Der familienpolitische Diskurs: Eine theoretische und empirische Untersuchung über das Zusammenwirken und den Wandel von Familienpolitik, Fertilität und Familie [1 ed.] 9783428480166, 9783428080168

Die vorliegende Untersuchung stellt den Wandel der drei komplexen Handlungsfelder Familienpolitik, Fertilität und Famili

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Der familienpolitische Diskurs: Eine theoretische und empirische Untersuchung über das Zusammenwirken und den Wandel von Familienpolitik, Fertilität und Familie [1 ed.]
 9783428480166, 9783428080168

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BEAT FUX

Der familien politische Diskurs

Sozialpolitische Schriften Heft 64

Der familienpolitische Diskurs Eine theoretische und empirische Untersuchung über das Zusammenwirken und den Wandel von Familienpolitik, Fertilität und Familie

Von

Beat Fux

DUßcker & Humblot . Berliß

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich im Wintersemester 1990/91 auf Antrag von Prof. Dr. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny als Dissertation angenommen.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Fux, Beat:

Der familienpolitische Diskurs : eine theoretische und empirische Untersuchung über das Zusammenwirken und den Wandel von Familienpolitik, Fertilität und Familie / von Beat Fux. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Sozialpolitische Schriften; H. 64) Zug\.: Zürich, Univ., Diss., 1990/91 ISBN 3-428-08016-5 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gerrnany ISSN 0584-5998 ISBN 3-428-08016-5

Meinen Eltern

Vorwort Mit der vorliegenden Untersuchung beabsichtigte ich in erster Linie, die langfristige Fertilitätsentwicklung und vor allem den sogenannten "zweiten Geburtenrückgang" in einen breit konzipierten gesellschaftstheoretischen Kontext zu stellen. Ich hoffe, damit zum vertieften Verständnis der Prozesse und Entwicklungen im Schnittbereich von Familiensoziologie, Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik beitragen zu können. Ferner meine ich, mit der Rekonstruktion des StrukturKultur-Paradigmas einen Beitrag leisten zu können zur soziologiehistorischen Erschließung und Weiterentwicklung einer Schule, welche die Entwicklungen nicht nur der schweizerischen Soziologie prägte. Abschließend möchte ich nochmals betonen, daß ohne das Vertrauen und die Unterstützung, welche mir Prof. H.-I. Hoffmann-Nowotny immer wieder entgegenbrachte, diese Untersuchung nicht hätte entstehen können. Großen Dank schulde ich ferner auch dem Schweizerischen Nationalfonds, der mit der finanziellen Unterstützung der beiden oben erwähnten Forschungsprojekte das Zustandekommen dieser Dissertation erst möglich machte. Prof. Dr. Charlotte Höhn, PD Dr. Fran~ois Höpflinger und Dr. Franz Schultheis standen mir bei vielen theoretischen, methodischen und sachlichen Problemen beratend zur Seite und haben mich dadurch vor manchem zeitraubenden Irrlauf verschont. Dr. Walter Zingg und Dr. Werner Haug vom Bundesamt für Statistik, Dr. Chantal Blayo vom INED sowie Dr. Germain Bouverat vom Bundesamt für Sozialversicherungen in Bern bin ich dankbar für die zuvorkommende Unterstützung bei der Sammlung der Daten. Äußerst hilfreich waren die kritischen Kommentare und weiterführenden Hinweise, die ich von den Professoren Franz-Xaver Kaufmann, Kurt Lüscher, Karl Schwarz, Henner Kleinewefers, Rainer Münz und von Dr. Richard Gisser erhalten habe. Unzählige Gespräche mit meinen Kollegen Manuel Eisner, Peter-Ulrich Merz-Benz, Michael Nollert und Andreas Volk am Soziologischen Institut der Universität Zürich vermittelten mir Impulse und Anregungen. Peter Rusterholz half mir bei der Lösung manch kniffligen EDV-Problems. Hildegard Köhler und Eveline Schnydrig-Fux danke ich für die sorgfältige Durchsicht des Manuskriptes. Zuletzt und zumeist verdanke ich aber meiner Lebensgefährtin Doris Baumgartner ebenso Aufmunterung in "Krisenphasen" wie unerbittliche Kritik an vorschnell gefaßten Meinungen.

Zürich, Januar 1994

BeatFux

Inhalt Einführung ................................................................................................................................... . A. Zur Genese des Struktur-Kultur-Paradigmas .......................................................................... I. Einleitung ......................... ... ..................... ........................... ...... ... .... ....... ......... ................ 11. Drei Schritte auf dem Weg zu einem Struktur-Kultur-Paradigma .................................. I. In Richtung einer allgemeinen Theorie des "culturallag" ....... ... ... ...... ... ... ..... ....... ..... a) Herkunft und Bestimmung der Grundkonzepte .... ........ ... ...... ...... ............ ... .... ....... b) Ausbau des Ansatzes in methodologischer Hinsicht ............................................. c) Sozialer Wandel und Entwicklung ............... ...... ... ... ... ...... .... ... ............ ... ... ... ......... d) Zusammenfassung .................................................................................................. 2. Vorarbeiten zu einer Code-Theorie zur endogenen Erklärung sozialen Wandels... .... 3. Von der strukturtheoretischen Perspektive zum Struktur-Kultur-Paradigma .............. a) Grundlegung der Interdependenz zwischen Struktur und Kultur. ... ...... ........ .... .... b) Vom Sozial typ der "Gemeinschaft" zum Sozial typ der "Gesellschaft" .... ... .... ..... c) Der Einbezug der mikrosoziologischen Ebene ...................................................... d) Zusammenfassung .................................................................................................. 111. Rekapitulation ..................................................................................................................

9 9 16 18 18 27 32 40 42 50 51 55 60 62 64

B. Interdependenz von Mikro- und Makroebene aus handlungstheoretischer Perspektive ........ I. Einleitung....... ... ... ... ... ... ... ..... ...... ... ....... ... ... ..... ... ... ... ...... ... ... ......... ...... ................ ... ......... 11. Eine handlungstheoretische Rekonstruktion von Systemprozessen ................................ I. Handlung - Situation - Norm (Abgrenzungen und Unterscheidungen) ..................... 2. Differenzierungen des Handlungs-Begriffs ................................................................. 3. Dimensionen und Konjunktionen von Handlungen .................................................... 4. Zwischenstand und Übergang zu komplexen (systemischen) Handlungsphänomenen 111. Rekapitulation ..................................................................................................................

66 66 68 68 77 82 87 94

C. Entwicklungslinien der Familiensoziologie (Exkurs) ............................................................. I. Einleitung..... ..... ...... ......... ......... ... ... ... ... ........ ... ......... ....... ... ... ... ..... ... ... ... ...... ... ... .... ..... .... 11. Entwicklungslinien der familiensoziologischen Forschung ...... ...................................... I. Vorläufer der Familiensoziologie .... ... ............ ... ... ... ... ... ...... ..... ... ... ......... .... ....... ......... 2. Die Familie aus der Sicht der historischen ideologischen Formationen .... ... .......... .... a) Die Familie in der konservativen Perspektive ...................................................... b) Die Familienauffassung im Sozialismus ................................................................ c) Die Familie aus der Sicht des Liberalismus. ... ... ......... ..... ....... ..... .................. ........ 3. Die Konzeptionen Durkheims, Parsons und Königs im Kontext der Familiensoziologie unseres Jahrhunderts ........................................................................................... 4. Zum heutigen Stand der Debatte ... ....... ...... ..... ... ... ... ... ... ... ... .... ... ....... ..... ... ...... ...... ..... 111. Rekapitulation ..................................................................................................................

98 98 100 100 102 102 109 113 117 125 128

D. Soziodemographische Theorien zur Erklärung der Fertilität (Exkurs) ................................... 131 I. Einleitung... .... ... ...... ... ... ... ..... ... .... ... ... ... ... ... ... ........ ....... ........ .... ........ ... ... ... ... .......... ..... .... 131

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Inhalt

11. Zur Entwicklung der soziodemographischen Fertilitätsforschung .................................. III. Mikrosoziologische Ansätze zur Erklärung generativen Verhaltens und HandeIns ........ I. Mikroökonomische Modelle der Fertilität .................................... '" ... .... ...... ...... ..... .... 2. Sozialpsychologische und psychologische Modelle der Fertilität ............................... 3. Mikrosoziologische Modelle der Fertilität ....... ... ..... ... ...... ... ... ... ...... ....... ... ................. IV. Makrosoziologische und komplexe Ansätze ................................................................... I. Das Konzept des Demographischen Übergangs ................................................. ......... 2. Fertilität im Prozeß der modemen Verhaltensrationalisierung (Modemisierungstheorien) .............................................................................................................................. 3. Fertilitätsentwicklung im Industriesystem ................................................................... 4. Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung .... ... ........ ......... ... ............. ........ ... ..... V. Rekapitulation ..................................................................................................................

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E. Der Zusammenhang Familie - Familienpolitik - Fertilität in der soziologischen Diskussion (Exkurs) ........................................................................................................................... I. Einleitung ......................................................................................................................... 11. Familienpolitik im Spannungsfeld zwischen Familiensoziologie und Politikberatung ... I. Familienpolitik, Bevölkerungspolitik, Sozialpolitik (einige Begriffsbestimmungen) 2. Das Thema Familienpolitik in den ,,klassischen" Familiensoziologien ...................... 3. Neuere Ansätze in der soziologischen Familienpolitik-Forschung ............................. 4. Grundkonzepte für eine Theorie familienpolitischer Interventionen . ... ........ ... ... ... ..... 111. Rekapitulation ..................................................................................................................

159 159 161 161 172 177 186 191

F. Eine soziologische Theorie des familienpolitischen Diskurses ...... ... ... ............. ... ... ............ ... I. Einleitung. ........ .... ... ... ...... ...... ..... ... ... .......... ... ... ... ... ..... ... ... ......... ... ......... ...... ....... ...... ...... 11. Eine diskurstheoretische Erklärung des Zusammenwirkens von familialen Leitvorstellungen, Fertilität und Familienpolitik .............................................................................. III. Forschungsleitende Hypothesen ...................................................................................... IV. Ausblick auf das Design der empirischen Analysen ...... ... ... ... ... ... ... ... ....... ... ... ... ... ... ...... V. Rekapitulation ...................................................................................................... '" ......... G. Überlagerung kultureller Faktoren - Primat der Kultur und Sättigung struktureller Spannungen .................................................................................................................................. I. Einleitung ..................................... .................................................................................... 11. Erklärungsrahmen ............................................................................................................ III. Weitere Hypothesen ......................................................................................................... IV. Entwicklung der Fertilität zwischen 1960 und 1980 ...................................................... I. Fertilität in den Kantonen ............................................................................................ 2. Fertilität in den Bezirken. ... ... ...... ......... ...... ...... ........... ....... ............ ... ........... ........ ....... 3. Das Problem der ,,adäquaten" Untersuchungseinheit und des Unterschieds zwischen Fertilitätsniveau und Fertilitätsrückgang ..................................................................... V. Determinanten des Fertilitätsniveaus ............................................................................... VI. Determinanten des Geburtenrückgangs ........................................................................... VII. Rekapitulation ..................................................................................................................

132 138 139 142 145 147 148

193 193 199 212 216 217 220 220 222 223 225 225 232 235 239 243 247

H. Entwicklungen der Fertilität und ihrer Komponenten sowie der Institution Familie im langfristigen Prozeß ............ ... .... ... ...... ...... ..... ... ... ... ....... ... ... ........... ....... ............ ..... ......... .............. 249 l. Einleitung ... ... ....... ......... ... ... ... ... ... ..... ... ... .... ... ... ... ... ... ..... .... ...... ...... ...... ..... ................ ...... 249 11. Zur Methode ......... ............ ....... ... ..... ...... .... ... ... ...... ........ ... ... ....... .............. ... .................... 250

Inhalt

XI

I. Zur Datenlage und Datenqualität ...................... ...... ............ .................................... ..... 2. Schätzung der kohorten- und altersspezifischen Fertilität .................. ............ ............. 3. Güte der Schätzungen .................................................................................................. III. Ausbau der theoretischen Erklärung ...... .............................. ...... ...................................... IV. Periodenspezifische Entwicklung der Fertilität und der Effekt der Altersverteilung ...... I. Erklärung des Altersverteilungseffektes ...................................................................... 2. Beziehung zwischen Kohorten- und Periodengesamtfertilität .................................... V. Verteilungsverzerrung in der Langzeitperspektive .......................................................... VI. Quantum und Rhythmus-Schwankungen .... ............ ............ ................................ ............ I. Determinanten von Rhythmus-Schwankungen .... ...... ...... ...... ........ ............................. 2. Komponenten von Quantum und Tempo der Fertilität in der Kohortenbetrachtung .. 3. Komponenten des Quantums der Fertilität in der Periodenbetrachung ....................... VII. Determinanten des Kinderreichturns ...... .......................................................... ............... VIII. Außereheliche Fertilität und Tempokomponenten .......................................................... IX. Rekapitulation ..................................................................................................................

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I. Der familien politische Diskurs: Zur Geschichte und Wirkungsweise der Familienpolitik.... I. Einleitung ................................. ............. ...... ........................... .............. ......... ......... .......... 11. Langfristige Entwicklung der schweizerischen Familienpolitik ..................................... III. Fallbeispiel Nordwestschweiz ......................................................................................... I. Vorbemerkungen ......................................................................................................... 2. Präzisierung des Gegenstandes: familienpolitische Maßnahmen ................................ 3. Relevanz bestimmter Maßnahmen .............................................................................. 4. Design der Einzelanalysen ........................................................................................... 5. Analyse ausgewählter Maßnahmen ............................................................................. a) Familienzulagen (inklusive Geburts-, Heirats- und Kinderzulagen) ..................... b) Stipendien ...... ...... ...... .................. ......................... ........ ............................ ............. c) Entwicklung des Mutterschaftsschutzes ................................................................ d) Fiskal- und Steuerpolitik ........................................................................................ IV. Familienpolitik: Ein langfristiges Spannungsmanagement ............................................. V. Rekapitulation .... ............ ................. ....... .................. ............... ...... ..... ..................... .........

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J. Zusammenfassung und Ausblick ......................................................... ................................... 373 Anhang ........................................................................................................................................ 380 Literatur. ........... .................. .... ...... ... ..... ... ... ... ... ............... ... .... ........ .............. ....... ........ ... .......... .... 388 Nameregister ........................ .................. ...... ... ....... ...... ..... ... ......... ... .... ......... ............ ...... ... ..... ..... 405

Abbildungen und Tabellen I. Abbildungen Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb.

la: Ib: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8: 9: 10: 11: 12:

Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb.16a: Abb.16b: Abb.16c: Abb. Abb. Abb. Abb.

17: 18: 19: 20:

Abb. 21: Abb. 22: Abb. 23: Abb.24a: Abb.24b: Abb. 25: Abb. 26: Abb. 27:

Modell zur Erklärung sozialen Wandels nach Peter Heintz ...... .... ... ..... ...... .......... ..... 23 Modell zur Erklärung sozialen Wandels, eigene Hypothese ..................................... 23 Heintz: Modell von Macht und Prestige ... ... ...... .... ... ... ... ... ......... ... ........ ... ................. 36 Typologie der strukturellen und anomischen Spannungen ........................................ 39 Struktur-Kultur-Modell nach Hoffmann-Nowotny .................................................... 54 Struktur- und Kultunnerkmale gemäß Hoffmann-Nowotny ....... ........ ...... ... .............. 57 Klassifikation von Akten (nach Frese) ....................................................................... 72 Klassifikation von Erlebnis-Akten (nach Frese) ........................................................ 75 Matrix der Handlungs-Funktionen (nach Frese) ........................................................ 79 Konjunktionen der modalen Handlungs-Funktionen (nach Frese) ............................ 83 Dimensionen und Aspekte von Handlungen (nach Frese) ......................................... 86 Funktionen, Typen und Dimensionen von Handlungen (nach Frese)........................ 87 Synopse der Argumentations-Schritte unserer handlungstheoretischen Rekonstruktion des Struktur-Kultur-Paradigmas ......................................................................... 97 Modell der funktionalen Zusammenhänge zwischen familialen Funktionen und familienpolitischen Motiven ......................................................................................... 171 Kausalmodell des Effekts staatlicher Familienpolitik. ... ............... ........... ....... ... ........ 177 Modell der dynamischen Interdependenz von Familienpolitik und Familie ............. 178 Familienpolitische Kurzfristeffekte am Beispiel Rumäniens (zusammengefaßte Geburtenziffern) ......................................................................................................... 180 Familienpolitik und Heiratsverhalten in Österreich (Eheschließungen in Tausend). 181 Spanien und sein "politisch verzögerter" Geburtenrückgang (zusarnmengefaßte Geburtenziffern) ......................................................................................................... 181 Soziale Teilhabe und familienpolitische Intervention (nach Kaufmann) .................. 189 Dimensionen sozialpolitischer Interventionsfonnen .................................................. 190 Ein Fishbein-Modell zur Erklärung generativen Handelns ........................................ 196 Modell der Phasierung von familialen Lebensfonnen und generativen Handlungsmustern ....................................................................................................................... 202 Kräftedreieck der Denkstile ... ....... ... ... ... ..... ... ... ....... ..... ....... ......... ... ..... ... ... .... ...... ..... 204 Der Prozeß sozialen und demographischen Wandels ................................................ 210 Typologie familien- und bevölkerungspolitischer Strategien nach gesellschaftlichen Problemlagen .... ... ...... ........... ... ....... ... ...... ... ... ... ... ..... ... .... ... ......... ..... ....... ................... 211 Der Rückgang ehelicher Fruchtbarkeit, PhasenmodelI nach Kytir ............................ 226 Empirisch gemessener Rückgang der Gesamtfertilität (igf) - Schweiz 1960 bis 1980 nach Kantonen....... ................ ..... ... ... ... ... ... ... ... ... ..... ... .... ........ ................... ... ........... ... 227 Rückgang der Fertilität in den Kantonen 1960-1970 (Quintile) ................................ 233 Rückgang der Fertilität in den Kantonen 1970-1980 (Quintile) ................................ 233 Rückgang der Fertilität in den Bezirken 1970-1980 (Quintile) ................................. 234

Abbildungen und Tabellen Abb. 28: Plots und Regressionen in den Kantonen 1960 (igf60) mit Fertilitätsniveau 1980 (igfSO), sowie Fertilitätsniveau 1970 (igf70) mit Fertilitätsrückgang 1970-80 (ru78) in den Kantonen .... ..... .......... ...... ................. ......... .................. ......................... ........... Abb. 29: Fertilitätsniveau in den Bezirken 1970 und 1980 (igf70 und igfSO; Quintile) ........... Abb. 30: Regionen mit dominanter Konfession (kathoVprotest. >/= 75 Prozent) .................... Abb. 31: Plots ausgewählter einfacher Zusammenhänge .......... ...... .................. .............. ......... Abb. 32: Plots ausgewählter einfacher Zusammenhänge .... ...... ...... ............ ........ ............ ......... Abb. 33: Graphische Darstellung der Rechenschritte zur Schätzung der kohorten- und altersspezifischen Fertilitätsziffem .... ......... ............... ............ ........ ...... ............ .......... Abb. 34: Differenzen zwischen gemessener und geschätzter Kohorten-Gesamtfertilität ......... Abb. 35: Entwicklung der rohen Geburtenziffer (RGZ), des Index der Gesamtfertilität (igf/ 100) und des AItersverteilungsfaktors (c(!) für die Schweiz (1900 bis 1987) .......... Abb. 36: Periodengesamtfertilität und Bevölkerungswachstum (aktuelles Wachstum und Wachstum vor einer Generation (time-lag von 30 Jahren» ....................................... Abb. 37: Periodengesamtfertilität und Migrationssaldi (aktuelle Saldi und Saldi vor einer Generation (time-lag von 30 Jahren» ........................................................................ Abb. 38: Werte des Altersverteilungs-Faktors c(t) und gemäß Modell gefittete Werte von c(t) .............................................................................................................................. Abb. 39: Perioden- und Kohortengesamtfertilität in der Schweiz zwischen 1900 und 1987 ... Abb. 40: Index der Verteilungsverzerrung d(!) in der Schweiz zwischen 1900 und 1987 (Rhythmus-Schwankungen) ....................................................................................... Abb. 41: Kohortenfertilität (G(t», Verteilungsverzerrung (d(t» und Multiplikator (smooth I-m(t» für die Schweiz zwischen 1900 und 1987 ..................................................... Abb. 42: Kurzfristige Schwankungen der Fertilität (y(t» in der Schweiz zwischen 1900 und 1987 ............................................................................................................................ Abb. 43: Sequentielle Interpretation des Regressionsmodells .................................................. Abb. 44: Werte des Indikators für Rhythmus-Schwankungen (d(t» und gemäß Modell gefittete Werte von d(!) .................................................................................................. Abb. 45: Kohortengesamtfertilität (G(T» und kohortenspezifisches Tempo (M(T» der Fertilität............. .......................................... ........................... .................................... Abb. 46: Periodengesamtfertilität (G(t» und Inverse des mittleren Geburtenintervalls (Inv. I(t» ............................................................................................................................. Abb. 47: Geburtenentwicklung nach Rangfolge der Kinder (periodenspezifische Entwicklung in der Schweiz zwischen 1930 und 1987) .......................................................... Abb. 48: Geburtenentwicklung nach Rangfolge der Kinder (Entwicklung in der Schweiz für die Kohorten 1910 bis 1960) ...................................................................................... Abb. 49: Kohortenspezifische Entwicklung von Kinderreichturn (H(T» und Kinderarmut (L(T» in der Schweiz (191Obis 1960) ...................................................................... Abb. 50: Determinanten der hohen Paritätskomponente in der Schweiz .................................. Abb. 51: Außereheliche Fertilität in der Schweiz zwischen 1900 und 1987 ............................ Abb. 52: Tempo-Indikatoren der ehelichen Fertilität in der Schweiz ....................................... Abb. 53: Zeitintervall zwischen Erstheirat und erster Geburt in der Schweiz ...... ...... ...... ........ Abb. 54: Familienbezogene Entscheidungs-Sequenzen nach generativem Regime ................. Abb. 55: Entwicklung familien politischer Maßnahmen nach Interventionsform im Südwesten Baden-Württembergs 1945-1987 ........................................................................ Abb. 56: Entwicklung familien politischer Maßnahmen nach Interventionsform im Kanton Basel-Stadt 1945-1987 ............................................................................................... Abb. 57: Zyklen der schweizerischen Familienpolitik ............................................................. Abb. 58: Synopse familienpolitischer Maßnahmen und Einrichtungen in der Schweiz. der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs ........................................................... Abb. 59: Ausgestaltung der Kinderzulagengesetze in den Kantonen ....................................... Abb. 60: Regressionen der CVP- und SPS-Anteile auf die Ausgestaltung der Maßnahme Kinderzulagen (Faktor I: Familialismus; Faktor 2: Etatismus) .................................

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Abbildungen und Tabellen

Abb. 61: Übersicht über die kantonalen Korrektur-Verfahren in der schweizerischen Fiskalpolitik ......... ....... ... ... ... ... ... ... ... ..... ... ... ............. ... ..... ...... .... ... ...... ... ... ..... ... .... ......... ...... 362

11. Tabellen Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab.

I: Parameter der Häufigkeitsverteilungen des Index der Gesamtfertilität (igO in den Kantonen der Schweiz zwischen 1960 und 1980...... ............ ...... .......... ...... ............... 2: Zusammengefaßte Geburtenziffern (igO in den Kantonen 1960 bis 1980 sowie prozentuale Rückgänge der Gesamtfertilität zwischen jeweils zwei Beobachtungszeitpunkten ....................................... ................... ........... .................. ................ .......... 3: Vergleich zwischen Geburtenrückgang und Fertilitätsniveau in den Kantonen (Zeitpunkt des Einsetzens des Geburtenrückgangs) .................................................. 4: Interkorrelationen zwischen den Variablen .................. ...... ................ ...... ...... ........... 5: Beta-Koeffizienten und erklärte Varianz der schrittweisen Regressionen div. Prädiktoren auf das Fertilitätsniveau ............................................................................... 6: Interkorrelationen zwischen Geburtenrückgang und ausgewählten Variablen .......... 7: Beta-Koeffizienten und erklärte Varianz der schrittweisen Regressionen div. Prädiktoren auf den Geburtenrückgang .......... ...... ........ .................. ...... ................ ........... 8: Interkorrelationen zwischen den Variablen ............ ...... .......... ........ .......... ...... ...... ..... 9: Beta-Koeffizienten und erklärte Varianz der schrittweisen Regressionen div. Prädiktoren auf den Geburtenrückgang ........................................................................... 10: Korrelationsmatrix von sechs unabhängigen Variablen und dem AltersverteilungsFaktor c(t) ................................................................................................................... 11: Ergebnis der multiplen Regression mit 6 Variablen zur Erklärung des Altersverteilungs-Faktors c(t) ....................................................................................................... 12: Korrelationsmatrix für d(t) mit 8 Variablen ............................................................... 13: Ergebnisse der multiplen Regression mit 8 Prädiktoren auf d(t) ............................... 14: Familienzulagen in der Nordwestschweiz (in Fr.) sowie die Diffusion kantonaler Familienzulagengesetze . ... ... ...... ..... ....... ... ... ... ........ ...... .... ...... ... ........ ......... ....... ... ..... 15: Anteile der Kinderzulagen am Durchschnittslohn (Basel-Stadt) ............................... 16: Lösung einer Hauptkomponentenanalyse mit 6 Variablen zur Ausgestaltung der Kinderzulagen in den Kantonen ...... .......... .................... ...... ...... .......... ...... ................. 17: Zusammenhänge zwischen familialistischer resp. etatistischer Konzeption der Kinderzulagen und kulturellen Variablen (Sprache, Konfession & Parteistärken) ...

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Einführung Bis in die Gegenwart hinein hat sich die Familie als eine äußerst wandlungsfähige Institution erwiesen. Obwohl heute Erosionserscheinungen der kleinfamilialen Lebensfonn nicht von der Hand zu weisen sind - so kennzeichnen niedrige Heiratsneigung, Geburtenrückgang und hohe Scheidungshäufigkeit die Lage der Familie in den meisten westeuropäischen Ländern -, ist sie, oder richtiger vielleicht, sind die mannigfaltigen Familienfonnen eine basale Stätte sozialer Vergemeinschaftung geblieben. Insbesondere Fragen der Elternschaft und des generativen Handels können nicht losgelöst von der Situation und Bedeutung der Familie in Staat und Gesellschaft erörtert werden. Mit dieser Studie beabsichtige ich, einen Beitrag zum vertieften Verständnis von Veränderungen der Familie und der Fertilität - d. h. der Art und Weise, wie Familie erlebt und gelebt wurde und wird - zu leisten. So verstandener familialer Wandel gebietet, die weitreichenden Veränderungen innerhalb der Familie auf gesamtgesellschaftliche Prozesse zu beziehen. Erst vor diesem Hintergrund läßt sich die Geschichte der Staatstätigkeit zugunsten der Familie rekonstruieren, respektive können die Wirkungsweisen der Familienpolitik auf vernünftige Weise diskutiert werden. Die vorliegende Untersuchung erwuchs aus zwei Forschungsprojekten, die ich unter der Oberleitung von Prof. Dr. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny zwischen Juni 1986 und November 1989 am Soziologischen Institut der Universität Zürich durchführen konnte. Es handelt sich zum einen um die Studie: Fertilitätsentwicklung und generatives Verhalten im Drei-liinder-Vergleich, welche in Kooperation mit dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIß) in Wiesbaden (Prof. Dr. Charlotte Höhn) und dem Institut National des Etudes Demographiques INED (Dr. Chantal Blayo) durchgeführt wurde. Die Studie setzte sich aus drei Teilen zusammen: erstens einer Dokumentation und thematischen Evaluation familienpolitischer Maßnahmen in den Regionen Elsaß, Baden-Württemberg und der Nordwestschweiz, zweitens einer Analyse der Fertilitätsentwicklungen in den erwähnten Regionen aufgrund von Daten der amtlichen Bevölkerungsstatistik. Den dritten Ast des Projektes bildeten zwei Surveys über generative Handlungsmuster und die Wahrnehmung familienpolitischer Einrichtungen. In zwei Gegenden (Süden Baden-Württembergs und Nordwestschweiz) wurden jeweils jüngere verheiratete Frauen befragt. Ein Anschlußprojekt mit dem Titel: Determinanten von Komponenten der Fertilität unter besonderer Berücksichtigung der Erwerbstätigkeit von Frauen beschäftigte sich mit der langfristigen Entwicklung der Geburtenziffern. Die in der vorliegenden Arbeit verwendeten Daten stammen größtenteils aus diesen beiden Untersuchungen. 1 fux

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Ein ftihrung

Prof. Dr. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny habe ich es zu verdanken, daß er mir nicht bloß die Leitung der erwähnten Projekte anvertraute, sondern überdies auch diese Studie anregte. Er verdient meinen besonderen Dank aus vielen Gründen: zum ersten, weil erdas Entstehen dieser Untersuchung immer wieder mit kritischer Aufmerksamkeit verfolgte; zum zweiten, weil er mir mit seinem soziologischen CEuvre ein Fundament und eine Orientierungshilfe zur Hand gab und zum dritten, weil seine vielgestaltige Förderung mir den Zugang zu manchen Forscherpersönlichkeiten eröffnete und überdies in liberaler Weise einen Spielraum zur Entfaltung eigener Ideen anbot. Im Vorwort des Buches: "Der Baum der Erkenntnis" findet sich folgender Satz von Maturana und Varela: "Wir wollen den Leser gleich zu Beginn warnen: Die Vorstellungen, die ihm hier präsentiert werden, stimmen wahrscheinlich nicht mit denen überein, an die er gewöhnt ist. Wir werden nämlich eine Sicht vortragen, die das Erkennen nicht als eine Repräsentation der 'WeIt da draußen' versteht, sondern als ein dauerndes Hervorbringen einer Welt durch den Prozeß des Lebens selbst." •

Wir hegen mit unserer Arbeit zwar keine eigentlich erkenntnistheoretischen Ambitionen. Gleichwohl bildet die konstruktivistische Vorstellung, die in diesem Zitat zum Ausdruck gelangt, den Hintergrund, vor welchem wir den familienpolitischen Diskurs erörtern werden. In diesem Sinne betrachte ich jene Erkenntnisphänomene, mit denen wir uns beschäftigen: die Familie, Geburten, politische Maßnahmen etc. nicht als "Tatsaehen" oder Objekte in einer Welt außer uns. ,,Die Erfahrung von jedem Ding 'da draußen' wird auf eine spezifische Weise durch die menschliche Struktur konfiguriert, welche' das Ding', das in der Beschreibung entsteht, erst möglich macht." •• Diese zirkuläre Verkettung von Erfahrung und Handlung, die Untrennbarkeit einer bestimmten Art zu sein (Kultur) von der Art, wie die Welt uns erscheint (Struktur), stellt die erkenntnistheoretische Leitplanke für die eignen Erwägungen dar. Jede Reflexion dieser Interdependenz hinsichtlich eines bestimmten Gegenstandsbereiches findet in dem Medium statt, welches die spezifische Form menschlichen Seins und Tuns ist: in der Sprache. Folglich werden die sprachlichen Konstituierungen, Formierungen und in der Folge auch Normierungen interessierender Phänomene (die "Fiktionen" von Familie, Geburten, politische Maßnahmen etc.) einen wichtigen Zweig unserer Erörterungen darstellen. Von diesem gilt es einen zweiten Zweig zu separieren, die quantifizierbaren Häufigkeiten der Realisierungen solcher Fiktionen. Zwischen diesen beiden Polen vermittelt die Politik. Doch wechseln wir auf jene Ebene, auf der unsere Untersuchung angesiedelt ist und umreißen nunmehr die Grundidee der Arbeit.

* * * • Humbeno R. Maturana & Francisco J. Vare/a: Der Baum der Erkenntnis. Wie wir die WeIt durch unsere Wahrnehmung erschaffen - die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Scherz, Bem, München, Wien 1984, S. 7 . .. Ebd., S. 31.

Einführung

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Familie ist eine Institution, die sich im historischen Prozeß wandelt. Das differentielle Vorkommen unterschiedlicher familialer Lebensformen ist eng verflochten mit generativem Handeln. Den Mechanismen des Wandels generativer Strukturen oder Bevölkerungsweisen gilt unser Interesse, wenn wir darunter, gemäß Mackenroth, "das geschichtliche Zusammenspiel generativer Verhaltensweisen einer Menschengruppe" verstehen, welches a) aus der Heiratsstruktur b) der Struktur der Fertilität und - einem Aspekt, der in dieser Studie ausgespart bleiben muß - c) der Struktur der Sterblichkeit zu erschließen ist. Die Abfolge generativer Strukturen wollen wir aus der innigen Verzahnung zwischen den kollekti ven Erfahrungen überkommener Strukturen einerseits und deren handlungsmäßigen Transformationen andererseits erklären. In diese Interdependenz von strukturellem und kulturellem Wandel greift die Familienpolitik ein, indem sie jeweils bestrebt ist, einer aufkeimenden neuen Bevölkerungsweise zum Durchbruch und zur Blüte zu verhelfen. Der Zweck familienpolitischer Interventionen soll nicht auf bevölkerungspolitische Ziele eingeschränkt werden. In einem viel breiteren Sinn dient Familienpolitik dazu, den sich wandelnden familienbezogenen Wertvorstellungen und den daraus resultierenden Handlungsweisen zur Seite zu stehen a) mittels rechtlicher Positivierung neuer Normen, b) mittels materieller Unterstützung derjenigen Personen oder Institutionen (familiale Lebensformen), die infolge dieses Wandels finanziell oder sozial schlechter gestellt werden oder ungleiche Chancen haben, c) durch die Schaffung von Handlungsspielräumen oder d) durch Beratung und Information. Die Auswirkungen familienpolitischen HandeIns gilt es somit daran zu bemessen, inwieweit es diesem gelingt, das Ausmaß an sozialen Spannungen, wie sie gerade in Umbruchphasen zwischen konsolidierten Bevölkerungsweisen vermehrt auftreten, zu mildem und zu steuern. Es stellt sich uns somit eine doppelte Aufgabe. Einerseits gilt es diese Grundidee theoretisch zu fundieren und andererseits müssen die zentralen Hypothesen, die sich aus ihr ableiten lassen, einer empirischen Prüfung standhalten. Diese doppelte Aufgabe veranlaßt uns, diese Untersuchung wie folgt zu gliedern. Die theoretische Basis bildet, wie erwähnt, das Struktur-Kultur-Paradigma in der Formulierung von H.-J. Hoffmann-Nowotny. Dieses Ansatzes versuchen wir uns zunächst sowohl in soziologiehistorischer als auch in systematischer, d. h. rekonstruktiver Hinsicht zu vergewissern. Die Genese des Ansatzes, der die Soziologie in Zürich, und darüber hinaus die Entwicklungen nicht nur der schweizerischen Soziologie nachhaltig beeinflußt hat und immer noch beeinflußt, erklären wir in drei Teilschritten. Eine erste Etappe ist eng verknüpft mit den Arbeiten von Peter Heintz, näherhin mit dessen" Theorie der strukturellen und anomischen Spannungen". Seine Konzeption läßt sich auslegen als Generalisierung des Ogburnschen Theorems des" culturallag", des permanenten Nachhinkens der Kultur einer Gesellschaft hinter ihrer technischen Entwicklung also. Heintz generalisiert diesen Sachverhalt zum einen dahingehend, daß er die bei den Bereiche zurückführt auf die fundamentalen soziologischen Dimensionen "Macht" und "Prestige". Zum anderen untermauert er deren Zusammenwirken mit einer sozialen Spannungs- oder Konflikt-Theorie, die auf

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einem Gleichgewichts-Konzept fußt. Systemoptimal wären Balance-Zustände zwischen den Statuspositionen (Macht) und deren Bewertung (Prestige). In der empirischen Wirklichkeit sind indes Ungleichgewichte die Regel. Der Zustand und das Ausmaß faktischer Ungleichgewichte, die in der Folge soziale Spannungen generieren, erhellen im weiteren die Logik sozialen Wandels. In seiner ersten Schaffensphase postuliert Heintz modernisierungstheoretisch eine tendenzielle Verringerung des allgemeinen Spannungsniveaus. Mit dem Dahinschwinden dieser optimistischen Vision von Geschichte und Modernisierung, also durchaus im soziologischen Zeitgeist liegend, revidiert Peter Heintz seinen Ansatz in den 70er Jahren, seiner zweiten Schaffensperiode, indem er den Ansatz zu einer soziologischen Code-Theorie ausweitet. An die Stelle der postulierten generellen Verringerung sozialer Spannungsniveaus auf verschiedenen Systemebenen tritt die Hypothese einer zunehmenden sozialen Entropie. Das Struktur-Kultur-Paradigma setzt hier an. Diese zweifellos elegante soziologische Erklärung sozialen Wandels, so sie diesen endogen aus den spannungsgeladenen Relationen zwischen Macht und Prestige zu bestimmen vermag, ist die eine Wurzel, auf die sich Hoffmann-Nowotny abstützt. Die Entropiehypothese ist eine zweite Wurzel seines Ansatzes. Vor allem nach drei Richtungen baut er die Konzeption von Peter Heintz aus. Er generalisiert erstens die Heintzschen Grunddimensionen und benennt sie als "Struktur" und "Kultur". Zweitens weicht er die strukturtheoretische Perspektive seines Lehrers dahingehend auf, als er strikt von einer Interdependenz zwischen diesen bei den Dimensionen spricht und damit insbesondere wissenssoziologischen Erkenntnissen mehr Rechnung trägt. Drittens erweitert er den Ansatz von Heintz, indem er theoretisch wie empirisch der Mikroebene vermehrte Beachtung schenkt. Hoffmann-Nowotny fundiert seine eigene Entropievorstellung mit Tönnies' Begriffspaar "Gemeinschaft" und "Gesellschaft", wobei die beiden Termini als Sozialtypen verstanden werden. Die soziale Evolution entwickelt sich tendenzmäßig vom Typus der Gemeinschaft in Richtung der Gesellschaft, was sich u. a. in der Beschleunigung strukturellen und kulturellen Wandels, in der Zunahme von Komplexität, Differenzierung und Mobilität, aber auch in Form pluralistischer, universalistischer und leistungsbezogener Ideologien niederschlägt. Ein Kulturmerkmal, dem Hoffmann-Nowotny besondere Beachtung widmet, ist die gesellschaftliche Individualisierungstendenz, für welche er in der jüngeren Entwicklung der Institution Familie hinreichende Belege findet. Ergebnis unserer Rekonstruktion des Struktur-Kultur-Paradigmas ist im weiteren die Freistellung einer analytischen Schwachstelle. Die Annahme einer vollständigen Interdependenz von Struktur und Kultur und von Mikro- und Makroebene birgt die Problematik, daß letztlich die Mechanismen sozialer Vorgänge nicht hinreichend präzise ermittelt werden können. Diese Schwachstelle ist es, die wir mit unserer handlungstheoretischen und konstruktivistischen Erweiterung zu eliminieren versuchen (Kapitel A). An die modale Handlungstheorie von Jürgen Frese anschliessend, beginnt die Argumentation in Kapitel B bei der Differenz: Erleben vs. Handeln. Erlebend

