiert werden muss. Äußerte sich im Pietismus der Widerstand gegen staatlichen Zugriff auf bis anhin autonom gestaltete Lebensbereiche? Verteidigte diese religiöse Bewegung diese Freiräume zu Gunsten eines aufkeimenden protobürgerlichen Bewusstseins? Richtete sich hier die Kritik an der Kirche gegen die zentrale Trägerin einer sozialregulierenden und -disziplinierenden Durchdringung der frühneuzeitlichen Gesellschaft?

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Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, S. 179–197; Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit, S. 265–302.

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3.2 Der Anteil des Pietismus an der Zürcher Verfassungsbewegung 1713 Anteil des Pietismus an der Zürcher Verfassungsbewegung 1713 3.2.1 Das pièce de résistance: Eid und Korruption Die Ablehnung des Wahleides beinhaltete nicht bloß religiöse Bedenken, in ihr drückte sich auch ein politischer Widerstand aus.54 Die Verweigerung des Eides wurde nicht einzig von den Pietisten propagiert, diese machten dies aber zu einem ihrer zentralen Anliegen. Junker Johann Heinrich von Schönau [151] thematisierte diese Angelegenheit im Anhang seiner 1688 in Basel 55 verlegten Schrift, welche er übertitelte: »Wolmeinliche Erinnerung/ an mein Letztlich geliebtes Vatterland/ eine löbl Statt und Republick Zürich«.56 Das Werk des Zürcher Labadisten bezeichneten die Examinatoren als ein »irriges Buch«, es wurde aber toleriert und juristisch wurde nichts gegen das sogenannte Tagebuch unternommen.57 Der Anhang steht unter dem Motto: »O Zürich! reformiere dich völliglich/ oder viel mehr/ laß dich durch die Wahrheit Gottes völliglich reformieren. […] Warumb woltestu/ ein so gutes Werck unvollkommen lassen?« 58 Gefordert wird die Fortsetzung der Reformation, die in den Augen des Autors nicht abgeschlossen wurde und nicht zur Vollkommenheit geführt hatte. Zwei Punkte, an welchen diese zweite Reformation einsetzen sollte, nannte der adlige Labadist. Der eine betrifft die Kirche; er fordert eine »Christliche Kirchen= und Buss=zucht«, welche sich an den Gemeinden der Urchristen orientiert. Auf der Seite der weltlichen Ordnung moniert Schönau den »lästerlichen« Umgang mit Gottes Namen. Und ach! ach! wie wird der name des Heiligen und Allwissenden GOTTES/ so schrecklich mißbraucht durch Meineyd/ übersehung der Eyd=pf lichten/ und leichtsinnigen gebrauch der Wahl= und Pf licht=Eyden/ welche in so grosser Anzahl sind/ daß mancher nicht einmahl weißt/ was oder wie vil er geschwohren hat.59 54

Zur Problematik des Untertaneneids: Holenstein, Die Huldigung der Untertanen; ders., Seelenheil und Untertanenpf licht, S. 11–63. 55 ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 18. 56 von Schönau, Betrachtungen | Uber | Die geheimbe Fürbilder/ der | Sechs Tage der Welt=erschaffung/ | und des siebenden Tags der Ruhe/ gedeutet | auff die vielfältigen Bedingungen und Begeg=|nisse der Kirch/ von Anfang biß ans Ende der Welt; | und auff die Wege/ welche Gott hält/ in | Bekehrung und Heiligung eines | jeden Gläubigen. | Den geliebten Kindern Gottes zum | Nachdenken/ und den sichern Welt=|Menschen zur Wahrnung | fürgestellt, [Basel] 1688 [ZB Zürich VI 253]. 57 St AZ E II 423, S. 247; ZB Zürich Ms. V 100, S. 51. 58 von Schönau, Betrachtungen Uber Die geheimbe Fürbilder, S. 445 (recte: S. 447). 59 Ebd., S. 444.

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Anteil des Pietismus an der Zürcher Verfassungsbewegung 1713

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Schönau beklagte hier nicht allein den bewusst falsch geleisteten Eid als Ausf luss einer verdorbenen christlichen Kirche, er sprach zudem einen eminent wichtigen und schwelenden politischen Konf likt an. Otto Sigg behandelt in seiner Dissertation die Entwicklung der Praktizierordnungen und der damit verbundenen Eidpf lichten in umfassender Weise. 60 Ich rekapituliere einzig ein paar Stationen dieser im 17. Jahrhundert zentralen Auseinandersetzung, damit der politische Gehalt der Kritik an der Eidpraxis besser hervorgehoben werden kann. Die noch junge reformierte Kirche stellte sich vorerst gegen die ersten Anstalten einer Machtkonzentration. Antistes Breitinger warnte 1622 in einer Predigt an die Obrigkeit vor ihrem Hang zum Praktizieren. Im selben Jahr wurde die Praktizierordnung erneuert und der Kleine Rat auf einen Eid verpf lichtet, der ihn zur Einhaltung der neuen Ordnung zwingen sollte. Fünf Jahre später musste eine aus weltlichen und kirchlichen Deputierten zusammengesetzte Kommission feststellen, dass es mit dem Praktizieren noch »gröber und unverschambter« 61 geworden war. Dem theokratischen Konzept einer weiteren Verpf lichtung der weltlichen Würdenträger auf ihren Glauben, wie dies die Geistlichen vorschlugen, wurde 1628 nur geringfügig nachgegeben. Man suchte neuerdings das Heil gegen die Korruption in geheimen Wahlen zu Ämtern und Ratsstellen. Die Wahlen der Zunftmeister und Konstaffelherren blieben ausgenommen und erfolgten weiterhin mit offenem Handmehr im Bott. Der Wahleid, der die Zünfter und Konstaff ler verpf lichtete, bei den halbjährlichen Wahlen den »wegsten und besten« zu wählen, blieb weiter in Kraft. Die Wahlversammlung beschwor so vor Gott, dass sie den Besten ins Regiment delegieren wollten, obwohl es häufig offensichtlich war, dass familiäre Banden, Reichtum, Abhängigkeitsverhältnisse und manchmal sogar direkte Korruption im Spiel waren. Der Wahleid in der Zunftversammlung stattete die Zunftmeister und Konstaffelherren nicht nur mit einer Unfehlbarkeit aus, er verunmöglichte auch, die Gewählten zur Rechenschaft zu ziehen – sie wurden unantastbar. Den gläubigen Zünftern drohte obendrein, meineidig zu werden. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts kumulierten die Vorbehalte gegen den Wahleid mit dem Kampf gegen die Korruption und schließlich mit dem Begehren, die Zunftmeister und Konstaffelherren in geheimen Wahlen zu küren. Der Weggenzünfter Christoph Holzhalb weigerte sich seit 1657 standhaft, den Wahleid zu leisten mit der Begründung, dieser werde missbraucht. Sein Widerstand konnte auch mittels Arrest im Wellenberg nicht gebrochen werden. 1696 drohten 135 verschworene Safranzünfter in einem anonymen 60 Sigg, Die Entwicklung des Finanzwesens und der Verwaltung Zürichs, Fünfter Abschnitt. 61 Zitiert nach: Ebd., S. 162.

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Schreiben mit dem bewaffneten Aufstand, falls sie weiterhin gezwungen seien, wegen dem bestehenden Wahlmodus Meineid zu begehen.62 Vor diesem Hintergrund dürfte der brisante politische Gehalt des Anhangs zu Heinrich von Schönaus Schrift deutlich hervortreten. Besonders wenn er schreibt: Das ist der Fluch/ welcher außgehet über das gantze Land. Denn alle Diebe werden nach diesem Brieff [= Brief oder Schriftrolle des Fluch Gottes nach: Sach 5.3] fromb gesprochen/ und alle Meineidigen werden nach diesem Brief fromb gesprochen; Daß alle handgreiff liche Untreu/ Practicken/ und Schalckheit/ mit dem Eyd bedecket/ und saget; Ich habe es bey meinem Eyd gethan.63

Schönau sorgt sich hier nicht nur um den Fluch, um den Zorn Gottes und dessen Strafgericht gegen die meineidige Nation, das seiner Meinung nach bald anbrechen werde64; er denunziert im Besonderen die Korruption. Er klagt den in der gesamten Wahlkörperschaft geleisteten Eid an, welcher den Gewählten aus seiner Rechenschaftspf licht entlässt und ihm einen Freipass im Sinne einer uneingeschränkten Herrschaft erteilt. Das Praktizieren wird so zu einem Kavaliersdelikt, und letztlich werden die Schuld und die drohende göttliche Strafe auf den zum Eid gezwungenen Wähler abgeschoben, er muss dies vor seinem religiösen Gewissen verantworten. Wenn man essen/ trincken/ Gaben nehmen/ die Seinigen fürderen/ und in gemeinen Bedienungen untreu seyn wil […]. so thue man es immrhin/ und lasse dabey den Namen des Unschuldigen/ Heiligen und Gerechten Gottes/ ungespottet und ungeschändet[.] Warumb wollet ihr auß einer Sünd zwo mache/ und das Urtheil wider euch/ mit eurem eigenen Blut unterschreiben? Wer zwingt uns/ bey unserem freyen Wesen und Republick/ so viel Eyd zu thun? Wniger Eyde/ und mehr Straffen der Fehlbaren/ wurde uns nutzlich seyn.65

Der Wahleid legitimiert die Obrigkeit und ihre Herrschaftspraxis durch die versammelten Untertanen. Der kollektive Eid kann als religiöses Unterwerfungsritual gedeutet werden, gegen welches die Pietisten opponierten. Die Pietisten sahen in diesem Ritual den Namen Gottes verspottet. Durch den Eid entäußerte sich die Wahlkörperschaft ihres Rechts auf politische Einf lussnahme, und gleichzeitig wird das religiöse Empfinden des Wählers verletzt. In der Eidproblematik verbanden sich somit die religiöse und die politische Kritik der Pietisten in organischer Weise. Der Bezug auf die persönlichen Freiheiten der Verfassung und die indirekte 62

Ebd., 168 f. von Schönau, Betrachtungen Uber Die geheimbe Fürbilder, S. 444. 64 Die Schönausche Schrift ist eschatologisch motiviert, wenn er eingangs schreibt: »Denn die zeit der Heimsuchung ist nun gekommen. Die Wohnungen unserer Nachbarn in Frankreich und Piemont/ sind biss auf den Grund verbrännt«. Ebd., S. 440. 65 Ebd., S. 443 (recte: S. 445). 63

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Aufforderung, den Eid zu verweigern, rüttelte gehörig an der Legitimation der Obrigkeit durch Gott und Eid.66 Dies geschah aus der Absicht, eine gottgefällige Ordnung wieder herzustellen und den drohenden Zorn Gottes abzuwenden. Johann Heinrich Schönau griff in seinem Anhang einen wichtigen – wenn auch symbolischen – Stützpfeiler der patriarchalen Machtausübung an. Aus dieser Perspektive wird erst richtig verständlich, warum der Frage des Eides und dessen Verweigerung eine so wichtige Stellung zukam, und warum diese die Gemüter erhitzte. Die Schuld an einer allgemeinen Korruption oder Verdorbenheit der Gesellschaft trug nach Ansicht der Pietisten nicht einzig der Eid, der eine Komplizenschaft zwischen den Untertanen und den obrigkeitlichen Machenschaften herstellte. Schuld trug nach ihrer Ansicht in besonderem Masse die Kirche. Johann Heinrich Bodmer [6] bejahte die im Examen vom 7. Juli 1716 gestellte Frage, ob die Kirche schuld an der Korruption des Volkes trage. Er meinte, dies sei keine Frage, denn erst wenn fromme Prediger mit Gottes Segen an die Arbeit gingen, könne die Verdorbenheit nicht überhand nehmen.67 In einer von Pietistengegnern zusammengestellten Liste, »Verkehrte Lehrsätze der nun mehr von ziemmlichen Jahren her rüred zum theil noch diß Zeit in der Schweitz grassierenden pietisten«, welche 26 von der Orthodoxie abweichende Glaubenspunkte aufzählte, figuriert unter den ersten drei Punkten die pietistische Kirchenkritik: 1. Die reformierte Religion (gemeint ist die Kirche) sei ein Babel, das zu verlassen ist. 2. Die reformierten Prediger seien »Baals=Pfaffen« und »Mietlinge«. Sie seien ohne göttlichen Geist und könnten niemanden bekehren. 3. Die Obrigkeit habe keine Macht, Prediger einzusetzen.68 In wie weit die Pietisten hier die realen Zustände im Auge haben und wie weit sie einzig auf Stereotypen frühpietistischer Literatur zurück griffen, ist fraglich. Die Injurien an die Adresse der Geistlichkeit erinnern stark an die allgemein formulierte Kirchenkritik eines Breckling oder Hoburg, wie wir sie in der Darstellung der Bibliothek Lochers angetroffen haben. Lassen wir dahin gestellt, inwieweit die realen Zustände mit dem Bild übereinstimmten, das sich die Pietisten von der Obrigkeit machten. Immerhin: was die »Nachfolger Christi« an der bestehenden Kirche kritisierten, und was in den drei Glaubenssätzen zum Ausdruck kommt, ist vorab die Korruption und der Nepotismus bei der Vergabe von Pfarrstellen. David Gugerli beschreibt die profane Pfründenjagd für das ausgehende 18. Jahrhundert. Die Wahl in eine einträgliche und einf lussreiche Pfründe 66 André Holenstein wertet die Kritik am Eid im Zeitalter des Absolutismus als eine Kritik an einer zunehmenden Entrechtlichung, weil der Eid in erster Linie zu einem Beweis der Untertänigkeit wurde: Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 514. 67 St AZ E I 8.1 (1716). 68 ZB Zürich Ms. S 344, Nr. 30.

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erfolgte weniger aufgrund des Könnens eines angehenden Pfarrers oder aufgrund von dessen Gesinnung, sondern vielmehr nach der sozialen Herkunft und dem Beziehungsnetz. Karrierefördernd für einen »Diener an Gottes Wort« waren Empfehlungsschreiben einf lussreicher Verwandter oder Huldigungsschreiben an Mitglieder des Wahlgremiums. Oft war auch direkte Bestechung im Spiel.69 Am Anfang des Jahrhunderts dürfte es kaum zum Besseren bestellt gewesen sein. Die pietistische Kritik an der Pfründenjagd konnte auch humoristische Züge annehmen. Unter dem Eintrag vom 20. Mai 1718 berichtet Johann Jakob Heidegger, Pfarrer an der Predigerkirche, über die junge Anna Barbara Muralt geborene Pestalozzi [108], dass sie gegen die Geistlichkeit herziehe, und sie mache auch mit den nachbaren allerHand händeln, als zum exempel mit ihrem Nachbaren H Pfr. Finßler von der Spanweid, den sie einem jahr und diesmahl wider in der Synodal-wochen, aus ihrem haus mit dem Spiegel geblendet, daß da er einmahlen sich rasieren wolte, er müßen die läden zuthun, und als er sich umgesehen woher dieser muthwillen kommen, so habe er diese Fr. Pestaluzin mit dem Spiegel im daubenhaus oben unter dem first gesehen, auch sie reprehendiert, ob das die heiligkeit sej, wie sie dafür angesehen seyn wolle, als aber hernach Hr. Pfr. u. Frau auf der Gaß stunden, seje diese Fr. Pestaluzin sie mit wüsten worthen angefahren: er gehöre in die Spannweid als ein pfreümder [Nutzniesser eines Kirchengutes], nit als ein Pfr. Hr. Pfr. klagt aber nit daß er Satisfaction begehre.70

3.2.2 Der Auftakt: Die Kirchen- und Schulreform Die pietistische Kritik an Kirche und Schule brachte Johann Kaspar Escher [20] in den öffentlichen Diskurs ein. Der damals 31-jährige Examinator hielt 1709 der versammelten Geistlichkeit in der Frühjahrssynode eine Standpauke. Er habe zuerst gezögert das Wort zu ergreifen, schrieb er Jahrzehnte später in seiner Selbstbiographie, doch die »leere Ceremonie« der Zensur, habe ihm den Rest gegeben.71 Die Zensur, einst wichtigstes Geschäft der Synode, hatte den Geistlichen zum Austausch von Kritik und Anregungen gedient. Die Synodalproposition Eschers ist als Abschrift erhalten geblieben, sie wird irrtümlich und unter falscher Datierung Bodmer [6] zugeschrieben.72 69

Gugerli, Zwischen Pfrund und Predigt, S. 156 ff. St AZ E II 56, S. 977. 71 Neujahrsblatt der Waisenhausgesellschaft, Zürich 1873; ZB Zürich FA v. Wyss III. 72 ZB Zürich Ms. T 106, Nr. 34 [»Proposition (uti videtur) Herrn Obmann Bodmers vor dem Synodo gehalten A° 17..« ] unter der Jahrzahl steht: »1717 (?)«. Hanimann schließt aus der fälschlichen Zuordnung der Rede eine Koautorenschaft Bodmers; m. E. deutet der rhetorische Stil nicht auf Bodmers direkte Mitarbeit. Vgl.: Hanimann, Zürcher Nonkonformisten im 18. Jahrhundert, S. 26. 70

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Vergleicht man aber die Arbeiten, die auf Eschers Selbstbiographie basieren, mit der Proposition, so kann sie eindeutig dem Examinator zugeordnet werden.73 Mit tadelnden Worten eröffnet der junge Examinator seine Rede: Es scheint zwar erfreulich, daß diese Synodus abermahlen abgeloffen, in dem einer dem andern ein absolut guter Zeugnuß gegeben: Allein ich kan nicht bergen, daß so offt ich diser Versamlung beygewohnt, mir allezeit die angsthaffte gedanken beygefallen ob nicht der große Gott durch diese Solemnitet mehr entu nehret alß geehret, und etwan fehlbare oder Liederliche Kirchendiener ihrer schlaffsucht mehr gestärkt alß aber gebeßert, und aufgemuntert werden.74

Escher prangerte vor versammelter Geistlichkeit die Unfähigkeit zur Selbstkritik der Kirche und den fehlenden Willen zu Verbesserung an. Er sah sich gezwungen, den Geistlichen den Spiegel vorzuhalten und kritisierte deren selbstgefällige Routine. Welche in der Synode hartnäckig unter den Tisch gewischten Zustände bemängelte Escher an der Zwinglikirche? Er kritisierte primär die durchwegs guten Zeugnisse, die sich die Pfarrer gegenseitig ausstellten. Escher wollte die bezeugte, gute und vorbildliche Lebensführung der Seelsorger nicht recht glauben. In spitzer Rhetorik fragte er in die Runde: Ist doch auch möglich zuglauben und zuhoffen daß alle die HH. so diesen morgen censiert worden, wie es Paulus erfordert, seyen unsträff lich, alß haußhalten Gottes, daß kein einiger [= einziger] seye eigensinnig, kein Zornmüthig, keiner kein Weinsauffer, kein Schlägler, keiner geitzig und schändlichen gewinns begirig; hingegen daß alle seyen Gastfrey, daß alle seyen liebhaber des guten, daß alle seyen mäßig, gerechth, und heilig, die sich selbst enthalten können, daß alle ihre haußhaltungen wol vorstehen.75

Nicht alleine die vorbildliche Lebensweise der Geistlichkeit, auch die inhaltliche Qualität der Predigten bezweifelte Escher. Der Examinator kritisierte in seiner Rede die trockenen, an der Orthodoxie orientierten Predigten und beschwerte sich über die verbreitete Bildungsarmut unter den Theologen. Unzimperlich ging er mit ihnen ins Gericht und schickte zuerst sein Ideal eines Predigers voraus, der »durch lebendige wörter Gottes mag berühren«: Darauf konfrontierte Escher die Synode mit seiner Sicht der kirchlichen Zustände: wann man manche Predigt auf diese doch geburliche weise examinieren wurde, was müßte man ohne den Gewüßen gewalt anzuthun judicieren? da etwan selbige angefüllt mit kaltsinnigen moralien, die den einfältigen weder erbauen noch auf73 Neujahrsblatt der Waisenhausgesellschaft, Zürich 1873; von Wyss, Lebensgeschichte Johann Caspar Eschers, S. 33 f. 74 ZB Zürich Ms. T 106, Nr. 34, S. 1. 75 Ebd., S. 2 f.

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weken, und den gestudierten in die Gedanken bringen, wann die Christliche Religion hierinn bestehe, könne er sich in Seneca, Epicteto, Ariano, Antonino beßer erbauen alß in der H. Schrifft […] und die Applicationes [der Bibel in den Predigten] [sei] so trocken und ungereimt, daß kein Oedipus derselbigen Conexion mit dem Text errathen mag, da man etwan nur schlecht digerierte Locos Communes zusammenf likt, da man etwan von werken redt, alß wäre kein gnad, und von der gnade alß wären keine werke, also nicht bey seinem Systemate bleibt, und so viel mehrers, welches entweder unvorsichtigen oder ungeschikten weis auf die Kantzel gebracht wird, und doch wird nur dieser so vielfaltigen anomalien willen niemahl kein einiger zured gestellt.«76

Der dritte Kritikpunkt, der sich an die Synode richtete, beinhaltete die vernachlässigten Hausbesuche. Trotz gedruckter Ordnung würden sie nicht eingehalten, in der Stadt seien sie geradezu in Vergessenheit geraten. Die nächste Rüge monierte das pädagogische Ungeschick der Pfarrer. Kinder, Knechte und Mägde hätten vor ihren Seelsorgern Angst, da die Kirchenvorsteher mehr ihr katechetisches Wissen erforschen wollten, anstatt sie freundlich zu unterrichten. Worum es Escher in seiner Rede ging, was seine Hauptmotivation war, das sagt er gegen Ende seiner Rede selbst: Ligt nicht unser Volk in seinem Blut, ist nicht zu Stadt und Land eine entzetzliche unwüßenheit? wie viel 1000. under unseren Leuthen, die die frömsten und Gottesdienstigsten scheinen, dienen Gott nur außerlich, […] damit Er Ihnen den früh- und sathregen gebe, ihre scheüren voll korn, und die Trotten von Most überlaufen [mache].77

Johann Kaspar Escher verpf lichtet für Missstände in der Zürcher Herrschaft offenbar zu einem großen Teil die Kirche. Mangelnde Bildung, ein starres äußerliches Christentum trügen die Schuld, dass das Volk »im Argen« liege. Dieser Denkansatz macht verständlich, wieso Escher und mit ihm die Pietisten auf eine Reform der Kirche und Schule drängten und auf ein »inneres« Christentum setzten. In Analogie zu den Gründervätern der reformierten Kirche sahen sie in einer Verbesserung der Kirche eine allgemeine Besserung der gesellschaftlichen Situation. Gefordert wurde eine zweite Reformation. Escher schloss die Synodalproposition mit dem Aufruf, Missstände in weltlichen und kirchlichen Bereichen zu beheben: ich klage nicht sovest über das, daß wir ellend, jammerlich blind arm und nakend sind, alß über das, daß Wir rühmen, ich bin reich und reich worden, und bedarff nichts, über Unser Pharisaismum, schlaffsucht, Zufrienheit mit uns selbst, dann solang dises währet, und man nicht beßer aufgemuntert wird, muß es nothwendig

76 77

Ebd., S. 5 ff. Ebd., S. 8.

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Abbildung 22: Johann Kaspar Escher (1678–1762). [ZB Zürich Graphische Sammlung, Escher, Joh. Casp. b. I, 3]

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je länger je ärger werden; der große Gott beßere in beyden Ständen, was mangelet, Er weke auf die sicheren in Zion.78

Die Rede des jugendlichen Neuerers war ein starkes Stück. Zwischen dem Antistes Klingler und Escher entfachte sich ein heftiges Wortgefecht. Der Antistes warf dem jungen Examinator vor: »Der Herr hat wohl studiert, das Ministerium [= die Geistlichkeit] in die Kothlachen zu drucken.« Escher wurde mehrfach heftig wegen seiner Rede attackiert, aber ein erster Schritt war getan. Obmann Bodmer, der mit Escher eine pietistische Seilschaft bildete, brachte den Streit vor den kleinen Rat und verlas die Rede. Erfolgreich beantragte er eine Sonderkommission für eine Kirchenreform.79 Die Pietisten gaben sich nicht zufrieden mit dem Erreichten: Obmann Bodmer hieb nochmals in dieselbe Kerbe. Vermutlich in der Herbstsynode 1711 wiederholte er die Kritik. Sie ist teilweise rekonstruierbar anhand eines Memorials von Antistes Klingler »wider Hrn. Obman Bodmer dem Kleinen Rath übergeben den 5 December A° 1711«, worin er die Gnädigen Herren bat, ihn von dieser »Schimpf durchdrungenen Seele dieses Mannes« zu erlösen, sowie aus der Erwiderung Bodmers.80 Anlass der Beschwerde war eine heftige Rede Bodmers am ersten Sitzungstag der Synode. Er soll in ungewohnter, ehrverletzender Manier das Ministerium und den Beschwerdeführer angegriffen haben. In seiner »Replique« auf Klingler vom 8. Dezember zählte er vier Punkte auf, wo ihn der Antistes in der Synode zum Widerspruch herausgefordert hatte. Im Besonderen hob er das alte Recht hervor, in der Synode alles sagen zu dürfen. Er habe nur auf der Freiheit bestanden, über Religionsbekenntnisse offen sprechen zu können. Eine Freiheit, die ihm der Antistes verweigern wollte. Neben diesem Credo für einen liberalen Umgang mit Glaubensangelegenheiten finden sich in Bodmers Replik keine neuen Aspekte. Der Kirchenkritik von Escher und Bodmer schien vorerst Erfolg beschieden. Auf das schriftliche Geplänkel zwischen dem Antistes und dem Obmann antwortete der Rat am 8. Dezember mit dem Beschluss, die beiden Streithähne sollten sich im Namen der Einheit beider Stände vertragen. Außerdem solle Klingler künftig mehr über Religion predigen. Beschlossen wurde zudem eine neue Kommission zur »widerbringung des 78

Ebd., S. 10 f. Hanimann, Zürcher Nonkonformisten im 18. Jahrhundert, S. 27. Der Erfolg der Sonderkommission war bescheiden. Ein Ergebnis bestand in einer erneuerten Prädikantenordnung. Ein weiterer Erfolg der Diskussion war ein Großratsbeschluss, wonach die Türen bei Synodalverhandlungen verriegelt werden mussten, damit die Teilnehmer an der langwierigen gegenseitigen Zensur nicht mehr davonschleichen und sich in der Stadt vergnügen konnten. 80 ZB Zürich Ms. T 410, Nr.13 [Memoriale des Antistes Klingler u. Replik von Obmann Bodmer]. 79

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leider Erstorbene Christenthums unter Gottes würkender krafft«.81 Am 14. Januar des folgenden Jahres trat die Revisionskommission zusammen, welche aus Kirchen- und Schulrat bestand. An der Eröffnungssitzung hielt Bodmer eine längere Rede, in der er erneut seine Motivation für eine Revision in Schul- und Kirchenangelegenheiten darlegte. Seine Ausführungen waren am Vorabend des Zweiten Villmergerkriegs geprägt von der Angst, dass der Zorn Gottes über die Eidgenossenschaft kommen werde. Er geißelte die Verschwendungs- und Prunksucht der Katholiken und ihren Hang zu aufwändigen Zeremonien, um dann auf Zürich überleitend festzustellen, dass es mit der Zwinglikirche keinen Deut besser stehe. Schließlich kommt er zur Sache: Von dem Größten auf die Kleinsten zuspringen, was ist für ein Viehische Unwüßenheit u. verzweiffelte boßheit bey unßerem armen in oberkeitliche Straffen oder unter sich in Process verfallenden Volk; sieht mann es nit täglich auf dem Rathhuß, im Gericht, Ehrgericht u. allen Tribunalen zu Statt u. Land auf eine solche traurige Weiße daß einer abermahl meinen solte, ohnmöglich zu sein, daß bey nach Gotts Wort Reformierten so kleinem häuffelein so viel große Greüel sich finden solten, da die meisten Gefangenen, auch die greülichsten Schandthaten bekennen verübt zu haben auß lauter Unwüßenheit u. mangelnder Erkantnuß Gottes daß mann nit darff nachsinnen, von wem Gott solches Bludt fordern möchte.82

Die beklagte hohe Kriminalitätsrate und der Hang zum Prozessieren, führt Bodmer weiter aus, liege darin begründet, dass die Grundwahrheiten des Glaubens lediglich in den Köpfen, nicht aber in den Herzen steckten. Nur weil der Praxis die Seele, dem Leib die Theorie fehle, sei »Ehrgeitz, Geldgeitz gemählichkeit wollüsten […] Zorn, Neid, Haß, Raache, in Summa die Welt und ihre Gelüsten« möglich. Eine »heilige remedur [sei] ohnvermeindlich u. ohnverzogenlich vonnöthen, u. daß diße nächst göttliche Gnad noch das einige Mitel seye unß vor den zukönfftigen Zorn zu erretten.« Die Rettung besteht in der Verbesserung der Schule bzw. der Ausbildung der Geistlichen. Bodmer schlug eine Aufwertung des Gymnasiums zu einer Akademie vor und will die Schulen in eine »Shola Sapientiae« und »Seminaria Pietatis« umgestalten. Wie er diese Schulreform einleiten möchte, teilte Bodmer nicht mit. Der Grundgedanke seiner Schulreform dürfte sich aber am pietistischen Grundmotto seiner Eröffnungsrede orientiert haben: »Unsere Gn. H Heren u. Oberen suchet nit mit dem Pabst die Externa, sondern mit gott u. nach gott das Internum, mit einem 81 ZB Zürich Ms. T 410, Nr. 13 [Ratserkenntnis vom 8. Dez. 1711]. Im Verlauf der Verfassungsunruhen von 1713 wurde diese Sonderkommission für eine Kirchen- und Schulreform in die Regierungs- bzw. Ehrenkommission umgewandelt. Saxer, Die zürcherische Verfassungsreform vom Jahre 1713, S. 47. 82 ZB Zürich Ms. S 352, Nr. 2 [Herrn Obmann Bodmers Proposition (14. Jan. 1712)].

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Wort, die widerherstellung unßere leider elendiglich verfallenen Christenthumbs«. Was in der Tendenz soviel heißen könnte, wie eine Rückbesinnung auf die Schulordnung der Reformatoren Zwingli und Bullinger. Dies bedeutet eine Abkehr von einer orthodoxen Neoscholastik und eine Hinwendung zu einer am Humanismus orientierten Bildung, keine äußere, auswendig gelernte Bildung, sondern eine intensive Auseinandersetzung mit den Wissenschaften von Gott und Welt. Examinator Escher, den Friedrich Haag als ersten Schweizer Pädagogen bezeichnet,83 war wie sein Freund Bodmer Mitglied der Kommission, er stellte im Rahmen dieser Tätigkeit schulhistorische Studien an und sammelte Schulordnungen anderer Orte. Am 28. Januar 1715 reichte er ein Memoriale zuhanden der Revisionskommission ein, worin er seine Vorstellungen über den Schulbetrieb darlegte.84 Er stellte den bestehenden Lehrplänen für die beiden städtischen Gymnasien den alten, aus Bullingers Zeit stammenden Lehrplan gegenüber. Für die bestehenden Verhältnisse an den höheren Schulen hatte er nur Tadel übrig: Auf diese Weis lehrnen unsere Knaben endlich einen Authorem latinum verstehen, etwas aus dem Teütschen ins Latein mit Noth übersetzen, das Griechisch Testament nach Manualen […] exponieren und analysieren, auch einige terminos logicos und rhetoricos, die Namen der pedum metricorum und quantitam sylabarum verstehen. Daß nun dises alles bloß Exerctia memoriae zu nennen, durch welche die Knaben, weil man sie gar lang damit plaget, ihr Iudicium mehr verwirren und schwächen, als richtigen und schärffen, daß es auch schlechte früchte einer fast 12. jährigen, so sauren Arbeit […] seyen.85

Der sturen Auswendiglernerei, welche die Fähigkeit zur eigenen Urteilsbildung keineswegs stärke, stellte Escher in lichten Farben die humanistischen Bildungsideale der Vorfahren entgegen: 1. mit den studiis humanioribus getrachtet, den Knaben […] lust zur Studier-Arbeit zu erweken, sie zu gewehnen andas so nöthige attendieren und meditieren, ihr Iudicium zu schärffen etc. 2. ist der Spraachen halben ihre [= der Reformatoren] Bemühung gewesen, daß die Knaben lehrnind expedite und eleganter Latein reden und schreiben, das Griechische hujus linguae genium verstehen und so viel zierliche Authores […] könnind mit Nutzen lesen.86

Die zwei kurzen Zitate verdeutlichen die pädagogischen Absichten der Pietisten: Sie wollten individuelle, selbständig urteilende Menschen, die ihre Erkenntnisse auf die Grundlagentexte, die Bibel und antike Autoren, 83

Haag, Die Entstehung der Zürcher Schulordnung, S. 8. St AZ E I 15.2. Das Memoriale Johann Kaspar Eschers ist abgedruckt im Anhang als Beilage 1 in: Haag, Die Entstehung der Zürcher Schulordnung, S. 73–98. 85 Haag, Die Entstehung der Zürcher Schulordnung, S. 78. 86 Ebd., S. 79. 84

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abstützten. Sie wollten eine Bildung, die nicht auf Glaubens- und Wissensformeln basierte. Entsprechend einem individuell erfahrenen Glauben wurde eine Bildung gefordert, die zu persönlichem Studium befähigt. Der geforderte Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik brachte vermutlich die Bildungsbemühungen einer ganzen Generation zum Ausdruck: Escher beispielsweise entdeckte im Kollegium der Wohlgesinnten den Wert griechischer Philosophen neu, namentlich jener Platons. Das Memorial unterzog das Theologiestudium derselben Kritik: Escher stieß sich am Lehrbetrieb, der auf Systemen und ungeprüften Autoritäten beruhte, und nicht mehr wie in den Zeiten der »seligen Majores« sich direkt auf die Bibel bezog.87 Nur indem die Menschen aus ihrer inneren Überzeugung und ihrem besten Wissen handeln und sich nicht von auswendig gelernten äußerlichen Handlungsmustern leiten ließen, könnten sie nach Ansicht des Pietisten die Glückseligkeit erlangen und aus einer sündigen Welt herausfinden. Friedrich Haag tut Johann Kaspar Escher Unrecht, wenn er ihn als keinen schöpferischen pädagogischen Geist bezeichnet und das Memoriale als eine rückwärts gewandte Schrift qualifiziert, die nur die alte Schulordnung zurückholen wolle.88 Escher wollte ganz entschieden auch Neuerungen. Er beabsichtigte, die seit der Reformation fortgeschrittenen Wissenschaften in den Lehrplan zu integrieren. Dabei ließ er sich von moralischen und religiösen Motiven leiten. Drei Stunden pro Woche wollte er der Physik (Astronomie und Mechanik) widmen: Denn in der Physik könne die Jugend »die erstaunenswürdige Weisheit und Macht des Schöpfers […] bemerken, und sie also auch aus dem Buch der Natur underweisen in der Erkanntnuß und Forcht des Urhebers deßelben«. 89 Die Physik wird demnach als Buch der Natur der Bibel ergänzend zur Seite gestellt: Beide sind Quellen für die Erkenntnis Gottes. Der Pietist Escher war demnach alles andere als ein Feind der Naturwissenschaften, er wollte vielmehr die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse mit der Theologie versöhnen und versuchte beides gegenseitig fruchtbar zu machen. Diesem Ansatz fühlte sich beispielsweise auch Scheuchzer verpf lichtet.90 Folgerichtig war die Forderung Eschers, im Gymnasium auch Mathematik zu unterrichten. Sie sei wichtig, weil sie nicht nur das persönliche Urteilsvermögen schärfe, sondern insbesondere weil sie als »Scientia abstracta lehret abstrahieren von den sensualen Wollüsten«.91 Gefordert wird hier nicht nur eine Hilfswissenschaft der Physik, sondern eine neue (cartesianische) Denkschule, die 87 88 89 90 91

Ebd., S. 87. Ebd., S. 8. Ebd., S. 83 f. Kempe, »Schon befand ich mich in Russland …«, S. 291 f. Haag, Die Entstehung der Zürcher Schulordnung, S. 84.

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nicht nur das Urteilsvermögen schärft, sondern in die moralische Lebensführung hineinreicht. In den Lehrplan integriert werden sollten im Weiteren Naturrecht, Psychologie und nationale und europäische Geschichte. Eschers visionäres Schulkonzept, das auf klärerische Elemente vorweg nahm, hatte keine Chance. Der Reformwille bei der Geistlichkeit und teilweise auch in den weltlichen Reihen blieb gering. Die Obrigkeit ließ, nachdem sie die Burgerunruhen unbeschadet überstanden hatte, die Reformkommission einschlafen. Im Dezember 1714 verlangte Bodmer in einem Antrag im Rat Rechenschaft von der Kommission, er warf den Kommissionsmitgliedern vor, sie »schlichen«.92 Sein Beschleunigungsversuch blieb jedoch ohne Folgen. Im darauffolgenden April verlangte er, dass die Kommission endlich einen Beschluss fasse. Dem Reformer fehlte aber nun die Durchsetzungskraft und ihm wurde entgegengehalten, man kenne seinen Sermon.93 Im Frühjahr 1716 wurde die seit längerem inaktive Kommission durch Bodmers Intimfeind, Bürgermeister Holzhalb, schließlich abgewürgt. Die letzte Sitzung fand am 29. März 1716 statt, das Reformwerk wurde ohne große Neuerung abgeschlossen. Das Memoriale Eschers blieb unberücksichtigt.94 Was verheißungsvoll für die pietistische Reformbestrebungen begonnen hatte und von zeitgenössischen Kommentatoren95 als eigentlicher Beginn der Burgerunruhen von 1713 gewertet wurde, endete in der totalen Niederlage. Haags Beobachtung, dass die zeitliche Nähe zwischen dem Abbruch der Reform und dem Auftreten der ersten Inspirationen in Zürich ein enger Zusammenhang bestehe, ist nicht von der Hand zu weisen.96 Die Pietisten schätzten die Situation Zürichs offenbar als verkommen und verdorben ein. Zustände, die anscheinend nicht als christlich bezeichnet werden konnten. Abhilfe erhofften sich die »Nachfolger Christi« von einer reformierten Bildung, die naturgemäß bei den Geistlichen einsetzte. Das pädagogische Projekt ließ sich leiten von der Vorstellung, dass Bildung die Menschen zum Besseren wandle und so auch die Gesellschaft reformiere. Diese Hoffnung implizierte ein neues Bildungskonzept, das an frühauf klärerische Ideale anschloss und den Lehrbetrieb mit Naturrecht, Geschichte und Naturwissenschaften befrachten wollte. Oberstes Ziel der 92

ZB Zürich Ms. H 277 [ Johann Kaspar Gwerb an Johann Heinrich Füssli, 21. Dez.

1714]. 93 ZB Zürich Ms. H 278 [ Johann Kaspar Gwerb an Johann Heinrich Füssli, 12. April 1715]. 94 Haag vermutet, dass Bodmer im Winter 1715 aus der Kommission geworfen und an seiner Stelle Holzhalb aufgenommen wurde. Haag, Die Entstehung der Zürcher Schulordnung, S. 18, Anm. 2. 95 Beispielsweise Johann Jakob Scheuchzer in: ZB Zürich Ms. V 119 [Historische Politische Beschreibung des A. 1713 unternommen Reformations Geschäfft.], S. 25. 96 Haag, Die Entstehung der Zürcher Schulordnung, S. 19.

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pädagogischen Reformbemühung war die »Erweckung«, die individuelle Erkenntnis Gottes. Escher verwendet in seiner Synodalrede den Begriff der »Erweckung« an mehreren Stellen als Antipode zu Schlafsucht, Unwissenheit und Verdorbenheit. 3.2.3 Der Anlass: Die Kleiderordnung Johann Kaspar Abegg, Zunftschreiber zur Gwere und selbst bürgerlicher Deputierter im »Reformgeschäft«, schilderte in seiner Beschreibung der Unruhen von 1713 die auslösende Episode: Gestalten als inzwischen den 31. Aug monat diß 1713 Jahres vor Rath un[d] burgern Ein Mandat wider die kleider-hoffart köstlichen Kindbett Schenkens und dergleichen Verschwendungen hat sollen gemacht werden. Und aber wieder solch äußert zeitiger Ordnung als andern Absichten nicht nur Hhr Assessor und Landschreiber Hanß Caspar Waßer, bedenkten entgegensetzl[ich] Ob nicht beßer wäre daß man bey so gefarlichen Zeiten und der daher überhauff habenden anderen höchstwichtigeren Geschäfften sich nicht bey dergleichen Kleinigkeiten auf halte, sondern viel mehr und mehr über die Hauptnotwendigkeiten beratschlagen täte. Da aber der hierüber von anderen H.Hr. ernstlich getadelt worden und deßen Schwager Hhr. Obmann Johann Heinrich Bodmer den defendierte, welchen aber H r BurgerMst r Holtzhalben hart zuredete, sodaß als der vermeynte ein solches nicht verdient zuhaben, deme in vollem Rath un[d] Burger, mit hefftigem Eyffer entgegen setzten. Wie man bey somißlichen Zeiten an so äußerlichen Sachen hangen, hergegen wolle, das rechte Übel nicht angreiffen werden. Mann solle ernstlich auf dem Rathhauß anheben zu reformieren und daselbst die greuliche Meyneid, das Mied und Gaben nehmen die ungerechte passionierte Urtheilspruch die […] Practiques bey Eydlichen Wahlen trachten abzuhelfen. Als wordurch der Zorn Gottes ohnmittelbar auf des gantze Lande gereiche, und deßen volligen Ruin antrohe. Er seines Teils wolle zur Anhab grad Herren Burgermeister Holtzhalben seiner vielfältigen die Zeit und Jahrhero genommenen Mieth und Gaaben, die Er zuwieder seinem geschworenem Eyd und Pensionair Brieff manigfaltig Genommen verklagt haben.97

Eine Kommission sprach sechs Tage später Bürgermeister Holzhalb von den belegten Korruptionsvorwürfen frei. Das war zuviel: 600 Zürcher versammelten sich unter der Leitung von Johann Jakob Scheuchzer und Obmann Heinrich Bodmer auf dem Lindenhof und stellten ihre Forderungen.98 Die zitierte Kontroverse im Rat fasst in gedrängter Form den Konf likt zusammen. Auf der einen Seite steht die Honorabilität. Sie sichert ihre 97 98

ZB Zürich Ms. G 23, S. 441 ff. Saxer, Die zürcherische Verfassungsreform vom Jahre 1713, S. 26–28.

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Macht ab durch Vetternwirtschaft bei der Vergabe von Ämtern, durch Straffreiheit bei Verfehlungen oder durch Bestechung und Praktizieren. Mittels Sittenmandaten – Werke der Sozialregulierung – setzt sie religiös legitimiert die soziale Distinktion und somit ihren Machtanspruch durch. Dem steht auf der anderen Seite eine zweite Gruppe, hier vertreten durch die zwei Pietisten Bodmer [6] und Waser [188], gegenüber. Sie fordern eine Reformation der obrigkeitlichen Herrschaftstechnik. Sie legitimiert sich ebenfalls religiös, indem sie den Zorn Gottes abwenden will. Für die beiden pietistischen Politiker ist die Kleiderordnung eine Nebensache und ein Zeichen eines »äußeren« Christentums. Bezeichnend für diese Gruppe ist die in der Ratsverhandlung vorgetragene Gedankenkette. Diese geht von einem abgelehnten Kleidermandat, das nur ein äußeres Christentum manifestiert und kein geeignetes Mittel für eine gottgefällige Ordnung darstellt, aus, kommt zu den gefährlichen Zeiten in denen Gottes Zorn droht, und endet schließlich beim korrupten Verhalten des Bürgermeisters als Gipfel der gesellschaftlichen Verdorbenheit. Die eschatologischen Ängste richten sich gegen die Herrschaftsausübung, mit der die Honorabilität die Macht monopolisiert: Aktive und passive Bestechung, Meineid, parteiliche Urteile und Wahlabsprachen. Der Gegensatz kann religiös als »inneres« und »äußeres« Christentum aufgefasst werden; politisch geht es um die Machtmonopolisierung und ihre Mittel, letztendlich auch um die Kleiderordnung. Ist es nicht paradox, dass rigide und fromme Pietisten eine Kleiderordnung als Nebensache ablehnen – eine Ordnung, die das Volk von seiner »f leischlichen« Verschwendungssucht abhalten sollte? Wer erwartet nicht von Pietisten, dass sie für gottgefällige Zucht und Ordnung eintreten? Paul Wernle beispielsweise interpretiert Eschers [20] Milde in der Durchsetzung der Sittenmandate während seiner Amtszeit als Landvogt in Kyburg als unpietistisch und er trennt den politischen vom religiösen Escher.99 Hier aber irrt Wernle und repetiert ein gängiges Vorurteil über den Pietismus. Johann Kaspar Escher legte über seine Einstellung zu den Sittenmandaten in den »Bemerkungen über die Regierung der Grafschaft Kyburg« Rechenschaft ab. Rechenschaft legte er aber nicht seiner vorgesetzten Behörde ab, sondern er schrieb für seine Kinder oder für diejenigen, denen das Papier nach seinem Tod in die Hand gelangen sollte, mit der Absicht, »über das Eint und Andere Mehreres zu ref lektieren«.100 Die Gedanken zum Sittenmandat stehen also nicht in einem Handbuch zum zweckmäßigen Regieren, sondern in einer Schrift zum Nachdenken und Besinnen. Diese

99 100

Wernle, Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert, S. 133 f. Escher, Bemerkungen über die Regierung der Grafschaft Kyburg.

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war nicht für jedermann bestimmt. Sie war eine Reformschrift, die sich an den platonischen Grundsätzen einer guten Herrschaft orientiert. Die Macht ist für Escher nicht mehr von Gott gegeben, sondern Herrschaft sei wie eine Vormundschaft, man müsse fürs Wohl des Volks sorgen.101 Erst diese Verpf lichtung legitimiere den Herrscher. Eschers Ansichten über eine gute Herrschaft kam der Vertragstheorie und den Auffassungen eines aufgeklärten Herrschaftsverständnisses recht nahe. Über die in das große Bußmandat von 1722 integrierte Kleiderordnung berichtet Escher, er habe sich nicht getraut, das neue Mandat zurückzuziehen oder eine Änderung bei der Obrigkeit zu verlangen. Er habe aber einen Auszug aus dem Mandat angefertigt, unter Weglassung aller gegen die ›guten Sitten‹ verstoßenden Artikel. Das Extrakt wurde an alle Beamten und Pfarrherren versandt, mit der Auf lage, nur die gefilterte Ordnung anzuwenden.102 Seine renitente Haltung in der Durchsetzung des großen Bußmandats rechtfertigt Escher, indem er Beispiele anfügt, die gegen die Kleiderordnung sprechen. Unter anderem zitiert er eine reiche Schaffhauser Bürgerin, die ihr Eheversprechen an den Feuerthaler Adjutanten Wieser nicht einhalten wollte, weil sie sich nicht wie eine Magd kleiden wollte. Und er verallgemeinert: Darbei ist nun zu gewahren, dass ein so grosse und deutliche distinction zwischen Burgern und Landleuten in solchen Sachen diesen letzteren gar odios und bei ihnen grossen Unwillen erweckt, hiemit gar nit e Republica ist. Unsere Alten haben darvon nichts gewusst.103

Die Kleiderordnung lehnt Escher also ab, weil sie nicht den Geist der Reformationsväter atme. Zusätzlich setzte sich Escher für eine Gleichbehandlung der Bürger mit den Landleuten ein. Ein solches Mandat sprach auch gegen die Staatsauffassung des Kyburger Landvogtes und gegen die »Regel einer guten Policei«. Eschers liberale und tolerante Haltung war eine Konsequenz seiner pietistischen Überzeugung. Im Zusammenhang mit den Sittenmandaten sah er sich genötigt, ein Glaubensbekenntnis abzugeben: wenn sie [die Regierung] vermeint, sie könn oder müss durch Mandat die Ihrigen fromm machen, greift sie in ein frömdes Amt und verfehlt gemeinlich ihres Zwecks. Unter Christen ist und soll sein das Evangelium allein eine kraft und zwar Gottes zum Heil, denn die darin geoffenbarten Gnad Gottes in Christo allein kann die Menschen züchtigen und geschickt machen, zu verläugnen alles ohngöttliche Wesen und f leischlichen Gelüst, und mässig, gerecht und gottselig in der jetzigen Welt leben. Die wahre Gottseligkeit bestehet in der Ergreifung der

101 102 103

Ebd., S. 5/398. Er zitiert Cicero, De officiis, lib. 1 XXV (85). Ebd., S. 4/263. Ebd., S. 4/264.

