Der Erziehungsauftrag des Staates in der Schule: Grundlagen und Grenzen staatlicher Erziehungstätigkeit im öffentlichen Schulwesen [1 ed.] 9783428501854, 9783428101856

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Der Erziehungsauftrag des Staates in der Schule: Grundlagen und Grenzen staatlicher Erziehungstätigkeit im öffentlichen Schulwesen [1 ed.]
 9783428501854, 9783428101856

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MARKUS TIllEL

Der Erziehung sauftrag des Staates in der Schule

Abhandlungen zu Bildungsforschung und Bildungsrecht Herausgegeben von Frank-Rüdiger lach und Siegfried lenkner

Band 5

Der Erziehungs auftrag des Staates in der Schule Grundlagen und Grenzen staatlicher Erziehungstätigkeit im öffentlichen Schulwesen

Von

Markus Thiel

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Thiel, Markus:

Der Erziehungsauftrag des Staates in der Schule: Grundlagen und Grenzen staatlicher Erziehungstätigkeit im öffentlichen Schulwesen I Markus Thie!. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Abhandlungen zu Bildungsforschung und Bildungsrecht ; Bd. 5) Zug!.: Köln, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10185-5

Alle Rechte vorbehalten

© 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1433-0911 ISBN 3-428-10185-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Meinen lieben Eltern in Dankbarkeit

Vorwort Im schulrechtlichen Schrifttum wird nach nahezu einhelliger Auffassung davon ausgegangen, dem Staate sei ein eigener Erziehungsauftrag erteilt. Art. 7 Abs. 1 GG, der oftmals als Grundlage für einen solchen Auftrag herangezogen wird, bietet jedoch wenig unmittelbare Anhaltspunkte zu seiner inhaltlichen Bestimmung. Bislang fehlt eine eingehende monographische Auseinandersetzung mit den rechtlichen Fragen seiner dogmatischen Herleitung und seiner Grenzen. Diese Lücke soll die vorliegende Schrift schließen. Sie hat der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln im Jahre 1999 als Dissertation vorgelegen und wurde für die Drucklegung nur geringfügig geändert. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Universitätsprofessor Dr. Arnulf Schmitt-Kammler. In der Auseinandersetzung mit dem Thema hat er mich stets bestärkt, stand mir jederzeit gern zur Erörterung fachlicher und organisatorischer Fragen zur Verfügung und hat durch seine hilfreiche Betreuung wesentlich zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Auch Herrn Universitätsprofessor Dr. Stefan MuckeI, der das Zweitgutachten äußerst zügig erstellt hat, bin ich zu Dank verpflichtet. Schließlich möchte ich meinen Kolleginnen und Kollegen an der Professur für Staats- und Verwaltungsrecht und am Institut für Deutsches und Europäisches Wissenschaftsrecht der Universität zu Köln danken, die das Entstehen meiner Doktorschrift stets mit Interesse verfolgt und mich nach Kräften unterstützt haben. Köln, im Februar 2000

Markus Thiel

Inhaltsverzeichnis Einleitung

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A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

17

B. Gang der Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

20

Erster Teil

Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags A. Modelle staatlichen Erziehens vor der Geltung des Grundgesetzes ..... '. . ..

I. H. III. IV. V. VI.

Bildung und Erziehung in der Antike. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Völkerwanderung und Christianisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Karl der Große und die Reform des Bildungswesens. . . . . . .. . . . . .. .. Erziehung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. . . . . . . . . . . . . . . .. Reformation und Folgezeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Entwicklung seit 1794 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. I. Preußisches Allgemeines Landrecht:. Schulen als Veranstaltungen des Staates. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Staatspädagogische Theorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Johann Gottlieb Fichte: Absolute Erziehungsgewalt zur Bildung der Nation............................................... b) Wilhelm von Humboldt: Wendung von der Kulturnation zum Kulturstaat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Weitere Entwicklung in Preußen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Entwicklung in Österreich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. VII. Paulskirchenverfassung.......................................... VIII. Deutsches Reich 1871-1918. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Zeit des Kulturkampfes 1871-1890. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. a) Preußen................................................. b) Andere Staaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Weitere Entwicklung bis zum Ende des Deutschen Reichs 18911918....................................................... IX. Weimarer Republik 1918-1933. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. X. Nationalsozialismus 1933-1945 ........... ~ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. XI. Zusammenfassung ...................... , . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

22 22 22 23 24 25 27 29 29 31 31 32 33 34 35 35 35 35 37 38 39 41 43

10

Inhaltsverzeichnis

B. Staatlicher Erziehungsauftrag unter der Geltung des Grundgesetzes - Dogmatische Herleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. I. Erziehungsauftrag, Erziehungsanspruch oder Erziehungsrecht? . . . . . .. 11. III.

IV.

V.

VI.

Erziehungsziele in den Länderverfassungen als Grundlage des staatlichen Erziehungsauftrags? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Annex zu einem ,,(Grund-)Recht auf Bildung" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

43 43 45 50

1. "Recht auf Bildung" in den Länderverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Art. 2 S. 1 des Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

51 52

3. Art. 6 Abs. 2 GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

53

4. Art. 12 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . ..

53

5. Art. 2 Abs. 1 GG - freie Entfaltung der Persönlichkeit. . . . . . . . . ..

54

6. Das Sozialstaatsprinzip als Grundlage für ein Recht auf Bildung ..

56

7. Art. 7 Abs. 1 GG. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

57

8. Ergebnis....................................................

58

Ableitung aus Art. 6 Abs. 2 GG. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Der staatliche Erziehungsauftrag als Derivat des natürlichen Elternrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Der Begriff "zuvörderst" als Grundlage des staatlichen Erziehungsauftrags? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

58

3. Ableitung aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG - "staatliches Wächteramt" .. Art. 7 Abs. 1 GG. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Art. 7 Abs. 1 GG als für den Erziehungsauftrag konstitutive Norm

60 61 61

58 59

a) Auslegung des Begriffs "Aufsicht" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

62

aa) Wortlaut............................................ bb) Historische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

62 63

ce) Übernahme der historischen Auslegung durch das Grundgesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . ..

64

dd) Ergänzung durch das Sozialstaatsprinzip? . . . . . . . . . . . . . ..

66

b) Kritik der extensiven Auslegung des Schulaufsichtsbegriffs im Schrifttum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

68

aa) "Aufsicht" im Verfassungssprachgebrauch. . . . . . . . . . . . . ..

68

bb) "Anti-administrativer" Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

71

ce) Ungenauigkeiten in der historischen Betrachtung. . . . . . . ..

72

dd) Unmöglichkeit der historischen Auslegungsmethode. . . . ..

72

ee) Unzulässige "Vermengung" staatlicher Befugnisse .......

73

ff)

Unverhältnismäßigkeit staatlicher Erziehung. . . . . . . . . . . ..

73

gg) Unfähigkeit des Staates zur Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . . ..

75

hh) Andere Ansätze. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

75

c) Stellungnahme...........................................

77

2. Art. 7 Abs. 1 GG als deklaratorische Norm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

84

Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

84

Inhaltsverzeichnis

11

Zweiter Teil

Inhalt und Grenzen des staatlichen Erziehungsauftrags

86

A. Inhalt des staatlichen Erziehungsauftrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Inhalt der staatlichen Schulhoheit gemäß Art. 7 Abs. I GG. . . . . . . . .. 1. Zuweisung der Schulhoheit an die Länder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Organisationsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Vermittlung von Bildung ..................................... II. Rechtliche Reglementierung staatlicher Erziehungsziele in den Länderverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Nicht-Regelung von Erziehungszielen im Grundgesetz. . . . . . . . . .. 2. Bindung des staatlichen Erziehungsauftrags an die landesverfassungsrechtlichen Erziehungsziele? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Ergebnis ....................................... ~ . . . . . . . . . . .. III. Zulässigkeit rechtlicher Reglementierung durch die Schul verwaltung und ihr Einfluß auf den staatlichen Erziehungsauftrag. . . . . . . . . . . . . ..

86 86 86 88 88

B. Grenzen des staatlichen Erziehungsauftrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Gebot staatlicher Neutralität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. I. Herleitung des Neutralitätsgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Historische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Das Neutralitätsgebot im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Die Auffassungen Herbert Krügers und E. Fischers zum Neutralitätsgebot und dem "Prinzip staatlicher Nichtidentifikation" . . . . . .. 3. Kritik des Neutralitätsgebots durch das Schrifttum ............... 4. Einschränkungen des Neutralitätsgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 7 Abs. 3 S. 1 und 2 GG - Religionsunterricht ........... aa) Grundlagen .......................................... bb) Restriktive Auslegung des Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG "prinzipienwidrige Verfassungsnorm"? . . . . . . . . . . . . . . . . .. cc) Ergebnis............................................ b) "Christliche Gemeinschaftsschule" als Regelschultyp ......... c) Erziehungsinhalte ........................................ aa) Erziehung zur Beachtung der Verfassungsprinzipien und der Rechtsordnung im übrigen ......................... (1) Prinzipien der Verfassung ......................... (2) Rechtsordnung................................... bb) Erziehung zu allgemein anerkannten Wertvorstellungen . . . cc) Erziehung zu "Bürgertugenden" ....................... dd) "Ehrfurcht vor Gott" als Erziehungsziel. ................ (1) Vereinbarkeit mit dem Neutralitätsgebot und mit Art. 4 Abs. 1 GG ........ ; ....................... (2) Rechtfertigung durch die Anerkennung des Christentums als prägender Kultur- und Bildungsfaktor ......

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Inhaltsverzeichnis

12

11.

III.

IV.