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erfährt sich ein Subjekt als reines Leiden, während es sich handelnd als solches erst konstituiert. In seinen Akten ermächtigt sich der Handelnde, als selbstbewußtes System einer Umwelt gegenüberzutreten. Diese zirkuläre Verkettung von Erfahrung oder Erleben und Handlung ermöglicht es u. E., an die These der Interdependenz von Strukturund Kultur anzuknüpfen. Mit anderen Worten: Unsere handlungstheoretische Perspektive verstehen wir als den Versuch, die Interdependenzhypothese im erweiterten Sinne auszulegen als Umschreibung eines autopoietischen Prozesses. Drei Grundformen von Handlungen (sprechen oder darstellen, durchsetzen und herstellen) werden sodann unterschieden, die sich aus den modalen Kategorien der Notwendigkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit herleiten lassen. Hieraus können im Fortgang der Argumentation immer komplexere Handlungsmuster erklärt werden. Aufgabe ist es, durch logische Operationen gleichsam von Handlungsatomen über -moleküle bis hin zu umfassenden System-Prozessen einen Kategorienraster vorzuschlagen, in den sich letztendlich auch jene Begriffe einpassen, auf die wir uns in den empirischen Untersuchungen konzentrieren werden. Vom "herstellenden" Handeln lassen sich über Zwischenschritte die Konstituierung von "Person" oder die Herstellung eines "Produktes" ableiten. Ebenfalls "Familienjormen" oder "generative Regimes" erweisen sich als Komplexionen der gleichen Grundform von Handlung. Aus "politischen" Handlungen lassen sich in analoger Weise komplexere Handlungen wie "Konflikte", "Strategien" oder auf prozessualer Ebene "Diskurse" herleiten. Auf entsprechende Weise können aus der basalen Handlungsform des "Sprechens" oder ,,Darstellens" komplexe Handlungen wie beispielsweise "Metaphern", " Texte", "Normen", "Denkstile " oder "Fiktionen von Familienjormen" gewonnen werden. Gerade dadurch, daß die jeweils komplexeren Handlungen nicht bloß die Summe der Einzelhandlungen darstellen, sondern sich zueinander wie Atom zu Molekül zu chemischer Substanz verhalten, erscheint uns in diesem Zusammenhang das Problem der Übersummativität irrelevant respektive gelöst zu sein. Bevor wir auf diesen theoretischen Grundlagen in Kapitel F den langfristigen Prozeß und das Zusammenwirken von familialen Leitvorstellungen, Fertilität und Familienpolitik erläutern, schien es uns angebracht, in drei Exkursen die Entwicklungen und den Stand der jamiliensoziologischen Forschung (Kapitel C), der Fertilitätstheorien (Kapitel D) und der Familienpolitik-Forschung (Kapitel E) zu resümieren. Im Rahmen unserer Erörterung der familiensoziologischen Entwicklungslinien schenken wir insbesondere den Divergenzen zwischen den FamilienKonzeptionen in den drei großen ideologischen Formationen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Beachtung. Dies geschieht nicht zuletzt deshalb, weil wir vermuten, daß die Unterschiede zwischen konservativen, sozialistischen und liberalen Deutungen der Familie auf der Ebene divergenter Denkstile (Familialismus, Etatismus, Individualismus) auch heute noch von eminenter Bedeutung sind. Unsere Darstellung der familiensoziologischen Theoriebildung kulminiert in der Gegenüberstellung zweier divergierender Hypothesen, der Kontraktionshypothese, die eine zunehmende Verringerung der Familiengröße und eine Tendenz der kulturellen Erodierung dieser Institution annimmt. Durch eine Vielzahl demogra-

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phi scher Indikatoren wird diese These belegt. Ihr entgegen steht die Transformationshypothese, weIche familiale Krisenphänomene keineswegs abstreitet, indes die Regenerationsfähigkeit und historische Wandelbarkeit dieser universalen Institution ungleich höher bewertet. Der Stand der Fertilitätsforschung zeichnet sich durch eine konkurrierende Vielzahl mikroanal ytischer (ökonomischer, sozialpsychologischer, soziologischer) Modelle aus. Unter diesen präferieren wir das Fishbein-Modell generativen HandeIns vor allem deshalb, weil es zwischen Normen und Einstellungen, Intentionen und Handeln unterscheidet. Diese Dreiteilung ist kompatibel mit unserer Trichotomie elementarer Handlungsformen. Zur Erklärung der langfristigen Vorgänge im Bereich der Fertilität und der Entwicklung der Familie bauen wir aber auf der Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung auf. Hans Linde postuliert, daß in historischer Sukzession jeweils unterschiedliche Faktoren eine Intensivierung der Geburtenbeschränkung verursacht haben. Er erklärt den Geburtenrückgang letztlich als die familiale Dimension der glaubensbegründeten Maxime radikaler Personalisierung und erst in zweiter Linie durch sozialstrukturelle Faktoren. Den Primat, den Linde der Kultur zuweist, die Phasierung der langfristigen Fertilitätsentwicklung und die Interdependenz von Industrialisierung (Struktur) und kulturellem Wandel der Familie sind die zentralen Elemente, die wir von ihm erben. Im Rahmen unserer Ausführungen zum Entwicklungsstand der Familienpolitik-Forschung besteht ein wichtiges Anliegen darin, den Begriffswirrwarr zwischen den Termini Bevölkerungs-. Familien- und Sozialpolitik zu klären. Die Ursache für die häufig unpräzise Verwendung dieser Begriffe dürfte in der Tabuisierung bevölkerungspolitischer Fragestellungen - insbesondere im germanischen Kulturraum - zu finden sein. Unser Klärungsversuch zielt daraufhin, die unterschiedlichen Dimensionen politischen Intervenierens aus fundamentalen funktionalen Beziehungen zwischen Familie und Staat herzuleiten. Der aktuelle Forschungsstand zeichnet sich durch Kontroversen zwischen rein demographischen Ansätzen aus, weIche in der Regel ein generelles bevölkerungspolitisches Interesse (stabile oder stationäre Bevölkerung) unterstellen und emprisch messbare natalistische Effekte politischen Intervenierens weitgehend in Abrede stellen. Soziodemographische Ansätze der Familienpolitik-Forschung (Kaufmann, Lüscher) hingegen berücksichtigen in ihren Analysen auch sozialisatorische Effekte und gelangen zu divergenten Schlußfolgerungen. Vor dem Hintergrund soziodemographischerTheorien formulieren wir unsere Wirkungs hypothese der Familienpolitik. Der Effekt familienpolitischer Anstrengungen - so meinen wir belegen zu können - manifestiert sich in deren Beitrag zur Konsolidierung jeweils neuer generativer Regimes. Im Kapitel F werden die bislang gewonnenen theoretischen Elemente miteinander verflochten und daraus jene Hypothesen abgeleitet, die in den folgenden Kapiteln empirisch validiert werden sollen. Auf der Basis unseres handlungstheoretischen Ansatzes unterscheiden wir zwischen normalen Prozeßverläufen, innerhalb derer nach Maßgabe familialer Leitvorstellungen ein weitgehend konsolidiertes generatives Regime (dominante Familienform und bestimmte genera-

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tive Handlungsmuster) besteht. Zwischen zwei Normalphasen liegen spannungsreiche Umbruchphasen, in denen Individuen Fiktionen alternativer Handlungsmuster entwickeln, diese erproben und durchzusetzen versuchen. Die Abfolge von Normalphasen knüpft insofern an Durkheim an, als wir uns diese als relativ integrierte (gesättigte) Gesellschaftstypen vorstellen ("mechanische" vs. "organische" Solidarität). Die Abfolge der Normalphasen zeichnet sich weiter durch eine Tendenz der zunehmenden Personalisierung (Linde), respektive Individualisierung (Hoffmann-Nowotny) aus. Wir vertreten die Ansicht, daß sich in der historischen Perspektive eine Kontraktion dreierDenkstile (Mannheim) beobachten läßt (Etatismus -> Familialismus -> Individualismus). Eine auf solche Weise uminterpretierte evolutionstheoretische Vorstell ung versucht Tönnies • Sichtweise mit jener von Durkheim zu verkoppeln. Von besonderem Interesse sind indes die Übergangsphasen, weil sich in diesen die Prozesse sozialen Wandels beschleunigen. Dadurch nämlich, daß Individuen in zunehmendem Ausmaß den tradierten und normierten Prozeßverläufen die Gefolgschaft verweigern und Fiktionen alternativer Handlungsmuster erst fonnulieren und dann erproben, steigt das Niveau sozialer Spannungen. Eine Folge davon ist, daß die tradierten Strukturen und Institutionen (etwa bestimmte familiale Lebensformen oder generative Patterns) zusehends als gefährdet wahrgenommen werden, was auf der Makroebene den Staat zu politischen Entlastungsstrategien (Familien-, Bevölkerungs- und Sozialpolitik) motiviert. In solchen Übergangsphasen ereignen sich vermehrt und temporeichere autopoietische Prozesse zwischen Erfahrung und Handlung, respektive zwischen Struktur und Kultur. Diese Konzeption wird in den drei folgenden Kapiteln empirisch überprüft. Zunächst (Kapitel G) wird an hand schweizerischer Daten fallstudienartig die Übergangsphase des jüngeren Geburtenrückganges untersucht. Der Primat der kulturellen Dimension, das Ansteigen des sozialen Spannungsniveaus sowie die tendenzielle Sättigung neuer Handlungsmuster wird detailliert untersucht. Sodann wird die langfristige Entwicklung der Fertilität (Kapitel H) fokussiert. Nachdem durch Schätzverfahren die erforderlichen kohortenspezifischen Daten ermittelt worden sind, wird die Entwicklung der Fertilität systematisch zerlegt in perioden- und kohortenspezifische Tempo- und Quantumskomponenten. In einem weiteren Analyseschritt werden Erklärungsmodelle für bestimmte Komponenten entwickelt. Dabei können zum einen normale Prozeßverläufe und Übergangsphasen recht trennscharf identifiziert werden. Zum zweiten kann belegt werden, daß sich die Übergangsphasen durch einen Anstieg des Niveaus sozialer Spannungen auszeichnen. Weiter wird die Mikrodynamik expliziert, die in solchen Übergangsphasen vonstatten geht und viertens wird der Zusammenhang zwischen Konfliktniveau und Phasen der Intensivierung und Diskursivierung familienpolitischer Thematiken erhärtet. Auf diesem Unterbau ist es im folgenden (Kapitel I) möglich, die langfristigen Entwicklungen desfamilienpolitischen Diskurses zu erörtern. Im Brennpunkt des Interesses steht dort die Hypothese, wonach die zunehmende Pe rsonenorientierung, die sich einerseits in der Kontraktion der Familie, andererseits in der Pluralisierung farnilialer Lebensformen und drittens der Polarisierung generativer Handlungs-

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muster niederschlägt, eine jeweilige Erhöhung des politischen Steuerungstiiveaus erforderlich macht. Der Zusammenhang von familienpolitischen Strategien mit unterschiedlichen Konfigurationen von Denkstilen, sowie Ansätze zu interkulturellen Vergleichen werden daselbst thematisch werden. Eine Zusammenfassung der Resultate und ein Ausblick auf weiterführende Forschungsfragen (etwa die Überprüfung von Wertstrukturen und ihres Wandels aufIndividualdatenebene, der Einbezug von lebenszyklischen Handlungsmustern und der Ausbau der interkulturellen Vergleiche wären noch zu leisten) beschließen die Studie (Kapitel K).

A. Zur Genese des Struktur-Kultur-Paradigmas I. Einleitung Wir wollen in diesem Kapitel die Anstrengung unternehmen, eine soziologische Theorie in ihrem Entstehungs- und Entwicklungsprozeß kritisch nachzuzeichnen. Dieses Bestreben fußt auf der Überzeugung, diese Theorie sei es wert, daß an ihr gearbeitet wird; sie verdiene es, weiterentwickelt zu werden. Karl Mannheim hat die Motivation, die auch uns antreibt, wie folgt in Worte gekleidet: "Unseres Erachtens ist der Wert eines Systems (einer soziologischen Theorie B. F.) nicht in erster Reihe an seiner inneren Widerspruchslosigkeit zu messen, sondern vielmehr an seiner Spannweite. Innere Widersprüche können im weiteren Verlauf durch das Denken überwunden werden; ein zu eng gewählter systematischer Ansatzpunkt macht dagegen jede Denkbarkeit hoffnungslos." I

Ziel dieses Kapitels ist ein Doppeltes: Einerseits gilt es, das systematische Gerüst des "Struktur-Kultur-Paradigmas" aufzuspannen, was in Form einer soziologiehistorischen Rekonstruktion geschehen soll. Andererseits geht es darum, eine Reihe von Problemen zu bestimmen, für welche unsere Untersuchung eine theoretische Klärung intendiert. Ein anderes Motiv kann einer Aussage Niklas Luhmanns abgerungen werden. Er beginnt sein opus magnum, den Verzicht auf theoretische Innovationsbemühungen tadelnd, wie folgt: "Die Soziologie steckt in einer Theoriekrise. Eine im ganzen recht erfolgreiche empirische Forschung hat unser Wissen vermehrt, hat aber nicht zur Bildung einer facheinheitlichen Theorie geführt. Als empirische Wissenschaft kann die Soziologie den Anspruch nicht aufgeben, ihre Aussagen an Hand von Daten zu überprüfen, die der Realität abgewonnen sind, wie immer alt oder neu die Schläuche sein mögen, in die man das Gewonnene abfüllt. Sie kann gerade mit diesem Prinzip jedoch die Besonderheit ihres Gegenstandsbereiches und ihre eigene Einheit als wissenschaftliche Disziplin nicht begründen. Die Resignation geht soweit, daß man dies gar nicht mehr versucht." 2

Im Spannungsfeld dieser beiden Motive stehend, versuchen wir im folgenden einen Mittelweg zu steuern, indem wir das Struktur-Kultur-Paradigma zum Ausgangspunkt wählen, ohne daraus ein Verbot abzuleiten, teilweise theoretisches Neuland zu betreten. Statt der Luhmannschen Diagnose einer soziologischen Theoriekrise das Wort zu reden, fragen wir uns zunächst, ob nicht die Rede von der ,,Krise der Soziologie", immer wieder und in vielen Variationen ver-

I Karl Mannheim: Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit, in: Mannheim, Karl: Strukturen des Denkens, Frankfurt 1980, S. 197. 2 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984, S. 7.

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A. Zur Genese des Struktur-Kultur-Paradigmas

lautbart, 3 diese Disziplin zwingend begleiten muß. Erörtern wir also die möglichen Gründe für die Unausrottbarkeit erwähnten Krisenverdachtes. Es könnte erstens ein Topos vorliegen, der eine vergleichsweise junge Wissenschaft notwendigerweise begleiten muß, weil die soziologische Disziplin noch

nicht zu einer ,,reifen Wissenschaft" gediehen ist, die nur schon aufgrund ihrer Tradition über universell gültige Modelle zur Erklärung sozialer Realität verfügt. Der Tatbestand, daß der Soziologie der Status einer ,,normal science" 4 nicht zuerkannt werden kann, ist nicht von der Hand zu weisen. Notwendigerweise, so könnte man zweitens wähnen, wird die Krise der Soziologie beschworen, weil sich die soziale Realität prinzipiell nicht unter eine einzige Theorie subsumieren läßt. 5 Das verweist auf die Problematik, wonach die Soziologie selbst Teil jener sozialen Realität ist, über die sie mit den Mitteln der Theorie und der Analyse wissenschaftliche Aussagen produziert. Es ist evident, daß die Involviertheit des Wissenschaftlers in den Gegenstandsbereich seiner Forschung dem Krisenverdacht Vorschub leistet. Eine Folge daraus ist die Vielfalt an Theorien und Methoden, die von Mitgliedern der "scientific community" entwickelt und vorgeschlagen werden. Die Konkurrenz unterschiedlichster Theorien nährt die Unsicherheit unter den Vertretern dieser Disziplin und trägt zur Erklärung der Resignation am Auftrag zur theoretischen Betätigung bei. Anbetrachts solch lähmenden Widerstreits muß offen bleiben, ob und auf welchen verwinkelten Pfaden sich das Projekt Soziologie je zu einer einheitlichen Disziplin entwickeln wird. Die Erwartung einer solchen Entwicklungsmöglichkeit bestimmt die Idee einer kumulativen Wissenschaft, einer Vorstellung, welche die soziologische Forschung seit dem zweiten Weltkrieg nachhaltig geprägt hat. In dem Sinne, daß die soziologische Forschung einen umfassenderen Beitrag zur Erklärung sozialer Realität zu leisten hat, schließen wir uns diesem Gedanken an, aller Skepsis zum Trotz, die gegenüber dem tatsächlichen Fortschritt in der Soziologie immer wieder verlautet wird. Das impliziert eine pragmatische Umschreibung des soziologischen Pflichtenheftes, wie dies von Popper methodologisch hinreichend untermauert worden ist.

3 Der Belege finden sich viele. In Erinnerung rufen möchten wir folgende Arbeiten: Alwin W. Gouldner: The Coming Crisis ofWestern Sociology, New York 1971 (Die Ubersetzung lautet ohne die Trendaussage anzudeuten: Die westliche Soziologie in der Krise, Reinbek bei Harnburg 1974.); Thomas Luckmann: Das kosmologische Fiasko der Soziologie, in: Soziologie, Mitteilungsblatt der DGS, 2(1974), S. 1; Urs Jäggi: Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie und ihre Soziologen, in: Hans Jürgen Krysmanski & Peter Marwedel (Hrsg.): Die Krise in der Soziologie. Ein kritischer Reader zum 17. Deutschen Soziologentag, Köln 1975; Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny: Migration. Ein Beitrag zu einer soziologischen Erklärung, Stuttgart 1970, S. 1. • Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962 (dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1967). Zum Gebrauch der Begriffe "normal science" ("normale Wissenschaft") und "scientific cornmunity" ("wissenschaftliche Gemeinschaft"), vgl. Kapitel 11, S. 25ff. der deutschen Ausgabe. 5 Mit dem Argument der Auslegungsbedürftigkeit der Realität und der daraus resultierenden subjektiven Auslegungsergebnisse wird diese Deutung der Krise in der Soziologie vor allem von Phänomenologen und Hermeneutikern in Geltung gebracht.

I. Einleitung

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"Die Theorie ist das Netz, das wir auswerfen, um 'die Welt' einzufangen, - sie zu rationalisieren, zu erklären und zu beherrschen. Wir arbeiten daran, die Maschen des Netzes immer enger zu machen." •

Plausibel ist die Redeweise von der Krise der Soziologie drittens auch aufgrund der Diskrepanz zwischen der Lieferung pragmatischer Lösungen und einer "ungeduldigen Öffentlichkeit" 7, die nach immer umfassenderen Antworten im Hinblick auf die praktische Bewältigung anstehender Probleme ruft: Eine Erwartung mithin, die, wenn nicht eine prinzipielle so doch eine graduelle Überforderung der Soziologie darstellt. Mertons Konzept der "middte range theories" 8 kann als Versuch ausgelegt werden, auf diese Problematik eine forschungsstrategische Antwort zu finden. Eine vierte Ursache der Krisenproblematik wird vor allem von Seiten der Phänomenologie vorgebracht und findet sich etwa in Husserls Spätwerk 9 breit abgehandelt. Die von Husserl diagnostizierte ,,Krise der Vernunft" geht indes über eine "Krise der Soziologie" weit hinaus. Diese Form der Krise ist "die Folge des Vergessens bzw. der Verdrängung des konstitutiven Ursprungs der verschiedenen Arten von idealen Gegenständen. Vergessen wird insbesondere die geschichtliche Form dieser Konstitution, die Eigenart des Prozesses der Idealisierung von lebensweltlichen Erfahrungsgegenständen sowie ganz allgemein der Ursprung der idealen Gegenstände in der transzendental-konstitutiven Subjektivität". 10 Der Verlust von Geschichtsbewußtsein, die Verdinglichung idealer Gegenstände und in besonderem Ausmaß der dogmatische und abstrakte wissenschaftliche Objektivismus sind Symptome dieser Krise. ,,Diese Krise läßt sich nach Husserl nur dann überwinden, wenn man sich auf die konstitutiven Leistungen der transzendentalen Subjektivität besinnt, wenn man den wissenschaftlichen Objektivismus in einem transzendental-phänomenologischen Subjektivismus begründet." 11 Auch wenn sich die Vertreter des Struktur-Kultur-Paradigmas von der Tradition der Phänomenologie und dem Konzept des "Verstehens" deutlich abgrenzen, 12 wenn insbesondere Hoffmann-Nowotny betont, daß eine ahistorische Struktur-Theorie nicht zwingend unhistorisch vorgehen muß, 13 werden wir einige theoretische Parallelen zwischen der phänomenologischen Soziologie, wie sie von Schütz und Luckmann im Anschluß an Husserl ausformuliert wurde, und der Struktur-Kultur-Theorie herauszuarbeiten versuchen. • Karl Popper: Logik der Forschung (2. erw. Auflage), Tübingen 1966, S. 31. Vgl. auch: HansJoachim Hoffmann-Nowotny: Migration, 1970, S. 5. 7 Ralf Dahrendoif: Soziale Klassen und Klassenkonflikte in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart, 1957, S. VII. 8 Robert K. Merton: Social Theory and Social Structure, New York 1968, S. 39-72. Sekundär: Piotr Sztompka: P. K. Merlon: An intellectual profile, New York 1986, S. 107-113. 9 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, 2. verb. Auflage, Hamburg 1982. 10 RudolfBemet: Derridas und Husserls Phänomenologie der Sprache, derZeit, der Geschichte, der wissenschaftlichen Rationalität, in: Phänomenologische Forschungen, Bd. 18, Studien zur neueren französischen Phänomenologie, Freiburg i. Br., 1986, S. 99. 11 Ebd. 12 Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny: Migration, 1970, S. 7. Il Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny: Soziologie des Fremdarbeiterproblerns, Stuttgart 1974, S. 2.

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A. Zur Genese des Struktur-Kultur-Paradigmas

Vielleicht handelt es sich beim Bedürfnis, von einer ,,Krise der Soziologie" zu reden um ein Ergebnis, das keinen notwendigen Charakter besitzt, sondern den Vertreterinnen und Vertretern der Disziplin selber anzulasten ist, weil sie zum einen mit den Traditionen des Faches häufig allzu 'grobschlächtig' umgehen, und weil sie zum anderen häufig mit relativ vagen Konzepten und Begriffen operieren, oder, weil sie es drittens an der erforderlichen Phantasie mangeln lassen. Solche "subjektiven" Ursachen der soziologischen Krise gilt es - im Sinne einer Maxime für die eigene Arbeit - bestmögliehst auszuräumen. Nehmen wir also an, daß die sogenannte "Krise" sowohl ein wesentliches Merkmal der Soziologie als auch ein akzidentielles Produkt der soziologischen Praxis ist, ergibt sich eine AufgabensteIlung, die wir an den Beginn dieser Untersuchung zu stellen haben. Diese Aufgabe besteht, abstrakt ausgedrückt, im Versuch, eine Theorie mittlerer Reichweite zu entwickeln. Diese Theorie versucht, eine theoretische und empirische Erklärung der Familienpolitik aus dem Wandel der Institution Familie und generativer Verhaltensmuster, respektive den vielgestaltigen Wechsel wirkungen zwischen diesen drei Handlungsbereichen zu entwikkeIn. Von dieser Theorie erhoffen wir Bausteine zu erhalten zur Erklärung und zum besseren Verständnis der zunehmenden "Pluralisierung" in den erwähnten Bereichen. Mit unserer Studie schliessen wir an so divergente Traditionen wie den Behaviorismus, die Wissenssoziologie, die Systemtheorie oder den Strukturalismus an. Insbesondere stützen wir uns auf ein Paradigma 14, welches von Interdependenzen zwischen zwei sozietalen Dimensionen: "Struktur" und "Kultur" ausgeht, um den Wandel gesellschaftlicher Phänomene zu erklären. Innerhalb dieser Konzeption, die eng mit der Geschichte der Soziologie in Zürich und mit Namen wie R. König, P. Heintz und H.-J. Hoffmann-Nowotny verknüpft ist, besteht unser Ziel darin, diesen Ansatz auf bestmögliche Art und Weise zu präzisieren und in hoffentlich kreativer Weise weiterzuentwickeln. Wenn wir anband eines bestimmten Bereiches der sozialen Realität, nämlich der Familienpolitik, eine präzisierende Weiterentwicklung des Struktur-KulturParadigmas leisten wollen, so gehen wir von drei Thesen aus: 1. Das Struktur-Kultur-Paradigma weist Vagheiten und Erklärungsdefizite auf.

14 Der Begriff "Paradigma" verlangt nach einer Klärung, wird er doch in zwei unt...rschiedlichen Bedeutungen verwendet. Parsons und Merton, die diesen auf Aristoteles zurückgehenden Terminus historisch vor Kuhn benutzt haben, verstehen darunter" ( ... ) eine Art Variablenschema, das, ohne direkt eine Theorie zu sein, alles relevante Wissen für Erklärungen von Prozessen in sozialen Systemen gewissermaßen auflistet und damit einen Kanon für die relevanten Fragestellungen liefert, also eine Art von Paratheorie". Vgl. Talcott Parsons: The Social System, New York 1951. Vgl. auch: Reine v. Alemann: Literaturbesprechungen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1978, S. 382; WoifM.lwand: Paradigma Politische Kultur, Opladen, 1985, S. 9f. undS. 519f. Diese Semantik dominiert auch bei Heintz und Hoffmann-Nowotny. Demgegenüber versteht Thomas S. Kuhn unter Paradigma ein relativ abgeschlossenes Theoriegebäude, welches im historischen Prozeß aus sozialen und innerwissenschaftlichen Gründen durch ein anderes Theoriegebäude ersetzt wird. Weil in der Literatur häufig dort Kuhn zitiert wird, wo eigentlich die parsonianische Bedeutung im Blicke steht, reden wir in der Folge von "Paradigma" oder "Ansatz", wenn die erste Semantik gemeint ist, respektive von "Paradigma im Sinne von Kuhn", wenn die zweite Semantik dominiert.

I. Einleitung

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Eine Aussage N. Luhmanns soll diese These zunächst und vorläufig belegen. Wir entnehmen sie seiner Rezension des Buches von Peter Heintz: ,,Die Weltgesellschaft im Spiegel von Ereignissen": "Heintz unterscheidet und verknüpft mehrere Beschreibungsebenen, deren Auswahl nicht begründet wird. ( ... ) Als Gesellschaftstheorie genommen also ein Buch mit erheblichen theoretischen Schwächen. Es ist ein Anfang, aber ein Anfang, der vergleichbaren Bemühungen viel voraus hat. "15

2. Insbesondere sind detaillierte Begriffsklärungen nötig was die Verwendung der Grundbegriffe ,,Macht" und "Prestige", "Struktur" und ,,Kultur" angeht, sowie bezüglich deren theoretischer Verknüpfung. 3. Das Struktur-Kultur-Paradigma weist eine hinreichende systematische Spannweite auf, so daß es keineswegs ,,hoffnungslos" erscheint, sich intensiv mit ihm zu beschäftigen. Die oben angeführte Kritik Luhmanns zumindest legt dies nahe. Eine theoriegeleitete Klärung der gerügten Vermischung von Beschreibungsebenen wurde unseres Wissens bislang noch nicht in Angriff genommen. Stellt man sich dieser Aufgabe, so wird man nicht umhinkommen, auf eine Reihe unterschiedlicher soziologischer Denktraditionen zurückzugreifen. Von herausragender Bedeutung für die Entwicklung des Struktur-Kultur-Paradigmas erachten wir insbesondere die Werke von E. Durkheim, K. Marx, F. Tönnies, G. Simmel, K. Mannheim, R. K. Merton, W. F. Ogburn und R. König. Gliedert man die beerbten Theorien in systematischer Hinsicht, so muß auf Klassentheorien, Theorien des sozialen Wandels und des sozialen Konfliktes, auf Schicht-, Statusund Anomietheorien, sowie auf die Wissenssoziologie verwiesen werden. Bevor wir die Genese des uns interessierenden Paradigmas in drei Rekonstruktionsschritten angehen werden, wollen wir uns zunächst aber noch eines möglichen Vorurteils entledigen. Der Rückgriff auf Traditionen, handle es sich dabei um ,,klassische" Autoren oder Schulen, besagt unseres Erachtens nicht, im 'Gärtchen' eines bestimmten soziologischen Theoriegebäudes verharren zu wollen, oder die Vertreter dieser Traditionen unhinterfragt als Autoritäten zu rezipieren. Im Gegenteil: Dieses Vorhaben verpflichtet gerade, über die einengenden Grenzen einer Schule hinauszuschauen, um die entscheidenden Anknüpfungspunkte, sowohl bei soziologischen "Klassikern", als auch bei aktuellen Theorie-Diskussionen zu finden. Das soll, ganz im Sinne eines wissenschaftlichen Akkumulationsprozeßes, einzig dem Zweck einer kritischen Überwindung des bereits Erreichten dienen, wobei ,,kritisch" hier nicht im naiven Wortsinn soviel wie Abweisung oder Ablehnung meint, sondern Differenzierung oder eben: Erweiterung und Präzisierung. Gleichwohl läßt sich nicht weg diskutieren, daß Rückgriffen auf sogenannte "Klassiker" einer Disziplin insofern eine Ambivalenz inhäriert, als solche Rekurse einerseits den Anschein von Autoritätsbeweisen erwecken. Andererseits kommt solchen Rückgriffen die Funktion zu, an einem theoretischen Strang weiter zu weben, sich von Autoren "erregen" zu lassen, in der Hoffnung und mit dem Ziel, IS Niklas Luhmann: Rezension: Peter Heintz. Die Weltgesellschaft im Spiegel von Ereignissen, in: KZfSS, 1984, S. 149f.

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A. Zur Genese des Struktur-Kultur-Paradigmas

sie zu überwinden. Noch in der Redeweise vom ,,zitat" steckt diese doppelte Bedeutung: meint doch "citare" sowohl ,,herbeirufen" wie "vorladen" oder ,,zur Rechenschaft ziehen". Wissenschaftler der verschiedensten Couleur waren sich dieser Ambivalenz durchaus bewußt. So etwa A. N. Whitehead, der schreibt: "Eine Wissenschaft, die zögert, ihre Gründer zu vergessen, ist verloren." ( ... ) "Es ist kennzeichnend für eine Wissenschaft in ihrem Anfangsstadium ( ... ) daß sie ihre Ziele voller Ehrgeiz hoch steckt, gleichzeitig aber mit den Details recht nachlässig umgeht." 16

Oder R. K. Merton, wenn er in seiner "Typology of Modes of Individual Adaptation" den Adaptationsmodus der Innovation als Akzeptanz kultureller Ziele und als Zurückweisung institutionalisierter Mittel bestimmt. 17 Ebenso beweist Hoffmann-Nowotny ein Bewußtsein dieser Problematik, wenn er bezüglich der "generell zunehmenden Hinwendung zu Klassikern" und deren "Rekonstruktion" erwähnt, ihr sei "ein Element von Autoritätsbeflissenheit, Epigonenturn und Scholastizismus nicht abzusprechen" 18, wenngleich er für unser Verständnis etwas einseitig die traditionsablehnende Komponente betont. Diese Schwierigkeit erwähnen wir, weil im Fortgang von Kapitel A in einem

historischen Zugang die Genese des "Struktur-Kultur-Paradigmas" zu ,,rekonstru-

ieren" sein wird. Bevor wir aber mit dieser Teilaufgabe beginnen, versuchen wir, den Stellenwert ds Schrittes innerhalb der gesamten Untersuchung zu umreißen.

Wir gehen in unserer Argumentation von folgender Hypothese aus: Die theoretische Aussage eines ,,raschen (sozialen) Wandels" und eines "sich beschleunigenden Fortschritts", wie sie sich bei Heintz und Hoffmann-Nowotny findet, bedarf einer Differenzierung. Werden bei Heintz viele soziale Phänomene ausschließlich in termini wie: ,,Fortschritt", ,,Modernisierung" oder ,,Entwicklung" gefaßt, so ordnet man diesen Phänomenen implizit ein Telos zu, welches erklärungsbedürftig ist. Unterscheidet man folglich teleologische Prozesse explizit von "Transformationsvorgängen" 19, die eines solchen Endzieles entbehren, so ermöglicht das unseres Erachtens ein detaillierteres Studium des sozialen Wandels. Eine explizite Erörterung des Unterschieds zwischen "zielgerichtetem" sozialen Wandel (,,Fortschritt") und "ungerichtetem" sozialen Wandel (Abfolge von sozialen Modellen) wurde bislang im Umfeld der Zürcher Soziologie nur ansatzweise entwickelt. V. Bornschier schlägt einen Ansatz vor, in welchem eine Abfolge von Gesellschaftsmodellen beschrieben wird, die durch unterschiedliche "technologische Stile" und "politökonomische Regimes" gesteuert werden. In seiner zyklentheoretischen Erklärung dieser Abfolge von Modellen rekurriert er indes auf einen geschichts16 Al/red N. Whitehead: The Organisation of Thought, zitiert nach Robert K. Merton: Zur Geschichte und Systematik der soziologischen Theorie, in: Wolf Lepenies (Hrsg.): Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven und historischen Identität einer Disziplin, Bd. I, Frankfurt 1981, S. 15. 17 Roben K. Menon: Social Theory and Social Structure, New York 1957, S. 194. 18 Haru-loachimHoffmann-Nowotny: Rezension: Talcott Parsons: Aktor, Situation und normative Muster. Ein Essay zur Theorie sozialen Handeins, herausgegeben und übersetzt von H. Wenzel, in: KZfSS, 3(1988), S. 579. 19 Der Begriff der Transformationen spielt in der Zürcher Soziologie eine nicht zu unterschätzende Rolle. So erklärt beispielsweise Hoffmann-Nowotny die Fremdarbeiterproblematik mittels Transformationen und Transfers von Spannungen. Vgl. Hans-]{J(Jchim Hoffmann-Nowotny: Soziologie des FremdarbeiterprobleIm, 1974, passim.

I. Einleitung

15

metaphysischen Mechanismus ("ewige Wiederkehr"), welchem wir skeptisch gegenüberstehen. 20 Im weiteren Ausbau der Heintzschen Theorie durch Hoffmann-Nowotny ("Struktur-Kultur-Paradigma") findet sich eine unterschwellige Vorwegnahme der hier vorgeschlagenen Differenzierung. Ziel ist es, diese freizulegen und theoretisch zu fundieren. Diese Vorarbeiten werden es ermöglichen, die Entwicklungen der Familie, der Fertilität und der Familienpolitik als Abfolge (Transformationen) von familialen, generativen und politischen Modellen zu erklären, die wechselseitig aufeinander bezogen sind.

Den Vorteil dieser Differenzierung erkennen wir darin, daß sie detailliertere Erkenntnisse über die Mikrophysik sozialer Prozesse (z. B.: über Ein- und Ausschließungsmechanismen, über Metaphemverschiebungen etc.) gewinnen läßt. Sie dürfte sodann erlauben, zu einem vertieften Verständnis und zu einer Erklärung gerade der Pluralisierung wichtiger Lebensbereiche (Familie, generative Verhaltensmuster) zu gelangen. Konkret zielt unser Unterfangen darauf hin, den "familienpolitischen Diskurs" in Termini eines langfristigen Spannung smanagements zu erklären. Wir verstehen unter ,,Diskursen" komplexe Interaktionen zwischen Akteuren oder Akteurgruppen. Mit und in Diskursen vollzieht sich sozialer - sowohl struktureller wie kultureller - Wandel, ereignen sich Fortschritt und/oder Transformationen sozialer Phänomene. Diskursive Interaktionen betrachten wir als das Bindeglied zwischen der Ebene des handelnden Individuums (Mikroebene) und der Aggregatsebene (Makroebene). Sie werden in Kapitel B handlungstheoretisch untermauert. Ist man bestrebt, sozialen Wandel aus Veränderungen individueller Strukturen (Positionen, Status), individuellen Wertvorstellungen sowie deren Artikulation mittels Sprache zu erklären, so belädt man sich unweigerlich mit fundamentalen soziologischen Problemen. Vor allem zwei Schwierigkeiten werden wir das Augenmerk zu schenken haben: 1. Dem Problem der Emergenz oder der Übersummativität. Das Problem besagt, daß die Summe individueller Einzelhandlungen und systemische Prozesse auseinanderklaffen können. Diese Problematik verursachte in der Geschichte der Soziologie das Auseinanderdriften von System- und Handlungstheorien. 2. Ferner erweist sich die "vollständige Interdependenz" von Struktur und Kultur, welche sozialen Wandel verursachen soll, als Hort theoretischer Schwierigkeiten. Als Folge der unzureichenden Klärung, was die abhängigen respektive die unabhängigen Variablen in einem zu erklärenden Bewandtniszusammenhang sind, läuft das Paradigma Gefahr, einem Relativismus das Wort zu reden. Mit anderen Worten: Bevor wir ein Handlungsmodell explizieren können, bedarf es der kritischen Versicherung, wie im Struktur-Kultur-Paradigma von 20 Volker Bomschier: Westliche Gesellschaft im Wandel, Frankfurt 1988 (insbesondere Kapitel 4 und 5.), sowie ders.: Gesellschaftsmodelle im sozialen Wandel. Problemstellungen der Makrosoziologie, in: uniziirich, 6(1989), S. 11ff.