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herrlichen Verheissungen des Evangelii durch das Gemüth vergestaltet wird. […] Darzu taugt kein Mandat, kein Zwang.104

Eine Einmischung des Staates mittels Gesetzen und Mandaten in die Glaubensangelegenheiten eines Einzelnen wurde radikal abgelehnt. Den Zugang zu Gott finde ein jeder nicht durch äußere Zwangsmittel, sondern nur in der Bibel und nicht in den obrigkeitlichen Bußordnungen, sondern im Evangelium. Ein gottgefälliges, asketisches Leben fände man nach Escher nur, wenn damit eine eigenständige Überzeugung, ein innerer Glaube korrespondiere. Aus diesem pietistischen Grundsatz entwickelt sich die Kritik an weltlichen und kirchlichen Institutionen. Kein Mandat, kein Zwang vermag das Volk zum Glauben bringen, »sondern es ist von nöthen, dass man die Grenzen des oberkeitlichen Gewalts und Lehramts wohl unterscheide.«105 Womit der Obrigkeit die absoluten Befugnisse abgesprochen werden. Wo liegen aber die Schranken des patriarchalen Obrigkeitsstaats? Escher sagte es nicht explizit, gemeint ist zweifellos das Gewissen jedes einzelnen. Was bleibt der beschränkten obrigkeitlichen Herrschaft übrig? Wie soll sie handeln? Escher fährt in seinem Traktat fort: Das Einige, so die Oberkeit in diesem Stuck thun kann ist, dass sie an ihro selbst den Unterthanen vorstelle ein gut Exempel und […] sie aufmuntere und ermahne zu einem recht christlichen Leben, nit nur in Ansehung der ausseren recreationen, sondern alles ihres Handels und Wandels.«106

Die Regenten sollen »sich selbst bekehren zu Gott«. Hier setzt nun die pietistisch-religiös motivierte Kritik an der Machtausübung und -konzentration der Honorabilität ein. Gute Werke und moralische Taten werden von der Obrigkeit gefordert. Die Obrigkeit misst Escher an der Ethik; sie gibt einem Menschen, der nicht einem säkularisierten Denken verpf lichtet ist, die Kritik- und Analysemöglichkeit in die Hand: Das politische Vokabular der kritischen Bewertung der Machtstruktur erschöpft sich einzig in moralischen Termini wie »lasterhaft«, »heillos«, »liederlich« und »elend«. Johann Kaspar Escher, der den Staat lieber von innen heraus reformieren möchte und sich 1713 gegen die politische Mobilisierung der Bürgerschaft aussprach, geht nicht so weit wie Konrad Bröske in seinen sieben Unterredungen; das Ethos ist für Escher nicht die Legitimationsbasis einer Staatsordnung schlechthin, die Ethik dient ihm lediglich als macht104 Ebd., S. 4/261. Dass dieses Glaubensbekenntnis der Konsensformel diametral entgegensteht, liegt auf der Hand. Glauben besteht für Escher nicht in der (äußeren) Gehorsamkeit sondern im (inneren) Gemüt. 105 Ebd., S. 4/261. 106 Ebd., S. 4/261.

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eingrenzendes Prinzip. Folglich fordert der Pietist aus dieser moralischen Überlegung eine Trennung staatlicher und kirchlicher Kompetenzen. Eine Einmischung in persönliche religiöse Belange lehnt er entschieden ab. Glaube besteht für ihn nicht in der Gehorsamkeit, sondern in einer moralischen Lebensführung. Dementsprechend kann eine gute Obrigkeit nicht Glauben verordnen, sie kann einzig über eine moralische Amtsführung den Glauben vordemonstrieren. Der religiöse Paradigmawechsel, den die Pietisten in Ablehnung der universellen Gnadenwahl vollziehen, ermöglicht ihnen die religiöse und politische Kritik an der Obrigkeit: Die Machtausübung der Elite, die geprägt ist von Nepotismus, Korruption und Meineid widerspricht nun in den Augen der Pietisten den christlichen Werten. Ein Widerspruch, der von äußeren Glaubenszwängen überdeckt wurde. Die moralische Kritik am Staat kann auf religiöser Ebene in den Gegensatz einer innerlichen Gemütsreligiosität zu einem äußeren Glauben aufgelöst werden. Kann ein Staat, der mehrheitlich von Regenten geführt wird, die kein »gottgefälliges Leben« führen, gottgefällig sein? Escher verneint dies in einer rhetorischen Frage: Wann aber lasterhafte Regenten oder doch solche, welche von dem Leben nach dem Geist Christi wenig oder gar nichts wüssen, den ausserlichen Mandaten scharf halten, wie dann gemeiniklich hierin dergleichen die allerstrengsten, damit sie von ebenso heillosen praedikanten ihres Gottseligen Eifers halben gerühmt werdend; was kann man doch hiervon für Segen erhoffen?107

Ein Staat der sich demnach einem äußerlichen Glauben verschrieben hat, kann nach Eschers Sicht auch nur mit äußeren Disziplinierungsmitteln für eine sogenannt christliche Ordnung sorgen. Über die Kritik an den Mandaten als Ausf luss eines äußerlichen Glaubens fand Escher zu seiner in jungen Jahren geübten Kritik an den Schulen zurück. Er habe beobachtet, schreibt er, dass die so scharfen Mandat und das beständige Verklagen der Zuhörer nur von denen [= Geistlichen] harkommt, welche in Lehr und Leben die Blödesten, welche durch äusserlichen Zwang die Leuth wollen gezüchtigt haben, damit sie im Lehren und Unterrichten desto weniger Müeh haben.108

Je schlechter also ein Pfarrer ausgebildet und auf seine Rolle als Vertreter der Obrigkeit im Dorf vorbereitet ist, um so eher greift er zu diesen harten Disziplinierungsmitteln, um die Gemeinde gefügig zu machen. Die schlechten Schulen und die kritisierten Sittenmandate werden in einen Zusammenhang gesetzt. 107 108

Ebd., S. 4/262. Ebd., S. 4/262.

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Die Mandate – hier wurde die Kleiderordnung gesondert herausgehoben – werden von den Pietisten als äußere Disziplinierung d. h. als religiös legitimierter Zwang aus religiösen Gründen abgelehnt. Man mag sich fragen, ob sich in dieser Haltung nicht die oppositionelle Einstellung der »Nachfolger Christi« gegen die Herrschaftsintensivierung des Obrigkeitsstaates spiegelte. Mit Fug darf behauptet werden, dass sie ein Sittenmandat – als Mittel einer Sozialdisziplinierung, oder genauer ausgedrückt als Sozialregulierung – ablehnten. Die Sittenmandate sind dabei nur ein Beispiel patriarchaler Machtentfaltung, welche die Pietisten kritisierten. Sie fochten im Allgemeinen für Toleranz und für die Auf hebung des Glaubenszwangs. Muss diese ablehnende Haltung zwingend als antipatrirachal bezeichnet werden? Genausogut könnte behauptet werden, die Pietisten seien mit ihrer Forderung nach einem inneren Glauben die Wegbereiter eines »aufgeklärten Patriarchalismus«109 und einer verfeinerten Sozialdisziplinierung. Denn das Transportmittel einer religiösen, internalisierten Disziplinierung heißt Moral, gute Werke und Verachtung der »f leischlichen« Welt. Das pädagogische und politische Engagement des Pietismus könnte so als eine transformatorische Bestrebung bewertet werden, die eine soziale Disziplinierung von einer äußeren regulativen in eine verinnerlichte, moralische Disziplinierung überführen wollte. 3.2.4 Der Höhepunkt: Die Burgerunruhen von 1713 Es wäre vermessen, die Burgerunruhen von 1713 einzig als eine Konsequenz pietistischer Reformbemühungen darzustellen. Diesem Eindruck soll hier entschieden entgegen getreten werden. Die Pietisten waren aber maßgebend an der bürgerlichen Opposition beteiligt. In der obrigkeitlichen Reformkommission – einer 22 Ratsmitglieder umfassende Ehrenkommission110 – waren die beiden Initiatoren der Kirchen- und Schulreform, Johann Kaspar Escher [20] und Johann Heinrich Bodmer [6], eingebunden. Parallel zur Regierungskommission wurde eine burgerliche Kommission eingesetzt, die sich mit der Reform des Staatswesens befasste. Unter den 26 burgerlichen Deputierten befanden sich weitere Pietisten oder Sympathisanten, die Eingang in mein Pietistenkorpus gefunden haben: Johann Melchior Füssli [34], Zunftschreiber und Illustrator der Physica Sacra Scheuchzers, Johann Jakob Scheuchzer [144] selbst, der die Deputiertenversammlungen leitete und protokollierte und Sixt Vogel [184], Wirt zum Hecht und Zwölfer der Meisenzunft. Das auffallendste Merk109 Johann Kaspar Escher wird als der reine Vertreter eines aufgeklärten Patriarchalismus bezeichnet: W. G. Zimmermann, Verfassung und politische Bewegung, S 20. 110 Saxer, Die zürcherische Verfassungsreform vom Jahre 1713, S. 47.

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Abbildung 23: Johann Heinrich Bodmer (1669–1743). [ZB Zürich Graphische Sammlung, Bodmer, Hch a. I, 1]

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mal an der Deputiertenversammlung ist der hohe militärische Status ihrer Mitglieder. Zwölf der sechsundzwanzig Mitglieder hatten mittlere oder höhere Offiziersränge inne.111 Es drängt sich daher die Annahme auf, dass Bodmers Offizierscorps – er selbst war Oberbefehlshaber im Zweiten Villmergerkrieg – gegen die Missstände ankämpfte, die im Krieg allzu offensichtlich geworden waren.112 Hier soll nicht auf die Geschichte der Verfassungsreform eingegangen werden,113 sondern ich möchte das pietistische Element innerhalb dieser turbulenten Ereignisse hervorheben. Dazu eignet sich Bodmers Projekt für eine neue Verfassung in hervorragender Weise.114 Ort, Anlass und Zeitpunkt der Rede sind nicht mehr bestimmbar. Möglich ist auch, dass dieser Verfassungsentwurf als Flugschrift zirkulierte. Das Besondere an Bodmers »Project« ist nicht der Katalog der Forderungen – dieser deckt sich in etwa mit jenem der bürgerlichen Deputierten115 –, das Besondere besteht in dessen zusammenhängender Form. Die einzelnen Punkte werden aus einem religiösen – aber nicht theokratischen – Verständnis entwickelt. Bereits einleitend macht Bodmer deutlich, auf welchem staatsphilosophischen Boden er steht: Gott von dem alles herkommt ist allein der umwandel bar[,] der Himel und die Himlische Cörper selbs, welche gleich wol in unveränderter ordnung ihre Bewegungen Seit der welt anfang fort sezen, werden dermahlen eins mit Krachen Zergehen, und die Element vor Hitz Zerschmolzen. Auf dieser Erden ist alles deren veränderung underworffen, kein Cörper so fest, den nit köne aufgelöst werden, keine gesundheit so stark welche, nit wanke kein glük bestendig, keine Regierung so wohl eingerichtet, daß Sie ewig bleiben köne. Selbs ihre beschaffenheit führet sie zum Ende.116

Gott ist das einzig Unwandelbare, sonst herrscht Veränderung in der Natur, ja selbst die Sterne sind nicht für ewig festgefügt auf ihren Bahnen, sie sind ebenso dem Prinzip der Veränderung unterworfen. Was für den Himmel gilt, gilt erst recht für die Menschen und deren Regierungsformen. Mit diesem Weltbild stellt Bodmer ganz auf den Boden des Naturrechts ab, indem er aus der Wandelbarkeit natürlicher Zustände und Ordnungen ableitet, dass auch politische Verfassungen und soziale Organisationsformen nicht ewig Bestand haben. Die Parallelisierung der dynamischen Naturerkenntnis mit der Politik und Geschichte ist eine deutliche 111

Ebd., S. 35 f. Guggenbühl, Zürichs Anteil am Zweiten Villmergerkrieg 1712, S. 25; Hottinger, Die Reformversuche zu Zürich im Jahr 1713, S. 171. 113 Vgl. dazu: Saxer, Die zürcherische Verfassungsreform vom Jahre 1713. 114 ZB Zürich Ms. G 322, Nr. 8, u. ZB Zürich Ms. V 119, Nr. 2. 115 Vgl.: Saxer, Die zürcherische Verfassungsreform vom Jahre 1713, S. 37–42. 116 ZB Zürich Ms. G 322, Nr. 8, S. 73. 112

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Absage an das Gottesgnadentum. Herrschergewalt wird nicht ein für allemal von Gott auf eine auserwählte Elite übertragen; sie ist vielmehr einem steten Wandel unterworfen. Nicht einzig das Dogma der Herrschaftslegitimation wird ins Wanken gebracht: Die gesamte reformierte Neuscholastik, die Konsensusformel, ist angegriffen. Der Rückgriff auf die Astronomie dürfte nicht zufällig gewählt sein, Bodmer schließt so an die Auseinandersetzung seiner Zeit an, die zwischen den Orthodoxen und den Kopernikanern in Gang war. 1721, im Jahr der Verbannung Bodmers, wurde beispielsweise das von Johann Jakob Scheuchzer verbreitete heliozentrische Weltbild erneut als Irrlehre gebrandmarkt.117 Bodmer attackiert schließlich auf politischem Parkett das aristotelisch-ptolemäische Weltbild der Formula Consensus, wonach alles einen festgefügten, unverrückbaren und im Voraus bestimmten Platz von Gott her habe.118 Spannend ist zudem der letzte zitierte Satz, wonach jede Regierung auch die am besten eingerichtete, den Keim ihres Untergangs in sich trage. Er entwirft somit ein Weltbild, dem ein dynamisches Element innewohnt. Enthält diese Passage nicht implizit ein Recht, auf Veränderungen hinwirken zu dürfen, oder sogar ein Widerstandsrecht? Bey so bewandten Sehen ist ein jeder, was Standes er immer seye oder ein glied deß großen Leibes ist pf lichtig so vil ihme stehet, zu rathen, zuhelffen, daß dießer Corruption abgeholffen daß dießere durchgehende krankheit curiert werde durch zulängliche dem Schaden accommodierte Mitel. Welcher nun weißt gutes zu thun, und thut es nicht dem ist es Sünd Jac IV 17.119

Der Jakobbrief dient offensichtlich als Legitimation eines Rechts auf politische Einmischung, das bis zum Widerstandsrecht erweitert werden kann. Grundlegender ist aber die rationale Auffassung des Staates als großen Körper, von dem jeder ein Glied sei. Ein Glied, das nicht nur Untertanenoder Herrscherpf lichten kennt, sondern das zudem verpf lichtet ist, für den besten Zustand des Staates zu sorgen. Es spielt daher für Bodmer keine Rolle, aus welchem Stand eine Person stamme. Als Teil des Staates steht der Bürger in der Verantwortung und in der Pf licht, sich gegen Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen. Welche Mittel dem Widerstand angemessen seien, darüber schweigt sich Bodmer sibyllinisch aus. Dass damit auch bewaffneter Widerstand gemeint sein könnte, ist anzunehmen, zumindest Johann Kaspar Abegg berichtet in seiner Chronik, wie Bodmer in der ersten Wut, die der Freispruch des Bürgermeister Holzhalb vom erhobenen Korruptionsvorwurf ausgelöst hatte, einen bewaffneten Aufstand der Bürgerschaft anzetteln wollte.120 117 118 119 120

Studer, Der Pietismus in der zürcherischen Kirche, S.199. Wernle, Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert, S. 94–97. ZB Zürich Ms. G 322, Nr. 8, S. 76. ZB Zürich Ms. G 23, S. 554.

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Neben dem Bezug auf das Naturrecht sind zwei weitere frühauf klärerische Elemente an Bodmers Entwurf auffallend. Erstens schöpft sich die Legitimation einer Verfassungsänderung aus der Geschichte. Bodmer nimmt an mehreren Stellen Bezug auf die Antike: Größe und Untergang der Römischen Republik werden vergleichend heran gezogen. Das Begehren nach einer Revision der Verfassung stellt Bodmer in die historische Tradition Zürichs. Die Zürcher hätten sich immer wieder das Recht genommen, ihre Konstitution zu ändern, so auch 1336, als in der Brunschen Revolution die Oligarchie in eine »demokratische Aristokratie« umgewandelt wurde. Auch die fünf geschworenen Briefe legen seiner Meinung nach Zeugnis für einen Reformwillen der Zürcher ab. Dieser Geschichtsoptimismus leitet über zum zweiten Punkt, zum dynamischen Prinzip, das uns schon in der Naturbetrachtung begegnete; es wird auch auf die Geschichte übertragen. Und aus dem dynamischen Prinzip werden Forderungen abgeleitet, denn keine Regierung könne so eingerichtet werden, dass sie keiner Änderungen bedürfe: »Es ist der Natur eines jedes Stands [= Staates] angemeßen, daß die Regierung eingerichtet werde nach der beschaffenheit der Zeit […]«.121 Was haben nun diese naturrechtlich rationalen und frühauf klärerischen Überlegungen Bodmers mit dem Pietismus gemein? War Bodmer im Ratsaal ein Verfechter frühmoderner Staatskonzeptionen und zuhause ein eifriger Feierabendfrömmler? Johann Kaspar Eschers Rückgriff auf humanistische Bildungsideale in der Debatte über die Schulreform haben wir kennengelernt, auch Bodmers historisch-dynamische Staatsauffassung orientiert sich an humanistischen Werten. Die Wiederbelebung des Humanitätsgedankens ist auf religiösem Feld geprägt durch den folgenreichen Prozess, in welchem das Dogma durch Ethos ersetzt wurde. Wir haben am Beispiel Johann Heinrich Lochers gesehen, wie das gute Werk zum äußeren Beweis der Wiedergeburt wurde. Dieser Mentalitätswandel kann politische Folgen zeigen: Einmal, weil das gesteigerte Moralverständnis qua neuer Mensch zum Referenzpunkt einer Kritik an der bestehenden Ordnung diente und zudem, weil die religiöse Fokussierung auf die Werkethik auch zum politisch-missionarischen Handeln anleiten konnte. Die Selbstaufforderung zum Wirken in der Welt wurde schließlich noch unterstrichen durch eschatologische oder chiliastische Überzeugungen. Martin Schmidt bezeichnet diese Entwicklung in seinem grundlegenden, geistesgeschichtlichen Aufsatz als Ethisierung.122 Die Umorientierung von einer kollektiv erfahrenen orthodoxen zu einer am Ethos orientierten Religiosität stellte dem Humanismus entsprechend das Individuum in den Vor-

121 122

ZB Zürich Ms. G 322, Nr. 8, S. 76. M. Schmidt, Der Pietismus und das moderne Denken, S. 9–74.

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dergrund. Der Umschwung hat, nach Martin Schmidt, mit der pietistischen Gewichtsverlagerung vom Glauben auf die Früchte des Glaubens eingesetzt. Unablässig gute Werke hervorbringen, das war die Glaubensgrundlage der Pietisten. Martin Schmidt bringt dies auf die Gleichung von Glaube und Wiedergeburt, die im Kern eine ethische Orientierung auf die Wirkung, Leistung und auf das wahrnehmbare Ergebnis fokussierte, als Echtheitskriterium des Glaubens.123 Die Betonung des menschlichen Willen und Vermögens korrespondierte mit der Ethisierung. Auf philosophischer Ebene propagierte beispielsweise Gottfried Wilhelm Leibniz, der selbst dem chiliastischen Pietismus nahe stand, den neuen Denkansatz. Dieser Umschwung der religiösen und kognitiven Grundhaltung konnte auch politische Konsequenzen haben. Dazu nochmals Martin Schmidt: »Der Pietist war geprägt durch sein Bewusstsein, ein Kind Gottes zu sein, und fühlte sich darin der gottlosen Welt überlegen. Aber er überließ sie keineswegs sich selbst – auch wenn er sich praktisch von ihr zurückzog. Vielmehr bedeutete sie für ihn (…) einen Imperativ. Er hatte sie nach dem Willen Gottes umzugestalten, so wie er selbst eine völlige Umwälzung erfahren hatte. Menschenverwandlung war das erste, Weltenverwandlung das zweite umfassende Ziel.«124 Weltenverwandlung durch Erweckung bzw. Wiedergeburt ist größtenteils ein religiös-pädagogisches Projekt im Kleinen. In Zürich versuchten die Pietisten aber anfänglich auch die umgekehrte Strategie, und wirkten direkt in frommer Absicht auf die pädagogischen Einrichtungen und nicht zuletzt auf den Staat selbst ein: Die pietistische Moral wurde so zur Messlatte für staatliches Handeln. Der Staat und die Regierenden wurden an den Taten gemessen und religiös bewertet. Die Missstände der weltlichen und kirchlichen Institutionen beschreibt beispielsweise Johann Jakob Scheuchzer in seiner unveröffentlichten Schrift »Historische und Politische Beschreibung des A. 1713 unternommenen Reformations Geschäfft« sehr ausführlich. Ein längerer Auszug, worin er die Ursachen der Unruhen beschreibt, soll den ethischen Blick verdeutlichen. Auf Seiten des Ministern lag ein wan des Phariseismus stoltze Eigenliebe, gemächlichkeit, […] unwüßenheit, ein halber Papismus oder Hierarchia: auf seiten der Politicoru[m] die Herrschsucht, ehr- und geltgeitz, verderbte Staats raison […]: auf seiten des Volks so dieß fals der unschuldigere theil, allerhand Sünden und Laster. und ist wan wir uns nit bekehren, annoch zufürchten, es werde uns ergehen wie denen ehemals berühmtesten nunmehr zerfallene Griechischen und Römischen Republiquen […]. unsere liebe Altvorderen müßten ihre freÿheiten bestreiten mit dem degen in der faust: Zu und nach der Reformation war unsere Stadt gesegnet mit gelehrten frommen leüthen, und blühete damals allerhand Künste und 123 124

Ebd., S. 25 f. Ebd., S. 32.

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wißenschafften: jetzt aber bemühet man sich mehr umb ehr, reichthum, wollust. […] Die Generositet, gravitet, aufrichtigkeit, ehrlichkeit […] sei so seltsam, das auch hochverständige leuthe verzwif len ob es dergleihen tugenden annoch gebe: wer der reichste ist, ist auch der edelste: die beloohnung wird nit gemesen nach den meriten, sonder nach fründschafft. […] Wegen disem allem obgleich der Geistliche klärlich an tag geleget, das es ihm mehr zu thun umb das einkommen, als umb die rettung der ihme anvertrauten Seelen, das ihme gleich ehemals den phariseern beßer gefalle das außere der Schüßel, als das innwendige, mehr umb die Schale als um den Kern der Religion; obgleich der Politicus in seiner conduite gezeiget, das ihme mehr angelegen des seinigen u der herrschsucht, [… obgleich] die Pfründen, Professiones weltlichen Ehrenstellen mehrmalen zugetheilt worden denen die es nit meritieren. die Kirch u, die Schulen, das Regiment versehen worden mit eiferlosen, unwißenden jungen und unerfahrenen leuthen: […] f lattierte sich doch unser armes Volk immer der Freÿheit, welche aber mehr zu nennen war eine umbra libertatis.125

In seiner parteilichen Darstellung der Burgerunruhen, die Scheuchzer vermutlich kurz nach den Ereignissen niederschrieb, analysiert er den Zustand der Gesellschaft und des Regiments in moralischen Kategorien wie Geldgeiz und Herrschsucht. Er stellt das Staatswesen als marode dar. Die Regierenden seien korrupt und auf den eigenen Vorteil bedacht, die Geistlichen inkompetent und auf eine repräsentable Lebensführung fixiert und das Volk, so schildert er, unwissend und den Sünden ergeben. Einen Ausweg aus dieser »Entehrung Gottes« eröffne nur die Bekehrung. Der positive Bezug Scheuchzers auf bewaffnete Aufstände der Vorfahren lässt vermuten, dass ihm dieses Mittel nicht gänzlich unsympathisch war. Scheuchzer bewertet und misst Regierung und Kirche an ihren Taten und kritisiert und verurteilt sie in sittlicher Hinsicht. Nicht viel anders hört sich die ethische Kritik an der Obrigkeit in Obmann Johann Heinrich Bodmers »Project« an: Gleichwohl hat der allweiße Gott uns eröffnet und durch vielfaltige erfahrungen bekrefftigt die kennzeichen eines auf und ab nehmendens Stands [= Herrschaft] wo die forcht Gottes und liebe zu den Thugenden, wo die Kirchen Ehr, das Stands Ehr ein unpartheysche administration die Justiz die belehrung des guten und die abstraffung deß bösen zum fundament gesezt wird, da muß daß gebäuen zur glückseligkeit aufgebauwet werden, […]. Wo hergegen die forcht und eiffer vor die Ehr Gottes hindergesezt, oder gar mit einem Welt verschreiten Rahmen des Pietismi beleget wird wo die laster den Thron der Tugenden besizen, […] die Iustiz nach den Passionen administrieret, […] die waltende ungerechtigkeit mit dem Mantel des Eids bedecket, […]. Wo im einer Aristocratisch Democratischen Regierung der Despotismus steiget, […] der Bürger hämisch und der Landtman tiranisch gehalten wird. wo die Kirche und Schulen ein verlaßenes Weißlin sind 125

ZB Zürich Ms. V 119, Historisch Politische Beschreibung des A. 1713 unternommen Reformations Geschäffts, S. 27 f.

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[…] da kan beßer nicht je p[roph]ezeit werden alß was die Griechischen und Römischen Republiquen erfahren bey ihrem undergang.126

Auch hier werden die als schlecht empfundenen Zustände und Handlungen der Obrigkeit als Beleg für einen Unglauben interpretiert. Die autokratischen Tendenzen zur verselbständigten und abgehobenen Machtausübung sowie die dabei angewandten Herrschaftspraktiken werden als Beleidigung der Ehre Gottes dargestellt. Wer dagegen mit dem Konzept der ethischen Lebensführung ankämpfe, würde mit dem Schimpfwort Pietist belegt. Johann Heinrich Bodmer und Johann Jakob Scheuchzer kritisieren mit einem moralischen Instrumentarium die Staatsführung. Sie stellen dem ethischen Anspruch die misslich empfundenen politischen Sachverhalte gegenüber. Die Kritiker zeichnen ein Bild einer verkehrten Welt: Den Thron der Tugend habe das Laster bestiegen und die Tugendhaften würden (als Pietisten) beschimpft. Gezeichnet wird eine Antinomie zwischen lasterhaften und tugendhaften Regenten. Eine Gott entehrende Obrigkeit; diese Vorstellung delegitimiert die Staatsordnung. Diese Argumentationsweise unterscheidet sich kaum von der Terminologie der sieben Unter redungen. Auch Scheuchzers Idealstaat orientiert sich an einer »gottesfürchtigen« Obrigkeit. Eine tugendhafte, unparteiische Regierung geht nicht den Privatinteressen der Machthaber nach, sondern sie erhebt – ähnlich wie der Verfasser der Unterredungen – die Glückseligkeit aller zur obersten Aufgabe des Staates. Dieses Konzept einer moralischen Staatsordnung zu »Ehren Gottes« ist Quelle einer ganzen Reihe pietistischer Utopien.127 Wie sieht nun Bodmers Utopie einer Verfassung nach Gottes Willen aus? Bodmer baut sein Reformprogramm auf der bestehenden Verfassung auf und unterteilt seine Änderungen in fünf Punkte. Es handelt sich genau genommen mehr um eine Totalrevision als um eine neue Konstitution.128 1. Der Staatsrat: Er ist die Exekutive im modernen Sinn und ihm unterliegt die Außen- und Innenpolitik: Er wacht als Oberbehörde über die Kirche und die Schulen. Die Kirche ist demnach der weltlichen Gewalt untergeordnet. Die Mitglieder müssen eine natürliche Autorität mitbringen, sollen aber im Verkehr mit den Bürgern freundlich auftreten. Die Staatsräte sind verpf lichtet, die Gesetze gut zu kennen und immer eine Abschrift auf sich zu tragen. Zudem sollen sie immerfort in den Gesetzen lesen, damit sie – in Anlehnung an das Buch Hiob – »lehrnen den Herrn ihren Gott förchten, das Sie alle worth dießes gesätzes und dieße Sitten 126

ZB Zürich Ms. G 322, S. 74 ff. Zu den politischen Utopien vgl.: Baumann, Zwischen Weltveränderung und Weltf lucht. 128 ZB Zürich Ms. G 322, S. 78. 127

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halten, daß Sie dannach Thun«.129 Der Staatsrat ist nach Bodmers Vorstellung die Instanz, die eine Verrechtlichung des Staates einleitet, er untersteht ebenfalls dem Recht. 2. Das Aufsichtstribunal: Die Kontrollinstanz darf als Kernstück des Bodmerschen »Projects« taxiert werden. Sie wacht über die Einhaltung und korrekte Anwendung der Gesetze und wahrt die Rechte der Bürger. Sie setzt der obrigkeitlichen Machtentfaltung Grenzen und schützt die bürgerlichen Freiheiten. Das Tribunal ist das Bindeglied zwischen »Oberen und Underen«, das integrierend wirkt und die Republik stärkt. Die Instanz setzt sich aus sechs Großratsmitgliedern und ebenso vielen fähigen Zünftern zusammen. Diese sind dem Großrat und den Zunftversammlungen jährlich Rechenschaft schuldig. Sie garantieren die Einhaltung der Praktizierordnung (und machen den Eid überf lüssig). Sie wählen geeignete Kandidaten für die Ämter aus und beachten, dass die Posten nach den Verdiensten verteilt werden. Sie amtieren als Beschwerdeinstanz (was schließlich die Zensur in der Synode überf lüssig machen sollte). Sie führen Amtsenthebungen durch, wenn jemand der öffentlichen Aufgabe durch schlechte Amtsführung oder durch Senilität unwürdig geworden ist. Sie heben die Zunftfreiheit der Kauf leute auf und sie kontrollieren nach einem Krieg die Amtsführung der Befehlshaber. 3. Der Finanzrat (Oeconomia Republicae): Dieser Rat besteht aus dem Obmann gemeiner Klöster, den Seckelmeistern und einigen Ratsherren. Diese führen die Staatskasse und zentralisieren die öffentlichen Einkünfte. Der Rat soll auch die Stifts- und Kirchenpfründen verwalten und so die Geistlichkeit von dieser Last befreien. Die Kirchen- und Schulherren könnten dank dieser Maßnahme ihre angestammten Aufgaben besser bewältigen und »in der That zeigen, daß ihr Reich nicht von dießer welt sey«.130 Die Kirchenleute werden aus zentraler Kasse in Geld entlohnt. Der Lohn bemisst sich nach geleisteter Arbeit und nicht mehr nach den ungerecht verteilten Pfründen.131 Das dank rationaler Bewirtschaftung gewonnene Geld soll für die Wohlfahrt verwendet werden. Darunter wird verstanden: a) Gratisbibeln für das Landvolk, und b) die Bereitstellung der militärischen Ausrüstung und Bewaffnung der Bevölkerung durch den Staat. 4. Kirchen und Schulreform: Hier nimmt Bodmer Bezug auf die bereits arbeitende Kirchen- und Schulreformkommission. 129

Ebd., S. 79. Ebd., S. 86. Zur Verf lechtung der Pfarrherren in die dörf liche Ökonomie, vgl.: Gugerli, Zwischen Pfrund und Predigt, S. 96–122. 131 Allein unter den ländlichen Pfarrpfründen gab es auch nach der Revision der Pfrundordnung von 1794 enorme Differenzen: Bäretswil brachte z. B. 242 Stuck ein und Männedorf ganze 62 Stuck. Vgl.: Gugerli, Zwischen Pfrund und Predigt, S. 294–298. 130

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5. Militärisches: In diesem letzten Punkt kommt Bodmer auf seine Erfahrungen als Oberkommandierender im Zweiten Villmergerkrieg zu sprechen. Er fordert einen Kriegsrat, der sich aus sachverständigen Personen zusammensetzen sollte. Dessen Hauptgeschäft ist die Förderung des Milizwesens, die Besetzung der Offiziersstellen mit kompetenten Männern und die allgemeine Hebung der Autorität der militärischen Struktur. Die Reform des Heeres basiert auf der Bewaffnung des Volkes. Abschließend bringt Bodmer sein Reformwerk auf einen Nenner. Mit dem »Project« soll ein wahres Reformiertes Christenthum nebend allerhand künsten und wißenschaften gepf lanzt, der Oberkeit bey ihrer authoritet und die Burger und Landleüthe bey ihrer Freyheiten mainteniert werden, So ist kein Zweiffel, es werde unser Republic Sich angenehm machen bey Gott und den Menschen.132

Das Verfassungsprojekt Bodmers mutet recht modern an. Auch wenn in der Argumentation mehrmals auf die Geschichte abgestützt wird, so ist der Entwurf keinen rückwärtsgewandten Tendenzen verpf lichtet, er wird vielmehr von einer Fortschrittshoffnung getragen. Moderne Züge trägt insbesondere die Forderung nach einer Aufsichtsbehörde über das geschäftsführende Organ. Hier klingen bereits Elemente einer Gewaltentrennung an. Interessant ist einerseits die doppelte Rechenschaftspf licht des Aufsichtstribunals gegenüber ihren Wahlgremien und anderseits die macht- und kompetenzbeschränkende Funktion. Sie setzt die Grenzen des staatlichen Einf lusses fest und verwandelt so den Staat in eine fest umrissene, klar definierte Domäne. Die neue Institution, die Bodmer einführen wollte, wendet sich direkt gegen eine aristokratische Staatsauffassung und weist über sie hinaus. Andere Vorschläge Bodmers sind dagegen sehr wohl mit patriarchalen Vorstellungen vereinbar, so dass nicht generell von einem antipatriarchalen Verfassungsentwurf gesprochen werden kann. Sein Projekt steht aber insofern in Opposition zum Bestehenden, als es auf einen rationalen Staat oder einen aufgeklärten Patriarchalismus hinarbeitet: So zum Beispiel die Rationalisierung und Zentralisierung des Staatshaushalts und die Beseitigung feudaler Pfrundstrukturen, oder aber die Forderung nach einem normativen, schriftlich fixierten (einheitlichen) Recht. Im selben Licht kann auch die Unterordnung der Kirche unter die staatliche Gewalt gedeutet werden, theokratische Überreste werden so einer politischen Kontrolle der Kirche geopfert. Ein weiterer fortschrittlicher Aspekt des Verfassungsentwurfs ist die soziale Verantwortung des Staats. Am deutlichsten kommt dieses Element in der Volksbewaffnung zum Ausdruck. Die Bewaffnung war im alten 132

ZB Zürich Ms. G 322, S. 91.

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Zürich die Aufgabe jedes Einzelnen, der am politischen Leben teilhaben wollte, und somit auch ein Statusmerkmal.133 Eine Bewaffnung durch den Staat würde die Dienstpf lichtigen finanziell entlasten und zu einer Vereinheitlichung der Truppen beitragen. Ihr wohnt demnach ein Moment des sozialen Ausgleichs inne. Dieselbe Funktion soll der Staat nach Bodmers Vorstellung auch in der Entlohnung der Geistlichen übernehmen und Armut unter den Dienern Gottes vermeiden. Ein Staat, der zum Wohlgefallen Gottes und zur Annehmlichkeit der Menschen eingerichtet ist, kann dahingehend interpretiert werden, dass er für das Heil und Glück seiner Bürger zuständig ist. Die Forderung einer sozialen Wohlfahrt, einer »moralischen Ökonomie« im Sinne christlicher Nächstenliebe, ist in Bodmers Projekt jedoch nicht explizit anzutreffen. Alles in allem war dem bürgerlichen Reformwerk wenig Erfolg beschieden. Die Obrigkeit verlegte sich auf eine bewährte Verzögerungstaktik. Die obrigkeitliche Ehrenkommission setzte schließlich ihr minimales Programm gegen die bürgerlichen Deputierten durch und drängte auf einen Abschluss der Arbeit. Den renitenten Zunftversammlungen wurde bedeutet, dass die Geduld der Gnädigen Herren sich erschöpft habe.134 Der hoffnungsfrohe und ehrgeizige, von einer eindrücklichen Mobilisierung in der Bürgerschaft begleitete Reformwille endete in einer beinahe vollständigen Niederlage der Erneuerer. Halten wir zusammenfassend ein paar Elemente aus dem Zusammenspiel zwischen pietistischem Glauben und der Zürcher Reformbewegung um 1713 fest: Politik und Religion waren aufs engste verknüpft. Politisches und religiöses Denken sind nicht zu trennen. Die Eschatologie spielte dabei eine wichtige Rolle; sie war eine Form von politischer Philosophie avant la lettre. Ein Denken, das auf die Zukunft ausgerichtet war und zum Handeln in der Gegenwart anleitete. Das pietistische Politikverständnis in Zürich ging nicht so weit wie die siebenteilige Unterredung zwischen einem Politico und Theologo: Chiliastische Tendenzen – soweit sie überhaupt öffentlich geäußert wurden – erscheinen eher als marginal. Eschatologische Ängste waren aber dennoch ein wichtiger Faktor im frühen Pietismus. Ängste, die sich eher aus einer kollektiv wahrgenommenen, allgemeinen Not der Zeit herleiteten: Spanischer Erbfolgekrieg, Auf hebung des Edikts von Nantes und missliche klimatische Faktoren verursachten Flüchtlingsströme, Hungersnöte und Pestzüge. Diese Not wurde als Strafgericht Gottes aufgefasst und mit gesellschaftlichen und politischen Missständen in der Zürcher Herrschaft in Verbindung gebracht. Der nach Ansicht der Pietisten überall herrschende Unglaube müsse den Zorn Gottes provozieren, 133 134

Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 2, S. 386. Saxer, Die zürcherische Verfassungsreform vom Jahre 1713, S. 69–78.

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Anteil des Pietismus an der Zürcher Verfassungsbewegung 1713

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so dass das bis anhin verschont gebliebene Zürich in den Strudel der kriegerischen Ereignisse gezogen werde. »Verdorbenheit« lautete der Begriff, mit welchem die Pietisten die sozialen Missstände ihrer Zeit abzubilden suchten. Die Angst vor dem hereinbrechenden Strafgericht war ihnen Ansporn zu mannigfaltigen Reformanstrengungen. Die Missstände in Zürich und die politische Situation nahmen die Zürcher Pietisten aber ähnlich wahr, wie sie der theologisch-politische Traktat von Konrad Bröske beurteilte. Die Legitimation zum politischen Handeln speiste sich beiderorts aus derselben Quelle: Biblizismus und Naturrecht. Dies sind die ›wissenschaftlichen‹ und autoritätenfeindlichen – auf eine Bildungselite zugeschnittenen – Mittel, womit Gottesgnadentum und eine auf ewige Zeiten festgefügte Ordnung bekämpft werden. Sowohl die Unterredungen, als auch die pietistischen Politiker in Zürich entwarfen eine religiös-politische Anschauung, die ein Widerstandsrecht stipulierte und die religiös legitimierte Herrschaftsausübung durch ein oppositionelles religiöses Denken in Frage stellte. Ziel dieses politischen Christentums war die Verwirklichung eines idealen Staates. Dieser Vorstellung lag die Identität eines vollendeten Staates und einer vollkommenen christlichen Gemeinde zugrunde. Der Weg zur Realisierung dieses Konzepts führte demnach nicht bloß über politische Reformen, sondern vielmehr über die »Wiedergeburt« und Bildung. Erst wenn über eine verbesserte Bildung die Menschen verändert werden könnten, verändere sich auch die Welt. Der Zürcher Pietismus kann als eine Reaktion auf eine autokratische Machtabschließung und Herrschaftsintensivierung in Zürich betrachtet werden. Die Pietisten opponierten besonders gegen die Machtabschließung, die ein paar wenige, herrschende Familienverbände übervorteilte. Moniert wurde wiederholt die parteiliche und ungerechte Praxis bei der Ämtervergabe, die sich nach familiären Interessen richtete und Kriterien der Qualifikation und des Leistungsnachweises vernachlässigte. Die soziale Gruppe, die nur auf ihre Bildung bauen konnte, sah sich durch das nepotistische Auswahlverfahren in seiner Existenz bedroht. Die Bildungselite verteidigte ihre Interessen in der bestehenden politischen Terminologie, nämlich mit religiösen Argumenten. Die Forderung nach »berufenen Geistlichen« kann im Rahmen eines städtischen Ressourcenverteilkampfs interpretiert werden, als ein Protest gegen die Strategie der herrschenden Kreise, ihre überzähligen Familienangehörigen in den besseren Pfarrpfründen unterzubringen. Indem die wirkliche Eignung als Kriterium bei der Vergabe von Ämtern thematisiert wurde, wurde ansatzweise eine Chancengleichheit gefordert. Eine Opposition gegen den Staat äußert sich primär in einer abweichenden religiösen Haltung. Während eine loyale Haltung zu Obrigkeit und Religion im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert über

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weite Strecken auf kollektiven Gesten beruhte, so erkennen wir dagegen in der religiösen Oppositionsbewegung eine Tendenz zur Individualisierung. Am besten kommt dies im pietistischen Gegensatz von »innerem« und »äußerem« Christentum zum Ausdruck. Ein Gegensatz, der sich in einer praktischen philosophischen Terminologie zwischen wahrgenommener Welt und Ich aufspannt. Das Spannungsverhältnis zwischen »innen« und »außen« füllte die Ethik oder die Ethisierung (das gute Werk) aus. Mit dem »Innen« wird das persönliche Gewissen eingeführt als moralische Instanz eines individuell verantworteten Handelns. Das persönliche Gewissen ist sowohl ein zentrales Moment im Prozess der Individualisierung als auch die maßgebende ethische Richtschnur, an der die Umwelt gemessen, angenommen oder verworfen wurde. Religiös motivierte politische Kritik und persönliches Gewissen sind im frühen Pietismus aufs Engste miteinander verwoben. Dieser vermutlich schmerzlich empfundene und überwiegend religiös rezipierte Gegensatz zwischen »Innerem« und »Äußerem«, zwischen Gewissen und Wirklichkeit ermöglichte und provozierte Kritik. Eine Kritik, die sich moralischer Kategorien bediente. Die Moral, bisher der Politik untergeordnet135, erlaubte nun dem pietistischen Milieu, ethisch begründete Kritik aus dem menschlichen Innern in die Sphäre der Politik und des Staats zu transportieren. Politik wurde nun unter dem Gesichtswinkel des Gewissens betrachtet. Der neue Blick erforderte aber selbständig urteilende Menschen, ein Ziel, das über die Mittel der »Erweckung« und der Schulreform angestrebt wurde. Kritisiert wurden ein zunehmend autokratisch werdender patriarchaler Obrigkeitsstaat und eine barocke Kultur, ohne dass für diese Kritik eine Begriff lichkeit vorhanden war. Die religiös moralische Begriff lichkeit stand für ein noch fehlendes politisches (säkularisiertes) Vokabular. In der Werkethik darf die Summe der frühen kritischen Begriff lichkeit vermutet werden; sowohl die Unterredung wie auch Johann Kaspar Escher legten ein Glaubensbekenntnis über »Gemütsglauben« und Werkethik ab, wenn sie die Obrigkeit kritisierten. Moralisches Handeln wurde zum ethischen Gradmesser der guten Herrschaft.

135

Koselleck, Kritik und Krise, S. 35 ff.

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3.3 Der Weg in die Kontemplation 3.3.1 Der Zusammenbruch: Die Politik der Inspiration Der letzte Reformversuch war im Frühjahr 1716 gescheitert, Johann Heinrich Bodmers [6] politischer Stern danach im Sinken begriffen. Bodmer verstrickte sich im Rat in einen verbitterten politischen Kleinkrieg gegen die Stadthäupter und machte sich allmählich unmöglich.136 Johann Kaspar Escher [20], der zweite politische Protagonist der religiösen Bewegung, saß als Landvogt auf Schloss Kyburg. Sein Vater, Bürgermeister Johann Jakob Escher, hatte es offenbar verstanden, seinen politisch unruhigen Sohn rechtzeitig aus den Konf liktfeldern zu manövrieren. Der politische Einf luss der Pietisten im Rathaus schwand zusehends und es scheint, dass neue Möglichkeiten der Einf lussnahme und des Bekennens zu Reformen gesucht und erschlossen wurden. Rund drei Monate nachdem die Kirchen- und Schulreformkommission abrupt ihre Arbeit eingestellt hatte, kam auf Junker Johann Kaspar Schneebergers Landsitz in Engstringen der »Geist der Weissagung« über Johann Ulrich Giezendanner [39].137 Über diese Inspirationen sagte Bodmer später in einem Verhör, es sei schade, dass die Weissagungen nicht früher stattgefunden hätten, er halte sie für eine Ehre und ein Glück.138 Ganz offensichtlich hielt Bodmer die Inspirationen für eine religiös politische Kraft, von der ein neuer Elan und eine erneute Mobilisierung ausgingen und die dem abgef lauten Reformwillen neue Impulse verleihen sollte. Nur so ist erklärbar, dass die aufgezeichnete dritte Weissagung des Toggenburger Goldschmiedegesellen durch den jungen Theologen Johann Kaspar Ziegler [203] dem Rat zum Verlesen eingereicht wurde. Dies wohl in der Absicht, mittels der göttlichen Eingebung religiös-moralischen Druck auf die Ratsherren auszuüben und das eingestellte Reformwerk erneut in Gang zu setzen. Dementsprechend harsch und nervös reagierte die Obrigkeit: Sie verbannte Ulrich Giezendanner im Handumdrehen ohne ordentliches Gerichtsverfahren und leitete eine umfangreiche Untersuchung gegen seine Glaubensgenossen ein. Die eingesetzte Untersuchungskommission erhielt am 2. Juli 1716 weitreichende Kompetenzen für ihre Verhörtätigkeit.139 Chorherrenstiftverwalter Hofmeister, Mitglied der Untersuchungskommission und ein Scharfma136

ZB Zürich Ms. H 278, [Briefe Johann Kaspar Gwerb an Johann Heinrich Füssli, 9. und 16. Aug. sowie 6. Sept. und 1. Nov. 1715]; ZB Zürich FA v. Wyss III 116 [BM Hans Kaspar Escher d. J. Autobiographie. Aug. 1745], 4. Teil, S. 34. 137 Zur Biographie U. Giezendanners siehe: Studer, Der Pietismus in der zürcherischen Kirche, S. 128–132. 138 St AZ E I 8.1, Akte vom 7. Juli 1716. 139 St AZ E II 56, S. 808.