(3) Rechtfertigung durch "verfassungsmäßige Paritätsstufung" ........................................... (4) Ergebnis........................................ ee) Ergebnis ............................................ 5. Schulgebet und Schulkreuz als Verstöße gegen das Neutralitätsprinzip? ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Schulgebet. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Schulkreuz .............................................. c) Ergebnis ................................................ 6. Systemvergleich - Neutralitätsgebot in anderen Staaten . . . . . . . . .. a) Systeme mit Staatskirchen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Trennungssysteme ........................................ aa) Frankreich.......................................... bb) Islamische Staaten ................................... c) Systeme mit rechtlich ausgebildeter Kooperation zwischen Staat und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 7. Ergebnis .................................................... Elterliches Erziehungsrecht. Art. 6 Abs. 2 GG ..................... 1. Historische Grundlagen des Elternrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Inhalt des Elternrechts im erzieherischen Bereich ................ 3. Geltung des Elternrechts im schulischen Bereich ........... . .... 4. Grenzen des Elternrechts im schulischen Bereich ................ a) "Wächteramt des Staates" ................................. b) Verhältnis des Art. 6 Abs. 2 GG zu den landesverfassungsrechtlich geregelten Erziehungszielen ....................... c) Elternrecht und staatliches Erziehungsrecht .................. aa) Historische Auffassungen ............................ , bb) Separationstheorie ................................... , cc) Gleichordnungstheorien ............................... (1) Drei-Bereiche-Lehre .............................. (2) "Stufentheorie" .................................. (3) "Koordinations- und Kooperationsmodell" .......... (4) Relativer Vorrang des elterlichen Erziehungsrechts ... (5) Abgrenzung nach Kindesgrundrechten .............. dd) Art. 7 Abs. 1 GG als lex specialis ...................... ee) Eigene Auffassung ................................... Demokratieprinzip - Demokratisierung der Schule durch Partizipation und Schulautonomie? ........................................... 1. Partizipation ................. .. ............................. 2. "Schulautonomie" ............. . ................. . ........... 3. Ergebnis .................................................... Die Geltung des Gesetzesvorbehaltes im Schulwesen ............... 1. Historische Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 2. Erstreckung des Gesetzes- und Parlamentsvorbehalts auf das Schulwesen ................................................. 3. Ergebnis................................................... . V. Privatschulgarantie des Art. 7 Abs. 4 GG als grundgesetzlich geregelte Einschränkung des staatlichen Erziehungsauftrags . . . . . . . . . . . . . 1. Historischer Überblick .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Privatschulfreiheit unter Geltung des Grundgesetzes ............ . 3. Kritik..................................................... . 4. Einschränkungen der Privatschulfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis.................................................... VI. Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften. . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Kirchen als eigenständige Erziehungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach - Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG ........................................................ 3. Verfassungs rechtlicher Regelcharakter der weltanschaulich-religiösen Ausrichtung des öffentlichen Schulwesens .................. 4. Konfessionelle Privatschulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5. Weitergehende Rechte der Kirchen und religiösen Gemeinschaften. a) Die römisch-katholische Kirche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Die evangelischen Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis ................................................ VII. Grundrechte der Schüler, insbesondere allgemeines Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 LV. m. Art. lAbs. 1 GG, und Weltanschauungsfreiheit, Art. 4 Abs. 1 GG ................................... 1. Grundrecht des Kindes auf Selbstentfaltung in der Schule (Art. 2 Abs. 1 GG) ................................................. a) Inhalt des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . .. b) Schulische Erziehung als (verfassungswidriger) Eingriff in das Persönlichkeitsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kollektive Erziehung als Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG LV.m. Art. 1 Abs. 1 GG? ................................. 2. Grundrecht der Weltanschauungsfreiheit, Art. 4 Abs. 1 GG . . . . . .. VIII. (Grund-)Recht auf eine "ideologisch tolerante Schule" . . . . . . . . . . . . .. IX. Kommunale Selbstverwaltung und gemeindliche Schulträgerschaft . .. 1. Historische Entwicklung gemeindlicher Schultätigkeit. . . . . . . . . . .. 2. Wirkung des Art. 28 Abs. 2 GG im Schulwesen ................. a) Verhältnis des Art. 28 Abs. 2 GG zu Art. 7 Abs. 1 GG . . . . . . . b) Umfang der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie in der Schule .................................................. 3. Ergebnis ................................................. . .. X. Pädagogische Freiheit des Lehrers ................................ 1. Pädagogische Freiheit kraft "Sachvorgabe" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. (Verfassungs-)Rechtliche Garantie der pädagogischen Freiheit. .... a) Art. 5 Abs. 3 S. I GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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188 189 189 191 193 194 197 198 199 200 200 200 204 205 205 206 208

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Inhaltsverzeichnis aa) Wortlaut......................... . .................. bb) Historische Auslegung ................................ cc) Nonnzweck ......................................... b) Vergleichbarkeit mit richterlicher Tätigkeit .................. c) Grundrechte des Lehrers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beamtenrechtliche Stellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums, Art. 33 Abs. 5 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) "Sonderrecht" des Lehrers aus Art. 7 Abs. 3 S. 3 GG .... cc) Theorie der "modifizierten Gehorsamspflicht" ........... e) Integrierter grundrechtlicher Freiheitsbereich des Lehrers in Art. 7 GG - "Grundrechtsinsel"? ........................... f) Art. 7 Abs. 1 GG i.V. m. dem Grundsatz optimaler Effizienz staatlichen Handeins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... g) Grundrechte der Schüler und der Eltern ..................... 3. Eingrenzung des staatlichen Erziehungsrechts durch die pädagogische Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis................................................... . XI. Einschränkungen der staatlichen Schulhoheit durch bildungspolitische Vorgaben der Europäischen Union. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XII. Exkurs: "Entschulung" von Erziehung und Gesellschaft .............

208 210 212 216 217 220

Zusammenfassung

236

Literaturverzeichnis

239

Stichwortverzeichnis

254

220 221 221 222 223 224 225 230 231 234

Abkürzungsverzeichnis a.A.

abw. a.E. ALR Anm. AöR Art. Aufl. BayVBI BayVGH BayVSO Bd. Beschl. BVerfG BVerwG bzw. CIC ders. DÖV DVBI E EGV EMRK etc. EU EUG

f.

FamRZ ff. Fn. FS GG GV GVBI HessStGH HessVGH

andere(r) Ansicht abweichend am Ende Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Bayerische Verwaltungsblätter Bayerischer Verfassungsgerichtshof Schulordnung für die Volksschulen in Bayern Band Beschluß Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht beziehungsweise Codex Iuris Canonici derselbe Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Entscheidungssammlung Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) et cetera Europäische Union Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (Bayern) folgende Zeitschrift für das gesamte Familienrecht fortfolgende Fußnote(n) Festschrift Grundgesetz Gesetz- und Verordnungsblatt Gesetz- und Verordnungsblatt Hessischer Staatsgerichtshof Hessischer Verwaltungsgerichtshof

16 Hg. h.M. i.d.F. i.e. insb.

i. S.

i.V.m. JuS JZ LKV Ls. LVerf NJW NVwZ NW NWVBI o. PrALR RdJB RGH Rn. Rspr. s. S. Sp. ThürVBL

u.

Urt.

v.

Verf VG VGH vgl. VVDStRL WRV ZaöRV z.B. ZRP

Abkürzungsverzeichnis Herausgeber herrschende Meinung in der Fassung id est insbesondere im Sinne in Verbindung mit Juristische Schulung Juristenzeitung Landes- und Kommunalverwaltung Leitsatz Landesverfassung Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nordrhein-Westfalen Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter oben Preußisches Allgemeines Landrecht Recht der Jugend und des Bildungswesens Reichsgerichtshof Randnummer Rechtssprechung siehe Seite(n) Spalte(n) Thüringische Verwaltungsblätter und, unten Urteil von, vom Verfassung Verwaltungsgericht Verwaltungs gerichtshof vergleiche Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Weimarer Reichsverfassung Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für Rechtspolitik

Im übrigen wird verwiesen auf Kirchner,. Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Aufl., Berlin/New York 1993.

"Der Staat, selbst die Fonn der dauernden Erziehung aller, kümmert sich um die Erziehung der Jugend. Denn durch sie wachsen ihm die Menschen zu, welche ihn alsbald tragen sollen." Karl Jaspers

Einleitung A. Problemstellung Bildung und Erziehung! sollen junge Menschen dazu befähigen, ihre Stellung in Staat und Gesellschaft zu finden, einzunehmen und auszufüllen. 2 In den ersten beiden Lebensjahrzehnten werden die wesentlichen Grundlagen für die weitere geistige und seelische Entwicklung des Menschen, für die Ausprägung seiner sozialen und kommunikativen Fähigkeiten und unter Umständen auch für Erfolg oder Mißerfolg im Beruf gelegt. Das Erscheinungsbild der menschlichen Gesellschaft in der Zukunft hängt unter anderem davon ab, auf welche Weise und mit welcher Zielsetzung die Jugend in der Gegenwart erzogen wird. Die überwiegende Erziehungsarbeit wird einerseits durch die Eltern, andererseits durch den Staat in der Schule geleistet. Aus diesem Grund sind mit der Schule, ihrer Ausgestaltung und ihren Erziehungszielen auch politische Interessen verbunden: "Wer die Schule hat, der hat die Zukunft". 3 In der Möglichkeit, Einfluß auf die Jugend zu nehmen und somit zugleich gestaltend auf die gesellschaftliche Entwicklung einzuwirken, liegt eine der großen Gefahren des öffentlichen Schulwesens. Der Staat hat es in der Hand, mittels schulischer Erziehung bestimmte geistige Strömungen tief im allgemeinen Bewußtsein zu verankern und andere von diesem fernzuhalten. 4 Eine Gemeinschaftserziehung, wie sie in nahezu allen Staatsgebilden I Grundlegend zur tenninologischen Unterscheidung zwischen Bildung, Erziehung und Ausbildung Hennecke, Staat und Unterricht, 1971, S. 23ff.; Ramm, Bildung, Erziehung und Ausbildung als Gegenstand von Grundrechten, in: Avenariusl Engelhardt/Heussner/von Zezschwitz (Hg.), Festschrift für Stein, 1983, S. 239ff. (242 ff.). 2 Bothe, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, VVDStRL 1995 (Heft 54), S. 7 ff. (9). 3 So schon Ferdinand Stiehl, Geheimrat im preußischen Kultusministerium, der Verfasser der konservativen Schulregulative von 1854. - Zu den vielfältigen Einwirkungsfaktoren auf die Schule vgl. eingehend Bemer, Aktuelle Strömungen in der Pädagogik und ihre Bedeutung für den Erziehungsauftrag der Schule, 1992. 4 Stein, Das Recht des Kindes auf Selbstentfaltung in der Schule, 1967, S. 3. 2 Thiol