16

A. Zur Genese des Struktur-Kultur-Paradigmas

Hoffmann-Nowotny mit der Problematik des Verhältnisses von Mikrosoziologie und Makrosoziologie sowie des Verhältnisses von Struktur und Kultur umgegangen wird. Es bedarf der Reflexion auf basale Begriffsbestimmungen, denn erst auf einem geprüften terminologischen ,,Fundament" können namentlich Veränderungen komplexer Interdependenzen - in unserem Fall jene zwischen Familie, Fertilität und Familienpolitik - wissenschaftlich ertragreich analysiert werden. Mit Goethe ließe sich sagen: "Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen". Wir beabsichtigen somit nicht, die erwähnten Theorien auf Prinzipien oder letzte Gründe zurückzuführen. Einzig die "Widerspruchsfreiheit, Vollständigkeit und Unabhängigkeit" der postulierten Axiome soll überprüft werden. Bekanntlich handelt es sich bei ungeprüften Urteilen letztlich um "soziale Vorurteile". Und wer wollte bestreiten, daß gerade Vorurteile mitverantwortlich sind für die eingangs erwähnte ,,Krise der Soziologie".

11. Drei Schritte auf dem Weg zu einem Struktur-Kultur-Paradigma Der folgende Abschnitt versucht in drei Schritten, die Genese eines soziologischen Paradigmas zu rekonstruieren. Es geht uns insbesondere darum zu zeigen, woher dieser Ansatz seine Grundbegriffe und basalen Unterscheidungen bezieht, aber auch darum darzustellen, wie solche Konzepte verwendet, verallgemeinert und modifiziert wurden. Der hier interessierende Ansatz weiß sich dem soziologischen Werk und Wirken R. Königs tief verpflichtet. Das manifestiert sich etwa daran, daß die Soziologie, ganz im Sinne O. Neuraths, als eine erfahrungswissenschaftliche Einheitswissenschaft verstanden wird, andererseits aber auch als eine "positive Wissenschaft vom Sozialen zur Krisenüberwindung" 21. Mit R. König teilen die Vertreter des Struktur-Kultur-Paradigmas zudem die Affinität zu Durkheim und seiner Schule sowie zur amerikanischen Soziologie, im Speziellen zum Behaviorismus eines W. Ogbum und zum Strukturfunktionalismus R. K. Mertons. Diese mentale Verwandtschaft läßt sich vorläufig noch mittels Indizien andeuten. R. König hatte sich 1938 in seinem Exil in Zürich habilitiert, daselbst gelehrt und publiziert. 22 Viele Themen, zu denen sich König äußerte (z. B.: Minoritäten, Vorurteile, Familie, interkultureller Vergleich, "Gemeinschaft und Gesellschaft" 23 21 Horst Reimann: Artikel R. König, in: Wolfgang Bernsdorf & Horst Knospe (Hrsg.): Internationales Soziologenlexikon, Bd. 2, Stuttgart 1984, S. 434. 22 Für unseren Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist sein Buch: ,,Materialien zur Soziologie der Familie", BernJZürich 1946. Dieser Band entstand aus einem Gutachten für den Schweizerischen Bundesrat zum Volksbegehren "Pro Familia", das die verfassungsmäßige Verankerung der Familienpolitik intendierte. (V gJ. Rene König: Leben im Widerspruch. Versuch einer intellektuellen Autobiographie, Frankfurt u. a. 1984, S. 141.). 23 Königs Lehrtätigkeit in Zürich umfaßte u. a. "die Grundbegriffe der Soziologie (was mich :ru einer intensiven Kritik der Antinomie Gemeinschaft - Gesellschaft führte)". Rene König: Leben im Widerspruch, 1984, S. 138.

11. Drei Schritte auf dem Weg zu einem Struktur-Kultur-Paradigma

17

u. a.), wurden in der Zürcher Soziologie aufgegriffen und weiterentwickelt. Wenn der erste Teil der Festschrift 24 zum 75. Geburtstag von R. König mit ,,Kultur und Gesellschaft" übertitelt wurde, die Festschrift 2.S zu seinem 80. Wiegenfeste das gleiche Begriffspaar sogar zur Überschrift des ganzen Bandes wählte, dann deuten sich sowohl Parallelen als auch Unterschiede zu einem Paradigma an, welches soziale Realität in die Dimensionen "Struktur und Kultur" aufspaltet. Beides, Konvergenzen und Divergenzen mit dem Schaffen R. Königs gilt es im folgenden freizulegen. Wir wollen zeigen, daß die Ansätze von P. Heintz und H.-I. HoffmannNowotny eine innovative Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Selbstverständnisses von R. König darstellen. Diese Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Struktur-Kultur-Paradigmas erfolgt in drei Schritten: 1. Die frühen Arbeiten von P. Heintz lassen sich als Generalisierung und Formalisierung der Ogburnschen Theorie des "Social Change" interpretieren. Letztere beruht wesentlich auf dem Theorem des" cultural lag". Bei der Nach-

zeichnung dieser Verallgemeinerung von Ogbums Theorie sozialen Wandels werden ferner Parallelen zum französischen Strukturalismus augenfällig, die bislang noch kaum thematisiert wurden. Der ,,Macht-Prestige-Ansatz" und die "Theorie struktureller und anomischer Spannungen" 26 stellen den Angelpunkt dieses theoretischen Entwicklungsschrittes dar.

2. Peter Heintz baut in einer zweiten Phase seines Schaffens sein strukturtheoretisches Begriffsinstrumentarium zu einer umfassenden "Code-Theorie" 27 aus. Während dieser Phase wird der Anschluß an die funktionalistische Systemtheorie und den Konstruktivismus gesucht, ohne indes die Vorstellung einer "Weltgesellschaft" preiszugeben. P. Heintz rezipiert Th. S. Kuhns Vorstellung des Paradigmenwechsels und vertritt - im Vergleich zur ersten Schaffensphase - eine relativistischere Position. Einer strukturtheoretischen Perspektive bleibt er indes treu. Hierin grenzt er sich von N. Luhmann ab, welcher in der Weiterentwicklung der funktionalistischen Systemtheorie zur allgemeinen Theorie (autopoietischer) sozialer Systeme einen streng konstruktivistischen (und damit auch relativistischen) Standpunkt vertritt. Ein zentraler Unterschied zwischen beiden Autoren besteht darin, daß Luhmann von einer mikrosoziologischen Grundkategorie - nämlich Sinn 28 - ausgehend das Entstehen sozialer Systeme 2. Heine v. Alemann &: Hans Peter Thum (Hrsg.): Soziologie in weltbürgerlicher Absicht. Festschrift für Rene König, Opladen 1981. 25 Friedhelm Neidhardt; Rainer M. Lepsius &: Johannes Weiss (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft. Sonderband 27 der KZfSS, Opladen 1986. 26 Peter Heintz (Hrsg.): A Macrosociological Theory of Societal Systems, Vol. 1 & 2, Bern 1972, Vol. 1, S. 127-139 und Voll, S. 140-148. 27 Peter Heintz: Code für Information über die Sozialstruktur der Welt, in: Schweizerisches Jahrbuch für Politische Wissenschaft 1974, S. 25-41, sowie ders.: Die WeltgeseIlschaft im Spiegel von Ereignissen, Diessenhofen 1982. 2. Nildas Luhmann: Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Habermas, Jürgen & Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, S. 25-100 sowie ders.: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, 1984, S.92-147.

2 Fu.

18

A. Zur Genese des Struktur-Kultur-Paradigmas

erklärt, während Heintz eine makrosoziologische Struktur - die Weltgesellschaft - als Basis nimmt, um den Codierungen dieser Struktur nachzuspüren. 3. Hoffmann-Nowotny baut in seinen Arbeiten über Migration und über die Fremdarbeiterproblematik die Heintzsehe Konzeption dahingehend aus, daß er die Begriffe Macht und Prestige auf die sozietalen Dimensionen Struktur und Kultur zurückführt und deren Relation als umfassende Interdependenz begreift. Zwar ist diese interdependenztheoretische Sicht schon bei Heintz angelegt, sie wird aber erst bei Hoffmann-Nowotny klar herausgearbeitet und formuliert. Er bezieht sich dabei sowohl auf die Tradition der Wissenssoziologie (Mannheim), die formale Soziologie (Simmel) wie auf das Tönniessche Begriffspaar "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" . Diese drei Etappen bestimmen im folgenden die Gliederung dieses Kapitels.

I. In Richtung einer allgemeinen Theorie des" culturallag" a) Herkunft und Bestimmung der Grundkonzepte Wenden wir uns zunächst den frühen Arbeiten von P. Heintz zu. Seine wissenschaftliche Sichtweise läßt sich durch folgende Momente kennzeichnen: 1. Er vertritt eine strukturtheoretische Perspektive. 29 Hierin deutet sich der Einfluß E. Durkheims und jener soziologischen Richtungen an, welche sich Durkheim verpflichtet wissen: des Behaviorismus und der strukturfunktionalistisehen Systemtheorien. AufweIche Weise sich Heintz von strukturalistischen und strukturdeterministischen Theorien abgrenzt, wird nachfolgend zu erörtern sein. 2. Die Theorie von Heintz ist sodann konzipiert als Theorie sozialen Wandels, wobei sich Wandel nicht harmonisch, sondern konfliktreich in Form von Spannungen vollzieht. Heintz beerbtin seinen frühen Arbeiten konflikttheoretische Ansätze aus der Tradition der Chicago-Schule. Wichtige Bezugspunkte sind neben W. F. Ogbum und R. K. Merton auch L. Coser. 3. Die Soziologie von Heintz ist weiter in dem Sinne, wie das von R. König ausgeführt wurde, eine pragmatische Theorie: Eine erfahrungsbezogene positive Einzelwissenschaft vom Sozialen, weIche zum Ziel hat, auf der Grundlage eines weltoffenen Humanismus Krisen zu diagnostizieren und zu überwinden. 4. Wie R. König wendet sich auch die Theorie von Heintz mit Entschiedenheit gegen Sozialromantik wie auch gegen Diskriminierungen aller Art. Ebenso bezieht sie S teIlung gegen sämtliche Formen von Provinzialismus, Dogmatismus oder Totalitarismus. Der Ansatz von Heintz ist folglich eine normative Theorie,

29 Guido Hischier; Rene Levy & Wemer Obrecht (Hrsg.): Weltgesellschaft und Sozialstruktur, Diessenhofen, 1980, S. IX.

11. Drei Schritte auf dem Weg zu einem Struktur-Kultur-Paradigma

19

welche auf den Grundwerten "Tauschgerechtigkeit" und "Demokratie" fußt. Diese Wertprämissen werden offen gelegt und beeinflussen die Methodologie und Forschungspraxis. Ziel unserer Ausführungen wird es sein, nachzuweisen, daß dieser universalistische Humanismus zu Widersprüchen führt. Wir vermuten insbesondere, daß sich die Prämisse einer hierarchisch strukturierten Weltgesellschaft (konzentrische Kreise) 30 letztendlich nicht mit dem Demokratiepostulat und dem Pluralismus vereinbaren läßt. 31 Das Freilegen dieses Widerspruchs, der bei Hoffmann-Nowotny weitgehend überwunden scheint, erlaubt es, den Heintzschen "Fortschrittsoptimismus" zu begreifen, der in dessen Arbeiten unterstellt wird. Dieser Optimismus hat Auswirkungen auf die Methodologie, näherhin die Bevorzugung formalistischer Modelle und "sozialtechnologischer" Verfahren. Die Relevanz der hier geschilderten vier Momente in der Soziologie von Heintz läßt sich anhand einer Aussage von B. Heintz und W. Obrecht belegen: "Drei allgemeinste Vorstellungen seiner (P. Heintzens, B. F) Theorie und Metatheorie ( ... ) möchten wir besonders hervorheben. Die erste betrifft die systematische Wirklichkeitstheorie und die damit verbundene Vorstellung der Differenzierung der (sozialen) Realität in konzentrischen Kreisen, deren Prozesse miteinander interferieren, ( ... ) zweitens die Idee von unterschiedlichen Konfigurationen von Mechanismen, die für die Entstehung und Reproduktion solcher Systeme und auch für deren Wandel und Desintegration verantwortlich sind. ( ... ) Die dritte Idee bezieht sich auf Struktur und Kultur als zwei zentrale Aspekte sozialer Systeme und betrifft den Zusammenhang zwischen struktureller Macht und den Mechanismen ihrer Legitimation. 32

Sichtet man die frühen Arbeiten von P. Heintz, dann stellt man fest, daß der Begriff Kultur diffus und mehrdeutig verwendet wird. In seinen frühen Schriften bezeichnet er das Insgesamt der menschlichen Modifikationen von Natur, oder, mit Neidhardt gesprochen, "das System kollektiver Sinnkonstruktionen, mit denen die Menschen die Wirklichkeit definieren". 33 In "Anarchismus und Gegenwart" 34 wird unter "Kultur" ein "Wirklichkeitsbereich ", ein ,,sinn" oder eine bestimmbare "Lebenslösung" verstanden. Kultur bezeichnet somit die Sphäre des Ideellen oder den Bereich des politisch-ideologischen "Überbaus". Im Aufsatz ,,Die Technik im sozial-kulturellen Wandel. Einige Betrachtungen zur Soziologie der Technik" 35 werden die bier interessierenden Grundkategorien 3D Heintzens Vorstellung der Weltgesellschaft weist Ähnlichkeiten auf mit der Konzeption des "Politischen Systems" (political system), wie sie von Easton entwickelt wurde. Vgl. David Easton: A Systems Analysis of Political Life, London & Sidney 1967, S. 23. 31 Unser Argument weist eine gewisse strukturelle Analogie mit der Debatte um das "Ende der Ideologien" auf. Raymond Aron: L' opium pour les intellectuels, insbes. S.362ff. Fin de l' Age ideologique ?, Paris 1955. Daniel Bell: The End of Ideology, New York 1960. Chaim I. Waxman (Hrsg.): The End of Ideology Debate, New York 1968. 32 Bettina Heintz & Werner Obrecht: Die sanfte Gewalt der Familie. Mechanismen und Folgen der Reproduktion der traditionellen Familie, in: Hisch..ier, Guido; Levy, Rene & Obrecht, Werner (Hrsg.): Weltgesellschaft und Sozialstruktur, 1980, S. 447, Hervorhebungen B. F.. 33 Friedhelm Neidhardt: Kultur und Gesellschaft, in: Friedhelm Neidhardt; Rainer M. Lepsius & Johannes Weiss (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft, 1986, S. 11. 34 Peter Heintz: Anarchismus und Gegenwart, Berlin 19853, S. 109. 3S Peter Heintz: Die Technik im sozial-kulturellen Wandel. Einige Bemerkungen zur Soziologie der Technik, in: KZfSS 1955, S. 214-232.

A. Zur Genese des Struktur-Kultur-Paradigmas

20

ausführlicher expliziert. Weil diese Publikation als Programmschrijt seines Ansatzes gelesen werden kann, soll ausführlicher auf sie Bezug genommen werden. Thema des Artikels ist die "soziale Welt der menschlichen Verhaltensweisen". 36 Der Autor interessiert sich für die Technik als einer "spezifischen Erscheinungsform ( ... ) der modemen Gesellschaft im Gegensatz zu anderen Bereichen der sozialen Kultur". 37 Die Hypothese lautet, daß es ,,keineswegs genügt, die Technik als Schrittmacher der sozial-kulturellen Entwicklung zu betrachten". Heintz will zeigen, daß zwischen der materiellen Sphäre der Wirklichkeit, der "materiellen Kultur"38, und den Sinngebungsprozessen keine einfache kausale Beziehung im Sinne eines (materialistischen) Strukturdeterminismus besteht, sondern daß ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis vorliegt. Heintz wendet sich im Fortgang des Aufsatzes bestimmten Formen der Beeinflussung der ,,materiellen Kultur" durch soziologisch interessante Prozesse spezifischer Sinngebungen zu. Die ausdrücklich betonte Erweiterung des Gegenstandsbereiches soziologischen Interesses, welches neben menschlichen "Verhaltensweisen und Wertvorstellungen" in "bestimmter Weise" auch "leblose Gegenstände"39 im Denken berücksichtigt, erweckt den Anschein, als wolle Heintz eine Unterscheidung zwischen WertvorsteUungen (statisches Moment) und Sinnverleihung (dynamisches Moment) vornehmen. Unklar bleibt, ob diese Differenz in der Unterscheidung eines Prozeß- (Vollzug) und eines Produktmomentes (Inhalt) ihren Grund findet, 40 oder ob Heintz eine Unterscheidung zwischen einem Bereich tradierter und in ihrem historischen Ablauf relativ fixierter Normen ("Wertvorstellungen") sowie einem Bereich relativ rasch wandelbarer Normen ("Sinn"-gebungen) beabsichtigt. Handelt es sich bei der Inhalt-Vollzug-Unterscheidung um eine kategoriale Differenz, so bezeichnet die zweite Auslegung eine bloß graduelle Differenz zweier Beurteilungsweisen.

36

37

Ebd., S. 214. Ebd.

38 Ebd., S. 215. Die Verwendung des Begriffspaares "materielle vs. immaterielle Kultur" geht wohl auf Georg Simmel zurück. Dieser erörtert im Anschluß an Heinrich Rickert zwischen "Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft" (5. Aufl., 1921) den Eigensinn der kulturellen Wertsphären. In Simmels dynamischer Kulturtheorie werden unter Kultur sowohl die Objektivationen v"rstanden, in die sich ein der Subjektivität entspringendes Leben entäußert, also der objektive Geist, wie auch umgekehrt die Formierung der Seele, die sich aus der Natur zur Kultur emporarbeitet, also die Bildung des subjektiven Geistes. (V gl. G:~org Simmei: Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Georg Simmel: Philosophische Kultur. Uber das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Modeme, (3. Auflage) Berlin 1986, S. I 95ff. sowie Jürgen Habermas: Simmel als Zeitdiagnostiker, in: Simmel, Georg, Philosophische Kultur, 1986, S. 7ff.). Diese Unterscheidung wurde über die Rezeption Simmels in der amerikanischen Soziologie. Vgl. Lewis Coser: Towards a Sociology of Conflict, Columbia University 1954, (dt.: Theorie sozialer Konflikte, Neuwied 1965) von Ogburn übernommen. Ogbum bezeichnet den objektiven Aspekt der Kultur als "material culture", vgl. insbesondere William F. Ogbum: Technology as environment (1956), in: ders.: On Culture and Social Change, Chicago and London 1964,S. 78ff. 3. Ebd. 40

Etwa im Sinne der Husserlschen Dichotomie von "noesis" und "noema".

11. Drei Schritte auf dem Weg zu einem Struktur-Kultur-Paradigma

21

Gegen die erste Lesart wendet sich Heintz mit dem Argument, "daß der Akkulturationsprozeß kulturfremder Elemente keineswegs schon mit dem bloß körperlichen Eintritt in die empfangende Gesellschaft vollzogen ist". 41 Die kulturellen Sinngebungsprozesse, oder allgemeiner, die Integrationsprozesse erweisen sich als historisch und geographisch relativ. Gerade der Bedeutungswandel der materiellen Kultur scheint Heintz zu interessieren. Solcher "Strukturwandel" korrespondiert mit Sinnzuschreibungen, die jeweils bloß relative Geltung erheischen können. Mit der Betonung der Dimension Wandel im Unterschied etwa zur systemtheoretischen Akzentuierung von Integration (vgl. "Kultur" bei Parsons) blendet Heintz gleichsam die statische, auf Systemerhaltung und Systemerweiterung ausgerichtete Betrachtung der Welt aus und legtden Fokus auf Prozesse (Verhaltensweisen und Sinngebungen). Diese setzt er sogleich mit Fortschritt gleich. Damit grenzt sich Heintz von der strukturfunktionalistischen Position parsonianischer Provenienz ab und verortet sich in die Nachfolge konflikttheoretischer Systemtheorien, etwa jener von L. Coser oder den Vertretern der Chicago-Schule. Heintz bezieht eine ähnliche Position wie sein Lehrer R. König. Wenden wir uns aber vorerst der Gleichsetzung von Wandel und Fortschritt zu. Die Soziologie der Technik befaßt sich nämlich nicht nur mit jenem Vorgang, durch den die Gesellschaft den Erzeugnissen der Technik einen bestimmten Sinn verleiht, durch den sie solche Gegenstände in die Gesellschaft integriert. Ja, man kann sogar sagen, daß dieser Vorgang bisher nicht einmal ihr Hauptinteresse beansprucht hat. ( ... ) Der dauernde Wandel, dem die Technik unterliegt, stellt eines der Grundmerkmale dar, das den Soziologen schon immer bei der Betrachtung dieser für unsere Gesellschaft kennzeichnenden Erscheinungsform der Kultur aufgefallen ist. Der technische Fortschritt kann nun allerdings nicht etwa als eine Wellenbewegung graphisch dargestellt werden, ( ... ) denn der dauernde Wandel, in dem sich die Technik befindet, läuft kennzeichnenderweise niemals auf irgendeinen Stand zurück, durch den die Technik schon einmal hindurchgegangen ist. ( ... ) Ein zweites Merkmal dieser Entwicklung ist dadurch gegeben, daß das technische Wissen ( ... ) kumulativ fortschreitet, daß sich der jeweilige Stand der Technik zum großen Teil als die Verwertung des sukzessive angehäuften technischen Wissens erklären läßt. ( ... ) Bringt man die beiden erwähnten Merkmale der modernen technischen Entwicklung miteinander in Beziehung, dann kann man diesen Wandel als eine ununterbrochen nach aufwärts gerichtete Kurve graphisch darstellen. ( ... ) Daraus rechtfertigt sich auch, daß die technische Entwicklung im Gegensatz zu manchen anderen Formen des sozialen Wandels als Fortschritt bezeichnet wird, als welcher er die kumulative Eigenschaft einer solchen Zeitreihe zum Ausdruck bringt." '2

Die Gleichsetzung von Wandel und Fortschritt erscheint uns als ein Problem. Zweifellos ist es zweckmäßig, die prozessive oder dynamische soziologische Betrachtungsweise der statischen vorzuziehen. Technischer Wandel ist indes nicht zwingend auf einen Akkumulationsprozeß von Wissen zu reduzieren, wie wir seit Tb. S. Kuhn wissen. Erst eine solche Prämisse würde es nämlich rechtfertigen, das Ziel der Anpassung der gesellschaftlichen Kultur an die materielle Kultur vernünftig erweise als ,,Fortschritt" zu bezeichnen. Das Fortschreiten sozialer Prozesse kann ebensogut eine bloß ungerichtete Abfolge von "Schritten" sein, wobei im historischen Prozeß jeweils neue Ziele angesteuert werden. Wenn Heintz die Herstellung eines dynamischen Gleichgewichtes zwischen heiden Bereichen der Kultur mit der ,,Norm der Zeitgerechtigkeit" 43 messen will, dann läuft er

Peter Heintz: Die Technik im sozial-kulturellen Wandel, 1955, S. 215 . Ebd., S. 216f. .3 Ebd., S. 221. 41

•2

22

A. Zur Genese des Struktur-Kultur-Paradigmas

Gefahr, den technischen Entwicklungsstand als unabhängige Variable aufzufassen und sie damit zur eigentlichen Ursache sozialen Wandels zu küren. Eine solche Vorstellung bezeichnet Heintz selber ausdrücklich als Fehldeutung. ,,Dabei wird leicht übersehen, daß durch einen derartigen Anachronismus auch eine Reihe von Prozessen in Gang gesetzt werden kann, die als Anpassung der Technik an die anderen Kulturbereiche zu deuten sind." 44 In Übereinstimmung mit Rickert und der deutschen Kultursoziologie (G. Simmel, M. Weber, A. Weber) betont Heintz den Eigensinn beider Kultursphären. Und trotzdem kommt gemäß Heintz dem technischen Wandel eine herausragende Bedeutung zu. Leider verzichtet der Autor auf eine ausführliche Erörterung gerade dieses Verhältnisses von materieller und immaterieller Kultur. Die indirekte Bevorzugung der Technik als Determinante sozialen Wandels erscheint uns als ,,Fortschrittsoptimismus", welche seine strukturtheoretische Perspektive und seine Vorliebe für formalistische Modelle, die sich am technischen Entwicklungsstand der Soziologie orientieren, verständlich machen wollen. Hoffmann-Nowotny hat später diese Position interdependenztheoretisch relativiert. Versucht man den Unterschied zwischen der Heintzschen Vorstellung und unserer Hypothese des ungerichteten sozialen Wandels zu verdeutlichen, kann dies anhand von Abb. 1 illustriert werden. Der obere Teil der Graphik gibt in verkürzter Weise die Position von Heintz wieder. Er postuliert für den wissenschaftlichen Beobachter einen Standpunkt, der gleichsam außerhalb der immateriellen Kultur anzusiedeln ist. Wir betiteln diese erkenntnistheoretische Perspekti ve als seine ,Jdealsprachliche Tendenz". Aufgrund dieses idealen S tandortes vermag der Beobachter die Relation von materieller und immaterieller Kultur über die Zeitachse hinweg und aufgrund eines stets gleichbleibenden, in Termini von Strukturen beschreibbaren Fortschrittskriteriums als gerichteten Wandel zu benennen. Gerichteter Wandel will selbstredend nicht heißen, daß Gesellschaften während bestimmten historischen Phasen gemessen an den Fortschrittskriterien keine Rückschritte erfahren können. Im Visier steht mit dem Begriff "gerichteter Wandel" lediglich der Tatbestand jenes Universale, welches ein qualitatives Fortschreiten vorsieht. Mit dem Ausdruck "ungerichteter Wandel" postulieren wir einen gemäßigt relativistischen Standpunkt insofern, als wir den Beobachter als Teil der immateriellen Kultur betrachten. Das bedeutet in der Folge, daß wir die Geltung von irgendwelchen Fortschrittskriterien zeitlich beschränken. Unserer Hypothese zufolge gelten sie jeweils bloß während der 'Lebensdauer' eines bestimmtem sozialen Modells. Wir werden auf diese Thematik im Rahmen des zweiten Kapitels noch detailliert eingehen. Zur Debatte steht vorderhand die These, wonach die Heintzsehe Theorie interpretiert werden kann als Generalisierungs- und Formalisierungsversuch des Ogburnschen Theorems vom ,,kulturellen Nachhinken". Heintz bezieht sich explizit auf dessen klassisches Werk "Social Change" 45 und faßt den Grundgedanken des "culturallag" wie folgt zusammen: 44

Ebd.

4S

William F. Ogbum: Social Change, Rev. ed., New York 1953.

Ir. Drei Schritte auf dem Weg zu einem Struktur-Kultur-Paradigma

.

urne-lag •••

Fort-



schrittsachse

'-:c_-':--'-_...-{ ••

.. ... ..

time-lag

••

materielle Kultur

•• l-----:-:-:---,

materielle Kultur

•••

.

sozialer Wandel

(t + i)

time-lag •••

..

. .......

23

(t + 1)

materielle Kultur (t I)

Zeitachse

Abb. la: Modell zur Erklarung sozialen Wandels nach Peter Heintz

MudeIl: t + 1

sozialer Wandel immaterielle Kultur ,,--_(:..-t_+_I~)_~.

..• . . . ..

.. ••

. . . ••

time-lag ••• Fort-

schriltsachse t+1

MudeIl: t 1

..

Modell: t + i

materielle Kultur (t + I)

sozialer Wandel

sozialer Wandel

immaterielle Kultur (t 1)

. . . . ....

..

time-lag •• • ~':'·-m-a-t-er-:i-e:-::ll-e---'

Fort-

••

schritt!:achse t 1

. . . . .... . . . . .. . . . ... immaterielle Kultur (t + i) ltime-lag

Fort-

schriltsachse t+i

materielle Kultur (t

+ i)

Kultur (t 1)

Zeiracllse

)

Abb. 1b: Modell zur Erklarung sozialen Wandels. eigene Hypothese

A. Zur Genese des Struktur-Kultur-Paradigmas

24

"Die verschiedenen Bereiche der sozialen Kultur einer Gesellschaft, wie Religionen, Recht, Wirtschaft, Technik usw., wandeln sich nicht in demselben Rhythmus. In diesem Sinne kann man sagen, daß - dynamisch gesehen - der eine Bereich einem anderen vorauseilt, ihm gegenüber einen 'lead' aufweist, oder daß ein anderer hinter einem dritten nachhinkt, das heißt, daß ein' culturallag' besteht." 46

Berücksichtigt man ferner die folgende Aussage: "Im Gegensatz zu vielen anderen Kulturen geht diese Nachfrage (nach Erfindungen B. F.) in den kapitalistischen Gesellschaften vor allem von der Wirtschaft aus." (Hervorhebung B. F.) 41,

dann fällt zunächst einmal der äquivoke Gebrauch des Terminus "Kultur" auf. Zum einen redet Heintz von "Kultur" im Sinn von Gesellschaften (in späteren Arbeiten wird dafür "sozietales System" stehen). Zum zweiten bezeichnet Heintz "Religion", "Wirtschaft" oder andere Institutionen als "Bereiche der sozialen Kultur". Um diese bei den Bedeutungen voneinander abgrenzen zu können, wollen wir "Kulturen" im Sinne umfassender und historisch situierbarer Handlungssysteme Gesellschaften heißen, während die "bestimmten Bereiche der sozialen Kultur" als kulturelle Institutionen umschrieben werden. Das Interesse von Heintz an Ogburn entzündet sich am Theorem der wechselseitigen Abhängigkeit zweier eminenter kultureller Institutionen: nämlich der materiellen Kultur - oder Technik - einerseits und der immateriellen Kultur (Ogburn redet hierbei von "adaptive culture") andererseits. Diese Thematik leitet sein weiteres Erkenntisinteresse und führt geradlinig zur Ausarbeitung einer Theorie "struktureller und anomischer Spannungen". Durch den Wandel der einen Institution werden permanent Anpassungs- und Assimilationsprozesse in anderen Institutionen induziert. Gemäß Heintz verursacht der technische Fortschritt in hochindustrialisierten Gesellschaften einen ,,dauernden 'culturallag' zwischen den sich nur langsam wandelnden Bereichen der gesellschaftlichen Kultur und der Technik" (Hervorhebung B. F.). 48 Mit dieser Festlegung gewinnen die uns interessierenden Grundkategorien "Struktur" und "Kultur" Konturen. Einerseits wird "Kultur" differenziert in verschiedene Teilbereiche (materielle Kultur: z. B. Technik; immaterielle Kultur: z. B. Religionen oder andere individuelle oder kollektive Wertsysteme). "Struktur" auf der anderen Seite bezeichnet weniger einen inhaltlich definierten Ausschnitt sozialer Realität als vielmehr den funktionalen Aspekt gesetzmäßiger Beziehungen zwischen den beiden erwähnten Institutionen.

In methodologischer Hinsicht kann eine Soziologie, welche solche funktionalen Beziehungen und deren Veränderung im historischen Prozeß freizulegen beabsichtigt, eine strukturtheoretische Position geheißen werden. Heintz fundiert in der Folge seine Theorie sozialen Wandels auf der Vorstellung einer kausalen Relation zwischen "gesellschaftlicher Kultur" - dem Insgesamt der Wertungenund "Technik". 46

Peter Heintz: Die Technik im sozial-kulturellen Wandel, 1955, S. 219.

41 Ebd. 48

Ebd., S. 220.

II. Drei Schritte auf dem Weg zu einem Struktur-Kultur-Paradigma

25

Werden nämlich die Relationen zwischen technischem Entwicklungsstand einerseits und dessen soziokulturellen Bewertungsweisen andererseits als Zustände und Veränderungen von Gleichgewichten aufgefaßt, können diese Balance-Relationen als (dynamischen) Maßstab für das kulturelle Nachhinken betrachtet werden. Außerdem wird postuliert, daß die immaterielle Kultur idealiter in einem adäquaten Verhältnis zur Technik stehen soll. Daraus lässt sich eine soziologische Norm ableiten, die sich empirisch operationalisieren läßt. Liegt nämlich eine ausgewogene und damit spannungslose Relation von immaterieller und materieller Kultur vor (in diesem optimalen Fall entspräche die Dauer des "culturallag" dem numerischen Wert Null), dann erfüllt das System die ,,Norm der Zeitgerechtigkeit" 49. Individuelle und/oder kollektive Bewertungen können, indem sie zu dieser Norm in Beziehung gesetzt werden, als "nachzeitig (alUllOdisch)", "zeitgerecht" oder "vorzeitig" (,,avantgardistisch") qualifiZiert werden. Das Abweichen von dieser strukturellen Norm wird als Ursache für Spannungen und damit als der eigentliche Motor sozialen Wandels bestimmt. Die Vorstellung eines ,fiktiven dynamischen Gleichgewichtes" soll aber nicht dazu verleiten, die Technik zur einzigen erklärenden Variablen herabzuwürdigen. Eine solche Auslegung würde in einen Strukturdeterminismus münden, eine Position nota bene, welche Heintz nicht gelten läßt. Im Unterschied zu ,,klassischen" strukturdeterministischen Theorien läßt sich dessen Position, welche auf einem abstrakteren Niveau eine determinierende Relation zwischen technischer Entwicklung und deren Bewertung als Basis hat, als "strukturtheoretische Perspektive" bezeichnen. Heintz wendet folgerichtig sein Interesse der Dynamik von Gleichgewichtsverschiebungen zu. Zunächst sind Gleichgewichte idealtypische Konstruktionen. Ihr fiktionaler Charakter verlangt im weiteren Gang der Argumentation nach Erläuterung. Der Gegenbegriff zu Fiktion ist das Faktische, der Komplementärbegriff zum dynamischen Gleichgewicht somit die "faktischen" Ungleichgewichte. Letztere werden mit dem Konzept der Spannungen beschrieben. Am Beispiel des ,,Kulturzusammenstoßes" 50 erläutert der Autor diese Konzeption. Die kumulative Entwicklung der materiellen Kultur (man könnte diese mit ,,Fortschritt" gleichsetzen) fordert von der "Gesellschaft einen gewissen Grad von Bereitschaft oder Bereitwilligkeit zum Wandel, zur Anpassung an immer neue Gegebenheiten" 51. Diese Bereitwilligkeit, die nicht als selbstverständlich vorauszusetzen ist, erklärt soziale Verhaltensdispositionen 52. Anders als in späteren Ebd., s. 22l. '"Produkt von Kulturzusammenstößen sind Randpersönlichkeiten, die sog. "marginal men". 51 Ebd., S. 225. Dieses Zitat belegt die erörterte theoretische Unsicherheit zwischen einem Strukturdetenninismus (strukturtheoretische Perspektive) und einer radikal interdependenztheoretischen Perspektive, wird doch die Gegenthese einer Anpassung der materiellen Kultur an die immaterielle nicht weiter erwogen. 52 Heintz erörtert solche Attitüden beispielhaft anhand des ruralen Konservativismus, des urbanen Radikalismus, sozialer Vorurteile, der Kultur von peer-groups oder der Mode. 49

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A. Zur Genese des Struktur-Kultur-Paradigmas

Arbeiten, wo er das Konzept ausbaut und Spannungen typologisiert, legt er, dem Titel des Aufsatzes entsprechend, sein Augenmerk auf die Interdependenzen zwischen individueller Bereitschaft zum Wandel und der technischen Entwicklung. Er erörtert etwa die Auswirkungen der Sozialisation auf die erforderliche Anpassungs-Bereitschaft. Diese kann zu neuen Deutungsmustem führen (z. B. Mode), zum teilweisen oder vollständigen Bruch mit der Vergangenheit (z. B. Avantgardismus) oder zu Indifferenz technischem Wandel gegenüber. Im hier diskutierten Aufsatz kommen die zentralen Elemente der Heintzschen Theorie zur Sprache. In späteren Arbeiten werden diese Elemente schrittweise generalisiert. Als Ergebnisse unserer Analyse dieser programmatischen Frühschrift möchten wir folgende Punkte festhalten.

l. Mit der Vorstellung eines komplexen Interdependenzverhaltnisses zwischen: a) der Entwicklung der materiellen Kultur (insbesondere des technischen Fortschritts und b) den sozialen Bewertungen derselben (d. h.: der immateriellen Kultur), also der normativ-ideellen Sphäre, ist das Grundschema des Heintzschen Ansatzes festgelegt. 2. Die Re lation von materieller und immaterieller Kultur verursacht komplexe Anpassungsprozesse (Veränderung fiktiver und dynamischer (Un)gleichgewichtsZustände). Solche faktischen (Un)gleichgewichte werden Strukturen geheißen. 3. Heintz entwickelt auf diesem gleichgewichtstheoretischen Fundament ein behavioristisches Modell. Dieses erklärt sozialen Wandel wie folgt: a) Mit diesem Fundament wird der prozessuale Charakter (dynamisches Modell) sozialen Verhaltens axiomatisch unterstellt. b) Ausgangspunkt für soziologische Untersuchungen sind empirisch beobachtbare Verhaltensmuster. c) Diese werden an einem normativen Ideal, der ,,Norm der Zeitgerechtigkeit", gemessen. d) Die fiktive Eigenart dieses Ideals erlaubt es, Abweichungen von der Norm als" Spannungen" zu begreifen. Mit diesem konflikttheoretischen begrifflichen Gerüst kann sozialer Wandel analysiert und erklärt werden. Spannungsfrei wäre ein System dann, wenn das Ideal der Zeitgerechtigkeit realiter zuträfe, d. h.: wenn weder ein "cultural lead" noch ein "cultural lag" nachgewiesen werden kann. In der sozialen Realität, wenn Spannungen empirisch evident gemacht werden können, liegen somit time-lead oder time-lag Strukturen vor. In diesem Sinne manifestiert sich die Heintzsehe Konzeption als Generalisierung und Formalisierung der Ogbumschen Theorie des ,,Social Change". 4. Eine unzureichende Klärung erfahren die beiden unter Punkt 1 genannten kulturellen Sphären. Insbesondere lassen sich äquivoke Verwendungen des ,,Kultur"-Begriffes belegen. "Kultur" wird sowohl zur Bezeichnung von: a) "Gesellschaften" (in den späteren Schriften steht hierfür "sozietales System"), wie auch b) für bestimmte kulturelle Bereiche (,,kulturelle Institutionen", z. B.: Wirtschaft, Religion oder c) für die soziale Dimension der Werte und Normen verwendet. 5. Als eine theoretische Schwierigkeit erachten wir die von Heintz u. E. nicht hinreichend begründete Identifikation von sozialem Wandel mit "gerichtetem" Wandel im Sinne von (technischem) Fortschritt.