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cher, bewertete in einem Schreiben an den Bürgermeister vom 21. Juli die Inspirationen nicht bloß als Versuch, die Kirche zu unterminieren, er sah in ihr grundsätzlich einen Angriff auf die Autorität der Obrigkeit.140 Die Obrigkeit nahm demzufolge den politisch-religiösen Charakter der sogenannten »Eingeistungen« sehr ernst. Hoere daß wort des Herrn, du verschlaffenes Volk, ich hab das land durchschauet, und bin rings herum gezogen, u. habe geschauet wie das Volk stehe, sihe da hab ich gefunden, daß es in allen 4 Egken, eingeschlaffen ist, […] und habe gedacht sie sollen sich von meiner donnerstimm auffwecken lassen.141

So beginnt Giezendanners dritte Weissagung. Erneut ist von der »Verschlafenheit« des Volkes die Rede, die »Eingeistung« knüpft an Eschers Feststellung in der Synodalproposition an, mit der 1709 die Reformbewegung in Fahrt gebracht worden war. Der eingedämmte Reformwille der Bürger soll erneut angefacht werden, nochmals soll die Bürgerschaft aufgeweckt und aus der Resignation geholt werden. Die Inspiration kann als politisches Pamphlet gelesen werden. Erneut wird das über Zürich hängende Damoklesschwert des göttlichen Zorns in den farbigsten Tönen geschildert: Krieg, Pest und Plagen drohen. Bisher sei die Eidgenossenschaft in wundersamer Weise verschont geblieben, obwohl das undankbare Volk »mit der garstigen welt huret«.142 Verkehrte Zustände herrschen: [Es] muß was bös ist, gut erkennen u. geheißen werden, u. was gut ist, das muß heuchlerisch u. bös seyn, u. wollen sich nit mehr durch deinen [d. h. Gottes] Geist straffen laßen, sondern dein Geist muß als ein Irr und Teuffels Geist seyn. […] und schauet [ihr Zürcher] ob ein Pharao gewesen der meiner Hand entrünnen, oder ein Belschazar der meinem Zorn hat f liehen, oder ein Nebucadnezar, der meiner macht hett entrünnen können.143

Diese Umwertung aller Werte mag soviel heißen wie, dass in Zürich der »Antichrist« herrsche. Die Herrschaft des Bösen wird für Giezendanner sichtbar, indem dasjenige als heuchlerisch benannt wird, was für ihn als gut gilt: Heuchler wurden im allgemeinen die Pietisten von ihren Gegnern gescholten. Ein Umstand, der anscheinend in besonderem Masse den Zorn Gottes auf Zürich lenken musste. Die neuen Aspekte der Inspiration sind erkennbar am »außerparlamentarischen« Charakter und an der überreizten Sprache, welche den Tonfall sowie den Absolutheitsanspruch der Propheten imitiert. Der Propheten140

St AZ E II 8.1, Akte, 21. Juli 1716. St AZ E I 8.5, III Weissagung, S. 1. Die Inspiration ist abgedruckt in: Hanimann, Zürcher Nonkonformisten im 18. Jahrhundert, S. 329–335. 142 St AZ E I 8.5, III Weissagung, S. 3. 143 Ebd., S. 3, u. 10. 141

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jargon ist dem höheren Geist, der – wie behauptet wurde – über Giezendanner gekommen sei, zuzuschreiben. Die Inspiration enthält mehrheitlich moralische Vorhaltungen und Appelle. An wen richtet sich nun diese Schrift? Empfänger, denen die Weissagung zugedacht war, sind die Regenten, ihnen sollte sie offiziell verlesen werden. Die Gnädigen Herren werden auch mehrmals direkt angesprochen und scharf kritisiert: So hoeret, hoeret, ihr Häupter dieser Statt u. Landschafft u. in der Eidgenoschafft, wie stehets bey Eüch? Ihr trettet ein als Götter und Herren daß Landts, aber was habt ihr für einen Gott zu eürer Herrschafft, ist nicht bey eüch allso, wie bey den meisten, meisten lehrern, daß ihr eüren bauch zu Gott machen? […] mit großem hochmuth laß ihr die sünden auff den gaßen ausruffen, geht auff die gaßen, so werden ihr zu statt und land finden das alle tüffels-pfihl.144

Den Regenten wird eine eigenmächtige und selbstherrliche Machtausübung vorgeworfen, die sich an ihrem Bauch orientiert, d. h. eine Herrschaft, die auf den eigenen Vorteil der Regierenden aus ist. Die Inspiration lastet die Verantwortung an allem Elend bzw. an allen Sünden den hochmütigen und eigennützigen Regenten an. Nicht einzig die Stadthäupter sind berücksichtigt worden, in zweiter Linie richtet sich die Inspiration auch an die Geistlichkeit. Weniger gewählt und diplomatisch ist die Wortwahl, wenn letztere direkt angesprochen wird: So hoeret nun mein wort ihr tummen stockdiken Erdenklumpen, wo ist eüer liecht? ist es nicht in die finsternuß zerfallen, daß ihr nur um lohn willen predigen, u. mein werk führen wollen.145

Wiederholt wird hier die bereits bei Breckling und Hoburg formulierte pietistische Kritik, wonach Geistliche auch ohne innere Berufung zum Seelsorger ins Amt eingesetzt würden. Politisch gesehen kommt in diesem Anwurf erneut die Sorge der Bildungselite um den Erhalt ihrer Chance auf einen Aufstieg oder um ihre Statuswahrung zum Ausdruck. Die Pietisten sahen anscheinend ihre Möglichkeiten durch überzählige Oberschichtskinder bedroht, die im Theologenstand placiert wurden und die tendenziell erst noch die einträglicheren Pfründen besetzten.146 Dass solche Töne in der Obrigkeit keine wohlwollende Aufnahme fanden, erstaunt nicht. In der Bürgerschaft und unter den Landleuten dürfte die Weissagung vielerlei Emotionen geweckt haben. Die angedrohte Katastrophe, gepaart mit göttlichen oder prophetischen Mahnungen aus dem »berufenen« Mund des Goldschmiedes, trafen wahrscheinlich die Angst 144

Ebd., S. 9. Ebd., S. 5. 146 Zum Verhältnis der Stellung des Vaters zur Karrierechance seines geistlichen Sohnes vgl.: Gugerli, Zwischen Pfrund und Predigt, S. 177 f. 145

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und Endzeiterwartung enttäuschter und desillusionierter Menschen.147 Eine breite und positive Rezeption der Inspiration in der Öffentlichkeit ist allerdings nicht feststellbar. Dies braucht aber noch nichts zu bedeuten, wenn man bedenkt, dass die Verfolgung der Anhänger Giezendanners voll zum Tragen kam und einzig Bodmer sich getraute, öffentlich für den Inspirierten einzustehen. Beispielhaft für die eschatologischen Befürchtungen steht Johann Jakob Schulthess [153], der einen folgenschweren Brief an Bürgermeister und Räte richtete.148 In diesem Schreiben klagt er die Hohen und Gnädigen Herren an, da sie Giezendanner entgegen aller Gepf logenheiten ohne Prozess des Landes verwiesen hatten. Der junge Theologe vergleicht den Inspirierten mit den Aposteln. Letztere seien aber, als ihre Predigten bei der heidnischen Obrigkeit Empörung hervorgerufen hätten und als sie Aufrührer gescholten worden seien, nicht ohne ordentliches Verfahren weggewiesen worden. Schulthess betrachtete Giezendanner als ein »auserwehlt[es] Rüstzeug Gottes«. Diese Einschätzung der Inspiration ist für Schulthess verknüpft mit eschatologischen Ängsten. Er sieht in den Inspirationen den Willen Gottes, der in Opposition zum bestehenden Regiment auf eine ›gottgefällige Ordnung‹ dringt: Ich bitte um Gottes Willen zuüberlegen, ob dieß nit erschreckliche Verantwortung und Gericht nach sich ziehen werde. […] Und der Irdische schaden, der Ihmme dardurch zugefügt wird zugeschweigen, wird nicht dardurch das Gute, das Gott durch Ihmme im Vatterland Gute wird können gestöret und gedämpfet?

Schulthess glaubt schließlich, daß mann sich nit so stosße an seiner [= Giezendanners] persohn, sondern an den Herrn, desen Glied und dinner Er ist.149

Johann Jakob Schulthess sah sich offenbar gezwungen, seine Angst, dass mit der gesetzeswidrigen Verbannung der Zorn Gottes erst recht über Zürich hereinbrechen werde, der Obrigkeit mitzuteilen. Er war bereit, für seine politisch-religiöse Überzeugung Kopf und Kragen zu riskieren. Die Obrigkeit im Gegenzug war nicht bereit, sich als Gegner des Christentums darstellen zu lassen. Sie erstickte den erneuten Oppositionsgeist im Keim und schlug zu: Die Gnädigen Herren organisierten eine symbolische Ketzerverbrennung und beschlossen am 11. Juli 1716, dass der Brief in einem 147

Matthias Benad hält die politische Niederlage des Pietismus für einen wichtigen Faktor, der zur Entstehung der Inspirationsbewegung beitrug. Das Unvermögen, reformierend auf die Kirche und die Welt einzuwirken, förderte einen ekstatischen »perspektivlosen Endzeitglauben« und die Neigung zum Quietismus. Vgl.: Benad, Ekstatische Religiosität und gesellschaftliche Wirklichkeit, S. 159. 148 St AZ E I 8.5. Die Kopie des Schreibens datiert vom 11. Juli 1716. 149 Ebd., Akte vom 11. Juli 1716, S. 4 f.

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Kästchen versiegelt auf dem Schiffsmarkt verbrannt werden sollte, Schulthess wurde auf Lebzeiten aus Zürich verbannt.150 Die Frage hingegen, inwieweit den Inspirationen göttlicher oder prophetischer Charakter zukam, war für viele Zürcher Bürger damit noch nicht geklärt. Zur selben Zeit wurde in Marburg der aus Zürich stammende Professor Johann Heinrich Hottinger [67] seines Lehrstuhls für orientalische Sprachen enthoben. Er war zuvor vom hessischen Landgrafen aufgefordert worden, seine theologischen Bedenken über die Inspirationen zu Papier zu bringen.151 Anlass für diesen Erlass war Hottingers Freund Ulrich Giezendanner, der um 1714 auf Besuch in Hessen geweilt und seine erste »Eingeistung« empfangen hatte. Der Professor drückte sich sehr diplomatisch aus, konnte aber seine Sympathie für die Inspirationen nicht verbergen. Als erstes verneinte er die orthodoxe Meinung, dass es im Zeitalter des Neuen Testaments keine Propheten und Weissagungen mehr geben könne. Nur fromme Menschen – er zeichnet das Idealbild eines Pietisten – seien in der Lage, zwischen wahren und falschen Propheten zu unterscheiden. In den heutigen Inspirationen – er nennt Rock, Gleim, und Gruber als Beispiele – sehe er keine gottlosen Betrüger, sondern in der Lehre rechtschaffene Menschen, die auch nicht gegen die Obrigkeit seien, die einzig ein gottgefälliges Regiment verlangten. Versöhnlich meint er, man solle am überlieferten Wort Gottes, genau wie dies die Inspirierten fordern, festhalten und so der »grassierenden Gottlosigkeit« entgegenwirken.152 Der Zürcher Obrigkeit war es ein vordringliches Anliegen, die Inspirationen als Betrug darzustellen. Die Verhörstrategie war so angelegt, dass die Ankläger versuchten, den Anhängern Giezendanners ein Bekenntnis gegen dessen angeblich göttliche Offenbarung abzuringen. Bodmer beispielsweise wurde in mehreren Verhören mit der Frage, was er von den Weissagungen halte, bedrängt. Seine sibyllinische Antwort – er wolle nicht urteilen, denn man versündige sich am wenigsten, in dem man anerkenne, dass Gott Veränderungen in der Kirche vorhabe und niemand kenne Gottes Absicht153 – konnte die orthodoxe Seite alles andere als befriedigen. Die Haltung des Winterthurer Stadtpfarrers und Pietistenjägers Franz Wirz ist dafür beispielhaft. Er meinte, Gott äußere sich nicht mehr durch Inspirationen, denn er habe dieses Mittel seit dem 3. Jahrhundert 150

St AZ E II 56, S. 843. HISTORIA FACTI | oder | Kurtze und wahrhaffte Erzehlung/ | Was sich mit | Joh. Heinrich Hottingers/ | Gewesenen Professoris Theol. & Antiq. Jud. | Ordinarii bey der Heßischen Universität | zu Marpurg/ | Theologische Bedencken | von denen Ausserordentlichen Offenbahrungen | insgemein | und von | Einigen heutigen so genannten Inspi rierten | ins besondere/ | Welches er auff wiederholten Hochfürstlichen | Befehl auffsetzen müssen/ | zugetragen, [Anonym,] o. O. 1717 [ZB Zürich Ms. S 278, Nr. 44]. 152 Ebd., S. 11–21. 153 St AZ E I 8. 1, Akte 6. Juli 1716, S. 9. 151

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nicht mehr nötig. Die Kirche stehe auf festem Fuß, der Kanon der Schrift sei seither komplett, und es gebe christliche Obrigkeiten.154 Doch genau in der Vorstellung, Obrigkeit und Kirche seien auf einem starren christlichen Fundament festgefügt, war eine Ursache für die Inspirationen. Obmann Bodmer erkennt in ihnen zu Recht den Wunsch nach Veränderung als die Kernaussage. In Zürich stießen nachweisbar die beiden deutschen Inspirierten Gruber und Gleim auf große Resonanz. Die beiden Handwerksgesellen stiegen zuerst im November 1716 in Winterthur im Hause Dr. Hegners [52] ab und weilten dann über den Jahreswechsel in Zürich. Hier kam mehrmals der »Geist der Weissagung« über sie. Dorothea Meyer von Konau [103] berichtete in ihrem Verhör vom 5. Januar 1717, es seien viele Leute in der unteren Stube anwesend gewesen, als sie ihren Bruder Junker Schneeberger [149], bei dem die zwei Gesellen logierten, besuchte.155 Vermutlich ging die Resonanz der erneuten Inspiration über den inneren Kreis der radi kalen Pietisten hinaus und traf den Geschmack der Zeit. Selbst Julius Studer kann seine Sympathie für die Inspiration nicht verbergen und schreibt: »Auf 8 Folioseiten wird in blühender, prophetisch-apokalyptischem Style, in wirklich hübscher, bilderreicher Sprache eine bittere Wehklage erhoben über das Schauthal d. h. die Schweiz ihre Berge und Einwohner«.156 Die Weissagung Adam Grubers hört sich folgendermaßen an, hier ein kleiner Ausschnitt: Ist dann noch kein End des zornes, wann sie werden in ihrem Blut liegen, wann die grosse seuchen eine unzählige menge der Tochter des Schauthals wird aufgerafft haben, so wird man antworten: Nein, es ist kein auf hören bis dass der Grimm des Herrn Zebaoth follendet hat, was er hat verkünden lassen, durch seinen Geist den Prophetischen; Weinet ihr Töchter, die Ihr zu den Schwanen gehöret, die die federn sind ausgerupft, die Flügel sind abgeschnitten, der Schlächter bringet das Schwert, dass er den hals gar abhaue, und sie werden rufen: O du Schwert des Herrn, wann wilt du doch auf hören zu fressen.157

Das Motiv der in düsteren Farben geschilderten Strafe Gottes zieht sich durch die gesamte Inspiration. Reale Bezüge zur politischen und kirchlichen Situation, wie sie bei Giezendanner noch in Ansätzen vorhanden waren, fehlen nun gänzlich. Der Verlust der konkreten Kritik wird durch eine Übersteigerung ins Apokalyptische kompensiert. Die Inspiration von Johann Adam Gruber wurde am 1. Januar 1717 der Obrigkeit eingereicht. Mit dieser Inspiration hatten sich die pietistischen Erneuerer politisch endgültig ins Abseits manövriert und auch spalten las154

Studer, Der Pietismus in der zürcherischen Kirche, S. 150. St AZ E II 56, S. 914. 156 Studer, Der Pietismus in der zürcherischen Kirche, S. 152. Er gibt die Inspiration ungekürzt wider: S. 152–160. 157 Zitiert nach: Studer, Der Pietismus in der zürcherischen Kirche, S. 154 f. 155

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sen. Symptomatisch hierfür ist das medizinische Gutachten, das der Rat bei Dr. Johannes von Muralt [107] über die Inspirierten einholte. Der Stadtarzt und Leser pietistischer Traktate distanzierte sich von den Inspirationen in äußerst differenzierter Weise. Er bezeichnete sie als Einbildung, die von der intensiven Beschäftigung mit religiöser Mystik herrühre. Das Grundübel aber – und hier offenbart er seine pietistische Haltung – liege im schlechten Zustand der Kirche. Zusätzlich propagiert er eine pietistische Forderung: Um dem »Müßiggang dieser Laienpriester« abzuhelfen, sei eine Arbeitserziehungsanstalt einzurichten, die Inspirierten würden so wieder auf andere Gedanken kommen.158 Die Obrigkeit reagierte diesmal viel gelassener als noch ein halbes Jahr zuvor. Sie leitete eine neue Serie von Verhören ein und gab ein Pietistenmandat in Auftrag.159 Mit den Inspirationen hatte die Obrigkeit ein zusätzliches Mittel in die Hand bekommen, das es ihr erlaubte, mit Repressalien gegen die unliebsamen Oppositionellen vorzugehen. Abschließend ist zu bemerken, dass sich parallel zu den Inspirationen eine Absonderung der »wahren« Gläubigen von der »verfallenen« Kirche bemerkbar machte. Protagonist dieser Richtung in Zürich war allen voran Johann Jakob Schulthess. Noch vor 1716 meinte Bodmer zu ihm, er solle in der Kirche bleiben, dort könne er mehr ausrichten.160 Doch die Hoffnung auf eine Verbesserung in Kirche und Regiment war nach 1716 bald aufgezehrt und eine apokalyptische Endzeitstimmung gewann mit den Inspirationen an Bedeutung. Bei dieser Stimmungslage kann eine Neigung zur Separation von der Kirche nicht erstaunen. Wird das nahe Gericht Gottes prophezeit und war die Möglichkeit, Gottes Zorn mittels Reformen abzuwenden, vertan, so ist die Separation nur noch eine logische Folge. Die Separatisten sahen sich als »Kinder Gottes«, die nach Israel heimkehren,161 und die die als »hüerisches Babel«162 gescholtene Kirche verlassen wollten. Die Separation war vermutlich bei den Wenigsten ein bewusster Prozess, und die separatistische Tendenz wurde zu einem großen Teil durch die obrigkeitliche Repression gefördert. Selbst bei Johann Heinrich Bodmer kann zwischen 1716 und 1721 die allmähliche Abwendung von der Kirche beobachtet werden. Die separatistischen Neigungen kristallisieren sich bei ihm an der Abendmahlsfrage. Sie war 1716 in den ersten Untersuchungen noch kein Thema; fünf Jahre später ist sie 158

ZB Zürich Ms. E 139, S. 31. Unter den pietistischen Geistlichen propagierten besonders Johann Jakob Ulrich und Andreas Pestalozzi, der Großvater des Pädagogen, die Arbeitserziehungsanstalt als Instrument sittlicher Besserung. 159 St AZ E II 56, S. 931. 160 St AZ E I 8.1, Akte 6. Juli 1716, S. 10. 161 Vgl. Bodmers bevorzugtes Bibelzitat: Esra 5.11–16. 162 Johann Jakob Schulthess, Brief an die Obrigkeit: E I 8.1, Akte 11. Juli 1716.

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Pietismus und Politik

aber zentraler Punkt der Befragungen. Im Verhör vom 10. Juli 1721 gab Bodmer auf die Frage, wieso er nicht an der Kommunion teilnehme, zu Protokoll (– ich zitiere nochmals): Die ursach seines ausbleibens rühre aus keiner Verachtung; sondern aus großem Respect gegen […] Jesu und dem H. Abendmahl her; Er gewahre beÿ der Communion eine große Profanation, die Ihme Scrupel erweke, dann wan der Apostel sage 1 Cor. 5:11. man solle mit einem solchen Bruder der ein Hurer, oder Geiziger oder Gözendiener, oder Lästerer, oder Vertrunkner, oder Räüber, auch nur nicht eßen.163

Die Kritik der Verdorbenheit staatlicher sowie kirchlicher Institutionen wird hier ins Rituelle verlegt. Bodmer verweigert die gemeinsame Kommunion mit Exponenten der »sündigen und gottlosen Welt«. Die Abendmahlsverweigerung ist so gesehen eine symbolische Ablehnung der herrschenden gesellschaftlichen Zustände.164 3.3.2 Abgrenzungstendenzen im Pietismus: Radikale und Gemäßigte Traktate haben wie Bücher ihre Geschichte. So auch das (angeblich) 1700 unter einem Pseudonym erschienene Traktat Wohlgemeints Send=Schreiben an die heutigen so genanten Pietisten165. Elf Tage waren vergangen, seitdem die Pietistenkommission mit den Sondervollmachten ausgestattet wurde, da ereilte am 13. Juli 1716 ein Ratsbeschluss den Buchhändler Johann Jakob Gessner. Die obrigkeitliche Erkenntnis hielt fest, er habe das »bedenkliche« Traktat ohne Zensurerlaubnis gedruckt, die sechzehn Jahre zuvor erschienene Auf lage sei im Rathaus abzuliefern. Weitere Untersuchungen wurden angekündigt, insbesondere interessierten sich die Gnädigen Herren für den anonymen Autor.166 Bereits einen Tag später schrieb der eingeschüchterte Buchhändler an den ermittelnden Examinator Hofmeister, die Ratserkenntnis habe ihm »hurtige füß« gemacht und er habe als Autor den erfahrenen Berner Theologen Johannes Altmann aufgespürt.167 163

St AZ E I 8.2, Brief Antistes Nüscheler an den Amtsbürgermeister, 10. Juli 1721. Sieht Kap. 1.3.2.4. Die These von Hans Schneider, wonach die Abendmahlsverweigerung als eine Durchbrechung der Sozialkontrolle zu interpretieren sei, lässt sich nicht bestätigen. Vgl.: Schneider, Der radikale Pietismus, S. 150. 165 Altmann, Wohlgemeintes | Send Schreiben | An | Die heutigen so genanten | Pie= tisten/ | In der gesamten Evangeli=|schen Kirchen/ | Von ihrem vertrauten Freund/ | Simon Nathaniel, Zürich (David Gessner) 1700 [ZB Zürich Ms. S 277, Nr. 67]. 166 Die Obrigkeit vermutete hinter dem Pseudonym den Zürcher Professor für Griechisch und Philosophie und streitbaren Cartesianer Johann Heinrich Schweizer (1646– 1705). Schweizer stellte aber nur den Kontakt zwischen David Gessner und Johannes Altmann her. St AZ E I 23.1, Akte 14. Juli 1716. 167 Ebd., Akte 13., 14. u. 22. Juli 1716. 164

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Der Weg in die Kontemplation

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Was hat es aber mit diesem »bedenklichen« Sendschreiben auf sich? Das Traktat ist eine Auseinandersetzung mit dem radikalen Pietismus aus gemäßigter, innerkirchlicher Sicht. Es richtet sich explizit an die Radikalen und fordert sie zur Mäßigung auf, macht ihnen jedoch ein Zugeständnis, wenn es um die Ursachen ihrer Radikalisierung geht. Altmann setzt sich dialogisch mit den innerpietistischen Differenzen auseinander: Ich gestehe euch bevorderst/ daß ihr und wir grosse Ursach haben über den erbärmlichen Verfahl unserer Evangelischen Kirchen bittere Thränen zuvergiessen/ und nicht nur ein kalte Klag über unsere allgemeine Verderben zuführen/ welches letztere gewohnlich auch von den Heuchlern/ die etwas Liechts haben/ zugeschehen pf legt. Es ist ja leider nur allzuwahr/ daß die Verderbnus in allen Ständen under uns herschet; daß Stoltz/ Hochmuth/ Eigennutz/ Partheylichkeit/ Meineyd/ Unbarmhertzigkeit/ Trägheit/ Schwelgerey und Uberf luß bey vilen Gewaltigen und Fürnemen über hand genomme; daß bei vilen Predigern die Hauss=sorgen/ der Neid/ die Vorurtheil/ der Ehrgeitz/ die weltlichen Beschäfftigungen/ die Unwüssenheit/ die Schmeicheley/ die Lieblosigkeit/ die Menschen= forcht und andere unanständige Sachen allzuklar hervorscheinen/ folgends ihr Ordinarj=Predigamt tod/ krafft= und leblos machen; daß in gemeinem Handel und Wandel eine tumme Unerkantnuss/ irrdische Gesinnenheit/ wenig Glauben/ eine erkaltete Liebe/ lauer Gottesdienst und vil ärgerliches Wesen in Worten gehöret/ und in Werken gesehen wird.168

Mit diesen Worten beginnt der Gemäßigte sein Traktat und stellt vorerst eine gemeinsame pietistische Basis her. Auch er vertritt die Meinung, dass in allen Bevölkerungsschichten die Missstände überhand nähmen, und legt den ethischen Maßstab als Richtmass des Glaubens an die Handlungen der Würdenträger in Kirche und Staat an. Ganz allgemein verurteilt er die Adaption einer barocken und höfischen Lebensweise. Von dieser gemeinsamen Einschätzung leitet Altmann zu den Differenzen im Pietismus über: Zur Trennung von der Kirche gäben nicht einzig die »Verderbnuß« der Kirche Anlass, sondern auch die radikalen Pietisten selbst. Der Fehler sei daher auf beiden Seiten zu suchen. Der Fehler der Radikalen liege darin, dass sie »in ihren Reden und Schrifften mehr auf die Werck=heiligkeit/ als auf den Glauben/ mehr auf die Heiligung als auf die Gerechtsprechung mehr auf das Leben/ als auf die rechte Erkantnus getrungen haben«169. Vorgeworfen wird den Radikalen, dass ihr Glaube zu stark auf die diesseitige Welt gerichtet sei. Sie suchten offenbar in übertriebenem Masse ihren Glauben mit dem Leben in Einklang zu bringen und orientierten sich mehr an der Werkethik als an der Rechtfertigungslehre. Ein diesseitiger, ins Ethische gewandter Glaube ist letztendlich auch politisch. Und Altmann fragt rhetorisch, ob nicht die Radikalpietisten 168 169

Altmann, Wohlgemeints Send=Schreiben, S. 3 f. Ebd., S. 7 f.

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Pietismus und Politik

an ihrer Verfolgung selbst die Schuld trügen, »sind nicht etliche in allzuhitzigem Eifer so weit gefahren/ daß sie in liebloses Splitter=richten ihres Nächsten/ in Verwerffung des Predigamts/ in ungezimmliches Lästern der Regenten und Oberkeit ausgebrochen?«170 Vorgehalten wird hier den Radikalpietisten ganz allgemein ihre politische Einmischung. Im besonderen wird ihr Anspruch, Moral und Politik zu vereinen, als eine kleinliche ›Suche nach dem Splitter im Auge des Nächsten‹ abqualifiziert. Ethischmoralische Ansprüche dürfen sich demnach nur nach innen, nur auf die eigene Person richten und nicht zum Maßstab der Welt erhoben werden. Altmann propagiert im Gegenzug einen pietistisch motivierten politischen Absentismus, eine Art Quietismus im landläufigen Sinne. Er versagt einem Pietisten das Recht, sich in politische Händel einzulassen: Wo aber an seiten der Oberkeit in dem Kirchen=Regiment allzuweit gegangen oder underlassen wird/ so können zwar die Glaubigen um Verbesserung des Mangel hafften gebührlich anhalten/ jedoch ist ihnen nicht erlaubt im fahl nicht erfolgter Aenderung Gewalt zubrauchen/ und Unruh anzustellen/ die Gemeind zuverwirren,

stattdessen sollen sie Demut und Bescheidenheit walten lassen und darauf achten, daß sie ein still Leben führen/ und das ihrige schaffen/ und ihre Seeligkeit würken mit Forcht und Zittern/ auff daß sie seyen untadelich und ohne falsch/ und unsträff liche Kinder Gottes/ mitten under dem ungeschlachten und verkehrten Geschlecht/ under welches sie leuchten als Liechter der Welt.171

Der gemäßigte Pietismus vertrat in der Altmannschen Variante ein politisches Stillhalten, einen Rückzug auf die eigene Person angesichts der Verdorbenheit der Welt. Einen Rückzug in die innere Emigration? Selbst die Werkethik, die auch als ethisches Eingreifen in die Welt ausgelegt werden konnte, verändert so ihren Charakter. Sie mutiert zum untadeligen, ehrlichen und stillen Schaffen.172 Nicht viel anders äußerte sich der tendenziell gemäßigte Pietist Johann Jakob Ulrich [178] in einer mutigen Predigt. Am 17. April 1717 mussten alle Pfarrer das Pietistenmandat auf der Kanzel verlesen. In Anschluss an den obrigkeitlichen Erlass verteidigte der Waisenhauspfarrer und Ethikprofessor in seiner Predigt die Pietisten. Die Kanzelrede stieß in der Zuhörerschaft auf große Aufmerksamkeit. Die anwesenden Johann Kaspar Escher [20] und Johann Heinrich Füssli [32] dankten Ulrich am Ende des 170

Ebd., S. 10. Ebd., S. 34 f. 172 Wie spätere Generationen von Pietisten sich politisch passiv verhielten zeigte Lehmann, Der politische Widerstand gegen die Einführung des neuen Gesangbuches von 1791 in Württemberg, S. 247–263. 171

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Der Weg in die Kontemplation

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Gottesdienstes und ermunterte diesen zur Publikation der Predigt, die das obrigkeitliche Mandat relativierte.173 Ulrich kritisiert die radikalen Pietisten mit großem Verständnis, und erblickt in der Verdorbenheit der Kirche die primäre Ursache der Inspirationen: […] das Haus und Wort Gottes wird profaniert […]. Dieses brichet vilen unrühigen Geistern den Mund auf. Darbey nemmen die heutigen Sönderlinge und Separatisten/ die neuvorgegebene Jnspirierten und Propheten Anlaaß/ unsere Kirch/ dises kranke Zion Gottes gar als ein unheiliges Babel und urchenes Sodom liebloser und undankbarer Weis zu verschreyen/ und sich von selbigem als einem solchen abzuschräntzen/ und auch andere zu einer solchen Abschräntzung zu persuadieren.174

Die Schuld an den Inspirationen und an den separatistischen Tendenzen trägt nach Ulrichs Meinung die Obrigkeit. Den Radikalen wirft er lediglich vor, dass sie sich nicht mehr um die Heilung der kranken Kirche kümmern wollten. In Anbetracht des schlechten Zustandes der Kirche seien die separatistischen Absichten verständlich, aber nicht begrüßenswert, denn es sei vorerst nötig, die »stinkenden Wunden« der kranken Kirche zu verbinden, statt sie zu »verschreyen«. Aus Ulrichs Predigt spricht deutlich die Angst vor einer Separation, was zur Folge hätte, dass sich die Erneuerer zu einer eigenständigen Gruppe zusammenschließen und somit der obrigkeitlichen Kirche das Reformpotential entziehen würden. Das große Verständnis des Waisenhauspfarrers für die radikalisierten Pietisten kontrastiert mit seiner harschen Kritik an der Obrigkeit. Er geht mit dieser ins Gericht, da sie nur Symptome und nicht die Ursachen bekämpfe. Sol diesen unrühigen Geistern der Mund dießfals gestopft, und geholffen werden, so ist […] zwar nöthig daß die Vätter des Landes anfangen vor des könftig ihren hohen und herrlichen Stand rein und unbef lekt zuhalten […] [und] vorgehen mit einem heiligen und gottseligen Exempel.175 173 Ulrich, Balsam und Artzet in Gilead/ | Das ist/ | Christliche Gedanken | Uber | Die sicherste Weiß/ der heut zu Tag allent-|halben grossen Verdorbenheit abzuhelffen/ | Und das | Kranke Zion Gottes | Zu den Stand einer erwünschten Besserung zu bringen/ | nach Anleitung der Worte des Propheten Jeremiae/ | In seiner Prophecey Cap. VIII V. 22. | Ist dann kein Balsam mehr in Gilead? Ist kein Arzet da-|selbst? Warum nimmt dann die Besserung meines Volks | nicht zu? | Zu einer einfaltigen Predigt/ bey Anlaß eines wider die | Neu=entstandenen Inspirierten/ Separatisten/ | Pseudo=Pietisten/ | Verlesenen Hoch=Oberkeitlichen Mandats/ | Sonntags den 17. Aprilis 1717 ab offentlicher Canzel | in der Kirchen des Wäisenhauses vorgestellet, Zürich (Hardmeyer) 1717 [ZB Zürich Ms. S 278, Nr. 119]. Die Predigt wurde 1737 erneut bei Bürkli in Zürich nachgedruckt. Im Folgenden wird nach der zweiten Auf lage zitiert [ZB Zürich VI 155]. 174 Ebd., S. 7. 175 Ebd., S. 11 f.

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Pietismus und Politik

Der Ethikprofessor hält damit den Hohen Herren in Kirche und Regiment einen Spiegel vor. Erst gegen Ende seiner Predigt wendet er sich an die Radikalen und Anhänger der Inspirierten und bittet sie inständig zur Mäßigung: Wir finden in so vilen Gleichnussen ihrer göttlichen Schrifft niemahlen [die Kirche] abgemahlet under der Platonischen Ideen eines Engelreinen Reichs, sondern als ein Reich in deme bona mixta malis [ist]. […] In deren uns also so vil unsträf liche, und einfaltige, und untadenliche Kinder Gottes, mitten under den ungeschlachten und verkehrten Geschlecht dieser Welt aufzuführen, auch unter selbigen als so vil Liecht der Welt zuscheinen, […] und unser Liecht nach Befehl des Herrn Jesu vor anderen Menschen leuchten zulassen, damit sie unser gute Werck sehen, und unseren Vatter im Himmel preisen […] auch so lange vor den Thoren seiner Gnade uns nider zulassen, und vor die Verbesserung der Lucken der zerfallenen Hütten Davids ihne anzuf lehen, biß es ihme gefallt seine Kirche selber zu säuberen.176

Ulrich fordert die radikalen Pietisten auf, sich von ihren Idealvorstellungen einer Gesellschaft zu verabschieden. Sie sollten passiv warten, bis Gott selbst die Kirche und Gesellschaft zum Besseren wende. Aufgabe der Pietisten ist es nach Ulrich, still und demütig mit guten Werken in einer schlechten Welt als Beispiel voranzugehen. Ulrich fordert letztlich den Abschied von den Utopien und die gänzliche Verlegung der Frömmigkeit ins menschliche Innere. Es scheint mir fraglich, inwieweit der Begriff radikaler Pietismus einzig auf separatistische Tendenzen anwendbar ist. In der radikalen Richtung des frühen Pietismus schwingt ein gerütteltes Maß an politischer Radikalität mit. Politische und kirchliche Radikalität stehen im untersuchten Zeitraum in einem organischen Verhältnis. Erst nach dem Scheitern der Reformbestrebungen transformieren sich schließlich die religiös-politischen Überzeugungen in eine außerkirchliche Tendenz. Der Appell Ulrichs kam nicht von ungefähr. Vermutlich zogen sich viele Pietisten nach dem Scheitern ihres Reformvorhabens resigniert aus der »verderbten Welt« zurück. Die enttäuschten (chiliastischen) Utopien und Hoffnungen der Pietisten bewirkten, dass sich einige der Pietisten der Politik enthielten und sich still und passiv ihrer Frömmigkeit widmeten. Einen solchen Eindruck hinterlässt beispielsweise Bodmers Schreiben an die Schützenvereinigung, deren Obmann er war. Er demissionierte im März 1721 schriftlich von seinem prestigeträchtigen Ehrenamt177 und begründete seinen Schritt wie folgt: 176

Ebd., S. 38 f. Obwohl Bodmer im Sommer 1716 bereits sukzessive aus Amt und Würden gedrängt wurde, erfreute er sich immer noch einer enormen Popularität. Er wurde erneut zum Obmann der Schützen gewählt, obwohl er für dieses Amt gar nicht mehr kandidiert hatte. 177

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Schlussbetrachtung

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Der kayser Severus soll am Ende seiner Tage gesagt haben: Omnia fui sed nil mihi prodest; ich bin alles gewesen, und mir hilft denoch nichts. – So geh den Grossen die Augen wol auf, aber meistens zu spät. Glücklich ist derjenige, der noch mitten im Genuß und Besitz weltlicher Würden ein gesundes Urtheil darüber fällt, wenn er noch rechter Zeit merkt, wie onfähig diser äussere Glanz sey, den unsterblichen Geist zu befriedigen. […] Hochgeehrte Herren, liebe Mitbürger, es hat die göttliche Vorsicht [Vorsehung] auch mich durch allerley Stuffen der Ehre geführt und nunmehr wieder in meinen primordial= und Bürgerstand zurückgesetzt. Darbey befind ich mich ganz ruhig; ich bewundere die Leitung Gottes und erf lehe alles gute vom Himmel nicht nur für diejenigen, die zu meinen ehemaligen Beförderung, – sondern auch für die anderen, die zu meiner heilsamen Entlassung beyetragen haben.178

Das politische Engagement wird als »äußerliche« d. h. der Welt zugewandte Tätigkeit gewertet, als eine Tätigkeit, die letztendlich den Geist und die innere Religiosität nicht befriedigen kann. Die politischen Aktivitäten waren nur eine Etappe auf dem Weg der persönlichen Erkenntnis Gottes. Die göttliche Providenz179 habe Johann Heinrich Bodmer den Weg gewiesen. Deshalb hat er auch keinen Groll gegen seine politischen Gegner, denn sie spielten nur ihre (durch göttliche Vorsehung zugewiesene) Rolle bei Bodmers Erkenntnis einer »wahren Religion«. Der Rückzug aus der Politik in die innere Frömmigkeit sei ein Werk Gottes, das Bodmer ruhig hinnahm. Auf psychologischer Ebene fand offenbar eine Resignation statt, die religiös interpretiert wurde und der pietistischen Frömmigkeit ein unpolitisches und weltabgeschiedenes Gepräge verleiht.

3.4 Schlussbetrachtung Die Obrigkeit empfand den Pietismus als Bedrohung des ständisch verfassten autokratischen Systems. Wenn die Pietistenkommission von einer Bedrohung für Staat und Kirche spricht, die von der neuen Frömmigkeitsbewegung ausgehe180, so hat dies einiges für sich. Zweifellos ging vom Pietismus eine Kraft aus, die sich zersetzend auf kollektive Riten und symbolische Machtakte auswirkte. Anstelle des orthodoxen VerständnisGwerb schrieb über die Wahl am 7. August an Füssli: »Ja es sticht freylich diese Wal unseren Herren gewaltig in die Augen«. Zitiert nach: Meister, Helvetische Szenen der neuen Schwärmerey und Intoleranz, S. 140. 178 ZB Zürich Ms. S 360; Hier zitiert nach: Meister, Helvetische Szenen der neuen Schwärmerey und Intoleranz, S. 143 f. 179 Zur Bedeutung der Providenz, vgl.: von Greyerz, Der alltägliche Gott im 17. Jahrhundert. 180 St AZ E II 56, S. 781.

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ses einer ständisch gefügten Gesellschaftsordnung wurde das individuelle Gewissen gesetzt. Im mystischen Abgrund der Seele wurde Gott persönlich empfunden und daraus persönliche moralische Wertvorstellungen geschöpft. Damit setzte sich der Pietismus ab vom religiös verfassten Normenkatalog der Gesellschaft seiner Zeit. Dies kann exemplarisch in der strikten Ablehnung des Prädestinationsglaubens und der Sündenfallehre dargelegt werden: Beides waren orthodoxe Eckpfeiler einer ständischen Gesellschaftsordnung, die es für das angestrebte dynamisierte, meritokratische Gesellschaftsideal einzureißen galt. Es war so gesehen nur konsequent, wenn der Pietismus die Forderung nach religiöser Toleranz ins Zentrum der Auseinandersetzung stellte. Im Selbstverständnis der Pietisten steht der Mensch nicht einfach dort, wo Gott ihn hingestellt hat und er lebt nicht einfach das ihm vorbestimmte Schicksal. Die Stellung in der Gesellschaft und sein Seelenheil ist für den Pietisten Produkt des eigenen Willens und der persönlichen Leistung – nur so ist die Gnade Gottes zu erreichen. Diese Weltanschauung hatte Sprengkraft. Und sie entstammte einer neuen Gesellschaftsschicht, die in der Leistung des Individuums ihr geistiges Zentrum hatte. Es erstaunt deshalb auch nicht, dass die heterodoxe Frömmigkeit gepaart war mit einer Palette politischer Idealvorstellungen. Der frühe Pietismus als Wegbereiter der Auf klärung in Zürich? Eine These, die durch die zentrale Bedeutung, welche Themen wie das Naturrecht, die individuelle religiöse Toleranz, dynamische Natur- und Geschichtsbilder sowie persönliches Gewissen im Pietismus spielten, gestützt wird. Der Pietismus bereitete das Terrain für die Auf klärung vor und der deutschen Auf klärung haftete bis und mit Kant ein pietistisches Moment an. Fraglich ist dagegen, wie weit der Pietismus in seiner späteren Ausprägung – mit dem Rückzug auf die Innerlichkeit, mit der Transformation der Werkethik zum Ideal des stillen und untadeligen Schaffens – die Verbindung zur Auf klärung halten konnte. Auch politisch tendierte der frühe Pietismus in Richtung eines aufgeklärten Staates. Die Frage, ob die pietistische Kritik am patriarchalen Obrigkeitsstaat eine rückwärts gewandte Kritik war, welche bloß die alten – idealisierten – Zustände wieder auf leben lassen wollte, oder aber eine Kritik, die in der Tendenz auf die französische Revolution voraus wies, kann mit Johann Heinrich Bodmers Verfassungsprojekt zu einem großen Teil im fortschrittlichen Sinne beantwortet werden. Die konstitutionellen Vorschläge des Obmanns gemeiner Klöster zielten auf eine Rationalisierung und Verrechtlichung des Staates hin, ohne dass dabei die stadtstaatlichen Grundlagen prinzipiell negiert wurden. Bodmer vertrat ein Staatskonzept, das in Anlehnung an den Begriff des aufgeklärten Absolutismus annähernd als aufgeklärter patriarchaler Obrigkeitsstaat bezeichnet werden könnte.

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Schlussbetrachtung

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Arbeitet man zudem mit dem Begriff der Sozialregulierung und -disziplinierung, so könnte folgende in dieselbe Richtung abzielende These formuliert werden: Der Pietismus trachtete in Analogie zum Konzept »Innerlichkeit – Äußerlichkeit« danach, die soziale Disziplinierung von einer äußerlich regulierten Disziplinierung in eine verinnerlichte, individuell überwachte Disziplinierung zu transformieren. Der Pietismus führte die rohe, gewaltsame Sozialregulierung in eine verfeinerte, moralgeleitete Sozialdisziplinierung über. Als Beispiel für diese Haltung kann die als äußerlich empfundene Kleiderordnung angefügt werden. So gesehen wäre der Pietismus eine Etappe im »Zivilisationsprozess«, indem eine selbstbeschränkende triebakkomodierende Instanz aufgebaut wurde. Die pietistische Kritik an der Herrschaftsintensivierung wäre demnach keine reine Antithese, sondern viel eher eine Kritik, welche einen patriarchalen Obrigkeitsstaat bloß effizienter und rationaler gestalten wollte. Bezüglich des frühen Pietismus müssen wir ein paar lieb gewonnene Vorurteile über Bord werfen: Die Pietisten waren weder Mucker noch sittenstrenge Asketen, die ihren Mitmenschen graue Kleidermandate verordnen wollten. Sie waren auch keine Verächter von Musik und Kunst. Noch weniger waren sie mild belächelte Frömmler, die sich am Rand der Gesellschaft absonderten. Im Gegenteil: Die ersten Pietisten standen mitten im Geschehen. Sie formulierten zwar ein alternatives Lebenskonzept, aber sie standen nicht abseits. Sie formulierten ein Lebenskonzept, das mit einer neuen Gesellschaftsklasse, die sich zu formieren begann, korrespondierte. Und sie formulierten und legitimierten deren erste politische Ansprüche.

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Schluss und Synthese Der frühe Zürcher Pietismus wurde auf drei Ebenen untersucht: Erstens die soziale Anbindung der Bewegung, zweitens die von der Glaubenswelt geleitete Mentalität sowie drittens das politische Streben. Wir stellen fest, dass die drei Ebenen auf einander bezogen sind und eine kohärente Struktur bilden. Im ersten Teil wurde gezeigt, dass die pietistische Bewegung in einer stabilen gesellschaftlichen Gruppe Fuß fasste. Eine Gruppe, die sich hauptsächlich aus sich selbst reproduzierte und tendenziell kapitalschwache Mitglieder umfasste, die ihren sozialen Status über ihre Leistung und Bildung verteidigten. Wir haben weiter gesehen, dass die pietistische Frömmigkeit in ihrer Neigung zur Absonderung neue Geselligkeitsformen erschloss, die über die hergebrachte Vergesellschaftungsweise der Ständegesellschaft hinaus ging. Schließlich formulierten wir die These, dass im Wiedergeburtsglauben das Band bestand, das die heterogene Gruppe zu einer Gesellschaftsklasse zu verbinden begann. Daraus ergibt sich eine zweite These, in der wir die soziale Trägergruppe des Pietismus als ein Protobürgertum oder Bürgertum avant la lettre nannten und den frühen Pietismus in Funktion zu einer frühen formativen Phase dieser Gesellschaftsklasse setzten. Diese Funktion besteht im heterodoxen Glauben als Abgrenzung gegenüber einer aristokratisch-patriarchalen Ständegesellschaft und als oppositionelle Weltanschauung, die nach innen Gemeinsamkeit herstellt. Diese Gemeinsamkeit besteht im religiösen Ausdruck geteilter Lebenserfahrungen. Im Zentrum dessen steht der Individualismus. Es ist die eigene religiöse Leistung, die zur Wiedergeburt und zum Heil befähigt. Sie drückt sich aus in der egozentrischen Mystik, in der Selbsterfahrung der Verinnerlichung und in der Auseinandersetzung mit dem eigenen, als frei empfundenen Willen. Der Glaube wird psychologisiert und in den Menschen selbst hineingelegt. Der Mensch »vergottet« sich selbst. Der individualisierte, verinnerlichte Glaube wird zugleich universell; er löst sich ab von äußerlichen Merkmalen einer kollektiven Religionsausübung durch Sakramente und Rituale: Die Konfessionskirche wird überf lüssig. Ihr gegenüber wird die Toleranzforderung erhoben. Glaubens- und Gewissensfreiheit werden der Obrigkeit und Kirche entgegen gehalten. Die Differenz zur Ständegesellschaft und Orthodoxie tritt am deutlichsten in der resoluten Ablehnung des Prädestinationsglaubens hervor. Göttliche Vorsehung ist die neue Losung und meint den gerechten Lohn für ehrliche Glaubensleistung – genau so wie der gesellschaftliche Status eines Mit-

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Schluss und Synthese

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gliedes einer auf Bildung basierenden sozialen Gruppe sich (im Idealfall) über die persönliche Leistung definiert. Des fromme Milieu grenzt sich so in religiösen Begriffen nach oben ab von einem kapitalstarken Adels- und Rentnerstand, der seinen Status lediglich vererbt, wie auch nach unten gegenüber dem Handwerksstand, wo Werkzeug und Werkstatt vom Vater auf den Sohn übergehen. Doch ein auf Leistung basierende Gruppe muss zuerst das Leistungsprinzip politisch durchsetzen und zu verteidigen wissen. Auch hier helfen Glaubensvorstellungen des Pietismus weiter: Chiliastische Hoffnungen entwerfen das Bild einer idealen Gesellschaft ohne Krieg, Korruption und Teuerung. Neben dieser Utopie der Vollkommenheit muss die Wirklichkeit als vollends verdorben erscheinen. Dieser Antagonismus erlaubte eine vorkritische Legitimationsweise der politischen Forderungen. Das äußert sich darin, dass der moralische Innenraum – der sich an der Vollkommenheit orientiert – auf die politische Wirklichkeit übertragen wird: Eine zweite Reformation und eine gottgefällige Herrschaft werden gefordert. Die ideale Gesellschaft wiederum soll erreicht werden, indem der moralische Innenraum gestaltet wird: Pädagogik und namentlich die Ausbildung der Theologen steht im Fokus des Reformstrebens. Aber auch pragmatisch-alltägliche Forderungen werden erhoben: faire und geheime Wahlen beispielsweise, die am Begriff des Eides fest gemacht werden, das Einebnen von Standesunterschieden, was sich in der Kritik an der symbolischen Distinktion durch Kleidermandate äußert oder transparente Verfahren bei der Vergabe von Ämtern. Der frühe Pietismus war demnach politisch und keineswegs weltabgewandt. Die Betonung der Werkethik als Ausf luss des wahren Glaubens ist eine nicht zu unterschätzende Motivationsquelle zum politischen Handeln. Dem trug die Obrigkeit mit ihren Pietistenprozessen durchaus auch Rechnung. Eine Emigration in die reine Innerlichkeit findet erst mit dem totalen Scheitern der Reformbemühungen statt. Ist der frühe Pietismus ein Wegweiser in die Moderne? Oder ist er ein letztes Auf bäumen eines aus dem Mittelalter stammenden totalen Wahrheitsmonopols der Religion am Vorabend der Auf klärung? Die Neigung des Historikers, das heute Vertraute im Vergangenen zu suchen, ist groß. Auch meine Untersuchung des Zürcher Pietismus ist über weite Strecken darauf angelegt, den Beitrag dieser Frömmigkeitsbewegung am Fortschritt und der Entstehung der Moderne aufzuzeigen. Doch historische Prozesse verlaufen selten linear auf ein anvisiertes Ziel – das Jetzt – zu. Und so versuchte ich, auch bei Dingen und Vorstellungen zu verweilen, die für uns heute unvertraut und nur schwer nachvollziehbar sind. Aber Denkkategorien des Mittelalters wie Mikrokosmos und Makrokosmos oder die der hellenistischen Gnosis entlehnte hermetische Naturphilosophie mit ihrer Suche nach dem Stein der Weisen trugen genau so zur Entstehung der Moderne bei, wie die – zuerst im Religiösen angelegte – Individua-

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lisierung oder die Forderung nach Toleranz und Glaubens- und Gewissensfreiheit. Diese Ambivalenz des pietistischen Glaubens, der gleichzeitig auch umfassende Weltanschauung ist, macht es schwierig, das Phänomen eindeutig zu verorten. Grundsätzlich dürfen wir im Pietismus einen Ausdruck des Suchens sehen. In ihm finden wir die Neigung, hergebrachte, durch eine philologische Methode tradierte und in sich geschlossene Systeme aufzubrechen. Ausdruck dieser Neigung ist der Hang zu einer neuen, eklektischen Methode, ganz nach dem pietistischen Leitspruch, »prüfe alles, behalte das Beste«. Den frühen Pietismus können wir am besten als ein Phänomen eines Übergangs definieren. Er erscheint an jenem Punkt, wo sich die alte Ständegesellschaft erst allmählich aufzulösen beginnt und auch eine neue, noch undefinierte Gesellschaftsklasse als kommende Trägerin einer neuen Gesellschaftsform sich erst in den aller ersten Anfängen befindet und nach Identität stiftenden Denkweisen und neuen Formen des sozialen Lebens sucht. Bis sich die neue Gesellschaftsklasse in einer zweiten Phase vermehrt über ein auf klärerisches Gedankengut zu formieren und definieren beginnt, wobei Pietismus und Auf klärung für einige Zeit ohne trennscharfe Grenzen neben einander bestehen. Die persönliche Entwicklung Johann Heinrich Lochers wie auch die Altersstruktur der ersten Pietistengeneration weisen darauf hin, dass der Zürcher Pietismus in den 70er Jahren des 17. Jahrhunderts zu entstehen begann, jedoch erst am Ende der 80er Jahre die Aufmerksamkeit orthodoxer Geistlichkeit und der Obrigkeit erregte und aktenkundig wurde. Die Einf lüsse, die zur Entstehung des Zürcher Pietismus beitrugen, waren mannigfaltig. Erstens konnte die religiöse Bewegung auf lokale Vorläufer wie Michael Zingg und zurückgreifen. Zweitens lebte die hermetische, paracelsische Strömung der Renaissance im verborgenen weiter und befruchtete das pietistische Denken nachhaltig, so nachhaltig, das die zwei herausragenden Vermittler dieser Tradition, Johann Arndt und Jakob Böhme, heute gern als Väter des Pietismus bzw. des Radikalpietismus angesehen werden. Drittens fand der Pietismus viele Denkmuster, die bei den Arndtund Böhme-Schülern und -Schülerinnen wie Hoburg oder Bourignon, bereits vorgeformt vor. Viertens wirkte Labadie auf den Zürcher Pietismus ein, wobei sein Einf luss nicht greif bar ist – ja, er wurde teilweise in Pietistenkreisen abgelehnt. Fünftens ist bemerkenswert, wie früh und in welchem Ausmaß die Zürcher Pietisten mit anderen Frömmigkeitszentren der Schweiz, Deutschlands und den Niederlanden im Austausch standen. An dieser Breite der in den Pietismus mündenden Strömungen und Tendenzen ist der geringe Niederschlag, den Spener im Zürcher Pietismus fand, äußerst bemerkenswert. Dieser Sachverhalt wirft die Frage auf, ob es sich beim Zürcher Pietismus um einen radikalen Pietismus handelte? Der Tendenz nach kann dies

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für beide Pietistengenerationen bestätigt werden, denn die Einf lüsse, die auf den Zürcher Pietismus einwirkten, zählen zu den klassischen Merkmalen des Radikalpietismus. Ein beachtlicher Grad an Radikalität ist ganz bestimmt im politischen Reformstreben enthalten, das sich schließlich in der Begeisterung für die Inspirationen, die das Strafgericht Gottes über die Obrigkeit verkündeten, auf löste. Kirchenfeindliche Haltungen sowie die Abendmahlsverweigerung sind jedoch einzig aus dem politischen Kontext, aus der obrigkeitlichen Repression heraus zu interpretieren. Eine generelle Kirchenfeindlichkeit des Zürcher Pietismus ist nicht ersichtlich: Zwar ließ sich die Frömmigkeitsbewegung von einer irenischen Grundhaltung und einer reservierten bis oppositionellen Einstellung zur Konfessionskirche leiten. Ein genereller Bruch mit der Kirche ist jedoch nicht zu beobachten. Die Kritik an der Kirche richtete sich nicht gegen sie als Institution überhaupt, sondern bloß gegen die nicht »wiedergeborenen« Geistlichen, die in ihr den Ton angäben. Die radikale Tendenz im Zürcher Pietismus erklärt sich zu einem großen Teil aus seiner politischen und kirchlichen Oppositionshaltung. Das Reformstreben korreliert hier mit einer eher radikaleren – der vita activa verpf lichteten – Pietismusvariante und orientiert sich nur wenig am staatstragenden Pietismus etwa Speners oder Franckes. Erst nach dem Scheitern der Reformbemühungen ist eine Rückzugstendenz auf eine vermehrt verinnerlichte und kontemplative Frömmigkeit zu beobachten.