18

Einleitung

vorgesehen ist, verleitet dazu, neben der bloßen Vermittlung von Wissen auch eine politisch-ideologische Beeinflussung der Schüler5 vorzunehmen. Kein anderer Erziehungsträger - mit Ausnahme der Eltern - vermag über längere Zeit einen so intensiven erzieherischen Einfluß auf die Heranwachsenden auszuüben wie die Schule,6 so daß hinsichtlich der Situation des öffentlichen Schulwesens von einer faktischen und rechtlichen "Gemengelage" gesprochen werden kann. Aufgrund dieser überragenden Bedeutung erzieherischer Tätigkeit für Staat und Gesellschaft sind zahlreiche juristische Probleme, die im Zusammenhang mit der schulischen und außerschulischen Erziehung von Kindern stehen, noch immer umstritten. Insbesondere das Verhältnis der staatlichen Schulen und der durch sie gegebenen Einflußmöglichkeiten zu den Ansprüchen und den tatsächlichen Einwirkungen anderer Erziehungsträger7 - zum Beispiel der Eltern, gesellschaftlicher Gruppierungen, der Jugendverbände und der Religionsgemeinschaften 8 - beschäftigt die verfassungsrechtliche Rechtsprechung und das juristische und pädagogische Schrifttum schon seit Beginn staatlicher Erziehungstätigkeit. 9 Die Diskussionen um religiös-weltanschauliche Erziehung, um Religionsunterricht, um Schulgebet und Schulkreuz und um vieles mehr sind noch immer nicht zur Ruhe gekommen. Das Bildungswesen hat, um mit den Worten Richters zu sprechen, "den Kulturkampf noch nicht gänzlich überwunden". 10 Auch die Bevölkerung ist in Schulangelegenheiten erhöht sensibilisiert, was auf einer "Konsenseinbuße" in Erziehungsfragen, auf einer zunehmenden Verrechtlichung 11 des Schulwesens und dem Konkurrenzdruck beruht, S Der Lesbarkeit halber wird im folgenden darauf verzichtet, neben der Bezeichnung "Schüler" auch die spezifisch weibliche Form "Schülerinnen" zu verwenden. Dies gilt entsprechend für weitere Formulierungen. 6 Vgl. Starck. Freiheitlicher Staat und staatliche Schulhoheit, in: Krautscheidtl Marre (Hg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 9, 1975, S. 9. 7 Starck. Freiheitlicher Staat, S. 9, spricht von einem "fast unübersehbaren Pluralismus von Erziehungsträgem". 8 In jüngster Zeit ist die erzieherische Wirkung des Fernsehens verstärkt diskutiert worden - aufgrund des stetig wachsenden Fernsehkonsums der Minderjährigen erstreckt sich "Erziehung durch den Staat" zumindest hinsichtlich der öffentlichrechtlichen Runkfunkanstalten auch in diesen Bereich hinein, das Fernsehen erscheint als "drittes Elternteil"; vgl. Oppermann, Öffentlicher Erziehungsauftrag Eine Wiederbelebung nach der deutschen Einheit, in: Marre/Schümmelfelder/Kämper (Hg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 32, 1998, S. 7 ff.;

26f.

9 Das teilweise höchst unübersichtliche Schrifttum - vor allem der siebziger Jahre - zum Schulwesen allgemein und zu den hier angesprochenen Fragestellungen im besonderen konnte daher nicht vollständig ausgewertet werden. 10 Richter, Bildungsrecht - Was ist das eigentlich, RdJB 1997, S. 2ff. (4).

A. Problemstellung

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dem die Schulabgänger bei der Bewerbung um Studien- und Ausbildungsplätze ausgesetzt sind. 12 Zu den Grundfragen der schulischen Erziehung, die bis vor wenigen Jahrzehnten noch nahezu einhellig auf der Grundlage der christlichen Glaubenslehre beantwortet werden konnten, finden sich nunmehr stark unterschiedliche, ja gegensätzliche Auffassungen, die einen Konsens unmöglich machen. Die Streitpunkte sind vielfältig: Zwischen Eltern, Lehrern und staatlichen Verwaltungsbehörden werden "pädagogische Grabenkämpfe" ausgefochten, dem Staat wird teilweise jegliche Erziehungskompetenz (und damit auch ein staatliches Erziehungsrecht) abgesprochen, es wird mehr Freizügigkeit bei der Unterrichtsgestaltung für die Lehrer, eine stetige Erweiterung der Mitbestimmungsrechte in den öffentlichen Schulen für die Eltern und eine intensivere Beteiligung am Bildungswesen für die Kommunen gefordert. Die zunehmende "Verrechtlichung" des Schulwesens, insbesondere durch die Tätigkeit der staatlichen Schulverwaltung, und die gleichzeitig bestehenden Mängel der schulrechtlichen Normierungen werden zudem von Lehrern, Eltern und Schulleitungen beklagt, ja als geradezu unerträglich empfunden. Auf der anderen Seite wird vom Staat verlangt, ein "einheitliches Bildungssystem" mit gleichen Rechten für alle Schüler zu gewährleisten und aufrechtzuerhalten. Nicht nur die Schüler müssen im Wettbewerb mit den anderen Absolventen bestehen und haben unter dieser Situation häufig zu leiden; das Bildungssystem wird als Ganzes belastet durch den Konkurrenzdruck, der durch das Zusammenwachsen der Europäischen Union und der damit verbundenen Mobilität von Studierenden und Arbeitnehmern entsteht. Die Defizite im Bereich der Grundschulbildung und der Bildung in den weiterführenden Schulen setzen sich in das Hochschulwesen hinein fort. So werden zunehmend Stimmen laut, die eine Änderung des deutschen Bildungssystems fordern, insbesondere eine Verkürzung der Zeit von der Einschulung bis zum Eintritt in das Berufsleben. Neben die juristischen Probleme treten damit auch gesellschaftliche Schwierigkeiten 13 - ein Dilemma, zu dessen Lösung bereits zahlreiche Vorschläge unterbreitet wurden. die sich jedoch aufgrund unklarer Begrifflichkeiten und ihres geringen Nutzens für die Praxis meist als wenig fruchtbar erweisen. 11 Ausführlich hierzu Bott, Schule und Schulaufsicht im Rechtsstaat, LKV 1992, S. 221 ff. (222f.); Hufen, Zur "Verrechtlichung" der Lehrinhalte - Tendenzwende durch eine "pedagogical-question-Doktrin" des Bundesverfassungsgerichts?, RdJB 1978, S. 31 ff. 12 Starck, Staatliche Schulhoheit, pädagogische Freiheit und Elternrecht, DÖV 1979, S. 269. 13 Eingehend zur "gesellschaftlichen Herausforderung an das Erziehungswesen" Bothe, Erziehungsauftrag, S. lOff.

2'

20

Einleitung

Es soll daher im folgenden versucht werden, das Thema "Staatlicher Erziehungsauftrag, seine Grundlagen und seine Beschränkungen" umfassend zu behandeln und eine verfassungsrechtlich vertretbare Lösung für diejenigen Konflikte zu finden, die durch die Existenz mehrerer konkurrierender, Geltung und Wirkungsräume beanspruchender Erziehungsträger entstehen. Die bisherigen Veröffentlichungen zu diesem Themenkomplex beschränkten sich in der Regel auf die Darstellung einzelner Grenzen des staatlichen Erziehungsauftrags und befaßten sich nur am Rande mit den jeweils anderen Beschränkungen. 14 Die schon seit mehreren Jahrzehnten diskutierten Grundrechtspositionen und Verfassungsprinzipien, die im Schulwesen Anwendung finden und daher als Grenzen in Betracht gezogen werden könnten, sind noch immer in ihrer verfassungsrechtlichen Begründung und in ihrer rechtlichen Reichweite nicht hinreichend bestimmt. 15 Bei allen Erwägungen dürfen jedoch weder das Ziel staatlichen Erziehens - zugleich das Anliegen der Jugendverbände und Kirchen - noch die Funktion des Elternrechts vernachlässigt werden: Das "komplexe Geflecht von Rechtsbeziehungen" zwischen den verschiedenen Erziehungsträgern hat im Hinblick auf die Erziehung der Schüler letztlich nur "dienenden Charakter".16 Das ausschlaggebende Kriterium bei allen Versuchen, Konflikte im erzieherischen Bereich zu lösen, muß stets das Wohl der zu Erziehenden sein.

B. Gang der Darstellung Der erste Teil der vorliegenden Arbeit untersucht die historischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags. Zum besseren Verständnis der grundgesetzlichen Konzeption ist zunächst ein geschichtlicher Rückblick auf die Ideen und Modelle der staatlichen Schulhoheit und der schulischen Erziehungsziele sowie deren tatsächliche Entwicklung vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes erforderlich. Der Schwerpunkt wird auf die Darstellung des (preußischen)17 Volksschulwesens gelegt werden, da an diesem die grundlegenden Probleme und 14 Vgl. beispielhaft nur die Monographien von Evers, Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen in der pluralistischen Gesellschaft, 1979; Friedrich, Die Erziehungsrechte der Eltern, des Staates und der Kirche in der Volksschule, 1958; lach, Schulvielfalt als Verfassungsgebot, 1991; Ossenbühl, Das elterliche Erziehungsrecht im Sinne des Grundgesetzes, 1981; Schmitt-Kammler, Elternrecht und schulisches Erziehungsrecht nach dem Grundgesetz, 1983. IS Richter, RdJB 1997, S. 3. 16 Starck, DÖV 1979. S. 269.

B. Gang der Darstellung

21

die unterschiedlichen Auffassungen am besten aufgezeigt werden können

(1. Teil, A).

Es schließt sich eine verfassungsdogmatische Herleitung des staatlichen Erziehungsauftrags an, die eine Darstellung der unterschiedlichen Ansätze zur verfassungsrechtlichen Begründung sowie die Kritik umfaßt, denen sich diese Ansätze ausgesetzt sehen. Insbesondere das Verhältnis der landesverfassungsrechtlichen Regelungen zu der Konzeption des Grundgesetzes - vor allem im Bezug auf die Ziele der staatlichen Erziehungstätigkeit - soll herausgestellt werden (1. Teil, B.). Der zweite Teil befaßt sich mit Inhalt und Grenzen des staatlichen Erziehungsauftrags. Bei der Frage nach seinem Inhalt (bzw. der diesem zugrundeliegenden staatlichen Schulhoheit) wird zunächst auf die Zuweisung der Schulhoheit an die Länder, auf die unstreitig von dieser eingeräumten Einwirkungsmöglichkeiten des Staates, insbesondere auf die die äußeren und inneren Schulangelegenheiten betreffenden Organisationsrechte, und auf die in den Länderverfassungen niedergelegten staatlichen Erziehungsziele eingegangen. Weiterhin wird die Frage nach der grundSätzlichen Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit schulrechtlicher Reglementierungen durch Verwaltungshandeln erörtert. Grenzen des staatlichen Erziehungsauftrags können sich aus zahlreichen verfassungsrechtlichen Grundsätzen (insbesondere dem Neutralitätsgebot, dem Demokratie- und Sozialstaatsprinzip etc.), verschiedenen Grundrechten (z. B. der Eltern, der Schüler und der Lehrer), aus den Erziehungsansprüchen der Religionsgemeinschaften und anderer nichtstaatlicher Einrichtungen sowie aus den bildungspolitischen Vorgaben der Europäischen Union ergeben. Die möglichen Beschränkungen werden insbesondere unter Berücksichtigung ihrer historischen Entwicklung und (verfassungs-)rechtlichen Rechtfertigung untersucht. Zur Verdeutlichung der Regelung in der Bundesrepublik Deutschland wird bei einigen Beschränkungen auf die entsprechende Ausgestaltung in anderen Staaten eingegangen.