H. Drei Schritte auf dem Weg zu einern Struktur-Kultur-Paradigma

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6. Die Kategorie Zeit, wiewohl sie im Rahmen des Heintzschen Ansatzes eine herausragende Rolle spielt ("Wandel", "dynamisches Modell" etc.), wird nicht weiter thematisiert. Folglich werden auch die Probleme, die mit der Unterstellung dynamischer Grundbegriffe eingehandelt werden (z. B.: Messung des Tempos sozialen Wandels), analytisch nicht weiter verfolgt.

b) Ausbau des Ansatzes in methodologischer Hinsicht In der bislang erörterten Frühschrift hat Heintz, aufbauend auf dem Ogburnschen Theorem des "culturallag", das Rohgerüst seiner Soziologie festgelegt. In einer Reihe weiterer Arbeiten wird dieser Ansatz nach verschiedenen Hinsichten ergänzt und weiterentwickelt. Dieses work in progress erfährt mit seinem Werk: "A Macrosociological Theory of Societal Systems" 53 einen Abschluß. Die späteren Schriften werden sich nämlich einem neuen Ansatz widmen, der Ausarbeitung einer "Code-Theorie". Im Artikel "Interkultureller Wandel" 54 expliziert und ergänzt Heintz seine strukturtheoretische Sichtweise in methodologischer Hinsicht. Der Autor legt sich zunächst auf einen makrosoziologischen Zugang fest. Forschungsgegenstand einer strukturtheoretischen Soziologie sind weder das Individuum noch soziales Handeln, sondern gesellschaftliche Verhaltensmuster. Diesen Gegenstandsbereich definiert Heintz als: "die Gesamtheit der Verhaltensmuster der einer bestimmten Gesellschaft zugehörigen Menschen, wobei das Verhalten auf einer Abstraktionsebene erfaßt wird, die auf der einen Seite Unterschiede zu anderen Gesellschaften deutlich werden läßt und auf der anderen Seite doch nicht so tief liegt, daß die Gleichrnäßigkeiten innerhalb der Gesellschaften nicht sichtbar würden". "

Sämtliche sozialwissenschaftlichen Disziplinen beschäftigen sich mit Kulturen oder Gesellschaften in diesem Sinn des Wortes. Die verschiedenen Einheits- oder Einzel wissenschaften behandeln indes die kulturellen Eigenarten von Gesellschaften auf unterschiedliche Weise. Deren unterschiedliche Zugangsweisen lassen sich am jeweiligen Abstraktionsg rad einer Disziplin erörtern. Wenn im einen Extrem die Kulturanthropologie einzelne Kulturen oder Gesellschaften systemimmanent untersucht, somit auf einer relativ konkreten Ebene Strukturaussagen erarbeitet, und wenn im anderen Extrem die Okonomie gleichsam über sämtliche sozialen und kulturellen Besonderheiten von Gesellschaften hinwegsieht oder diese lediglich als Residualgrößen (',Datenkranz") in ökonometrischen Modellen berücksichtigt, also ein Höchstmaß an Abstraktion praktiziert, besteht die Eigenart der Soziologie und der Sozialpsycholog ie gerade darin, methodologisch eine mittlere Abstraktionsebene einzuhalten. Diese erlaubt es, "allgemeine Gesetzmäßigkeiten über das

Peter Heintz: A Macrosociological Theory of Societal Systems, 2 Bde., Bem 1972. Peter Heintz: Interkultureller Vergleich, in: Rene König (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. I, Stuttgart 1961, S. 639-649, (revidierte 2. Auflage 1976). "Ebd., S. 639. 53

54

A. Zur Genese des Struktur-Kultur-Paradigmas

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gesellschaftliche Zusammenleben von Menschen festzustellen" 56. Solche "Gesetzmäßigkeiten" werden Strukturen genannt. Aufgabe der Soziologie ist es demnach, soziale Gesetzmäßigkeiten in die Form von Struktur-Hypothesen zu überführen und diese empirisch zu überprüfen. Das erfordert von Soziologinnen und Soziologen, die eigene kulturelle Befangenheit zu transzendieren und einen neutralen Beobachter-Standort zu finden (vgl. Abb. la). Die Methode des" interkulturellen Vergleichs" ist der Königsweg, welcher zu diesem Ziele führt. Erst die Konfrontation des eigenen Erfahrungshorizontes mit anderen kulturellen Selbstverständnissen ermöglicht die Reflexion auf die kulturelle Eingebundenheit des Sozialwissenschaftiers. Erst dadurch wird die besondere Qualität soziologischer Strukturaussagen evident. Auf diese Weise vermag sich die Soziologie gegenüber Kulturanthropologie oder Ökonomie zu profilieren. Aus einer solchen distanzierten Haltung heraus lassen sich Strukturen als Relationen von Elementen bestimmen. In dieser allgemeinen Bedeutung wirft der Strukturbegriff keine besonderen Probleme auf, solange der Terminus nicht mehr bezeichnet als die so oder anders geordnete oder geregelte Beziehung zwischen Elementen eines "Ganzen" (eines Ereignisses oder eines Systems). Die Schwierigkeiten setzen dort ein, wo es gilt "ob und ggf. wie über die Bestimmung der Elemente der Sozialstruktur kontrolliert entschieden werden kann, welches also die relevanten Dimensionen der Differenzierung von Sozialstrukturen sind" 57. Heintz versucht diese methodologische Grundproblematik pragmatisch zu lösen. Das "Typisch-Besondere" 58 einer Gesellschaft, also ihre Struktur erschließt sich dem Forscher beim Vollzug interkultureller Vergleiche. Ein Beispiel vermag dies zu erläutern. Erst aufgrund von Vergleichen des Variationsspielraums unterschiedlicher Familienformen gewinnt man ein Bild dessen, was Familie bedeutet. Erst aufgrund des Wissens um die Variabilität des Begriffsinhaltes lassen sich somit sinnvolle neue Begriffe und strukturelle Hypothesen ableiten. Der Kern dieser Problematik besteht in der exakten Bestimmung der Grenze zwischen der intrakulturell operierenden Kulturanthropologie einerseits und den interkulturell operierenden Sozialwissenschaften andererseits. Immer noch ist die Frage offen, auf welchem Weg der Forscher seinen kulturdeterminierten Standpunkt zu transzendieren vermag. Heintz argumentiert wie folgt: "Die Theorie gründet ( ... ) also aufhypothetischen Beziehungen zwischen solchen stark abweichenden Fakten. Dabei wird aber der kulturelle Faktor nicht isoliert, denn es läßt sich daraus nicht entnehmen, welcher Teil der Abweichung als Veränderung der der Erklärung zugrunde liegenden Variablen zu deuten und welcher der Kultur zuzurechnen ist. Davon ausgehend könnte dann durch systematischen Kulturvergleich festgestellt werden, ob tatsächlich zwischen der Geschlechterproportion auf der einen und dem Verhältnis zwischen erotischer und mütterlicher Rolle der Frau auf

Ebd. Walter M. Sprondel: Die Kategorie der Sozialstruktur und das Problem des sozialen Wandels, in: Richard Grathoff & Walter M. Sprondel (Hrsg.): Maurice Merleau-Ponty und das Problem der Struktur in den Sozialwissenschaften, S. 176-189. s, Ebd., S. 177. 56

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11. Drei Schritte auf dem Weg zu einem Struktur-Kultur-Paradigma

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der anderen Seite allgemein eine solche Korrelation besteht, und wenn nicht, welche zusätzlichen Bedingungen erfüllt sein müssen, damit dies im Einzelfall zutrifft." 59

Rein pragmatisch erlauben interkulturelle Vergleiche soziologische Hypothesen in solche zu sondern, die evidentermaßen keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen können und solche, bei denen die Frage nach ihrer Allgemeingültigkeit offen bleiben muß. Letztere werden nicht vorschnell generalisiert, sondern erhalten den Status einer "vorläufigen Bestätigung". Die These vom mittleren Abstraktionsgrad der Soziologie impliziert also, daß in Strukturaussagen der ,,kulturelle Faktor nicht isoliert" wird, daß folglich nie mit letzter Gewißheit auszumachen ist, was als Struktureffekt bestimmt werden kann, und was durch die kulturelle Herkunft des Wissenschaftlers zu erklären ist. Hier stößt die Methode des interkulturellen Vergleichs in ein Feld prinzipieller Schwierigkeiten. Sie stellen eine Schranke für die soziologische Forschung dar, die nicht zu lösen ist. "Diese Schwierigkeiten haben zum großen Teil damit zu tun, daß in gewisser Weise der Bezugs-. rahmen für die tatsächliche Integration des Verhaltens einer Mehrzahl von Individuen die einzelne Gesellschaft darstellt und nicht die Menschheit als solche. ( ... ) Das bedeutet, daß im Prinzip menschliches Verhalten immer auch von den einzelnen Gesellschaften her verstanden werden muß. Diese Tatsache hängt damit zusammen, daß menschliches (im Gegensatz zu animalischem) Verhalten immer auch das Ergebnis intellektueller Manipulationen mit gesellschaftlichen Vorstellungen, die als solche gesellschaftsgebunden sind, enger ausgedrückt, der Benutzung einer Sprache ist .. ,. Insofern ist Kultur nicht nur eine bestimmte Abstraktionsebene, sondern auch eine soziale Realität eigener Art, nämlich zum Beispiel die Basis, auf der sich das Gruppenbewußtsein aufbaut, das über die inneren Differenzierungen hinweg einigend wirkt. In diesem Sinne besteht ein Interdependenzverhältnis zwischen der sozialen und der kulturellen Dimension der Wirklichkeit." 60

Obiges Zitat verdeutlicht, daß sich Heintz der äquivoken Verwendung seiner Grundkategorien, hier des Begriffs Kultur, durchaus bewußt ist. Ersichtlich wird das an der Bestimmung des Terms als analytischer Begriff (',Abstraktionsebene") wie auch als konkreter Bestandteil des soziologischen Forschungsgegenstandes ("eine soziale Realität"). In der Redeweise von der ,,Interdependenz zwischen sozialer und kultureller Dimension" schwingt die Dichotomie "Kultur und Gesellschaft" mit, wie sie R. König in vergleichbaren Zusammenhängen benutzt. Des weiteren deutet Heintz die Bedeutung interkultureller Vergleiche an, die dazu dienen, kulturgebundener Elemente allgemeiner Theoreme einsichtig zu werden, mit denen gesellSChaftliche Vorstellungen und Verhaltensweisen intellektuell manipuliert werden. Die ideologie- oder kulturkritische Absicht dieser Methodologie erfordert jenen neutralen Beobachter-Standpunkt, der das eigentliche Ziel einer strukturtheoretischen Perspektive zu sein scheint. Den gleichen Sachverhalt umschreibt R. König mit "Soziologie in weltbürgerlicher Absicht". Mit dieser Ziel vorgabe grenzt sich Heintz einerseits von den integrationstheoretischen Bemühungen des Strukturfunktionalismus ab (implizit wendet er sich gegen Parsons und sein AGIL-Schema). Andererseits läuft er dabei Gefahr, nach dem Modell einer alle kulturellen Eigenheiten verkennenden Ökonomie zu

59

Peter Heintz: Interkultureller Vergleich, 1961, S. 641f.

60

Ebd., S. 644.

A. Zur Genese des Struktur-Kultur-Paradigmas

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verfahren. Zwischen diesen beiden Extremen versucht die Heintzsche Konzeption einen Mittelweg einzuschlagen. Dieser besteht in der "Herausarbeitung allgemein menschlicher Gesetzmäßigkeiten" (Strukturen), die sich als allgemeingültige Theoreme formulieren lassen. Die so verstandene idealsprachliche Tendenz einer strukturtheoretischen Perspektive sieht sich mit dem Problem konfrontiert, daß ihre "Sätze kulturgebundene Elemente enthalten" können. Interkulturelle Vergleiche ermöglichen es, solche ideologischen Relikte zu eliminieren. Einer Soziologie, die sich diese Aufgabe zur Pflicht macht, erwachsen zwei Aufgaben: Sie muß einerseits allgemeingültige theoretische Aussagen über die Realität anstreben und andererseits permanent die Adäquatheit ihrer Methoden überprüfen. Herauszustreichen ist, daß Heintz gleichsam als Prototyp dieses Wissenschaftsverständnisses die Untersuchungen von Claude Uvy-Strauss über die Verwandtschaftsstrukturen erwähnt, also auf einen der Ahnväter des Strukturalismus Bezug nimmt. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Heintz im Aufsatz ,Jnterkultureller Vergleich " seine methodologische Grundkonzeption erörtert. Als Ergebnis möchten wir folgendes hervorheben: 1. Der Terminus "strukturtheoretische Perspektive" bezeichnet die methodologische Vorgehensweise des Autors. Diese Perspektive ist durch die doppelte Abgrenzung zu charakterisieren. Sie wendet sich einerseits gegen strukturdeterministische Theorien, andererseits aber auch gegen relativistisch-konstruktivistische Ansätze. 2. Debattiert wird, wie auf methodisch einwandfreie Weise "Strukturen" festgestellt werden können, wobei unter Strukturen "gesetzmäßige soziale Verhaltensmuster" verstanden werden. Heintz antwortet auf diese Problematik mit einer Abstraktionstheorie . Die Analyseebene von Soziologie und Sozialpsychologie liegt in der Mitte zwischen jenen Disziplinen, welche sich auf die Analyse historischer und kultureller Besonderheiten beschränken und solchen Disziplinen, die formalistisch und ohne ideologiekritische Selbstreflexion überkulturelle und überzeitliche Strukturen zu erklären beabsichtigen. Mit dieser Festlegung distanziert sich Heintz von der Vorstellung, eine allgemeine soziologische Theorie entwickeln zu wollen. Heintz schließt sich dabei seinem Lehrer König an. Auch dessen Soziologiekonzeption bezweckt die ,,Erforschung spezieller, genau definierter sozialer Tatbestände mit Hilfe eines bestimmten Begriffssystems, in Form eines gedanklichen Konstrukts nach den (subjektiven) Relevanzkriterien des Forschers und unter Verwendung der dem speziellen Fach angemessenen multiplen Forschungstechniken im Sinne eines Kompromisses zwischen methodischen Erfordernissen und technischen Möglichkeiten" 61. König wie Heintz betonen die pragmatische Aufgabe der Soziologie.

61

H. Reimann: R. König, in: Internationales Soziologenlexikon Bd. 2, Stuttgart 1984, S. 432.

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3. Aus dieser Traditionszugehörigkeit erklärt sich das Ziel einer nicht-ideologischen aber kritischen Forschungspraxis. Diesen Anspruch will Heintz einlösen, indem er die Forschenden darauf verpflichtet, ihre in normativen Horizonten beheimateten Relevanzkriterien offenzulegen. Im strengen Sinn des Wortes ist Heintz, wie auch sein Lehrer König, nicht einer wertfreien Wissenschaftslehre verpflichtet, sondern einer, die sich ihrer normativen Wertsetzungen bewußt ist und den Einfluß auf den Gang der Analyse und der Ergebnisse zu neutralisieren versteht, die also Wertneutralität intendiert. 4. Aus HeintzensNähe zu R. König erklärt sich seine Einbettung in die Tradition des französischen Positivismus, die von Auguste Comte über E. Durkheim bis zu den Weiterentwicklungen dieses Unterfangens im französischen Strukturalismus eines C. Levy-Strauss reicht, 62 wie andererseits seine explizite Abweisung des kritischen Szientismus eines M. Weber oder der phänomenologischen Schule. 5. Diese Konzeption zeichnet sich andererseits durch das Bedürfnis nach einer formalen" Idealsprache " aus. Auf diesem Wege will Heintz der Gefahr entgehen, in direkte "Abhängigkeit von einer in der Sprache zum Ausdruck kommenden Kultur" zu gelangen. 63 Mit anderen Worten: eine ideale, universale und formale Sprache, die Sprache der Mathematik und Statistik, vermag nach Heintz die kulturelle Eingebundenheit "natürlicher" Sprachs ysteme in einen gesamtkulturellen Zusammenhang zu transzendieren. 6. Mit diesem Argument ficht Heintz nicht nur gegen die obgenannten Traditionen des (materialistischen) Strukturdeterminismus oder gegen den relativistischen Kulturdeterminismus (Weber, Phänomenologie), sondern ebenfalls gegen eine von der Phänomenologie inspirierte Systemtheorie, näherhin gegen Luhmanns Konstruktivismus. Wider dessen pluralistischen Funktionalismus 64 betont Heintz eine transkulturelle Perspektive und - im Geist eines weltoffenen Humanismus stehend - einen Universalismus .

• 2 Die theoretischen Zusammenhänge zwischen Durkheim und der strukturalistischen Schule wurden insbesondere herausgearbeitet von Gerhard Wagner: Emile Durkheim und Ferdinand de Saussure - Einige Bemerkungen zum Problem sozialer Ordnung, in: Zeitschrift für Soziologie, 1(1990), S. 13-25. 63 Dieses Abhängigkeitsverhältnis zeige" ( ... ) sich besonders deutlich in der Renaissance einer auf Max Weber zurückgehenden phänomenologischen Schule". Vgl. Peter Heintz: Artikel "Soziologie", in: C. Müller (Hrsg.): Lexikon der Psychiatrie, Berlin 1973, S. 2 (Ms.). 64 Wir unterscheiden bei Luhmann zwei Theoriephasen: Eine funktional-strukturalistische, in welcher er sich vom parsonianischen Strukturfunktionalismus abgrenzt und eine radikal-konstruktivistische, die in seiner "Theorie sozialer Systeme" ausgeführt wird. Luhmanns Anknüpfung an die Phänomenologie wird insbesondere deutlich in dessen Aufsatz: "Sinn als Grundbegriff der Soziologie", in: Jürgen Habermas & Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt 1971, S. 25-100. Zur Phasierung von Luhmanns Werk vgl.: Friedhelm Scholz: Freiheit als Indifferenz. Alteuropäische Probleme mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns, Frankfurt 1982, S. 55.

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A. Zur Genese des Struktur-Kultur-Paradigmas

c) Sozialer Wandel und Entwicklung Der Problematik sozialen Wandels widmet Heintz sein Interesse in der Einführung zur "Soziologie der Entwicklungsländer" 65. In diesem Aufsatz treffen zwei Fragestellungen aufeinander: 1. Ein zentraler Aspekt dieses Buches ist die Frage nach der Erklärung sozialen Wandels, wobei nicht sozialer Wandel schlechthin (im Sinne von "Veränderun-

gen"), sondern jene Form des Wandels, die als ,,Fortschritt" oder ,,Entwicklung" zu charakterisieren ist, im ];JIicke steht. Heintz geht von der Vorstellung eines demokratischen internationalen Schichtungssystems - dem Weltsystem -, im Sinne eines "selbsttragenden Systems, welches sich in Bewegung befindet" aus. 66 2. Heintz interessieren sodann die methodischen Regeln, gemäß welchen interkulturelle Vergleiche Evidenz über die Richtung von Veränderungen herzustellen vermögen. Ziel des Buches ist demnach die Verknüpfung des theoretischen Ansatzes (Generalisierung von Ogburn) mit der interkulturell vergleichenden Methodologie.

Heintz beginnt seine Argumentation mit der Feststellung, daß man hinsichtlich des Bestrebens einer wissenschaftlichen Erklärung von ,,Entwicklung" nicht umhinkomme, teils auf normative Begriffe (i. e. S. politische, wie etwa den Begriff der ,,Emanzipation"), teils aber auch auf wirtschaftliche und soziale Sachverhalte zu rekurrieren. Dieser doppelte Rekurs auf ein globales System, welches sowohl durch Sinnstrukturen wie auch durch "faktische" Strukturen präformiert ist, nimmt die oben ausgeführte Unterscheidung von materieller und immaterieller Kultur auf (vgl. G. Simmel oder W. F. Ogbum). Explizit verwahrt sich Heintz gegen jeden Versuch eines einseitigen Rekurses auf einen der beiden Pole. Mit anderen Worten: Die Erklärungsstrategie von Heintz will sowohl eine kulturdeterministische wie auch eine strukturdeterministische Engführung vermeiden. Nimmt erstere bestimmte Wertvorstellungen und politische Einstellungen zur Grundlage, dann führt dies in die Sackgasse eines Relativismus. Umgekehrt läuft die strukturdeterministische Position Gefahr, den ,,faktischen", materialen Entwicklungs- und Organisationsstand einer Gesellschaft zum theoretischen Fundament zu küren. Heintz postuliert deswegen eine Interdependenz beider Sichtweisen.

65 Peter Heintz: Soziologie der Entwicklungsländer. Eine systematische Anthologie: Einführung, Köln, Berlin 1962, S. 9-44. 66 Heintz unterstellt die Grundwerte Demokratie, humanistischer Universalismus als Prämissen. Es ist darauf hinzuweisen, daß die daraus resultierende Vorstellung einer WeltgeseIlschaft, die aus sozietalen Systemen komponiert ist, der Vorstellung von Luhmann grundsätzlich :ruwiderläuft. Die Weltgesellschaft ist letztlich ein System ohne Umwelt. Luhmann indes unterstellt eine Pluralität von Systemen, die, aus System-Umwelt-Differenzen bestehend, in je besonderen Sinnstrukturen fundiert sind. Die Heintzschen Prämissen sind letztlich Ursache dafür, sich in der daran anschließenden Forschung auf die Funktionsweise dieses Systems zu konzentrieren und die Fundierung des Weltsystems in einer soziologischen Grundkategorie (z. B.: ,,handeln", ,,sinn") auszublenden. Evidente Aussagen über das Funktionieren des Weltsystems oder seiner Teilsysteme (sozietale Systeme) werden als "Strukturen" bezeichnet.

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Beide Aspekte, nämlich der politische und der wirtschaftlich-soziale, sind in Wirklichkeit eng miteinander verknüpft. 67

Beide soziologischen Paradigmen, jenes, welches von Kultur auf Struktur schließt, wie auch jenes, das von Struktur auf Kultur schließt, sind Ausdruck dafür, daß sowohl die Art der Verknüpjung von Systemeinheiten (beispielsweise die faktische "Struktur der Beziehungen zwischen hochentwickelten und unterentwickelten Gesellschaften"), als auch die Art der Deutung dieser Struktur (etwa der Tatbestand, daß die Thematik der ,,Entwicklung" sowohl in den Entwicklungsländern wie in den entwickelten Staaten zu einem "gesellschaftlich anerkannten Problem" geworden ist) soziologisch relevant sind. Heintz analysiert diese doppelte Determinierung in Termini von Relationen, die optimalerweise in einem Gleichgewicht stehen. Abweichungen vom als Ideal unterstellten Gleichgewichtszustand sind der Motor für sozialen Wandel. Beispielhaft kann das am Begriff der Unterentwicklung erläutert werden. Heintz sagt, daß Unterentwicklung ,,( ... ) zu einem Problem geworden (ist) und zwar als Folge eines strukturellen Wandels, der dem Bewußtsein vorausging. Ja, man kann sogar von einem deutlichen Nachhinken dieses Bewußtseins hinter dem Wandel der objektiven Tatsachen sprechen, und zwar gilt das sowohl für das eine als auch für das andere Ende auf der Skala der wirtschaftlichen Entwicklung." 6.

Das Ogburnsche Theorem des "culturallag", das Nachhinken des strukturellen gegenüber dem kulturellen Wandel (Bewußtsein), wird somit als Schablone beigezogen, um die Problematik einer universalen Schichtung zu erklären. Unterentwicklung ist somit ein dreifaches Problem. Es ist ein Problem objektiver Ungleichheiten in der soziostrukturellen Organisation einer Gesellschaft (1), ferner ein Problem der Wahrnehmung, der Deutung oder kollektiven Defmition dieser Disparitäten (2) und sodann ein Problem des Verhältnisses von Sozialstruktur und Deutung (3). 69 Trotz dieser Verbindung von struktur- und kulturdeterministischem Paradigma postuliert Heintz einen Vorrang der strukturellen Dimension vor der kulturellen. Das zeigt sich darin, daß seine Soziologie der Entwicklungsländer mit der Erforschung eines allgemeinen Schichtungssystems einsetzt, das es mittels interkultureller Vergleiche zu erklären gelte. Er geht von der Annahme aus: "daß es soziologische Gesetzmäßigkeiten gibt, deren Gültigkeit von den abstrakt definierten Beziehungen abhängt, die wir als Unterentwicklung bezeichnen". 70

Ziel dieses Unterfangens ist die ,,Formalisierung von Systemen von Hypothesen ( ... ), die gerade die Verbindung zur konkreten Sozialstruktur herzustellen Peter Heintz: Soziologie der Entwicklungsländer, 1962, S. 9. 6. Ebd., S. 9f. 69 Diese doppelte Determination sozialer Tatsachen durch ,,sozialstrukturelle" und "kulturelle" Faktoren und deren Interdependenzist selbstredend keine neue These. Siefindet sich insbesondere auch bei Max Weber, was sich beispielsweise an seiner Bestimmung der Stände und Klassen verdeutlichen läßt. Vgl.MtU Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972(5. Auflage),S. 177-180. Vgl. auch: Karl-Siegbert Rehberg: Kultur versus Gesellschaft?, in: Friedhelm Neidhardt; Rainer M. Lepsius & Johannes Weiss (Hrsg): Kultur und Gesellschaft, 1986, S. 100. 70 Peter Heintz: Soziologie der Entwicklungsländer, 1962, S. 13. 67

3 Fux

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haben". Solche formalen Strukturen betitelt Heintz auch als "soziologische Dimension". Die soziologische Dimension besteht "de facto aus der Gesamtheit der ( ... ) sozialen Mechanismen" 71, die entweder mittels statischen oder dynamischen Forschungsansätzen untersucht werden können. Statische Analysen untersuchen "Strukturen und Korrelationen zwischen Strukturen" 72 und verkennen die Eingebundenheit des Soziologen in bestimmte historische Situationen. Heintz präferiert folglich dynamische Ansätze 73, ohne indes eine soziologische Erklärung der Kategorien ,,zeit" und"Wandel" zu leisten. Der Grund liegt im Bestreben, keine "grand theory", sondern eine "Theoriemittlerer Reichweite" zu entwickeln. Ein weiteres Problem besteht darin, daß der Begriff Struktur äquivok verwendet wird. Struktur bezeichnet einmal die "Sozialstruktur" einer Gesellschaft, zum anderen aber auch einen formalen soziologischen Zusammenhang, also ein idealsprachlich formuliertes Deutungsmuster einer soziologischen Gesetzmäßigkeit. Die zweite Bedeutung entspricht weitgehend dem Durkheimschen Begriff des "fait social", der sozialen Tatsache. Wohl um diese Äquivokation zu vermeiden bezeichnet R. König die soziologischen Grunddimensionen mit dem Begriffspaar: Struktur und Gesellschaft und nicht als Struktur und Kultur. Diese Doppeldeutigkeit des Strukturbegriffs wird nicht hinreichend aufgeklärt. Sein Interesse gilt der Thematik sozialen Wandels, welche er aus labilen Balance-VerhLiltnissen innerhalb der strukturellen, innerhalb der kulturellen oder

zwischen der strukturellen und kulturellen Dimension zu erklären trachtet. Mit der Einführung des Begriffspaares ,Macht und Prestige" schreitet Heintz weiter auf dem Pfad der Generalisierung des Ogbumscben Ansatzes. Die Theorie "struktureller und anomischer Spannungen" kann als Endpunkt dieses Ansatzes gedeutet werden. Anhand dreier Arbeiten, der ,,Einführung in die soziologische Theorie" 74, die 1968 in zweiter und erweiterter Form erschienen ist, anband des Buches: ,,Ein soziologisches Paradigma der Entwicklung mit besonderer Berücksichtigung Lateinamerikas" 75, sowie anband seiner Ausführungen in: ,,A Macrosociological Theory of Societal Systems with Special Reference to the International System" 76 läßt sich diese theoretische Weiterentwicklung rekonstruieren.

71

Ebd.

n Ebd., S. 1Sf. 73 Heintz skizziert als dynamisches Modell zur Erklärung der Entwicklungsdynamik die Vorstellung eines "selbsttragenden Systems", welches sich in einer "spiralförmigen" Bewegung befindet. Seine Vorstellung eines selbsttragenden Systems muß grundsätzlich von der Luhmannschen Vorstellung "selbstreferentieller Systeme" unterschieden werden. Dient die Luhmannsche Begrifflichkeit zur Erklärung dafür, wie sich soziale Systeme als Einheit erst konstituieren (vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, 1984, S. 61f.), wird von Heintz lediglich die Art sozialer Prozesse näher bestimmt. So setzt er die spiralförmige Bewegung explizit mit wirtschaftlicher Entwicklung gleich. 74 Peter Heintz: Einführung in die soziologische Theorie, Enke-Ver1ag, Stuttgart 1962',1968'. 7S Peter Heintz: Ein soziologisches Paradigma der Entwicklung mit besonderer Berücksichtigung Lateinamerikas, Stuttgart 1969. 76 Peter Heintz (Hrsg.): A Macrosociological Theory ofSocietal Systems, 1972. Vgl. insbesondere die Aufsätze: "Theory of Societal Systems" sowie, "Structural and Anomic Tensions".

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Um unsere Hypothese untermauern zu können, wonach sich der Heintzsehe Ansatz als Generalisierung von William F. Ogburns Theorie des "social change" verstehen läßt, besinnen wir uns zunächst auf die erwähnte "idealsprachliche Tendenz". Sie läßt sich anhand der Heintzsehen ,,Einführung in die Soziologie" illustrieren. Über die meisten Gegenstände, zu denen sich auch die Soziologie äussert, existieren Alltags-Vorstellungen. Heintz nennt solche vorwissenschaftliehen Deutungen "gesellschaftliche (nicht soziologische) Vorstellungen" 77. Sie dienen dem Einzelnen, sich in seinem Umfeld zu orientieren. "Als Soziologen dürfen wir nun nicht einfach annehmen, daß derartige gesellschaftlichen Vorstellungen die tatsächlichen Merkmale menschlicher Gruppen und sozialer Kategorien wiedergeben. ( ... ) Und doch sind solche vorgefaßten Meinungen legitimer Gegenstand soziologischer Untersuchungen; allerdings nicht nur sie, sondern auch die realen Erscheinungen, auf die sie sich beziehen und von denen sie in höherem oder geringerem Masse abweichen mögen." 78

Es wird eine Analogie zwischen Alltagsvorstellungen und wissenschaftlichen Vorstellungen einerseits, und den Bereichen Kultur (im Sinne eines ideellen Überbaus) und Struktur (im Sinne der materialen sozialen Tatsachen) andererseits postuliert. Soziologie wird verstanden als empirische Einzelwissenschaft, "die nach den allgemeinen Strukturen des gesellschaftlichen Lebens sucht, und zwar unabhängig davon, ob diese Strukturen im gesellschaftlichen Bewußtsein einen Reflex finden oder nicht". Ziel dieses Soziologieverständnisses ist folglich die Ergründung eines "idealen" S tandortesjenseits opponierender Alltagsvorstellungen. Dessen Entwicklung im Forschungsprozeß bezeichnen wir als idealsprachliche Tendenz, welche die Soziologie mit anderen nomologischen Wissenschaften teilt. Übersetzt man die Gegenüberstellung zweier Bereiche in die Terminologie von Ogburn, so bezeichnen die"objektiven", relativ stabilen Strukturen einerseits und Vorstellungen andererseits denselben Sachverhalt wie Ogburns Gegenüberstellung von ,,materieller und adaptativer (immaterieller) Kultur". Der ideale Standort, der auf diese Weise angesteuert wird, wäre jener, von wo aus sich das permanente Nachhinken der immateriellen Kultur fassen ließe. Wie oben ausgeführt, relativiert Heintz einerseits diese These Ogburns insofern, als Heintz einen cultural-Iag nur in bestimmten historischen Phasen als gegeben erachtet. Andererseits generalisiert er dieses Theorem mit seiner Theorie labiler Gleichgewichte, die optimalerweise in einen Balancezustand einpegeln können (',Norm der Zeitgerechtigkeit"). Dieser Standort strebt als Ziel wissenschaftlichen Schaffens eine "nicht-ideologische" Ebene an, eine Ebene, von der aus die im Widerstreit befindlichen Ideologien einer historischen Phase durchstoßen werden können. Aus dem Wissen um "Strukturen" lassen sich gesicherte Aussagen darüber machen, auf welchen Pfaden Entwicklungen verlaufen müßten, damit ein Gleichgewicht zwischen antagonistischen sozialen Mechanismen hergestellt werden kann. 79 Heintz erwägt hier zwar die Hypothese, wonach die soziale Realität tendentiell in Richtung einer Gesellschaft von Individuen zerbröckelt. Doch hält er dieser die Alternative eines Peter Heintz, Peter: Einführung in die soziologische Theorie, 1968, S. 2. Ebd., S. 3. 79 Ebd., S. 6-10. 77 78

3*

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"Welt-S taates" entgegen. Heintz theoretisiert diese Nonn der Zeitgerechtigkeitals eine Fiktion, die sich zwar analytisch bestimmen, indes nie empirisch realisieren läßt. Es handelt sich dabei um den idealen Nullpunkt in Abb. 2. Heintz legt großes Gewicht auf die ideale Eigenart oder die empirische Unerreichbarkeit dieses Standortes in der Realität. 80 In der zweiten Phase seines theoretischen und empirischen Schaffens, die mit dem Projekt einer Code-Theorie umrissen werden kann, versucht Heintz die Prozeßlogik des Abweichens von diesem idealen Gleichgewicht theoretisch zu ergründen. 81 Mit dem Theoremfiktiver Gleichgewichte zwischen den Bereichen der materiellen und immateriellen Kultur hat Heintz ein Grundmodell gewonnen, das in der Folge verfeinert und auf seine Tauglichkeit für die empirische Forschungspraxis untersucht wird. 82 Bewertung (Prestige) hoch

Machtdefizit

Machtüberschuß

Bewertung (Prestige) tief

Abb. 2: Heintz: Modell von Macht und Prestige Zur Bezeichnung der basalen sozialen Mechanismen, welche Veränderungen in faktischen Ungleichgewichten verursachen, benutzt Heintz das Begriffspaar Macht 80 Ebd., S. 9; S.l6 und passim. Dieser Sachverhalt wird es uns erlauben, den Begriff der "Fiktion" für makrokulturelle Orientierungen einzuführen. 81 Dies wird das Thema des folgenden Abschnittes sein. 82 Peter Heintz: Paradigma der Entwicklung, 1969, S. 23.

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und Prestige. Diese operativen Begriffe lassen sich sowohl auf mikrosoziologischer (individuelle Akteure) wie auch auf makrosoziologischer Ebene (Systeme) anwenden. 83 Heintz ordnet Macht der materiellen Kultur zu, während das Konzept des Prestiges mit der immateriellen Kultur, also den Werten und Normen korrespondiert. Er beerbt mit diesem Begriffspaar M. Weber 84, vor allem aber die amerikanische Soziologie seiner Zeit. Der Prestige-Begriff, wie er in der angelsächsischen Soziologie verwendet wird, hängt fundamental mit dem Hobbesianischen Problem der Ordnung zusammen, also mit der Frage: Wieweit läßt das soziale System (der "totale" Staat) dem Einzelindividuum überhaupt einen Handlungsspielraum offen? 85 Der Begriff verweist zunächst auf autonome Handlungsorientierungen von Individuen, die sich in subjektiven Eindrücken, Meinungen, Wertungen etc. kristallisieren. Prestige verweist aber auch auf die sozialen Strukturbedingungen des Systems, insbesondere auf die Legitimität von Machtstrukturen . Die oben kritisierte Unentschiedenheit, Macht und Prestige entweder als separierbare oder aber als wechselseitig aufeinanderbezogene Dimensionen zu theoretisieren, verweist auf den dilemmatischen Charakter des Hobbesianischen Ordnungs problems. T. Parsons generalisiert 86 das zum ,,Dilemma des Utilitarismus" 87. Seine Lösung stellt explizit sowohl die objektiven Bedingungen und Zweck-Mittel-Relationen des Handeins, wie auch dessen normative Eigenständigkeit und Freiheit in Rechnung. Daraus resultiert Parsons Forderung nach einem Konzept einer kollektiven Ordnung für soziales Handeln. Sie führt ihn zur Unterscheidung einer faktischen Ordnung und einer normativen Ordnung. In der Terminologie von Peter Heintz tritt diese Unterscheidung in den beiden Grundbegriffen Macht und Prestige zutage. Das Begriffspaar eignet sich aus folgender Erwägung dazu, "ein Licht auf die Prinzipien der sozialen Struktur zu werfen": "Wenn die Verteilung von Macht mit der Verteilung von Prestige zusammenfällt, so können wir vermuten, daß diese Aspekte der sozialen Struktur relativ fest sind, mit andern Worten, als konsolidiert erscheinen." .. 83 Ebd., S 21f. 84Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 1980, S. 16,24, 142, 146, 154, 168,206,301,453, 520,530, 577f., 582, 586, 618, 621, 623,647,674,677,682. Anders als bei Heintzist das Begriffspaar Macht und Prestige bei Weber nicht eine polare Gegenüberstellung zweier grundlegender sozialer Dimensionen ("Alle Macht politischer Gebilde trägt in sich eine spezifische Dynamik: sie kann die Basis für eine spezifische "Prestige"-Prätentionihrer Angehörigen werden, welche ihr Verhalten nach außen beeinflußt." Wirtschaft und Gesellschaft, S. 520). Sie sind untereinander fundamental verquickt (',Kultur-Prestige und Macht-Prestige sind eng verbündet. Jeder siegreiche Krieg fördert das KulturPrestige (... ). Ob er der Kulturentwicklung zu gute kommt, ist eine andere, nicht mehr "wertfrei" zu lösende Frage." (Anmerkung 3, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 530». Das Verhältnis von Macht und Prestige bei Weber weist auf die Thematik der Legitimität der sozialen Ordnung. 8'Thomas Hobbes: Leviathan, Kapitel 13, 14 und 17. Vgl. dazu sekundär: Desmond P. Ellis: The Hobbesian Problem of Order: A Critical Appraisal to the Normative Solution, American Sociological Review, Vol. 36 (1971), S. 692-703. 8'Vgl. dazu Bemd Wegener: Kritik des Prestiges, Opladen 1988, S. 22. 87 Talcott Parsons: The structure of social action. New York 1937. 88 Peter Heintz: Einführung indiesoziol. Theorie, 1968, S. 25. Unser Begriff der "Sättigung" nimmt diesen Gedanken auf.