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Anhang Pietistenkorpus [0] Name, Vorname. (Geburt – Tod), Burger. Verwandtschaft. Beruf. Amt. Bemerkung. (Signatur) Legende: BGM: Bürgermeister; BW: Briefwechsel; GR: Großrat; LS: Landschreiber; LV: Landvogt; OGK: Obmann gemeiner Klöster; OV: Obervogt; Pfr.: Pfarrer; ZM: Zunftmeister 1 Albrecht, Regula. (1696- ?), Zürich. Näherin. Besuchte Konventikel bei Rathgeb [133] und Frau Pfr. Lindinner [93]. Kontakte nach Winterthur u. Schaff hausen. Sie arbeitet bei Pietisten zuhause. Kaufte das Milch=Kind bei Bodmer [6]. (E I 8.2; E I 8.3; E II 56, S. 972) 2 Balber, Christoph. (1687–1747), Zürich. Schwiegervater: [152], Theologe: (1725) Pfr. in Schwarzenbach, (1742) Dekan. Besitzt das Himmelsblüemli, ist wenig überzeugt von der geistlichen Lotterie. Er führt die Berner Pietisten Ernst und Sprüngli in den Zürcher Pietistenkreis ein. (E I 8.2; E I 8.3; E II 40) 3 Bänninger, Heinrich. (1673- ?), Land. Schneider. Briefträger der Pietisten. (E I 8.1; E II 40, S. 364; E II 56, S. 865 f.) 4 Benz, Hans. (? -1716), Land. Sohn: [5]. W’thurer Pietisten besuchten sein Konventikel: A. Steiner, J. Sulzer, Hegner, Ernst, E. Künzli, Gossweiler, Rathgeb, etc. (E II 40, S. 377; E II 56, S. 653 ff. u. 879) 5 Benz, Jakob. (1682- ?), Land. Vater [4]. Führte die Konventikel weiter. Ist im Tuchhandel tätig. (E II 40; E II 56, S. 879) 6 Bodmer, Johann Heinrich. (1669–1743), Zürich. Sohn [7], Kaufmann (Buchhändler).und Magistrat. OGK, ZM, (1704) OV in Stäfa, (1705) Gesandter übers Gebirge. Populärer Reformpolitiker, Oberbefehlshaber der Zürcher im Zweiten Villmergerkrieg. Löst die »Burgerunruhen« von 1713 aus und leitet mit J. J. Scheuchzer [144] zusammen die Versammlung auf dem Lindenhof. Zentrale Figur der zweiten Pietistengeneration. Freund von Locher [94] und Escher [20]. Druckt das Milch=Kind und vertreibt pietistische Literatur. Wird von allen Ämtern enthoben und 1719 gezwungen, die Verlagsbuchhandlung zu verkaufen. Muss 1721 ins Neuenburger Exil. (E I 8.1; E I 8.2; E I 8.3; E II 39; E II 40; E II 56, S. 977) 7 Bodmer, Johannes. (1694- ?), Zürich. Vater [6]. Er predigte in Meilen den Armen. (E I 8.2) 8 Bräm-Rahn, Katharina. (1664–1737), Zürich. Söhne: [187 u. 188]. (1717) Trennung von LS Bräm. (E I 8.1; E I 8.2; E I 8.3; E II 56, S. 914) 9 Breysacher, Rudolf. (1639- ?), Zürich. Schwager: [212], Bruder: [10]. Kürschner. (E II 423)

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10 Breysacher, Ludwig. (1645–1709), Zürich. Bruder: [9], Theologe: Pfr. in Veltheim. Er empfahl von Schönaus [151] Schrift. (E II 423, S. 74) 11 Brunner-Ulrich, Regula. (1685–1739), Zürich. Bruder: [178]. 1714 beteiligt an Konventikel bei Kleophea Ulrich [181]. Wird 1716 verhört wegen Kontakten zu Gregor Giezendanner [38]. (E II 56, S. 848) 12 Büchi, J(ohannes?). Land. (E I 8.3) 13 Bürkli, Elisabetha. Zürich. Nicht identifizierbar. (E II 423, S. 69) 14 Diezinger, Joachim. Glarus. Schneider-Geselle. Er wohnte bei Schmutz, Zürich. Beteiligt sich am Rumstaler Konventikel [4 u. 5]. Besitzt verdächtige Bücher. (E I 8.1; E II 40, S. 361, E II 56, S. 848 f.) 15 Dübendorfer, Elisabetha. (1696- ?), Land. Pf legt den Kontakt mit Rathgeb [133]. (E II 56, S. 1953 u. 1977) 16 Engeler, Johann Ulrich. (1687- ?), Stein. Gattin [17], Schneider. Er opponierte gegen den Pfarrer. Besucht Konventikel bei Sigrist Koch [77]. (E I 8.3; E II 40; E II 56a, S. 2124) 17 Engeler-Rebmann, Elisabetha. (1672- ?), Stein. Gatte. [16]. Besucht Konventikel bei Sigrist Koch [77]. (E I 8.3; E II 56a, S. 2124) 18 Erhard, Christoph. (1684–1764), Winterthur. Theologe: (1723) Abendprediger, (1726) Nachmittagprediger, (1731) Rektor, (1741) Predikant in W’thur.. Er hielt pietistische Reden. (E II 40, S. 52, 58, 299–314 u. 341; E II 56, S. 433) 19 Ernst, Johannes. (1692–1761), Winterthur. Theologe: (1742) Pfr. in Seuzach. Verkehrte mit den Inspirierten Gleim und Gruber. Beschäftigt sich mit englischer Literatur. (E I 8.1) 20 Escher, Johann Kaspar. (1678–1762), Zürich. Magistrat. (1701) GR, (1709) Examinator, (1718–1723) LV in Kyburg, (1740–62) BGM. Er deckte den Druck des Himmelsblüemli. Steht im Briefwechsel mit Giezendanner [39]. Freund von Bodmer [6]. (E I 8.1 (Verhör mit Bodmer vom 14.7.1716); E I 8.3; E II 40) 21 Fäsi, Johann Heinrich. (1689–1758), Zürich. Theologe. Pfr. in Mülheim u. später Pfr. in Hittnau. Rathgeb [133] war in Mülheim im Exil: Fäsi wurde dort abgesetzt! (E I 8.4, E II 41) 22 Fäsi, Magdalena. 1695- ?), Zürich. Vater: Mathematiker Jakob Fäsi; Schwager: [66]. Verhör 4.9.1716. (E I 8.1; E II 40) 23 Fischer, Johann Jakob. (1670- ?), Stein. Magistrat. Stadtbott. Kontakt zu Siegrist Koch [77], besitzt das Himmelsblüemli. (E I 8.3; E II 40) 24 Forrer, N. (Frau). Winterthur. Sie gab 1716 dem Bänninger [3] einen Brief für Giezendanner [39] in Schaff hausen mit. (E II 56.865 f.) 25 Frei, Leonhard. (1671- ?), Land. Sigrist in Kloten. Er erhielt von Rathgeb [133] den Traktat Eins und Alles. (E II 56, S. 941) 26 Freitag, (»Jgfr.«). Zürich. R. Albrecht [1] überbrachte ihr Grüße von Gesinnungsgenossinnen. (E II 56, S. 974) 27 Freitag, Bernhard. (1646–1699), Zürich. Weber. Im Feb. 1698 verhört. (E II 423, S. 69 ff.) 28 Freitag, Gerold. (1659–1725), Zürich. Theologe: (1709) Pfr. in Regensdorf. Erhält von Beat Holzhalb [63] die Historie Der Wiedergebohrnen. (E II 56, S. 872) 29 Fries, Johann Heinrich. (1674–1749), Zürich. Theologe: Pfr. St. Peter.

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30 Füssli, Anna. (1669–1742), Zürich. Schwester: [35], Onkel/Tante: [31, 33, u. 34], Cousin: [66], Nichte: [42]. Veranstaltet Konventikel und besucht auch andere Konventikel in Zürich. (E I 8.1; E I 8.2, Ms. T 107) 31 Füssli, Barbara. (1680–1748), Zürich. Bruder: [33 u. 34]. Schwager: [186]. Veranstaltet Konventikel und besucht auch andere Konventikel in Zürich. (E I 8.1; E I 8.2; E I 8.3, Ms. T 107) 32 Füssli, Johann Heinrich. (1677–1722), Zürich. Magistrat: (1700) LS, LV Regensberg, GR. Freund von Bodmer [6], Studienkollege von Escher [20]. Felix Herrliberger [55] ist sein Hauslehrer. Ermuntert Ulrich [178] zum Druck der pietistenfreundlichen Predigt. 33 Füssli, Johann Kaspar. (1683–1752), Zürich. Bruder/Schwester [31 u. 34]. Theologe. Hauslehrer bei LV Waser [188] in Sax. Unterhält Briefwechsel mit Giezendanner [39], veranstaltet Konventikel und besucht solche bei Benz [4 u. 5] sowie bei Hegner in Susenberg [52 u. 53]. Verfasste pietistische Traktate. (E I 8.2; E I 8.4; E II 40; E II 41; Ms. T 107) 34 Füssli, Melchior. (1677–1736), Zürich. Gattin [36], Bruder/Schwester: [31 u. 33], Nichten [30 u. 35]. Maler. (1712–29), Zunftschreiber, ZM. Illustrator Scheuchzers Werke. Mitglied der burgerl. Reformkommission. Besucht Konventikel seiner Frau und solche bei Rathgeb [133], Schneeberger [149 u. 150] und Wolf [204] (E I 8.2; E I 8.3; Ms. T 107:3a; E II 56, S. 941) 35 Füssli, Regula. (1670–1741), Zürich. Schwester: [30], Onkel/Tante: [31, 34 u. 35], Cousin: [66], Nichte: [42]. »Sie wünsche sich, der Jüngste Tag komme morgen, so man sehe, wer recht habe, die Obrigkeit oder die Pietisten.« Veranstaltet Konventikel und besucht auch andere Konventikel in Zürich. (E I 8.1; E I 8.3; E II 56, S. 852 u. 938) 36 Füssli-Wettstein, Anna. Zürich. Gatte [34]. Veranstaltet Konventikel und beteiligt sich an Konventikeln bei Lindinner [93] und Schneeberger [149 u. 150]. (E I 8.1; Ms. T 107) 37 Geilinger, Anna Barbara. (1694- ?), Winterthur. Magd bei Dr. Joh. Heinrich Steiner, Winterthur. Sie soll monatelang ohne Nahrung gelebt haben. Das Gerücht vom übernatürlichen Fasten wird von ihr und Dr. Steiner bestätigt. Steht im Kontakt zu Sigrist Koch [77]. (E I 8.3; E II 40, S. 455; E II 56, S. 988; E II 56a, S. 2215) 38 Giezendanner, Gregor. Toggenburg. Vetter: [39]. Student der Theologie. Werdmüller [197] und Stadler [164] führten ihn bei Rathgeb [133] ein. (E I 8.1; E II 56, S. 865) 39 Giezendanner, Johann Ulrich. Toggenburg. Goldschmied. Hatte Inspirationen in einen Konventikel bei Schneeberger in Engstringen [149 u. 150]. Die Eingabe einer Inspiration an den Rat löste 1716 die Pietistenprozesse aus. War 1714 in Marburg bei seinem Freund Prof. Hottinger [67], wo er erste Inspirationen hatte. In Zürich arbeitete er bei Goldschmied Öri [119]. Wurde ohne Prozess aus Zürich verbannt. (E II 40; Inspirationen: E I 8.5) 40 Gossweiler, Heinrich. (1688–1734), Zürich. Gattin: [42]. Theologe: (1726) Pfr. Marthalen. Werke: 4 Predigten. Veranstaltete Konventikel und besuchte solche bei Benz [4 u. 5], Lindinner [93], Rathgeb [133], Schneeberger [149 u. 150] und Wolf [204]. Wurde wegen seiner pietistischen Neigung 1716 im Rathaus inhaftiert und erhielt ein dreijähriges Berufsverbot. (E I 8.3; E II 40)

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41 Gossweiler, N (unbek.). Zürich. Steht ebenfalls im Kontakt mit von Schönau [151] und liest den Traktat von Pierre Yvon über die Prädestination. (Ms. S 276, Nr. 17 [Brief Lochers an v. Schönau vom 19.1.1686]) 42 Gossweiler-Füssli, Anna. (1689–1766), Zürich. Gatte: [40], Tanten: [30 u. 35]. Kontakt zu Rathgeb [133], besucht Konventikel bei Wolf [204]. (E I 8.1) 43 Grob, Johann Heinrich. (1671–1740), Zürich. Theologe: (1703) Pfr. Erlenbach, (1706) Dorf. 1701 im Pietistenhandel verstrickt: Er las Samuel Königs Weg des Friedens. Verkehrt mit Knecht [73] und Sprüngli [161]. 44 Gugelberg v. Moos -v. Salis, Hortensia. (1959–1715), Zürich. Gehörte vorübergehend zum Freundeskreis von Johann Heinrich Zeller [208] und Johann Heinrich Locher [94]. Gilt als Anhängerin von Georg Ziegler [212]. Auf ihrem Schloss in Maienfeld trafen sich Pietisten. Verfasserin theol. Schriften. (E II 423, S. 39–56 u. 63) 45 Haas-Sulger, Esther. (1685- ?), Stein. Junge Witwe. Schwester: [170]. Zeigte Koch [77] beim Bürgermeister an. Der Sigrist war ihr pietistischer Lehrer. (E I 8.3; E II 56a, S. 2131) 46 Hafer, Johann Konrad. (1674- ?), Land. Quartierhauptmann und erste Familie im Dorf, hat 1–2 Bedienstete. Seine Frau ist mitverdächtigt. Nahm am Konventikel bei Schneeberger [149 u. 150] in Engstringen teil, als Giezendanner [39] seine Inspirationen hatte. (E II 40, S. 281, 358 ff.; E II 700:159) 47 Hanhart, Ulrich. (1688–1729), Winterthur. Dr. med. Mitglied des Musikkollegiums u. (1721) Bibliothekar. Beteiligt sich am Rumstaler Konventikel. (E II 56) 48 Harder, Johann Jakob. (1670- ?), Stein. Schwägerin: [203], Gattin: [49]. Strehlmacher. Besucht Konventikel bei Sigrist Koch [77] und erhält von diesem religiöse Traktate. (E I 8.3; E II 40; E II 56a, S. 2025 ff.) 49 Harder-Wieser, Susanna. (1683- ?), Stein. Schwester: [203], Gatte: [48]. Besucht Konventikel bei Sigrist Koch [77]. (E I 8.3; E II 56a, S. 2025 ff.) 50 Hardmeier, Jakob. (1688- ?), Land. Er behauptete, die Bibel sei nicht vollständig, der Brief der Laodizeer fehle. Er wurde vom Pfr. überwacht. Er lebt im Haus des verstorbenen Vaters. Kontakt zu Sigrist Koch [77] und Rathgeb [133]. (E I 8.3; E II 40, S. 455; E II 56, S. 985; E II 56a, S. 2189; E II 700:137) 51 Hardmeyer, Johann Kaspar. (1651–1719), Zürich. Theologe: (1686) Pfr. in Bonstetten, (1701) Pfr. in Affoltern a. A., (1707) Dekan. Verfasste u. a. eine Schrift zum Zweiten Vilmergerkrieg und führte ein Tagebuch. Sein Vater war eine »verkrachte Existenz« und musste ins Exil. Freund von Locher [94]. (E I 8.1; E I 8.4; E I 8.5; E II 39, S. 202; Ms. E 176-E 179) 52 Hegner, Johann Ulrich. (1682–1735), Winterthur. Bruder: [53]. Dr. med. Arzt. (1704) Bibliothekar, (1724) GR in Winterthur, Musikkollegium. Ver anstalter Konventikel in Susenberg und auf der Mörsburg und besucht das Rumstaler Konventikel. Beherbergte Gruber und Gleim. (E I 8.1; E I 8.3; E II 40; E II 56, S. 433) 53 Hegner, Solomon. (1677–1763), Winterthur. Bruder: [52]; Schwiegermutter: Elisabetha Rahn. Musikkollegium. (1704) Bibliothekar, (1714) Schützenmeister. Magistrat: Gerichtsherr in Mösburg, (1746) Schultheiß in Winterthur. (E I 8.1; E II 40; E II 56, S. 433)

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54 Heidegger, Johann Konrad. (1678–1756), Zürich im Schönenberg. Schwager: [152]. Kaufmann (?), Hauptmann. Verhört: 11. Juni 1721. Er schickte seine Kinder zu Pfr. Ernst in Birrwil in eine Pietistenschule. (E II 752, S. 137 ff.; E II 724:11) 55 Herrliberger, Felix. (1689–1724), Zürich. Theologe: (1710) Hauslehrer beim LV Heinrich Füssli [32]. Er wurde 1716 für drei Jahre verbannt. Zog nach Ronnenburg (bei Frankfurt) wo er im Exil starb. (E I 8.1; E II 40) 56 Herrliberger, Johannes. (1659–1714), Zürich. Drechsler bzw. Silberdreher. Niedere Magistratur: (1695) Amtmann zu Rüti. In seiner Amtszeit brannte das Kloster ab, und er wurde abgesetzt. Beteiligte sich am Konventikel bei Johann Heinrich Zeller [208]. (Ms. E 176) 57 Hintermeister, Daniel. (1684- ?), Land. Bauer. Er las das Milch=Kind u. Franckes Glaubensweg. H. besucht Konventikel in der Riedmühle [133] u. verlangte dort nach Literatur. Hausdurchsuchung. Lebt im Vaterhaus. (E I 8.3; E II 40; E II 56, S. 467 u. 96; E II 56a, S. 2147 ff.; E II 700:31) 58 Hirzel, N. (unbek.). Zürich. Er reiste in die Niederlanden, kam mit Labadisten in Kontakt. Er ließ Lüneburger Pietisten in die Schweiz kommen. Er wurde beobachtet vom Pfr. z. Predigern (12.Sept. 1699). (E II 39, S. 260) 59 Hirzel-Ziegler, Anna. (1664–1755), Zürich. Verwandt: [205], Gatte war LS in Regensberg. Sie hatte Kontakt zu den Aargauer Pietisten Ernst u. Sprüngli. 60 Hochholzer, Johann. (1618–1695), Zürich. Theologe: Pfr. in Rickenbach. Er wurde des Sozinianismus verdächtigt und 1690 abgesetzt. Lit.: Otto A. Werdmüller. Unterhält Kontakt zum Pietistenkreis um Locher [94], von Schönau [151], Ziegler [212] und Römer [138 u. 139]. 61 Hofmann, Anna. Land. Magd bei Keller [69]. Erhielt das Milch=Kind von Herrliberger. War kurze Zeit bei Schneeberger [149 u. 150] in Engstringen im Dienst. Besucht Konventikel in Rumstal bei Benz [4 u. 5] und bei Füssli [33]. Sie meint: »Wenn alle so fromm wie Ziegler, [und] Herrliberger [wären,] bräuchte es keine Obrigkeit. Man jage aber die Frommen weg und behalte die Gottlosen.« (E I 8.1; E II 40, S. 363 f.; E II 56, S. 859 u. 865; E II 700:75) 62 Hofmann, Johann Ulrich. (1674- ?), Land. Wirt an der Glattbrugg. Oeri [119] sprach mit ihm übers »applicieren der predigten«. (E II 56, S. 806) 63 Holzhalb, Beat. (1693–1757), Zürich. Vater: [64]. Theologe: Studium in Marburg (bis 1714). Er verbreitete geistl. Lotterie. 1716 suspendiert. Veranstaltet Konventikel und besucht welche bei Schneeberger [149 u. 150], Füssli [30 u. 35] und Rathgeb [133]. Wurde später zum Wortführer der Pietisten. Reiste 1735 nach Herrnhut, wandte sich später aber gegen die Herrnhuter. (E I 8.3; E II 40) 64 Holzhalb, Johann Heinrich. (1666–1724), Zürich. Sohn: [62]. Magistrat: (1704) Landvogt in Regensberg. Er las pietistische Literatur. Seine Supplikationen für Sohn Beat waren nicht »astrein«. Er fing ein obrigkeitliches Missfallen ein. (E I 23.1; E II 41, S. 128) 65 Holzhalb, Johann Ludwig. (1646- ?), Zürich. Schwager: [104]. Er sandte den Traktat von Jane Lead an Morf, welches die Verhöre von 1698 auslöste. Er lebte in Sulzbach D. Ihm wurde 1698 das Bürgerrecht entzogen. (E I 8.5; Ms. S 276, Nr. 6 »Wahrhafftige Erzellung«) 66 Hospinian (Wirth), Marx. (1686–1765), Zürich. Schwägerin: [22]; Cousinen: [30 u. 35]. Theologe: (1710) Diakon Stein. Besucht Konventikel bei Wolf

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[204]. Er wechselte die Zunft: von Meisen zu Safran. In zweiter Ehe 17… heiratete er Susanna Zeller, die Tochter des Antistes. (E I 8.1; E II 40) Hottinger, Johann Heinrich. (1681–1750), Zürich. Enkel des berühmten Hebraisten J. J. Hottinger. Professor in Marburg, wo er 1716 abgesetzt wurde. Werke: »Theol Bedenken von den Außerordentlichen Offenbarungen insgeheim (..) Inspirierter« 1717. Befreundet mit Giezendanner [39]. (Historia Facti…) Keller, Jakob. Land. Gattin [69]. Knecht bei Rathgeb [133]. Nimmt dort an den Konventikel teil. Er kannte ihn aus dem Krieg. Analphabet. Er versteckte die Bücher des Riedmüllers vor obrigkeitlichem Zugriff. (E II 40, S. 364; E II 56, S. 860 ff.) Keller-Benz, Verena. Land. Gatte [68]. Magd bei Rathgeb [133]. Beteiligt sich an den Konventikeln in der Riedmühle und bei Schneeberger [149 u. 150]. (E II 56, S. 860) Keller-Schweizer, Elisabetha. (1690–1719), Zürich. Bei ihr arbeitete [61]. Besucht Konventikel bei Füssli im Niederdorf [30 u. 35], Kaspar Füssli [33] und bei Rathgeb [133]. (E I 8.1; E II 56) Kitt, Johann Martin. (1658–1714), vermutlich Rentner oder Kaufmann. Verschwägert [138 u. 139]. Beteiligt sich am Konventikel bei Johann Heinrich Zeller [208]. (Ms. E 176) Klöti, N (unbek.). Land. Er besuchte Konventikel bei Rathgeb [133], er wollte angeblich nur einen Stier in der Riedmühle kaufen. (E I 8.2; E II 56) Knecht, Johannes. Bern. Gürtler-Lehrling. Er unterhielt einen BW mit seinen piet. Brüdern in Bern. Er wurde durch die Berner Obrigkeit in Zürich denunziert (18.Jan.1701). Er soll S. Königs Weg des Friedens verteilt haben. Kontakte zu Sprüngli [161] und Grob [43]. (E I 8.5; E I 8.1) Knecht Rudolf. Land. Beteiligt sich am Dietliker Konventikel [133]. (E I 8.2) Koch, Melchior. (1694–1746), Zürich. Fam. Koch [76–79]. »Perruquenmacher«. Er besuchte f leißig Konventikel bei Rathgeb [133] und Maler Füssli [36] und veranstaltet selber welche, liest und verteilt das Himmelsblüemli. Er rühmt sich seiner Bekehrung und glaubt, die Seligkeit in allen Religionen erlangen zu können. Ist Reisender in Sachen Pietismus. Er »verketzert« das Abendmahl und reist in die Pfalz zu sog. »Wiedertäufern«. (E I 8.2; E I 8.3) Koch, Johannes. (1689–1736), Zürich. Fam. Koch [75–79]. »Perruquier und Strümpfwäber« Er verbreitete die geistliche Lotterie in Stein. Besucht Konventikel bei Maler Füssli [36]. (E I 8.3) Koch, Johann Heinrich. (1687- ?), Zürich. Fam. Koch [75–79]. Leinenweber u. Sigrist in Stein. Er war die zentrale Figur der Steiner Konventikel. Hält dreimal pro Woche Konventikel ab. Verneint den Wert des Kirchgangs. Er rühmt sich, der Geistlichkeit das Maul gestopft zu haben. Alchimist, er wollte Gold herstellen. (E I 8.3; E II 40; E II 56, S. 954–8) Koch, Johann Ulrich. (1658- ?), Zürich. Vater der Gebrüder [75–77 u. 79]. Weber u. Maurer. Seine Söhne »arbeiten nit vil«, wegen Reisen in Sachen Pietismus. (E I 8.3) Koch, Johann Ulrich jun. (1688 – 1748), Zürich. Fam. Koch [75–79]. Tischmacher. Stubenverwalter der Zimmerleute-Zunft. Veranstaltet Konventikel und besucht jenes von Maler Füssli [36]. (E I 8.3)

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80 Kuhn, Heinrich. (1679- ?), Land. Bruder: [82]. Schulmeister, Maler. Er las verbotene Bücher (Petersen). Besucht Konventikel bei Rathgeb [133], Anna Lindinner [93] und Barbara Füssli [31]. Er portraitiere Schneeberger [149] und Frau Lindinner [93]. Wurde auch »Schuler von Ryden« genannt. (E I 8.1; E I 8.3; E II 40, S. 364; E II 56, S. 860 ff.) 81 Kuhn, Jakob. Land. Lehensmann, Gutsverwalter. Er veranstaltet Konventikel und besucht jenes von Rathgeb [133]. Besitzt eine besondere Bibel. Veranstaltet Sonntagsschule mit 8–10 Knaben. (E I 8.3; E II 40, S. 455 u. 987) 82 Kuhn, Johann Rudolf (Rudi). Land. Bruder: [80]. Soldat. Teilnahme am Dietliker Konventikel [133]. Lästerte über den Pfarrer u. geht nicht zur Kirche. Er behauptet, die Bibel sei unvollständig. Besitzt die geistliche Lotterie. Er lacht in der Predigt u. bezeichnet Geistliche als »Seelenmörder«. (E I 8.3; E I 8.5; E II 40; E II 56, S. 948 f.) 83 Künzli, Elisabetha. (1695–172.), Winterthur. Onkel: [173], entfernt verwandt: [6, 84]. Tuchhändlerin. Besucht Konventikel bei Benz in Rumstal [4 u. 5]. Sie übte sich in übernatürlichem Fasten u. hatte Visionen. Ihre pietistischen Verbindungen sind den Handelsverbindungen sehr ähnlich, (Verhör 22. Nov. 1719). (E I 8.2; E I 8.4; E II 40) 84 Künzli, Johann Georg. (1655–1726), Winterthur. Entfernt verwandt [83]. Theologe: (1682) Bibliothekar (1690) Pfr. Pfungen, (1712) Pfr. in Winterthur. Er preist Dorothea Sulzer [176] das Milch=Kind an. Er war auch schriftstellerisch tätig. (E II.40; E II 56, S. 755) 85 Laub(i), Heinrich. (1669–1737), Zürich. Theologe: (bis 1701) Filialist in Schwamendingen, (1701) Pfr. in Laufen, (1722) Dekan in Laufen. Er unterhielt Brief kontakte zu Berner Pietisten, die durch Bodmer [6] vermittelt wurden. (E I 8.1; E II 39, S. 202.) 86 Lavater, Rudolf. (1644–1702), Zürich. Theologe: Präceptor, (1677) Pfr. in Attikon. Er unterhielt eine theologische Beziehung zu Ratsherrn Schmieds Tochter [146]. (Leonhard Meister, S. 107.) 87 Lindinner, David. (1665–1716), Zürich. Verwandt: [91 u. 89], Gattin: [93]. Theologe: Hauslehrer in Pfyn (1691), Pfr. in Buchs. Er »hat streit mit der gemeinde«. (E II 39; E II 40) 88 Lindinner, Heinrich. (1696- ?), Zürich(?). Gattin: [92]. Buchbinder(?) Besucht Konventikel bei Anna Lindinner [93]. Er arbeitete unter der Woche in der Stadt. (E I 8.3; E II 56, S. 979) 89 Lindinner, Jakob. (1683–1740), Zürich. Onkel/Tante: [87/93] u. Bruder: [91]. Buchbinder. Besucht Konventikel bei Maler Füssli [36] und bei der Tante. (E I 8.1; E II 40) 90 Lindinner, Johann Ulrich. (1688–1758), Zürich. Theologe: Diakon in Stammheim. »Interessiert wegen Pietismo«. Kontakt zu Herrliberger [40] und Gossweiler [55]. Er wurde 1732(?) wegen geschlechtlichem Vergehen abgesetzt, 14 Tage im Wellenberg gefangen gehalten, zwei Tage an den Pranger gestellt und auf 10 Jahre verbannt. (E II 40, Register; E II 56, S. 839) 91 Lindinner, Josef. (1684–1737), Zürich. Onkel/Tante: [87/93] u. Bruder: [89]. Buchdrucker. Ist überzeugt von den Kräften und von der Disposition des Menschen zum Guten. Er druckte die geistliche Lotterie. 1708 wurde ihm durch die Zensurbehörde ein Kalender konfisziert. Druckt Himmelsblüemli,

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was ihm erneut Probleme mit der Zensur bereitet. Veranstaltet Konventikel und besucht welche bei Maler Füssli [36] Rathgeb [133] u. bei der Tante. (E I 8.3; E I 23.1; E II 56, S. 968 u. 948) 92 Lindinner-Meyer, Barbara. Zürich. Gatte: [88] Sie stammte aus dem Rheintal. Besucht Konventikel bei Rathgeb [133] und Anna Lindinner [93]. (E I 8.1; E I 8.3; E II 56, S. 851 u. 978) 93 Lindinner-Schinz, Anna. (1676–1722), Zürich. Witwe von [89]. Sie veranstaltete Konventikel über die Wiedergeburt an ihrem Wohnort, in Schärer Füsslis Haus, in Stadelhofen. Allabendliche Konventikelbesuche bei Maler Füssli [36]. Liest das Himmelsblüemli und besitzt die geistliche Lotterie. (E I 8.1; E I 8.3; E II 56, S. 948 u. 975) 94 Locher, Johann Heinrich. (1648–1718), Zürich. Cousin: [138], Onkel: [139]. Kaufmann. Senesal. Er galt als pietistischer Wortführer der ersten Generation. Er »fällt wegen Böhme-Worte auf«. Verfasste ein Tagebuch (D 197 d). Veranstaltete Konventikel. (E I 8.1; E I 8.4; E II 38, S. 211 ff.; E II 39; E II 56, S. 851; E II 423; Ms. D 197d, Ms. S 276) 95 Lochmann, Johann Heinrich. (1662–1734), Zürich. Magistrat: (1698) GR, (1704–10) LV Greifensee, Quartierhauptmann. E. Künzli [83] verbrachte 1721 illegalerweise eine Woche bei ihm. (Verhör Künzli: 13.7.1721) 96 Manz, Enoch. (1656- ?), Land. Tischmacher. Er wird vom Dorfpfarrer als Labadist denunziert (Mai 1691). (E II 38, S. 299; E II 39, S. 260) 97 Matzinger, Ursula. Land. Krämerin. Sie besitzt das Milch=Kind und erhielt von Rathgeb [133] Arndts Wahres Christentum. Besucht Konventikel bei Rathgeb. (E I 8.1; E II 40; E II 56, S. 843, 851 u. 941) 98 »Meitli«, mehrere nicht näher identifizierte jüngere Frauen aus Wallisellen. Land. Sie besuchten das Dietliker Konventikel [133]. (E II 56) 99 »Meitli«. Land. Es ist die Rede von »Balteschweiler Meitli« d. h. es handelt sich um mehrere junge Frauen aus Baltenswil. Sie besuchte(n) Konventikel bei Rathgeb [133]. (E II 40; E II 56, S. 940) 100 Meyer, N. (1693 oder 95- ?) Land. Nicht eindeutig identifizierbar. Sein verstorbener Vater war Wagner. Er predigte im Dietliker Konventikel. (Aussage Zimmermann, 21. Juli 1716.) 101 Meyer, Jakob. Land. Schuhmacher. Er beteiligte sich am Wirtshauskonventikel in Wallisellen [133 u. 211]. (E II 56, S. 985) 102 Meyer v. Konau, Johann Georg. (1663–1741), Zürich. Gattin: [103]. Rentner/Magistrat: Gerichtsschreiber in Weiningen. (E II 40) 103 Meyer v. Konau-Schneeberger, Dorothea. (1666–1741), Zürich. Gatte [102], Bruder: [149]. (E I 8.1) 104 Morf, Heinrich. (1641–1714), Zürich. Schwager: [65]. Buchbinder. Er bekam von L. Holzhab [65] 1698 einen Traktat von Jane Leade zugeschickt, was die erste Verhörwelle auslöste. (ZB S 276, Nr. 14; E I 8.5) 105 Müller, Dorothea. Zürich. Kappenmacherin. Sie arbeitete bei vielen Pietisten im Haus. Hafner Stadler[164] lernte sie durch Kaspar Waser [188] kennen. Besucht Konventikel bei Rathgeb [133] und Anna Lindinner [93]. (E I 8.1; E II 56, S. 856 u. 971) 106 Münch, Elias. Basel. Tischmacher-Lehrling. Er, »der sonst f leißig gearbeitet«, besuchte Konventikel bei Ulrich Koch jun. [79]. (E II 40; E II 56, S. 946 f.)

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107 Muralt v., Johannes Dr. (1645–1733), Zürich. Stadtarzt u. Chorherr. Er erhielt ein Traktat von Lindinner [91]. Er pathologisierte die Inspirierten in einem Gutachten z. h. d. GR. BW mit Kaspar Hardmeyer [51]. (E I 23.1; Ms. E 139) 108 Muralt v.-Pestalozzi, Anna Barbara. (1680–1753), Zürich. Onkel: [6], Mutter: [124] Schwester: [121]. Sie veranstaltete Konventikel und besucht welche bei Ulrich Koch jun. [79]. Bereitete der Obrigkeit allerhand Sorgen und zog über die Obrigkeit und Geistlichkeit her. Spricht auf der Gasse über die Seligkeit. Besucht ein halbes Jahr die Kirche nicht. Liest das Milch=Kind und das Himmelsblüemli. (E I 8.3; E II 56, S. 952, 977 u. 988) 109 N. N. Magd im Guggenschürli (Zähringerstr. 32). Sie gab Frau Weidler [195] einen Traktat. 110 N. N. Land. Kammerer. Bodmer [6] erhielt durch ihn Johann Heinrich Reitz, Historie Der Wiedergebohrnen, welches Bodmer dann subskribierte und in Zürich verkaufte. (E I 8.1) 111 N. N. Land. Kämbler aus Baltenswil. Besuchte Konventikel in der Riedmühle [133]. (E II 56, S. 950) 112 N. N. Magd(?). »Meitli ab dem Schwarzen Garten.« Besucht Konventikel bei Kaspar Füssli [33]. (E II 56, S. 571) 113 Näf, Anna. (1683- ?), Land. Verwandt: Fam. Näf [114–116]. Sie besuchte Konventikel bei Rathgeb [133] und Vollenweider [185]. (E II 56) 114 Näf, Jakob. (1650- ?), Land. Landrichter. Verwandt: Fam. Näf [113, 115 u. 116]. Er besuchte Konventikel bei Rathgeb und Vollenweider. (E II 56, S. 843 f., 872, 941 u. 985) 115 Näf, Hans. (1690- ?), Land. Verwandt: Fam. Näf [113, 114 u. 116]. Besuchte Konventikel bei Rathgeb und Vollenweider. (E II 56) 116 Näf, Verena. (1686- ?), Land. Verwandt: Fam. Näf [113–115]. Sie besuchte Konventikel bei Rathgeb und Vollenweider. (E II 56) 117 Orelli, Daniel. (1653–1726), Zürich. Cousine: [180]. Kaufmann. (1679) Stadt- u. Landrichter (erster Orelli), (1682) Bibliothekar der Burgerbibliothek, (1709) Amtmann, Zwölfer. Er wurde verdächtigt »wegen den Inspirierten«. Besuchte Konventikel bei den Geb. Hegner in Susenberg [52 u. 53]. (E II 40, S. 523) 118 Orelli-Schneeberger, Kleophea. (1691–1770), Zürich. Vater/Mutter: [149 u. 150]. Ihr Ehemann war Rentner u. französischer Konsul. Besucht Konventikel bei ihren Eltern. (E I 8.1; E II 56, S. 915) 119 Öri, Konrad. (1690–1756), Zürich. Verwandt mit Rahn. 2. Ehe (1726): [121]. Goldschmied, Hauptmann. Bei ihm arbeitete Ulrich Giezendanner [39]. (E I 8.1; E I 8.2; E II 40) 120 Os(ch)wald, Johann Ludwig. (1678–1720), Schaff hausen. Theologe: (1713) Pfr. in Dägerlen: »Tägerlen, dahin wandeln pietisten.« (Schaff hausen hat in D. die Kollatur.) Er veranstaltet Konventikel. Er beteiligt sich an den Rumstaler Konventikeln [4 u. 5]. (E II 40, S. 379; E II 56, S. 656) 121 Pestalozzi, Anna Magdalena. (1699–1753), Zürich. Mutter: [124], Schwester: [108]. Sie geht nicht in die Kirche und liest das Milch=Kind sowie das Himmelsblüemli. Sie veranstaltet Konventikel und besucht solche bei ihrer Mutter und bei Ulrich Koch jun. [79]. (E I 8.3; E II 56, S. 988)

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122 Pestalozzi, Andreas. (1692–1769), Zürich. Großvater des Pädagogen Heinrich P. Onkel: [123]. Theologe: (1716) Filialist Schwamendingen, Pfarrer in Höngg. Besucht das Engstringer Konventikel bei Schneeberger [149 u. 150] und ist in den Badener Handel verstrickt (Besuch einer kath. Messe). (E II 56, S. 872) 123 Pestalozzi, Johann Konrad. (1660–1745), Zürich. Verwandt: Rahn, Schwager: [6], Neffe: [122]. Seidenhändler. (1711) Direktorium. Er galt als »pater pauperum«, weil er die hugenottischen Flüchtlinge großzügig unterstützte. Er schickte seine Kinder zum pietistischen Pfr. Ernst in Birrwil zur Schule. 124 Pestalozzi-Bodmer, Anna Magdalena. (1670–1730), Zürich. Töchter: [108 u. 121], Bruder: [6]. Ihr Gatte ist Seidenhändler und Teilhaber an der Bodmerschen Druckerei. Veranstaltet Konventikel. Lästert gegen die Obrigkeit und die Geistlichkeit und kritisiert die Pfründenjagd. Geht ein halbes Jahr nicht in die Kirche. (E I 8.3; E II 56, S. 489 u. 977) 125 Pfaffhauser, Barbara. (1686- ?), Land. Sie galt als arm. Sie besucht die Dietliker Konventikel [133]. (E II 56, S. 942; E II 56a, S. 1953 ff.) 126 Pfeifer, N. (unbek. »Jgfr.«). Land. Sie besuchte die Dietliker Konventikel [133] und wurde von Ludi Weber [189] verraten. (E II 56, S. 844) 127 Pfeifer, N. (unbek.). Land. »Unbekannter Pfeifer aus Ötwil [a. L.(?)]«. Kontakt zu Rathgeb [133]. Gilt als »Briefträger« der Pietisten. (E II 40; E II 56, S. 944 f.) 128 Pfister, Heinrich. Land. Bruder: [129]. Taglöhner. Er sei der Intimus des Rathgeb [133] und erhielt dessen Gesangsbuch. Er legt das Kontaktnetz von Rathgeb offen. Verdiente 1/2 j pro Tag. Er arbeitete beim Riedmüller, wo er auch die Konventikel besuchte. (E I 8.3; E II 40; E II 56, S. 985 f.; E II 40, S. 455 u. 985) 129 Pfister, Hans. Land. Bruder: [128]. Zeinenmacher und Ehegaumer. Melchior Füssli [34] hatte bei ihm Schulden. Besucht Dietliker Konventikel [133]. (E II 40; E II 56, S. 940) 130 Rahn, Heinrich. (1694–1768), Zürich. Vater: [131], Verwandt: Rahn. Buchführer (Buchhändler oder -verleger) er besitzt eine Seidenfärberei vor dem Niederdorf. Kontakte zu Öri [119]. (E I 8.2) 131 Rahn, Johann Rudolf. (1669–1725), Zürich. Sohn: [130], Cousine: [8]. Theologe: Pfr. in Rickenbach. 132 Rathgeb, Barbara. (1695- ?), Land. Halbbruder: [189]. Weberin/Heimarbeiterin. Sie lebte im Elternhaus. Die Mutter verbot ihr Konventikel bei Rathgeb [133] zu besuchen, so dass ihr »am webstul angst und bang worden«. (E I 8.1; E II 56, S. 844) 133 Rathgeb, Johann Jakob. (1684- ?), Land. Müller und Richter. Er wurde auch Riedmüller genannt. R. veranstaltete in seiner Mühle die Dietliker Konventikel. Er wurde durch die Obrigkeit zum Verkauf seiner Mühle gezwungen und ging ins Exil. Er war eine zentrale Figur des Pietismus der zweiten Generation. (E I 8.1; E I 8.2; E II 40; E II 56, S. 843 ff.) 134 Rathgeb-Rathgeb, Verena. (1679- ?), Land. Besucht die Rumstaler Konventikel [4 u. 5]. (E I 8.1; E II 56, S. 848) 135 Reutlinger, Johann Heinrich (»Flux«). (1678 – 1748), Zürich. Theologe: (1716) Pfr. in Fischenthal. Er wird 1701 vom Theologiestudium ausgeschlos-

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sen, kann aber 1703 die Prüfung nachholen. Er gerät 1716 erneut in Verdacht, weil er in seiner Gemeinde Tennhardts Schriften verteilt. 1728 wird er »wegen Vergehens mit seiner Magd« abgesetzt und im Wellenberg inhaftiert. R. ging anschließend als Hauslehrer nach Augsburg. (E I 8.1; E II 40, S. 363) Riffel, N. (unbek.) Land. Sie besucht Konventikel bei Rathgeb [133], und ist befreundet mit Barbara Lindinner [92]. (E II 56, S. 978) Ritz, Lukas. Land. Er wird als ein Pietist angesehen, und wirkt als »Laienpriester«. Teilt im Rheintal verdächtige Bücher aus. »Besucht Lichtstubeten und vagiert im Land herum.« (E II 40, S. 281) Römer, Anton. (1661–1715), Zürich. Onkel: [139], Cousin: [94]. Kaufmann. Besucht Konventikel bei Peter Zeller [208], Kontakte zu Georg Ziegler [212], etc. (Ms. Z V100) Römer, Heinrich. (1628–1697), Zürich. Neffen: [138 u. 93]. Kaufmann. Die Römer galten als die führenden Kauf leute. Sein Vater kaufte sich ins Bürgerrecht der Stadt ein. Er finanzierte den Druck der ins Deutsch übertragenen Leadschen Schriften. Liebhaber mystischer Schriften: die Sammelbände Ms. Car I 254 bis Car I 260 tragen das Exlibris der Römer. (Ms. Z V 100) Ryker,Vreneli. Land. Sie arbeitete unter der Woche in der Stadt. Sie wirkte als Nachrichenträgerin. Besucht Konventikel bei Rathgeb [133] und evtl. auch bei den Schneebergers [149 u. 150]. (E I 8.3; E II 40; E II 56, S. 952) Sauter (Suter), Johann Heinrich. (1665–1727), Winterthur. Theologe: Kapitel-Diakon in W’thur. Er soll mit Rektor Sulzer zusammen gegen Stadtpfr. Wirz »schnaufen«. Werk: Der im Umgang seines Fleisch emsig lehrende große Prophet JEsus Christus, 1692. [ZBZ VIII 240/11] Schaufelberger-Bachofen, Ursula. (1675–1756), Zürich. Sie wurde des Pietismus verdächtigt. Steht im Kontakt mit dem Pietistenkreis in Stein und besucht Konventikel bei Stadler [164]. (E II 40, S. 446; E II 56, S. 953) Schellenberg, Tobias. (1690–1741), Winterthur. Entfernt verwandt: Hegner [52 u. 53]. Theologe: (1739) Pfr. Pfungen. Er »treibt pietistische Reden« und wird 1715 zusammen mit Erhard [18] verhört. Sie eröffnen den Winterthurer Pietistenprozess. (E II 40, S. 299) Scheuchzer, Johann Jakob Dr. (1672–1733), Zürich. Er las pietistische Schriften und verteidigte die Pietisten öffentlich. Einer der Wortführer in den Burgerunruhen. (E 23.I; E II 56, S. 867) Scheuss, Lorenz. (1684–1766), Appenzell. Theologe. Wird an der Herisauer Synode 1711 unter dem Pietismusvorwurf abgesetzt. Verteilt in Sax Tennhardts Schriften. Er wirkte später in Württemberg. (E II 40; Ms.. W 446, S. 298) Schmied v., Elisabetha. (1675–1750), Zürich. Lavater [86] unterhielt zu ihr eine religiöse Beziehung. (Leonhard Meister, S. 107.) Schmied, Heinrich. (1678–1751), Zürich. Schneider. Er kam in Verdacht, »wegen schmehen über das Ministeriu[m]«. Er traf Bodmer [6] nach dessen Verurteilung und rief aus: »in Zürich gebe es keinen Pfaffen der ein ›Milchkind‹ verfassen könne«. (E I 8.1; E II 40.369; E II 56.867 u. 856) Schmid, N. (unbek.) Theologe: Provisor in Stein. Steht im Kontakt mit Rathgeb [133]. (E II 56, S. 846) Schneeberger, Johann Kaspar Jkr. (1664–1727), Zürich. Schwester: [103], Tochter [118], Gattin [150]. Rentner u. Leutnant. Veranstaltet Konventikel:

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Anhang Ulrich Giezendanner [39] hatte in seinem Landsitz in Engstringen Inspirationen. Beherbergt die Inspirierten Gleim und Gruber. (E I 8.1; E II 40) Schneeberger-Escher v. Glas, Maria. (1674–1755), Zürich. Gatte: [149], Tochter [118], (Großonkel: BGM Heinrich Escher-Werdmüller (†1710),) Verwandt: [207]. Rentnerin. Veranstaltet Konventikel und besucht das Rumstaler Konventikel [4 u. 5]. (E I 8.1; E II 40) Schönau v., Heinrich Jkr. (1654–1689), Zürich. Rentner. Verfasser einer Kirchengeschichte. Gründungsmitglied des Collegium Insularum. Labadist, hielt sich mehrere Jahre in Friesland auf. Freund von Locher [94]. (ZB Z V 100) Schulthess, Johann Heinrich. (1665–1739), Zürich. Sohn: [153], Schwager: [2, 54]. Kaufmann, Seidenfabrikant. GR der freien Wahl und Mitgl. d. Direktoriums. In den 20er Jahren des 18. Jh. wird er der Wortführer der Herrnhuter und steht mit Zinzendorf im BW. Veranstaltet Konventikel auf seinem Landgut in Höngg und besucht solche bei Schneebergers [149 u. 150]. (E I 8.1; E I 8.3; E II 40; E II 41, S. 5) Schulthess, Johann Jakob. (1691–1740), Zürich. Vater: [152]. Theologe: Pfr. in Schwabendorf (Hessen-Nassau). Im Sept. 1712 kommt er mit pietistischen Gedanken in Kontakt. Verteidigt die Inspirationen. Favargue bezeichnet ihn als »Adjutanten« Bodmers [6]. Besucht Konventikel bei seinem Vater, bei Schneebergers [149 u. 150], bei K. Ziegler [213], bei Rathgeb [133], bei Wolf [205], bei Füssli im Niederdorf [30 u. 35] und bei Holzhalb [63]. Er wurde 1716 aus Zürich verbannt. S. schloss sich der Inspiriertengemeinde an und wurde Schreiber und Begleiter von Johann Friedrich Rock. (E I 8.1; E II 40) Schwarzenbach(er), N. (unbek.) Land. Er beteiligte sich an Walliseller Wirtshauskonventikel [133 u. 211]. (E II 56, S. 844) Schweizer, Jakob. (1656- ?), Zürich. Tischmacher. GR, Zwölfer, (1726) OV Attikon. Wird im Sept. 1689 verhört. (E II 38, S. 211 ff.; E II 40) Schweizer, N (»Jgfr«). Unbek. Sie besucht bei Kleophea Ulrich [181] Konventikel. (E II 40) Signer, Buonaventura. (1678- ?), Stein. Gattin [158]. Er kaufte via Koch Bücher bei Bodmer ein. War Nachbar von Stadtbott Fischer [23]. BW mit Bodmer [6]. (E I 8.3; E II 700:170) Signer-Bergbach, Anna Barbara. (1667- ?), Stein. Gatte: [157]. Liest das Himmelsblüemli. (E I 8.3; E II 700:170) Späni, Georg. (1695- ?), Land. Reisender. Besitzt das Milch=Kind und die Übung der Gottseligkeit. Ersteres kaufte er in Fischenthal auf der Straße. (E I 8.3 [1718 S. 1–60]) Speyer, Friedrich. Württemberg D. Barbier-Geselle. Er wirkte in Zürich und wurde des Landes verwiesen. Steht unter den Einf luss von Wolther. Veranstaltet Konventikel. (E II 423) Sprüngli, Heinrich. (1680–1757), Zürich. Vater/Mutter: [162, 163]. Theologe: (1713) Pfr. in Arbon. Befreundet mit Knecht [73] und Grob [43]. Sprüngli, Jakob. (1649–1713), Zürich. Gattin: [163], Sohn: [161]. Schuhmacher Meister. Besucht Konventikel bei G. Ziegler [212]. (E II 38, S. 211 ff.) Sprüngli-Körner, Barbara. (1645- ?), Zürich. Gatte: [162], Sohn: [161]. Besucht Konventikel bei G. Ziegler [212]. (E II 38, S. 211 ff.)