17 Die Entwicklung in den anderen deutschen Territorien verlief in den wesentlichen Zügen entsprechend.

Erster Teil

Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags Zum Verständnis der grundgesetzlichen Konzeption des staatlichen Erziehungsauftrags ist ein geschichtlicher Rückblick auf die Entwicklung des Bildungswesens notwendig, insbesondere hinsichtlich der Fragen, wann und auf welche Weise Hoheitsträger an der Erziehung beteiligt worden sind, und welche Ziele dabei im Vordergrund gestanden haben.

A. Modelle staatlichen Erziehens vor der Geltung des Grundgesetzes I. Bildung und Erziehung in der Antike 1 Im griechisch-römischen Altertum wurden die Grundlagen für die Entwicklung des Bildungswesens in den folgenden Jahrhunderten gelegt? Bildung und Erziehung der Jugend in der griechischen Frühzeit erfolgten im Rahmen von Stamm und städtischer Gemeinschaft als "pädagogischen Ganzheiten". Charakteristisch war, daß die gesamte Lebensweise eine erzieherische Funktion hatte. Speziell auf die Erziehung ausgerichtete Einrichtungen bestanden nicht. In Sparta erzog die staatliche Gemeinschaft die Jugend, wobei die körperliche Ausbildung den Vorrang vor geistiger Prägung und vor sittlich-religiöser Unterweisung hatte. 3 Die attischen Schulen tendierten mehr zu einer Allgemeinbildung. 4 Aus den "Gymnasien", den Stätten der Wehrertüchtigung und der musischen Bildung für den aristokratischen Nachwuchs 5 gingen unter dem Einfluß des auflebenden Hellenismus und des damit verbundenen Bildungsaufschwungs6 erstmals Schulen im eigentlichen Sinne hervor, in denen über philosophische Probleme diskutiert I

Sehr ausführlich zur Ausgestaltung und Entwicklung des antiken Schulwesens

Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, 1957.

2 Hamann, Geschichte des Schulwesens: Werden und Wandel der Schule im ideen- und sozialgeschichtlichen Zusammenhang, 1993 2 , S. 16. 3 Hamann, Schulwesen, S. 17. 4 Hamann, Schulwesen, S. 18. S Hamann, Schulwesen, S. 18. 6 Hamann, Schulwesen, S. 18.

A. Modelle staatlichen Erziehens vor der Geltung des Grundgesetzes

23

und die Schüler in den Grundfertigkeiten unterrichtet wurden. 7 Vermittelt wurden das Lesen, Schreiben und Rechnen sowie Kenntnisse in Fächern wie Mathematik, Grammatik und Musik. 8 Ziel der schulischen Erziehung war es, die Schüler für den Staats- und Verwaltungsdienst auszubilden. Sie bezog sich jedoch nur auf einen Teil der Bevölkerung, die freigeborenen Kinder. 9 Der römische Staat übernahm dieses Bildungssystem in wesentlichen Zügen, wobei das hellenistische Bildungsideal mit spezifisch römischem Ethos - dem Wunsch nach Heranbildung des vir bonus, des tugendhaften und wehrtüchtigen Staatsbürgers - verbunden wurde. 1O Beide Einflüsse verschmolzen allmählich zu einer griechisch-römischen Bildungskultur, die sich im Verlauf des römischen Humanisierungsprozesses bis in die Randgebiete des Römischen Reiches verbreitete. 1 1 11. Völkerwanderung und Christianisierung Die Völkerwanderung auf dem europäischen Kontinent hatte mit dem Zusammenbruch des Westteiles des römischen Weltreiches auch eine "kulturelle Regression,"2 zur Folge, in deren Verlauf das bis dahin aufgebaute römische Schulsystem (Elementar-, Grammatik- und Rhetorikschulen) aufgelöst wurde; nur ein Teil der antiken Schulen hatte weiter Bestand. 13 Das christliche Bildungsprogramm - verbreitet durch die fortschreitende Christianisierung des Abendlandes durch missionierende Mönche l4 - kollidierte mit den verbliebenen heidnischen Schulen. 15 Das frühe Christentum war keine eigentliche "Bildungsreligion"; 16 dennoch führte die schnelle 7 Scheuerl, Geschichte der Erziehung - Ein Grundriß, 1985, S. 26; Reble, Geschichte der Pädagogik, 1993 17 , S. 43. 8 Vgl. Klein, Die Rechtsstellung der katholischen Kirche und ihrer Organe im bayerischen Volksschul wesen, 1929, S. 2. 9 Hamann, Schulwesen, S. 17; Lenzen (Hg.), Pädagogische Grundbegriffe, 1989, Stichwort: Schule, Bd. II S. 1326. 10 Hamann, Schulwesen, S. 20; Marrou, Erziehung im klassischen Altertum, S. 355 ff. 11 Hamann, Schulwesen, S. 20, 22. 12 Kurtz, Zur Geschichte der Schulaufsicht im deutschsprachigen Raum, 1982, S. 9ff. 13 Hamann, Schulwesen, S. 24. - Vgl. ausführlich Marrou, Erziehung im klassischen Altertum, S. 496 ff. 14 Abt Cassiodor (t um 583) übernahm das Bildungsprogramm des Aurelius Augustinus und führte es in das abendländische Mönchtum ein, vgl. Hamann, Schulwesen, S. 25. 15 Vgl. Klein, Rechtsstellung der katholischen Kirche, S. 8. 16 Vgl. Scheuerl, Geschichte der Erziehung, S. 33.

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

Verbreitung der Religion bald zu der Notwendigkeit, die bekehrten Völker in der Glaubenslehre zu unterrichten. Es entstanden neuartige Schulen zur Ausbildung von Mönchen, Priestern und gelehrten Schreibern. 17 Obwohl den christlichen Lehrern die Gefahren der heidnischen Bildungseinrichtungen bewußt waren 18, wurden diese in das frühe christliche Schul wesen integriert und entwickelten sich aufgrund ihrer weitgehenden weltanschaulichen Indifferenz zum "Unterbau" für die christliche Unterweisung. 19 Die Christen nahmen bis ins 6. Jahrhundert hinein an allen Ebenen der antiken Bildungs institutionen als Lehrer und Schüler tei1. 2o Dennoch blieb die schulische Erziehung, sei es in den verbliebenen rein heidnischen Anstalten oder in den Schulen mit christlicher Ausrichtung, zunächst einer gesellschaftlichen bzw. geistlichen Elite vorbehalten.

III. Karl der Große und die Reform des Bildungswesens Erst Kaiser Kar! der Große (768-814) unternahm den Versuch, die Bildung und Erziehung seiner Untertanen über die bestehenden Institutionen hinaus zu organisieren und zu fördern. Geleitet von der Vorstellung, daß das Römische Reich fortbestehe (translatio imperii), wollte er die antike Kultur durch die Rezeption spätantiker Ideale wiederbeleben (translatio studii).21 Religiöse Bildung, die Erziehung in den sieben freien Künsten 22 (septem artes liberales) sowie eine Neubearbeitung aller in Gebrauch befindlichen Lehrbücher sollten diesem Zweck dienen. 23 In Rundschreiben forderte er die hohe Geistlichkeit auf, das Volk in den Grundfertigkeiten und in religiösen Dingen unterrichten zu lassen. Die Klöster wies er an, in Bibliothekskatalogen Verzeichnisse der vorhandenen Bücher anzulegen?4 Hamann, Schulwesen, S. 25. Reble, Geschichte der Pädagogik, S. 54; die Skepsis beruhte jedoch auf Gegenseitigkeit - Kaiser Julian (361-363) verbot in einem Edikt von 363 den Christen jegliche Lehrtätigkeit an römischen Schulen, weil er die Anhänger für pädagogisch ungeeignet und revolutionär hielt, vgl. Scheuert, Geschichte der Erziehung, S. 34. 19 Vgl. Keim, Schule und Religion, 1967, S. 65; Scheuert, Geschichte der Erziehung, S. 34. - Die Inhalte antiker Bildung - die ja prinzipiell im Widerspruch zur christlichen Glaubenslehre standen, weil sie diese eben nicht enthielten - wurden somit beibehalten, indem sie zu einer "Propädeutik" für die christliche Lehre umgedeutet wurden. Dies Verdienst kommt vor allem Augustinus (354-430) zu, der die septem artes liberales als Vorstufe der vollendeten religiösen Erziehung und Bildung betrachtet hat. 20 Marrou, Erziehung im klassischen Altertum, S. 465 ff. 21 Dies nicht, wie oft formuliert wird, im Sinne einer "Renaissance der Antike", sondern eher als "Reform" durch eine Verbindung von antiken und germanischen Bildungsidealen mit christlichen Glaubensinhalten, vgl. Hamann, Schulwesen, S. 27. 22 Grammatik, Rhetorik, Dialektik; Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie. 23 Kurtz, Geschichte der Schulaufsicht, S. 20f. 17

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A. Modelle staatlichen Erziehens vor der Geltung des Grundgesetzes

25

789 erging die admonitio generalis de literis colendis. Sie enthielt die Anordnung, daß neben den klösterlichen Schulen auch Bildungsanstalten an Bischofssitzen und Domstiften zu errichten seien, und erklärte die "Pflege der Literatur" durch die Herausgabe- und Abschreibetätigkeit der Mönche zu einer öffentlichen Aufgabe?5 Gleichzeitig wurden die Bischöfe sowie kaiserliche Beamte unter der Oberaufsicht des Kaisers mit der Aufsicht über die bisher bestehenden Kloster-, Stifts- und Pfarrschulen beauftragt. 26 Mit der Gründung der Aachener Palast schule (schola palatina) entstand ein "Bildungszentrum", an das Karl berühmte Dozenten berief und das in regem Kontakt zu zahlreichen Klosterschulen stand. 27 Unter Karls Nachfolgern, die nicht wie er an einer umfassenden Bildung des Volkes interessiert waren und daher die von ihm begonnene Erneuerung nicht fortführten, entwickelte sich das öffentliche, unter kaiserlicher Aufsicht stehende Bildungssystem wieder zurück; das Bildungswesen beschränkte sich nunmehr wieder auf die Klöster und kirchlichen Einrichtungen?8 Der Sohn und Nachfolger Karls, Ludwig der Fromme (814-840), war zwar zunächst um eine Fortsetzung des Werkes seines Vaters bemüht. Kriege und innere Unruhen - unter anderem veranlaßt durch die Teilung des Frankenreiches unter seine Söhne - führten jedoch dazu, daß die bereits erreichten Fortschritte und Erfolge im Bildungswesen fast vollständig zunichte gemacht wurden. 29