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Mit dem Auseinanderdriften oder Konvergieren von Prestige und Macht in irgendeinem Zeitraum und einem beliebigen Ausschnitt der sozialen Realität lassen sich nun Prozesse sozialen Wandels erklären. Weil Macht und Prestige indes nie vollständig zur Deckung gelangen können, bleibt somit eine Differenz. Diese ist der Motor für soziale Veränderungen. In der empirischen Wirklichkeit herrschen ungleiche Verteilungen von Macht und Prestige. Die ungleiche Verteilung von Macht manifestiert sich als Schichtung der Gesellschaft. Wenn die Schichtung normativ als "ungerecht" beurteilt wird, gilt die Machtverteilung als nicht legitimiert. Schichtung wie die Bewertung derselben bilden die Ursache von Spannungen. Diesen wendet Heintz in der Folge sein Augenmerk zu und entwickelt eine Theorie sozialer Spannungen. Weil sich die Konzepte Macht und Prestige für empirische Zwecke als zu abstrakt herausstellen, setzt Heintz im Rückgriff auf die Chicago-Schule der Soziologie bei den Begriffen der Rolle und des Status an. Jeder Akteur hat teil an der materiellen Kultur. Die Art dieser Teilhabe bestimmt seine strukturelle Position. Diese Teilhabe an der materiellen Kultur operationalisiert Heintz mit dem Begriff des Status. 89 Ein Akteur oder ein Teilsystem kann auf verschiedenen Rangdimensionen ("Statuslinien") unterschiedliche Positionen einnehmen. Diese Statuskonjiguration bestimmt seinen Ort auf der vertikalen, hierarchischen oder Machtdimension. Macht wird verstanden "als Einfluß eines Akteurs auf das Verhalten eines anderen, d. h. eine gerichtete Determination von Verhalten im Verhältnis zwischen Akteuren" 90 wobei Machtquellen der Besitz von Gütern oder Unterschiede im Prestige sein können. Die horizontale Dimension wird als soziale Differenzierung theoretisiert. Die Art der Teilhabe an der materiellen Kultur wird über Rollen geregelt und bewertet. Rollen sind gleichbedeutend mit Normen, sind also Bündel sozialer Erwartungen. Urteile über den Wert einer bestimmten Position nun können rein subjektiv oder sozial determiniert sein. In beiden Fällen führen Bewertungen dazu, daß dem Status ein bestimmtes Prestige zugeschrieben wird. Heintz unterscheidet zwischen dem persönlichen Prestige (z. B. Charisma, esteem) und dem sozialen (über Normen gesteuerten) sozialen Prestige. Prestige drückt sich in der Interaktion zwischen mehreren Akteuren als legitimierte Macht aus. Messen läßt sich Prestige über die Rollenkonjigurationen, welche durch die Teilhabe eines Akteurs an sozialen Normen und Werten definiert sind. Vergleicht man die Relation von Macht und Prestige, dann lassen sich Abweichungen vom ausbalancierten Zustand als Machtüberschuß und Machtdejizit, respektive als Prestigeüberschuß und Prestigedejizit bezeichnen .

• 9 Status ist ursprünglich die Übersetzung des Max Weberschen Begriffes des "Standes". Seit Linton meint Status aber den relativen Ort einer Person in einem eingrenzbaren sozialen Kontext, aus dem sich bestimmte Rollenerwartungen ergeben (vgl. Ralph linton: The Study of Man, New York, London 1936). 90

Peter Heintz: Prestige und Macht, in: C. Müller (Hrsg.): Lexikon der Psychiatrie, 1973.

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Mit den Grunddimensionen Macht und Prestige sind zwar zwei soziologische Grunddimensionen gefunden. Problematisch ist aber, daß diese zwar analytisch trennbar aber nicht auf zufriedenstellende Weise operationalisierbar zu sein scheinen. 91 Problematisch ist ferner, daß das Verhältnis von Mikro- und Makroebene bezüglich dieser soziologischen Grunddimensionen nicht weiter erörtert wird. So verzichtet Heintz darauf, diese Grunddimensionen, respektive Rollen und Status, auf grundlegendere Kategorien wie Bedürfnisse, Wünsche, Interessen, Einstellungen, Orientierungen oder Handlungen und Verhaltensmuster zurückzuführen. Der Weg, den Heintz einschlägt, ist ein rein makrosoziologischer. Mit seiner "Theorie struktureller und anomischer Spannungen" schlägt er gleichwohl eine Typologie vor, die sich forschungs pragmatisch als brauchbar erwiesen hat. Ungleichgewichte zwischen verschiedenen Elementen einer sozialen Struktur werden als Spannungen bezeichnet. Ungleichheiten zwischen Macht und Prestige heißen strukturelle Spannungen, während Ungleichgewichte zwischen dem Anspruch auf zentrale soziale Werte und den normativ geregelten tatsächlichen Möglichkeiten des Zugangs zu Werten anomische Spannungen genannt werden. 92 Abb. 3 gibt die Quintessenz dieser Typologie in geraffter Weise wieder. Die Typologie geht von zwei voneinander unabhängigen Ordnungsprinzipien aus, nämlich 1. der differentiellen Verteilung von Macht und Prestige und 2. der

soziale Spannungen (Ungleichgewichte zw. soziostrukturellen Elementen (Individuen, Gruppen u. a.)

strukturelle Spannung (Differenz zwischen Macht und Prestige innerhalb einer Struktur)

1. Einfache Rangspannung

anomische Spannung (Ungleichgewicht zw. Anspruch auf und Zugang zu zentralen Werten beim Akteur)

1. Individuelle Anomie

(Ungleichgewicht zw. Macht und Prestige verschiedener Einheiten auf einer Statuslinie )

(Wenig strukturierte Vorstellungen über mögliche Lösung der Spannung)

2. Ungleichgewichtsspannung

2. Kollektive Anomie

(Ungleiche Position einer Einheit auf verschiedenen Statuslinien)

3. Unvollständigkeitsspannung (Unvollständige Statuskonfiguration)

(klar strukturierte Vorstellung über mögliche Lösungen innerhalb des Wertsystems)

3. Leftismus (klar strukturierte Vorstellung über mögliche Lösungen außerhalb des Wertsystems)

4. Interinstitutionelle Anomie (Transformation der Spannung auf Ebene der Institutionen)

Abb. 3: Typologie der strukturellen und anomischen Spannungen 93 9' Hans-Joachim HofJmann-Nowotny: Migration, 1970, S. 24. 92Vgl. zum Begriff der Anomie: Robert K. Merton: Social Theory and Social Structure. 93Vgl. Peter Heintz: Einführung in die soziologische Theorie 1968, Kapitel 14, S. 280-299; ders.: Structural and Anomic Tensions, in: ders. (Hrsg.): A Macrosociological Theory of Societal Systems, 1972, S. 140-148, sowie Hans-Joachim HofJmann-Nowotny: Migration, 1970, S. 26f.

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Tendenz zum Ausgleich von Macht und Prestige. Die Grundbypothese lautet in der Folge, daß strukturelle Spannungen anomische Spannungen erzeugen. Strukturelle Spannungen (Machtverhältnisse) erweisen sich somit als Determinante für anomische Spannungen, sie können aber auch Veränderungen von Wertorientierung bewirken oder zu Gewichtsverlagerungen zwischen Systemen oder zur Aufgabe von Statuspositionen führen. Weil gemäß Heintz die Weltgesellschaft aus konzentrischen Kreisen aufgebaut ist, können die einzelnen sozietalen Systeme untereinander interagieren und ibre Spannungen austauschen. Solche Transformationen von Spannungen zwischen Systemebenen können interinstitutionelle Anomie hervorrufen, wobei sich u. U. die Gesamtspannung erhöht. Heintz postuliert, daß die Induktion anomischer Spannungen von außen nach innen erfolgt und sich bei Machtdefiziten zentripetal, bei Machtüberschüssen zentrifugal im induzierten System ausbreitet. Auch bei Verhaltensweisen, die durch anomische Spannungen verursacht werden, gilt es zwischen Machtdefiziten und Machtüberschüssen zu unterscheiden. So können Akteure entweder Ansprüche nach außen geltend machen oder sie können der Spannung ausweichen. d) Zusammenfassung In diesem Abschnitt haben wir den ersten Schritt der Genese des "StrukturKultur-Paradigmas" zu rekonstruieren versucht. Ausgangspunkt waren die Arbeiten von Peter Heintz bis 1972. Es handelt sich um jene Phase, die mit der "Theorie sozietaler Systeme" und der "Theorie struktureller und anomischer Spannungen" ihren Abschluß gefunden hat: 1. Unsere Hypothese lautete, daß sich die Heintzschen Arbeiten als Generalisierungsversuchdes Theorems von Ogburn, wonach die ,,adaptiveculture" hinter der materiellen Kultur nachhinkt, deuten lassen. Mit der Herleitung der Grunddimensionen Macht und Prestige hat Heintz einen analytischen Rahmen entwickelt, der hierzu in der Lage ist. Von der abstrakten ,,Norm der Zeitgerechtigkeit" aus läßt sich das Verhältnis von Macht und Prestige durchaus mit dem Verhältnis von materieller und adaptiver Kultur parallelisieren. Der Heintzsche Ansatz geht aber insofern über Ogburn hinaus, als er mit seinem Konzept der "sozialen Spannung" und insbesondere mit seiner "Theorie struktureller und anomischer Spannungen" eine Gleichgewichtstheorie vorschlägt, die für empirische Zwecke ein durchaus operationales Instrument darstellt. Diese Theorie ist in der Lage, Prozesse sozialen Wandels durch das komplexe Wechselspiel von Machtverhältnissen und deren Bewertung (Prestige, Legitimation) zu erklären. 2. Mit der Vorstellung eines aus konzentrischen Kreisen aufgebauten Weltsystems geht Peter Heintz von einer makro soziologischen Prämisse aus, welche zur Entwicklung von ,,middle range theories" hinreichend elaboriert erscheint. Er verzichtet aber darauf, die beiden Systemebenen zu verknüpfen. Eine Fundierung des Konzepts der Spannungen in fundamentaleren soziologischen Kategorien wie Handeln oder Sinn sucht man vergebens. Hier wird später Hoffmann-Nowotny

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ansetzen und eine präzisere FOlTIlUlierung des "Struktur-Kultur-Paradigmas" vorschlagen. 3. Wir stellten in den erörterten Arbeiten terminologische Ungereimtheiten (Äquivokationen) fest. Das betrifft die Termini "Struktur" und ,,Kultur" ebenso wie die Macht-Prestige-Relation, die sowohl als Interdependenzverhältnis wie auch machttheoretisch (Primat der Macht) ausgelegt wird. Auch die doppelte Verwendung des "Struktur"-Begriffes im Sinne eines operationalen (relativ konstante soziale "Gesetzmäßigkeit") respektive eines inhaltlichen Terminus (komplexer Handlungszusammenhang, z. B. Sozialstruktur) vermag nicht vollauf zu überzeugen. Weiter wird "Kultur" äquivok verwendet. Der Begriff meint sowohl die dynamischen Aspekte von Handlungen (colere = bebauen, pflegen, verehren) als auch komplexe Handlungssysteme (',Kulturen"). 94 4. Hinzuweisen ist auch auf eine theoretische Implikation jenes Ordnungsprinzips, wonach die differentielle Verteilung von Macht und Prestige in Richtung eines Ausgleichs oder eines Balance-Zustandes tendiert. 95 Mit der Annahme dieses Prinzips handelt sich Heintz einen ,,Fortschritts-Optimismus" ein, den wir im Rahmen unserer Untersuchung kritisch zu revidieren beabsichtigen. Dieser ist eine Konsequenz der Vorstellung von der sozialen Realität als einem konzentrisch konzipierten System, dem System sozietaler Systeme oder der Weltgesellschaft. Heintz reduziert sozialen Wandel letztlich auf ,,Fortschritt", 96 auf lineare, allenfalls beschleunigte, retardierte oder zyklisch verlaufende Veränderung. Zur Erklärung so verstandenen Wandels wird die Allgemeingültigkeit einer Norm, jener der ,,Zeitgerechtigkeit"unterstellt. Mit anderen Worten: Wird die bislang diskutierte Konzeption als allgemeine Theorie verstanden, dann vermag sie unterschiedliche Formen sozialen Wandels nicht hinreichend zu erklären. Wir meinen, daß wenigstens zwischen sozialem Wandel, der als Fortschritt bezeichnet werden kann, und bruchartig verlaufenden Transformationen unterschieden werden muß. Denn gerade dann, wenn sich die Heintzsche Theorie als ein soziologisches Paradigma versteht, das sozialen Wandel schlechthin zu erklären trachtet, gerät sie in den Verdacht, selber bloß eine historisch relative Theorie und Ausdruck jenes Fortschrittsoptimismus zu sein, welcher das soziologische Denken der Nachkriegszeit bis in die 70er Jahre hinein geprägt hat. Insbesondere die neueren Entwicklungen der soziologischen Systemtheorie haben aber diese Vorstellung mittels der Theorie autopoietischer, d. h. sich selbstreferenziell herstellender Systeme mit unterschiedlichen Systemmittelpunkten und unterschiedlichen normativen Zentren gründlich in Frage gestellt. Selbst wenn die völlige Destruktion eines allen Systemebenen (sozietalen Systemen) und Akteuren gemeinsamen

'4 Die Vermischung von Bedeutungsinhaiten zentraler Kategorien bemängelt auch Luhmann: "Mich würde eine schärfere Differenzierung von Evolution und Planung, Strukturentwicklung und Entscheidung, Gesellschaftssystem und Organisationssystem eher überzeugen. (... ) Heintz unterscheidet und verwendet mehrere Beschreibungsebenen, deren Auswahl nicht begründet wird." (Niklas Luhmann: P. Heintz: Die Weitgesellschaft im Spiegel von Ereignissen, in: KZfSS, 36. Jg., 1(1984), S. 150 . • 5 Peter Heintz: Einführung in die soziologische Theorie, 1968, S. 280. • 6 Peter Heintz: A Macrosociological Theory of Societal Systems, Bd. 1, 1972, S. 134f.

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Wertes, wie etwa bei Luhmann, nicht zwingend übernommen werden muß, gilt es doch, den Heintzschen Fortschrittsoptimismus zu hinterfragen. Versucht man einen Mittelweg zwischen einem konzentrisch aufgebauten Sozialsystem (im Heintzschen Verständnis) und dem bloßen Nebeneinander sozialer Systeme (im Luhmannschen Sinne) zu skizzieren, so wird damit selbstredend auch die Vorstellung einer "Weltgesellschaft" als begriffliche Konzeption tangiert. Zu erwähnen ist, daß Heintz in der zweiten Phase seiner Theoriebildung, der Entwicklung einer "Code-Theorie", in diese Richtung weiterarbeitete.

2. Vorarbeiten zu einer Code-Theorie zur endogenen Erklärung sozialen Wandels

Ab 1974 beginnt eine neue Phase im Schaffen von Peter Heintz. Sie kann durch das Bestreben des Autors charakterisiert werden, die makrosoziologische Gleichgewichtstheorie einerseits systematisch aus einer "höchst einfachen Vorstellung" zu entwickeln, "nämlich aus der Vorstellung der Verteilungs- und davon abgeleitet der Austauschgerechtigkeit" 97. Andererseits versuchen seine Arbeiten, die strukturtheoretische Analyse zu dynamisieren. Näherhin zielt das Unternehmen darauf ab, die Austausch- und Verteilungsprozesse als makrosoziologische Lernvorgänge zu rekonstruieren. Diese Prozesse werden durch die sukzessive Anwendung eines "sich wandelnden Codes ausgelöst und vorangetrieben". Weil der Code-Begriff in dieser Phase der Heintzschen Theoriebildung zentrale Bedeutung erlangt, fassen wir diesen Ausbauschritt unter den Titel: "Code-Theorie zur endogenen Erklärung sozialen Wandels". Die Arbeiten, welche in diesem Forschungszusammenhang entstanden, zeichnen sich durch ihren Einbezug vielfältigster empirischer Studien aus, die Heintz zu fonnalisieren und theoretisch zu integrieren versucht und auf die hier selbstredend nicht im Detail einzugehen ist. Die Code-Theorie geht von der These aus, daß es ein globales System, die "Weltgesellschaft" gibt, daß dieses abernicht über zureichende Mittel verfügt, sich selbst zu beschreiben. Der soziologische Auftrag bestünde gerade in der Verringerung dieses Selbstbeschreibungsdefizites, indem die relevanten Codes zur Erfassung, Beobachtung und Beschreibung der Weltgesellschaft dargestellt werden. 98 Obwohl sich Heintz bis zu seinem Lebensende 99 konsequent diesem Anliegen verschrieben hat, liegt lediglich ein fragmentarischer Grundriss seiner Code-Theorie vor. Im folgenden Abschnitt stützen wir uns auf folgende Werke von Peter Heintz: "Code für Infonnation über die Sozialstruktur der Welt" 100, "Die Weltgesellschaft im Spiegel von Ereignissen" 101, den Band "Ungleiche Vertei97 Peter Heintz: Ungleiche Verteilung, Macht und Legitimität. Möglichkeiten und Grenzen der strukturtheoretischen Analyse. Rüegger, Diessenhofen 1982, S. 5. 9. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, 1984, S. 149. 99 Peter Heintz verschied 1983. 100 Peter Heintz: Code für Information über die Sozialstruktur der Welt, in: Schweizerisches Jahrbuch für Politische Wissenschaft, Haupt, Bem 1974, S. 25-41. 101 Peter Heintz: Die Weitgesellschaft im Spiegel von Ereignissen, Rüegger, Diessenhofen 1982.

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lung, Macht und Legitimität. Möglichkeiten und Grenzen der strukturtheoretischen Analyse" 102, sowie den Aufsatz: ,,A Sociological Code for the Description of World Society and its Change" 103. Diese Texte integrierern eine Vielzahl empirischer Studien, die Mitarbeiter von Heintz am Soziologischen Instituts der Universität Zürich verfaßt haben. Unter diesen gilt es drei herauszustreichen, die für die Entwicklung der Code-Theorie von Belang sind, nämlich ,,A Code Theory. A Preliminary Report of a Pilot-Study on Individual Codes" 104, sowie die Dissertationen von Guido Hischier lOS und Walter Schöni 106, die beide erst nach dem Tod von Peter Heintz vollendet wurden. Die zentrale Problematik einer Code-Theorie exponiert Heintz wie folgt: "Das Problem besteht in der Entwicklung angemessener Bilder von der Weltgesellschaft. Die Entwicklung solcher Bilder wird als Prozeß der Kodifizierung weltweiter Information gesehen. Objekt unserer Überlegungen ist die gegenwärtige WeItgeseIlschaft, die als ein System von Systemen unterschiedlichen Typus und unterschiedlichen Niveaus begriffen werden kann. Als die beiden wichtigsten Aspekte sozialer Interaktionsfelder werden Kultur und Sozialstruktur betrachtet." 107

Unter der Sozialstruktur der WeltgeseUschaft versteht Heintz das internationale Entwicklungsschichtungssystem, das theoretisch durch Ungleichgewichte in der Verteilung von Macht und Prestige erklärt wird. Heintz ersetzt nunmehr den ,,Prestige" -Begriffdurch die Tennini "Bewertung" oder ,Legitimation von Macht". Diese Ungleichgewichte induzieren sozialen Wandel. "Die der Struktur irgendeines Systems innewohnenden Widersprüche können als Folge einer fundamentalen Gegensätzlichkeit erklärt werden. Es ist dies die Gegensätzlichkeit zwischen den Bedingungen, unter denen Macht legitimiert, und den Bedingungen unter denen die Machtstruktur erhalten werden kann. Die Konfiguration der in einem System vorhandenen Parameter stellt einen institutionalisierten Kompromiß zwischen den beiden konfliktiven Bedingungen der Macht und der Legitimität dar." 108

Der Begriff eines internationalen Entwicklungsschichtungssystems impliziert nach Heintz die Vorstellung einer institutionalisierten Weltkultur, d. h. eines Sets verhaltenskonstituierender Prinzipien und Regeln, die für sämtliche Akteure der Weltgesellschaft gelten. Aufgrund solcher Prinzipien kann über die Legitimität, respektive Illegitimität von Machtverhältnissen verbindlich entschieden werden. Anders als bei kleineren sozialen Systemen, deren Zusammenhalt auf einer jeweils gemeinsamen sozialen Identität beruht, ist fraglich, ob für die Weltgesellschaft ein 102 Peter Heintz: Ungleiche Verteilung, Macht und Legitimität. Möglichkeiten und Grenzen der strukturtheoretischen Analyse, 1982. 103 Peter Heintz: Sociological Code for the Description of World Society and its Change, in: International Social Science Journal, 34. Jg., 4(1982), S. 11-23. 104WemerObrecht; Bettina Heintz; Gery Pfister; Susi Greuter& Gusti Oggenfuss: A Code Theory. A Preliminary Report of a Pilot-Study on Individual Codes. Paper presented to the International Symposium "Report on World Society and Educational Code", University of Zürich, Sociological Institute, January 23-24 1976, (Ms.). 10' Guido Hischier: Politische Regimes in Entwicklungsländern. Eine international vergleichende Typologie, Campus, FrankfurtlNew York 1987. 106Waiter Schöni: UNESCO - Krise der westlichen Hegemonie. Staatliche Kulturkonzeptionen und die politische Rolle der Schweiz, Campus, FrankfurtlNew York 1988. 107 Peter Heintz: Code für Information über die Sozialstruktur der Welt, 1974, S. 25. 108 Peter Heintz: Die Zukunft der Entwicklung, Huber, Bern, Stuttgart, Wien 1974, S. 51.

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vergleichbarer gemeinsamer sozialer Orientierungsrahmen besteht und wie dieser methodisch gegebenenfalls zu eruieren ist. Grundsätzlich soll nicht ausgeschlossen werden, daß sich die Mitglieder nationaler Gesellschaften auch als Teil eines Weltganzen definieren. Diese Problematik einer gemeinsamen Identität auf Weltebene wurde von N. Luhmann detailliert erörtert. 109 Während sich aber Luhmann vornehmlich der begrifflichen Konstruktion und der Evolution dieses Zusammenhanges zuwendet, verfolgt Heintz einen anderen Weg. Die theoretischen Konsequenzen dieser Problematik einer Weltidentität werden von Heintz explizit ausgeblendet. Seine Stoßrichtung zielt auf eine empirische Beantwortung der Frage, "ob man von einer direkten Form der Vergesellschaftung im Weltmaßstab auf der Basis von bestimmten gemeinsam anerkannten Werten sprechen kann, die sich die verschiedenen nationalen Bevölkerungen zu eigen gemacht haben, und ob diese Werte als eine Folge von weltweit ähnlich ablaufenden Institutionalisierungsvorgängen auch tatsächlich für die Mitglieder der verschiedensten nationalen Bevölkerungen relevant geworden sind." 110 Die Beantwortung dieser Frage will Heintz mittels der Rekonstruktion von

Codes leisten. Seinen Ausführungen zufolge impliziert jede Theorie einen

Grundcode, dessen Selektion aus dem Universum konzeptueller Möglichkeiten immer das Ergebnis einer Entscheidung ist, die sich letztlich nur durch Bewährung in der Anwendung rechtfertigen läßt. Er sagt: "Unser eigener Code geht von der äußerst allgemeinen und einfachen Vorstellung der Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit aus. Insofern Soziologie als empirische Wissenschaft mit der Vorstellung von Gerechtigkeit zu tun hat, unterstellt sie, daß es einen gesellschaftlich gültigen Wert 'Gerechtigkeit' gibt, und daß die gesellschaftliche Realität vom Soll-Wert der Gerechtigkeit abweichen kann. Dabei kann die soziale Gerechtigkeit als eine kontinuierliche Variable konzipiert werden. Ziel ist nicht eine sozialphilosophische Bestimmung dessen, was als gerecht bzw. ungerecht gelten soll. Vielmehr geht es um die Frage, ob Gesellschaft hinsichtlich ihres Zustandes und ihrer Veränderung aufgrund eines Verteilungskriteriurns bewertet wird oder nicht, ob Veneilung und Bewenung gewissen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, die zu Unterschieden in der Bewertung von Verteilungen führen, und ob Unterschiede in der Bewertung ihrerseits auf die Art der Verteilung und die verteilten Güter zurückwirken, Die Fruchtbarkeit dieses rudimentären Codes, d. h. seine Fähigkeit, empirische Regularitäten zu erklären, hängt von den Antworten ab, die sich aus der Anwendung dieser Fragen auf empirische Forschungen ergeben. Ein Urteil apriori ist nicht möglich." 111

Der kulturelle Code nach Heintz erweist sich somit als ein Satz konstituierender Prinzipien oder Regeln, der dazu dient, Aspekte der Wirklichkeit als signifIkant zu erkennen, und in ein Symbolsystem zu transformieren. Der Code steuert die drei folgenden Schritte im Aufbau und der Benutzung von Bildern: 1. die Kodifikation von Information, aus handlungsrelevanten Situationen, 2. deren Interpretation in Termini kausaler Beziehungen und 3. ihre Evaluation im Hinblick auf Ziele und die Ableitung von Handlungssequenzen. 112 Hier gilt es zu bedenken, daß der "Code" -Begriff in den Sozialwissenschaften unterschiedlich verwendet wird. Drei Bedeutungen gilt es vorab zu unterscheiden: 109 Niklas Luhmann: Die Weltgesellschaft, in: Soziologische Aufklärung, Bd. 2 Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Westdeutscher Verlag, Opladen 1975, S. 51-71. 110 Guido Hischier: Politische Regimes in Entwicklungsländern, S. 42. 111 Peter Heintz: Ungleiche Verteilung, Macht und Legitimität, 1982, S. 13. 112 Peter Heintz: Code für Information über die Sozialstruktur der Welt, 1974, S. 25.

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,,(I) Die Informationstheorie faßt den 'Code' als ein Instrument, das Informationen nach fixen

Regeln verschlüsselt bzw. aufschlüsselt. (2) Für die Soziolinguistik (in der Nachfolge von B. Bernstein) ist der 'Code' ein klassen- oder schichtspezifisch ausgeformtes Spektrum von Ausdruckskompetenzen und damit auch ein Prinzip der sozialen Strukturierung von Bedeutungen. (3) Die Semiotik (z. B. U. Eco) begreift den 'Code' als operatives Element innerhalb eines Systems von Bedeutungen, das diese Bedeutungen mit Hilfe von Ausdrucksmedien (Sprache, Kleidung etc.) in soziale 'Texte' transformiert." 113

Wenn Heintz unter Codes "einen Satz konstituierender Prinzipien oder Regeln" versteht, die dazu dienen, "Aspekte der Wirklichkeit als signifikant zu erkennen und in ein Symbol system zu transformieren" 114, dann stützt er sich auf die dritte Bestimmung dieses Terminus ab. Es geht ihm vornehmlich um die operative Funktion eines Codes, weIche die faktischen Machtkonstellationen im Medium der Sprache beschreibt und bewertet. In seinem Buch: "Die Weltgesellschaft im Spiegel von Ereignissen" unternimmt er folglich den Versuch, die vielfältigen Codes, die zur Beschreibung der Weltgesellschaft verwendet werden, zu systematisieren. 115 Wenn wir auf diese Systematik eingehen, dann deshalb, weil sie seinen Code-Begriff zu erhellen vermag. Die Weltgesellschaft wird zunächst als Herrschaftsstruktur verstanden (1). Gemäß diesem Code wird die Welt durch eines oder mehrere institutionalisierte Machtzentren beschrieben, ferner durch eine Interaktionsstruktur, weIche diese Macht verwaltet. Ein anderer Code geht von der unterschiedlichen Teilhabe an gemeinsamen Werten aus. In dieser Codierung erscheint die Weltgesellschaft als internationales Schichtungssystem, welches von der unterschiedlichen Teilhabe einzelner Gesellschaften am Wert Entwicklung ausgeht (2). Ein weiterer Code, der die Weltgesellschaft als Konglomerat verschiedener Kulturen bestimmt, betont die kulturelle Vielfalt unterschiedlicher Kulturen, vermag aber nach Heintz den Gesamtzusammenhang der Weltgesellschaft nicht zu erfassen (3). Weitere Codierungen bestehen darin, daß der Herrschafts- und Schichtungscode verknüpft wird (4) oder daß die Weltgesellschaft als das Ergebnis der Geschichte theoretisiert wird (5). Als problematisch erweist sich für Heintz die letztgenannte Vorstellung, weil dabei die Weltgesellschaft immer nur aus der Perspektive einer bestimmten gesellschaftlichen Identität Kohärenz erlangen würde. 116 "Unter diesem Gesichtspunkt gesehen ist dann die Weltgesellschaft durch die Koexistenz von gesellschaftlich differenzierten Identitäten mit unterschiedlicher Geschichte gekennzeichnet. ( ... ) Diese geschichtlichen Einheiten sind als solche einzigartig, und die Relationen zwischen ihnen sind wenig stabil und berechenbar. Daraus resultiert die Vorstellung, daß die Weltgesellschaft selbst keine Identität haben kann." 117

Problematisch erscheint Heintz ferner die Codierung der Weltgesellschaft als weltweite sinnstiftende Interaktion (6), wie dies von Luhmann vorgeschlagen wurde. Heintz stellt das Vorhanden sein eines weltweiten Kommunikations- und 1lJ J. Corner: Codes and Cultural Analysis, in: Media. Culture and Society. Bd. 2. London 1980. S. 74, zitiert nach Schöni. Walter: UNESCO - Krise der westlichen Hegemonie. 1988, S. 48. 114 Peter Heintz: Code für Information über die Sozialstruktur der Welt. 1974. S. 25. "' Peter Heintz: Die Weltgesellschaft im Spiegel von Ereignissen, 1982, S. 16-26. 116Ebd •• S. 21. 117 Ebd .• S. 22.

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Interaktionsnetzes in Frage. Eine Variante dieses Codes besteht darin, daß die Weltgesellschaft als Feld von Interaktionen zwischen jeweils zwei Partnern in einem vieldimensionalen Raum (7) codiert wird. Auch wenn diese Vorstellung ohne die Annahme eines weltweiten Kommunikationsnetzes auskommt, unterstellt sie doch einen weltweiten Konsens über die gültigen Dimensionen, was nach Heintz nicht zu rechtfertigen ist. Die Kritik an sieben divergenten Codierungen der Weltgesellschaft berücksichtigend, entwickelt Heintz einen eigenen Vorschlag, der eine Reihe von Elementen aus den erwähnten "Begriffssystemen" übernimmt und kombiniert. Als Grundelemente seines Codes bestimmt Heintz folgende Vorstellungen und Begriffe: In struktureller Hinsicht wird die Weltgesellschaft konstruiert als ein komplexes System, das in die drei Systemebenen: internationales System, intergouvernementales System und interorganisationelies System unterteilt wird. Diese vielfältig verschränkten Struktur-Komponenten der Weltgesellschaft bilden gesamthaft eine Machtkonstellation, welche als internationales Entwicklungsschichtungssystem bezeichnet wird. Die verschiedenen Akteure partizipieren in unterschiedlichem Ausmaße an jenen zentralen Werten, welche dieses Schichtungssystem als Ganzes legitimieren. Die Ungleichgewichte zwischen der Machtkonstellation und den diese Struktur legitimierenden Werten sind es nun, welche Prozesse der Reproduktion und des Wandels verursachen. Heintz unterscheidet im Fortgang seiner Argumentation zwischen endogenem Wandel (Eigendynamik) der Systeme auf höchster Ebene und dem Wandel des Verhältnisses zwischen diesen Systemen und zwischen den verschiedenen Systemebenen. 118 Vor dem Hintergrund dieses Codes entwickelt Heintz Hypothesen über die Richtung des Wandels der Weltgesellschaft. Das internationale Entwicklungsschichtungssystem erscheint als die integrierteste Vorstellung dessen, was "Weltgesellschaft" bedeutet, somit als eine Wertvorstellung, an welcher die meisten Akteure partizipieren. Verglichen mit dem SchichtWlgssystem zeichnen sich die übrigen Systemebenen durch einen geringeren Integrationsgrad - mit anderen Worten - durch ihre entropische Eigenart aus. Heintz postuliert folglich auch für das Entwicklungsschichtungssystem einen endogenen Wandel, der langfristig eine zunehmende Illegitimität dieser Struktur mit sich bringt, wobei die internen Widersprüche des Systems immer wieder transformiert werden können, so daß sie nicht voll zur GeltWlg kommen müssen. Für unseren Erklärungszusammenhang sind weniger die Heintzschen Befunde und Hypothesen über die Entwicklung der Weltgesellschaft von Belang, als vielmehr sein analytisches Grundkonzept. Dieses erkennen wir darin, daß infolge der Anwendung des vorgeschlagenen Codes auf möglichst vielfältige Objektbereiche ein Lernprozeß induziert wird und zwar dergestalt, daß der Grundcode selber wie auch die daraus gewonnenen Strukturhypothesen, dauernden Revisionen unterzogen werden. Dieser prozessuale Gesichtspunkt steht im Vordergrund der Heintzschen Überlegungen. Im Unterschied zur ersten Phase seiner Theorie11.

Ebd., S. 27f.

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bildung wird somit dem wissenschaftlichen Beobachter keine externe Position zugewiesen, sondern er wird selber zum Bestandteil im Prozeß sozialen Wandels. "Die Idee des Lernprozesses impliziert, daß die Auswahl von Gegenstandsbereichen (an denen der Code getestet werden soll B. F.) im Code selber begründet ist. Der Grund für die Selektion möglichst divergierender Gegenstandsbereiche liegt einmal darin, daß dadurch die Grenzen des Gültigkeitsbereiches des Codes sichtbar gemacht werden sollen, und sodann darin, daß dadurch die Annahme von der Existenz eines sozialen Wirklichkeitsbereiches auf die Probe gestellt wird." 119

Heintz postuliert somit einen interdependenten und sich wechselseitig befruchtenden Prozeß zwischen der Wirklichkeit einerseits und den Bildern, die von dieser Wirklichkeit gemacht werden (also auch jener Bilder, welche sich die Soziologie einfallen läßt). Dieses dynamische Spannungsverhältnis zwischen der Wirklichkeit faktischer Machtkonstellationen und den diese Struktur legitimierenden Ideologien, 120 oder, wie man auch sagen kann, diese Interdependenz zwischen Struktur und Kultur allein reicht zur Erklärung sozialen Wandels aus. Der Prozeß endogenen Wandels auf Ebene der Weltgesellschaft vollzieht sich dergestalt, daß zwischen der Sozialstruktur, verstanden als eine bestimmte Machtkonstellation, und einem bestimmten makrokulturellen Modell, näherhin den diese Machtkonstellation legitimierenden Wertvorstellungen, eine Spannung entsteht, welche die Legitimität der Struktur in Frage stellt. Je mehr sich neue Werte, aufgrund derer eine faktische Sozialstruktur als illegitim erscheint, zum selbstevidenten Erklärungsmodell kristallisieren, verändert sich auch die Sozialstruktur. Das Resultat dieses Vorgangs heißt Evolution. Die Abfolge von Prozeß-Sequenzen, welche durchaus wiederkehrende Regelmäßigkeiten aufweist, kleidet Bornschier im Anschluß an Heintz in die Metapher einer dialektischen Spirale. 121 Der Vergleich beider Schaffensperioden zeugt u. E. von zwei entscheidenden Modifikationen in der Theoriebildung von Heintz. Unterstellte er zunächst eine system-transzendente Beobachterposition des diese Wirklichkeit analysierenden Wissenschaftlers, 122 so wird dem Beobachter im Zuge der Elaboration seiner Code-Theorie eine immanente Rolle im theoretischen Gesamtzusammenhang zuerkannt, und zwar insofern, als dieser an der Gestaltung der die materialen Machtverhältnisse legitimierenden Ideologien mitbaut, wenngleich er dies aus einer größeren Distanz und aufgrund seiner kritischen Kompetenz tut. M. a. W.: Dadurch, daß die Soziologie die Codierungen der Weltgesellschaft, welche von Laien, Massenmedien oder von Wissenschaften vorgeschlagen werden, permanent reflektiert und strukturtheoretisch zu integrieren beabsichtigt, wird sie selber zu einem Bestandteil jenes Antriebsorgans, welches sozialen Wandelin Gang hält. Diese Perspektive, in welcher eine Portion soziologischer Hybris mitzuschwingen scheint, wurde von Luhmann kritisiert, wenn er sagt: ,,Es (das Soziologische Peter Heintz: Ungleiche Verteilung, Macht und Legitimität, 1982, S. 12f. Ernst A. Brngger: Endogene Entwicklung: Ein Konzept zwischen Ideologie und Wirklichkeit, in: Peter Heintz t (Hrsg.): Endogene Entwicklung: Wirklichkeit und Ideologie, Rüegger, Diessenhofen 1983, S. 65-85. Diese Konzeption weist analytische Parallelen mit Jürgen Habermas' Unterscheidung zwischen "Faktizität" und "Geltung" auf. V gl. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Suhrkamp, Frankfurt 1992. 121 Volker Bornschier: Westliche Gesellschaft im Wandel, 1988, S. 422. 122Vgl. dazu oben, S. 2lf. und Abb. 1a, S. 23. 119 120

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Institut der Universität Zürich unter der Leitung von P. Heintz, B. F.) stellt (angesichts der Selbstbeschreibungsprobleme der Weltgesellschaft, B. F.) die Defizitthese auf und kommt in dieser These dann wieder vor als Instanz, die sich um Abhilfe bemüht." 123 Weswegen der Soziologie eine solche Instanzfunktion zukommen muß, wird von Heintz nicht begründet. Die Systematik der verschiedenen Codes zur Beschreibung der Weltgesellschaft 124 wäre wohl die Stelle gewesen, wo der Vorrang und die Grenzen einer strukturtheoretischen Soziologie vor kulturtheoretischen oder historischen Paradigmen hätte erörtert werden müssen. Weil aber eine solche Begründung nicht erfolgt, bleibt die These vom Vorrang des strukturtheoretischen Codes letztlich arbiträr. Ferner gilt es auf eine weitere wesentliche Modiflkation hinzuweisen. Heintz unterstellt in seinen frühen Arbeiten ein gerichtetes EvolutionstrWdell, worin der technisch-wirtschaftlichen Dimension - der materiellen Kultur - eine Schrittrnacherfunktion für sozialen Wandel (,,Fortschritt", ,,Entwicklung") zugemessen wird. Die Evolution der Weltgesellschaft erscheint dort als Trend in Richtung zunehmenden Fortschritts. In den code-theoretischen Arbeiten wird der allgemeine Prozeßverlauf der Weltgesellschaft hingegen in Termini einer" zunehmende(n) Entropie oder Strukturlosigkeit" 125 beschrieben. "Struktur- und Kulturzerfall spielen in einem möglicherweise sich selbst tragenden Prozeß der Erhöhung der Entropie auf Weltebene zusammen. ( ... ) Die Entstrukturierung, so meinen wir, ist durch den Wandel des internationalen Entwicklungsschichtungssystems, einschließlich der Sättigung von Entwicklungswerten, entscheidend gefördert worden. Eine zentrale These unserer Analyse behauptet also, daß die lIIegitimierung des internationalen Entwicklungsschichtungssystems den Prozeß der Erhöhung erst initiiert habe. Man kann sagen, daß dieses System, das sich erst nach dem zweiten Weltkrieg konsolidiert hat, sehr rasch in einen Prozeß des Zerfalls eingetreten ist." 12.