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164 Stadler, Heinrich. (1683–1748), Zürich. Hafner. Erhält Bücher von Lindinner. Besucht Konventikel bei Rathgeb [133] und M. Füssli [36]. (E I 8.1; E I 8.3; E II 40, S. 363, 411, 421 u. 425) 165 Starck, N. (unbek.) Appenzell. Ein Pietist aus dem Appenzell, er »mischte sich im Rheintal, in Altstetten, ein« (7. Mai 1719). Er geht nicht zur Kirche. (E II 41, S. 81 u. 158.) 166 Steiger, N (unbek.). Basel. Kupferschmied-Geselle. Er hält im Niederdorf zwei Predigten. Er wollte Pfarrer werden, sein Vater hatte ihn aber zum Handwerk erzogen. (E II 40; E II 56, S. 938) 167 Steiner, Andreas. (1689–1767), Zürich(?). Theologe: Expektant, (1726) Abendprediger, (1736) Subdiakon St. Georgen, Winterthur, (1746) Stadtdiakon. Besucht Rumstaler Konventikel [4 u. 5]. (E II 56, S. 653 ff.) 168 Steiner, Johann Jakob. (1670–1732), Winterthur. Theologe: Pfr. Wülf lingen. Pietistischen BW mit Rektor Sulzer [173] und tauscht pietistische Literatur mit ihm aus. Kontrollierte später das Rumstaler Konventikel [4 u. 5]. (E II 56, S. 563 ff.) 169 Stiefel, Barbara. Land. Obsthändlerin, Baumwollzettlerin. Sie besucht Konventikel bei Rathgeb [133], B. Füssli [34] und bei Frau Lindinner [93]. Sie wird als Analphabetin beschrieben, die den Katechismus nicht kenne. (E I 8.3; E II 40; E II 56, S. 974) 170 Sulger, Anna Magdalena. (1689- ?), Stein. Schwester: [45]. Besucht Konventikel bei Koch [77]. (E II 40; E II 56a, S. 2132) 171 Sulzer, Heinrich. (1680–1762), Winterthur. Mediziner. Er wird als »Interessierter« bezeichnet, den andere Pietisten nicht kontaktieren dürfen. Er unterstützt den Antrag der geheimen Schultheiss-Wahl. (E II 40) 172 Sulzer, Jakob. (1686–1739), Winterthur. Cousin: [175], Onkel: [173], Entfernt verwandt: [83]. Theologe: (1728) Pfr. Pfungen. Ihm wird der Kontakt zu H. Sulzer [171] verboten. Mitglied im Musikkollegium. Veranstaltet Konventikel und besucht jenes in Rumstal [4 u. 5]. Wird 1715 für drei Jahre als Theologe suspendiert. BW mit Giezendanner [39]. Druckt 1715 seine pietistische Predigt bei Bodmer [6], Schrifftmässige Betrachtung der Worte Jeremie [ZBZ VII 240]. (E II 40) 173 Sulzer, Johann Kaspar. (1660–1719), Winterthur. Neffen: [83, 172 u. 175]. Theologe: (1712) Rektor. Er leistet Widerstand gegen Stadtpfarrer Wirz und verweigerte in Stellvertretung von Wirz zu predigen. Versäumt den Konvent. Mitglied im Musikkollegium, wo er für den Pietismus agitiert haben soll. BW mit Steiner [168]. (Alice Denzler, S. 82; E II 40) 174 Sulzer, Johann Kaspar. (1693–1760), Winterthur. Theologe: (1741) Pfr. Pfungen, (1747) Rektor. Veranstaltet Konventikel. Macht das übernatürliche Fasten von A. Geilinger [37] öffentlich. (E II 40, S. 271 ff.) 175 Sulzer, Wolfgang. (1681–1747), Winterthur. Cousin [172], Onkel: [173], entfernt verwandt: [83]. Theologe: (1726) Pfr. Wülf lingen, (1746) Eherichter. Wird als Pietist verdächtigt. Zeichnet die Inspirationen von E. Künzli [83] auf. (E II 40) 176 Sulzer-Forrer, Dorothea. (1690–1745), Winterthur. Sie lobte das Milch= Kind, das sie von Georg Künzli [84] erhalten hatte. (E II 56, S. 739) 177 Thomann, Felix. (1691–1721), Zürich. Theologe: Pfr. in Wipkingen. Er wurde

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Anhang abgesetzt und durch einen Ratsbeschluss vom 3.4.1719 unter Hausarrest gestellt. (E I 8.2) Ulrich, Johann Jakob. (1683–1731), Zürich. Schwester [11], Gattin. [180]. Theologe: Pfr. am Oetenbach (Zürich) und (1710) Prof. für Ethik. Galt als gemäßigter Pietist der sog. holländischen Richtung. Viele Pietisten bevorzugten seinen Gottesdienst. Kontakt zu den Berner Pietisten Ernst und Sprüngli. Fordert das Recht auf erbauliche Versammlungen. Wird wegen »anzügiger Predigten« mehrfach verhört. (E II 40; E II 56, S. 892 ff.) Ulrich, N(unbek.). Zürich. Hauptmann. Er beteiligt sich am Konventikel bei Hegners in Susenberg [52 u. 53]. (E II 40, S. 323) Ulrich-Orelli, Maria. (1678–1754), Zürich. Gatte: [178]. Besucht Konventikel, verkehrt mit Wolf [205] und den Geschwister Füssli [30 u. 35]. (E II 40; E II 56, S. 851) Ulrich-Pfister, Kleophea. (1673–1721), Zürich. Sie veranstaltete 1714 Konventikel. (E II 56 [18.1.1715]) Usteri, Paul. (1667–1718), Zürich. Verwandt: [212]. Kaufmann. Bei ihm stiegen zwei bernische Pietistinnen ab, und es finden in seinem Haus religiöse Zusammenkünfte statt. Er fungiert als Deckadresse für BW Ziegler-Speyer [212/160]. Locher [94] erledigt auf seiner Reise in die Niederlande auch für U. Geschäftliches. (ZB Z V 100) Vetter, Leonhard. Stein. Theologe: Vikar in Stammheim. Er fällt wegen »ergerlichen Predigen« auf: Er lege die Bibel eigenwillig aus. Suspendiert am: 12.2.1719. (E II 40.300, 302; E II 56a, S. 2077–2084; E II 41, S. 65) Vogel, Sixt. (1674–1725), Zürich. Wirt zum Hecht. (1721) Amtmann in Küsnacht. 1713 war er bürgerlicher Deputierter. Er kritisiert die Pietistenverfolgung und verglich sie mit der römischen Inquisition. Er kassiert ein obrigkeitliches Missfallen (10.7.1716). Vollenweider, Jakob. (Genannt »Krämer«) (1656- ?), Land. Seidenweber. Er veranstaltet Konventikel. (E II 56, S. 872) Waser, Heinrich. (1680–1756), Zürich. Theologe: Hauslehrer bei Schneeberger [149], (1711) Vikar in Dübendorf, (1728) Pfr. Hombrechtikon. Er meldet die Inspirationen des Giezendanner [39] nicht. Das macht ihn als einen in »pietismo interessierten« verdächtig. (E II 56, S. 855) Waser, Heinrich. (1685–1777), Zürich: Mutter: [8]; Bruder: [188]. Schiffmeister u. Hauptmann, Obmann der Schiffer. Er schickt seine Kinder zu Pfr. Ernst in Birrwil in eine Pietistenschule. Waser, Johann Kaspar. (1682–1763), Zürich. Mutter: [8], Bruder: [187]. Magistrat. Er beschäftigte als Landvogt in Sax Johann Kaspar Füssli [33] als Hauslehrer. Vermittelt Dorothea Müller [105] pietistische Kontakte. (E II 41, S. 90) Weber, Ludwig (»Ludi«). (1691- ?), Land. Halb-Schwester: [132]. Vermutlich Heimarbeiter. Er lebte im Elternhaus. Legte das Kontaktnetz des Riedmüllers in seinem Verhör offen. (E I 8.1; E II 40; E II 56, S. 843) Weber-Schellenberg, Adelheid. Land. Müllerin. Sie kenne die Fam. Lindinner seit 20 Jahren. Sie besitzt das Himmelsblüemli und das Milch=Kind. Sie halte pietistische Reden. (E I 8.3; E II 40) Weidler, Jakob. Land. Gattin: [195], Kinder: [192–194]. Besuchte Bodmer 1716 im Obmannamt 1716. Konventikel bei Rathgeb [133]. (E II 56, S. 850)

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192 Weidler, Johannes. Land. Vater/Mutter: [191/195], Geschwister: [193 u. 194]. 21.7.1716, Verhör der »Widlerschen Haushaltung wegen Frechheit gegen die Obrigkeit«. Er beteiligt sich trotz Verbot an den Konventikel bei Füssli im Niederdorf [30 u. 35]. (E I 8.1; E I 8.3; E II 56, S. 979) 193 Weidler, Maria. Land. Vater/Mutter: [191/195], Geschwister: [192 u. 194]. Besucht Konventikel bei Rathgeb [133] und Füssli im Niederdorf [30 u. 35]. (E I8.3; E II 56, S. 850 u. 979) 194 Weidler, Regula. Land. Vater/Mutter: [191/195], Geschwister: [192 u. 193]. Sie besaß das Himmelsblüemli. Besucht Konventikel bei Füssli im Niederdorf [30 u. 35] und bei Rathgeb [133]. Er kommt oft zu Besuch. (E I 8.3; E II 56, S. 979) 195 Weidler-Steiner, Elisabetha. Land. Gatte: [191], Kinder: [192–194]. Sie erhält von der Magd im Guggenschürli [109] ein pietistisches Traktat. Besucht Konventikel bei Rathgeb [133]. (E II 56, S. 850) 196 Weiss, David. (1644–1704). Zürich. Kürschner. (1698) Amtmann in Embrach. Besucht Konventikel bei Georg Ziegler [212]. 197 Werdmüller, Beat. (1698–1749), Zürich. Vater: [198]. Theologe (Student): Reisen nach Heidelberg, Bremen und Holland. (1722) Pfr. Albisrieden, (1729) Diakon St. Peter, (1744) Archediakon Großmünster. Er führt G. Giezendanner [38] bei Rathgeb [133] ein, wo er Konventikel besucht. Er besuchte die Predigten im Oetenbach [178]. W. schrieb eine ›Schweizer Robinsonade‹. (E II 56, S. 855) 198 Werdmüller, Johannes. (1665–1709). Zürich. Sohn: [197]. Theologe: Studierte in Frankreich, England und Holland. (1693) Diakon St. Peter, (1705) Archediakon. Er erhielt aus Frankfurt die Schrift Apologie der sog. Pietisten, deren Verbreitung der Rat 1701 verbot. (Leonhard Meister S. 117.) 199 Wetter, N (unbek.). St. Gallen. Tapezierer (-Geselle?). Er war zeitweise »Adjutant« von Rathgeb [133], wo er auch die Konventikel besuchte. (E II 40; E II 56, S. 807) 200 Wettstein, Rudolf. (1681- ?), Land. Besucht Konventikel bei Rathgeb [133]. 201 Wiedler, Konrad. (1654- ?), Stein. Weber (früher Färber). Er »stopfte dem Pfr. das Maul«. Besucht Konventikel bei M. Koch [75]. (E I 8.3; E II 40) 202 Wiesmann, Rudolf. (1692- ?), Land. Er wurde »wegen Pietismo« verdächtigt. Evtl. Konventikel bei Rathgeb [133]. (E II 40, Register) 203 Wiser, N (unbek.). Stein. Schwester: [49]. Sie besucht Konventikel bei Sigrist Koch und M. Koch [75/79]. (E I 8.3) 204 Wolf, Johann Jakob. (1687–1746), Zürich. Theologe: (1714) Diakon in Baden, (1721) Pfr. Regensberg. Er war 1716 in den Badener Handel verstrickt (Besuch einer kath. Messe). Veranstaltet Konventikel und besucht solche bei K. Füssli [33]. (E I 8.1; E II 40) 205 Wolf-Hirzel, Esther. (1693–1755), Zürich. Sie wurde verhört wegen Umgang mit Rathgeb [133]. Veranstaltet Konventikel. (E I 8.1; E II 56, S. 851;) 206 Wyss, N (unbek.). Württemberg D. Student der Jurisprudenz. Er wurde als Bettler oder Vagabund bezeichnet. W. diente als Briefträger der Pietisten. Besucht die Bassersdorfer Pietisten. (E II 40) 207 Wyss-Escher v. Glas, Anna Barbara. (1689–1771), Zürich. Verwandt: [150]

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Anhang

(Großvater: Heinrich Escher, BGM) und [20]. Besucht Konventikel bei Füssli im Niederdorf [30 u. 35]. (E I 8.1) 208 Zeller, Johann Heinrich. (1954–1699), Zürich. Theologe. Pfr. am Fraumünster zusammen mit seinem Bruder, dem späteren Antistes Peter Z. Veranstaltet Konventikel. Tritt für strenge Kirchenzucht ein. (Ms. E 176; Ms. S 276, Nr.6) 209 Ziegler, Anna. (1664–1743), Zürich. Geschwister: [210 u. 212]. Besucht Konventikel ihres Bruders. (E II 423) 210 Ziegler, Barbara. (1655–1716), Zürich. Geschwister: [209 u. 212]. Besucht Konventikel ihres Bruders. (E II 423) 211 Ziegler, David. (1690- ?), Land. Schärer. Er war der Sohn des Walliseller Wirt. Rathgeb [133] hielt mit ihm in der Wirtschaft in Wallisellen Konventikel ab. Er gab Ludwig Weber [189] das Milch=Kind. (E II 56, S. 844) 212 Ziegler, Johann Georg. (1659–1749), Zürich. Schwestern: [209 u. 210], Schwiegervater: [9]. Theologe: Expektant. Er wird 1692 abgesetzt und verbannt. Er vertritt eschatologische Ansichten und die Theorie der Impekkabilität. Er ist ein Freund und Schüler von Wolther. Am 2. Okt. 1692 fand eine öffentliche Disputation mit ihm statt. Veranstaltet Konventikel. (E II 423, S. 39–52 u. 63; E II 38, S. 211 ff.) 213 Ziegler, Johann Kaspar. Winterthur. Theologe. Heiratet Tochter des Antistes Zeller. Veranstaltet Konventikel und besucht solche bei Schneebergers [149 u. 150], bei Füssli im Niederdorf [30 u. 35] und bei Rathgeb [133]. Er wird 1714 durch Examinator Escher [20] geschützt, aber 1716 suspendiert. Wird als Sekretär Giezendanners [39] bezeichnet. Er soll nach seiner Verbannung als Pfr. in Biel und Pieterlen gewirkt haben (Wernle, S. 194.). Bei C. Lohner: Die ref. Kirche und ihre Vorsteher im Freistaat Bern, Thun o. J., findet sich kein Johann Kaspar Ziegler! Er ist nicht identifizierbar, evtl. übte er später ein Handwerk aus. (E I 8.1; E II 40) 214 Zimmermann, Andreas. Land. Er stand in Kontakt mit den bernisch-aargauischen Pietisten Ernst und Sprüngli. Evtl. Besuch der Konventikel bei Rathgeb [133]. (E II 56, S. 950) 215 Zimmermann, Kaspar. Land. Entfernt verwandt: [213]. Theologe (Student): Er wurde am 1. Juli 1716 suspendiert. K. erhielt das Milch=Kind von unbek. (?) Wurde nicht in ZH Pfarrer. Er übergibt dem BGM die Inspiration von Giezendanner [39], damit sie im Rat verlesen wird. Besucht Konventikel bei Rathgeb [133]. (E I 8.1; E II 40; E II 56, S. 802, 808 u. 848) 216 Zoller, Heinrich Jkr. (1671–1763), Zürich. Rentner. Er stand in holländischen Diensten. Quartierhauptmann. (1740) LV Eglisau, 18er. Er war bei der Inspiration Grubers in Schneebergers [149] Haus anwesend. Gleim und Gruber waren seine Gäste. (E I 8.1; E II 40; E II 56, S. 848)

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Bücherbesitz Johann Heinrich Lochers

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Bücherbesitz Johann Heinrich Lochers a) Die zurück gegebenen Bücher Transkription der Konfiskationsliste Ms. S 276, Nr. 11 1699 Von den Büchern, welche vermög Erhaltener Oberkeitlicher Erkantnus in ver wichenem Jahr dem Heinrich Locher abgenommen worden, hat man Ihme ca. 100 Stuck widerum zu gestelt wie folgt 7 St 2 6 2 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 1 1 1 1 1 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1

einer Hebraischen Bibel mit Latein Griechisches Testament Teütsche Froschauer Bibel vom Herborischen Bibelwerk neü Testament franz: von Godeau neü Testament ital: zu Lion getr. neü Testament tütsch, Polanu neü Testament Englisch Erstes Buch Mosis von He Gualter Sumaria der Bibel geschriben Lateinisch und tütscher Psalter Psalter – D. Sudermans – geschrieben Psalter R. Gwalters mit anotationes Psalter von dito ohne anot. Psalter Josua Maalers mit nota Psalter, alt zu Zürich 1531 Psalmenbuch Lobwaßers Psalmenbücher Hollendisch Psalmenbuch Camphuysens 1625 [?] Psalmenbuch zu Maintz getr. Eras: Rotterd: Lucuberationes Züricher Kirchenordnung 1626 Güldene Sendschr Guevarre Johan von Münsters werk Tauleri Predigen zu Lutheri Zeiten getr. Tauleri Pred: zu Collen 1660 Tauleri vom armen Leben Christi Uber die offenb. Joh: Naperi von Schonau Teutsches Büchlein 1688 Ankery Gottes Herrn Wirtzen Gedoria Moses und Aron, Hollend dito Hochteütsch Bullingers von der Buß Zwingly Sinn des Christl: Galub: dito von wahren u falschem Gl:

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4° 4° 12° 4° 8° 8° 8° 8° 8° 4° 4° 8° 8° 8° 12° 12° 16° 8° 8° 4° 4° 4° 4° 4° 8° 8° 8° 8° 8° 8° 8° 8°

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Anhang vom gezwungenen Eydt Ketten der Babelschen Godsgel: Ecconomiae de livre de V&N Testam. Songe de lois le grand [?]

[Neue Seite] 1 St He Bullingers W. etlichen Artikel: 1 der geoffnete Himmel 1 Zeiger dr biblischen Historien 1 uber das Vatter unser He Thormans 1 Zustand der gläubigen nach dem Tod 2 Zürcher Catechismus 1 Herr Anhorns Zauber Buch 3 Decretum wider Molinos 1 Geschribne Gebetter 1 neist noch weiß Papier 1 Kempis zu Zürich getruckt 1535 2 Kempis, Hollendisch & französich 1 Erichs Renatu, Princip: Philol: 1 dito villa benedetta 1 Pastor fido mit Kupferfiguren 1 Pastor fido ven. 1673 1 arztney buch Gabelhaures 1 Petrarchi 6 Sigesprachten 1 Galileo Galilei Astronomisch buch 1 Maestro di Camo generale 1 Mayers Compend: Miracul: 1 Philonis Weltgeschichten 1 Frey müthiger Battavier 1 Amans Reiß beschreibung 1 Med. Fochetti medicinisches büchlein 1 Kramers Wörterbuch Ital: Teutsch 1 Spathen Stambaum der Teütschen Sprach 1 Englischer Sprachmeister 1 Buxdorfs Hebreischmanuale 1 Thesaurus mundi Strassb. 1624 1 Natur kündigung Ffurt 1604 1 Erklahrung Chymischer worter 1 Burnets Reiß beschreibung 1 Thesauri Campegiamenti d Piem 1 dito Philosophia morale 1 dito Historia di Turino 1 dito Panegirici 1 Regno d’Italia 42 1 Cornelio Lambertini Hist. del Piemont 1 Gebelhouers artzney buch

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8° 8° 8° 8°

8° 8° 8° 8° 8° 8° 8° 8° 8° 8° 16° 8° 8° 4° 8° 4° 4° 4° 4° 8° 8° 8° 8° 8° 4° 4° 8° 12° 8° 8° 8° 8° 8° 8° 8° 8° 4°

Bücherbesitz Johann Heinrich Lochers

b) Die konfiszierten Bücher Transkription der Konfiskationsliste Ms. S 276, Nr. 11 1699 Nota der zuruckgeblibenen Bücheren 2 St 1 2 1 1 1 2 1 3 1 1 1 1 1 2 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1

Paracelsi Opera Tütsch in fol° in weiß Schweins leder und mit Schloßern sauber eingebunden Sebastian Francken Sieben Sigelbuch In fol: 1559. Sind lauter biblische Sprüch Vom Reich Christi in 4° Niderteutsch dito […] Paradoxa Daniel Südermans Sinnbilder mit schonen Kupferfiguren und versen Galileo Galilei Mathematische Schrifften Evang: Math: Griechisch und Hollendisch Tauleri opera zu Ffurt getruckt Tauleri medulla anime 8° Ffurt Daniel Fridrichs Schrifften Hermes Trismegisti Schrifften Hildbrands Magia Naturale Burnets betrachtung des Erdreichs Erasmi Rotterdams von der Zunge Joachim Betki Tractaten Neüe Testament Nidertütsche Bücher in 4° ohne Autor Schwenckfelds Orthodoxische Schrifften Serarii Erkundung über Apoc Peganii […] Theologia germania [….] mit D. Luthers Vorred Herold über die Apocal: Posaunen Ant: Bourignon Liecht der Welt von dita Liecht in der Finster: von dita Hoche Schuel Tractat lilien Blum Hollend Thesauri opera Italienisch Albrechts Bericht von der Zauberei Von der Seelen innern [?] Haus Bernh: Biblische Chronologia Prediche di Vieira italienisch Barclay gemüths neigungen

[Neue Seite] 3 St dreÿ tractatlein Joh Arnds

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526 2 1 1 1 1 1 2 1 1 1 3 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1

Anhang Kempis einer Ital: und der ander Teut Hauß- Reiß und Kirchen Kleinot Bacon von Verulami LehrSchrifften Heinrich Lobers wider die Quacker Quacker Grieüel, des Minysterii zu Hamb: Lasenius wider die Quacker Holtzhausens wider Böhm Widerlegung Elia Pretorii Wildens von der Predestination Goldwurms Kinder Kalender Von aufferziehung der Kinder dito Hollendisch Kleine Hauß Schuel Doctrina du Salut Kempis frantzösisch Pfeiffers S[c]epticismus Harmonia Sacra Joh Christiani Musica Sinoià Zimmermanns Psalter Dachste[i]n Reimweiß Psalter Reußners Testament der 12 Patriarchen Von der Gelaßenheit, ohne Autor Vom Ehestand niderteutsch Vom Liecht der Gemuther Johan Evangelsita Capuciners Kuel Psalter Parÿser Schreiben Kuelmans Alcoran Fritschen Seel Einfalt – Wolffg: Baecklers Ewige Geburt des Sohns Gottes Speners Christlicher Spiegel des Anti Christs Schatz der Seelen nidertütsch Selbsterist versweiß Kupferfiguren über das Hochelied wider Tschetsch von J. B. Schrifften Bedenken vom Hamburgischen SynodalEÿd Thomasi, das Menschen Gedanken zu kenen Christian Rosenkr: Chymische Hochzeit Anfangsgründe der Algebra Zeit Rechnung des H Schrifft Yvons Entdekung der Wahren Religion Bunjans Reiß nach der Ewigkeit

[Neue Seite] 2 St Jacob Bohme Schrifften Hochteutsch 7 von dito Hollendisch

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4° 4°

Bücherbesitz Johann Heinrich Lochers 6 dessen samptliche Werck 8 oder 10 St von dito alte Editiones 4 Hiel Samptliche opera 8 oder 10 St. von dito unterschiedliche Tractate 5 Jane Leade opera 8 H. Niclas opera 1 Apologia J Bohmen von Joh Mathey 1 Apologia J Bohmen wider Joh: Muller 1 Franckenbergs ArtzetEngel 1 dito Mir Nach ist Jesu Christi […] 1 dito Autors unterschidliche Tract: 1 Rob: Barclai Apologia in 4° 1684 1 Engelbrechts Gesichten 1 Hermans von der Hude Gesichten 1 Himlische Zeitungen 1 Verfolgung der Heiligung 3 Molinos Italineisch frantz nederte 1 Aug: Fuhrmans opera und andere 1 Elia Pretorii vom Mißbrauch des Predigamts 1 Apologia Pretoriana 1 Hoburgs Theologia Mystica 1 dito davidische Seelenubung 1 dito Praxis Arndiana 1 Vatterlands preservatif 1 Gesprech vom teutschen Krieg 1 Evangelisches Judenthum 1 Spiegel eines wahren Christen 1 Angeli Mariani offen Hertz eines Pforte 1 Petersen Sendschreiben W. Erscheinungen 1 dito Aus breitung der Kirchen in der letzten Zeit 1 Eleonora Petersen Glaubens gesprech 2 andere Andacht Bücher von dießer 1 Brecklings Bibel der armen 1 Weigelii Gebedt Bücher Hall 1612 2 von dito autor unterschiedliche Tractate 5 von Paul Felgenhauers wercken 1 von Paul Lautensack 1 Büchlen von Tschtsche[?] 13 Pietistisch & antipietistische Sachen [Neue Seite] 1 St Barth: Scley Theosophische Schrifft 1 dito Pater noster und andere Sachen 1 William Penns Forderung der Christen= heit für das Gericht

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527 8°

528 1 1

1 1 1

Anhang Discurs über die Frag, ob die Außerwelthen verpf lichtet seÿen sich zu einer außerlichen Religion zu halten Geschrieben Buch in fol: von He Oberst Ulrichen seel Hand, sind Auszüge aus Jacob Böhm und einig andre Chymischen Schrifften Fall und Verfall der Labadisten von Schonau Tractetlein frantzösisch wider J. Bohmen, ohne autor

Transkription der Konfiskationsliste Ms. S 276, Nr. 12 [Randbemerkung:] Zusamen ungefahrlich 120 St. böß genante Bücher. Verzeichnuß der Büchern, welche die Herren Geislichen am Gestifft zum großen Münster Böss geheissen und durch oberkeitliche Hilff genommen 2 Paracelsi opera Tütsch in fol A° 1616 in weiß Schwein Leder 1 Sebastian Frank 7 Sigelbuch in fol: 2 Von dito vom Reich Christi niderteutsch 1 Neü Testament in 8° zu Krakau 1630 1 Neü Testament Felingers Amst 1660 1 Sprüche der Weißheit nidertütsch 1 Sendbrief in 4° nider Tütsch 1 Sebastian Francks Paradoxa 4° 1 Serarii Erklahrung der Apocalipsy 1 Pegani Erklahrung 1 Theologia germanica 1520 […] mit D Luthers Vorred 4° 1 Thomas a Kempis Schwenckfelds Editio 1 Molinos frantzösisch Amster – 1688 1 dito nidertütsch – 1688 1 dito italienisch Ven – 1685 1 Von Augustin Fuhrman nebent etlich anderen Tractaten 1 Eliae Praetorii von Mißbräuchen des Predigamts 1 Apologia Pretoriana 1 Hoburgs Theologia Mystica 0 Ausgestrichen 1 dito vatterlands Praservatif 2 5 oder 6 band anderer Bücher von Hohburg 3 1 Bartolomai Scley Theosophische Schrifften 1 Gewün und verlust sampt Scleys Paternoster 1 Schwenckfelds orthodoxische Schrifften foli 1 Herold über die Apoc: Posaunen V. 1 Antonetta Bourignon liecht der welt 1 dita liecht in der finsternus

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Bücherbesitz Johann Heinrich Lochers 1 1 1 1 1 1 3 1 5

dita Hocheschuel Amst 1881 Lilien Blum Hollendisch 8° Rechter Weg zum Ewigen Leben Kühl Psalter Kühlmans Kühlmans Paryser Schreiben Brecklings Bibel der armen Weigelii opera 3 band Paul Lautensack Paul Felgenkauers werk

[Zweite Spalte] Jacob Bohmens Schrifften 2 Band in 4° Hochtütsch 7 in 4° Hollendisch 6 in 8° Samptliche werck 8 oder 10 St von alten Editionen Hiels Schrifften 4 Band seiner samptlichen opera 8 oder 10 St unterschidliche Tractat 5 Band Jane Leade opera 1 W: Pens. Forderung der Christenheit 1 Hen: Nicolai in 4° 1 dito Christliche Sendschreiben 6 andere Tractat von H N 1 Apol: Jac. Bohmen. Joh. Mathaey 1 J: Bohm verthedigt wider Joh. Moller 1 Abr: v. F. Artzet Engel Amst 1626 1 dito Mir Nach ist Jesu Christi Rhum [?] 4 band 3 dito unterschiedliche Tractatlein 1 Rob. Barclay Apologia in 4° 1684 1 Engelbrechts Gesichten zu Himmel und Hell 1686 1 Hermans vonder Hude, Gesichten 1665 1 Himlische Zeitungen 1658 [andere Lesart: 1628] 1 Von Verfolgung der Heiligen um des Worts Gottes willen 1 Angeli Mariani offene Hertzenpforten 2 Petersen Sendschreiben von Erscheinungen 1 von RosenCreützern 1620 1 Petersen von außbreitung der Kirchen in der letzten Zeit 1 Eleon: Petersen Glaubens-gesprech 2 dita andacht buchlein 1 büechlein von Tsetsch [?] mit andern 1 Discurs, ob die außerwelthen verpf lichtet seyen sich zu einer außerlichen Religion zu halten 1 Geschriebenes Buch in fol. Von He. Oberst Ulrich

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529

530

Anhang

[2. Seite] Folget Verzeichnis der Büchern welche die Herren Theologi am gestifft beim Großen Münster in Zürich für mittelmeßige oder halbgute betittelt und gleichwohl zu einem gezeugnus Ihrer Sorgfalt vor sich behalten. 1 Band Wolfgang Hildbrands Magia Naturalis Erfurt 1614 1 Burnets Betrachtung des Erdrichß 3 Daniel Fridrichs über die 6 ersten Cap: Apoc sampt einer Erklehrung über Genesis 1 Tauleri Medulla anima 1 Augustin Fuhrmans Schriften 1 Hermes Trismegistus Nider Tütsch 1 Erasmi Rotterdami von der Zungen 1 Joachim Betkii Tractaten 1 Reüßners Psalter 1 Testament der 12 Patriarchen 1 Büechlein von der Gelaßenheit ohne Autor 1 Vom Ehestand Nidertütsch 2 Johan Evangelista Capuciners Büchle 4 Band in 4° Pietistisch und Antipietistische Schrifften 1 Wider Tschetsch von J B. Schriften 1 Bedencken vom Hamburgischen SinodalEid Spänners 1 Tomasii des menschen gedancken aus seinem Umgang zu erkennen 1 Horchen Anfangs Gründe von der Algebra 1695 1 Vom Liecht der Gemütheren 1 Zeitrechnung der Heiligen Schrifft 1 Yvons Entteckung von der wahren Religion 1 Christian RosenKrütz Chymische Hochzeit Straß 1616 1 Johan Bunjans Reiß eines Jünglings nach der Ewigkeit 2 Band in 4° in Sauber SchweinsLeder gebunden Opera Tauleri Ffurt 1681 1 Joh Heinrich von Schönau Teutsches Tractat 1 Hohburgs Jugetspiegel 1 dito Praxis Arndiana 1 dito Praxis Davidica [3. Seite] Verzeichnus der Bücheren welche von den Herren Theologi zwar gut betittlet gleichwohl solche zum Zeugnus Ihrer Treü und Liebe behalten haben 1 Band Albrecht Bericht von der Zauberey in 4° 1 Heinrich Löbers, wider die Quacker 2 Band von Auferzeihung der Kindern in 12° 1 dito Hollendisch 1 Goldwurms KinderKalender 1 Frà Basilii valentini Chymische Schrifften Hamb 1677 2 Tractat Holzhausen wider Jacob Bohmen 1 des Hamburgischen Mynisteri Quackergräuel 1 Lasenius wider die Quacker 1 Aug: Pfeiffers Scepticismus Spenerianus Lübeck 1695

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Bücherbesitz Johann Heinrich Lochers

531

1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 6 Band 1 1

Widerlegung Elia Pretorii – Hamburg 1645 Bernardus von der Seelen Innerlichem Hauß Biblische Chronologia Prediche Varie die Vieira Ven 1679 Bacon von Verulamio Lehrschrifften Nürnb 1654 Barclai gemüthsneigung Ffurt 1660 dreÿ tütsche Tractetlein von Johan Arnd ausgeben Hauß- Reiß und Kirchen kleinod Kempis Italienisch Kleine Haußchuel Amsterdam 1648 Doctrina du Salut Amsterdam 1677 Daniel Wild De Praedestination Kempis frantzösisch Joh. Christiani Harmonia Sacra Ffurt 1684 Dan. Zimmermans Musica Sinoia 1656 Johan Dach[s]ens Psalter Reimweis Weiß 1538 Ahas Fritschen Alcoran Wolffg: Backlers Seel Einfalt 1671 Speners Ewige geburth des Sohns Gottes Christenlicher Spiegel von dem Antichrist 1676 Schatz der Seelen aus dem Spanischen ins NederTeutsche Selbstri [?] vers weis Schöne Kupfferstück über das Hochelied Salamonis in 8° Thesauri operae Italienisch, wahren 11 band, davon 5 zurück Schöne kupferfiguren Daniel Sudermans in 4° Evangelium Matthei und Epistel an die Romer – Grichisch und Hollendisch

1

Fall und verfall der Labadisten Hollendisch

NB 100 St ungefahrlich so hier nicht verzeichnet Sind wider zurück gegeben worden

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532

Anhang

Tabellen Tabelle A1: Soziale Mobilität der männlichen und stadtzürcherischen Pietisten der ersten Generation. Name

Vorname

Kat.1

Gossweiler

N.

Hirzel

N.

Holzhalb

Johann Ludwig

Kitt

Johann Martin (?)

Schweizer

Jakob

FB

Bodmer

Johann Heinrich

FB

Herrliberger

Johannes

FB

Weiss

David

FB

Morf

Heinrich

Handwerk

Breysacher

Rudolf

Handwerk

Freitag

Bernhard

Handwerk

Sprüngli

Jakob

Handwerk

Locher

Heinrich

Kaufmann

Römer

Heinrich

Kaufmann

Römer

Anton

Kaufmann

Usteri

Paul

Kaufmann

Schönau Jkr. von

Heinrich

Rentner

Breysacher

Ludwig

Theologe

Grob

Hans Heinrich

Theologe

Hardmeyer

Johann Kaspar

Theologe

Laub(i)

Heinrich

Theologe

Reutlinger

Hans Heinrich »Flux«

Theologe

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533

Tabellen

Kat.2

Kat.1 Vater

P

IG

-

-

-

-

-

-

-

-

Handwerk

Handwerk

¦

¦

Kaufmann

Kaufmann

¥

¥

Handwerker

Theologe

¦

¥

Handwerk

Theologe

¦

¥

FB

¤

Handwerk

¥

Handwerk

¥

Theologe

¤

Kaufmann

¥

Kaufmann

¥

Kaufmann

¥

Kaufmann

¥

Rentner

¥

Handwerk

¦

Handwerk

¦

Handwerk

¦

Handwerk

¦

Handwerk

¦

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534

Anhang

Name

Vorname

Kat.1

Sprüngli

Heinrich

Theologe

Ziegler

Hans Georg

Theologe

Lavater

Rudolf

Theologe

Werdmüller

Johannes

Theologe

Hochholzer

Johann

Theologe

Zeller

Johann Heinrich

Theologe

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535

Tabellen Kat.2

Kat.1 Vater

P

IG

Handwerk

¦

Handwerk

¦

Handwerk ?

¦

Kaufmann

¥

Theologe

¥

Theologe

¥ Total Aufsteiger

3

9

Total Absteiger

-

2

Legende: IG: Soziale Mobilität zwischen zwei Generationen. V: Soziale Mobilität in der väterlichen Lauf bahn.. P: Soziale Mobilität in der Lauf bahn des Pietisten. FB: Freie Berufe (Magistraten und Gelehrte). ¤ Absteiger;

¦ Aufsteiger,

¥ Statuserhalt

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536

Anhang

Tabelle A2: Soziale Mobilität der männlichen und stadtzürcherischen Pietisten der zweiten Generation. Name

Vorname

Kat.1

Bodmer

Johannes

Escher

Johann Kaspar

FB

Füssli

Johann Heinrich

FB

Holzhalb

Johann Heinrich

FB

Hottinger

Johann Heinrich

FB

Bildungsbürger

Scheuchzer Dr.

Hans Jakob

FB

Bildungsbürger

Zoller Jkr.

Heinrich

FB

Rentner

Lochmann

Hans Heinrich

FB

Vogel

Sixt

FB

Handwerk

Bodmer

Johann Heinrich

FB

Kaufmann

Muralt Dr.

Johannes

FB

Bildungsbürger

Orelli

Daniel

FB

Kaufmann

Meyer von Konau

Hans Georg

FB

Waser

Hans Kaspar

FB

Lindinner

Heinrich

Handwerk

Ulrich

Kat.2

Handwerk

Füssli

Melchior

Handwerk

Öri

Konrad

Handwerk

Koch

Melchior

Handwerk

Koch

Johann Heinrich

Handwerk

Koch

Hans Ulrich jun.

Handwerk

Koch

Johannes

Handwerk

Lindinner

Josef

Handwerk

Lindinner

Jakob

Handwerk

Schmied

Heinrich

Handwerk

Stadler

Heinrich

Handwerk

Waser

Heinrich

Handwerk

Koch

Hans Ulrich

Handwerk

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537

Tabellen

Kat.1 Vater

Kat.2 Vater

FB

Kaufmann

P

V

IG

-

FB

¥

FB

Handwerk

¦

¥

FB

Bildungsbürger

¥

¥

FB

Bildungsbürger

¥

¥

¥

FB

Bildungsbürger

¥

¥

¥

FB

Rentner

(¤)

(¤)

¥

Handwerk

¦

Handwerk

¦

¦

Kaufmann

¥

¥

Kaufmann

¥

¥

Kaufmann

¥

¥

Rentner

(¤)

Rentner

(¤) -

FB

¤

FB

¤

Handwerk

¥

Handwerk

¥

Handwerk

¥

Handwerk

¥

Handwerk

¥

Handwerk

¥

Handwerk

¥

Handwerk

¥

Rentner

¤

Theologe

¤

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538

Anhang

Name

Vorname

Kat.1

Schulthess

Johann Heinrich

Kaufmann

Heidegger

Hans Konrad

Kaufmann

Locher

Heinrich

Kaufmann

Pestalozzi

Hans Konrad

Kaufmann

Rahn

Heinrich

Kaufmann

Schneeberger Jkr.

Johann Kaspar

Rentner

Füssli

Johann Kaspar

Theologe

Holzhalb

Beat

Theologe

Rahn

Hans Rudolf

Theologe

Freitag

Gerold

Theologe

Fries

Johann Heinrich

Theologe

Lindinner

Hans Ulrich

Theologe

Reutlinger

Hans Heinrich »Flux«

Theologe

Thomann

Felix

Theologe

Ulrich

Hans Jakob

Theologe

Waser

Heinrich

Theologe

Hospinian (Wirth)

Marx

Theologe

Pestalozzi

Andreas

Theologe

Schulthess

Johann Jakob

Theologe

Balber

Christoph

Theologe

Fäsi

Johann Heinrich

Theologe

Gossweiler

Heinrich

Theologe

Herrliberger

Felix

Theologe

Lindinner

David

Theologe

Werdmüller

Beat

Theologe

Wolf

Hans Jakob

Theologe

Kat.2

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539

Tabellen Kat.1 Vater

Kat.2 Vater

P

V

IG

Handwerk

¦

Kaufmann

¥

Kaufmann

¥

Kaufmann

¥

Theologe

¥

Rentner

¥

FB

¥

FB

¥

FB

¥

Handwerk

¦

Handwerk

¦

Handwerk

¦

Handwerk

¦

Handwerk

¦

Handwerk

¦

Handwerk

¦

Kaufmann

Handwerk

¦

¥

Kaufmann

¥

Kaufmann

¥

Theologe

¥

Theologe

¥

Theologe

¥

Theologe

¥

Theologe

¥

Theologe

¥

Theologe

¥ Total Aufseiger

1

2

10

Total Absteiger

1

1

6

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540

Anhang

Tabelle A3: Heiratsverhalten der stadtzürcherischen Pietistinnen der zweiten Generation und die heiratsbedingte soziale Mobilität. (Verglichen wird die Berufskategorie des Ehegatten mit jener des Brautvaters.) Name

Vorname

Kat.1

Bräm – Rahn

Katharina

FB

Hirzel – Ziegler

Anna

FB

Meyer – Schneeberger

Dorothea

FB

Füssli – Wettstein

Anna

Handwerk

Lindinner – Meyer

Barbara

Handwerk

Schaufelb. – Bachofen

Ursula

Handwerk

Albrecht

Regula

Handwerk

Brunner – Ulrich

Regula

Handwerk

Keller – Schweizer

Elisabetha

Handwerk

Ulrich – Pfister

Cleophea

Handwerk

Pestalozzi

Anna Magdalena

Handwerk

Muralt v – Pestalozzi

Anna Barbara

Kaufmann

Pestalozzi – Bodmer

Anna Magdalena

Kaufmann

Orelli – Schneeberger

Kleophea

Rentner

Schneeb. – Escher v G.

Maria

Rentner

Wyss – Escher v G.

Anna Barbara

Rentner

Füssli

Barbara

Theologe

Lindinner – Schinz

Anna

Theologe

Ulrich – Orelli

Maria

Theologe

Wolff – Hirzel

Esther

Theologe

Gossweiler – Füssli

Anna

Theologe

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541

Tabellen

Kat.2

Kat.1 Vater

Kat.2 Vater

FB FB

IG

¥ Bildungsbürger

Rentner

¥ (¤) -

Rentner

?

-

Handwerk

¥

Handwerk

¥

Handwerk

¥

Handwerk

¥

Kaufmann

¤

Kaufmann

¥

Kaufmann

¥

Rentner

¥

Rentner

(oder Fabrikant?)

¥

Rentner

Rentner

¥

FB

¥

Handwerk

¦

Kaufmann

¥

Rentner

¤

Theologe

¥

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Aufsteigerinnen

1

Absteigerinnen

3

542

Anhang

Tabelle A4: Die männlichen Würdeträger der zweiten Generation in Stadt und Landschaft Zürich. In Klammern gesetzt wurden die hohen Magistratenkinder, die ihren Status als Geistliche annähernd erhalten konnten. Name

Vorname

Beruf

Bodmer

Johannes

Schulthess

Johann Jakob

Theologe

Holzhalb

Beat

Theologe

Füssli

Johann Kaspar

Theologe

Rahn

Hans Rudolf

Theologe

Künzli

Hans Georg

Theologe

Ernst

Johannes

Theologe

Sulzer

Hans Kaspar

Theologe

Sulzer

Jakob

Theologe

Hegner

Hans Ulrich

FB

Freitag

Gerold

Theologe

Öri

Konrad

Handwerk

Fries

Johann Heinrich

Theologe

Näf

Hans

Hafer

Hans Konrad

Rentner ?

Schulthess

Johann Heinrich

Kaufmann

Orelli

Daniel

FB

Waser

Hans Kaspar

FB

Lochmann

Hans Heinrich

FB

Escher

Johann Kaspar

FB

Füssli

Melchior

Handwerk

Bodmer

Johann Heinrich

FB

Holzhalb

Johann Heinrich

FB

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543

Tabellen

Magistratur

Magistr. d. Vaters

IG

Hohe Magistratur

¤

Hohe Magistratur

(¥)

Hohe Magistratur

(¥)

Hohe Magistratur

(¥)

Hohe Magistratur

(¥)

Hohe Magistratur

(¥)

Hohe Magistratur

(¥)

Hohe Magistratur

(¥)

Hohe Magistratur

(¥)

Hohe Magistratur

¤

Niedere Magistratur

¥

Niedere Magistratur

¤

Niedere Magistratur

¥

Niedere Magistratur

¤

Niedere Magistratur

¤

Hohe Magistratur

¦

Hohe Magistratur

¦

Hohe Magistratur

¦

Hohe Magistratur

¦

Hohe Magistratur

Hohe Magistratur

¥

Hohe Magistratur

Hohe Magistratur

¥

Hohe Magistratur

Hohe Magistratur

¥

Hohe Magistratur

Hohe Magistratur

¥

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544

Anhang

Name

Vorname

Beruf

Füssli

Johann Heinrich

FB

Hegner

Solomon

FB

Zoller Jkr.