IV. Erziehung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Nach der Gründung der ersten großen Ordensgemeinschaften3o und der Errichtung von Klöstern entstanden an letzteren genuin christliche Schulen. Rechtsgrundlage für deren Organisation und für die Festlegung der Lerninhalte waren von kirchlichen Amtsträgern erlassene Statuten?! Allmählich übernahmen kirchliche Einrichtungen wie Klöster und vereinzelt auch Pfarr- und Stiftskirchen unter Verdrängung der verbliebenen heidnischen Schulen gänzlich die Aufgaben der Bildung und Erziehung. Die Geistlichkeit war während dieser Zeit alleiniger Bildungsträger32 und VerScheuerl, Geschichte der Erziehung, S. 40. Scheuerl, Geschichte der Erziehung, S. 40. 26 Vgl. Klein, Rechtsstellung der katholischen Kirche, S. 14. 27 Hamann, Schulwesen, S. 27; Scheuerl, Geschichte der Erziehung, S. 43. 28 Deuschle, Kirche und Schule nach dem Grundgesetz, 1968, S. 1. 29 Vgl. Klein, Rechtsstellung der katholischen Kirche, S. 16. 30 Die Benediktiner bereits um 520, die Zisterzienser ab 1098. 31 Spaniol, Das Verhältnis zwischen Staat und Kommunen auf dem Gebiet des Schulwesens in der Bundesrepublik, 1960, S. 8. 32 Keim, Schule und Religion, S. 65. 24

25

26

1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

mittler selbst der Grundfertigkeiten wie Schreiben, Lesen und Rechnen. 33 Darin sollten die Schüler unterrichtet werden, die für den geistlichen Beruf vorgesehen waren. Das Schulehalten blieb daher zunächst auf die Mönche und die der Klostergemeinschaft zugeführten pueri ablati - den Ordensnachwuchs - beschränkt. 34 Die kirchlichen "Schulen" und die dort stattfindende Bildung und Erziehung waren also nur einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe vorbehalten; ein erzieherischer Einfluß auf die Gesellschaft außerhalb der Klöster fehlte noch. Noch bis ins ausgehende Mittelalter und in die frühe Neuzeit hinein war das Bildungswesen geprägt von kirchlichen Einrichtungen. Allmählich wurde jedoch auch solchen Kindern der Besuch kirchlicher Schulen gestattet, die nicht für den geistlichen Beruf vorgesehen waren. 35 Das wirtschaftliche Aufblühen der städtischen Gemeinschaften und die damit verbundene Steigerung des bürgerlichen Selbstbewußtseins im Laufe des 12. Jahrhunderts führte dazu, daß auch die Städte und Gemeinden die Notwendigkeit erkannten, ihre Bürger allgemein und planvoll zu erziehen und ihnen für das Gemeinwesen nützliches Wissen zu vermitteln. 36 Die durch den Handel wohlhabend gewordene Bürgerschaft wurde so zur Trägerin einer kulturellen Erneuerung in der Bevölkerung. Durch finanzielle Mittel, die sogenannten "Dotationen", unterstützte die Bürgerschaft zunächst die allmählich verfallenden Kloster- und Domstiftsschulen. Später erfolgten eigene Gründungen: 1237 wird die erste von Bürgern gegründete "Ratsschule" in Wien erwähnt. 37 Diese später auch in anderen Städten 38 entstandenen Schulen waren aber noch an die Pfarrbezirke gebunden und wurden nach den gleichen Prinzipien geführt wie die kirchlichen 33 Dies darf nicht dahingehend mißverstanden werden, daß die Kirche gänzlich unabhängig vom Staat, von diesem getrennt die Bildungsaufgabe übernommen hätte. Nach der Konzeption des Corpus Christianum - in dem es keine Trennung von Staat und Kirche, zwischen Reich, den Territorien und der geistlichen Herrschaft gab - waren die Bildungseinrichtungen zwar getragen von kirchlichen Körperschaften, zugleich aber Bestandteil der weltlichen Verfassung; vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 1967, S. 262; Starck, Freiheitlicher Staat, S. 12. 34 Vgl. Reble, Geschichte der Pädagogik, S. 59. 35 Auch der Lehrstoff wurde modifiziert. Die Kreuzzüge nahmen Einfluß auf die mittelalterliche Geisteswelt und somit auch auf den Unterricht, da sie hilfreiche Kenntnisse der arabischen Wissenschaften - vor allem in den Naturwissenschaften und in der Medizin - ins Abendland brachten; vgl. Kurtz, Geschichte der Schulaufsicht, S. 29 ff. 36 Klein, Rechtsstellung der katholischen Kirche, S. 21 ff.; zu städtischen Schulgründungen auch SteinlRoell, Handbuch des Schulrechts, 1988, S. 4. 37 Hamann, Schulwesen, S. 32. - Vgl. auch Geißler, Schule, Recht und Verwaltung in Deutschland - Ein bildungshistorischer Exkurs, in: Döbert/Geißler (Hg.), Schul autonomie in Europa, 1997, S. 67ff. (69).

A. Modelle staatlichen Erziehens vor der Geltung des Grundgesetzes

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Schulen. 39 Auch unterlagen die Schulen ebenso kirchlichen Gesetzen und Statuten wie die bisherigen Bildungseinrichtungen. 4o Neugründungen bedurften darüber hinaus wegen des kirchlichen Schulmonopols der Genehmigung durch den zuständigen Diözesanbischof. 41 Das Auftreten städtischer Schulen führte zu teilweise mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikten zwischen den Stadträten und der kirchlichen Herrschaft. 42 Die Stadträte bemühten· sich gegen den kirchlichen Widerstand, die schulischen Angelegenheiten selbst zu organisieren und rechtlich zu ordnen. Dazu wurden "Schulordnungen" erlassen, die unter anderem die Schulverwaltung, die Lehrerbesoldung sowie Angelegenheiten des Schulbaues und der Schulunterhaltung regelten. 43 Neben den städtischen Schulen für das gehobene Bürgertum entstanden sogenannte,,(Deutsche) Lese- und Schreibschulen", die besonders auf die Bedürfnisse von Handel und Gewerbe ausgerichtet waren,44 sowie private Lehranstalten, die "Klipp-", "Bei-" oder "Winkelschulen".45

V. Reformation und Folgezeit Die Reformation und die Religionskriege zerstörten viele der von Kirche und Bürgerschaft errichteten Schulen. Das Schulwesen war noch so eng mit der Kirche verbunden, daß deren Krise zugleich zu nahezu unüberwindbaren Schwierigkeiten im Bildungswesen führen mußte. 46 Zugleich wirkte 38 1239 in München, 1262 in Lübeck, 1267 in Breslau, 1279 in Wismar, 1282 in Hannover - Nachweise nach Hamann, Schulwesen, S. 32, und Kurtz, Geschichte der Schulaufsicht, S. 31. 39 Insbesondere was Aufsicht, Verwaltung, Unterhaltung und Lehrstoff betraf, vgl. Spaniol, Staat und Kommunen, S. 8; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte I, S. 262. 40 Scheuerl, Geschichte der Erziehung, S. 50. 41 Kurtz, Geschichte der Schulaufsicht, S. 31. 42 von Unruh, in: Ieserich/Pohl/von Unruh, Deutsche Verwaltungsgeschichte, 1983, Band I, S. 384. 43 Die wohl erste ist die Schulordnung der St.-Stephan-Schule in Wien von 1446 (nach Kurtz, Geschichte der Schulaufsicht, S. 52). 44 Hamann, Schulwesen, S. 33; Reble, Geschichte der Pädagogik, S. 60f. - Aus diesen Schulen, die erstmals einer wirklich breiten Bevölkerungsschicht das Erlernen der Grundfertigkeiten eröffneten, entwickelten sich später die öffentlichen Volksschulen. 45 Diese privaten Erziehungsanstalten wurden aber wegen der Gefahr für die Einheitlichkeit der Erziehung schon bald durch die Obrigkeit reglementiert und in ihrer Tätigkeit eingeschränkt, vgl. Pohl, in: Ieserich/Pohllvon Unruh, Deutsche Verwaltungsgeschichte I, S. 253. 46 Keim, Schule und Religion, S. 66; Scheuerl, Geschichte der Erziehung, S. 61.

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I. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

sich die Refonnation als retardierendes Ereignis auf die Entwicklung eines von kirchlichem Einfluß unabhängigen Schulsystems aus. 47 Luther rief in seinen Schreiben "An die Bürgenneister und Ratsherren allerlei Städte in deutschen Landen, daß sie christliche Schulen aufrichten und erhalten sollen" (1524) und "Sennon, daß man solle Kinder zur Schule halten" (1530) die Landesfürsten und Bürgerschaften zu tätiger Unterstützung der Bildungseinrichtungen auf, wobei er von einem natürlichen Erziehungsrecht der Eltern ausging und die Obrigkeit als lediglich ergänzende Erziehungsgewalt ansah. 48 Melanchton wirkte dagegen unter Einbringung humanistischen Gedankenguts verstärkt selbst auf die Gründung neuer Einrichtungen hin. 49 Hierbei waren die Schulordnungen der protestantischen Territorien weitgehend von den Grundsätzen einer evangelisch-konfessionellen Schule bestimmt, während auf katholischer Seite durch die Gegenrefonnation der geistliche Einfluß auf die Schulen wieder wuchs. 5o War die Schule bis zur Refonnation durch ein "einheitliches Dogma" bestimmt,51 setzte in deren Folgezeit eine verstärkte Konfessionalisierung ein. 52 Refonnation und Gegenrefonnation hatten daher zunächst eine die kirchliche Herrschaft verstärkende Wirkung. 53 Erst später entwickelte sich auf der Grundlage des Absolutismus ein von den kirchlichen Institutionen gänzlich unabhängiges weltliches Schulwesen. 54 In den protestantischen Ländern wurde das Schulwesen sogar verstaatlicht; ebenso wie in den katholischen Gebieten blieb aber der Einfluß der Kirche im Rahmen der Schulverwaltung erhalten. 55 So blieben die meisten Schulen kirchliche Einrichtungen. 56 Noch im Westfälischen Frieden von 1648 wurde die Besetzung der Schulämter durch die Kirchen als annexa confessionis bezeichnet,57 E. R. Huber, Deutsche Verfassungs geschichte I, S. 262 f. Keim, Schule und Religion, S. 66. 49 Zu Melanchton vgl. Keim, Schule und Religion, S. 67; Reble, Geschichte der Pädagogik, S. 89 ff. 50 Vor allem durch das Wirken des Jesuitenordens (gegründet 1534 durch Ignatius von Loyola), der sich im Bildungssystem zunehmend etablierte; vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte I, S. 263. 51 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte I, S. 263 . . 52 Vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte 1., S. 262. 53 Starck, Freiheitlicher Staat, S. 12. 54 Spaniol, Staat und Kommunen, S. 8; vgl. auch Deuschle, Kirche und Schule, 47 48

S.5.