Der ,,Fortschrittsoptimismus" der ersten Phase ist somit weitgehend einem "Fortschrittspessimismus" gewichen, welcher mit der Erodierung einer legiti-

mierten sozialstrukturellen Ordnung wie auch zentraler Normen und Werte begründet wird. Hier setzt die grundSätzliche Kritik Luhmanns ein, indem er erwägt, daß die Soziologie, ,,mit Dependenztheorien, Krisengerede, Katastrophenkonzepten und Unregierbarkeitserklärungen die ohnehin entropischen Züge der Weltgesellschaft nur verstärken wird" 127. Bevor eine solche Entropiethese geäußert werden kann, müßte gemäß Luhmann zunächst eine eingehende Erforschung der ,,Eigengesetzlichkeiten und Reflexivstrukturen" erfolgen, um sich über die Tragweite einer solchen These Klarheit zu verschaffen. 128 Mit dem Heintzschen Verzicht auf die Analyse solcher Reflexivstrukturen hängt eine weitere Problematik zusammen, die Tatsache nämlich, daß sich Heintz Niklas Luhmann: Rezension: Die WeltgeseIlschaft im Spiegel von Ereignissen, 1984, S. 150. Peler Heintz: Die Weltgesellschaft im Spiegel von Ereignissen, 1982, S. 16ff. 125 Ebd., S. 75. 126 Ebd., S. 76. 127 Niklas Luhmann: Die Weltgesellschaft im Spiegel von Ereignissen, 1984, S. 150. l2'Ebd. 123

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vor allem auf das Studium organisatorischer Strukturen konzentriert. Eine theoretisch überzeugende Interdependenztheorie zwischen Machtkonstellationen und Legitimationsprozessen müßte stärker differenzieren zwischen Evolution und Planung, zwischen Strukturentwicklung und Entscheidung und damit der Handlungs- und Legitimierungsdimension größere Beachtung schenken. 129 Will man den Ertrag dieses Abschnittes für die Rekonstruktion des StrukturKultur-Paradigmas rekapitulieren, dann gilt es folgende Punkte herauszustreichen:

1. Mit der Heintzschen These einer Interdependenz zwischen der Verteilung von Macht einerseits und deren Legitimation andererseits hat er ein zentrales Moment des Paradigmas überzeugend dargestellt. Mit Bornschier läßt sich dessen Grundidee mit der Metapher einer "spiralförmigen Bewegung zwischen Modell (makrokulturelle Werte und Normen B. F.) und Struktur" 130 umschreiben. 2. Die wechselseitige Relation zwischen Struktur und Kultur wird von Heintz unter Zuhilfenahme des Codebegriffes abgehandelt. Indem die Soziologie die Strukturen der Weltgesellschaft beschreibt, wird ihr nicht mehr eine idealistische Position außerhalb des zu erklärenden Sachverhaltes zugewiesen. Dadurch, daß die Soziologie die Strukturen der Weltgesellschaft codiert, die Codierung permanent revidiert und folglich an einem Lernprozeß teilhat, wird sie selber zur Akteurin im Prozeß sozialen Wandels. Obwohl Heintz auf die Handlungsdimension rekurriert, bleibt der Begriff des Handeins aber ungeklärt. Diese theoretische Lücke der Heintzschen Konzeption hängt insofern damit zusammen, als er sich auf eine makrosoziologische Ebene konzentriert und der Mikroebene wenig Beachtung schenkt. Die Arbeiten von Hoffmann-Nowotny werden sich dieser Problematik widmen, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll. 3. Hat Heintz während seiner ersten Schaffensphaseeine fortschrittsoptimistische Evolutionshypothese angenommen, modifiziert er diese dahingehend, daß er eine allgemeine Entropie der strukturellen Ordnung wie auch der zentralen kulturellen Werte postuliert. In beiden Phasen seines Schaffens wird indes ein lineares Geschichtsmodell unterlegt. Luhmann hat mit guten Gründen daraufhin gewiesen, daß dies erst in seiner Tragweite korrekt eingeschätzt werden könnte, wenn vorausgehend die Eigengesetzlichkeiten und Reflexivstrukturen erforscht worden wären. Der Verzicht auf solche theoretischen Vorarbeiten hängt erneut mit der makrosoziologischen Grundkonzeption des Heintzschen Ansatzes zusammen. 4. Aufgrund der Tatsache, daß Heintz weder die mikrosoziologischen Grundkategorien - näherhin die Begriffe Handlung und Sinn - erörtert, noch seine Entropiethese hinreichend theoretisch untermauert, folgt, daß trotz der Interdependenzbehauptung zwischen Struktur und Kultur die Dimension der Struktur gegenüber der Kultur bevorzugt wird. Erst die Arbeiten von Hoffmann-Nowotny werden die Ideologiedimension stärker gewichten und dadurch den hohen Aufmerksamkeitswert abbauen, welcher organisatorischen Strukturen zugebilligt wird. 129 Ebd. Das Ziel der Handlungstheorie, weIche wir im Kapitel B dieser Untersuchung vorschlagen, besteht in der Beseitigung dieses Mankos. 130 Volker Bomschier: Westliche Gesellschaft im Wandel, 1988, S. 422.

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Dies wird zu einer gleichgewichtigen Behandlung der organisationellen und institutionellen Theoriebausteine führen. 5. Im Rahmen seiner Systematisierung unterschiedlicher Codierungen der Weltgesellschaft wird Heintz aufgrund seiner strukturtheoretischen Perspektive dazu verleitet, der Soziologie eine Sonderrolle vor den historischen oder den kulturwissenschaftlichen Ansätzen zuzuweisen. Wiewohl eine solche disziplinare Selbstsicherheit durchaus am Platze sein kann, bedürfte sie doch der theoretischen Begründung ihrer Vorzüge. Nicht zuletzt wegen seines frühen Todes vermochte P. Heintz diesen Begründungsnotstand nicht mehr zu beseitigen. Im nachfolgenden dritten Abschnitt dieses Kapitels wird zu zeigen sein, wie Hoffmann-Nowotny dieses Erklärungsmodell ausweitet, indem er zum einen die ausschließlich makrosoziologische Analyseebene auch auf eine mikrosoziologische Ebene ausdehnt und zum anderen der Dimension der Kultur (Legitimation oder Ideologie) größere Beachtung schenkt.

3. Von der strukturtheoretischen Perspektive zum Struktur-Kultur-Paradigma In diesem dritten Schritt unserer Rekonstruktion des Struktur-Kultur-Paradigmas wollen wir nachweisen, wie Hoffinann-Nowotny den Heintzschen Ansatz aufnimmt und ihn dabei zu einem allgemeinen soziologischen Paradigma 131 erweitert. Wir stellen innovative Weiterentwicklungen nach drei Hinsichten fest: 1. Während Heintz seine strukturtheoretische Position letztlich nicht verläßt, gewichtet Hoffmann-Nowotny in seinen Arbeiten die kulturelle Dimension stärker. Im Unterschied zu Heintz stützt er sich auch auf die deutsche Tradition der Soziologie ab, näherhin aufF. Tönnies, O. Spengler, M. Weber und die Wissenssoziologie. Mit dieser Umgewichtung gelingt ihm die Ausräumung einiger theoretischer Inkonsistenzen, die sich bei P. Heintz finden. 2. Eine weitere Leistung Hoffmann-Nowotnys erkennen wir im Ausbau, respektive seiner Rejormulierung der Heintzschen Entropiethese vor dem Hintergrund der Theorien E. Durkheims und F. Tönnies'. An die Stelle der Heintzschen Entropiebehauptung tritt bei Hoffmann-Nowotny die These einer allgemeinen Entwicklungstendenz von "Gemeinschaft" zu "Gesellschaft", die interpretiert wird als sukzessive Ablösung eines durch ,,mechanische Solidarität" zusammengehaltenen Sozialtypus durch einen ebensolchen, dessen Integration über "organische Solidarität" gesichert wird. Insbesondere in seinen familien soziologischen Arbeiten leuchtet er diese These dahingehend aus, daß traditionelle Ausformungen der Institution Familie in Erosion begriffen sind. Diese Desinstitutionalisierung wird mit der gesellschaftlichen Individualisierungs in Zusammenhang gebracht.

131 Den Paradigma-Begriff verwenden wir hier im Sinne von Robert K. Merton und Talcott Parsons. Vgl. S. 12, Anm. 14.

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3. Ferner erweitert er den bislang diskutierten Ansatz dergestalt, als er die von Heintz theoretisch vernachlässigte mikrosoziologische Ebene ins Theoriegebäude integriert. a) Grundlegung der Interdependenz zwischen Struktur und Kultur Gemäß obigen Ausführungen darf die "Theorie struktureller und anomischer Spannungen" als das Herzstück des Heintzschen Ansatzes gewertet werden. In seinen Vorarbeiten zu einer Code-Theorie nimmt Heintz die Kritik an der strukturell-funktionalen Schule auf, die sich in den frühen 60er Jahren zu formieren begann und schlägt eine Konzeption vor, welche einerseits an der Vorstellung eines systemoptimalen Gleichgewichtes zwischen den faktischen Machtverhältnissen und den diese Struktur legitimierenden Grundwerten festhält, die aber andererseits durchaus dem ,Dahinschwinden der optimistischen Vision von Geschichte, Modernität und Modernisierung und des Glaubens an den Fortschritt der Wissenschaft, der die beiden Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gekennzeichnet hatte" 132, Rechnung trägt. Seine Entropiethese kann somit als Versuch einer theoretischen Bewältigung der sog. Krise derSozialwissenschaft 133 gedeutet werden. Hoffmann-Nowotny geht von diesem fundamentalen Theoriebaustein aus und postuliert grundsätzlich eine Interdependenz oder Wechselwirkung zwischen den beiden soziologischen Grunddimensionen ,,Macht" und "Prestige": "Macht und Prestige sind die zentralen Dimensionen sozietaler Systeme. Macht und Prestige sind wechselseitig voneinander abhängig." 134

Seine Leistung besteht zunächst darin, daß er die Heintzschen Grundbegriffe auf ein höheres Abstraktions- und Allgemeinheitsniveau transponiert, indem er die vertikale oder hierarchische Dimension der sozialen Realität, die mit der differentiellen Verteilung von Macht identisch gesetzt wird, auf den Begriff der Struktur 135 zurückführt. Analog wird die horizontale Dimension, welche auch als Prestige, Legitimations- oder Bewertungsdimension bezeichnet wird, in den Begriff der Kultur überführt. Dabei verwehrt er sich explizit und strikte des Einwandes, diese Dimensionen reifizieren zu wollen. 136 Um sich gegen diesen Vorwurf abzusichern, lehnt er sich 132 Samuel N. Eisenstadt: Kultur und Sozialstruktur in der neueren soziologischen Analyse, in: Hans Haferkamp (Hrsg.): Sozialstruktur und Kultur, Frankfurt 1990, S. 7. 133VgJ. dazu unsere einleitenden Erwägungen zu Beginn dieses Kapitels, S. 9ff. 134 Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny: Migration, 1970, S. 35. 135 Hoffmann-Nowotny verzichtet darauf, soziologische Gesetzmäßigkeiten als "Strukturen" zu bezeichnen. Damit eliminiert er diese Mißverständnisse verursachende begriffliche Äquivokation bei Heintz und versteht unter diesem Terminus nurmehr die Sozialstruktur sozialer Systeme. 13. Es handelt sich hierbei um einen Vorwurf. der insbesondere gegen die Parsonianische S ystemtheorie erhoben wurde. V gl. etwa: Paul Kellermann: Kritik einer Soziologie der Ordnung. Organismus und System bei Comte, Spencer und Parsons, Rombach. Freiburg i. Br. 1967. S. 126.

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bei seinen Begriffsbestimmungen an die Tradition der deutschen Soziologie an. 137 So werden die Termini Macht und Prestige (letzterer wird in seiner machtlegitimierenden Funktion verstanden), mit Rückgriff auf die handlungstheoretischen Definitionen M. Webers erörtert. 138 Beim zentralen Begriff des Gleichgewichtes beruft er sich auf Tb. Geiger. "Die Verteilung oder Zumessung von Prestige beruht auf Wertorientierungen, die gesamt- oder teilgesellschaftliche Geltung haben können. So läßt sich vertreten, von Prestige als einem' subjekti ven ' Phänomen zu sprechen, wohingegen Macht, wie auch schon die Definition von Max Weber sagt, als ein von der Bewertung gesellschaftlicher Einheiten unabhängiges Phänomen angesehen werden kann." 139

In den Bestimmungen von Prestige als einer subjektiven Bewertungs-Kategorie und Macht als einer objektiven Verteilungs-Kategorie deutet sich die methodische Stoßrichtung der Generalisierung von Macht und Prestige zu Struktur und Kultur an. Die Verallgemeinerung nimmt implizit auf den cartesianischen Dualismus von res extensa und res cogitans Bezug, respektive auf die kantianische Auffassung, wonach der Mensch Bürger zweier Welten ist, der Natur und der moralischen Welt. 140 Somit werden traditionelle Begriffs-Schematas wie das ,,Leib-SeeleProblem" oder die Dichotomien ,,Form und Inhalt" oder ,,Materie und Form" in Geltung gebracht. Es würde die Fragestellung dieser Untersuchung sprengen, wollten wir der philosophiehistorischen Einbettung des hier interessierenden Paradigmas auf den Grund gehen. Mit Hoffmann-Nowotny beschränken wir uns auf die Anwendung dieser Dualismen als soziologische Kategorienraster. Die Wertgrundlage eines sozietalen Systems muß gemäß Hoffmann-Nowotny zwei Anforderungen genügen: "Sie müßte einen Konsensus darüber beinhalten, aufgrund welcher Kriterien differentielles Prestige verteilt wird C... ) und sie müßte einen Konsensus darüber beinhalten, wieviel Macht durch einen bestimmten Betrag von Prestige legitimiert wird." 141

Jedwelche Abweichungen von diesem doppelten Konsens würden Spannungen und Ungleichgewichte innerhalb oder zwischen sozietalen Systemen hervorrufen und dadurch sozialen Wandel bewirken. In dieser Beurteilung schließt sich Hoffmann-Nowtony Heintz an.

In seiner Habilitationsschrift 142 baut er an der Verallgemeinerung des MachtPrestige-Theorems weiter, wobei zwei Grundmodelle zuhilfe genommen werden. Die Verteilung von Macht wird mithilfe eines Zentraliuttsmodell erklärt. Der Besitz von, oder die Kontrolle über zentrale Güter bestimmt den Zentralitätsgrad und folglich das Machtquantum ihres Besitzers.

Hans-Joachim HoJfmann-Nowotny: Migration, 1970, S. 31. Ebd., S. 29. 139 Ebd.

137 138

140 Tilmann Borsche eta/.: Artikel: Leib, Körper, in: JoachimRitter & Karl-Heinz Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Schwabe, Basel, Stuttgart 1980, S. 173-185. 141 Hans-Joachim HoJfmann-Nowotny: Migration, 1970, S. 30. 142 Hans-Joachim HoJfmann-Nowotny: Soziologie des Fremdarbeiterproblerns, 1973.

H. Drei Schritte auf dem Weg zu einem Struktur-Kultur-Paradigma

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Andererseits wird das Prestigekonzept mittels eines Instrumentalitatsmodells generalisiert. Und zwar bestimmt die Instrumentalisierbarkeit eines Gutes für die Erlangung oder Legitimierung von Macht dessen Prestigegehalt. 143 Erfaßt das Zentralitätsmodell die relative Machtposition eines Akteurs in der

synchronischen oder statischen Perspektive, dann begreift das Instrumentali-

tätsmodell den strategischen Nutzen eines Gutes zwecks Veränderung der relativen Machtposition in einer diachronischen oder dynamischen Perspektive. Die Instrumentalisierbarkeit eines Gutes bemißt sich an dessen Wert, oder allgemeiner, an dessen normativer Bedeutung. Auf dieser Grundlage läßt sich das statische Zentralitätsmodell schlüssig zum Begriff der Struktur verallgemeinern, wie sich analog das dynamische Instrumentalisierungsmodell in seiner Bedeutung der Summe aller geltenden Werte und Normen in den Begriff Kultur überführen läßt. In abstrakteren Termini kann man weiter sagen, daß die Machtverteilung als

materielles Substrat aufgefaßt wird, welches in Form von Bewertungen (z. B.:

Prestigezuweisungen) gestaltet wird. Auf diese Weise wird die Geltung einer Gesellschafts-Ordnung bestimmt. Herauszustreichen ist, daß sich die Ordnung der kulturellen Formen und die Seins-Ordnung der Materie wechselseitig bedingen.

Auch wenn sich bis hierher die theoretischen Erörterungen Hoffmann-Nowotnys noch eng an die Heintzsche Tenninologie anschließen, 144 deuten sich doch zwei Besonderheiten an, nämlich die radikalere Auslegung der Interdependenz zwischen den Grunddimensionen. Eine explizite Einbettung dieser Sichtweise in die philosophischen Theorien der psycho-physischen Wechselwirkung (z. B.: E. Becher, E. v. Hartmann) oder in soziologische Theorien der Wechselwirkung (z. B.: G. Simmel) wird aber ausgespart. Ferner deutet sich eine Fundierung des Heintzschen Ansatzes in mikrosoziologische Kategorien an. Schon kurze Zeit nach der Fremdarbeiterstudie schlägt Hoffmann-Nowotny die Dichotomie Struktur und Kultur explizit vor. Sie wird im Aufsatz ,,Poverty and Disadvantaged Minorities: Some Considerations Concerning Socio-Psychological Indicators and Social Structure" 145 vorbereitet und im Aufsatz: "Soziologische Aspekte abnehmender demographischer Wachstumsraten" ausgeführt: "Bei der Untersuchung dieser Konsequenzen werden zwei Bereiche der sozialen Realität unterschieden: (I) der Makro- (z. B. Gesamtgesellschaft) und (2) der Mikrobereich (z. B. Familie). In beiden Bereichen werden noch einmal zwei Dimensionen unterschieden: (I) die der Struktur (z. B. Statusstruktur), die im Vordergrund der Analyse stehen soll und (2) die der Kultur (z. B. Werte, Normen). Beide Dimensionen sind in vielfältiger Weise interdependent miteinander verknüpft." 146

14lEbd., S. 5. 1... Er stützt sich insbesondere auf die Typisierung von strukturellen und anomischen Spannungen, auf die wir oben bereits eingegangen sind. 14' Hans-Joachim HoJfmann-Nowotny: Poverty and Disadvantaged Minorities: Some Considerations Concerning Socio-Psychological Indicators and Social Structure", in: B. Strumpel (Hrsg.): Subjective Elements of Well-Being, OECD, Paris 1974, S. 123-140. 146 Hans-Joachim HoJfmann-Nowotny: Soziologische Aspekte abnehmender demographischer Wachstumsraten, in: Schweiz. Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 111. Jg., 4(1975), S. 508.

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Diese doppelte Dichotomie bildet den analytischen Raster, welcher in weiteren Arbeiten präzisiert und ausgebaut wird. Das Grundgerüst läßt sich wie folgt visualisieren (vgl. Abb. 4): Es wird von Hoffmann-Nowotny in verschiedenen Varianten vorgestellt. Im Aufsatz: "Wirtschaftswachstum und soziokulturelle Destabilisierung" 147 beispielsweise werden keine Systemebenen, im Beitrag: ,,Ein theoretisches Modell gesellschaftlichen und familialen Wandels" 148 wird zusätzlich eine Mesoebene eingeführt. In diesen Arbeiten finden sich außerdem präzisierende Definitionen des analytischen Grundgerüstes, insbesondere was die Begriffe "Struktur" und ,,Kultur" angeht. "Mit dem Begriff der Struktur beziehen wir uns darauf, daß Gesellschaft als ein hierarchisiertes System von Positionen und Rollen, bei extremer Reduktion der Vielfalt von Soziallagen auch als System von sozialen Schichten oder Klassen bezeichnet werden kann. Unter Kultur verstehen wir, unter Ausschaltung der Vielfalt von Konnotationen, die alltagssprachlich daran geknüpft sind, ein System von verhaltensrelevanten Werten, Normen und Institutionen." "9

Makroebene

@~U' I.....r-----~ KUI2 ) ..

I Mikroebene

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Abb. 4: Struktur-Kultur-Modell nach HoJftnann-Nowotny 141 Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny: Wirtschaftswachstum und soziokulturelle Destabilisierung, in: Klaus v. Beyme et al. (Hrsg.): Wirtschaftliches Wachstumals gesellschaftliches Problem, Athenäum, Königsteinffs., 1978, S. 81. 148 Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny: Ein theoretisches Modell gesellschaftlichen und farnilialen Wandels, in: Guido Hischier et. al. (Hrsg.): Weltgesellschaft und Sozialstruktur, 1980, S. 490. 149 Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny: Wirtschaftswachstum und soziokulturelle Destabilisierung, 1978, S. 80.

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Oder er schreibt: "daß es soziologisch fruchtbar ist, die soziale Realität in zwei Dimensionen - Struktur auf der einen und Kultur auf der anderen Seite - zu gliedern, d. h. nicht nur die objektiven sozialen und wirtschaftlichen Lebensumstände der Bevölkerung, sondern auch deren gesellschaftliche Einschätzung und Bewertung sind zur Erklärung des Bevölkerungsrückgangs von zentraler Bedeutung".

ISO

Mit diesem Grundgerüst ist eine zentrale Idee des Struktur-Kultur-Paradigmas gewonnen. Sie besagt erstens, daß die beiden Dimensionen Struktur und Kultur als zueinander in einem interdependenten Verhältnis stehen, daß also strukturelle Faktoren kulturelle Faktoren bestimmen und vice versa. Außerdem wird von der Möglichkeit eigendynamischer Entwicklungen im Bereich beider Dimensionen ausgegangen. Aufgrund dieser Betrachtungsweise erteilt Hoffmann-Nowotny jenen soziologischen Analysen eine Absage, welche mit einfachen und einseitigen Kausalhypothesen operieren. 151 Die Idee unterscheidet sich zweitens von jenen Gleichgewichtstheorien, welche eine Synchronie von Struktur und Kultur postulieren. Gerade das Vorhanden sein permanenter Ungleichgewichte und Asynchronien wird als der eigentliche Motor sozialen Wandels erkannt. 152 Wenn wir bislang unsere Aufmerksamkeit auf die Gewichtung der kulturellen Theoriekomponente gelenkt haben, so gilt es im folgenden zwei anderen Leistungen Hoffmann-Nowotnys Beachtung zu schenken: 1. seiner Reformulierung der Heintzsehen Entropiethese, oder allgemeiner, seiner zwar ahistorisch vorgehenden, keineswegs aber unhistorischen Erklärung sozialen Wandels 153 und 2. seiner Integration der mikrosoziologischen Ebene ins Struktur-Kultur-Paradigma. b) Vom Sozialtyp der "Gemeinschaft" zum Sozialtyp der "Gesellschaft" H.-J. Hoffmann-Nowotny intendiert mit dem Struktur-Kultur-Paradigma eine soziologische Erklärung sozialen Wandels. Darin unterscheidet er sich nicht vom Heintzsehen Ansatz. Ebensowenig was das Bestreben angeht, Wandel endogen aus den Interdependenzen zwischen den beiden Bereichen der sozialen Realität zu bestimmen. Der Beitrag ,,Auf dem Wege zur autistischen Gesellschaft?" 154 nun will die langfristige Tendenz sozialen Wandels erklären. Rekurriert wird dabei zum einen

ISO Hans-Joachim Hoffmann-Nawotny & Fran(:ois Höpjlinger: Wandel der Familie und soziodemographische Entwicklung, in: Joseph Duss-von Werdt & R. Welter-Enderlin (Hrsg.): Der Familienmensch. Systematisches Denken und Handeln in der Therapie, Klett-Cotta, Stuttgart 1980, S. 60. 151 Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny: Soziologische Aspekte abnehmender demographischer Wachstumsraten, 1975, S. 513. 1'2 Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny: Ein theoretisches Modell gesellschaftlichen und familialen Wandels, 1980, S. 468. 153 Ebd., S. 487. 154 Hans-Joachim Hoffmann-Nawotny: Auf dem Wege zur autistischen Gesellschaft? in: Sabine Rupp et al. (Hrsg.): Eheschliessung und Familienbildung heute, Boldt, Wiesbaden 1980, S. 161-186.

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auf Arbeiten von Heintz und Aufsätze aus eigener Feder, zum andern auf das opus magnum von F. Tönnies, auf "Gemeinschaft und Gesellschaft". 155 An dessen Theorie interessieren vorab die Bestimmungen von "Gemeinschaft" und "Gesellschaft". F. Tönnies bestimmt erstere als "das dauernde und echte Zusammenleben", wohingegen "Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares ist". 156 Letztere bezeichnet "einen Kreis von Menschen, welche ( ... ) nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und (. .. ) getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten." 157 Hoffmann-Nowotnys Unterfangen zielt darauf ab, die Entropiethese von P. Heintz und F. Tönnies' Bestimmung des Überganges von der traditionalen zur modemen Sozialstruktur als einer Entwicklung von Gemeinschaft zur Gesellschaft, in einen kohärenten soziologischen Erklärungsrahmen zu vereinigen. Anders als bei Tönnies werden die beiden Grundkonzepte ausschließlich im Sinne von Aussagen über die Richtung sozialer Evolution ausgelegt. 158 Diese Dezision erlaubt es, das doppelte Dilemma "Ordnung" vs. ,,Freiheit", sowie "Zwang" vs. ,,Bindungslosigkeit" als Grundproblematik sozialen Wandels zu exponieren. "Das Dilemma besteht darin, daß wir uns soziale Lebensformen ohne Ordnung nicht vorstellen können und ohne Freiheit nicht wünschen können, und daß wir uns Lebensformen, die auf Zwang beruhen, nicht wünschen und in denen Bindungslosigkeit auf Dauer herrscht, nicht vorstellen können."

159

Die Trendhypothese, der Hoffmann-Nowotny sein Augenmerk zuwendet, und die er am Forschungsgegenstand der Entwicklungen von Ehe und Familie zu analysieren beabsichtigt, geht vom folgendem Befund von F. Tönnies aus: "Zwei Zeitalter stehen ( ... ) in der großen Culturentwicklung einander gegenüber: ein Zeitalter der Gesellschaft folgt einem Zeitalter der Gemeinschaft." 160

Um die Dynamik eines so gearteten Trends mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung überprüfen zu können, sieht sich Hoffmann-Nowotny veranlaßt, die beiden Sozialtypen "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" in operationalisierbare Struktur- und Kulturmerkmale zu zerlegen. Die Verwendung des Theorems der

1SS Ferdinand Tännies: Gemeinschaft und Gesellschaft - Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig, Fues 1887. Der Untertitel wurde von Tönnies in späteren Auflagen seines Werkes ersetzl durch "Grundbegriffe der reinen Soziologip,". Indes gibt der ursprüngliche Titel jenen Sachverhalt exakt wieder, der Hoffmann-Nowotny an Tönnies zu interessieren scheint, nämlich die empirische Bestimmung zweier grundlegender Sozialtypen oder mit Tönnies zweier "Culturformen". Hierzu ist in Erinnerung zu rufen, daß sich Peter Heintz in seiner Einführung in die Soziologische Theorie kritisch von Tönnies absetzt. '" Ferdinand Tännies: Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887, S. 5. '" Ebd., S. 46. IS8 Ferdinand Tönnies bezeichnet in der reinen Soziologie die Konzepte "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" als Grundbegriffe, während diesen in Rahmen der angewandten Soziologie eine Entwicklungstendenz zukommt. VgJ. zum Idealtyp bei Tönnies insbesondere: Raynumd Aran: Die deutsche Soziologie der Gegenwart, Stuttgart 1953. 159 Hans-Joachim Hofjmann-Nowotny: Auf dem Wege zur autistischen Gesellschaft?, 1980, S. 163. 160 Ferdinand Tännies: Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887, S. 288f.

11. Drei Schritte auf dem Weg zu einem Struktur-Kultur-Paradigma

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Interdependenz von Struktur und Kultur ennöglicht es dabei, der Prozeßlogik dieser Abfolge zweier radikal unterschiedenen Lösungen für die oben erwähnten Dilemmata näherzukommen. Idealtypisch werden diese Lösungen aus den Wechselwirkungen zwischen bestimmten operationalilsierbaren Struktur- und Kulturmerkmalen hergeleitet. Abb. 5 faßt diese in graphischer Fonn zusammen:

Strukturmerkmale

Kulturmerkmale

• Strukturwandel

• Kulturwandel

• Komplexität

• Pluralismus

• Differenzierung

• Universalismus

• Offenheit (Mobilität)

• Leistungsideologie

• Multiple, partielle Mitgliedschaften • Breite Mittelschicht

• Individualismus • Demokratie, Gleichheitsideal

Abb. 5: Struktur- und Kulturmerkmale gemtiß Hoffmann-Nowotny Bei der empirischen Überprüfung dieser allgemeinen Trendaussage am Forschungsgegenstand Ehe und Familie integriert Hoffmann-N owotny ferner explizit Ogburns These vom "culturallag" ins Struktur-Kultur-Paradigma: "Im Sinne einer empirischen Vermutung wird davon ausgegangen, daß in modernen Gesellschaften deshalb ein permanentes Ungleichgewicht zwischen der strukturellen und der kulturellen Dimension besteht, weil der kulturelle Wandel der Geschwindigkeit des strukturellen nicht zu folgen vermag." 161

Die Grundbegriffe Struktur und Kultur werden also in eine Reihe von Subkategorien oder Struktur- und Kultunnerkmalen aufgespalten, mittels denen die beiden Sozialtypen adäquat umschrieben werden können. Der Sozialtypus Gemeinschaft läßt sich kennzeichnen durch niedrigeGeschwindigkeit sowohl strukturellen wie auch kulturellen Wandels. Mit der geringeren Komplexitat dieses Sozialtyps korrespondiert in kultureller Hinsicht das Fehlen pluralistischer Weltanschauungen. Seinem vergleichsweise bescheidenen organisatorischen Differenzierungsgrad stehen mehrheitlich partikularistische Nonnensysteme gegenüber. Des weiteren wird Gemeinschaft charakterisiert durch die relative Geschlossenheit ihrer Strukturen. Das besagt auch, daß Akteure ihre Positionen mehrheitlich aufgrund von Zuschreibungen erlangen und sie nicht im freien Leistungs- und Konkurrenzwettstreit erwerben können. Das Merkmal 161

Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny: Auf dem Weg zu einer autistischen Ges., 1980, S. 162.

58

A. Zur Genese des Struktur-Kultur-Paradigmas

Geschlossenheit wirkt insofern wechselseitig mit traditionalen Ideologien zusammen, als sich Akteure im Rahmen bestehender Privilegienordnungen ins soziale Gefüge integrieren müssen. Folglich sind Akteure im Typus der Gemeinschaft auch einer umfassenderen sozialen Kontrolle unterstellt. Mit diesem strukturellen Merkmal korrespondiert weiter, daß sich infolge der Dominanz kollektiver Selbstdeutungen dem Einzelnen nur bescheidene individuelle Handlungsspielraume eröffnen. Der gemeinschaftliche Sozialtyp verglichen mit dem gesellschaftlichen stärker hierarchisiert. Diese strukturelle Eigenart findet in undemokratischen und auf Ungleichheit basierenden Werthaltungen ein kulturelles Pendant. Im Gegenzug läßt sich der gesellschaftliche Sozialtyp durch folgende Merkmale beschreiben: In struktureller wie in kultureller Hinsicht zeichnet sich dieser Typ durch das beschleunigte Tempo sozialen Wandels aus. Mit dem immer KomplexerWerden der Sozialstruktur korrespondiert ein weltanschaulicher Pluralismus, der nicht nur zugelassen sondern zur Regel wird. Dem größeren strukturellenDif.fe renzierungsgrad, dessen hervorstechendstes Merkmal bürokratische Organisationen sind, entspricht ein Universalismus im Bereich der Werte und Normen. Die größere Offenheit des gesellschaftlichen Sozialtyps im Vergleich zum gemeinschaftlichen offeriert dem Einzelnen vermehrte Chancen zu sozialer und regionaler Mobilitat. Dadurch sehen sich Akteure andererseits aber auch dem Zwang ausgesetzt, in kultureller Hinsicht einer Leistungs- und Konkurrenzideologie zu folgen und Positionen prinzipiell zu erwerben. Die Komplexität der Struktur veraniaßt Akteure, sich auf kompartementalisierte Art und Weise in multiplen und partiellen Mitgliedschajten zu organisieren, was im Sinne einer weiteren Interdependenz die gesellschaftliche Individualisierungstendenz antreibt. Daraus resultiert eine Verbreiterung der Mitte lschichten, welche auf der kulturellen Ebene mit Werten wie Demokratie und Gleichheit legitimiert wird. Hoffmann-Nowotny geht es mit dieser Skizzierung 162 einer Theorie zweier einander sukzessive folgenden Sozialtypen vor allem und eigentlich darum, in kulturkritischer Absicht 163 den Verlust einer Balance 164 von "gemeinschaftliehen" und "gesellschaftlichen" Momenten herauszuarbeiten. Zentral ist die Aussage, wonach sich die Entwicklung der sozialen Evolution vom Typus der Gemeinschaft in Richtung des Sozial typs Gesellschaft vorwärtsbewegt. Damit gehen die Tendenzen der sozialen Vereinzelung ("Autismus"), Desintegration, Anomie, Unsicherheit und vermehrten Spannungen einher. Der funktionalistischen Auffassung, wonach auch der gesellschaftliche Sozialtyp in der Lage ist, neuartige Formen und Mechanismen der sozialen Integration zu produzieren und in Gang zu setzen, steht Hoffmann-Nowotny skeptisch gegenüber. Insbesondere die empirischen Belege, welche zugunsten einer - als Abfolge zweier Sozialtypen mit gravierenden sozialen Erosionserscheinungen - reformulierten Entropiethese ins 162 Hoffmann-Nowotny selber bezeichnet diese Liste der erörterten Struktur- und Kulturmerkmale als "eher impressionistische Skizze, die aber für den postulierten Zweck (der Reformulierung der Entropiethese im Sinn einer Abfolge zweier Sozialtypen B. F.) hinreichend" sei. Ebd. S. 166. '63 Er erinnert hier an Os wald Spenglers Kulturzyklentheorie. ' 64 In ähnlichen Zusammenhängen spricht Norbert EIias von der "Ich-Wir-Balance". Es würde zu weit gehen, die Parallelen mit dessen prozeßorientierter Soziologie im Detail auszuführen.

11. Drei Schritte auf dem Weg zu einem Struktur-Kultur-Paradigma

59

Feld geführt werden, scheinen letztlich das Fragezeichen im Titel des Aufsatzes durch einen konstatierenden Punkt ersetzen zu wollen. Hier gilt es auf eine Problematik hinzuweisen. E. Durkheim, der eine Rezension 165 über Tönnies' Warren S. Thompson: Population, in: American Journal ofSociology, Vol. 34,1929, S. 959-975. ". Frank W. Notestein: The Leng View, in: Th. W. Schultz (Hrsg.): Feod for the World, Chicago 1945, S. 36-57; ders.: The Population of the World in the Year 2000, in: Journal of the American Statistical Association, Washington, D. c., Bd. 45, Nr. 251,1950, S. 335-345. 357 Ansley Coale & Susan Cotts Watkins (Hrsg.): The Decline of Fertility in Europe. The Revised Proceedings of a Conference on the Princeton European Fertility Project, Princeton University Press, Princeton, N. J. 1986. 35. Francine van de Walle: One hundred years of Decline. The history of Swiss fertility from 1860 to 1960, Zürich 1975 (Ms.). 359 lose! Schmid: Bevölkerung und soziale Entwicklung. Der Demographische Übergang als soziologische und politische Konzeption, Schriftenreihe des BlB, Boldt, Boppard a. Rh. 1984.

150

D. Soziodemographische Theorien zur Erklärung der Fenilität

Die Kritik am Konzept des Demographischen Übergangs entzündet sich etwa an der unzureichenden Klärung der Relation von biosozialem Verlauf und Modernisierung (Industrialisierung, Urbanisierung). Weiter wird die inhaltliche Unbestimmtheit der Basisvariablen bemängelt. Beispielsweise fehlt es bislang an überzeugenden Versuchen, die von der demographischen Transition unabhängigen Niveauunterschiede der Fertilität zu erklären. Auch das häufig unreflektierte Wechseln zwischen Aggregatsebenen und damit auch zwischen Abstraktionsniveaus der Argumentation wurde bemängelt. Ein starker Einwand gegen die Theorie des Demographischen Überganges ergibt sich weiter aus der Tatsache, daß einem bloßen Verlaufsschema keine Erklärungskraft zuerkannt werden kann. Wo dies gleichwohl getan wird, läuft man Gefahr, einen empirisch festgestellten Entwicklungstrend zu reifizieren. 360 Das folgende Zitat von Hans Linde verleiht dem Stellenwert und der Reichweite dieser kritischen Einwände, die sich keineswegs auf methodische und forschungstechnische Schwierigkeiten reduzieren lassen, ebenso radikalen wie klaren Ausdruck: "Die Termini 'Übergang' und 'transition' nehmen im Unterschied zu Wechsel, Änderung, Veränderung oder Wandel - change, alternation oder variation - das Ende des Prozesses vorweg. Ihr Rückblick ist nicht nur Beschreibung, sondern vom noch nicht empirisch bestätigten Ende her: Deutung, spekulative Sinngebung, ein Stück Geschichtsphilosophie. Und zwar von jener konservativen Spezies, die um 1930, mitten in der auflaufenden Weltwirtschaftskrise sowohl gegen MARXsche Dialektik und den MARXschen Chiliasmus, als auch gegen SPENGLERs :Untergang des Abendlandes' das 19. Jahrhundert zum bald durchschrittenen - durchlittenen Ubergangszeitalter stempelte. ( ... ) Noch stehen wir jedoch vor einer historischen Theorie, die es wagte, ihr open end durch - wie oben angemerkt - eine spekulative Analogie, einen 'Deus ex machina' oder eine 'invisible hand', wenn nicht gar - wie auch schon gesagt worden ist - durch eine nur einem gewissen ästhetischen Bedürfnis genügende Annahme für prognosefähig geschlossen zu halten. Die Absurdität solcher Gleichgewichtsspekulationen müßte jedem Bevölkerungswissenschaftler spätestens dann in die A.';Igen springen, wenn er sich entschließt, einmal das Gewicht der Summe aller Subventionen der Offentlichen Hand abzuschätzen, die in den hochentwickelten Industrieländern bereits zur Stützung des derzeitigen Fruchtbarkeitsniveaus aufgewendet werden, d. h. zu versuchen, das wahrscheinliche Fruchtbarkeitsniveau ohne diese Eingriffe zu ermitteln." 361

Auf einem theoretisch wesentlich stärkeren Fundament gründen jene komplexen Ansätze, die wir in den beiden nächsten Abschnitten erörtern werden.