Heinrich

FB

Vogel

Sixt

FB

Meyer von KKonauv.K.vonKonau

Hans Georg

FB

Fischer

Hans Jalob

FB

Kuhn

Heinrich

Handwerk

Pfister

Hans

Handwerk

Näf

Jakob

FB

N

N

Rathgeb

Johann Jakob

Handwerk

Sulzer

Wolfgang

Theologe

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545

Tabellen Magistratur

Magistr. d. Vaters

IG

Hohe Magistratur

Hohe Magistratur

¥

Hohe Magistratur

Hohe Magistratur

¥

Hohe Magistratur

Niedere Magistratur

¦

Niedere Magistratur

¦

Niedere Magistratur

¦

Niedere Magistratur

¦

Niedere Magistratur

¦

Niedere Magistratur

¦

Niedere Magistratur

¦

Niedere Magistratur

¦

Niedere Magistratur

¦

Niedere Magistratur

Hohe Magistratur

(¥)

Total Aufstieger

13

Total Absteiger

5

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546

Anhang

1

2 5 1 2 3 3 1 1

1

Zoller

1 19

4 4 2 1

4 7 2

3

3

4

11

14

16

10

1 4

2 2

1 2 4 1

8 4 1 1

8

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5 2 4

3 5 1

6

2

4

2

1 4

2 4

1

3

1671

1

1 1 2 14 1

Anzahl Pietisten

2 1 2

1 1 2 1 4 1 3 1 2 1 1 1 1 1 3 1 2 2 2 1 1 3 1 1 3 1 2 1 1 4

Geschlecht Müller Muralt Orelli Oeri Pestalozzi Pfister Rahn Reutlinger Römer Scheuchzer von Salis Schinz Schmid von Schmid Schneeberger von Schönau Schulthess Schweizer Sprüngli Stadler Thomann Ulrich Usteri Vogel Waser Weiss Werdmüller Wolf Zeller Ziegler

1762

2

1762

1730

Geschlecht Albrecht Bachofen Balber Bodmer Breysacher Bürkli Escher v. Glas Fäsi Freitag Fries Füssli Gossweiler Grob Hardmeyer Heidegger Herrliberger Hirzel Hochholzer Holzhalb Hospinian Hottinger Kitt Koch Körner Laubi Lavater Lindinner Locher Lochmann Meyer v. Konau Morf

Ratsmandate 1730

1 1 1 3 2 1 3 2 3 1 7 2 1 1 1 2 2 1 3 1 1 1 5 1 1 1 5 1 1 1

Ratsmandate 1671

Anzahl Pietisten

Tabelle A5: Groß- und Kleinratsmandate der Zürcher Geschlechter mit pietistischen Angehörigen.

1

2 1

1 1

1 1 3

1 2 1

3

4 1

5

1 5 1 2 7

6 1 2 4

15 2

6 1

5 4

5

5

2

2

547

Tabellen Tabelle A6: Absoluter und relativer Anteil der Familien an den Ratsstellen im Vergleich mit Familien mit pietistischen Mitgliedern. (Erstellt nach der Geschlechtertabelle im Anhang von: Guyer, Die soziale Schichtung der Bürgerschaft Zürichs, S. 53–77.) Regimentsfähige Familien (absolut)

Familien mit Ratsstellen (absolut)

1671

403

93

23 %

1730

320

86

27 %

62

42

68 %

Pietistenfamilien

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relativ

Abkürzungen ADB AGL AGL Fortsetzung AGP BBKL ETH HAB NLB

PuN RE RGG SBB St AZ SUB TRE UB Uu LB WLB ZB

Allgemeine deutsche Biographie Allgemeines Gelehrten=LEXICON Fortsetzung und Ergänzung zu allgemeinem Gelehrten=Lexico Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Eidgenössische Technische Hochschule Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Niedersächsische Landesbibliothek Hannover Pietismus und Neuzeit Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche Religion in Geschichte und Gegenwart Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz Staatsarchiv des Kantons Zürich Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen Theologische Realenzyklopädie Universitätsbibliothek Basel Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle a. S. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart Zentralbibliothek Zürich

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Verzeichnis der Diagramme, Tabellen, Figuren und Abbildungen Diagramme Diagramm 1: Diagramm 2: Diagramm 3: Diagramm 4: Diagramm 5: Diagramm 6a: Diagramm 6b: Diagramm 7a: Diagramm 7b:

Relative regionale Verteilung der Pietistinnen und Pietisten aus der ersten Generation. Relative regionale Verteilung der Pietistinnen und Pietisten aus der zweiten Generation. Altersstruktur der ersten Generation (Stichjahr 1698). Altersstruktur der zweiten Generation (Stichjahr 1718). Die Altersverteilungen der ersten und zweiten Generation im Vergleich (nach Jahrgang). Soziale Schichtung des Zürcher Pietismus (erste Generation) Soziale Schichtung Zürichs, extrapoliert auf 1698. Soziale Schichtung des Zürcher Pietismus (zweite Generation). Soziale Schichtung Zürichs, extrapoliert auf 1718.

S. 41 S. 41 S. 55 S. 56 S. 57 S. 64 S. 64 S. 65 S. 65

Tabellen Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle A1: Tabelle A2: Tabelle A3: Tabelle A4: Tabelle A5:

Geschlechterverhältnis in beiden Generationen. Das Geschlechterverhältnis der zweiten Generation nach Region, bzw. Bürgerrecht aufgeschlüsselt. Der Zivilstand der Pietistinnen und Pietisten der zweiten Generation. Zunftzugehörigkeit der männlichen Pietisten. Soziale Schichtung der Pietisten (zweite Generation). Soziale Mobilität der männlichen und stadtzürcherischen Pietisten der ersten Generation. Soziale Mobilität der männlichen und stadtzürcherischen Pietisten der zweiten Generation. Heiratsverhalten der stadtzürcherischen Pietistinnen der zweiten Generation und die heiratsbedingte soziale Mobilität. Die männlichen Würdeträger der zweiten Generation in Stadt und Landschaft Zürich. Groß- und Kleinratsmandate der Zürcher Geschlechter mit pietistischen Angehörigen.

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S. 48 S. 49 S. 52 S. 60 S. 66 S. 532 S. 536 S. 540 S. 542 S. 546

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Verzeichnis der Diagramme, Tabellen, Figuren und Abbildungen

Tabelle A6:

Absoluter und relativer Anteil der Familien an den Ratsstellen im Vergleich mit Familien mit pietistischen Mitgliedern.

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Figuren Figur 1: Figur 2: Figur 3: Figur 4: Figur 5:

Regionale Verteilung nach Kirchgemeinden. Verbreitung der Textilverarbeitung, ca. 1640. Verbreitung der Baumwollspinnerei, 1787. Statusschema basierend auf der sozialen Schichtung anhand der Wertschätzung gemäß Paul Guyer. Familiäre Verbindungen im Zürcher Pietismus anhand der Familie Rahn.

S. 42 S. 44 S. 45 S. 71 S. 84

Abbildungen Abbildung 1:

Erste Seite von Obmann Bodmers Brief an seinen Freund Johann Kaspar Escher in Regensburg vom 18. Februar 1713. [ZB Zürich FA v. Wyss III 101a] S. 91 Abbildung 2: Titel des Milch=Kind, Zürich (Bodmer) 1713. [ZB Zürich Gal XVIII 396] S. 99 Abbildung 3: »Die Edle Beÿnen arth | ihr honig dort vermehret, …«. Religiöser Stich aus dem Nachlass Johann Heinrich Bodmers. [ZB Zürich Ms. S 276, Nr. 6, eingeheftet zwischen S. 40 und 41] S. 121 Abbildung 4: Titelblatt von Der Tode Adams, Zürich 1616. [UB Basel Frey-Gryn F VIII 53] S. 127 Abbildung 5 Frontispiz aus John Bunjan, Eines Christen Reise nach der Ewigkeit, Hamburg 1694. [HAB Wolfenbüttel M: Th 374] S. 160 Abbildung 6: Titelholzschnitt der Deutschen Theologie, Wittenberg 1620 [HAB Wolfenbüttel H: G 70.4° Helmstet (1)] S. 164 Abbildung 7: Das Frontispiz aus Paracelsus, OPERA | Bücher und Schrifften, Strassburg 1616. [HAB Wolfenbüttel A: 29.1 Med. 2°] S. 183 Abbildung 8: Frontispiz aus Christian Hoburg, Heutiger Langwieriger/ verwirreter Teutscher Krieg, Frankfurt/M (Matthias Merian) 1644. [ZB Zürich D 376] S. 209 Abbildung 9: Frontispiz aus Jakob Böhme, Mysterium Magnum von 1730 das aus der Amsterdamer Ausgabe von 1682 übernommen wurde. [UB Basel Aleph F VI 30] S. 223 Abbildung 10: Kupferstich aus Jakob Böhme, Mysterium Magnum, Amsterdam 1682. [ZB Zürich XVII 444] S. 231

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Verzeichnis der Diagramme, Tabellen, Figuren und Abbildungen Abbildung 11: Titelkupfer aus Kaspar Schwenckfeld, Der Erste Theil Christlichen Orthodoxischen bücher vnd Schrifften, 1564. [ZB Zürich III N 40] Abbildung 12: Titelholzschnitt aus Sebastian Franck, Das Verbüthschiert Buch, 1559. [ZB Zürich 3:34] Abbildung 13: Titelblatt zu Abraham von Franckenberg, Raphael oder Artzt=Engel, 1676. [ZB Zürich Md E 37] Abbildung 14: Das Frontispiz aus Johann Angelius von Werdenhagen, Offene Hertzens-Pforte (dritte Auf lage 1685). [SB Berlin Cs 11270] Abbildung 15: Holzschnitt aus Valentinus Basilius, Chymische Schriften, Hamburg 1677. [ZB Zürich Md F 300] Abbildung 16: Johann Heinrich Lochers handschriftliche chronologische Tabelle mit der er das Ende der Welt nach 7000 Jahren bestimmte. [ZB Zürich FF 435] Abbildung 17: Graphische Darstellung der siebentausend Jahre der Welt aus Thomas Beverley, Zeit=Register, 1695. [ZB Zürich FF 435] Abbildung 18: Titelkupfer aus Thomas Burnet, Theoria Sacra Telluris, 1698. [ZB Zürich Gal. XXV 181] Abbildung 19: Frontispiz aus Thomas Bromley, Der Weg zum Sabbath der Ruhe, 1685.[SB Berlin Cs 15813] Abbildung 20: Portrait von Johann Kaspar Hardmeyer (1651–1719). [ZB Zürich Ms. E 136] Abbildung 21: Titelkupfer aus Johanna Eleonora Petersen, Glaubens=Gespräch Mit GOTT, Frankfurt 1691. [UB Halle AB 41 10 i, 20] Abbildung 22: Johann Kaspar Escher (1678–1762). [ZB Zürich Graphische Sammlung, Escher, Joh. Casp. b. I, 3] Abbildung 23: Johann Heinrich Bodmer (1669–1743). [ZB Zürich Graphische Sammlung, Bodmer, Hch a. I, 1]

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S. 243 S. 255 S. 260 S. 275 S. 291 S. 335 S. 351 S. 357 S. 396 S. 407 S. 421 S. 463 S. 475

Bibliographie Quellen Ungedruckte Quellen Staatsarchiv Zürich: St AZ E I 8.1 St AZ E I 8.2 St AZ E I 8.3 St AZ E I 8.4 St AZ E I 8.5 St AZ E I 23.1 St AZ E II 38 St AZ E II 423 St AZ E II 40 St AZ E II 56 u. 56a St AZ E II 41 St AZ E II 700

Pietistenakten, 1698–1718. Pietistenakten, 1718–1721. Pietistenakten, 1718–1719. Pietistenakten, 1719–1724/1776–1779. Pietistenakten (Korrespondenz), 1692–1722. Buchdruckereien – Zensur – Kalender, 1553–1731. Synodalakte, 1686–1694. Beilageakte zur Synodalakte, 1686–1694. Synodalakte, 1705–1718. Beilageakten zur Synodalakte, 1705–1718. Synodalakte, 1718–1725. Bevölkerungsverzeichnisse, 17. u. 18. Jahrhundert.

Zentralbibliothek Zürich: ZB Ms. B 57 ZB Ms. B 58 ZB Ms. B 185

ZB Ms. E 136–139

ZB Ms. G 23 ZB Ms. G 322 ZB Ms. H 277-H 279

ZB Ms. L 104 ZB Ms. S 276

Sammelband, enthaltend Schriftstücke betr. das »Collegium Insularum«, 1679–81. Adversaria actorum collegii der Wohlgesinneten, 1693– 1700. Joh. Hch. Fries, Prof. ling. in Coll. Hum.: Kollektaneenbände über Religions=Sachen welche sich in Reformierter Eydgenossenschaft zugetragen Von Jahr Christi 1680 bis 1701. Joh. Kasp. Hardmeyer, Pfr zu Bonstetten und Dekan zu Affoltern a. A. Diarium über Tagesereignisse der Jahre 1694–1719. Band I–IV. [ Joh. Kasp. Abegg]: Bürgerliche Reformation in Zürich und Toggenburrgerkrieg 1712–13. [Kopierband]: Verfassungsreform von 1713. Brief bände: Korrespondenz zwischen Landschreiber Johann Kaspar Gwerb in Zürich und Landvogt Johann Heinrich Füssli in Regensberg, 1714–1716. Joh. Leu: Collectanea Helveto-Turicensia ecclesiastica. Sammelband zur Geschichte des schweizerischen Pietismus, Bd. I, ca. 1660–1709.

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Bibliographie

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ZB Ms. S 277

Sammelband zur Geschichte des schweizerischen Pietismus, Bd. II, ca. 1693–1737. ZB Ms. S 278 Sammelband zur Geschichte des schweizerischen Pietismus, Bd. III, ca. 1702–1720. ZB Ms. S 344 Sammelband: Kirchliche Angelegenheiten des 16.–18. Jahrhunderts. ZB Ms. S 352 Historia Ecclesiastica. ZB Ms. S 360 Pietistica. ZB Ms. T 106 Sammelmappen: Kirchliche Angelegenheiten. Nr. 34: Ansprache Obmann Bodmers in der Synode undat. ZB Ms. T 410 Sammelmappen: Kirchliche Angelegenheiten. Nr. 13. Memorial des Antistes Klingler gegen Obmann Bodmer mit dessen Antwort, 1711. ZB Ms. V 119 J. J. Scheuchzer: Beschreibung der Reformation von 1713. ZB Ms. Z V 100 Oskar Stoye: Die Anfänge des Pietismus in Zürich. Diss. [unveröffentlicht, ca. 1916]. ZB Ms. Car. I 259–260 Sammler aus mystischen Schriften. ZB Ms. Car. I 263 Geistliche Gedichte Daniel Südermanns, von etlicher Zeit zusammen geläsen. ZB Ms. V 801–810 Joh. Jak. Hirschgartner: Stemmatologia Turicensis oder chronologische Beschreibung aller zürcherischen Geschlechtern. ZB Ms. W 446 Miscellanea Varia – Besonders den Toggenburgerkrieg und die Pietisten betreffend. ZB Ms. II 1–6&a Carl Keller-Escher. Promptuarium genealogicum. ZB FA v. Wyss III 101a [Johann Kaspar Escher 1678–1762:] Briefe aus der Kriegszeit von 24 Absendern, div. Orte 1712–1713 (87) dabei solche von Obmann Bodmer (7) und Landschreiber Hans Kaspar Gwerb (14). ZB FA v. Wyss III 116 [ Johann Kaspar Escher 1678–1762:] Autobiographie.

Stadtarchiv Winterthur: StaW JB 1:1 -3

Bürgerbuch der Stadt Winterthur. Erstellt von Anton Künzli und fortgeführt von C. F. Künzli.

Gedruckte Quellen Acta Hamburgensia, | Pars I [Zweite Seite:] Die | Klugheit der Gerechten/ | Die Kinder | Nach dem wahren Gründen | des Christenthumb/ von der Welt | zum HErrn zu erziehen/ | Samt denen darüber gewechselten | Streit=Schriften/ | Und | E. E. Hochweisen Rahts | der Stadt Hamburg | Protocoll-mäßigen Bericht/ | Auch was sonsten | Occasione der Horbischen | Sache fürgefallen/ ordentlich zu=|sammen getragen/ | Und denen | Wahrheit=liebenden unpartheyischen | Gemühtern zu beurtheilen öffentlich | fürgeleget, Altona., o. J. [Angenommen wird oft das Druckjahr 1693, die SUB dagegen vermutet

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Bibliographie

Ende 1694 oder gar 1695, weil widergegebene Schriften noch mit Jan. 1694 datiert sind. – SUB Göttingen 8° Th Polem. 148/55]. Albrecht, Bernhard: MAGIA, | Das ist: | Christlicher Bericht | von der Zauberey vnd Hexerey ins gemein/ | vnd dero zwölfferley Sorten vnd Arten insonderheit: | Was es für ein Grewel vor Gott sey: vnd wie schwerlich bey=|des die Zauberer selber/ vnd dann die jenige sich versündigen/ welche bey ihnen | Rath und Hülffe suchen. Item: Daß eine Christliche Obrigkeit recht | daran thue/ wann sie die Hexen vnd Zauberer am Le=|ben straffet/ | Aus heiliger göttlicher Schrifft/ vnd an=|dern bewährten Historien gestellt/ vnd in zwölf | Capitel abgetheilet | Durch | M. Bernhard Albrecht/ Pfarrern zum heiligen | Creutz/ vnd Seniorem des Evangelischen | Ministerii zu Augspurg, Leipzig 1628 [SUB Göttingen Jus crimin. II, 2651]. Altmann, Johannes: Wohlgemeintes | Send=Schreiben | An | Die heutigen so genanten | Pietisten/ | In der gesamten Evangeli=|schen Kirchen/ | Von ihrem vertrauten Freund/ | Simon Nathaniel, Zürich (David Gessner) 1700 [ZB Zürich Ms. S 277, Nr. 67]. Amyraut, Moyse: Betrachtungen | Über den Zustand der | Gläubigen nach dem | Tode. | Aus dem frantzösischen ins | Deutsche übersetzt | von | R. F. g. S., Leipzig 1696 [Uu LB Halle AB 37 20 K, 11 (3)]. Andreae, Johann Valentin: Fama Fraternitatis, Oder Brüderschafft des Hochlöblichen Ordens des R. C., An die Häupter, Stände und Gelehrten Europae, Kassel 1614. Nachdruck: Joh. Valentin Andreae, Fama Fraternitatis, Confessio Fraternitatis, Chymische Hochzeit: Christiani Rosenkreutz. Anno 1459, Eingeleitet und herausgegeben von Richard van Dülmen, Quellen und Forschungen zur Württembergischen Kirchengeschichte, Stuttgart 22000. –: Confessio Fraternitatis, Oder Bekantnuß der löblichen Bruderschafft deß hochgeehrten Rosen Creutzes an die Gelehrten Europae geschrieben, 1615. Nachdruck: Joh. Valentin Andreae, Fama Fraternitatis, Confessio Fraternitatis, Chymische Hochzeit: Christiani Rosenkreutz. Anno 1459, Eingeleitet und herausgegeben von Richard van Dülmen, Quellen und Forschungen zur Württembergischen Kirchengeschichte, Stuttgart 22000. –: Chymische Hochzeit: Christian Rosencreutz. Anno 1459. Straßburg 1616. Nachdruck: Joh. Valentin Andreae, Fama Fraternitatis, Confessio Fraternitatis, Chymische Hochzeit: Christiani Rosenkreutz. Anno 1459, Eingeleitet und herausgegeben von Richard van Dülmen, Quellen und Forschungen zur Württembergischen Kirchengeschichte, Stuttgart 22000. Anhorn, Bartholömäus: Magiologia | Christliche Warnung | für | dem Aberglauben | vnd Zauberey: | Darinnen gehandlet wird | Von dem Weissagen/ Tag=|wellen und Zeichendeuten/ von dem | Bund der Zauberer mit dem Teufel: von | den geheimen Geistern/ Waarsagen/ Loosen vnd | Spielen: von den Quellen/ Heiss=Eisen vnd Wasserprob: | von den Laden in das Thal Josaphat/ vnd Bluten der er=|mordeten Lichnam. Von der Gauklerey/ Verblendung vnd | Verwandlung der Menschen in Thiere: Von der Hexen Sa=| belreiten/ Versamlung/ Mahlzeyten/ Beischlaff/ Wetter=|machen/ Leut und Vieh beschädigen. Von dem Nestelkni=|pfen/ Diebstall weisen/ Treffschiessen/ Segnen/ Magneti=|schen Cux/ vnd Königlichem Kropf heilen. Von der Passa=|wer Kunst/ Schatzgraben/ Allraunen/ Alchimey/ Schlan=|gen be-

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Bibliographie

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schweeren vnd Liebgifften. Von dem Grewel der | Zauberey/ der Zauber Straff/ und müglig=|heit der Bekehrung zu Gott. | Der fürwitzugen Welt zum Ekel/ Schewsal | vnd Underweisung fürgestellt | Durch Bartholomaeum Anhorn/ Pfarrern der | Evangelischen Kirchen vnd Gemeind zu Bischoffzell, Basel 1674 [ZB Zürich VI 265]. Arndt, Johann: Der Tode Adams/ vnnd | das leben Christi. | Das ist: | Christlicher vnd auß | Gottes wort geschöpffter | Bericht: wie in einem wahren | Christen/ Adam täglich sterben/ Chri|stus aber in ihm leben sol/ vnnd wie er nach | dem Bilde Gottes täglich ernewert/ vnd in der newen Geburt leben | müsse. | Von erstem durch Herrn | Johann Arndt/ Diener am | H. wort Gottes beschriben/ | An jetzo von newem vbergesetzt, Zürich (in verlegung Joh Balthassar Beuggers zu Stein) 1616 [UB Basel Frey-Gryn F VIII 53]. –: Paradiß-Gärtlein Voller Christlicher Tugenden: wie dieselbige in die Seele zupf lantzen/ Durch andächtige/ lehrhaffte und tröstliche Gebet/ zu ernewerung deß Bildes Gottes/ zur ubung deß wahren lebendigen Christenthumbs […]; In welchem alle Artickel/ unser Christlichen Religion/ neben den Hauptsprüchen H. Göttlicher Schrifft begriffen seyn; Mit dreyen nutzlichen Registern/ Durch Johannem Arndt, General Superintendenten deß Fürstenthumbs Lüneburg, Straßburg 1625 [HAB Wolfenbüttel Xb 4113]. –: Vier Bücher | Vom Wahren Christenthumb/| Heilsame Busse/ Hertzlicher | Rewe vnnd Leyd vber die Sünde vnd | wahrem Glauben: Auch heiligem Le=|ben vnd Wandel der rechten | wahren Christen. | Derer Inhalt nach dem Titul | zu finden, Straßburg 1635 [Erstes Buch, Liber Scripturae, Wie in einem wahren Christen Adam täglich sterben/ Christus aber in ihm leben soll: Und wie er nach dem Bilde GOttes täglich ernewert werden/ vnnd in der newen Geburt leben müsse.] [ZB Zürich E 376]. –: des | Gottseeligen und hocherleuchteten Lehrers, | Paradiß=|Gärtlein | Welches voller | Christlichen Tugend=Gebete erfüllet. | Deme zu Endo beygefüget | Mehrere Buß= und Communion=Gebete. Ulm (Wagner) 1720 [ZB Zürich AB 6795]. Bacon, Francis: Francisi Baconis | Grafens von Verulamio, | weiland | Englischen Reichscantzlers | Getreue Reden: | die Sitten= Regiments= und | Haußlehre betreffend/ || Aus dem Lateinischen gedolmetscht/ | durch ein Mitglied der Hochlöblichen | Fruchtbringenden Gesellschaft. | den | Unglückseligen, Nürnberg (Michael Endters) 1654 [ZB Zürich Y 444]. Barclay, John: Spiegel | Menschlicher | Gemüths Nei=|gungen | Auß dem Latinischen | ins HochTeutsche | versetzt, Frankfurt/M. (Erhard Bergers in Bremen) 1660 [SB Berlin No 348]. Barclay, Robert: Eine | Apologie | Oder | Vertheidigungs=Schrifft/ | Der | Recht=Christlichen | Gotts=Gelehrtheit/ | Wie solche | Unter den Leuten/ die in dem Englischen und Teutschen spöttisch (wie=|wol von diesen noch darzu unteutsch) Quaker benahmet seynd/ | gehalten und gelehret wird. | Oder | Eine völlige Erklärung und Vertheidigung derselbigen ihrer Gründe und Lehren/ | durch unterschiedliche aus denen H. Schrifften/ gesunder Vernunfft/ und dem Zeugnüß einiger | in denen alten als itzigen Zeiten berühmter Männer gezogene Darstellung. | Nebenst einer vergnüglichen Antwort auf die schärffesten Gegensätze/ | so gemeinlich wider sie gebrauchet wer-

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Bibliographie

den. | Welche | Dem König in Groß=Britannien/ | Carl Dem Anderen/ | überreicht worden, o. O. 1684 [HAB Wolfenbüttel Xb 86]. Beer, Johannes: Gewinn vnd Verlust | Das ist ein | Geistlicher vnd Nützlicher | Bericht/ | Wie man allerley | Geistliche vnd Leibliche | Himlische und Irdische | Gütter | gewinnen vnd verliehren kan. | Allen denen | So diß anhero Schaden gelitten/ | Nun aber/ | durch wahre Buß vnd Glauben | In GOTT REICH vnd SEELIG | zu werden gedencken. | Zu erbawlichem Trost vnd Nutz auß | den Schätzen Gottes herfür gegeben | Durch einen getrewen Liebhaber | der | Göttlichen vnd Natürlichen Warheit, o. O. 1639(?) [ZB Zürich MFA 1:33]. Betke, Joachim: Drey | Geist=reiche | Tractätlein/ | I. Misterium Crucis | Crux | Angusta porta est & stricta via, qvae | adducit ad viam: | Hoc est: | Schrifftliche Eröffnung der Ge=|heimnissen und Krafft des | Kreutzes Christi/ | Nebenst Beweisung /daß dasselbe Creutz | die enge Pforte und schmaler Weg sey/ | der zum Leben führet. || II. | Mensio Christianis-|mi & Ministerii Germaniae || III. | Speculum Fidei | Alles aufs f leißisgste nach dem alten Exempla=|ren durchgesehen/ und aufs neue in Druck | befördert, Amsterdam (Heinrich Betke) 1694 [HAB Wolfenbüttel M: Ts 356 (2)]. Beverley, Thomas: Eines vortreff lichen Englischen Gottes=|Gelehrten/ auch auch f leissigen Untersuchers deß | Profetischen=Wortes/ und in Außlegung | dessen/ eines rechten | Wunder=Mannes | Zeit=Register | Mit denen | Zeichen der Zeiten/ | Vom | Anfange biß ans Ende | der Welt. | Wie beyde von GOtt selbsten in senem Worte ge=|offenbahret seynd. […] | Alles auß dises Mannes verschiedenen | herrlichen Schrifften zusammen gezogen/ und | ins Hochteutsche gebracht | Durch | Konrad Brüßken/ Hoch=Gräf l. Ofenburg= | und Bündingischen Hof=Predigern zu | Offenburg am Mayn, Frankfurt/M. und Leipzig 1695 [ZB Zürich FF 435]. BIBLIOTHECA | PETERSENIANA | ID EST | APPARATVS LIBRARIVS, QUO, DVM | VIVERET, VSVS EST | IOAN. GVILIELMVS | PETERSENIVS, | DOCTOR THEOLOGVS ET POETA | CELEBERRIMVS CONSTANS | Varii generis libris, theologicis nimirum, phi-|lologicis, philosophicis, poëticis, pluri-|mam partem eleganter com-|pactis || die XVII. Sept. seqq. An. MDCCXXXI. Berolini in | Platea vulgo die Fridrichs=Strasse dicta auf dem | Fridrichswerder, in AEdius Küsterianis […], Auctio-|nis ritu ab hora II – VI. post mer. vendendus, Berlin 1731 [SUB Göttingen 8° HLL XI, 2950]. Böhme, Jakob: AURORA [2. Seite:] Morgenröte im Aufgang/ | Das ist: | Die Wurtzel oder Mutter | Der | Philosophiae, Astrologiae | und Theosophiae, | Oder | Beschreibung der NATUR / | Wie | Alles gewesen und im Anfang worden ist: wie | die Natur und Elementa Creatürlich worden seynd; | auch von beyden Qualitäten Bösen und Guten woher alle | Dinge seinen Ursprung hat/ und wie es jetzt stehet und | würcket/ und wie es am Ende dieser Zeiten werden | wird: Auch wie Gottes und der Höllen Reich | beschaffen ist/ und wie die Menschen | in jedes creatürlich werden. | Alles aus rechtem Grunde/ in Erkäntnüß des Geistes | im Wallen mit Fleiß gestellt | Durch | Jacob Böhme, Amsterdam 1682 [ZB Zürich XVII 443]. –: APOLOGIA II | contra BALTH. TILKEN, | oder | Die Zweyte Schutz= Schrift, | wieder | Balthasar Tilkens, eines Schlesischen von | Adel, angeklebte

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Bibliographie

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Zedelchen über einige Puncte, im | Buch von der Menschwerdung JEsu | Christi angefochten. | Handelnde von dem ewigen Vorsatz und Gnaden=| Wahl GOttes, | Wie auch von der Menschwerdung und Person | Christi, und von Maria der Jungfrauen. Geschrieben im Jahr 1621, 1730 [Nachdruck: WillErich Peuckert (Hg.), Stuttgart 21958]. –: Mysterium Magnum, | oder | Erklärung | über | Das Erste Buch Mosis, | Von der Offenbarung Göttlichen Worts | durch die drey Principia Göttliches Wesens, | auch vom Ursprung der Welt und der Schöpfung, | Darinnen das Reich der Natur und das | Reich der Gnaden erklärt wird. || Zu mehrerem Verstande des Alten und | Neuen Testaments, was Adam und Christus sey; | und wie sich der Mensch im Licht der Natur selber erkennen | und betrachten soll, was Er sey, und worinnen sein | zeitliches und ewiges Leben auch seine Seligkeit | und Verdammniß stehe. | Eine Erklärung des Wesens | aller Wesen: | Den Liebhabern in Göttlicher Gabe weiter | nachzusinnen. | Angefangen zu schreiben noch vorm Jahr 1622. | und vollendet im Jahr 1623. | von | Jacob Böhmen. Gedruckt im Jahr ausgebornen grossen Heils | 1730 [Neuausgabe: Will-Erich Peuckert (Hg.), Stuttgart 21958]. Bourignon, Antoinette: Das Liecht scheinend | in der Finsternüß. | Welches alle Menschen gutes Willens | anreitzet/ die Augen ihres Geistes zu öffnen/ | solches zu erkennen. | Mitgetheilt in unterschiedliche Brieffe/ | welche Herr Christian Hoburg, Prediger/ | zum Dienst seines Nechsten in Hocht=|eutscher Sprache übersetzt. || Und in Frantzösisch beschrieben | durch Anthoinette Bourignon. | Gebohren zu Ryssel in Flandern/ den 13. Januarii 1616, Amsterdam 1679 [HAB Wolfenbüttel Xb 4176]. –: Das | Liecht der Welt/ | In unterschiedlichen wahrhaftigen Er=|zehlungen/ die wohl würdig seind/ von allen denen die | noch einiger massen ihre Gältigkeit zu befördern | trachten/ nachgelesen/ ja recht verstanden | und begriffen zu werden/ Von einer nach dem ewigen Leben ab=|gereiseten Wallfarterin/ | Anthionette Bourignon, | In Drei Teilen an dieses Tagelicht gebracht durch | Christian Cort, Amsterdam 1681. [ZB Zürich D 335]. Breckling, Friedrich: In Nomine Jesu. | Biblia Paupera. | Evangelium der Armen: | Darinnen den Armen Christi ihre | Seligkeit/ Trost/ Gut/ Theil/ Erb=|theil/ Schutz / Frewde/ Ruhm/ Hoffnung/ | Schatz/ Herzligkeit/ Privilegien und künf=|tige Erlösung aus Gottes Wort |angekündigt werden. || Sampt einer Vermahnung an die | Reichen/ sich der Armen und Elenden in | diesen teuren Zeiten also anzunehmen/ wie sie es | einsstig mit ihnen bey GOtt in der Ewigkeit geniessen | wollen: Und schrecklicher Ankündigung des Gerichtes | an die Gottlose-Reichen/ die bisher Christum | in seinen Armen beraubet/ unter=|drucket und gecreutziget | haben. || Zur Vorsorge/ Trost und Schutz der Ar=|men/ zum Schrecken aber und Zeugniß den | Reichen/ und zur Rettung seiner Seele an | dem Untergang der Armen in diesen tewren | Zeiten/ | Aufgesezet durch | Fredericum Brecklingium, | Diener und Prediger der Armen, o. O. 1662 [HAB Wolfenbüttel A: 1240.16 Theol. (9)]. Bromley, Thomas: Der Weg zum | Sabbath der Ruhe/ | Durch der Seelen Fortgang im | Werck der Wiedergeburt/ | oder | Kurtze und gründliche Unterrichtung von der | Neuen Geburt. | Worinnen vielerley Listen der Schlange entdeckt; | Die Verborgenheiten des Creutzes geoffenbaret: | Der Tod des Al-

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Bibliographie

ten/ das Leben des neuen Englichen | Menschen; | Sampt dem Eingang zur Göttlichen Bedie=|nung/ klärlich gezeiget und vorgetragen werden. | Durch einen Liebhaber der Wahrheit | Und Gliedmaß der wahren Kirche. | T. B., Amsterdam 1685 [SB Berlin Cs 15813]. Bröske, Konrad: Erste | Unterredung | zwischen einem | Politico und Theologo/ | Uber | Die letztere heraußgegebene Erklährungen/ | Daniels/ der H. Offenbarung/ | und andere Weissagungen mehr. | Worinnen | Untersuchet wird/ ob dise Bücher nicht | vor auffrührische Schrifften zu halten/ und deren | Urhebere als Auffrührere und Friedens=Stöhrer | zu straffen seynd. || Darüber | Die Urtheile so außfallen/ daß | diese Bücher dem Geist= und Weltlichen | Stande alles Gutes verkündigen/ deßwegen von | jederman wohl zu betrachten/ und das Gute/ | was sie verkündigen/ hertzlich zu | wünschen seye. […], o. O. 31700 [ZB Zürich XVII 732]. –: Zweite | Unterredung | Zwischen einem | Politico und Theologo/ | Von | dem jetzigen | Zustande der Kirchen | Darinnen | untersuchet und gezeiget wird | was sich heutiges Tages bereits vor | Kennzeichen in der Kirchen hervor thun/ | Darauß | Man schliessen kan/ wie das herrliche | Reich Christi (zwar noch nicht an sich selbst | und in seinem völligen Glanze doch) in seiner | Vorbereitung würklich eingetretten | seye. […], o. O. 1698 [ZB Zürich XVII 732]. –: Dritte | Unteredung | Zwischen einem | Politico und Theologo/ | Von | dem ersten Staffel der | Vorbereitung | Zum | Herrlichen Reich Christi. Darinnen | Untersuchet und gezeiget wird/ was | an demselbigen bereits erfüllet/ und nech=|stens nach Gottes Worte noch zu | erfüllen stehet. […] o. O. 1698 [ZB Zürich XVII 732]. –: Vierte | Unterredung | Zwischen einem | Politico und Theologo/ | Von | Denen auff den ersten folgenden sechs | Stafeln | Der | Vorbereitung | Zum Herrlichen | Reiche Christi […], o. O. 1698. [ZB Zürich XVII 732] –: Fünffte | Unterredung | Zwischen einem | Politico und Theologo/ | Von | den | Welt=Händeln. | Darinnen | Jetzt nur ins gemein untersu=|chet und gezeiget wird/ welche Zei=|chen der Verbesserung und was vor | Vorbereitungen | Zum Herrlichen | Reiche Christi | Sich Darinnen hervorthun. […], o. O. 1698 [ZB Zürich XVII 732]. –: Sechste | Unterredung | Zwischen einem | Politico und Theologo/ | Von den | Welt=Händeln. | Darinnen | an einigen besonderen Din=|gen gezeiget wird/ welche Zeichen | der Verbesserung und was vor | Vorbereitungen | Zum Herrlichen | Reiche Christi | Sich | Darinnen hervor thun. […], o. O. 1699 [ZB Zürich XVII 732]. –: Siebende | Unterredung | Zwischen einem | Politico und Theologo/ | Vom | Obrigkeitlichen | Stande | Im Herrlichen | Reiche Christi. | Darinnen untersuchet und | gezeiget wird/ daß diese Lehre gar | nichts verdächtiges/ viel weniger gefähr=|liches gegen die heutige weltliche Obrig=keit in sich enthalte. […], o. O. 1700 [ZB Zürich XVII 732]. Bunyan, John: Eines Christen | Reise | Nach der Seeligen | Ewigkeit/ | Welche in unterschiedlichen | artigen | Sinnen=Bildern | Den gantzen Zustand einer Buß=|fertigen und Gottsuchenden See=|len vorstellet/ | In | Englischer Sprache beschrieben | Durch | Mr. Johann. Bunian, | Predigern in Betford/ |

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Hernach in Niderländische/ und nun | umb seiner Fürtreff lichkeit willen in die | Hochteutsche Sprache übersetzt | Durch J. L. M. C., Hanburg (Gottfried Liebernickel) 1694 [HAB Wolfenbüttel M: Th 374]. Orig.: The pilgrim’s progress from this world to that wich is to come, 1678. Burnet, Gilbert: Des berühmten Englischen Theologi/ | D. Gilberti Burnets/ | Durch die Schweitz/ Italien/ auch | Oerter Deutchlandes und Franck=|reichs im 1685 und 86 Jahre gethaner | Reise | Und derselben | Curieuse Beschreibung/ | Worinnen die neusten | Im Geist= und weltlichen Staat entstandene | Revolutiones enthalten; | Anfänglich in Englisch= nachgehends Fran=|zösich= itzo aber in deutscher Sprache beschreiben/ und in | dieser andern Edition nach dem Frantzösichen mit | Fleiss übersehen und verbessert; | Nebenst beygefügter einer hochverständigen | Person vollständigen Ausführung | Des | QVIETISMI | Und | Lebens=Beschreibung Molinos, | Wie auch vieler anderen Italien betreffender | merkwürdiger Begebenheyten, Leipzig 1688 [ZB Zürich Z A III 665]. Burnet, Thomas: Theoria Sacra Telluris | d. i. | Heiliger Entwurf oder Biblische | Betrachtung | Des Eedreichs/ begreiffende/ Nebens dem Ursprung/ die allgemeine Ende=|rung/ welche unser Erd=Kreis einseits allschon aus=| gestanden/ und anderseits noch auszustehen hat; | Anfangs von Herrn | Thomas Burnet | in Latein zu London heraus gegeben. | Anjetzo aber ins Hochteutsche übersetzt/ und dem curiosen Le=|ser zu Dienste mit einem doppelten Register/ mehreren | Figuren und diensamen Anmerkungen erläutert | Durch | M. Joh. Jacob Zimmermann/ | Vayhingen-Wurtenbergicum. | cum Gratia & Privilegiis singularibus, Hamburg 1698 [ZB Zürich Gal. XXV 181]. Comada, Miguel: Schatz der Gott=|begierigen Seelen/ | Das ist/ | Eine sehr lehrhaffte Unter=|richtung darinnen ein jeder Christ | unter einem gantz lustigen und über allemaß | lieblichen Gespräch gelehret und un=|terwiesen wird. | Wie er der Sünden absterben/ | Sein Adamisches/ f leischliches Leben hassen/ | Sich selbst verleugnen und Christo leben soll/ | auff daß er zu der wahren Liebe GOttes und sei=|nes Negsten gelangen möge. | Bereits vor 200. Jahren in der Castiliani=|schen Sprach geschrieben/ und nachmahls in die | Frantzösische/ Italänische/ Lateinische/ Teutsche und Nieder=|ländische Sprachen übergetragen (…), Ratzeberg auffm Dohm (Niclas Missen) 1668 [HAB Wolfenbüttel M: Ll 218]. Decreto | Del Ss N. S. Papa | Innocentio XI. | Con cui condanna com’ Heretiche le | infraseritte Propositioni | Di Michele de Molinos | Con Scommunica maggiore (riseruatano | solo à Sua Santità l’assolutione) à chi | tenesse, leggesse ò in altro modo | fauorisse li Libri del detto | Molinos, Venedig 1687 [HAB Wolfenbüttel A: 1223.28 Theol (2)]. Desiderius Philadelphus: Der rechte Weg | zum | Ewigen Leben: | Verfasst in | Drey= und neuntzig | Fragen und Antworten: | Zusammen getragen | Durch | DESIDERIUS PHILADELPHUS | Auch | Folgen zum Anhange | Einige denckwürdige Erinnerun=|gen/ Einem/ in dem Wege Christi/ wand=| lenden Pilgrim sehr nützlich/ zum | öfftern/ mit Ernste/ zu | betrachten, o. O. 1683 [SUB Göttingen Th thet. I, 738/15]. Diebold, Kaspar: Gefahr | Des | Schwermer=|Geists. | Das ist: | Kurze und einfaltige Unter=|richtung/ was es mit denen Leu=|then/ die sich Gött licher

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Entzuckungen | und Offenbarungen rühmen/ habe | für Beschaffenheit | und Gefahr; | samt kurzer | Anleitung/ | Wie ein Christ sich bey diesen | Zeiten vor Verführung hüten/ | und die Irrthum erkennen | lehrnen könne, Zürich (David Gessner) 1716 [ZB Zürich VI 430a1]. Escher, Johann Kaspar: Bemerkungen über die Regierung der Grafschaft Kyburg, in: Archiv für Schweizerische Geschichte, Bd. 4 u. 5, Zürich 1846. Engelbrecht, Hans: Eine Warhafftige | Geschicht und Gesicht | vom Himmel und der Hellen. | Diß ist nun die Historie und Gesicht/ | das erste Gesicht/ da GOtt der Heilige Geist mich | Hans Engelbrechten hat wieder vom Todte erwecket/ | und da mein Leib ist todt gewesen/ steiff und kalt | wie manchem Menschen in Braunschweig bewust und | bekandt ist/ und mein Leib ist in kurtzer zeit wieder starck und | lebendig worden/ ohn alle irrdische Speise/ Tranck und | Docterie. Mitteler weile nun mein Leib todt war/ so hat | der Heilige Geist meine Seele geführet für die Helle / und | richen lassen den Stanck der Hellen/ und hören lassen wie | die Verdampten schreien in der Holle/ in der Finsternisse/ | in dem Rauch und Dampff/ der Gottlosen zur Warnung. | Und darnach hat er meine Seele auch geführet in den Him=|mel/ und seine Herrligkeit den Betrübten zum Tro-|ste / und was mir da befoheln ist. Solches wird ein jeder | auß diesem Schreiben umbständlich zu vernehmen haben/ | denn bey GOtt ist kein Ding unmüglich/ und wie GOtt | meinen SpecialBeruff und Befehl mit Wunder=Zeichen | für Menschliche Augen und Ohren bekrefftiget und | bestetiget hat/ wie den Leuten zu Braunschweig | bewust und bekandt ist. | Diese Wunder aber sind geschehen/ im | Jahre 1622. umb die Zeit da wir daß Evangelium | haben/ am andern Sonntag deß Advents/ Es | werden Zeichen geschehen/ an Sonn und Mond | und Mond und Sternen/ und den Leuten wird | auff Erden bange werden/ da gesach diß Zeichen | auch an mir/ den GOttlosen zur Warnung/ und | den Betrübten zu Troste/ wie ein jeder auß | diesem Schreiben wird zu vernehmen | haben, o. O. 1684 [Uu LB Halle AB 42 7 K8 (3)]. Erasmus von Rotterdam: Von der Zung. | Des nimmer hoch gelob=|tenen D. Erasmi von Rotterdam/ vnd wirdt | darinn anzeigt/ was die Zung sei/ wie sie das best vnnd das | böst glied sei/ auch jren stand/ thün vnd lassen/ was je böß darauß | entstanden/ Auch was güts dauon kommen sei/ wider | alle Blapperer vnnd Schwetzer/ die Jrer | Zungen knecht seindt, Basel, 1544 [ZB Zürich Gal Ch 83]. Felgenhauer, Paul: Speculum Temporis | Zeit Spiegel/ | Darinnen neben Ver=| mahnungen aller Welt wird vor Augen ge=|stellt/ was für Zeit jetzt sey vnter allerley Stän=|den/ besonders vnter den meisten Geistlich genan=|ten vnd Gelerten. || Hierinnen ist auch ein Kurtze doch deutli=|che Erweysung deß Geheimnuß der drey Gemei=|nen/ in der Offenbarung Johannis/ beneben einer kurtzen Unterre=|dung mit der Sechsten gemeine Philadelphia den genandten | F. R. C. vnd andern Gelerten von denen Zeichen dieser letzten Zeit/ | Auch verantwortet sich der Author, warumb er in der Chronolo-|gia gesetzt/ das ihm Gott die Zeit deß Endes offenbahret hab/ neben | 14. Anweisungen vnd Orten in der Schrifft/ wo solch Geheim=|nüß in seinen gewissen Numeris vnnd deutlichen | Zahlen zu finden. | Durch Gottes Gnade vnd Antrieb deß | Geistes Gottes geschrieben/ | Durch | Paulum Felgenhauern

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Putschwi=|zensen Bohemum Theosophiae Discipulum, o. O. 1620 [ZB Zürich XVIII 3 5]. –: Das Geheymnus | Vom | Tempel des Herrn | in seinem | Vorhof, Heyligen vnd Allerheyligsten, | In drey vnterschieden theilen, | Offenbahret in diesem Büchlein zum | wahrem Erkentnuß deß Grossen geheymnus GOTTES/ | CHRISTI vnd seines Geistes: dasselbe zu | erkennen/ in/ vnd an den Menschen selbst/ zu seiner selbst rechten Erkaentnus. | Nach der heymlich verborgenen weißheit / zubetrachten | fürgestelt / allen lieben Glaubigen/ Außerwehlten | vnd Kindern der weißheit/ denn Gemeinen | CHRISTI / durch die gnade des | Geistes/ am dienst der sechsten Gemei=|ne zu Philadelphia, o. O. 1631 [ZB Zürich I 499]. –: Das Büchlein | Iehi Or | oder | Morgenröhte der Weißheit. || Von den drey Principiis aller Din=|ge/ die immer sein mögen/ dadurch die | grossen vnnd viel Geheimnüssen beydes in | GOTT, der Natur vnd Elementen/ so biß | daher verborgen gewesen/ entdeckt offenbaret/ | vnd klar erkant werden. || Zur Ehre GOttes/ Liebe des menschen/ | vnd den Kindern der Weißheit zur | tröstlichen Frewde. Gedruckt im Jahr CHRISTI 1640. | Im Jahr der Welt 5870 [HAB Wolfenbüttel Xb 6428]. –: Clavis Sapientiae || Schlüssel der Weisheit; | Das ist | EinSehung deß gesprechs des HErrn | JEsu/ mit Nicodemo Johan. 3. welches zum | Evangelio/ am Sontage Trinitatis gele=|sen wirdt; Da denn über einen iegklichen | versicul eine besondere Rede als zu einer | Auslegung vorgestellt wirdt. || Allen Liebhaberen der Weisheit zum besten | und zu Nutz / die Weisheit zuerkündigen | zuerkennen und zu lernen. | Durch | Paulum Felgenhawer, | der Göttlichen Weisheit Liehabern, Amsterdam 1656 [HAB Wolfenbüttel A: 1250.2 Theol. (3); ZB Zürich I 461]. Fioravanti Leonhardo: Medici von Bononia | Physica, | Das ist: | Experientz vnd | Naturkündigung. | I. Von Erschaffung deß Menschen auß den vier | Elementen/ dessen Complexion/ Eygenschaff=|ten/ Sinnen vnd Kräfften/ Gesundheit vnnd | Kranckheit/ vnd den vier Jahrzeiten. | II. Von geheymen niemals erhörten Experimen=|ten der Chirurgiy und Artzney. | III. Von mancherley Kranckheiten deß Men=|schen vnd deroselben Cur. | IV. Von allerhand Alchimistischen gewissen vnd | probierten verborgenen hohen Stücken. | Jetzund auß dem Italiänischen ob sei=|ner vnsäglichen Fürtreff lichkeit/ Hocheit vnd | Geheimnuß wegen ins Teutsch | versetzt, Frankfurt/M. (Niclas Hoffman) 1604. [HAB Wolfenbüttel A: 106.1 Med. (1)]. Fortsetzung | Der Gefahr | Des Schwermer=|Geists/ | Das ist Wolgemeynte Wahrnung | vor Verführung/ | Bestehend | 1. In kurzem Historischem Be=|richt von denen so genannten | Pietisten. | 2. Wahrnung an ehrliche Mit=|burger und Landleuth. | 3. Verantwortung etlicher Ein=|würffen. | 4. Erinnerung und Vermahnung. | Zu nothwendigem Bericht zusamen ge=|schriben und heraußgegeben, Zürich (David Gessner) 1717 [ZB Zürich VI 430 a]. Franck, Sebastian: PARADOXA | DVCENTA OCTO=|ginta, Das ist: | Zweyhundert vnnd Achtzig | Wunderred/ gleichsam Rhäter=|schafft/ auß der H. Schrifft/ so vor allem | f leisch vngläublich vnnd vnwar seind/ doch | wider der ganzen welt wahn vnd achtung/ | gewiß vnd war: Jtem aller in Gott Philoso=|phierenden Christen Rechte/ Göttliche/ | Philosophey/ vnd Teüt-

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sche Theologey/ vol=|ler verborgener Wunderred vnd geheimnuß/ | den verstandt allerley frag vnnd gemeine | Sprüch der H. Schrifft betreffende/ Auch | zur scherpffung deß vrteils überauß dienst|lich/ entdeckt/ außgefürt/ vnd an tag ge=|ben/ durch Sebastianum Fran=|ken/ von Wörd, Pforzheim (Georg Raben) 1559 [ZB Zürich Z IV S 98 – Erstdruck 1534]. –: Das verbüthschiert | mit siben Sigeln Verschlossen Buch/ | das recht niemande auffthun/ verstehen/ oder lesen kan/ | dann das lamb vnd mit dem Thaw bezaichnet/ das lamb angehö=|ren/ sampt einer vorred von den siben Sigeln/ was die seyen/ vnd | wie die auffgethon werden. zuletst ein klain einlaitung vnd | anweysung in die Hailige Schrifft/ wie man sich inn | Mosen richten/ die Prpheten lesen/ vnd Christum | das buch des lebens verstehen soll/ allen schü=|leren Christi/ vbung/ | vnd Götlichen räterschafft/ von | Sebastian Francken | fürgestellt, o. O. 1539 [Faksimile-Nachdruck der Ausgabe von 1559, Frankfurt/M. 1975]. –: VAN HET RYCKE CHRISTI. Een stichtelijck Trac=|taet/ allen eenboudighen Christenen tot onderwijsinghe/ ende den Gheestelijcken verlich=|teden Menschen/ te oordeelen int Licht ghegheben/ door den verlichteden ende van van Godt-gheleerden Se-|bastiaen Franck van Werdt, Driendt van Christo/ Beminder sijns Rijcks/ ende Lief hebber der eewigher ende onpartijdi=|gher Waerheyt. Ter Goude, 1611. [SUB Göttingen 8° Th thet. I 664/9]. Francke, August Hermann: Pädagogische Schriften. Nebst der Darstellung seines Lebens und seiner Stiftungen, herausgegeben von G- Kramer. Langensalza 1876. Franckenberg, Abraham von: Mir Nach | Das ist/ | Eine Ernstliche und Träwhertzige | Ermahnung | An alle | Christliche Gemainden/ | Zu Heiligem und GOttsehligen Wandel | in dem | Forbilde und der Nachfolge | Jesu Christi. […] || Aufgesetzt von Abraham von Franckenberg, Frankfurt/M. und Amsterdam (Heinrich Betke) 1675 [HAB Wolfenbüttel S: Alv Bd 493 (4)]. –: Raphael | oder | Artzt=Engel. | Auff ehemahliges Ersuchen eines Gottliebenden | Medici A. S. || Auffgesetzt von | H. Abraham von Franckenberg, | Equite Silesio im Jahr 1639. | Jetzo aber durch zuthun guter Hertzen und | Forderer verlegt und ans Licht gebracht, Amsterdam ( Jacob von Felsen) 1676 [ZB Zürich Md E 37]. Friedrich, Daniel: Ein | Nothwendig Bedencken/ | vber die Sechs erste Capitul der Offen=|bahrung Johannis/ Jn zwey Theil | abgetheilt. | Erster Theil. | Von den sieben Gemeinden / vnd der dreyen | ersten Capitul Außlegvng/ darinn die Summa der gan=|tzen Offenbahrung möchte gemerckt werden. | Durch | Daniel Friederich/ gewesener Predicanten zu Kir=|chart in der vnderen Pfaltz. […]|| Mit Fleiß vnd aller Trew durch ein Liebhaber der Warheit/ | auß dem ersten vom Author selbst revidierten Original abgeschrieben/ vnd ietzt zuerst | dem Herrn Jesu Christo zu Ehren/ vnd allen guthertzigen vnd eyffe=|rigen Menschen zu Nutz in Truck gefördert | vnd an Tag gegeben, o. O. 1624 [Uu LB Halle AB 144989 (2,3)]. –: Nützliche und Schöne Erklärung des Ersten Capittels Geneseos und hastu hierinn einen bericht von allen Articulen Christlichen Glaubens auch anderen streittigen Puncten und von unser Zeit, o. O. 1626 [Nachweisbar: UuLB Halle Id 1571].