55 Dreier-Gröschner, Grundgesetzkommentar Bd. 1, Art. 1-19, 1996, Art. 7 GG Rn. 3. 56 Deuschle, Kirche und Schule, S. 5.

A. Modelle staatlichen Erziehens vor der Geltung des Grundgesetzes

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Die Schulgründungen der Reformation mit dem Anspruch, allen Gläubigen den Zugang zur Schrift zur verschaffen, und auch die gegenreformatorischen Schulen gewährten zwar weiten Bevölkerungsteilen eine gewisse Grundbildung, ließen aber große Bevölkerungsgruppen nicht über eine Unterweisung im Lesen der Heiligen Schrift als Voraussetzung der Glaubenserziehung hinauskommen. 58 Im Verlauf des Barockzeitalters entstand auf der Grundlage des Wunsches nach rationaler Erfassung der Welt ein Streben nach einer Verbesserung des Schulwesens. 59 Ab dem 17. Jahrhundert erfolgte eine Ausweitung der Möglichkeit zum Schulbesuch auf breite Bevölkerungsschichten zur Förderung einer allgemeinen Schulbildung. Die Obrigkeit zeigte sich diesen Ideen aufgeschlossen, griff reformpädagogische Ansätze auf und begann, sich am Schulwesen zu beteiligen. 6o Einige Landesfürsten gründeten - teils wohl aus "Prestigegründen", teils, weil sie die Notwendigkeit allgemeiner Erziehung zur Erhaltung des Rechtsfriedens erkannt hatten 61 - eigene "Fürsten-" oder "Landesschulen" als höhere Schulen, z.B. in Kur-Sachsen, Preußen und Württemberg. 62 Einige Länder führten die allgemeine Schulpflicht ein: Sachsen-Weimar bereits 1619, Gotha 1642, Württemberg 1649, Hannover 1650, Preußen 1717. 63

VI. Entwicklung seit 1794 1. Preußisches Allgemeines Landrecht: Schulen als

Veranstaltungen des Staates

Erst das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 bezeichnete die Schulen (neben den Universitäten) ausdrücklich als "Veranstaltungen des Staates, welche den Unterricht der Jugend in nützlichen Kenntnissen und Wissenschaften" zur Absicht haben" (§ 1 11 12 ALR).64 Damit wurde erstmals in der deutschen Geschichte der Staat selbst als zum Schulehalten verpflichtet angesehen, um das Wohlergehen und die 57 Instrumenta Pa cis Westphalica. Inst. P. Osnabrucense. V 12 (§ 31); vgl. Deuschle. Kirche und Schule. S. 5. 58 Lenzen. Pädagogische Grundbegriffe H. Stichwort: Schule, S. 1326. 59 Hamann. Schulwesen, S. 53. 60 Hamann. Schulwesen, S. 69. 61 Deuschle. Kirche und Schule, S. 5. 62 E. R. Huber. Deutsche Verfassungs geschichte I, S. 264; Scheuert. Geschichte der Erziehung, S. 63. 63 Vgl. Deuschle. Kirche und Schule, S. 6. 64 Schon 1787 wurde in Preußen ein "Oberschulkollegium" gegründet, dem das Unterrichtswesen unterstellt war; vgl. Starck. Freiheitlicher Staat, S. 12.

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I. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten und die eigene Stellung zu stärken: "Nur die Staatlichkeit des Schulwesens konnte die Bildungseinrichtungen aus der Herrschaft der sozialen Gewalten, so der Konfessionen, der Stände und Klassen, befreien und der großen Forderung des Jahrhunderts dem Ruf nach allgemeiner Bildung Aller - Genüge tun. ,,65 Die Erkenntnis, daß der Staat zur Förderung seiner Bürger verpflichtet sei, entspringt der aus der Aufklärung stammenden und mit der absolutistischen Staatsidee zusammenhängenden "Lehre vom Wohlfahrtsstaat".66 Über eine zunehmende "Verstaatlichung der Kirche" bemächtigte der Staat sich auch der Schule. Das Preußische Allgemeine Landrecht führte die staatliche Kirchenhoheit ein, die die Kirchen zu Staats anstalten machte. § 13 11 1 ALR bestimmte den Zweck der Kirchen dahin, "ihren Mitgliedern Ehrfurcht vor Gott, Gehorsam gegen die Gesetze, Treue gegen den Staat und sittliche, gute Gesinnung gegen ihre Mitbürger einzuflößen".67 Die fortschreitende Säkularisierung griff somit auch auf das Schulwesen über. War bislang der Klerus "Herr des Unterrichts" und "der Unterricht im Christenthume" einziges Unterrichtsfach,68 so behielt ersterer zwar weitestgehend seinen Einfluß, weil Geistliche nach wie vor mit der inneren "Aufsicht und Direction" der Schulen betraut wurden (§§ 12-17 11 12 ALR). § 15 11 12 ALR unterstellte aber auch die geistlichen Schulleiter und Lehrer den staatlicherseits erteilten oder genehmigten Schulordnungen. Im übrigen ließ § 9 11 12 ALR keinen Zweifel daran, daß die geistliche Schulaufsicht grundSätzlich rechtlich aufgehoben sei: "Alle öffentlichen Schul- und Erziehungsanstalten stehen unter Aufsicht des Staates und müssen sich den Prüfungen und Visitationen desselben zu allen Zeiten unterwerfen." Ebenso sollte der Einfluß von Gutsherren und Magistraten als Überreste der ständischen Ordnung eingeschränkt werden. 69 Im höheren Schulwesen gelang es dem Behördenapparat allmählich, die staatliche Schulaufsicht durchzusetzen, während sie im niedrigen öffentlichen Schulwesen unverwirklicht blieb, weil eine Kontrolle der weit verstreuten und verschiedenartigen Unterrichtsanstalten nahezu unmöglich war. 70

65 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band IV, 1969, S. 876f. 66 Vgl. Spaniol, Staat und Kommunen, S. 9; Starck, Freiheitlicher Staat, S. 12. 67 Vgl. Starck, Freiheitlicher Staat, S. 12 Fn. 17. 68 Vgl. Dreier-Gröschner, Grundgesetz, Art. 7 GG Rn. 2 und 3, m. W.N. 69 Evers, Verwaltung und Schule, VVDStRL 1966 (Heft 23), S. 147ff. (147). 70 Geißler, Schule, Recht und Verwaltung, S. 70.

A. Modelle staatlichen Erziehens vor der Geltung des Grundgesetzes

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2. Staatspädagogische Theorien

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wuchs das Interesse an den Grundfragen der Staatspädagogik, also an Grundlagen, Inhalt und Grenzen staatlicher Erziehungstätigkeit. Es standen sich im wesentlichen zwei Auffassungen gegenüber: Die Theorie der absoluten Erziehungsgewalt des Staates zur Erziehung der Nation (1. G. Fichte in Anlehnung an Pestalozzi) und die Lehre von der völligen staatlichen Zurückhaltung des jungen Wilhelm von Humboldt. 71 a) Johann Gottlieb Fichte: Absolute Erziehungsgewalt zur Bildung der Nation 72

Das Ziel jeglicher Erziehungstätigkeit ist nach der Auffassung Johann Gottlieb Fichtes (1762-1814) die Bildung eines "neuen Menschengeschlechts".73 Das Ziel der Erziehung zu besseren Menschen solle die Wiedererstehung einer "Nation" sein. Dazu sei eine "Nationalerziehung" erforderlich. Diese solle nicht nur bestimmten Ständen zukommen, sondern dem gesamten Volke. "Wir wollen durch die neue Erziehung die Deutschen zu einer Gesamtheit bilden, die in allen ihren einzelnen Gliedern getrieben und belebt sei durch dieselbe eine Angelegenheit [... ]", schreibt Fichte in seiner ersten Rede an die deutsche Nation (1807). Die Erziehung des Menschen müsse jedoch ganz in die Hände eines "Erziehers" gelegt werden, um der zu einer angemessenen Erziehung unfähigen Familie keine Möglichkeit der Einflußnahme zu geben. Die Nationalerziehung habe kollektiv in "Anstalten" zu erfolgen, deren Koordination und Leitung dem Staat obliege. Gerechtfertigt durch die spätere Erkenntnis der Schüler, daß eine solche Zwangserziehung sinnvoll und erfolgreich gewesen sei, und durch die mit dieser Erkenntnis verbundene volle Wiedererlangung der durch die Kollektiverziehung eingeschränkten persönlichen Freiheit der Schüler, sei der Staat zur Ausübung der absoluten Zwangs gewalt berechtigt. Fichte konzipiert ein System der "totalen Staatserziehung". Er steht damit unter dem Einfluß Johann Heinrich Pestalozzis (1746-1827), eines Schweizer Pädagogen und Sozialreformers. Pestalozzi konzipierte die Erziehung als auf den Prinzipien von Liebe, Glauben und "Anschauung" aufbau71 Auf die zahlreichen vermittelnden Ansichten und die darüber hinaus vertretenen Konzeptionen soll hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu ausführlich Romberg, Staat und höhere Schule, 1979, S. 12 ff. 72 Vgl. eingehend Romberg, Höhere Schule, S. 20ff., und von den DrieschlEsterhues, Geschichte der Erziehung und Bildung, Band 2, 19604 , S. 281 ff. 73 In seinen "Reden an die deutsche Nation", die Fichte 180711808 in Berlin gehalten hat, vertritt er die im folgenden dargestellte staatspädagogische Ansicht.