2. Fertilitat im Prozeß der nwdernen Verhaltensrationalisierung (Modernisierungstheorien) Bevölkerungswissenschaftler unterschiedlicher Provenienz erklären demographische Prozesse häufig mittels Modernisierungstheorien. Diesen Konzeptionen ist gemeinsam, daß sie eine evolutionsmäßige Modernisierung des generativen Handelns oder der Fertilität im historischen Prozeß erwägen und zur Erklärung dessen Verlaufes durchaus eine soziologische Begründung angeben können. Der 36" Diese kritischen Ein wände hat Josef S chrnid in seinen Ausführungen breit diskutiert. V gl. lose! Schmid, Bevölkerung und soziale Entwicklung, 1984, S. 52-55. 361 Hans Linde: Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung 1800 bis 2000, 1984, S. IOf.

IV. Makrosoziologische und komplexe Ansätze

151

Erklärungsgrund für den Wandel der Fertilität wird in einer allgemeinen historischen Tendenz zur Rationalisierung sämtlicher menschlichen Verhaltensmuster erkannt. Modernisierungstheorien jenes Typs, die wir oben bereits erörtert haben (integriertesozialpsychologische und soziologische Ansätze), setzen eine generelle Verlagerung von traditionalen oder affektuellen Verhaltensmustern zu rationalem - im engeren Sinne des Wortes zweckrationalem Verhalten - voraus. Zweckrationalität ihrerseits gründet auf der rationalen Abwägung von Zielen und Mitteln. Im Zuge des makrosoziologischen Prozesses der Modernisierung haben sich diese Verhaltensmuster zunehmend generalisiert und universalisiert. Dieser allgemeine Befund läßt sich nun auf die Entwicklung der Fertilität und das generative Verhalten applizieren. Gerade die Tatsache, daß Rationalisierungstheorien - im Unterschied etwa zum deskriptiven Schema des Demographischen Überganges - ein Erklärungskriterium beinhalten, darf als Fortschritt in der Theoriebildung erkannt werden. Andererseits müssen sich Rationalisierungstheorien eine kritische Prüfung des Rationalitätskriteriums wie auch der evolutionstheoretischen Prämissen gefallen lassen. Mit der Annahme einer universellen Rationalisierungstendenz beruft sich dieser Ansatz in der Regel mehr implizit denn explizit auf die allgemeine soziologische Theoriekonzeption Max Webers, näherhin auf dessen Rationalisierungsthese. Bei Weber steht diese Kategorie indes im umfassenden Theorie-Zusammenhang seiner genetischen Erklärung des Säkularisierungsprozesses und seiner These von der "Entzauberung der Welt". Weber erklärt Rationalisierung aus der protestantischen Leistungsethik sowie aus der innerweltlichen Askese, die eine überindividuelle Methodik der Lebensführung darstellen. Es gilt somit zu berücksichtigen, daß Weber in erster Linie die Rationalisierung einer idealtypischen Lebensordnung im Auge hat. Keinesfalls darf dieser Begriff dahingehend umgedeutet werden, daß er eine hinreichende Erklärung für alltägliche Vorteil-Nachteil- oder Kosten-Nutzen-Kalküle von einzelnen Individuen bietet. Webers Begriff der Rationalisierung zielt auf die rational entworfene, arbeitsteilige und bürokratische Organisation aller menschlichen Herrschaftsverbände (Staat, Heer, Betrieb, Schule etc.), ist also beträchtlich breiter angelegt. In diesem Sinne bilden modernisierungstheoretische Erklärungen der Fertilität aber das makrosoziologische Pendant zu mikrosoziologisch argumentierenden rational-choice Ansätzen. Indem nun aber Rationalisierungstheorien den langfristigen Geburtenrückgang aus der zunehmenden Rationalisierung generativer Entscheidungen erklären, werden die beiden Abstraktionsebenen oft unzureichend unterschieden. Wenn eine Entwicklungstendenz dahingehend festgestellt wird, daß generatives Handeln in früheren Zeiten quasi ausschließlich "natur" -bestimmt (affektuell gebunden) gewesen sei und es sich über die Zeit hinweg immer mehr modernisiere, sich also in Richtung eines rationalen Verhaltens verändere, respektive wenn behauptet wird, das generative Verhalten entwickle sich immer mehr zu einem ausschließlich geplanten Verhalten und die Entscheide für oder gegen Kinder seien als echte Entscheide zu werten, dann werden Webers analytische Kategorien in empirische umgewandelt. Solche Wechsel zwischen Analyseebenen sind zumindest erklärungsbedürftig.

152

D. Soziodemographische Theorien zur Erklärung der Fertilität

Auch wenn individuellen Kosten-Nutzen-Kalkülen ohne weiteres empirische Evidenz zugebilligt werden kann, muß doch gegen Rationalisierungstheorien einerseits eingewendet werden, daß mikrosoziologische Untersuchungen nachweisen konnten, daß auch Individuen in vormodernen - traditionalen - Epochen rationale generative Entscheide gefällt haben (nur so läßt sich etwa die Geburtenplanung, die wohl kaum eine Erfindung der Modeme ist, erklären). Andererseits betonen neuere empirische Untersuchungen die Virulenz emotionaler und affektueller Faktoren als Erklärungskomponenten generati yen Verhaltens bis in die Gegenwart hinein. Wir wollen die Erklärungskraft von individuellen rationalen Abwägungen zur Bestimmung der Entwicklung generativen Handeins keineswegs in Abrede stellen sondern möchten lediglich betonen, daß Theorien, welche den Bevölkerungswandel ausschließlich aus einer gesamtgesellschaftlichen Rationalisierungstendenz ableiten, zu kurz greifen. Problematisch erscheint uns insbesondere der voreilige Transfer des Rationalitätsbegriffes von der idealtypischen und gesamtgesellschaftlichen Ebene auf jene der individuellen Kalküle.

3. Fertilitätsentwicklung im Industriesystem

Einen weiteren komplexen Erklärungsansatz stellen ökonomische Bevölkerungstheorien dar. Wie oben detailliert ausgeführt wurde, gibt es eine bunte Fülle von Ansätzen, welche die Fertilitätsentwicklung an den Wandel des Industriesystems zurückbinden. Wohlstandstheorien, Urbanisierungstheorien, Theorien, welche auf der Vorstellung der "sozialen Kapillarität" aufbauen, oder die Folgen der Industrialisierung (Entwurzelung, Zunahme der geographischen und sozialen Mobilität etc) als Erklärungsgrund für den langfristigen Bevölkerungswandel anführen, können diesem Theorietypus zugeordnet werden. Ihr Erkennungsmerkmal ist die Auffassung, daß die neue Bevölkerungsweise ein notwendiges Strukturanalogon der neuen industriellen Wirtschaftsweise sei. 362 Die Nachwuchsbeschränkung sei demnach keine Folge der Rationalisierungstendenz, sondern: "die ökonomische und soziale Ordnung (Hervorhebung B. F.) bewirkt, daß die Lebenspläne ganz bestimmte, sozial höchst überflüssige Inhalte haben und daß ihre rationale Verfolgung zu einer extremen Kleinhaltung der Familie fülut", 363

schreibt beispielhaft Gerhard Mackenroth. Unterstellt wird somit ein "structural lead" der modemen Produktionsformen und ihrer Nebeneffekte (wie zunehmender Wohlstand, Mobilität etc). Demgegenüber bilden sich generative Neuorientierungen logisch "später" aus, stellen also einen "culturallag" dar. Aus der Ungleichzeitigkeit der Industrialisierung und damit einhergehend, dem Fortpflanzungsverhalten, wurden oft Diffusionstheorien abgeleitet.

Ebd., S. 142. Gerhard Mackenroth: Bevölkerungslehre, 1953, zitiert nach Hans Linde. Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung 1800 bis 2000, 1984, S. 143. 36' 363

IV. Makrosoziologische und komplexe Ansätze

153

"Das, was diese Diffusionsverbalismen unhinterfragt suggerieren, ist aber gerade zu erklären. Es ist schon richtig, wenn MACKENROTH konstatiert, daß man keineswegs 'kausal erklären' könne, daß ' die Menschen im 19. Jahrhundert' sich' in ihrem Fortpflanzungsverhalten von den städtischen Bürgerschichten (hätten) umprägen lassen'. Es ist aber zugleich unerfindlich, wie er das aus 'Strukturanalogien ' verstanden haben will, einfach weil de facto weder die ländlichen noch die proletaroiden protoindustriellen Schichten 'über seelisch-geistige Zwischenglieder' umgeprägt oder assimiliert worden sind: Das als Diffusion oder Assimilation verstandene Faktum ist hier eine verstehend produzierte Fiktion." '64

Entscheidend für unseren Erklärungszusammenhang ist somit der Befund Lindes, daß strukturdeterministische Theorien zur Erklärung der Fertilitätsentwicklung nicht ausreichen. Vielmehr gilt es dem Tatbestand Rechnung zu tragen, daß sowohl die Veränderungen der Produktionsweise, wie auch der Bevölkerungsweise aus den für beide gleichermaßen relevanten kulturellen Faktoren erklärt werden müssen. Als entscheidendes Argument gilt es dabei zu berücksichtigen, daß die Mehrheit der Familien in industriellen Gesellschaften nicht über die vorausgesetzte unterhaltsichemde Eigenwirtschaft verfügte. Damit fehlt auch ein Maß - eine kulturelle Norm -, an dem sich innerhalb der alten Bevölkerungsweise die neuen Familienformen orientieren konnten. 365 Dieser komplexen Verkettung von sozialstruktureller Entwicklung einerseits und kulturellen Prozessen andererseits vermögen Theorien, welche letztlich in der Industrialisierung den Erklärungsgrund für den Wandel reproduktiver Handlungsmuster erkennen, nicht vollauf zu genügen. Lindes Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung, aber auch das Struktur-Kultur-Paradigma stecken den Rahmen ab, mit dessen Hilfe sich u. E. die erörterten Erklärungsengpässe umschiffen lassen. Daß dabei andere komplexe Theorien (Demographischer Übergang, Rationalisierungstheorien oder Industrialisierungs- und Wohlstandstheorien) beerbt werden, ist offensichtlich.

4. Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung Hans Linde hat seine "Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung 1800 bis 2000" 1984 vorgelegt, und darin einerseits die komplexen Erklärungsansätze a) des Demographischen Übergangs, b) der Modemisierungstheorie im Sinne einer Theorie der Verhaltensrationalisierung generativen Verhaltens sowie c) Bevölkerungstheorien, welche das reproduktive Handeln aus dem Industriesystem erklären, kritisch überprüft. Andererseits hat er diese Modelle in einen umfassenden Ansatz integriert. Er versucht dort, den langfristigen Fertilitätsrückgang als Dimension des inneren Strukturwandels und institutionellen Funktionsverlustes von Ehe und Familie zu erklären. Die Funktionstransfers zwischen Staat und Familie gilt es in ihren '64 Hans Linde: Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung 1800 bis 2000,1984, S. 51. '6SEbd., S. 144.

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D. Soziodemographische Theorien zur Erklärung der Fertilität

Zusammenhängen mit dem soziostrukturellen und makrokulturellen Wandel der Gesellschaft zu bedenken. Weil solche Funktionsverschiebungen zugleich auch Transfers von Spannungen oder Konflikten sind, läßt sich dieser Sachverhalt als Grundlage für eine diskursanalytische Betrachtung von Bevölkerungsweise und Familienpolitik nehmen (vgl. Kapitel F). Lindes Theorie scheint uns deshalb von Interesse, weil er die säkulare Tendenz zur Nachwuchsbeschränkung durch drei historisch sukzessiv wirksam werdende Faktoren erklärt, nämlich: 1. der Ausgliederung der ErwerbstUtigkeit aus dem Familienhaushalt; 2. dem Ausbau sozialer Sicherheitssysteme; 3. der aus den Erfordernissen der kapitalintensiven Massenproduktion unter Konkurrenzbedingungen resultierenden Überflutung der Individuen mit Konsumofferten. 366 Diese Erklärungsstrategie macht es möglich, das Zusammenwirken von familienbezogenen Wertvorstellungen, Fertilität und familienpolitischen Anstrengungen mit den allgemeinen soziologischen Theorien Durkheims, Mannheims, Tönnies' u. a. zu konfrontieren. Vorerst geht es aber darum, die Grundzüge von Lindes Theorie zu diskutieren. Er richtet sein Augenmerk auf allgemeine Veränderungen der sozio-ökonomisehen Rahmenbedingungen, welche über innerfamiliale Kosten-Nutzen-Erwägungen zur Minderung des Stellenwertes von Kindern und zu Veränderungen der generativen Orientierungen führen konnten. "Bei zwei der diskutierten Tendenzen (der Trennung der industriellen Arbeitsorganisation von der Familienverfassung und der Umgestaltung der sozialen Sicherung vom familial verwurzelten Subsidiaritätsprinzip auf das versicherungsgebundene Solidaritätsprinzip) ging es um historisch datierbare Prozesse, welche den betroffenen Familien tradierte, nachwuchsgebundene Funktionen entzogen haben. Im dritten Falle, der Dauerstimulation von Optionen auf akzelerierende Offerten, stand die Unterwerfung des Familienbudgets unter die dem Industriekapitalismus funktionalen (d. h. systemstabilisierenden) Vermarktungsstrategien zur Diskussion, die im Hinblick auf die familialen Funktionsminderungen des Nachwuchses tendenziell zu Lasten der Aufwendungen für den Nachwuchs gehen mußten."'67

Zwar lassen sich diese drei sukzessiv wirksam werdenden Faktoren mit der Industrialisierung in Zusammenhang bringen, doch reicht das zur Erklärung des Gesamtprozesses nicht aus. Die säkulare Geburtenbeschränkung setzte nämlich in jenen Schichten ein, deren Existenz auf den Genuß der den Ehegatten außerhalb eines lohnabhängigen Erwerbsverhältnisses zufließenden Vermögenserträge gestellt war, respektive in jenen Bevölkerungsgruppen, die vom Erwerbseinkommen (Gewinn, Gehalt, Honorar) des Ehemannes lebten und deren junge, ledige Söhne und Töchter weder in die industrielle Arbeitswelt integriert waren, noch jemals einem häuslich organisierten Produktionsprozeß unterworfen waren. 368 Gerade aus dieser schichtspezijischen Ungleichzeitigkeit, in der die Nachwuchsbeschränkung zur faktischen Betroffenheit von der industriellen Produk-

'66 Ebd., S. 166. Vgl. auch: Franz-Xaver Kaufmann: Sozialpolitik und Bevölkerungsprozeß, in: Herwig Birg & Rainer Mackensen (Hrsg.): Demographische Wirkungen politischen Handeins, Proceedings der gleichlautenden gemeinsamen Tagung der DGBW und EADS vom 11.-14. 3. 1986 in Bielefeld, Campus, Frankfurt New York 1990. 361 Hans Linde: Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung 1800 bis 2000, 1984, S. 166. '68 Ebd., S. 168.

IV. Makrosoziologische und komplexe Ansätze

155

tionsweise strebt, bezieht Linde sein Argument, um ökonomische Erklärungen der Fertilität zu verlassen. Linde rekurriert auf Arbeiten von Ph. Arie s 369 und J. -L. Flandrin 370, die keinen Zweifel dagegen aufkommen lassen, daß die große Moralisierung der Gesellschaft, welcher Aries eine Renaissance des erzieherischen Interesses zuordnet, im 16. und 17. Jahrhundert von Anhängern der protestantischen und katholischen Religion eingeleitet worden ist. Diese Perspektive wird auch von H. Tyrell geteilt, der in der moralischen Aufwertung von Ehe und Familie den Ausgangspunkt für den säkularen Geburtenruckgang sieht, wobei er dem Sachverhalt Rechnung trägt, daß in den ärmeren Schichten lange Zeit sozio-ökonomische Barrieren eine intervenierende Rolle spielten. 371 Hieraus leitet Linde drei Feststellungen ab: 1. Ehe und Familie, aber auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern hat mit der Reformationstheologie eine einschneidende Positionsänderung und StatuserhOhung erfahren; 2. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts waren Ehe und Familie einem schneller werdenden Problematisierungsprozeß unterworfen, der die tradierten Qualitäten von Ehe und Familie gleichsam aufzehrte; 3. Schichtspezifische Ungleichzeitigkeiten, was die Betroffenheit durch die Folgen der Industrialisierung angeht, schließen eine kausale Beziehung zwischen Industrialisierung und säkularem Geburtenruckgang aus, obwohl nicht zu leugnen ist, daß die kapitalistische Produktionsweise diesen grundlegenderen Prozeß beschleunigt hat. 372 Bei der europäischen Nachwuchsbeschränkung während der letzten beiden Jahrhunderte handelt es sich, gemäß Linde, um die "familiale Dimension der glaubensbegründeten Maxime radikaler Personalisierung (man könnte wohl auch von Individualisierung reden B. F.) der jenseitigen Heilserwartung, der diesseitigen Lebensführung und der nach Welterhel1ung strebenden Wissenschaften im Dienste der Naturbeherrschung - und zwar, um ein Phänomen der bereits säkularisierten Spätphase dieses Prozesses in der Epoche aufgeklärter Empfindsamkeit." 313

Wo immer bei den gebildeten und vermögenden Schichten der Prozeß der Geburtenkontrolle und der Nachwuchsbeschränkung einsetzte, beruhten diese Praktiken auf dem Konsens der Ehepartner, welcher die Gesundheit der Mutter ebenso wie das Wohl der Kinder berücksichtigt. Die Personalisierung familialer Rollenmuster erklärt vor allem den vorauslaufenden Geburtenruckgang bei bestimmten Teilbevölkerungen, wohingegen erst die beschleunigte Ausbreitung der industriellen Arbeitsverfassung in Interaktion mit der Ausbildung eines Netzes der sozialen Sicherung den Fertilitätsrückgang des vermögenslosen Proletariates erklärt. Philippe Aries: Geschichte der Kindheit. München 1975. Flandrin: Familien. Soziologie, Ökonomie, Sexualität, Frankfurt, Berlin, Wien 1976. 31J Hartmann Tyrell: Familie und Religion im Prozeß der gesel1schaft\ichen Differenzierung, in: V. Eid & L. A. Vaskovics (Hrsg.): Wandel der Familie - Zukunft der Familie, Mathias Grünewald Verlag, Mainz 1982. m Hans Linde: Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung 1800 bis 2000, 1984, S. 170. 313 Ebd., S. 183. 369

310 lean-Louis

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D. Soziodemographische Theorien zur Erklärung der Fertilität

Linde entwirft somit eine zweidimensionale Theorie zur Erklärung des langfristigen Geburtenrückganges: einerseits begünstigen veränderte sozio-ökonomische Konstellationen und in der Folge positionsspezifische Provokationen Verhaltens veränderungen im Feld des reproduktiven Handeins. Andererseits resultieren diese Veränderungen aus der kommunikationsabhängigen Diffusion neuer Werte und Normen im makrokulturellen Kontext. Lindes Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung berücksichtigt damit sowohl den makrostrukturellen Bereich, die sich wandelnden Tendenzen der Makrokultur wie auch die Interdependenzen zwischen diesen beiden. Der Ansatz von Linde drängt u. E. die empirische Überprüfung seiner zentralen Hypothesen auf. Dies soll in den Kapiteln G bis I anhand von Analysen des Geburtenrückganges in der Schweiz erfolgen. Seine Erklärungsstrategie läßt sich nicht nur mit der Theorie von J. S. Caldwe II 374 vergleichen, wie dies Linde selber antönt, sondern ebensogut mit dem Struktur-Kultur-Paradigma, dessen theoretische Weiterentwicklung wir mit unserer Untersuchung bezwecken.

V. Rekapitulation Die Zielsetzung dieses Exkurses bestand darin, einen Überblick über die wichtigsten bevölkerungswissenschaftlichen Erklärungen der Fertilität zu geben. Nach einigen Beg riffsklarungen (Demographie, Bevölkerungswissenschaft, Soziodemographie), die wir an den Anfang gestellt haben, resümierten wir zunächst die historischen Wurzeln der wissenschaftlichen Erforschung von Bevölkerungsvorgängen. Die systematische Erfassung und statistische Analyse von demographischen Prozessen begann mit den Untersuchungen der politischen Arithmetiker. Schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden teils aus machtpolitischen Interessen, teils aus wissenschaftlichen Gründen Sterbetafeln entwickelt. Auch wenn in diesem historischen Kontext reichhaltiges empirisches Datenmaterial erhoben wurde, gilt es festzuhalten, daß sich die Analysen desselben auf Deskription beschränkten, oder, wo Bevölkerungsvorgänge interpretiert oder erklärt wurden, daß diesen frühen Bevölkerungstheorien ein Hang zu theologischen Erklarungen eigen war (z. B.: J. P. Süßmilch). Im Zeitalter der Aufklärung wurden solche normativen Erklärungsschemata in der Demographie durch biologistische Deutungen ersetzt. Der wohl wirkmächtigste Ansatz war die These von Th. R. Malthus, wonach sich die Nahrungsmittelproduktion in arithmetischer Progression, das Bevölkerungswachstum hingegen in geometrischer Progression entwickle. Dieser Erklärungsversuch wurde von Statistikern und Ökonomen übernommen und weiterentwickelt. Liberale Nationalökonomen formulierten, aufbauend auf den Bevölkerungsgesetzen von Malthus, eine sozialpolitische Lehre, in welcher die bis anhin tabuisierte Frage der 314

lohn C. Ca/dweil.' Theory of Fertility Decline, London 1982.

V. Rekapitulation

157

bewußten Geburtenkontrolle diskutiert wurde. J. St. Mill maß der individuellen Verantwortung, wie auch der staatlichen Steuerbarkeit von Bevölkerungsvorgängen größere Bedeutung zu und kam folglich im Vergleich mit Malthus zu einer optimistischeren Einschätzungen des künftigen Bevölkerungswachstums. Mill hat außerdem auf die Funktion der ,,Frauenemancipation" und auf den Zusammenhang zwischen Geburtenbeschränkung und sozialen Mobilitätserwartungen hingewiesen. Zwar wurden bereits in den liberalen politischen Ökonomien die biologistischen Erklärungsmuster der Fertilität aufgeweicht, aber erst Marx und Engels messen den ökonomischen Faktoren des Bevölkerungswachstums grundsätzliche Erklärungskraft bei. Deren Auseinandersetzungen mit malthusianischen Theorien haben in der Folge die Argumentationen neuerer Erklärungsansätze in entscheidender Weise beeinflußt. Eigentliche Fertilitätstheorien sind erst seit ca. 1870 bekannt. Ausgehend von Analysen der differentiellen Fertilitttt entstanden sowohl in Frankreich wie in Deutschland Diffusionstheorien, welche die Ausbreitung neuer generativer Verhaltensmuster von höheren zu tieferen sozialen Schichten feststellten. Die negative Korrelation zwischen Einkommensstatus und Geburtenziffern führte zur Etablierung von Wohlstandstheorien (Bertillon, Lavasseur, Mombert oder Brentano). Eine Verfeinerung dieses Ansatzes stellt das Gesetz der "sozialen Kapillarität" (Dumont) dar, welches hinter dem Zusammenhang zwischen Einkommensstatus und Geburtenziffer die individuelle Erwartung sozialer Mobilität als gemeinsame erklärende Variable berücksichtigte. In der Folge finden sich Fertilitätstheorien, welche in der Urbanisierung oder im" Geist" des Kapitalismus die relevanten Faktoren demographischer Prozesse erkannten. In derZwischenkriegszeit wurden die Grundbausteine für die Hypothese des Demographischen Übergangs gelegt. Bahnbrechend für die weitere Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Erforschung von Bevölkerungsvorgängen war die lndianapolis Study, in welcher erstmals individuelle Einstellungen und Motive generativen Verhaltens detailliert untersucht wurden. Das Princeton Proiect on Fertility hat diesen Forschungsstrang später wieder aufgegriffen und die Forschungstechniken verfeinert. Der Bevölkerungslehre von G. Mackenroth verdanken wir eine Hinwendung zur historisierenden Erklärung von Bevölkerungsprozessen. Dieser Ansatz, der auf dem Konzept der generativen Struktur oder der Bevölkerungsweise aufbaut, wurde von lpsen und Bickel ausgebaut und bildet den analytischen Hintergrund für Hans Lindes "Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung" . Nachdem sich in sämtlichen Industrienationen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre ein neuerlicher - von der Bevölkerungswissenschaft nicht prognostizierterGeburtenrückgang bemerkbar machte, wurde von Vertretern verschiedener Fachdisziplinen die empirische Erforschung der Fertilität auf Mikroebene intensiviert. Resultat dieser Anstrengungen sind eine Vielzahl von Modellen. Wir haben die einflußreichsten Ansätze nach Fachdisziplinen gruppiert und in resümierender Weise erörtert. Der Opportunitätskostenansatz von Leibenstein, Easterlins relati-

158

D. Soziodemographische Theorien zur Erklärung der Fenilität

veEinkorrunenshypothese sowie die Modelle von Becker, Turchi und Oppenheimer erachten wir als die wichtigsten mikroökonomischen Ansätze. Sozialpsychologische Modelle, wie der Value-of-Children Ansatz, die Theorien von Fishbein und Ajzen oder die auf dem Konzept des Kinderwunsches aufbauende Motivationstheorien wie jene von L. v. Rosenstiels haben das Auge geschärft für die Bedeutung von Normen und Werten bei der Erklärung reproduktivem Handeln. Die Verknüpfung von Mikro- und Makroebene wurde in den Ansätzen von Niphuis-Nell, Robinson & Harbinson oder Freedman in Angriff genorrunen. Seitens der Soziologie haben seit Mitte der 70er Jahre insbesondere verschiedene Rollen- und Ressourcentheorien (Scanzoni, scarcity approach) das Spektrum von Erklärungsansätzen erweitert. Ferner wurde die Forderung erhoben, dem lebenszyklischen Wandel von Einstellungen und Verhaltensmustern vermehrt Rechnung zu tragen, ein Postulat, das derzeitin verschiedenen Life-CourseAnsätzen einen überaus reichen Ertrag abwirft. Bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts wurden die drei bedeutendsten makrosoziologischen Theorien (Demographischer Übergang, Rationalisierungstheorien, Fertilittttsentwicklung im Industriesystem) vorformuliert. Wir haben die Entwicklungslinien dieser Forschungstraditionen nachzuzeichnen und die Einwände, die gegen diese Vorstellungen ins Treffen geführt werden können, darzustellen versucht. Die Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung in der Formulierung von Hans Linde scheint uns ein tauglicher Ansatz, um eine Reihe von theoretischen Engführungen der erwähnten komplexen Ansätze zu umschiffen. Sie wird im Fortgang dieser Untersuchung die Erklärungsfolie abgeben, auf welcher wir das Struktur-Kultur-Paradigma weiterzuentwickeln versuchen.

E. Der Zusammenhang Familie - Familienpolitik - Fertilität in der soziologischen Diskussion (Exkurs) I. Einleitung Der Begriff Familienpolitik bezeichnet zunächst ganz allgemein den Bereich politischen Handeins zugunsten der Familie. Solch zielgerichtetes Handeln - denn als das müssen politische Interventionen gedeutet werden 375 - hat die Familienforschung schon seit ihren Anfängen als einen ihrer Untersuchungsgegenstände erachtet. Eine derart abstrakte und formale Bestimmung des soziologischen Forschungsgegenstandes Familienpolitik ist indes wenig hilfreich. Denn einerseits läßt sich die Institution, auf welche sich dieser Politikbereich bezieht, die Familie, zuwenig präzise definieren, ferner haben sich die familialen Lebensformen, die mit den Mitteln der Politik gefördert, gesteuert oder legitimiert werden sollen, im historischen Prozeß gewandelt. Weiter werden derzeit unter dem Term Familie eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensformen verstanden, so daß häufig unklar bleibt, wer genau der Adressat familienpolitischer Anstrengungen ist. Selbst innerhalb des positiven Rechts werden divergente Familienbegriffe angewendet. 376 Andererseits steht die Institution Familie im Zentrum unterschiedlicher Politikfelder, was dazu führt, daß der Titel Familienpolitik zum inhaltsarmen Oberbegriff verkommt. 377 Wenn nachfolgend die sozialwissenschaftliche Thematisierung der Familienpolitik im Überblick dargestellt werden soll, gilt es vorauszuschicken, daß ihr in modernen Industrienationen eine besondere rechtliche und politische Beachtung geschenkt wird. In den meisten Verfassungen wird die Familie nämlich explizit als schützens- und förderungswÜfdig erkannt. Sämtliche staatlichen Interventionen (Leistungen, Maßnahmen, Einrichtungen ete.) zugunsten der Familie werden in der Regel mit der grundgesetzlichen Verankerung dieser Institution legitimiert. Wenn die Familie im Vergleich zu anderen Lebensformen als eine rechtlich und politisch besondere Institution gewürdigt wird, bedeutet das auch, daß sie bestimmte Funktionen in herausragender Weise zu erfüllen vermag. Zwischen dem Staat als politischem Akteur und der Familie herrschen somit Wechselwirkungen, die zu untersuchen der eigentliche Gegenstand soziologischer Familienpolitik-Forschung m Talcott Parsans: The Social System, 1951, passim. 37' Willi Albers: Familienlastenausgleich, in: Bernd v. Maydell & Walter Kannengiesser (Hrsg.): Handbuch Sozialpolitik, Neske, Weinsberg 1988, S. 353ff. 377 Viola G. v. Bethusy-Huc: Familienpolitik. Aktuelle Bestandsaufnahme der familienpolitischen Leistungen und Reformvorschläge, J. C. B. Mohr, Tübingen 1987, Einleitung.

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E. Der Zusammenhang Familie - Familienpolitik - Fertilität

ist. Der Rechtstheoretiker Peter Häberle beschreibt diese fundamentale Interdependenz wie folgt: "Von der 'Gemeinschaft' oder 'Gesellschaft' her betrachtet ist Familie - 'naiv' formuliert - die vielzitierte 'Keimzelle' des Staates und der Gesellschaft. Dogmatisch gesprochen wird hier ihre 'Doppelnatur' sichtbar: Familie ist etwas Höchstpersönliches, aber sie hat zugleich eine 'soziale Funktion'; sie ist ein Stück - erfüllter - persönlicher Freiheit und zugleich ein kulturelles Strukturelement des politischen Gemeinwesens, d. h. der freiheitlichen Demokratie. Im Wort von der Familie als '(Ur)Verband' klingt dies ebenso an wie in ihrer Charakterisierung als 'sozialer Lebensgemeinschaft'. Die Familie ist von der Verfassung des politischen Gemeinwesens her gesehen wie dieses selbst geschichtlich und insofern dem kulturellen Wandel unterworfen. Was ihr Verhältnis zum Verfassungsstaatangeht, soist Familiefür diesen 'unverfügbar' ,ihm 'vorgegeben': weniger naturrechtlich - dies vielleicht auch - als vielmehr kulturell-historisch; sie bildet in dieser Kraft einen konstitutiven Teil des Verfassungsganzen. Die jeweilige 'Familienverfassung' eines Verfassungsstaates reicht an die Wurzeln seines Selbstverständnisses und ist 'inneres' Strukturelement seiner' Organisation'. " 318

Wir versuchen die komplexen Wechselwirkung zwischen Staat und Familie, wie sie in der aktuellen soziologischen Diskussion behandelt werden, überblicksartig darzustellen. Dabei gehen wir von der Leitvorstellung aus, daß familienpolitische Themen dann in den Brennpunkt des öffentlichen Interesses rücken, wenn die Familie die von ihr gleichsam selbstverständlich erwarteten Funktionen nicht mehr zu erfüllen scheint. Solange dies nicht der Fall ist, besteht meist wenig Anlaß, daß der Staat oder andere politische Akteure die Rahmenbedingungen, unter denen die Familie funktioniert, zu überprüfen und allenfalls mit den Mitteln der Familienpolitik korrigierend einzugreifen. Mit anderen Worten: solange Staat und Familie "symbiotisch" koexistieren - während normalen Prozessverläufen also (vgl. Kapitel B) - verliert das Thema Familienpolitik an politischer Aktualität. Erst drastische familiale und demographische Veränderungen führen zu dessen Diskursivierung in Wissenschaft und Politik. So ließ sich auch die Familiensoziologie zyklisch dazu motivieren, den Wirkungszusammenhängen der Familienpolitik Beachtung zu schenken. Diesen wiederkehrenden Versuchen, den Ertrag staatlichen Engagements zugunsten der Familie zu deuten, werden wir uns im zweiten Abschnitt dieses Exkurses zuwenden (2). Vorausgehend gilt es indes die zentralen Begriffe: Familienpolitik, Bevölkerungspolitik oder Sozialpolitik näher zu definieren, um diese Termini als analytische Konzepte verwenden zu können. Dies soll auch dazu beitragen, daß die vorliegende Untersuchung des familienpolitischen Diskurses als wertneutrale Policy-Forschung verstanden werden kann (1). In einem dritten Abschnitt werden sodann einige der am stärksten beachteten neueren soziologischen Theorieansätze diskutiert (3). Abschließend gilt es jene analytischen Konzepte zu ordnen, auf die wir uns in den folgenden Kapiteln beziehen werden (4).

318 Peter Häberle: Verfassungsschutz der Familie - Familienpolitik im Verfassungsstaat. HeideIberger Forum, Bd. 27, Decker & Müller, Heidelberg 1984, S. lf.

11. Familienpolitik im Spannungsfeld zwischen Familiensoziologie und Politikberatung

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11. Familienpolitik im Spannungsfeld zwischen Familiensoziologie und Politikberatung J. Familienpolitik, Bevölkerungspolitik, Sozialpolitik (einige Begriffsbestimmungen)

Wir unterteilen diesen Abschnitt in zwei Teile. Zunächst werden die Begriffe Familien-, Bevölkerungs- und Sozialpolitik näher bestimmt. Sodann wird der Versuch unternommen, die Zusammenhänge einerseits zwischen diesen drei sich teilweise überlagernden Politikfeldern und andererseits der Institution Familie analytisch zu klären. Beginnen wir mit jenem Begriff, der im Zentrum unserer Untersuchung steht: mit Familienpolitik. Er wird in Deutschland erst während der 2. Dekade des 20. Jahrhunderts gebräuchlich. 379 Vor dem Hintergrund des damaligen Geburtenrückgangs und der durch den Ersten Weltkrieg verschärften bevölkerungspolitischen Frage subsumierten Autoren wie F. Burgdöifer 380 oder F. Zahn 381 darunter in erster Linie alle Anstrengungen des Staates, mit politischen Mitteln das reproduktive Verhalten zu steuern. Erst "nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unter Familienpolitik das bewußte und plan voll-ordnende, zielgerichtete öffentliche Einwirken auf Struktur und Funktionen der Familien" 382 verstanden. In Frankreich findet man den Begriff Politique Familiale bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er wurde von Seiten sozialkatholisch orientierter Arbeitgeber geprägt und diente der Bezeichnung "familienpolitischen Anstrengungen" im Rahmen der "unternehmerischen Sozialpolitik". 383 Politisch vermochte sich die französische Politique Familiale aber erst während der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts durchzusetzen. Etwas später folgt auch Belgien dem französischen Muster. In der Schweiz beginnen die Diskussionen um politische Anstrengungen zugunsten der Familie in der zweiten Hälfte der 20er Jahre. Zumeist wurde indes der Ausdruck Familienschutz präferiert. 384 Später als in anderen europäischen Staaten taucht der Titel J79 Kurt Lüscher & Franz Schultheis: Familienpolitische Maßnahmen und Einrichtungen im Südwesten Baden-Württembergs. BIB (Hrsg.): Materialien zur Bevölkerungswissenschaft, Konstanz und Wiesbaden 1985, S. I-Iff. 380 F. Bllrgdörfer: Das Bevölkerungsproblem, seine Erfassung durch die Familienstatistik und Familienpolitik mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Reformpläne und der französischen Leistungen, München 1917; sowie: ders.: Volk ohne Jugend. Berlin 1932. '" Friedrich ZIlhn: Die familienpolitische Enquete der Internationalen Vereinigung für Sozialen Fortschritt, in: Allgemeines Statistisches Archiv, Bd. 19,1927, S.145-165. 382 Max Wingen: Artikel: Familienpolitik, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, Herder, Freiburg, Basel, Wien, Bd. 2, 19867 , S. 531. Von Bedeutung sind die Schriften von: Gertrud Bäumer: Familienpolitik, Berlin 1933 oder Ferdinand Oeter: Familienpolitik, Stuttgart 1954. 383 Kurt Lüscher & Franz Schultheis: Familienpolitische Maßnahmen und Einrichtungen im Südwesten Baden-Württembergs, 1985, S. I-I. 384 Margarita Gagg-Schwarz: Gesetzliche Maßnahmen zum wirtschaftlichen Schutz der Familie in der Schweiz, Zürich 1931; Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (Hrsg.): Der wirtschaftliche Schutz der Familie, Zürich 1931; Paul Gygax: Sozialpolitik und Familienschutz, in: Der Schutz der Familie, Festgabe für August Egger, Zürich 1945.

11 FWI

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E. Der Zusammenhang Familie - Familienpolitik - Fertilität

Familienpolitik in Verwaltung, privater Familienfürsorge wie auch im politischen Diskurs explizit auf. 38S Weil der Begriff Familienpolitik keineswegs univok verwendet wird, wollen wir die ihm zugrundeliegenden Konzepte anband neuerer Definitionen zu umreißen versuchen. Die Arbeitsgruppe Familienbericht bestimmt in der Publikation ,,Familienpolitik in der Schweiz" den Gegenstand ihrer Untersuchung wie folgt: "In einem weiten Sinn des Wortes können unter Familienpolitik alle öffentlich anerkannten Maßnahmen und Einrichtungen zur Beeinflussung familiärer Leistungen verstanden werden. Träger solcher Maßnahmen sind staatliche Organe auf allen Stufen der politischen Organisationen, öffentliche Körperschaften, Kirchen, Sozialversicherungen, sowie Verbände, Organisationen und Vereine aller Art, eingeschloßen solche der Selbsthilfe. Zusätzlich zu dieser Umschreibung kommt dem Begriff noch eine zweite Bedeutung zu, indem Familienpolitik dazu beiträgt, Ordnungs vorstellungen des gesellschaftlichen Lebens zu verbreiten und in die Wirklichkeit umzusetzen, da Familie als grundlegende Institution der Gesellschaft aufgefaßt wird. Familienpolitik seitens des Staates ist eine Aufgabe, die nicht in den Zuständigkeitsbereich eines einzelnen Ressorts fällt. Der materielle Familienlastenausgleich betrifft beispielsweise sowohl das Steuerwesen als auch die Sozialpolitik. In den Bereich der Familienpolitik in einem etwas weiteren Sinne gehören überdies Abklärungen, ob oder gegebenenfalls in welcher Weise Maßnahmen, die primär auf andere Ziele ausgerichtet sind, sich auf die Familie oder bestimmte Gruppen von Familien auswirken" 38'.