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Fuhrmann, Augustin: Rettung | Der | Alten Wahren Christlichen | Catholisch-Evangelischen | Religion, | Wieder etliche Hinderungen/ | Welche unter den | Religions-Kriegen | der Sathan unvermerckt gesäet. || Aus GOttes Wort und Geist | auffgesetzet durch | Augustin Fuhrman | Pfarrern in Tscheplowitz in Schlesien/ | und der Fürstlichen Schloß=Kirchen | zum Brieg Diaconum, Amsterdam (Heinrich Betke) 1679. Hier zitiert nach der Ausgabe Amsterdam (Heinrich Betke) 1658 [HAB Wolfenbüttel A: 1252.3 Theol.]. Füssli, Johann Kaspar: Nutzlicher | Zeit=Vertreib, | Oder | Kurtz= und grundliche Anleitung, | Wie ein jeder Handwerks= und | Baurs=Mann, Dienst und Taglöhner | in der Forcht und Gegenwart Gottes arbei=|ten solle, um sich dessen Beystands, Schutz= | und Segen nach Seel und Leib zutrösten. […], Zürich (Lindinner) 31735 [ZB Zürich XVIII 2009.5]. Gabelkover, Oswald: Artzneybuch | Darinnen/ | Avß gnädigem Befelch/ Weiland deß | Durchleuchtigen Hochgebornen Fürsten vnnd Herrn/ | Herrn Ludwigen/ Herzogen zu Würtemberg vnd Theck/ Grauen zu Mümpel=|gart. Meines gnädigen Fürsten vnd Herrn/ Hoblöblicher Christ=|milter Gedächtnuß/ || Fast für alle deß Menschlichen Leibs-Anliegen vnd Ge=|brechen/ außerlesene vnd bewehrte Artzneyen/ gemeinem Vatterland Teut =|scher Nation zu gutem/ auß vielen Hohen vnd NiderenStandsPersonen geschrie =|bnen Artzneybüchern zusamen getragen/ vnd in den Truck verfertigt sind/ | Durch Hochermeldter Ihrer F. G. HofMedicum, | Oßwaldt Gäbelhouern/ der Artzney Doctorn: […] Anjetzo aber mit Bewilligung auffs new in Truck ver fertigt/ o. O. 1641(?) [HAB Wolfenbüttel Xb 6118]. Erstausgabe: Tübingen 1594. Galilei, Galileo: Sidereus Nuncius, Nachricht von neuen Sternen, Frankfurt/M. 2 2002. –: Dialog über die Weltsysteme, in: ders., Sidereus Nuncius, Nachricht von neuen Sternen, Herausgegeben von Hans Blumenberg, Frankfurt/M. 22002. –: Discorsi | E | Dimonstrazioni | Matematiche, | intorno à due nuoue scienze | Attenenti alla | Mecanica & i Movimenti Locali, | del Signor | Galileo Galilei Linceo | Filosofo e Matematico primarion del Serenissimo | Grand Duca die Toscana. | Con una Appendice de centro die grauità d’alcuni Solidi, Leyden 1638 [ETH Zürich 4098]; Deutsche Übersetzung von A. von Oettingen: Galileo Galilei, Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend, Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Bd. 11, 24 und 25, fünfte erweiterte Auf lage, Frankfurt/M. 2004. Gerhardt, Johann: Tägliche Ubung der | Gottseligkeit/ | Auch | Nebenst angehefften Morgen=| und Abendsegen/ |auch| Reiß/ Beicht/ | Communion und andere Christliche Ge=|betlein/ nützlich zu gebrauchen. | Itzo auffs neue mit Fleiß | vermehret, Jena (Georg Segenwald) 1619 [HAB Wolfenbüttel Th 925]. Grob, Jost: Göttlicher und verbindlicher | Gewalt der Oberkeit/ | vorgestellt | in einer Huldigungs=predigt/ Bey dem Aufzug des Wol=Edel/ Ge=|strengen/ Frommen/ Vesten/ Ehrenvesten/ Für=|nehmen/ Fürsichtigen/ und Weisen Junkern Johann | Jacob Schwerzenbachen/ neu=erwehlten Landvogts | der Herrschafft Wädischwyl, Zürich 1681 [ZB Zürich 5.21118]. Gründlicher | Tractat | Von der wahren | Gelassenheit/ | Was dieselbe sey und worzu | sie nütze/ | Allen Kindern GOTTES | zu Stärckung und Wachsthum |

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Am | Innern Menschen, Frankfurt/M. (Heinrich Wilhelmi) 1693 [HAB Wolfenbüttel Ts 356 (3)]. Hermes Trismegistos: Sesthien Boecken | van den | Vootreffelijcken ounden Philosooph, | Hermes Tris-|megistus. | Met groote naarstigheydt, uyt he Griecx ghe-|bracht in ons Neder-duytsch: en, in Versen | af-gedeelt, nevens veel Annotatien en ver-|klaringen; tot grondiger begrijp, des | Autheurs, sin. | Met eene schoone Voor-rede uyt | het Latijn, van | Franciscvs Patricivs, | In de welche hy bewijst, dat desen groo-|ten Philosooph heeft gebloeyt | voor Moyses. | En eene Na-rede aen den Leser; tot naarder | consideratie van de waardye en | outheyt deses Autheurs, Amsterdam (Pieter la Burgh) 1652 [NLB Hannover P-A 733]. Nachdruck der erweiterten deutschen Ausgabe: Die XVII Bücher des Hermes Trismegistos ergänzt durch die Tabula Smaragdina Hermetis, Neuausgabe nach der deutschen Fassung von 1789, Haar 1964. Textkritische Edition: Traités I–XVIII des Corpus Hermeticum, Tome I und II, texte établi par A. D. Nock et traduit par A.-J. Festugière, Paris (Budé) 1945. Hiel (Barrefelt, Hendrik Jansz): Erklärung | Der | Offenbarung Johannis | Aus dem Visionischen Gesichte/ in das | wahre Wesen | Jesu Christi, | Alles durch | Hiel, | Das einwesige Leben Gottes. | Anfänglich in Nieder=Teutsch ge=|druckt/ nun aber seiner unschätzbaren | Vortreff lichkeit halber/ ins Hoch=Teut=|sche übergesetzt und zum druck | befördert, o. O. [Amsterdam?] 1687. [HAB Wolfenbüttel Ts 413 (1)]. Hildebrand, Wolfgang: new augiert | weitverbesserte vielvermehrte | Magia Naturalis: | Das ist | Kunst und Wunder=|buch Darinnen | begriffen wunderbahre Secreta, Geheimnüsse/ | und Kunststücke/ wie nan nehmlich mie dem ganzen Mensch=|lichen Cörper/zahmen und wilden Thieren/ Vogeln/ Fischen/ Vnziffern | vnd Insecten/ allerley Gewächsen/ Pf lantzungen vnd sonsten fast vnerhöre wun=|derbarliche Sachen verrichten/ Auch etliche Wunderschrifften künstlich bereitet/ | zu Schimpff/ Kurtzweil/ löblicher vnd lustiger Vbung/ vnd Nutz gebauchen/ | vnd damit die Zeit vertrieben kan: Beneben erzehlung vieler wunderlichen | Dingen/ so hin vnd wieder in der Welt gefunden werden. | […] Mit Privilegien begnadet 10. Jahren nicht nachzudrucken, Jena 1625 [ZB Zürich: Z 139]. Erstausgabe: o. O. 1609. HISTORIA FACTI | oder | Kurtze und wahrhaffte Erzehlung/ | Was sich mit | Joh. Heinrich Hottingers/ | Gewesenen Professoris Theol. & Antiq. Jud. | Ordinarii bey der Heßischen Universität | zu Marpurg/ | Theologische Bedencken | von denen Ausserordentlichen Offenbahrungen | insgemein | und von | Einigen heutigen so genannten Inspirierten | ins besondere/ | Welches er auff wiederholten Hochfürstlichen | Befehl auffsetzen müssen/ | zugetragen, [Anonym,] o. O. 1717 [ZB Zürich Ms. S 278, Nr. 44]. Hoburg, Christian: Praxis Arndiana || das ist/ | Herzens=Seufftzer | Uber die 4. | Bücher Wah=|ren Christenthumbs S. Jo=|hann Arnds/ welche den Kern/ Marck | vnnd Safft der Lehr dises Hocherleuchteten | vnnd Geistreichen Lehrers allen andächtigen | Gottergebenen Seelen einfältig vor=|stellen vnd erklären: || Bey jetziger Heuchel=Zeit hertzgründ=|lich zu betrachten/ vnd in täglicher übung deß | Christenthumbs inniglich zu practicieren: Auff | daß das falsche/ heuchel= schein= vnd spott=Chri=|stentumb falle/ vnd das wahre lebendige Her=|tzens=Christenthumb wider auffgehe. | Das Erste

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Buch. | Auffgesetzt | Von Christian Hoheburck/ Luneburgens, o. O. 1642 [HAB Wolfenbüttel Yj 28 Helmst 8°]. Heutiger/ Langwieriger/ | verwirreter | Teutscher Krieg/ | In einem | Nachdencklichen/ Gründli=|chen Gespräch vorgestellt/ | Darinnen begriffen/ | 1. Woher selbiger vrsprünglich entstanden. | 2. Warumb auch bißhero er noch nicht habe | auff hören können. | 3. Weniger anjetzo auff hören könne/ | vnd werde | 4. Wie aber er endlich fruchtbarlich könne | beygelegt werden. | Vnserm hochbeträngten Vatterland/ | darinnen das grimmige Fewer deß Zorns | Gottes/ so lange Jahr hero gebrennet hat/ | vnd noch jetzo lichterloe brennet: || Zur höchtnötigen Erinnerung/ denen sichern | Welthertzen vnd SpottChristen aber zum Zeug=|nuß wolmeinentlich auffgesetzt/ | Von | Christiano Hoheburgk/ Lüneb., o. O. 1644 [ZB Zürich D 376]. Spiegel | Der Misbräuche beym Predig=|Ampt im heutigen | Christenthumb | Vnd wie selbige gründlich vnd | heilsam zu reformieren. | Aus Brüderlichem wolge=|meintem Gemüth/ senen Herrn | Mitbrüdern in Teutschland/ bey jetziger | langwiriger Vnruhe ihres Vatterlands höchst | zu betrachten/ vnd Christlich zu prüffen/ mit | greundlichen glimpf lichen Worten auffge=|setzet vnd herauß gesandt/ | Von | Elia Praetorio | Evangelischern Prediger in | Liffland, o. O. 1644 [HAB Wolfenbüttel A. 698.6 Theol.]. Teutsch Evangelisches | JUDENTHUM: | Das ist: | Gründlicher Beweiß | Auß den Heil. Propheten GOttes/ | daß wir Evangelische in Teutschland grö=|sten Theils/ dem Jüdischen Volck im Alten | Testament ietzo gleich: | An | 1. Empfangenen Wolthaten GOttes: | 2. Uberhäufften Sünden: | 3. Allgemeinen Landplagen: | 4. Allgemeiner Bezeigung mitten unter dem Plagen: | 5. Erbärmlichem Außgang solches Wesens: | Nebenst angehängtem treuen Raht | und Vorschlag Gottes/ durch die H. Propheten/ | wie diesem Unheil gründlich zusteueren/ ietzige Frie=|dens=Tractaten fruchtbarlich anzu stellen | und | Das heutige fast Jüdische Christenthum in | Teutschland auß dem Schlaaff der Heucheley und | Sicherheit zuerwecken: | Zum ernsten | Buß=Spiegel | in dieser Zornzeit/ da iederman auff den Frieden | hoffet/ treuhertzig vorgestellet/ | von Christiano Hoheburgk/ Lünaeburg. | vor dem zu | Frankfurt M. 1644. | Jetzo von neuen verbessert herauß gegeben | auf Kosten etlicher Freunde. | In Pamphilia. MDCCV, o. O. 1705 [ZB Zürich III N 186 b]. Christlich=Fürstlicher | Jugend=Spiegel: | Allen Jungen Regenten/ vnd | denen/ so die Regierung bedienen/ | oder schierkünfftig bedienen möch=|ten/ wol zubeschawen/ || Zur höchstnöthigen Erinne=|rung/ wie bey jetziger verwirrten | Zeit selbige ihre Consilia also füh=|ren können/ damit sie ein gutes | Gewissen behal=|ten | Auß dem Wort des HERREN/ | vnd glaubwürdigen Hisorien ein=|fältig vnd wolmeynlich vorge=|halten | von | Christiano Hoheburgk Lunaeb., Frankfurt/M. (Matthias Merian) 1645 [HAB Wolfenbüttel A: 138.4 Ethica (2)]. Apologia | Praetoriana | Das ist: | Spiegels derer Mißbräuche beym | heutigen Predig=ampt/ | Gründliche Verthedigung: | Wider die | Lutherische Prediger in Lübeck/ | Hamburg und Lüneburg. | Darinnen | Dero gedruckte Warnung von Wort zu Wort | ordentlich vund gründlich wiederleget/ auch dero Crimina | falsi, in verfälschung der Allegaten, zerstümelung vnd | verkehrung der Worte/ fein deutsch vor | augen gestellet werden. | Jhnen | Zur not-

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türfftiger Vberweisung ihrer Verfüh=|rung/ Heucheley vnd Falschheit/ auch zu besserer | Prüffung/ vnd da es beliebet zur redlichen | Beantwortung/ fein deutsch | vorgehalten. | Vor dem nunmehr hereinbrechenden Gerichtstage | des Herrn/ Herrn Zebaoth. | Von | Eila Praetorio | Evangelischer Prediger in Lief lande, o. O. 1653 [ZB Zürich C 334]. –: Theologia Mystica, | Das ist; | Verborgene Krafft-Theologie | der Alten/ | Anweisend den WEG | Wie | Auch der Einfeltigste Mensch/ zum | lebendigen Erkentnis ja zur gemeinschafft | seines GOTTES/ ohne einige andere Kunst | und Wissenschafft/ nur einig durch Abster=|ben sein selbst in Erleüchtung des Heiligen | Geists empfindlich kommen kan, Amsterdam (Cornelius de Bruyn) 1655 [ZB Zürich XXI 419]. –: Praxis Davidica | Das ist | Davidische Seelen=übung | Oder | Gottseelige Bußgedanken über etliche Psalmen | Des Königs vnd Propheten Davids/ als 83.63.73.23. | Allen | Gott=ergebenen/ in dem Streit stehenden/ vnd | wider sich selbst vnd die Welt kämpfenden | Hertzen wolmeinend an tag gegeben, Schaff hausen ( Johann Kaspar Suter) 1668 [ZB Zürich VI 392]. –: Vaterlandes Praeservatif. | Das ist: | Feurige Seufftzer/ | und andere heilsahme Mittel/ wie | die grosse Kriegs=Flamme/ in unserem | lieben Vaterlande / ja in der gantzen | Christenheit/ gründlich könne | gelöschet wer=|den. || Aus Liebe zu GOtt und dem Va=|terlande/ für die Siebentausend/ welche | ihre Knie für den Baal nicht gebeu=|get/ auffgesetzt | Von | Christian Hoburg, Hamburg und Frankfurt/M. 1677 [Uu LB Halle Im 1062 l]. Holtzhausen, Johann Christoph: Teutscher Anti-Barclajus, | Das ist: | Außführliche Untersuchung | Der gantzen | Quäckereÿ | und Apologiä | Roberti Barclay, | Darinn | Dessen höchst=gefährliche Jrrthümer/ | schändliche Sophisterey/ und greuliche | Verkehrungen der Sprüche H. Schrifft | auffgedecket und widerleget; | Hergegen unsere Evangelische Lehr=Puncten | gegen seine Beschuldigungen und Lästerungen | sattsam behauptet werden. | Sampt einem | Kurtzen Anhang einiger Anmerckungen | Uber Jacob Böhmens Schrifften/ | sonderlich seine so genandte Auroram: | Zur Warnung und Verwahrung | gegen solche falsche Lehre: | Auffgesetzt von | M. Johann Christoph Holtzhausen/ | Evangelischer Prediger in Franckfurtam Mayn, Frankfurt/M. 1691 [ZB Zürich MFA 272]. Hönnig, Johann Lorenz: Kurze und deutliche Vorstellung | Der Edlen | Probierkunst/ | Was eigentlich dieselbe sey/ | worinnen sie bestehe/ was vor | Instrumenten darzu erfordert wor=|den/ wie man zur rechten Erkänntnus al=|ler Mineralien und Metallischen Ertzen zu gelangen/ | Und | Welcher Gestalt endlich die | Erkannten recht zu probieren/ und | in der Probierung zu tractieren | seyen. | Nebst einem ausführlichen Bericht von | Salpeter sieden/ und Erklärung aller Chy=|mischen Wörter und Zeichen. | Alles Liebe aus einer langwierig= und be=|währt= befundener Erfahrung/ mit | deutlichem Stylo aufgezeichnet und | wolmeinend mitgeteilet | Von einem dieser edlen KunstPreiß=|würdigst Ergebenen, Nürnberg 1695 [HAB Wolfenbüttel Xb 1803]. Horch, Heinrich: Anfangs-Gründe | einer Vernunfft= und Schrift=übenden | Zahl= und Buchstab=|Rechen=Kunst/ | Deren diese sonst | Algebra | heisset/ | Zum gebrauch der nidrigen und hohen Schulen/ | Deutlich beschrieben |

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von | Henrich Horchen/ | Der H. Schrifft Doctore, Prof. und der zeit Rectore | wie auch Predigern zu Herborn, Leipzig 1695 [HAB Wolfenbüttel Xb 6466]. Hottinger, Johann Jakob: Die unverfälschte Milch | der Christlichen Lehr | Von der | Seligmachenden | Gnad Gottes/ | Dero Beschaffenheit/ Nothwen=| digkeit/ Ursprung/ Anfang/ Wachs=|thum/ Mittlen/ | Auß | Heiliger Schrift verfasset | Durch einen | Der heiligen Wahrheit und der | wahren Heiligkeit bef lissenen/ | Zu | Unterweisung der Unwissen=|den/ zu Stärkung der Schwachen/ | zu Widerweisung und Aufweckung | der Jrrenden und annoch | f leischlich Gesinneten, Zürich 1716 [ZB Zürich VI 430a]. –: Versuchungs=|Stunde/ | Uber die | Evangelis. Kirch/ | Durch neue | Selbstlauffende Propheten: | Oder/ | Kurtze und wahrhafte Erzeh=|lung/ | was sint An. 1689. bis 1717. | In Zürich/ wegen des übelgenenneten | PIETISMI verhandlet worden: und Unter=|suchung/ deren fürnehmsten neulicher Lehr=| Sätzen/ und Beschwehrden/ welche durch die Verfechtere des besagten Pietismi, wider die | Reformierte Kirch/ in die Welt auß=|gestreuet worden; | Samt einer | Vorred/ | Von unabsönderlicher und unzertrennlicher | Parung/ und Vereinbahrung der gesunden | Lehr und des Gottseligen | Lebens, Zürich 1717 [ZB Zürich VI 224 d]. Hude, Hermann von der: Göttliche Offenbahrungen | Hermans von der Hude/ | eines frommen Baueren im Lande Lüneburg. | So ihme durch zwei Englische Erschei=|nungen (25. Jahre nacheinander/ nemlich | von 1633 biß ins 1658. Jahr) | widerfahren. || Jetzo zusammen geleset/ und dem Teut=|schen Lande zur überf lüßigen Warnung/ und | gleichsam letzten Zeugnüß/ ans | Liecht gegeben. || In dem Wunderzeichen/ Krieg und Kriegsgeschrey/ | auch von allenthalben her verwirrens/ | Schrecken und Jammern/ vollen | Jahre, o. O. 1665 [Uu LB Halle AB 38 10 i, 12]. Knorr von Rosenroth, Christian: Eigentliche Erklärung | über die | Geschichte der Offenba=|rung S. Johannis/ | Voll unterschiedlicher neuer Christ=|licher Meinungen. | Darinnen | Das wahre und falsche Chri=|stenthum/ kürtzlich doch eigentlich | abgemahlet/ und eines jeden Zeit ziem=|lich genau ausgerechnet/ auch auf Ma=|thematische Art/ gar gründlich bewiesen/ | und anbey die Zeit des allgemeinen Jüngsten Tages vorge=|stellet wird. || Geschrieben durch Peganium, o. O. 1670 [HAB Wolfenbüttel M: Td 235]. Kuhlmann, Quirinus: Der Kühlpsalter, Bd. 1 und 2, Robert L. Beare (Hg.), Neudrucke deutscher Literaturwerke, N. F. 3–4, Tübingen 1971. –: Aus dem Kühlpsalter, ausgewählt und mit einem Nachwort hg. von Werner Vordtriede, Berlin 1966. –: Pariserschreiben an H. Johannes Rothe, Fr. Tanneke von Schwindern, H. Fr. Mercurius von Helmont und Antoinette Bourignon, Amsterdam 1680 [Nachweisbar: Hochschulbibliothekszentrum NRW]. Kurtze | Nothwendige / in GOttes Wort | gegründete | Warnung | Für dem Gotteslästerlichen/ | Ergerlichen Schand=Buche/ wel=|ches unter dem Nahmen Eliae Prae=|torii von dem Bißbreuchen deß Pre=|dig=Ampts herauß kom men/ und zu Ver=|führung der Einfältigen betrieglich auß=|gestreuet worden/ | gestellet | durch | Das Predigt=Ampt der Christ=|lichen Gemeine zu Lübeck/ Hamburg und Lüneburg, Hamburg 1645 [HAB Wolfenbüttel H: K 455.8° Helmst.].

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Kurtzer und einfaltiger | Bericht/ | von dem kräfftigen | Zug und Gang | der Gnaden | Oder | Wie GOtt in Christo | sein Gnadenwerck durch den | H. Geist in der Seelen anfange | fortsetze und zum Ende bringe. | Gegründet auf GOttes Wort/ | und die tägliche Erfahrung. | Durch Frag und Antwort den | Anfängeren des Christenthums vorge=|stellt und getreulich anbefohlen/ von | einem der sich in der Gnad nich | höher schätzt als ein | Junges Milch=Kind, Zürich 1713 [ZB Zürich Gal XVIII 396]. Lassenius, Johannes: Pomerani, SS. Th. Stud. | Historische und Schriftmässige | Erörterung/ der vor wenig Zeit in En=|geland und Schottland entstandenen | neuen Secte | Der | Quacker/ | Darin so wol aus allerhand hiervor | ausgegebenen Englischen Schrifften/ als eigen=|ner Erfahrung und f leißiger Nachforschung/ nicht al=|lein der Quacker Ursprung/ Fortgang und Leben/ klar und deut=|lich angezeiget/ sondern auch ihre Lehre und Glauben/ wie sie den=|selben so wol durch ihre gedruckte Schrifften als auch Mündliche | Predigten darthun/ sampt ihren Beweisthümern aus H. Schrifft | genommen/ iedermänniglich zum Asehen einer solchen greulichen | Lehre vor Augen gesellt wird: Zusampt kurtzer iedoch | deutlicher Widerlegung aller deroselben | Irrthümern. | In XIV. Capiteln abgefasset. | Alles zur Ehre GOttes/ und Erbauung | der Christlichen Kirchen, Hamburg 1661 [ZB Zürich Gal XVII 446]. Lautensack, Paul: Offenbarung Jesu Christi | Das ist: | Ein Beweiß durch den | Titul vber das Creutz Jesu Christi/ | vnd die drey Alphabeth/ als Hebreisch/ Graegisch/ | vnd Lateinisch wie auch etliche | wunderbahre Figuren. | […] | Durch den Gottsäligen Paulum Lautensack Mah=|leren und Organisten weilandt in Nürnberg. Uber | welche vmb völligers Verstandts willen die Außle=|gung M. V. Weigelij herzu gesetzt | worden, Frankfurt/M. (Lukas Jennis) 1619 [HAB Wolfenbüttel A: 494.2 Theol. (3)]. Lavater, Ludwig: Die Gebräuche und Einrichtungen der Zürcher Kirche. [Zürich 1559 und 21567.] Erneut herausgegeben und erweitert von Johann Babtist Ott. [Zürich 31702.] Übersetzt und erläutert von Gottfried A. Keller, Zürich 1987. Leade, Jane: Himmlische Wolcke: | So wol auch des | HERRN Christi | Auffarths=Leiter; | Hernieder gelassen/ | Den Weg zu zeigen und anzuwei=|sen/ wie durch den Tod und Auferstehung/ | zur Himmelfarth und Glorificierung | gelangen möge. | Durch | Jane Leade. || Eine hocherleuchtete Frauens= Person/ | aus GOttes Befehl/ im Jahre 1681/ in Engli=|scher Sprache heraus gegeben/ und nun GOTT | zu Ehren/ und denen Menschen/ so es fassen | mögen/ zu Dienste/ in unsrer Mutter=|Sprache/ ans Liecht befördert, Amsterdam (Heinrich Wettstein) 1694 [UB Basel His. 274]. –: Offenbahrung | der | Offenbahrungen; | Vornehmlich | Als ein Muster und Probe | zur Entsiegelung/ Offenbahrung und Erklärung | der | Sieben Siegel/ sieben Donner/ und eigent=|lichen Beschaffenheit und Zustand des | neuen Jerusalems. || Welche biß auf den heutigen Tag so ferne noch nicht | ans Liecht gebracht worden/ daß sie das grosse My=|sterium zum Verstande zu bringen/ einiger Massen | ein Genügen geben möchten/ (ausgenommen bey | dem geistlichen Unterscheider). || Im Jahr 1683. allbereit/ auf außdrücklich Göttlichen Befehl/ | in Englischer Sprache geschrieben und außgefertigt | durch | Jane Leade, Amsterdam (Heinrich Wettstein) 1695 [UB Basel His. 274].

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–: Sechs Unschätzbare | Durch Göttliche Offenbarung und Be=|fehl ans Liecht gebrachte | Mystische Tractätlein. || Das Erste: | Der Henochianische Glaubund Lebens=|Wandel mit Gott. | Das Andre: | Die Gesetze des Paradieses/ so bißher verloh-|ren gewesen/ und durch die Weißheit selbsten | wider an den Tag gebracht worden. | Das Dritte: | Die Wunder der Schöpffung Gottes geof-|enbart in Acht unterschiedlichen Welten/ die sich doch | alle in der Menschlichen Seele/ nach seinem begeh=|rendem Willen/ zu offenbaren vermögen. | Das Vierdte: | Eine Bottschafft an die Philadelphische Ge=|meine/ samt einem Ruffe an die sich in England befin=|dende Sechs unterschiedliche Protestantische Reli=|gionen oder Secten und Kirch=Gemeinen. | Das Fünffte: | Der Glaubens- oder Lebens=Baum / so im | Paradiese Gottes aufgewachsen/ daß die Jungfräuliche | Kirche sich unter demselben verbergen könne. | Das Sechste: | Die Arche des Glaubens/ oder nothwen-|diger Anhang zu ferneren Bestättigung des | Glaub= und Lebens=Baums. || Allesamt beschrieben durch das theure Werckzeug | JANE LEADE. | Neben der Autorin Lebens-Lauffe und einem | kurtzen Nachbericht des Ubersetzers an den Leser, Amsterdam 1696 [UB Basel His 277]. –: Der | Garten=Brunn | Gewässert durch die Ströhme der göttli=|chen Lustbarkeit/ und hervorgrünend in mannich=|faltigen Unterschiede geistlicher Pf lantzen: die durch | den reinen Anhauch zu einem | Paradiese | Aufgeblasen/ und nunmehro ihren an=|muthig süssen Geschmack und starcken Geruch zur | Seelen=Erquickung von sich geben. | oder | Ein rechtes Diarium und ausführlich | Tag=Verzeichnus alles desjenigen/ was sich mir dieser | theuren Autorin/ in Ihrem hohen Beruffe vom Jahre | 1670 her zugetragen/ auch wie die wesentliche Weißheit | Sie auf Ihr Gebeth und Fragen in Ihrem gantzen | Glaubens=Processe und magischen Kampff und | Streite unterrichtet/ und von einem Grade zum | andern durchs Paradies hinauf ins Reich des | Berges Sions und des Oberen Jerusa=|lems eingelietet habe. | Ausgefertigt in drey Theilen | Durch | Jane Leade. | Und nun/ nebenst ihren andern Wercken/ | (wie am Ende dieses ersten Theils zu sehen) treu=|lich übersetzt/ und mit einem Nachbericht des Uber=|setzers zum Druck befördert, Amsterdam (Heinrich Wettstein) 1697 [HAB Wolfenbüttel Tq 682]. –: Eine | Offenbarung der Bottschafft | des EWIGEN EVANGELII; | Welches gepredigt zu werden nimmer | auf hören soll/ bis die Stunde des | Ewigen Gerichts Christi | kommen wird: | Wordurch das Letzte Liebs=Jubel/ oder | das endliche Erlaß= und Frey=Jahr/ verkündigt | und ausgeruffen wird; und zwar zu dem Ende/ daß | die gantze gefallene Schöpffung/ es seyn Men=|schen oder Engel/ wieder in ihren er=|sten Stand eingesetzt werden/ | und | Alle Gefangnen/ durch das Blut des | ewigen Bundes/ frey gelassen werden sollen. | Durch | JANE LEADE | ans Liecht gebracht, Amsterdam 1697 [UB Basel His. 277]. Leti, Gregorio: HISTORIA, | E Memorie recondite sopra alla | VITA DI | OLIVIERO CROMVELE, | detto il | TIRANNO SENZA VIZI, | IL PRENCIPE SENZA VIRTÙ, Amsterdam 1692 [ZB Zürich Q 302 u. 303]. Löber, Christoph Heinrich: I. J. N. A. | Schrifftmässige | Entdeckung des | Quaker=Greuels/ | So | verwichenes 1680. Jahr | in einem Quaker=Buche/ | Helleleuchtender Hertzens=Spiegel | genannt/ | ausgebreitet worden. | Zur

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Vertheidigung der rinen Evan=|gelischen Lehre/ wie auch aufrichtigen/ Gott=| liebenden Hertzen zur Nachricht/ und treuen | Warnung verfasset/ | Und | Mit Consens und Approbation der Hochlöbl. | Theologischen Facultät zu Jena | an das Tages=Licht gegeben/ | von | Christoph. Heinrico Löbern/ | Past. und Superintend. zu Orlamünda, Jena ( Johann Bielcke)1682 [HAB Wolfenbüttel B 1.8° Helmst. (2)]. Maier, Michael: Compendium Miraculorum | Das ist | Kurtze/ jedoch klare | Beschreibung | vnterschiedlicher Wunder=|werken vnd Geschichten: Insonderheit | der Gänse/ so in den Orcadischen | Insuln auff Bäumen | wachsen: | Deßgleichen | Von Vrsprung vnd Geburt etlicher sehr | frembder Vegetabilien/ Menschen vnd Thier: | Wie auch dem Vogel Phoenix, Wehrwölffen/ Geniis, | Waldtgöttern/ Lamiis, Hexen/ vnd anderer Gedächt =|nußwürdigen Sachen Erör=|terung. | Von H. Michale Mayern D. u. Lateinisch | beschrieben/ vnd an jetzo ins Teutsche | versetzt/ durch | M. Georgivm Beatvm, Frankfurt/M. (Lukas Jennis) 1620 [HAB Wolfenbüttel M: Na 220]. Malebranche, Nicolas: Traité de la nature et de la grâce (1712). Deutsch: Abhandlung von der Natur und der Gnade (1712), Hamburg 1993. Meister, Leonhard: Helvetische Szenen der neuen Schwärmerey und Intoleranz, Zürich 1785. Molinos, Miguel de: GVIDA | SPIRITUALE, | Che disinvolge l’anima, e la conduce | per l’interior camino all’acquisto | della perfetta contemplatio-|ne, e del ricco tresoro del-|la pace interiore. || Del Dottor | Michele di Molinos | Sacerdote | Aggiuntovi un breve Trattato della quotidiana | communione dell’istesso Autore. | In questa nuova editione dedicata | All’ Illustris & Eccell. Sig. il Sig. | Giorlamo | Gradenigo, Venedig (Giaccomo Hertz) 1685. [HAB Wolfenbüttel A: 1223.28 Theol (2)]; Miguel de Molinos, Recueuil De Diverses Pieces Concernant Le Quietisme Et Les Quietistes, Ou Molinos, Ses Sentimens Et Ses Disciples/ Miguel de Molinos, Amsterdam 1688. – Vier Teilbände, der zweite Teilband enthält: Guide Spirituelle Pour Dégager l’Ame des Objets sensibles. Moller, Nikolaus: Chronologia | Oder | Zeit Rechnung | Darinnen | Eigentlich dargethan vnd er=|wiesen wirdt/ wie lange die Weldt biß | auf das 1615. Jahr gestanden/ vnd | künfftig hinferner noch stehen | werde. | Mit Angehengter Chronologischen | Taffel/ Darin kürtzlich vor Augen gestellet wirdt/ | aller Altväter/ Richter/ Köninge vnnd Fürsten des | Alten Testaments/ wenn sie geboren/ wie lange sie | gelebet/ vnnd dem Volcke Gottes biß auff die Ge=|burdt Christi vorgestanden/ auch was für gedenck=|würdige Geschichte bey ihrer Regierung sich in | den vier Monarchien in der Weldt ver=|lauffen vnd zugetragen | haben. | Auß heiliger Göttlicher Schrifft vnd andern | Glaubwürdigen Büchern zusammen getragen/ | beneben einem kurtzen Chronicon/ von | erbawung der Stadt | Hatterschleuen, Hamburg 1615 [HAB Wolfenbüttel M. Gb 294 (2)]. Müller, Johann: Quäcker=Grewel | Das ist | Abscheuliche/ auffrürische/ verdam=|liche Jrthumb der Neuen Schwermer/ | welche genennet werden | Quäcker | Wie sie dieselbige in ihren Scar=|tecken/ Allarm/ Standarte/ Pannier/ | Königreich/ Eckstein/ und sonst schrifft=|lich und mündlich mit grossem Er-|gernis außgebreitet. | Auff Anordnung Eines Edlen Hochweisen | Raths der Stadt Hamburg | Dem Einfältigen zu treuhertziger War=|nung kürtz-

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lich gefasset/ gründlich wiederlegt/ | und in Druck gegeben | Durch | Etliche hierzu verordnete deß Ministerii | in Hamburg | Mit einem vierfachen Register, Hamburg (Michael Pfeifer) 1661 [HAB Wolfenbüttel Xb 115]. Napier, John: Herren zu Merchiston/ | Eines treff lichen Schottländischen | Theologi, schöne vnd lang gewünschte | Außlegung der | Offenbarung Jo=| hannis/ | In welcher erstlich etliche Propositiones | gesetzt werden/ die zu Erforschung deß wahren Ver=|stands nothwendig sind: Demnach auch der ganze Text | durch die Historien vund Geschichten der Zeit erklärt/ vnnd | angezeigt wirdt/ wie alle Weissagungen biß daher | seyen erfüllt worden/ vnd noch in das künftige | erfüllt werden sollen. || Auß begierd der Warheit/ vnd der öffnung der Ge=|heimnussen/ nach den Frantzösischen/ Englischen vnnd | Schottischen Exemplaren/ dritter Edition jetzund auch | vnserem geliebten Teutschen Verstand | üvergeben, Frankfurt/M. 1615 [HAB Wolfenbüttel M: Td 235]. Niclaes, Hendrik: Ein Klachre=|den/ die de Geist der Lief=|ten/ unde H. N. [d. i. Hendrik Niclaes] mith sampt Abia/ Joa=|cim/ Daniel/ Zacharias/ Tobias/ Haniel/ Rastas/ Banaias/ Nehemias/ Elidad/ (ec. de vornompste Olderen | vnde Andeneren des hillighen Wordes/ in dem Huse der | Lieften; mit bedroefenisse unde suchtinge des Herten, over | de blindtheit der volckeren klagende vnde also mit desulue | klach-reden; de valsche veruchtinghen/ vorschmaetheit/ vnde | vorvolginge/ die en van ethlicke valsche herten vnde schrift=|licke grundige Berichtingen; vorhalende zynt. || Mit de Twelf vörnömpste | Höuet-artyckelen des Christen-geloues/ vn=|de Vorklaringhe der vprechter Christelicker-döpe, | Van H. N. vthghegaen: […], Antwerpen (Christoph Plantin) ca. 1560 [HAB Wolfenbüttel A: 1164.107 Theol (2)]. –: Eine Roepen=|de-stemme des Geistes der | Liefften/ Där alle Völckeren; uth lütter | Genade; to dat Hüs der Lieften, mede | geroepen/ unde genödet | werden, Antwerpen (Christophe Plantin) ca. 1560 [HAB Wolfenbüttel A: 1164.107 Theol (5)]. –: Vorkündinghe | van dem Vrede up Erden/ | unde van dem Genedigen-tydt, idt Gul=|den-iär ofte anghenäm Jär | des Herren: | Währmede, de Werlt, meth sampt se alle die | nu Kryge vnde Hader wedder malkandern vören, | tom Vrede vormanet werden. vnde gewärnet vör | de grote Wee vnde Ellende die en alle so se sick tom | Vrede nicht wenden; överkomen sal, Antwerpen (Christoph Plantin) ca. 1560 [HAB Wolfenbüttel A: 1164.107 Theol (6)]. Paracelsus: Aureoli | Philippi Theoprasti Bombastis von | Hohenheim Paracelsi/ deß Edlen/ Hoch=|gelehrten/ Führtreff lichen/ Weitberümbtesten | Philosophi vnd Medici | OPERA | Bücher und Schrifften/ so viel | deren zu Hand gebracht: und vor we=|nig Jahren mit und auß ihren glaubwürdigen | eygener Handgeschriebenen Originalien collacio=|niert/ verglichen/ verbessert: | Vnd durch | Johannem Huserum Brisgouiom | in zehn verschiedenen Theilen in Truck gegeben. | Jetzt von newem mit f leiß vbersehen/ auch mit | etlichen bißhero vnbekandten Tractaten gemehrt/ […], 2 Bd. Straßburg 1616 [HAB Wolfenbüttel A: 29.1 Med. 2°]. –: Sämtliche Werke, 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, Bd. 1–14, hg. von Karl Sudhoff, München 1922–1933 [Nachdruck: Hildesheim 1996].