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

end. War bisher die mechanische Vermittlung von als nützlich erachtetem Wissensstoff Ziel der schulischen Erziehung, so propagierte Pestalozzi eine Aneignung des das "Menschturn" prägenden allgemeinen Bildungsstoffes zur Bildung einer gefestigten Persönlichkeit. Der allgemeine Bildungsstoff sollte in für alle Angehörige der Nation offenen Einheitsschulen und nicht in den noch immer vorherrschenden ständischen Schulen erlernt werden. 74 Die "Bildungsideen" Fichtes und Pestalozzis wurden, eng verbunden mit der "Staatsidee", zu einer der Grundlagen der preußischen Bildungsreform. 75 Der Entwurf eines allgemeinen Gesetzes über die Verfassung des Schulwesens in Preußen vom 27. Juni 1819 postuliert die Einheit des Bildungswesens als Voraussetzung der als notwendig erachteten Einheit der Bildung. 76

b) Wilhelm von Humboldt: Wendung von der Kulturnation zum Kulturstaat77 Wilhelm von Humboldt (1767-1835) vertrat demgegenüber in seinem Frühwerk "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" (1792) zunächst die Auffassung, der Staat habe sich der Erziehungstätigkeit gänzlich zu enthalten. Ziel der Erziehung sei die "proportionierliche Bildung" der menschlichen Kräfte "zu einem Ganzen".78 Eine solche Entwicklung erfordere absolute Freiheit und "Mannigfaltigkeit" der Situationen. 79 Jede staatliche Einwirkung auf diese Entwicklung durch die öffentliche Erziehung in der Schule schränke aber die natürliche Vielfalt zugunsten einer bestimmten Formung ein. Eine solche Einschränkung ergebe sich schon aus der Gestaltung der rein äußerlichen Bedingungen der öffentlichen Erziehung wie z. B. der Auswahl und Besoldung der Lehrer. Wegen dieser freiheitsbeschränkenden Wirkung staatlicher öffentlicher Schulen, die dem Ziele aller Erziehung entgegenlaufe, spricht von Humboldt dem Staate die Berechtigung zur Errichtung und Unterhaltung von Bildungsinstituten jeglicher Art ab: "Öffentliche Erziehung erscheint mir daher ganz außerhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine 74 Zu den Ansichten Pestalozzis eingehend von den DrieschlEsterhues, Erziehung und Bildung, S. 202 ff. 75 Schon 1806 setzten erste Bestrebungen ein, in Preußen auf der Grundlage der "Pestalozzischen Methode" auf eine Reform der Bildungswesens hinzuwirken; vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte I, S. 269. 76 Vgl. Evers, Verwaltung und Schule, S. 148. 77 Vgl. ausführlich Romberg, Höhere Schule, S. 15. 78 W. von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, 1792; Nachdruck Wuppertal 1951, S. 57ff. 79 W. von Humboldt, Wirksamkeit des Staates, S. 60.

A. Modelle staatlichen Erziehens vor der Geltung des Grundgesetzes

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Wirksamkeit halten muß.,,80 Für die Erziehung der Kinder seien kraft Naturrechts einzig die Eltern verantwortlich. Nur für den Fall, daß die Eltern in rechtsverletzender Weise die Grenzen ihres Erziehungsrechtes überschritten, stehe dem Staate ein Eingriffsrecht zu - zum Schutze des Kindes vor den Folgen der mißbrauchten elterlichen Erziehungsgewalt. 81 Später verwarf von Humboldt diese Thesen unter dem Einfluß der Theorien Pestalozzis und Fichtes während seiner Tätigkeit als Leiter der Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium (1809/1810). Der Staat habe sich für die Nation, als der eigentlichen Trägerin des Erziehungsauftrages, des Bildungswesens anzunehmen, weil sie selbst nicht zu einer geordneten Erziehung in der Lage sei. Der Staat ist für von Humboldt nunmehr Repräsentant der Nation, der für sie das Schulwesen leitet und verwaltet. 82 Erkennend, daß die neue Bildungsidee nur durch ein einheitliches, staatliches Unterrichts system durchgesetzt werden könne, schloß er sich den Befürwortern der preußischen Bildungsrefonn an.

3. Weitere Entwicklung in Preußen

Obwohl der Versuch, das Schulwesen im Sinne der nationalstaatlichen Bildungsidee zu erfüllen, scheiterte 83 , blieb die Forderung nach einer Einheit des Bildungswesens bestehen, um die Gleichheit der Bildungsmöglichkeiten für alle Schüler sicherzustellen. Die weitere schulpolitische Entwicklung in Preußen wurde jedoch hauptsächlich durch den Streit um ein einheitliches Schulgesetz zur Regelung des Volksschulwesens bestimmt. Vor allem die Frage nach der konfessionell-weltanschaulichen Bindung der Volksschule konnte nicht abschließend geklärt werden. Art. 24 der revidierten Preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850 bestimmte, daß bei der Errichtung staatlicher Volksschulen die konfessionellen Verhältnisse "möglichst zu berücksichtigen" seien. Für diese Einschränkung des Grundsatzes staatlicher Schulhoheit sah Art. 26 ein besonderes Gesetz vor. Bis zu dessen Erlaß sollte es bei den bisher geltenden gesetzlichen Bestimmungen bleiben (Art. 112). Das bedeutete de facto eine Beibehaltung der bisher eingerichteten konfessionellen Bekenntnisschulen, da die meisten Länder eine dementsprechende Regelung getroffen hatten. Notwendig war somit zur Erreichung des in der Verfassung vorgegebenen Zieles - der Einrichtung nichtkonfessioneller Schulen - der Erlaß eines Unterrichtsgesetzes. W. von Humboldt, Wirksamkeit des Staates, S. 63. Eine mit Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG vergleichbare Regelung ist also schon in der frühen staatspädagogischen Konzeption von Humboldts zu finden. 82 Vgl. Starck, Freiheitlicher Staat, S. 13. 83 Vgl. Evers, Verwaltung und Schule, S. 148. 80

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

Die folgenden Entwürfe84 scheiterten jedoch am Widerstand der liberalen Parteien und der öffentlichen Meinung. 85 Man begnügte sich daher mit gesetzlichen Regelungen der Schulpflicht und des Schulunterhaltes; die darüber hinausgehenden Fragen der Schulorganisation wurden durch Verwaltungsverordnungen geregelt. 86 Unter Kultusminister von Raumer bot sich nach dem Scheitern des von Ladenbergschen Entwurfs die Möglichkeit, die konfessionalistischen Züge des preußischen Schulwesens auf dem Verwaltungswege zu verschärfen,87 so im Oktober 1854 durch die im Zuge der Reaktion erlassenen "Regulative" Stiehls über das preußische Unterrichtswesen. Der Verfassungsentwurf vom 26. Juli 1848 beabsichtigte in Art. 24, die geistliche Schulaufsicht ausdrücklich zu verbieten. 88 Art. 20 der oktroyierten Verfassung und Art. 23 der endgültigen preußischen Verfassung sahen jedoch vor, daß "alle öffentlichen Privatunterrichts- und Erziehungsanstalten ( ... ) unter der Aufsicht vom Staate ernannter Behörden" stehen sollten. 89 Deshalb konnten auch weiterhin Geistliche beider Konfessionen mit Aufgaben der Schulaufsicht betraut werden. 9o 4. Entwicklung in Österreich

Im habsburgischen Österreich verlief die Entwicklung des Schulwesens vom Zeitalter der Reformation bis zur Epoche der Aufklärung ähnlich wie in Preußen. 91 Das Schulwesen stand bis zum Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluß der Kirche und der geistlichen Orden, vor allem der Gesellschaft Jesu. Erst Kaiserin Maria Theresia unternahm den Versuch, eine allgemeine und vom Staate getragene Volksschule einzurichten. Die Allgemeine Unterrichtsordnung vom 6. Dezember 1774 sollte die österreichische Volksschule als "Nationalinstitut" etablieren. 92 Kaiser Joseph 11. reglementierte 1781 die Schulpflicht für Kinder zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr und führte so zunächst das Werk seiner Mutter fort. 1787 richtete er jedoch das Pfarrpatronat über die Volksschulen ein, um den 84 So die der Kultusminister von Ladenberg (1848-1850), von Bethrnann-Hollweg (1858-1862) und von Mühler (1862-1872). 85 E. R. Huber, Deutsche Verfassungs geschichte IV, S. 877. 86 Evers, Verwaltung und Schule, S. 154. 87 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte IV, S. 877. 88 V gl. Starck, Freiheitlicher Staat, S. 15. 89 Vgl. Starck, Freiheitlicher Staat, S. 15. 90 Starck, Freiheitlicher Staat, S. 15. 91 Schmid (Hg.), Geschichte der Erziehung vom Anfang bis auf unsere Zeit, Band 5.3, 1902, S. 269f. 92 Schmid (Hg.), Geschichte der Erziehung, S. 270.

A. Modelle staatlichen Erziehens vor der Geltung des Grundgesetzes

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geistlichen Einfluß wieder zu stärken. Kaiser Franz 11. schließlich legte durch die Politische Verfassung der deutschen Schulen vom 11. August 1805 die Leitung des Volksschul wesens wieder ganz in die Hände der kirchlichen Behörden. Erst nach der Revolution von 1848 begann das Unterrichtsministerium, das Bildungswesen zu liberalisieren93 und von der kirchlichen Herrschaft zu befreien. Jeder Bürger sollte Zugang zu einer gewissen Allgemeinbildung erhalten; die Einwirkungsmöglichkeiten des Klerus wurden beschränkt. Im Verlaufe der Gegenrevolution wurden diese Fortschritte hin zu einem freiheitlich ausgerichteten Bildungssystem jedoch ein weiteres Mal rückgängig gemacht. Das Konkordat Österreichs mit dem Heiligen Stuhle vom 18. August 1855 94 festigte die konfessionelle Ausrichtung des österreichischen Volksschulwesens und sicherte den Einfluß der Geistlichkeit. VII. Paulskirchenverfassung Auch die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849 äußert sich zum Schulwesen im Sinne der Regelungen des ALR und der Preußischen Verfassung. Das Ergebnis der Auseinandersetzungen in der Frankfurter Nationalversammlung um die Rolle der Schule war ein Kompromiß: 95 § 153 der Verfassung stellte das Unterrichtswesen unter die Oberaufsicht des Staates und versagte der Geistlichkeit - mit Ausnahme des Religionsunterrichts - jeglichen Zugriff auf die öffentliche Schule. Die Frage der religiösen Erziehung und des Rechts der Kirchen im Schulwesen wurde dagegen der einzelstaatlichen Gesetzgebung überlassen. 96 VIII. Deutsches Reich 1871-1918 1. Zeit des Kulturkampfes 1871-1890

a) Preußen

Erst mit Beginn des Kulturkampfes tauchte erneut der Wunsch nach einer Änderung der preußischen Schulverfassung und der bisher geübten schulpolitischen Praxis auf. Unter Kultusminister Falk (1872-1879) wurden die Vorrechte der in der schulorganisatorischen Praxis noch sehr einflußreiKönig, in: Günther (Hg.), Geschichte der Erziehung, 1987 14 , S. 299. Erst infolge des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870 löste sich ÖsterreichUngarn von diesem Konkordat. 95 Keim, Schule und Religion, S. 71. 96 Keim, Schule und Religion, S. 71. 93