Friedhelm Neidhardt versteht unter dem gleichen Terminus: "Familienpolitik kann definiert werden als die Gesamtheit aller Maßnahmen, die sich in einer objektiventscheidbaren Weise auf die Familie als Familie und auf die Familienmitglieder als Familienmitglieder beziehen." 387

Der wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim BMJFG schreibt: "Familienpolitik ist eine Politik zur Förderung der Handlungsfähigkeit von Familien in ihrer gesellschaftlichen Umwelt. Sie ist nicht nur auf eine Stärkung der Lebensbedingungen innerhalb der Familie ausgerichtet, sondern zugleich auf die Gestaltung der sozialen und räumlichen Umwelt von Familie. Familienpolitik ist somit ein Musterfall einer ökologisch orientierten Politik: sie beachtet nachdrücklich die Bedeutung unterschiedlicher Handlungs- und Entscheidungsträger für die konkrete Lebenslage von Familien als eigentlichen Zielbereich ihrer Politik." 381

Und Heinz Lampert schreibt: "Die Familienpolitik urnfaßt die Gesamtheit der Einrichtungen und Maßnahmen, mit denen die Träger der staatlichen Sozial- und Gesellschaftspolitikdas Ziel verfolgen, die Familie als Institution zu schützen und zu fördern, die für die Gesellschaft unentbehrliche Funktionen erfüllt." 3..

Max Wingen ergänzt seine eingangs erwähnte Begriffsbestimmung dahingehend, daß er sagt: "F(amilienpolitik, B. F.) kann im übrigen nicht nur das tatsächliche familienpolitische Handeln meinen, sei es als interessengeleitete Auseinandersetzung um die Gestaltung der einzelnen Maß-

Arbeitsgruppe Familienbericht (Hrsg.): Familienpolitik in der Schweiz, Bern 1982, S. 35. Arbeitsgruppe Familienbericht (Hrsg.): Familienpolitik in der Schweiz, 1982, S. 25. 387 Friedhelm Neidhardt: Entwicklungen und Probleme der westdeutschen Familienpolitik, in: Gegenwartskunde 2/1978, S. 149. 388 Wissenschaftlicher Beiratfür Familienfragen beimBMJFG: Leistungen für die nachwachsende Generation in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Hrsg.): Zweiter Familienbericht, Stuttgart 1979, S. 17/18. '89 Heinz wmpert: Sozialpolitik, Heidelberg 1980, S. 358. 38'

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11. Familienpolitik im Spannungsfeld zwischen Familiensoziologie und Politikberatung

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nahmen ("politics"), sei es als das tatsächlich verwirklichte System von Zielen, Maßnahmen und Einrichtungen ("policy"), sondern auch dessen gedankliche Durchdringung in wissenschaftlicher Absicht". 390

Eine knappe Erörterung dieser Defmitionen will die Vielfalt der Begriffsverwendungen wie auch die Komplexität des Handlungsfeldes aufzeigen. Während die Definitionen von Neidhardt und Lampert Familienpolitik im wesentlichen auf den policy-Aspekt (Interventionen, Massnahmen, Einrichtungen) einschränken und sich an einem einfachen Ursache-Wirkungs-Verhaltnis zwischen staatlichem und/oder privatem Agieren 391 und dessen Folgen für die Institution Familie (bei Neidhardt auch der Auswirkungen auf die einzelnen Familienmitglieder) orientieren, verstehen der wissenschaftliche Beirat des BMJFG, aber auch Wingen, unter Familienpolitik ein weit komplexeres, interdependentes System mannigfacher Relationen zwischen a) den vom sozialen und/oder dem politischen System vorgegebenen Zielvorgaben, b) den Wirkungen (intendierte Wirkungen, Nebenwirkungen und kontraintuitive Wirkungen) sowie c) Handlungstragern (Staat, parastaatliche Organisationen), welche ihrerseits wiederum ein System bilden und d) der Familie. Im zweiten Familienbericht des wissenschaftlichen Beirates für Familienfragen wird insbesondere die sozialökologische Dimension der Familienpolitik hervorgehoben. Die Begriffsbestimmung, wie sie von der Arbeitsgruppe Familienbericht vorgeschlagen wird, nimmt eine Mittelposition ein. Familienpolitisch motivierte Maßnahmen und Leistungen bilden zwar den eigentlichen Kernbereich der Familienpolitik, gleichwohl wird auch deren gesellschaftspolitische Bedeutung (Verbreitung von sozialen Ordnungsvorstellungen) unterstrichen. Weitgehende Einigkeit herrscht darüber, daß als Tragerschajt familienpolitischer Interventionen sowohl staatliche, parastaatliche (intermediäre Institutionen) als auch private Akteure in Erscheinung treten können. Wichtige Differenzen bestehen indes bei der Bestimmung des Adressaten. In allen Definitionen wird übereinstimmend die Institution Familie als Empf::mger von Leistungen bezeichnet. Darüber hinausgehend erwähnen Neidhardt und Wingen auch die einzelnen Familienmitglieder (Frauen, Kinder) als Nutznießer von Leistungen. Diese Komponente findet sich implizit auch in der Defmition des Beirates des BMJFG. Die beiden anderen Zitate beschränken den Adressatenkreis weitgehend auf die Institution Familie. 392 Ohne hier detaillierter auf die erwähnten Definitionen einzugehen, nehmen wir eine terminologische Differenzierung vor. Wir unterscheiden einerseits zwischen 390 Max Wingen: Artikel: Familienpolitik, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Auflage, Bd. 2, Freiburg, Basel, Wien 1986 S. 532. 391 Dabei muß die hierarchische Ausgangslage im Auge behalten werden, können doch politische Maßnahmen und ihre Wirkungen nicht auf ein symmetrisches Verhältnis zwischen politischem System und den potentiellen Nutznießern derselben reduziert werden. 392 Zu ergänzen ist, daß Kurt Lüscher, Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Familienbericht, mit seinem Begriff der "Sozialpolitik für das Kind" diese Erweiterung der Adressatenschaft auf Einzelindividuen keineswegs in Abrede stellt.

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E. Der Zusammenhang Familie - Familienpolitik - Fertilität

Familienpolitik im Sinne eines komplexen Interaktions-Systems, welches sich aus dem Staat, privaten Organisationen, der Institution Familie sowie den einzelnen Familienmitgliedern zusammensetzt und andererseits den jamilienpolitischen Maßnahmen und Einrichtungen, d. h. all jenen policies, die sich an die Adresse der Familie richten. Unter dem erstgenannten Terminus gelangen somit die vielfältigen Interdependenzen zwischen Staat, intermediären Institutionen und Familie ins Blickfeld. Der letztgenannte Begriff hingegen faßt die konkreten familienpolitischen Leistungen (d. h. rechtliche, ökonomische, ökologische oder pädagogische Interventionen 393) zugunsten der Institution Familie und der Mitglieder familialer Lebensformen, sowie deren Folgen und Auswirkungen ins Auge. Während der zweite Begriff eine einseitige Wirkungsrichtung von (staatlichem) politischem Handeln auf bestimmte familiale Funktionen (z. B.: Reproduktion, Heiratsverhalten) betont, interessieren unter dem Terminus Familienpolitik gerade die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Systemen. Traditionellerweise kommt dem Aspekt der biologischen Reproduktion - und damit auch die natalistischen Auswirkungen familienpolitischer Einrichtungen auch in familienpolitischen Diskussionszusammenhängen zentrale Bedeutung zu. Betrachten wir daherim folgenden einige Definitionen des Begriffs Bevölke rung s-

politik.

Mcu Wingen versteht unter Bevölkerungspolitik: "die Gesamtheit der zielgerichteten Einwirkungen auf die Entwicklung einer Bevölkerung. Dabei läßt sich zwischen einem quantitativen und einem qualitativen Aspekt unterscheiden: Die Maßnahmen der quantitativen Bevölkerungspolitik ( ... ) suchen Zahl und Altersaufbau der Bevölkerung zu beeinflussen, während die qualitative Bevölkerungspolitik auf deren Zusammensetzung einwirkt (durch besondere Förderung einzelner Bevölkerungsgruppen). Bisher existieren in unserem Sprachgebrauch keine unterschiedlichen Begriffe für die Erfassung des praktisch-politischen Handelns selbst, sowie andererseits für die wissenschaftliche Befassung mit diesem gesellschaftspolitischen Aktionsfeld. Infolgedessen kann B(evölkerungspolitikB. F.)-ähnlich wie ,Sozialpolitik' -sowohl die B(evölkerungspolitik B. F.) als wissenschaftliche Disziplin (B(evölkerungspolitik B. F.)Lehre) als auch die tatsächlichen bevölkerungspolitischen Maßnahmen meinen." 394

Charlotte Höhn und Hermann Schubnell umschreiben den Terminus als: "zielgerichtetes, begründetes Handeln zum Zwecke der planmäßigen Beeinflußung demographischer Tatbestände wie Größe, Altersaufbau, regionale Verteilung und Wachsturnsintensität der Bevölkerung. Die strategischen Zielkomponenten für bevölkerungspolitische Maßnahmen sind Geburtenhäufigkeit, Sterblichkeit und Wanderungen. Auch Maßnahmen, die die Eheschließung beeinflussen, können Teil bevölkerungspolitischen HandeIns sein." 395

393 Mit dieser Typologie familienpolitischer Leistungen beziehen wir uns auf: Franz-Xaver Kaufmann: Elemente einer soziologischen Theorie sozialpolitischer Intervention, in: Franz-Xaver Kaufmann (Hrsg.): Staatliche Sozialpolitik und Familie, München, 1982, S. 85. 39. Max Wingen: Die Notwendigkeit von bevölkerungspolitischen Zielvorstellungen für eine rationale Gesellschaftspolitik, in: Franz-Xaver Kaufmann (Hrsg.): Bevölkerungsbewegung zwischen Quantität und Qualität. Beiträge zum Problem einer Bevölkerungspolitik in industriellen Gesellschaften, Enke, Stuttgart 1975, S. 133. 39' Charlotte Höhn & Hermann Schubnell: Bevölkerungspolitische Maßnahmen und ihre Wirksamkeit in aus gewählten europäischen Industrieländern, I1II, Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Bd. 12, 1(1986), S. 3-51 und 2(1986), S. 185-219.

II. Familienpolitik im Spannungsfeld zwischen Familiensoziologie und Politikberatung

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Jürgen Cromm umschreibt den Temlinus wie folgt: "Bevölkerungspolitik umfaßt alle zielgerichteten politischen Maßnahmen, durch welche die Bevölkerung mit Hilfe eines bestimmten (umfangreichen) Instrumentariums im Hinblick auf ihre Größe (quantitative Bevölkerungspolitik) und ihre Zusammensetzung (qualitative Bevölkerungspolitik) planmäßig zu beeinflussen versucht wird. Bevölkerungspolitikist also gewolltes Einwirken auf Größe, Wachstum und Altersaufbau der Bevölkerung sowie ihre Verteilung im Raum. Die Zie\gegenstände sind Fruchtbarkeit, Sterblichkeit und Wanderung."39'

Hermann-Michel Hagmann unterscheidet zwei Bedeutungen: "Nach der eng gefaßten Definition beinhaltet Bevölkerungspolitik alle Maßnahmen, die ausdrücklich die Beeinflußung der demographischen Entwicklung zum Ziel haben, und die gegenseitig abgestimmt sein sollten. Nach unserer Meinung ist diese Interpretation zu einschränkend, denn erstens ist es selten, daß die politischen Maßnahmen in irgend einem Bereich unserer heutigen Gesellschaft wirklich aufeinander abgestimmt sind, zweitens schließt eine solche Definition zahlreiche Maßnahmen aus, die zwar nicht direkt demographische Ziele verfolgen, die aber zweifellos einen Einfluß auf die Bevölkerungsentwicklung haben. Zur Bevölkerungspolitik im weiteren Sinne gehören alle politischen Maßnahmen eines Staates, die Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung haben oder die ihrerseits, vor allem quantitativ betrachtet, durch Bevölkerungsprozesse beeinflußt werden." Er erwähnt: Bevölkerungsbestand, Bevölkerungsstruktur, Krankheitshäufigkeit und Sterblichkeit, Fruchtbarkeit, internationale Wanderungen, Binnenwanderungen, Sub-Bevölkerungen, das Informations- und Unterrichts wesen und die Forschung. 397

In erster Näherung unterscheiden sich diese Begriffsbestimmungen kaum. Dennoch scheinen einige Anmerkungen am Platze zu sein. Mit dem letzten Satz, in welchem Höhn und Schubnell auf die Beeinflußung der Eheschließungen hinweisen, weiten sie Bevölkerungspolitik über den Bereich rein natalistischer Interessen auf jenes Feld aus, das sinnvollerweise mit dem Terminus Familienpolitik bedacht würde. Damit handeln sie sich terminologische Abgrenzungsprobleme ein zwischen bevölkerungs- respektive familienbezogenem politischen Intervenieren im eigentlichen Sinn des Wortes. Dies hat zweiffellos auch historische Ursachen. Die Tatsache, daß in Deutschland Maßnahmen zur politischen Beeinflussung der Quantität wie auch der Qualität der Bevölkerung wegen der rassistisehen Bevölkerungspolitik der Nationalsozialisten bis in die Gegenwart in hohem Maße tabuisiert werden, wie verschiedene Autoren nachgewiesen haben, führt zu semantischen Verlagerungen und zu einer Aufladung des Terminus Familienpolitik. Im Unterschied zu Bevölkerungspolitik wird der Begriff Familienpolitik mehrheitlich positiv konnotiert und in ideologischer Hinsicht als relativ unbedenklieh eingestuft. Karl Schwarz bezeichnet entsprechende sprachpolitisch motivierten Substitutionen des Begriffs Bevölkerungspolitik durch Termini wie Familien-, Gesundheits-, Ausländer- oder Raumordnungspolitik indes für einen ,,Etikettenschwindel" und bezeichnet ihn als "Selbstbetrug".398 Eine reine ideologie- oder sprach politische Erklärung für die Vermischung von Bevölkerungs- und Familienpolitik würde aber zu kurz greifen. Bestimmte politische Maßnahmen können Jürgen Cromm: Bevölkerung - Individuum - Gesellschaft, 1988, S. 107. Hermann-Michel Hagmann: Bevölkerungspolitik, in: Kommission "Bevölkerungspolitik" (Hrsg.): Sterben die Schweizer aus? Die Bevölkerung der Schweiz: Probleme, Perspektiven, Politik, Haupt, Bern & Stuttgart 1985, S. 167f. 398 Karl Schwarz: Familienpolitik und demographische Entwicklung in den Bundesländern nach dem Zweiten Weltkrieg - ein Beitrag zur Abschätzung der demographischen Wirkungen familienpolitischer Maßnahmen, in: BIB (Hrsg.): Materialien zur Bevölkerungswissenschaft, Heft 57, Bd. I, S. 5. 39. 397

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E. Der Zusammenhang Familie - Familienpolitik - Fertilität

durchaus sowohl die Absicht verfolgen, das Sozialsystem Familie zu stützen also jamilienpolitisch motiviert sein - wie auch aus staatspolitischen Motiven heraus veranIaßt werden (z. B.: zwecks Erhalt des kulturellen Erbes, aus Machtinteressen, zum Erhalt des inneren Friedens, der Verteidigungsbereitschaft, der Erfüllung des Generationenvertrages, der Erneuerung des Humankapitals oder des Erhalts der Umwelt). Die staatspolitisch motivierte Beeinflussung des reproduktiven Verhaltens respektive der Bevölkerungsziffer kennzeichnet demzufolge den eigentlichen Begriffsinhalt von Bevölkerungspolitik. Diesem Sachverhalt trägt die Definition Max Wingens insofern Rechnung, als sie den Terminus strikt auf die Dimension der gesellschaftspolitischen Rahmensteuerung einschränkt. 399 Aufgrund des Gesagten lassen sich die beiden Begriffe wie folgt voneinander abgrenzen. Familienpolitik meint politisches Handeln, welches sich an den Bedürnissen der Institution Familie, also jenes Sozialsystems, in welchem fundamentale soziale Normen wie Solidarität, Autorität, Gemeinschaft u. a. sozialisiert, erprobt und tradiert werden, orientiert. Demgegenüber verfolgt die Bevölkerungspolitik vorrangig die Interessen des Staates. Die Familie ist in diesem Fall nur indirekt und von instrumentellem Belang; nämlich insofern, als die Reproduktion des Staates und seiner Bevölkerung mehrheitlich innerhalb familialer Lebenformen realisiert wird. Diese analytische Unterscheidung ruft nun nach der Erörterung des Begriffes

Sozialpolitik. Dabei handelt es sich um ein Politikfeld, in welchem das Erreichen wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit, wie auch sozialer Sicherheit der Einze lindividuen den Zielhorizont darstellt. Mit anderen Worten: auch beim Gegenstand

Sozialpolitik kann eine Überlagerung von staats- oder gesellschaftspolitischen Interessen (z. B.: Nivellierung von sozialstrukturellen Disparitäten) und individuumsorientierten Absichten festgestellt werden. Außerdem spielt beim Vollzug sozialpolitischer Maßnahmen die Institution Familie häufig eine Rolle. Um diese Interdependenzen auszuleuchten, rekurrieren wir erneut auf drei Defmitionen.

atto von Zwiedineck-Südenhorst prägte die folgende, griffige Formel: "Sozialpolitik ist die auf Sicherung fortdauernder Erreichung des Gesellschaftszweckes gerichtete Politik." 4I)()

Rainer Pratorius umschreibt den Terminus inhaltlich: "S (ozialpolitik, B. F.) ist das zielgerichtete Einwirken auf -als problematisch perzipierte gesellschaftsstrukturelle Gegebenheiten, bei dem vor allem staatliche Instanzen und verbandliche Organisationen als Akteure auftreten. Wichtige Ziele der S(ozialpolitik, B. F.) sind U.a. die Kompensation in eingetretenen Schadensfällen; Unterstützung und Beratung bei der Bewältigung von Lebenslagen, die das Individuum überfordern (Soziale Dienste); Fürsorge bei der Unfähigkeit, eigenständig das Existenzminimum zu sichern; Umverteilung sowohl hinsichtlich materiellen Einkommens wie J99 Wir beziehen uns im folgenden auf diese Sprachregelung. Im Aufsatz: Beat Fux: Evaluation bevölkerungspolitischer Strategien im lichte der Frage nach der Zukunft des Staates, in: Schweizerisches Jahrbuch für Politische Wissenschaft, B ern 1990, S. 209-234, haben wir die Untergliederung des Oberbegriffs Bevölkerungspolitik in weitere Politiken, wie etwa Migrations-, Gesundheits oder Entwicklungspolitik detaillierter ausgeführt. 400 Otto v. Zwiedineck-Südenhorst: Sozialpolitik, Leipzig, Berlin 1911, S. 38.

11. Familienpolitik im Spannungsfeld zwischen Familiensoziologie und Politikberatung

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auch sozialer Machtposition; Bewirtschaftung derZukunftsperspektive durch Solidargemeinschaften (Versicherungen). Wichtige Instrumente bei der Erreichung dieser Ziele sind Transfer-Zahlungen und -abgaben als Mittel der finanziellen Verteilung, gesetzliche Regulierungen als Beeinflußung des gesellschaftlichen Machtgefälles, Betreuungs- und Hilfeleistungen durch Professionen (wie auch durch organisierte Freiwilligkeit) und das Angebot allgemein zugänglicher Einrichtungen." 401

Franz-Xaver Kaufmann sodann spitzt den Begriff auf das staatspolitische Grobziel der sozialen Sicherheit zu: "Dennoch ist die Frage nicht von der Hand zu weisen, mit welchem Recht als Ziel der sozialpolitischen Maßnahmen ein Sicherheitsgefühl postuliert werde, ob nicht als Ziel dieser Maßnahmen der objektive Schutz, sei es eines Existenzminimums, sei es des Einkommens bzw. des Arbeitsplatzes oder zum mindesten der Arbeitsmöglichkeit, sei es der Gesundheit, der Kindererziehung usf. anzusehen sei. Hierfür könnte auch angeführt werden, daß die Sozialpolitik historisch zunächst vor allem die Form des Arbeitsschutzes annahm, und daß die Sozialversicherung eine Ausdehnung dieses Schutzes auf diejenigen Personen bedeutete, die nicht mehr erwerbsfähig waren. Sofern man geneigt ist, von, Sicherheit' als Ziel der Sozialpolitik zu sprechen, so muß auf den sachlichen Erfolg der Maßnahmen im Sinne des Schutzes und der Einkommenssicherung abgehoben werden." 402

Diese Definitionen stammen aus drei sehr unterschiedlichen historischen Epochen. Von daher rühren wohl auch die divergentenZugangsweisen. Sie unterscheiden sich insbesondere darin, daß entweder eine individualistische (Betonung der materiellen und strukturellen Lebenslage einzelner Personen oder Personengruppen) oder aber eine etatistische Perpektive (Betonung von Aspekten wie der Gefährdung des Staates (Soziale Frage), der materiellen Umverteilung von Gütern respektive der Herstellung von sozialer Sicherheit und Chancengleichheit) vorherrscht. Das etatistische Moment der Sozialpolitik dominiert in der Formel von Zwiedineck-Südenhorst, die zudem genährt wird von einer Hegelianischen Staatsauffassung. Die Definitionen von Prätorius und Kaufmann hingegen bekräftigen die individualistische Dimension. Mittels sozialpolitischen Einrichtungen sollen individuelle Schadensfälle kompensiert, materielle oder machtmäßige Umverteilungen vorgenommen und soziale Sicherheit garantiert werden. Während der Zweck der Familienpolitik im Wohl der Institution Familie zu finden ist, jener der Bevölkerungspolitik im Interesse des Staates an einer harmonischen Bevölkerungsentwicklung liegt, darf der Zweck sozialpolitischer Anstrengungen heute in der Optimierung der legitimen Bedürfnisse der Individuen erkannt werden. Wenn Sozialpolitik prioritär der Befreiung des einzelnen Menschen aus wirtschaftlichen Zwängen und sozialen Notlagen dienen soll, eignet ihr ein emanzipatorisches Moment. Die Analyse der Zusammenhänge zwischen den drei diskutierten Politikfeldern wird dadurch erschwert, daß sozialpolitische Maßnahmen ebenso wie bevölkerungspolitischeEinrichtungen durchaus bei der Familie ansetzen können. Der Familienlastenausgleich mag als Beleg dafür genügen. Unsere These läuftdaraufhinaus, daß Familienpolitik im eigentlichen Sinne die Stützung des Sozialsystems Familie - verstanden als eine in besonderer Weise 401 Rainer Prätorius: Artikel: Sozialpolitik, in: Günter Endruweit & Gisela Trommsdorff(Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie, dtv/Enke, Stuttgart 1989, Bd. 3, S. 634. 402 Franz-Xaver Kaufmann: Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, Enke, Stuttgart 19732 , S. 117.

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E. Der Zusammenhang Familie - Familienpolitik - Fertilität

qualifizierten sozialen Institution - im Visier hat. Die bevölkerungspolitische Komponente der Familienpolitik besteht darin, daß der Staat bestimmte Funktionen dieser Institution instrumentalisiert (der Staat utilisiert insbesondere die Funktionen der Reproduktion). Die sozialpolitische Komponente der Familienpolitik läßt sich darin erkennen, daß Schutz und Sicherheit der Individuen vielfach effizienter und effektiver realisiert werden können, wenn sozialpolitische Maßnahmen vermittelt über die Institution Familie abgewickelt werden, da diese als ein weitestgehend autonom agierendes Sozialsystem funktioniert. Auch in diesem Fall kann man von einer sozialpolitischen Instrumentalisierung der Familie sprechen. Wir können Familienpolitik im umfassenden Sinne des Wortes bestimmen als eine im historischen Prozeß ebenso wie im Vergleich zwischen Ländern jeweils variierende Mixtur aus sozial-, familien- und bevölkerungspolitischen Maßmahmen und Einrichtungen. Die komplexen Interdependenzen zwischen den drei Politikfeldern einerseits und der Familie andererseits sollen nun aus einer theoretischen Perspektive erörtert werden, welche die funktionalen Beziehungen ins Zentrum stellt. Wir haben eingangs erwähnt, daß sich die Entwicklungen von Familie, Fertilität - verstanden als das Aggregat reproduktiver Handlungen - und die staatliche Unter-Schutz-Stellung der Familie - also der Familienpolitik - als komplexer interdependenter Prozeß auslegen lassen. Die makro strukturellen und -kulturellen Situationen von Individuum, Familie und Staat beeinflussen deren mikrostrukturelle und -kulturelle Situationen wechselseitig. Daraus resultiert ein interdependentes und gleichzeitig hierarchisches Gefüge der Institutionen Staat, Familie und Individuum, welches sich als SpannungsverhLtltnis deuten läßt. 403 Eine Theorie des Wandels dieses Spannungsgefüges werden wir im folgenden Kapitel entwickeln. Unsere Leitvorstellung läuft darauf hinaus, daß sowohl ModifIkationen familialer Leitvorstellungen (Fiktionen, Normen, Denkstile) - Aspekt der Kommunikation - wie auch der Wandel von Familienjormen (generative Regimes, Bevölkerungsweisen) oderfamilialer Funktionen (generative Handlungen, Fertilität)Aspekt der Produktion - das gesamtgesellschaftliche Spannungsgefüge verändern. Familienpolitische Anstrengungen - Aspekt der Politik - dienen der Reduktion solcher zeit- und länderspezifischer Spannungslagen. Mit anderen Worten: die Familienpolitik verfolgt das Ziel, ein optimales Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen und legitimen Interessen von Individuen, Familien und dem Staat herzustellen. Bezüglich der Genese von Spannungen kann wie folgt differenziert werden: Spannungen entstehen entweder intrasystemisch (sowohl beim Individuum, wie in der Familie oder im Staat) durch strukturelle und/oder kulturelle Disparitäten "1)3 Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny: Soziologie des Fremdarbeiterproblems, 1973; ders.: Ein theoretisches Modell gesellschaftlichen und familialen Wandels, 1980; ders.: Gesamtgesellschaftliche Aspekte der Entwicklung von Ehe, Familie und Fertilität, in: Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny et al.: Planspiel Familie. Familie, Kinderwunsch und Familienplanung inder Schweiz, Rüegger, Diessenhofen 1984.

Ir. Familienpolitik im Spannungsfeld zwischen Familiensoziologie und Politikberatung

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sowie durch Disparitäten zwischen Struktur und Kultur. Spannungen entstehen aber auch intersystemisch, indem sich die funktionalen Beziehungen zwischen den drei Systemen laufend verändern. Der permanente Wandel dieses Spannungsgefüges ist Ursache dafür, daß Staat, Familie und Individuum in dauerndem Wandel begriffen sind und daß sie in diesen Wandlungsprozeß handelnd eingreifen. Makrosoziologisch läßt sich dies im Sinne eines Spannungsmanagements rekonstruieren. Die u. E. wichtigsten funktionalen Beziehungen sollen nun in Form eines jUnktionalen Modells ausgeführt werden. Als zentrale Funktionen der Familie lassen

sich die folgenden bestimmen:

Erstens: die kulturelle Modellfunktion der Familie: ,,Die Familie ist die 'natürliche Lernstätte ' für Verantwortungsbewußtsein, Solidarität, Gemeinsinn, Gemeinschaftsbezogenheit, Partnerschaft, Persönlichkeitsentwicklung" 404, also sowohl für zentrale Kulturwerte wie auch für wichtige individuelle Eigenschaften. Dies führte bereits Montesquieu zur Einsicht, daß Familie und Staat in einem ,,Entsprechungsverhältnis" zueinander stehen, 405 ein Theorem, welches sich bis in die aktuellen familiensoziologischen Diskussionen gehalten hat. Man vergleiche dazu beispielsweise das Historische Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland,406 wo Schwab im Artikel ,,Familie" von der Strukturanalogie von Staat und Familie" handelt. Die "gemeinschaftlichen" Muster der familialen Sozialintegration 407 dienen dem Staat als Richtmaß für die Sozialintegration, insofern kann das Diktum von der ,,Familie als Keimzelle des Staates" keineswegs als obsolet erachtet werden. Aus dieser kulturellen Modellfunktion der Familie für den Staat leiten sich drei

Teilfunktionen ab, die für den Staat ebenso wie für die Individuen relevant erscheinen: a) die Sozialisation von Interaktionskompetenzen (kurz: SozialisationsjUnktion), b) die Tradierung von Werten, Normen und Einstellungen (kurz: TradierungsjUnktion) und c) die kreative Modiflkation von Organisationsformen (kurz: institutionelle Anpassungs/unktion). Gerade die letztgenannte Teilfunktion verweist auf die Bedeutung des Privaten in der Familie. Die Familie als Ort wo die Familienmitglieder frei und verantwortlich ihre ,,höchstpersönlichen" Lebensformen pflegen und entwickeln können, ist Grundlage für sozialen Wandel im allgemeinen und für eine demokratischpluralistische Vielfalt an Lebens- und Familienformen im besonderen. Der Bedarf des Staates an solchen Leistungen der Familie scheint ebenso ausgewiesen zu sein wie der Bedarf der Familie respektive der einzelnen IndiviPerer Häherle: Verfassungsschutz der Familie - Familienpolitik im Verfassungsstaat, 1984. 40' Charles-Louis de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Reclam, Stungart 1976. "'. Dieter Schwab: Artikel: Familie, in: Ono Brunner; Werner Conze & Reinhart Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2 (E-G), KIen, Stungart 1975, S. 253 und 280. "'7 Ferdinand Tännies: Gemeinschaft und Gesellschaft; Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 19792 ; Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny: Gesamtgesellschaftliche Aspekte der Entwicklung von Ehe, Familie und Fertilität, 1984. /= 75 Prozent)

V. Determinanten des Fertilitätsniveaus

239

V. Determinanten des Fertilitätsniveaus Die Detenninanten, welcbe das Fertilitätsniveau bestimmen, eruierten wir mittels einfacher, respektive mittels schrittweiser multipler Regressionen. Wir diskutieren zunäcbst die einfachen Zusammenhiinge. Signifikant negativ ist die Korrelation zwiscben Fertilität und der Bevölkerungsdicbte (gemessen als EinwobnerzabVkm2 (Ln)). Der Plot dieses Zusammenhanges (Abb. 31) zeigt deutlicb die Sonderposition des quasi Stadtstaates Basel, der ein extremes Dicbtezentrum darstellt. Wird dieser Ausreißer aus der Recbnung ausgeschlossen, erböbt sicb der Zusammenhang beträcbtlicb. Einen signiftkant negativen Zusammenhang läßt sicb ebenfalls zwiscben dem Fertilitätsniveau und der Frauenerwerbsquote (Prozentanteil erwerbstätiger Frauen an der erwerbstätigen Bevölkerung) beobacbten. Betracbtet man die Erwerbstätigkeit nacb Sektoren, so läßt sicb der Befund von Josef Kytir 478 bestätigen, wonacb ein erklärungskräftiger Zusammenhang zwiscben der Erwerbsquote der im Primärsektor Tätigen und dem Fertilitätsniveau bestebt. Der Zusammenbang steigt, wenn anstelle der aktuellen Agrarquote jene mit einem time-lag von 10, respektive 20 Jabren gewählt wird. Der Industrialisierungsgrad (Erwerbstätige im Sekundärsektor) weist keinen signiftkanten Zusammenbang aus. Berücksicbtigtman international vergleicbende Befunde, erstaunt der signifIkante Zusammenbang zwiscben Konfession und Fertilitätsniveau. Er erstaunt nicbt zuletzt desbalb, weil er sicb bei Analysen auf Individualdatenbasis nicbt belegen läßt. 479 Legt man über die Karte mit den Geburtenraten 1970 oder 1980 (Abb. 29) eine Karte, auf welcber die Regionen mit einer dominierenden Konfession (75 oder mebr Prozent Katholiken oder Protestanten, vgl. Abb. 30) eingezeicbnet sind, so läßt sicb die Relevanz dieses Zusammenbanges deutlicb belegen. Ebenfalls zwiscben den Spracbregionen und der Fertilität bestebt ein bedeutender Zusammenhang. Weder zwiscben der Fertilität und dem Pro-Kopf-Einkommen, nocb zwiscben ihr und der Veränderung des Pro-Kopf-Einkommens lassen sicb signifIkante Zusammenhänge nacbweisen. Die Ergebnisse der einfacben Regressionsanalysen sowie die Regressionsstatistiken für die jeweiligen Plots ftnden sicb in Abb. 31.

lose! Kytir, Die "verzögerte" Modernisierung, 1986, S. 58 . Vgl. Franr:ois Höpjlinger: Determinanten des Geburtenrückgangs (Schlußbericht an den NF), Bd. 2, Zürich 1982, S. 289ff; oder Beat Fux & Kurt Wyss, Fertilitätsentwicklung und generatives Verhalten im Drei-Länder-Vergleich, Zürich 1988, S. 369. 47.

• 79

240

G. Überlagerung kultureller Faktoren

320

••

280 Q

r-. 240 a-.

......

Y=-28,8x + 379 (R-Quadrat: .53)

320

• •

280



Q

r-. 240 a-. ......



~ 200

~ 200

• • •

160 120



3

4

5

160 7

6

8

120

9

0

Dichte (Einw./km2) 1970, log. 320

,

280 Q

r-. 240 a-. ......



~ 200

160 120







••

• ••

•Y=O,71x + 196 •

• 40

50

r-. 240 a-. ......



,

~ 200

160 120

60

Y=-7,Ox + 462,6 (R-Quadrat: .22)



y = l,lx + 163 (R-Quadrat: .44)

280

Frauenerwerbsquote 1970

,

~

... 200 .~

280

...

160

.~

• • 120 +-.........,~--,---,--..,.---i o

20

40

60

80

100

Katholiken 1970 (in %)

••



• •

200





160 120

••

(R-Quadrat: .25)

r-. a-. 240 ......

.

......



320 Y=0,73x + 180,3 Q

a-. 240

••

25 27 29 31 33 35 37 39 41

Sekundärsektor 1970 (in %) 320





Q

• (R-Quadrat: .01)

30



280

• • •• •• •

10 20 30 40 50 Primärsektor 1950 (in %)

320





y =3,59x + 160,7 (R-Quadrat: .60)

••

• •



0

20

40

60

80

100

Deutschsprachige (in %)

Abb. 31: Plots ausgewählter einfacher Zusammenhange Ergiebiger als die einfachen Zusammenhänge scheint uns die Diskussion der schrittweisen multiplen Regressionen zu sein. Als abhängige Variable der drei Re-

gressionsmodelle verwenden wir die igf-Werte für 1960, 1970 und 1980. Unabhängige Variablen sind die nachstehenden: die logarithmierte Bevölkerungsdichte (X 1), also die Anzahl Einwohner pro Quadratkilometer 1970, die Agrarquote (X2) oder die Erwerbstätigen im Primärsektor in Relation zu allen Erwerbstätigen bei einem time-lag von jeweils 20 Jahren, die Frauenerwerbsquote (X3), ferner die

V. Determinanten des Fertilitätsniveaus

241

Prozentanteile der katholischen Bevölkerung (X4), das Volkseinkommen per capita (X5) (nur für 1970 und 1980 vorhanden), sowie die oben erwähnte Variable für den Zeitpunkt des Eintretens des Kantons in die Phase des jüngeren Geburtenrückgangs (X6) und der Prozentsatz deutschsprachiger Einwohner an der gesamten Wohnbevölkerung (X7). Tab. 4: Interkorrelationen zwischen den Variablen 1960

Agrarquote 1941 (X2) Zeitpt d. Geb. (X6) Frauenerw. (X3) Deutschspr. (X7) Dichte (Xl) Katholikenant. (X4) 1970

Agrarquote 1950 (X2) Zeitpt d. Geb. (X6) Frauenerw. (X3) Volkseink. 70, (X5) Deutschspr. (X7) Dichte (Xl) Katholikenant. (X4) 1980

Agrarquote 1960 (X2) Zeitpt d. Geb. (X6) Frauenerw. (X3) Volkseink. 80, (X5) Deutschspr. (X7) Dichte (Xl) Katholiken (X4)

y

.70** .81 ** -.62** .55* -.41 .66**

Y .77** .80** -.46** -.66** .50* -.51 * .66**

Y .75** .69** -.25 -.56* .50* -.46* .49*

X2

X7

Xl

.70** -.59** -.60** .36 -.09 -.03 .03 -.51 * -.29 .46 .63** .83** -.52** -.05

-.24

X2

X6

X6

X3

X3

.72** -.61 ** -.60** .48* -.70** -.53* -.09 -.05 .37 .46 -.49* -.30 .66** .83** -.52*

X2

X6

X3

.71 ** -.51 *- -.59** -.65** -.46* .41* -.14 .37 -.09 .46 -.46* -.30 .63** .83** -.52*

X5

X7

Xl

-.03 .60** .03 -.39 -.05

-.24

X5

X7

Xl

-.03 .63** .03 -.34 -.05

-.24

Legende: (* = sig. .=-ntscheid zllf Eh:~~h~ießu~~__ J Abb. 54: Familienbezogene Entscheidungs-Sequenzen nach generativem Regime Beide Entscheidungen werden durch die normativen Erwartungen des sozialen Umfeldes beeinflußt, was sich indes anhand dem graphischer Daten nicht zeigen läßt. Zweifellos trägt der Wechsel in der Abfolge familienrelevanter Dezisionen indes zur Erklärung des rückläufigen Zeitintervalls zwischen Erstheirat und dem Alter der Mutter bei der Geburt ihrer Kinder wie auch des steigenden Erstheiratsalters oder des Alters der Mutter bei der Geburt ihrer Kinder bei. Dies bedarf der weitergehenden Abklärung.

Wir nehmen an, daß da