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–: Der Komet im Hochgebirg von 1531. Ein Himmelszeichen aus St. Gallen für Zwingli, hg. von Urs Leo Gantenbein u. a., Zürich 2006. Penn, William: Forderung der Christenheit | fürs Gericht: | Sampt | Einer freundlichen Heymsuchung | in der Liebe Gotes/ an alle diejenige un=|ter allerly Secten und Religionen, welche | eine Begierde und Verlangung haben nach der | wahren Erkändtnüß Gottes/ auff daß sie ihm | in der Warheit und Gerechtigkeit möchten | dienen und anbeten/ sie seyen auch wie | sie wollen. || Wie auch | Ein Sendbrieff an alle diejenigen/ die | unter der Christlichen Confession, und | von den eußerlichen Secten und Gemeinden | oder Kirchen abgesondert sind. || Und auch zuletzt | Ein Sendbrieff an alle diejenigen/ die | von dem Tag ihrer Heymsuchung empfind=|lich seyn geworden. || Welches alles in Englichser Sprache | geschrieben ist | von | Wilhelm Penn, | und in Hochteutsche Sprache treulich transferieret, Amsterdam ( Jakob Claus) 1678 [ZB Zürich Gal XXVIII 444]. Petersen, Johanna Eleonora: Glaubens=Gespräch | Mit | GOTT/ | In Drey unterschie=|dene Theile abgefasset/ | Also daß | Der I. Theil/ | Das Werck des Glaubens | in der Krafft/ | Der II. Theil/ | Das Zeugniß/ die Macht und | Herrlichkeit des Glaubens/ | Der III. Theil/ | Das Ende des Glaubens/ wel=|ches ist der Seelen Seligkeit/ | vorstellet/ | In dieser letzten Glaublosen Zeit | zur Auffmunterung und Erweckung des | Glaubens auffgesetzt | Von | Johanna Eleonora Petersen | Gebohren von und zu Merlau, Frankfurt. und Leipzig (Michael Brodthagen) 1691 [Uu LB Halle AB 41 10 i, 20]. –: Hertzens-Gespräch Mit Gott: In Zwey Theile abgefasset/ und Zu Aufmunterung anderer frommen Gott-liebenden Seelen ans Tage-Licht gestellet/ von Johanna Eleonora Petersen/ gebohrnen von und zu Merlau. Mit einer Vorrede Hn. Christian Kortholtens […] Anietzo zum andernmahl gedruckt und mit vielen schönen Kupffern gezieret. Frankfurt u. Leipzig 1694 [Nachweisbar: Dresden, Sächsische Landesbibliothek/Staats- und Universitätsbibliothek 3.A.10092]. Petersen, Johann Wilhelm: Send=Schreiben | An einige | Theologos und GOttes=Gelehrte/ | Betreffend die | Frage/ | Ob GOTT nach der Auffahrt | Christi nicht mehr heutiges Tages | durch Göttliche Erscheinung den Menschen=|Kindern sich offenbahren wolle/ und sich dessen | gantz begeben habe? || Sampt einer erzehlten | SPECIE FACTI | Von einem | Adlichen Fräulein/ | Was Ihr vom siebenden Jahr ihres | Alters biß hiher von GOTT | gegeben ist, o. O. 1692 [ZB Zürich Gal Tz 946]. –: Die | Ausbreitung | der Kirchen | in der letzten Zeit/ | Aus dem Esaiâ am II. v. 1. 2 3. 4. und Michâ am IV. v. 1.2.3. | Wobey die Frage erörtert wird/ | Ob der Prophet Micha aus den Esaia seine Weissagung | hievon ausgeschrieben? Oder/ ob man nicht vielmehr glauben müsse/ daß | eben derselbige Geist eben dieselbige Wahrheit mit gleichlautenden Worten | in beyden Propheten offenbahret/ und ausgesprochen habe? | Gegen | Herrn Christoph Koch/ | Welcher das gesegnete Reich Christ feindselig verleugnet/ | hergegen wider das einhellige Zeugniß der ersten Kirchen | und der gantzen Christenheit/ | Den Ertz Ketzer Cerinthum, | Von seinem f leischlichen Chiliasmo zu befreyen suchet/ | und unverantwortlicher Weise | Den | Thom. Campanellam | Zum Atheisten machen will/ | Auffgesetzt/ | Von | Iohann. Wilhelm. Petersen,

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D, Frankfurt und Leipzig ( Johann Daniel Müller) 1697 [HAB Wolfenbüttel H: K404.4° Helmst. (20)]. Pfeifer, August: D. Augusti Pfeiffers/ Der Lübeckischen Kirchen Superinten-| dentis, | Freymüthiges | Theologisches | Bedencken/ | Was von den Geiste/ der sich in diesem | itzlauffenden Jahre im Dorffe Ober=Croßen/ bey Ru=| dolphstadt gelegen/ in gestalt einer weissen Tauben / in eines | Bauern Hause hat sehen und hören lassen/ auch für einen Boten des | dreyeinigen Gottes Außgegeben/ zu=|halten sey? | Dabey den zugleich | Die gantze Relation von besagten Geiste/ | Wie sie zu Arndstadt gedruckt/ zu finden ist, Lübeck 1695 [Uu LB Halle Yc 3257]. Philo Chronographus: Allgemeine | Welt=Geschichten | Von | Anfang derselben/ biß auff das | Geburts=Jahr Christi/ | 4140. | Nach Wahrer und Richtiger | Zeit=Rechnung/ | Mit Fleiß zusammen getragen | Durch | Philonem, | Chronographum, Isni im Allgöw 1671 [ZB Zürich WI 938]. Poiret, Pierre: Die | Klugheit | der Gerechten/ | Die Kinder/ | Nach den wahren | Gründen des Chri=|stenthumbs/ | Von der Welt zu dem Herrn | zu erziehen. Vorgestellet | In einem Sendschreiben | an eine Stands=Person, Hamburg 1693 [WLB Stuttgart Theol.oct.9759]. Pordage, John: Theologia Mystica: oder Geheime und verborgne göttliche Lehre von den Ewigen unsichtbarlichkeiten als vom Mundo & Globo Archetypo, das ist, vom rechtem Original Welt-Runde und uranfänglichen Haupt-Model oder Welt aller Welten, Globen […] wie sie Namen haben oder genannt werden mögen […] / von Einer Person […] J. P. M. D. Anietzo in unsere MutterSprache übergesetzt, Amsterdam 1698. Reissner, Adam: Psalm=Buch/ | Darinn hundert und fünffzig | Psalmen Davids/ | Auß dem Hebräischen Grund | von Wort zu Wort f leissig | verteutscht. | Mit kurtzer Erklärung auß | heiliger Schrifft/ | Durch | Adam Reußner. Frankfurt/M. 1683 [HAB Wolfenbüttel H: A 66.12° Helmst.]. Reitz, Johann Heinrich: Historie Der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698– 1745) mit einem werkgeschichtlichen Anhang der Varianten und Ergänzungen aus den späteren Auf lagen. Herausgegeben von Hans-Jürgen Schrader, Tübingen 1982. Schönau, Johann Heinrich von: Betrachtungen | Uber | Die geheimbe Fürbilder/ der | Sechs Tage der Welt=erschaffung/ | und des siebenden Tags der Ruhe/ gedeutet | auff die vielfältigen Bedingungen und Begeg=|nisse der Kirch/ von Anfang biß ans Ende der Welt; | und auff die Wege/ welche Gott hält/ in | Bekehrung und Heiligung eines | jeden Gläubigen. | Den geliebten Kindern Gottes zum | Nachdenken/ und den sichern Welt=|Menschen zur Wahrnung | fürgestellt, o. O. 1688 [ZB Zürich VI 253]. Schweizer, Johann Heinrich: COMPENDIUM | PHYSICAE | AristotelicoCartesianae, | in usum Tironum | METHODO EROTEMATICA | adornatum, Amsterdam (Heinrich Wettstein) 1685 [ZB Zürich VI 327a]. Schwenckfeld, Kaspar: Der Erste Theil | Der Christli=|chen Orthodoxischen bücher | vnd Schrifften/ des Edlen/ theuren/ von | Gott hoch begnadeten vnd gottseligen Hanns/ Caspar Schwenck=|feldts vom hauß Ossing/ Welche vom XXIIII. Jar an/ biß auff das LXII. | zum preise Gottes des Vat-

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tern/ Sones/ vnd H. Geists/ zur erbawung der all | gemeinen Christlichen Kirchen/ vnnd derselbigen gliedern zunutz vnd gut/ one | schmehen/ lestern vnd Iniurien/ auß gnediger schickung vnd offen=|barung Gottes/ auch göttlichem beruff/ von ihm | selbs beschrieben/ vnnd ans liecht | gegeben seind. || Jetzt aber durch die Mitbekenner vnd Liebhaber der glorien vnd warheit | Jesu Christi trewlich zusamen getragen/ vnd in folgende ordnung gebracht. […], o. O. 1564 [ZB Zürich III N 40]. Scleus, Bartholomäus: PATER NOSTER | Das ist | Eine geheime vnnd allgemeine Außlegung | Des heiligen Vater Vunsers/ | Darinnen gehandelt wird/ Was BETHEN seye? Was Anbethen solle? | Vnd wer der seye/ der da bethet? | Nebenst einem Anhange ettlicher Notwändiger Puncten zum Verstande des Wahren Christenthumbs gehörig: | Durch | D. Bartholomaevm Sclei, o. O. 1639 [ZB Zürich MFA 1:33]. –: Theosophische Schrifften: | Oder | Eine Allgemeine und Geheime/ jedoch | Einfältige und Teutsche | Theologia; | Anweisend/ wie ein jeder Mensch durch des Geheimnuß | JEsu Christi in uns/ zu dem wahren und lebendigen | Glauben und Erkäntnuß des Drey=Einigen | Gottes/ seiner selbst und aller Creaturen we=|sentlich gelangen/ und also das Reich Gottes | in der Seele wieder finden/ eröffnen/ und | im rechten Gebrauch aller Dinge/ | empfindlich geniessen solle: | Gegründet und angewiesen | In dem Dreyfachen Göttlichen Offenbahrungs=Buche/ | Als | Der H. Schrifft/ der Grossen und Kleinen Welt. | Geschrieben aus Göttlichem Liecht und Liebe zur Warheit vor alle | Menschen Anno 1596 in Klein Pohlen: Anietzo aber we=|gen seiner Vortreff lichkeit und hohen Nützen in dieser | Zeit/ zum gemeinen Besten ans Liecht befördert/ | und mit einem Register versehen, o. O. 1686 [ZB Zürich N 175]. Serrurier, Pierre: Assertion | du règne de | mille ans, | ou de la | prospérité de l’église | De Christ en la Terre. || Pour servir de Responce au Traitté | de Monsieur Moyse Amyraut | sur se méme suject. || Descouvant | Le triste Prejugé qui possede aujourd’huy la pluspart | des Eglises contre la Regne du Seigneur | de toute la Terre, Amsterdam 1657 [ZB Zürich N 201]. Spener, Philipp Jakob: Chursächsischern Ober=Hoff=Predigers | und Kirchen= Raths/ | Erfordertes | Theologisches | Bedencken/ | über den | Von Einigen des E. Hamburgischen | Ministerii | publicierten | Neuen Religions=Eid, o. O. 1690 [ZB Zürich XVIII 468]. –: Die ewige Geburt | Des | Sohnes Gottes | Aus dem | Wesen des Vaters/ | Auf den dritten Christ=Feyertag | den 27. Dec. 1693. | Aus dem ordentlichen Evangelio | Joh. I, 1–14. | Zu S. Nicolai in Berlin | betrachtet/ | Und auff Christlicher Hertzen | Verlangen zum Druck überlassen | von Philipp Jacob Spenern/ | D. Churf l. Brandenb. Cons. Rath und | Probsten in Berlin, Berlin 1694 [HAB Wolfenbüttel M: Ts 289 (4)]. Spinoza, Baruch de: Theologisch-politischer Traktat, Sämtliche Werke, Bd. 3, 3. durchgesehene Auf lage, Hamburg 1994. Sudermann, Daniel: Schöne ausserlesene Figuren und hohe Lehren von der begnadeten liebhabenden Seele/ nemlich der christlichen Kirchen und ihre Gemahl Jesu Christo / Zum theyl auß dem hohen Lied Salomonis/ wie auch auß der alten Christlichen Kirchenlehrern Schrifften gezogen/ vnd in Teut-

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sche Reymen verfaßt […] / durch D. S., [Straßburg] circa 1620. Elektronisch: http://diglib.hab.de/drucke/519–1-theol-2f-2/start.htm und http://diglib.hab. de/drucke/519–1-theol-2f-3/start.htm. Sulzer, Jakob: Srifftmässige | Betrachtung | der Worten Jeremie/ | Cap XXXI Vers 18. | Bekehre du mich/ so wird ich bekehrt: | Dann du/ Herr/ bist mein Gott/ | Auß welchen | Die gänzliche Ohnmacht und Nichtigkeit der mensch=|lichen Kräfften/ | Hingegen | Die alles vermögende Krafft des Gnadenreichen Gottes | in dem Werk der Bekehrung | vorgestellt wird: | Zum Unterricht den Heilsbekümmerten | Dass sie in Ermangelung eigener Kräfften die Göttliche Gnaden=|würkung demühtigst zu Hilff ruffen, Zürich (Bodmer) 1715 [ZB Zürich VII 24012]. Tauler [Pseudo-], Johannes: Medulla Animae | Oder | Vollkommenheit | aller Tugenden: | Das ist/ | Ein sehr innig= und andächtiges | Büchlein/ in welchem vilmehr der Grund der | Seelen/ als der außwendige Schein ge=|triben wird. | Geschrieben/ durch den von Gott hoch=erleuchteten | D. Johannem Taulerum | Von Neuem | Zu allgemeiner Christlicher Erbauung/ auß dem Nieder=|ländischen ins Hochteusche/ darinnen es anfänglich beschrieben/ | gebracht/ Frankfurt/M. 1692 [ZB Zürich TT 460], Nachdruck der Ausgabe Frankfurt/M. 1644, mit einer Einleitung von Christian Hoburg. Tauler, Johannes: Des HochErleuchten/ von etlichen hundert Jahren | weitberümbten Catholischen Lehrers | Joannis Thauleri | Ordinis Fratrum Praedicatorum S. Dominici | Lehr vund Geistreiche/ zur anstellung vnd fortsetzung | eines Gottgefälligen Geistlichen Lebens/ nutz= vnd | sehr dienliche | Predigten | Auff alle Sonn= vnd Feyrtäge durchs Jahr/ || Welche | Nach dem Catholischen zu Cölln am Rhein 1603. ge=|druckten Lateinischen Exemplar R. P. Laurentii Surii Cat=|thusiani trewlich in die Hochteutsche Sprach vbergesetzt / vnd dem | gemein nutz Christlicher Seelen an tag gebracht, Köln 1660 [ZB Zürich Rm 136 1]. Neuausgabe: Johannes Tauler, Predigten. Übertragen und hg. von Georg Hofmann, Einführung von Alois M. Haas, 2 Bd., Einsiedeln 31987. Tauler [Pseudo-], Johannes: Nachfolgung deß | armen Lebens Christi/ | In zwey Theil abgetheilet: | Deren der Erste/ sagt viel | Unterschied der wahren Armuth: | der ander lehret/ | Wie man soll kommen zu einem voll=|kommenen armen Leben. | Zum erstenmal / Im Jahr 1621. auß einem | alten / vor hundert und siebentzig Jahren geschrie=|benen Exemplar/ von Wort zu Wort treulich | und unverfälscht nachgedruckt | Nun aber auff Begehren etlicher Liebhaber | in dieser Form gedruckt, Frankfurt/M. (Hermann von Sand) 1670 [HAB Wolfenbüttel, Xb 4117]. Verwendete Ausgabe: D. Joh. [Pseudo-]Tavleri, Nachfolgung des | armen Lebens Christi | In zwey Theilen abgetheilet: | Deren der erste sagt viele Unterschiede | der wahren Armuth | Der ander lehret/ wie man soll kommen | zu einem vollkommen armen Leben. | Nun zuerst aus einem alten/ vor ein hundert und sibenzig | Jahren geschrieben Exemplar/ von Wort zu Wort treulich und | gantz unverfälschet nachgedruckt, Frankfurt/M. 1692 [ZB Zürich TT 4592]. Neuedition und Einordnung des Werks: Nikolaus Largier (Hg.), Das Buch von der geistigen Armut. Eine mittelalterliche Unterweisung zum vollkommenen Leben, Zürich 1989.

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Testament vnd Abschrifft | Der | Zwölf Patriarchen/ der Söhne Jacobs/ wie | ein jeder vor seinem End seine Kinder gelehret/ zur | Forcht GOTTES vnd Gotteseligem Leben | vermahnet hat. | Auch wie einjeder insonderheit / von Christo | durch den Prophetischen Geist (klärer dann das | Liecht) zeuget. | Darinnen viel schöne Lehren vnd tröstiche Verheis=|sungen von Christo begriffen sind/ sehr tröstlich/ auch | zu einem wahren Gottseligen Leben gar dienlich. | Auß dem gedruckten Menardi Moltri, vnd Augustini Lantzkorni (hundert | vnd dreyzehn Jahre alten Exemplar) neulich verdolmetschet, o. O. 1544(?) [HAB Wolfenbüttel A: 103.1.Quod. (1)]. Neuausgabe: Jürgen Becker (Hg.), Die Testamente der zwölf Patriarchen. Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Bd. III. Unterweisung in lehrhafter Form, Gütersloh 1974. [Theologia Deutsch.] Eyn deutsch Theologia. das ist | Eyn edles Büchleyn/ von rechtem vorstandt/ was | Adam und Christus sey/ und wie Adam yn | uns sterben/ und Christus ersteen sall, Wittenberg 1520 [Herausgegeben durch Martin Luther. HAB Wolfenbüttel H: G 70.4° Helmstet (1)]; Augsburger Nachdruck: Theologia teutsch | Diß ist ain Edles und kostliches | büchlin/ von rechtem verstand | was Adam und Christus sey | Vnd wie Adam in vns | sterben/ vnd Christus ersteen soll, Augsburg 1520 [HAB Wolfenbüttel A: 86.1 Theol. (3)]. Neuausgabe: Wolfgang von Hinten, ›Der Franckforter‹, (›Theologia Deutsch‹). Kritische Textausgabe. Münchner Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 78, München 1982. Thomas von Kempen: Nachuolung | Christi/ vnnd verschmä=|hung aller ytelkeit disser welt/ so | von einem wolgelerten liebhaber Got=|tes/ vor vil jaren beschriben/ ist | yetz abermals f lyssig überle=|sen/ un[d] allen ernsthafften | nachuolgern der war=|heit zu lieb vnd trost | widerumm von nü=|wem vßgangen, Zürich (Augustin Fries) 1539 [ZB Zürich AX 5216]. –: Nachfolgung Christi, vnd verschmähung aller eytelkeit diser welt/ So von einem wolgelerten liebhaber Gottes [d. h. Thomas à Kempis], vor vil Jaren beschriben. Jst jetzt abermals vom … Caspar Schwenckfelden f leissig vbersehen, vund von newem außgangen, o. O. 1581 [HAB Wolfenbüttel A: 1005 Theol. (1)]. –: Commun, ou Les Quatre Livres De L’Imitation De Jesus-Christ, Partie traduits, partie paraphrases, selon le sens interieur & mistique, pour l’edification commune de tous les Chrêtiens qui desirent de s’avancer dans le solide de la pieté / [Trad.: Pierre Poiret], Amsterdam (Wettstein) 1683. Eine zweite Auflage bei Christoff le le Blon, Amsterdam 1695. Thomasius, Christian: Einleitung zur Vernunftslehre, Halle/Saale 1691 [Nachdruck Hildesheim 1998]. –: Einleitung zur Sittenlehre, Halle/Saale 1692 [Nachdruck: Hildesheim 1995]. –: Dem Durchlauchtigsten/ Großmächtigsten | Fürsten und Herrn/ Herrn | Friderich | dem III. | Marggraffen zu Brandenburg/ | […] | Offeriert in Unterthängsten Gehorsamb die neue Erfindung | einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen | höchstnöthigen Wissenschafft/ | Das Verborgene des Hertzens anderer | Menschen auch wider ihren Willen/ aus der täglichen Conversation zuerkennen/ | Christian Thomas, Halle o. J. (ca. 1692) [HAB Wolfenbüttel M: Vb 4° 13]. Tschesch, Johann Theodor: Zweifache | Apologia, | und | Christliche Verantwortung | auf die lästerliche Hauptpuncte | David Gilberti von Utrecht/ |

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ins gemein: | Wider die Person und Schriften | des theuren und hocherleuchteten | Manns Jacob Böhmens von | Görlitz aus der Ober=Lausitz ge=| bürtig/ sonsten Teutonici genant. | Zur Ehre Gottes/ vertheidig= und | Beschirmung der Warheit und ieder=|manns Erbauung/ von diesem in | Holländischer Sprache an den | Tag gegeben/ | Durch Johann Theodorum Tschesch/ | einem Gott-ergebenem Schlesischem | Edelmane. | An ietzo aber | Wegen seiner Vortreff ligkeit/ und der | darinn befindlichen herzlichen Erklärung vie=|ler/ denen anfahenden Leser dieser Wunder=|schrifften schwerer/ und fast anstößlicher Wör=|ter und Redensarten/ getreulich in un=|ser Hochteutsche Muttersprach übersetzt/ | von | Eine[m] Liebhaber Göttlicher Geheimnisse, o. O. 1676 [ZB Zürich Gal Tz 1271]. Ulrich, Johann Jakob: Balsam und Artzet in Gilead/ | Das ist/ | Christliche Gedanken | Uber | Die sicherste Weiß/ der heut zu Tag allent-|halben grossen Verdorbenheit abzuhelffen/ | Und das | Kranke Zion Gottes | Zu den Stand einer erwünschten Besserung zu bringen/ | nach Anleitung der Worte des Propheten Jeremiae/ | In seiner Prophecey Cap. VIII V. 22. | Ist dann kein Balsam mehr in Gilead? Ist kein Arzet da-|selbst? Warum nimmt dann die Besserung meines Volks | nicht zu? | Zu einer einfaltigen Predigt/ bey Anlaß eines wider die | Neu=entstandenen Inspirierten/ Separatisten/ | Pseudo=Pietisten/ | Verlesenen Hoch=Oberkeitlichen Mandats/ | Sonntags den 17. Aprilis 1717 ab offentlicher Canzel | in der Kirchen des Wäisenhauses vorgestellet, Zürich (Hardmeyer) 1717 [ZB Zürich Ms. S 278, Nr. 119]. Nachdruck: Zürich (Bürkli) 1737. Valentinus Basilius: FR Basilii Valentini | Benedictiner Ordens | Chymische Schriften | alle/ so viel derer ver=|handen/ | anizo Zum Ersten mahl zusammen | gedruckt auss vielen so wol geschrie=|benen als gedruckten Exemplaren ver=|mehrt und verbessert | und in Zwey Theile | verfasset, Hamburg 1677 [ZB Zürich Md F 300]. Vieira, António: Prediche varie del P. Antonio Vieira, […] tradotte dalla lingua spagnuola nell’italiana da Bartolomeo Santinelli, Venedig 1679. [Nachweisbar: Bibliothèque nationale de France BnF D 54473]. –: Die Predigt des heiligen Antonius an die Fische. – Hugo Loetscher, António Vieira, Portrait eines Gewissens, Zürich 1994. Weigel, Valentin: Ein schön Gebetbüchlein | Welches die | Einfeltigen vnter=| richtet. | Erstlich/ Wie das Hertz | durch gründliche Vorbetrach=|tung zum jnnigen Gebet erwecket vnd | bereitet werde. | Zum Andern/ Wie Adam vnd | CH ristus beyde in vns/ seyn vnd | nicht ausser vns/ dahin die gantze | H. Schrifft sihet. | Zum dritten/ Warumb das Ge=|bet von Ch risto befohlen/ so doch Gott | vns weit zuvor kömpt mit seinen Gü=|tern/ ehe wir beten. | Durch | Walentinvm Weigelivm. | Gedruckt zu der Newen Stadt 1618 [ZB Zürich E 351]. Werdenhagen, Johann Angelius von: | Offene | Hertzens=Pforte | Oder | Getreue und freye | Einleitung/ | Zu dem | Wahren Reich Christi. || Erstlich zu Leiden getruckt/ bey | Jacob Marci | Zum drittenmal nun auffgelegt, o. O. 1685 [SB Berlin Cs 11270]. Wolgemeinte | Gegen=Erklärung | über die Theosophische Schrifften/ | Des von GOtt hoch=erleuchteten | Jacob Böhmens: | Aus Veranlassung des unter

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dem Namen | Johann Möllers/ Pfarrers zu Notleben in | Thüringen/ | Vor wenig Jahren über dieselbe aus dem Reiche der Finster=|nuß herfürgegebenen verläumbderischen Urtheils/ | der Fanatische Atheist genannt/ | Und an seinen Mahlzeichen Handgreiff lichen dafür erkandten | Guten Freunden/ So die helle klare Warheit und nichts | Geschmincktes lieben/ zu Liebe aufgesetzet, o. O. 1685. [HAB Wolfenbüttel M: Tq 427]. Wyss, David von: Lebensgeschichte Johann Caspar Eschers. Bürgermeister der Republik Zürich, Zürich 1790. Yvon, Pierre: Die | Wahre und Reine | Lehre | Von | der Göttlichen | Praedestinatio | Oder | Zuvor=verordnung | und den ewigen Rathschlüssen | Gottes. | Samt | Eigentlicher Erklärung und Außlegung des | 9. Capitels der Epistel S. Pauli an | die Römer. | Durch | Petrum Yvon, Diener | Jesu Christi/ und Seelenhirten | in seiner Gemeine, Altona 1673 [Uu LB Halle AB 154703 (1)]. Zimmermann, Johann Jakob: Orthodoxia Theosophiae Teutonico Böhmianae | contra Holtzhausium defensa, | Das ist | Christliche | Untersuchungen | der Holtzhäusischen | Anmerckungen | Uber und wider Jacob Böhmens | Aurora | Oder | Gründl. Vertheidigung der Alt=Evangel. | Lehre des hocherleuchtet. J. Böhmens/ eines in seinen jungen Jah=|ren gewesenen Vieh hirten seines Vaters/ und nachmahls ge=|wordenen Schusters zu Görlitz/ gegen Hr. Joh. Christoph Holtz=|hausen/ verordneten Predigern in der Käys-freyen Reichs=|Wahl= und Handel=Stadt Franckfurt am Mayn/ welcher | im Anhang seines Anti=Barclaji, mit übel=|ständigen Anmerckungen dessen Buch Au=|roram genandt/ | Gleich wie Amasias der verordnete Priester im Königl. | Stifft Bethel die Weissagungen des Propheten Amog | des gewesenen Kühhirten von Thecoa/ | Ohne wahre Erkäntnuß seiner Göttl. Mysterien | in jüngst verwichener Herbstmeß unevange=|lischer Weise zu beschmützen sich | unternommen: | Nebens einem Anhang/ worinen andere Anti=Böhmisen kürtz=|lich beantwortet werden; auff Begehren in Einfalt | zu Papier gebracht | Von | M. Johanne Matthaei [i. e. Johann Jakob Zimmermann] | einem Evangel. Prediger, Frankfurt/M. und Leipzig 1691 [HAB Wolfenbüttel Xb 7431]. –: Verlangte | Christliche Beantwortung | Deren Viertzig | Wichtigen Fragen/ | betreffende | Jacob Böhmens | Lehre/ so in seinen Schrifften soll | enthalten seyn/ | Welche von | (S. T.) H. Abraham Hinckelman D. | Allen Liebhabern derselbigen sanfftmühtig zu | beantworten/ in öffentlichen Druck fürgelegt | worden/ || Gantz unpassioniert und unpartheyisch ( jedoch einem anderen/ | der tieffere Einsicht in diese hohe Tieffe hat/ nicht zu praejudicieren[)]/ | nach dem Maaß das GOtt darreichte/ entworffen | und an Tag gegeben. Von J. J. M. E. D., Amsterdam 1693 [SUB Göttingen Th Polem. 148/1:3 (22)].

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Darstellungen Agulhon, Maurice: La sociabilité est-elle objet d’histoire?, in: Sociabilité et société bourgeoise en France, en Allemagne et en Suisse, 1750–1850 – Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, 1750–1850, Paris 1986, S. 13–23. –: Das Gemeinschaftsleben der Arbeiterklasse vor 1848, in: ders., Der vagabundierende Blick. Für ein neues Verständnis politischer Geschichtsschreibung, Frankfurt/M. 1995, S. 14–50. Aland, Kurt: Der Pietismus und die soziale Frage, in: ders. (Hg.), Pietismus und moderne Welt, Witten 1974, S. 99–137. Albrecht, Ruth: Frauen, in: Hartmut Lehmann (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 4, Glaubenswelt und Lebenswelt, Göttingen 2004, S. 522–555. –: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus, Göttingen 2005 (AGP 45). Alsted and Leibniz. On God, the Magistrate and the Millennium. Text edited with introduction and commentary by Maria Rosa Antognazza and Howard Hotson, Wiessbaden 1999. Arendt, Hannah: Über die Revolution, München 31986. Aring, Paul Gerhard: Penn, William, BBKL, Bd. 7, Herzberg 1994, S. 186–188. Arnold, Paul: La Rose-Croix et ses rapports avec la franc-maçonnerie. Essai de synthèse historique, Paris 1970. Asch, Roland/Duchardt, Heinz (Hg.): Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel moderner Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550–1700), Köln 1996. Bachmann, Hans: 350 Jahre Musikkollegium, in: Winterthurer Jahrbuch 1980, Winterthur 1979. Baring, Georg: Bibliographie der Ausgaben der ›Theologia Deutsch‹ (1518–1961). Ein Beitrag zur Lutherbibliographie. Mit Faksimileabdruck der Erstausgabe (Bibliotheca Bibliographica Aureliana VII), Baden-Baden 1963. Bauckham, Richard: Chiliasmus IV (Reformation und Neuzeit), in: TRE, Bd. 7, Berlin 1981, S. 737–745. Baumann, Thomas: Zwischen Weltveränderung und Weltf lucht. Zum Wandel der pietistischen Utopien im 17. und 18. Jahrhundert, Lahr 1991. Bayreuther, E.: Art. Pietismus, in: Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. 3, Göttingen 1959, S. 216–218.

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Personenregister Abegg, Johann Kaspar 469, 477 Agulhon, Maurice 77 Aland, Kurt 17, 27 Albrecht, Bernhard 299 Albrecht, Regula 85, 94 Alsted, Johann Heinrich 322, 411 Althan, Viktor Freiherr von 221 Altmann, Johannes 100, 412, 430, 494–496 Amiraut, Moyse 341, 369, 390 Andreae, Johann Valentin 108, 191–193, 195, 278 f., 307, 315, 319, 322 Angela von Foligno 145 Anhorn, Bartholomäus d. J. 299 Anneler, Elsbeth 143 Aristoteles 120, 193, 270, 303 Arndt, Johann 96, 108, 117, 124–130, 132 f., 135–137, 156, 163, 165, 168, 172, 174–178, 181, 191, 196–198, 203–206, 216–218, 220, 258 f., 263, 265, 329, 374, 424, 435, 504 Arnold, Gottfried 53, 97, 213, 371 Arnold, Paul 307 Arrianus, Lucius Flavius 462 Artapanos 283 Asseburg, Rosamunde Juliane von der 416–418 Augustinus von Hippo 163 Bacon, Francis 306–310 Balber, Christoph 95 Bänninger, Heinrich 46, 69 Barclay, John 312 f., 389 Barclay, Robert 108, 112, 270, 364–366 Barrefelt, Hendrick Jansz 97, 109, 117, 203, 317 f., 399 Basilius, Valentinus 289–292, 315 Bauer, Georg Heinrich 98 Baxter, Richard 350

Bayle, Pierre 316 Beer, Johannes 262 Beets, Hendrick (Heinrich Betke) 198, 235, 237 Benad, Matthias 490 Benz, Hans 69 Benz, Jakob 46, 69, 94 Bernhard von Clairvaux 168 Besold, Christoph 192 Betke, Joachim 108, 117, 198–201, 204, 211, 216, 237 Beverley, Thomas 108, 335, 350–353, 360, 445 Beyerland, Abraham Willemszoon van 234, 236, 238, 259, 274, 283 Bloch, Ernst 108 Blumenberg, Hans 363 Bodmer, Johann Heinrich 13 f., 34, 51, 58, 72–74, 81, 85 f., 88–92, 94–98, 100–104, 112, 365, 271, 442, 450, 459 f., 464–466, 468–470, 474–478, 480–484, 487, 492–494, 498–500 Bodmer, Johann Jakob 101 Böhme, Jakob 92, 98, 109, 112, 114, 117, 171 f., 185 f., 198, 200, 203, 214, 218–230, 232–236, 238–240, 245, 247, 250, 257–259, 265–275, 277–279, 283, 319, 322, 342, 346 f., 349, 363 f., 374, 378, 380, 384, 386, 394, 396–399, 403 f., 405, 426, 435, 504 Bourignon, Antoinette 112, 114, 186, 204, 214, 317, 375, 378, 383–390, 393, 397, 426 f., 430, 433 f., 504 Boyle, Robert 338 Brahe, Tycho 332 Brakel, Theodor à (Dirk Gerrits) 97 Bräm (Landschreiber) 83 Brandenburg, Friedrich III. Kurfürst von 311, 313 f.

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Personenregister

Braunschweig-Lüneburg, Georg Wilhelm Herzog von 417 Braunschweig-Wolfenbüttel, August Herzog von d. J. 204, 211 Braw, Christian 137, 173 f. Brecht, Martin 116, 131 Breckling, Friedrich 109, 198, 203– 205, 208, 218, 268, 343, 373, 489 Breitinger, Franz Kaspar 111 Breitinger, Johann Jakob (1575–1645) 457 Breitinger, Johann Jakob (1701–1776) 101 Bromley, Thomas 109, 238 f., 394–396 Bröske, Konrad 350, 443, 445–447, 472, 485 Buddecke, Werner 274 Bürkli, Karl 109 Bullinger, Heinrich 114 Bunyan, John 160–162, 194 Burnet, Gilbert 369 Burnet, Thomas 355 f., 358–360 Calvin, Johannes 123, 163 Comada, Miguel 161 Crell, Johann 119 Cromwell, Oliver 442 Czepko, Daniel 259 Dachs, Jakob 111, 412 Daut, Johann Maximilian 97 Decker (Colmarer Verlag) 391 Dellsperger, Rudolf 17, 30, 48, 408, 441 Denif le, Heinrich 153 Deppermann, Andreas 98 Deppermann, Klaus 441 Descartes, René 120, 271, 280, 299, 436 Dick, Samuel 408, 412 Dippel, Johann Konrad 100, 115, 213 Dittelbach, Pierre 11, 109 Dünz, Johannes 412 Dütsch, Hans-Rudolf 30 Durkheim, Emile 439 Ebersold, Hans 100, 412

Eckhart von Hochheim (Meister Eckhart) 165, 279 Elias, Norbert 431 Elzevir (Holländischer Verlag) 301 Enden, David von den 382 Engelbrecht, Hans 325–327, 332, 343, 354, 367 Engels, Friedrich 439 Epiktet 462 Erasmus von Rotterdam 109, 114, 251, 254, 311 Erich, Peter (Petrus Ericus) 119, 152, 220, 237 Ernst, Johannes 67 Escher, Johann Heinrich 454 Escher, Johann Kaspar 13, 31, 36, 82, 88–92, 95, 104, 242, 442, 450, 460–464, 466 f., 470–474, 478, 486–488, 496 Escher, Johann Rudolf 33 Eylenstein, Ernst 374 Fabricius, Albert 359 Felblinger, Jeremias 119 Felgenhauer, Paul 97, 109, 112, 342–346, 415, 417 Fende, Christian 272, 383 Feuerbach, Ludwig 214 Fichte, Johann Gottlieb 431 Ficino, Marsilio 406 Finsler, Konrad 460 Fioravanti, Leonardo 294–296, 315 Fischer, Hans Jakob 95 Fischer, Loth 98, 235, 237–239, 394 f., 398–402, 405, 408, 414, 419 f. Foucault, Michel 280 Franck, Sebastian 109, 112, 114, 117, 239, 250–254, 256–259, 277, 331, 378, 381, 418, 427, 432 Francke, August Hermann 313, 370, 390, 393 Franckenberg, Abraham von 112, 117, 236, 258 f., 261 f., 265, 374 Franklin, Benjamin 389 Freyberg-Justingen, Georg Ludwig Freiherr von 249

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Personenregister Freyberg-Justingen, Johannes Plickard Freiherr von 249 Freyberg-Justingen, Michael Ludwig Freiherr von 248 Friedrich, Daniel 245, 247–249, 345 f., 374, 415, 417 Fries, Johannes 90 Froschauer (Zürcher Verlag) 96 Fuchs, Georg Christian 236 Füssli (geb. Wettstein), Anna 79 Füssli, Anna 49, 79 Füssli, Barbara 80 Füssli, David 49 Füssli, Elias 23 Füssli, Johann Heinrich 90, 96, 496, 499 Füssli, Johann Kaspar 389, 432 Füssli, Johann Melchior 37, 79 f., 474 Füssli, Kaspar 23 f. Füssli, Regula 49, 79 Fuhrmann, Augustin 109, 258, 263 f. Fulbrook, Mary 441, 455 Gabelkover, Oswald 293 f. Galenos von Pergamon 193, 296 Galilei, Galileo 114, 299–301, 303, 305 f., 315 Gauger, Andreas 222 Gebelein, Helmut 283 Geertz, Clifford 20 Geiger (Professor) 34 Geilinger, Barbara 49 Geissmar, Christoph 274 Gerhardt, Johann 135 f., 174 Gessner, Christoph 23 Gessner, Johann Jakob 100, 494 Gichtel, Johann Georg 97, 234, 236, 273 f. Gierl, Martin 217 Giezendanner, Johann Ulrich 13 f., 33, 36, 46, 79, 487 f., 490–492 Gifftheil, Ludwig Friedrich 200, 232, 273 Gillardon, Andreas d. Ä. 18 Gillardon, Andreas d. J. 18 Gleim, Heinrich Sigismund 491 f. Goldammer, Kurt 320 f.

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Goldmayer, Andreas 334 f. Greifenberg, Catharina Regina von 119 Greyerz, Kaspar von 14, 429 Grob, Jost 454 Gröschel-Willberg, Evamaria 216 f. Grosstein, Johann Philipp 382 Groth, Friedhelm 410 Gruber, Johann Adam 491 f. Grunsky, Hans 239 Guarini, Giovanni Batista 119, 138 Gubler, Jakob 15 Güldin, Samuel 412 Gugerli, David 459 Guilbertius, David 265 f. Guyer, Paul 29, 62 f., 70 Gwerb, Johann Kaspar 90, 499 Haag, Friedrich 466–468 Hadorn, Wilhelm 15 f., 19, 30, 33, 109 Halley, Edmond 320 Hanhart, Ulrich 67 Hanimann, Thomas 18, 93, 460 Hardmeier, Jakob 95 Hardmeyer, Johann Kaspar 13, 19, 78, 111, 114, 116, 118, 153, 186 f., 217, 233, 235, 271 f., 284 f., 293, 299 f., 313, 363, 368, 371 f., 385, 390 f., 398, 401 f., 405–408, 411 f., 414, 419, 421 Harsdörfer, Georg Philipp 119 Hartmann, Johann Konrad 154 Haug, Johann Jakob 97 Hebeisen, Erika 18 Hegner, Johann Ulrich 67, 79, 492 Hegner, Solomon 67, 79 Heidegger, Johann Jakob 51, 460 Hekataios von Abdera 283 Held, Jakob 239 Helmont, Johann Baptista van 338 Hemleben, Johannes 279 f. Henzi, Samuel 15 Herder, Johann Gottfried 191 Hermes Trismegistos 109, 183, 255, 271, 282–284, 287 f., 381 Herrliberger, Felix 94 Herrliberger, Johannes 78

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Personenregister

Hertz, Giaccomo 373 Heß, Tobias 192 Hiel s. Barrefelt, Hendrick Jansz Hildebrand, Wolfgang 109, 296, 298 Hinrichs, Carl 72, 212, 441, 455 Hinrichs, Ernst 451 Hintermeister, Daniel 95 Hirsch, Emanuel 239 f. Hirzel (Böhme-Anhänger) 186 f. Hirzel, Johann Kaspar 83 Hobbes, Thomas 412 Hoburg, Christian 109, 112, 114, 117, 147, 177, 198, 200, 203–208, 210–213, 215–218, 234, 241, 263, 276, 323 f., 343, 366 f., 385, 389, 442, 446, 489, 504 Hochholzer, Johannes 33, 111 Hoffmanswaldau, Hofmann von 119 Hofmeister (Zunftmeister, Examinator) 96, 100, 494 Hofmeister, Wilhelm 110, 215 Holenstein, André 459 Holtzhausen, Johann Christian 267–269, 364 Holzhalb, Beat 50, 53, 95 Holzhalb, Christoph 457 Holzhalb, David 450, 468 f., 477 Holzhalb, Johann Heinrich 37 Holzhalb, Ludwig 111 Horb, Johann Heinrich 217, 390 Horch(e), Johann Heinrich 97, 115, 336 f. Hottinger, Johann Heinrich 14, 37, 491 Hottinger, Johann Jakob 51, 69, 80, 93 Huber (Professor) 11 Hude, Hermann von der 324 f., 332, 354 Huser, Johannes 178 Huygens, Willem Gozewijn 235 Hylkema, C. B. 187 Ingen, Ferdinand van 236, 273 Innozenz XI., Papst 368 f. Irvin, Joyce 384 Jacobi, Juliane 393 Jakubowski-Tiessen, Manfred 59

Jan van Leiden 367 Jansen, Cornelius 372 Janssen, Frans A. 235 Jellinek, Georg 14 Joachim von Fiore 348 Jud, Leo 155 Jung, C. G. 437 Kaiser, Johann Christian 97 Kant, Immanuel 82, 430, 439 Karl II., König von England 364 Karlstadt, Andreas 367 Keller (Schaff hauser Pietistin) 412 Kepler, Johannes 271, 332 Kitt, Johann Martin 78 Klingler, Anton 12 f., 32 f., 111, 142, 432, 464 Klopstock, Friedrich Gottlieb 85 Klöti (Pietist) 85 Knopf (Schaff hauser Pietistin) 412 Knopf, Daniel 391, 398 f., 412 Knyphausen, Dodo von 398, 413 Koch, Christoph 415 Koch, Johann Ulrich 47 Koch, Johannes 254 Koch, Melchior 47, 95 Kolakowski, Leszek 214, 317, 384, 388, 413, 425, 434 König, Benedikt 143 Kopernikus, Nikolaus 271, 299 Kossmann, Bernhard 279 Kramer, Matthias 374 Kramer, Rudolf 34 Kruse, Martin 216 Kühlmann, Wilhelm 304 Künzli, Elisabetha 46, 50, 69, 86 f. Künzli, Georg 67 Kuhlmann, Quirinus 109, 119, 346–349, 354 Labadie, Jean de 204, 340, 374 f., 385, 411, 436, 504 Lang, Georg Jakob 11 Lassenius, Johann 367 Laub(i), Heinrich 13, 78 Lautensack, Paul 109, 330 f. Lavater, Johann Kaspar 312

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Personenregister Leade, Jane 13, 100, 109, 117, 154, 232 f., 239, 258, 276, 350, 361, 397–406, 408–415, 425–427 Leade, William 397 Lehmann, Hartmut 17, 25, 27 f., 43, 70, 319, 354, 363, 435, 440 Leibniz, Gottfried Wilhelm 38, 89, 332, 448, 479 Lenhammer, Harry 185, 188, 280 Leti, Gregorio 442 Leube, Hans 59 Lindinner (geb. Schinz), Anna 79 Lindinner, Anna 49 Lindinner, Heinrich 94 Lindinner, Jakob 37 Lindinner, Josef 80, 95 f., 101 Löber, Christoph Heinrich 147 Locher (geb. Römer), Barbara (Mutter von Johann Heinrich L.) 122 Locher, Johann Heinrich (Großvater von Johann Heinrich L.) 122 Locher, Johann Heinrich 11–13, 19, 21 f., 55 f., 58, 72, 78 f., 85 f., 98, 100, 108–120, 122–125, 127, 129 f., 132–135, 138–147, 151–155, 158 f., 161, 167–176, 178 f., 181 f., 184–187, 189, 191, 193, 195–201, 203, 208, 210 f., 213–222, 225 f., 232–242, 245, 247, 249 f., 254, 256, 258, 261, 263–267, 271–274, 276–280, 282–288, 293 f., 296, 298 f., 305–307, 309–316, 318 f., 322–324, 329, 332, 334–337, 340– 342, 346 f., 350, 355 f., 360–386, 390 f., 394 f., 398–402, 405 f., 408 f., 411–414, 416, 418–422, 426–428, 430, 435, 440, 442 f., 459, 478, 504 Locher, Johann Jakob 122 Locher, Konrad (Vater von Johann Heinrich L.) 122 Locke, John 338 Löwith, Karl 362 Ludwig XIV., König von Frankreich 349 Luppius, Andreas 98 Luther, Martin 145, 163, 165, 240 f., 245, 270, 347 f.

605

Lutz, Christoph 169, 171, 189, 412 Maier, Matteo 119 Maier, Michael 297 Malebranche, Nicolas 213, 285, 437 Maresius, Samuel 340 Mariani, Angelus s. Werdenhagen, Johann Angelius von Matthias, Markus 418 Matzinger, Ursula 96 Maurer, Michael 77, 87, 428 May, Barbara 143, 412 Mede, Joseph 322, 338, 351 Medick, Hans 20, 69 Meinel, Christoph 296 Meister, Leonhard 29 Melanchthon, Philipp 245 Merz, Cyrillus 23 Mey (Dr.) 11 Meyer (Major) 33 Meyer (Schaff hauser Pietist) 412 Meyer von Konau, Dorothea 492 Meyer, Andreas 111 Meyer, Conrad Ferdinand 453 Meyer, Ursula 17 Meyfart, Matthäus 319 Mittner, Ladislao 85 Modrow, Irina 82 Molinos, Miguel de 109, 368–372, 385, 436 Möller, Johann 267 Morf, Heinrich 111 Müller, Johann 210, 366 f. Müller, Johannes (Pfarrer in Buchs) 35 Müller, Johannes (Vikar in Belp) 93 Münch, Ernst 11 Müntzer, Thomas 211, 367 Muralt (geb. Pestalozzi), Anna Barbara von 51 f., 79, 94 f., 460 Muralt, Johannes von 37, 493 Naef (Familie) 96 Napier, John 332–334, 337, 339 Nassau-Dillenburg, Heinrich Graf von 337 Newton, Isaac 271, 281 Niclaes, Hendrik 329

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Personenregister

Noth, Isabelle 17 Oestreich, Gerhard 455 Oldenburg, Heinrich 322, 338, 340 Opitz, Martin 119 Orde, Klaus vom 317 Origenes 404 f. Osiander, Lukas d. J. 144, 177 Overbeck, Kaspar Nikolaus 402 Oxenstierna, Axel von 276 Paracelsus (Theophrast Bombast von Hohenheim) 114, 117, 176–178, 181–185, 187, 189–191, 195 f., 214, 218, 239, 275, 277–282, 286, 294, 298, 315, 317, 320–322, 338, 367, 410, 435, 437 Pasdorff (Pfarrer) 313 Pavang (Pseud.) 97 Penn, William 365 f. Pestalozzi, Andreas 493 Pestalozzi, Ursula 11 Petersen (geb. von Merlau), Johanna Eleonora, 108, 112, 233, 258, 398 f., 413 f., 420, 422–426, 431, 442 Petersen, Johann Wilhelm 38, 108, 112, 171, 233, 258, 346, 398, 413–420, 442 Petrarca, Francesco 119, 121 Peuckert, Will-Erich 230 Pfister, Ulrich 30, 43, 138, 452 Philadelphus, Desiderius 274 Philo Chronographus 336 f. Platon 194, 284, 301–303, 321, 359, 361, 405 f., 467 Poiret, Pierre 109, 156, 375, 383, 386, 389–393, 398 Pordage, John 109, 237 f., 394 f., 397 Praetorius, Elias s. Hoburg, Christian Pythagoras 359 Rahn, Katharina 83 Rahn-Escher, Johann Heinrich 83 Rasch, Wolfdietrich 85, 87 Rathgeb, Barbara 69, 81, 94 Rathgeb, Johann Jakob 20, 69, 81–83, 86, 94 f., 97

Ray, John 359 Reissner (Reussner), Adam 120, 239, 245–247 Reitz, Johann Heinrich 80, 96 f., 100, 115, 172 Reuchlin, Johannes 245 Rist, Johann 119 Ritschl, Albrecht 27, 372 Rock, Johann Friedrich 491 Römer, Anton 78 Römer, Heinrich 123, 400 Römer, Johann 122 Rosenroth, Knorr von 337–339 Rothe, Johannes 347 Rousseau, Jean-Jacques 449 Royon (Anhänger Schotts) 419 Rudolf II., deutscher Kaiser 297 Russell, Bertrand 175 Rusterholz, Sibylle 349 Scheff ler, Johannes (Angelus Silesius) 95, 259 Scheuchzer, Johann Jakob 37 f., 90, 101, 358, 467–469, 474, 477, 479–481 Schilfert, Gerhard 27 Schmidt, Heinrich Richard 102 Schmidt, Martin 17, 27, 213, 478 f. Schmied, Heinrich 93 Schneeberger, Johann Kaspar 79, 487, 492 Schneider, Hans 73, 177 f., 181, 188, 361 Schoeps, Hans Joachim 435 Schönau, Johann Heinrich von 11 f., 53, 85, 98, 142 f., 158, 242, 374–376, 381 f., 384, 411, 456, 458 f. Schott, Robert 417–420 Schrader, Hans-Jürgen 97, 109 f., 447 Schütz, Johann Jakob 98, 100, 162, 272, 338, 340, 356, 382 f., 390 Schulthess, Johann Heinrich 79 Schulthess, Johann Jakob 80 f., 490 f., 493 Schultz, Helga 29 Schulze, Winfried 455 Schumacher, Samuel 412

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Personenregister Schurman, Anna Maria van 383 Schweizer, Jakob 78 Schweizer, Johann Heinrich 12 f., 110–112, 142 f., 215, 337, 371, 411, 436 Schwenckfeld (von Ossig), Kaspar 109, 112, 114, 117, 155, 177, 198, 203, 213, 239–245, 248–250, 258 f., 367 Scleus, Bartholomäus 261 Seebass, Gottfried 345 Seidel, J. Jürgen 17 f., 221 Seneca, L. Annaeus 121, 462 Sercha, Karl Ender von 239 Serrurier, Pierre (Petrus Ser(r)arius) 109, 200, 317, 340 f. Servet, Michael 250 Sigg, Otto 457 Simler, Johann Jakob 19, 115 Singer, Heinrich 23 Späni, Georg 101 Spener, Philipp Jakob 26, 56, 78, 114, 132, 216, 216–218, 268, 338, 364, 390, 428, 504 Speyer, Friedrich 12, 142 f. Spinoza, Baruch 169, 224, 340 Sprüngli, Barbara 12, 142 Sprüngli, Jakob 12, 142 Sprüngli, Leonhard 110 Stadler, Heinrich 79 Steiner (Dr.) 49 Steiner, Johann Jakob 80 Stocker (Schaff hauser Pietistin) 412 Stoeff ler, F. Ernst 213, 218, 371 Storch, Nikolaus 367 Stoye, Oskar 17, 32 f. Strehler, Hedwig 95 Studer, Julius 16, 18, 32, 34, 492 Sudermann, Daniel 146, 245, 249 Sudhoff, Karl 178 Sulzbach, Christian August Pfalzgraf von 111, 338 Sulzer, Jakob 46, 67, 80 Sulzer, Johann Kaspar 67 f. Sulzer, Wolfgang 67 Surius, Laurentius 146 Sutter (Zofinger Stadtschreiber) 412

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Tasso, Torquato 119, 138 Tauler, Johannes 109, 117, 144–148, 150, 152 f., 163, 165, 168, 172–175, 181 f., 186, 202, 214, 220, 251, 256, 263, 279, 370, 427 Tenbruck, Friedrich H. 87 Tennhardt, Johannes 100 Thomann, Johann Jakob 33 Thomas à Kempis (von Kempen) 109, 144 f., 154–159, 161, 172, 175, 181, 186, 196, 214, 220, 370, 427 Thomas von Aquin 207 Thomasius, Christian 120, 153, 276, 311–314 Thormann, Georg 412 Thune, Nils 232 Thurm, Junker im (Schaff hauser Pietisten) 412 Timotheus (Pseud.) 404 Trautwein, Joachim 59 Trevor Roper, Hugh 435 Tschesch, Johann Theodor 109, 258 f., 265 Ulrich, Conrad 29, 39, 60, 68 Ulrich, Heinrich 452 Ulrich, Johann Jakob 31, 493, 494–498 Usteri, Paul 116, 382 Vergilius, Publius 183 Vianeo (Gebrüder, Mediziner) 295 Vickers, Brian 304 f., 308 Vieira, António 372 f. Villa Nova, Arnoldo de 295 f. Vogel, Sixt 474 Vovelle, Michel 428 Wall, Ernestine van der 317 Wallmann, Johannes 338 Warens, Françoise-Louise Baronin de 449 Wartburg-Ambühl, Marie-Louise 109 Waser, Jakob 83 Waser, Johann Kaspar 469 f. Waser, Johann Rudolf 21 Wattenwyl, Friedrich von 143

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Personenregister

Weber (geb. Schellenberg), Adelheid 21, 94 f., 100 Weber, Edmund 126, 136, 145, 172, 177, 196 Weber, Ludwig (Ludi) 81 Weber, Max 65, 106, 389, 429, 434, 439 Webster, Charles 296, 304 Wehr, Gerhard 224 Weidler (Familie) 94–96 Weigel, Valentin 100, 109, 112, 168, 196 f., 199, 216, 239, 259, 322, 330, 367, 381, 399 Weiske, Karl 18 Wenzel (Böhme-Anhänger) 186 Werdenhagen, Johann Angelius von 109, 236, 274–276, 278 Wernle, Paul 16 Wettstein, Heinrich 390, 398 f. Wieser (Adjutant) 471 Wigstone, W. F. C. 307 Willi, Daniel 18 Willich, Ludwig 421 Wilson, Henry 263 Wirth (Hospinian), Marx 32 Wirz, Franz 67 f., 491 Wollgast, Siegfried 317 f. Wolters, Ernst Georg 342 f.

Wolther, Christian Theodor 12, 110, 143 Württemberg, Christoph Herzog von 294 Württemberg, Ludwig Herzog von 294 Wynckelmann, Hans Just 312 Yates, Frances 304 f., 307 f. Yvon, Pierre 373–379, 383 f. Zaff, Nikolaus 220 f. Zeller, Johann Heinrich 13, 38, 78, 111 Zeller, Peter 13, 32 f., 52 Zeller, Winfried 263 Zemon Davis, Natalie 62 Zetzner, Lazarus 178 Ziegler, David 69, 94 Ziegler, Jakob 245 Ziegler, Johann Georg 12, 78, 111, 142 f., 419 f. Ziegler, Johann Kaspar 13, 32, 487 Zimmermann, Johann Jakob 109, 267, 269–273, 305 f., 355 f., 364, 383 Zink, Michael 33, 504 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von 85 Zwingli, Huldrych 114, 240 f.

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