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

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chen Geistlichkeit gänzlich abgeschafft. Das Gesetz betreffend die Beaufsichtigung des Unterrichts- und Erziehungswesens (Schulaufsichtsgesetz) vom 11. März 187297 legte die Schulaufsicht im gesamten Reichsgebiet in die Hand des Staates. Rechtlich gesehen handelte es sich hierbei nicht um eine Neuerung, da die uneingeschränkte staatliche Schulaufsicht schon seit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht gewährleistet war. Die Schulaufsichtspraxis war dennoch durch den Einfluß der zu Schulaufsichtsbeamten bestellten Geistlichen bestimmt gewesen, die die Wiedererrichtung einer klerikal organisierten Schulaufsicht anstrebten. Das Schulaufsichtsgesetz legte fest, daß das Recht zur Ernennung der Schulinspektoren auf örtlicher und Kreisebene ausschließlich dem Staat gebühre und daß sie frei widerruflich sei. Daraufhin wurden zahlreiche Geistliche durch Widerruf der Ernennung aus ihren Ämtern als Schulinspektoren entfernt. 98 Auch das Schulaufsichtsgesetz beseitigte aber die Möglichkeit geistlicher Schulaufsicht nicht. 99 Die antiklerikale Schulpolitik Falks erreichte ihren Höhepunkt in seiner Verfügung vom 15. Juni 1872, die es den Mitgliedern geistlicher Orden untersagte, als Volksschullehrer an öffentlichen Schulen tätig zu sein. lOo Falk legte 1877 einen umfassenden Entwurf eines Unterrichtsgesetzes vor, das alle wesentlichen Fragen des Volksschulwesens regelte. lol Die wachsende Opposition konservativer und kirchlich orientierter Kräfte gegen seine Schulpolitik sowie der Wunsch Bismarcks, den Kulturkampf beizulegen, führten aber schließlich zum Scheitern des Falkschen Entwurfs lO2 und zur Ernennung von Puttkarners zum Kultusminister. Dieser begann mit der GS 1872, S. 183. Die meisten evangelischen Geistlichen wurden im Amt belassen; das Schulaufsichtsgesetz schloß die Beauftragung von Geistlichen mit schulaufsichtsrechtlichen Befugnissen jedenfalls nicht ausdrücklich aus; vgl. Starck, Freiheitlicher Staat, S. 15. 99 Deuschle, Kirche und Schule, S. 9. 100 Eine weitere Verfügung vom 16. November 1872 ordnete an, daß an Schulen, an denen der Unterricht in deutsch erteilt wurde, auch der Religionsunterricht in deutscher Sprache - entgegen der bislang geübten Praxis der Unterrichtung in lateinischer Sprache - erteilt werden müsse. 101 Auch dieser Entwurf sah eine weitere Einschränkung des kirchlichen Einflusses vor: Es bestehe kein Anspruch von Eltern und Kirchen auf die Errichtung von Konfessionsschulen; das Bestimmungsrecht der Kirchen sei im Volksschulwesen auf den Religionsunterricht beschränkt, wobei auch dieser der staatlichen Schulaufsicht unterliege. Nachweise bei E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte IV, S. 880f. 102 Falks Entwurf scheiterte letztlich an der Skepsis Bismarcks und den finanziellen Bedenken des Finanzministers Camphausen, der die Mehrkosten durch die gesetzlich festgelegten staatlichen Schulzuschüsse ("Dotationen") fürchtete, und erreichte nicht· einmal das Parlament. Auch die Linksliberalen wandten sich gegen den Falkschen Entwurf, da sie eine Kommunalisierung des Schulwesens anstrebten und die von Falk propagierte ,,staatsschule" im Widerspruch zu ihren liberalen Bildungsvorstellungens sahen; vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte IV, S.882. 97 98

A. Modelle staatlichen Erziehens vor der Geltung des Grundgesetzes

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teilweisen Rückübertragung der Inspektorenposten an Kleriker, jedoch unter dem Vorbehalt, daß er nicht die Wiedereinführung der geistlichen Schulaufsicht beabsichtige. 103 Auch sein Nachfolger von Goßler verhielt sich abwartend, bis das Verhältnis von Staat und Kirche geklärt sei. 104 Die Zentrumspartei, die während des Kulturkampfes und in der Folgezeit bezüglich einiger kirchenpolitischer Fragen Rückschläge hatte erleiden müssen,105 strebte nun eine Entscheidung der Schulaufsichtsproblematik in ihrem Sinne an. Am 25. Februar 1888 brachte der Abgeordnete des Zentrums Windthorst im preußischen Abgeordnetenhaus seinen "Schulantrag" ein. Er beabsichtigte eine Konfessionalisierung des Volksschullehrerstandes zur Gewährleistung eines religiös "einwandfreien" Religionsunterrichtes durch den Vorschlag, daß zum Volksschullehrer nur solche Personen ernannt werden sollten, gegen die die Kirche keine Bedenken erhebe. Der Antrag wurde abgelehnt. b) Andere Staaten

In den anderen Staaten war das Schulwesen rechtlich kaum besser ausgestaltet als in Preußen. 106 Eine Regelung des Schulwesens durch die Legislative wurde in Bayern durch den Gegensatz zwischen dem liberalen Kultusminister Lutz und der konservativ-klerikalen Kammermehrheit unmöglich gemacht. Wie in Württemberg blieb es beim bestehenden Konfessionsschulsystem. 107 Sachsen schuf mit dem Volksschulgesetz vom 24. März 1873 108 eine neue Schulverfassung mit einer der preußischen Regelung vergleichbaren staatlichen Schulleitung, aber unter Beibehaltung des Bekenntnisschulsystems. 109 Baden dagegen begründete im Schulgesetz vom 18. September 1876 110 als erster deutscher Staat ein Schulsystem, das auf der obligatorischen Simultanschule beruhte, während Hessen in seinem Volksschulgesetz vom 16. Juni 1874 111 die fakultative Simultanschule festlegte. I 12

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E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte IV, S. 883. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte IV, S. 884. Dazu E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte IV, S. 792 ff. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte IV, S. 886. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte IV, S. 886. GVBl 1873, S. 350. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte IV, S. 887. GVBI 1876, S. 309. RegBI 1874, S. 377. Einzelheiten bei E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte IV, S. 887.

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags 2. Weitere Entwicklung bis zum Ende des Deutschen Reichs 1891-1918

Der Sturz Bismarcks und die Ernennung Caprivis zum Reichskanzler führte zu einem Wandel in der preußischen Schulpolitik. 1891 wurde der Konservative Graf Zedlitz-Trütschler zum Kultusminister ernannt. Er ließ einen Schulgesetzentwurf zur Regelung des Volksschulwesens erarbeiten, dem die bisher vom Kultusministerium abgelehnten Windthorstschen Schulanträge zugrundegelegt wurden. l13 Ziel der Schule sei die religiöse, sittliche und vaterländische Bildung der Jugend. Die Religion sollte das höchste Bildungsgut, die Kirche die höchste Bildungsrnacht sein. Die Verstaatlichung des Unterrichtswesens sollte gehemmt werden, insbesondere durch die Freiheit zur Errichtung privater Volksschulen. Konfessionsschulen sollten wieder ausdrücklich zugelassen werden, und der Religionsunterricht sollte der staatlichen Schulaufsicht entzogen werden. Der Zedlitzsche Schul gesetzentwurf sah sich in der folgenden Zeit schwerster Kritik ausgesetzt, vor allem aus dem nationalliberalen Lager. 114 Es wurde ihm "Ultramontanismus" vorgeworfen, die Idee der "christlichen Schule" verworfen und eine freie, voraussetzungslose Forschung und Erziehung gefordert. I 15 Liberale wie Konservative sahen in der strengen Staatlichkeit des Schulwesens die Bürgschaft für eine freiheitliche Bildung und Ausbildung. 116 Dennoch war die Annahme des Entwurfs durch das Abgeordnetenhaus durch die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Konservativen und des Zentrums gesichert. Kaiser Wilhelm 11. kündigte jedoch an, er werde dem Gesetz die erforderliche Zustimmung versagen. Damit war der Schulgesetzentwurf praktisch gescheitert, ohne daß eine Verhandlung im Landtag erfolgt wäre. Zedlitz trat zurück; unter seinen Nachfolgern 117 gab es keine bedeutenden Entwicklungen auf schul politischem Gebiete.

113 Dazu und zum folgenden vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte IV, S. 891 f. 114 Insbesondere von Gneist beklagte, daß "nach Einführung dieser Gesetzesartikel jeder Winkelschule, jeder dissidentischen Sonderschule, jeder Sonderschule polnischer, dänischer oder anderer deutschfeindlicher Richtung, jeder massenhaften Entstehung niederer und höherer Klosterschulen, jeder von geistlichen Orden, Schulbrüdern und Schulschwestern geleiteten Anstalt die freie Bahn eröffnet" sei. - von Gneist, Die staatsrechtlichen Fragen des Preußischen Volksschulgesetzes, 1892, S. 100. 115 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte IV, S. 893. 116 Starck, Freiheitlicher Staat, S. 16. 117 Bosse (1892-99), Studt (1899-1907), Holle (1907-09), Trott zu Solz (190917) und Schmidt-Ott (1917/18).

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IX. Weimarer Republik 1918-1933 Mit dem Ende der Monarchie endete auch die in einigen Bereichen noch aufrechterhaltene enge Verknüpfung von Staat und Kirche. Der Staat begriff sich nun nicht mehr als "christlicher Staat", sondern als "Volksstaat".118 Damit war eine endgültige Neuordnung des Schulwesens unter Beseitigung des noch immer fortbestehenden kirchlichen Einflusses in den öffentlichen Schulen notwendig geworden. Zudem sollte die "Insel des Absolutismus" 119, die großflächige Regelung des Schul wesens durch Verwaltungsverordnungen, durch eine gesetzliche Regelung beseitigt werden. Die Gesetzgebungszuständigkeit des Reiches wurde durch die Weimarer Reichsverfassung auf die "Grundsätze des Schulwesens" ausgedehnt (Art. 10 Ziffer 2 WRV). Die bislang bestehende ausschließliche Schulhoheit der Länder wurde damit zugunsten einer Mischkompetenz von Reich und Ländern - unter kommunaler Beteiligung - modifiziert, wie sich auch aus Art. 143 Abs. 1 WRVergibt: "Für die Bildung der Jugend ist durch öffentliche Anstalten zu sorgen. Bei ihrer Einrichtung wirken Reich, Länder und Gemeinden zusammen.,,120

Die Beteiligung des Reiches an der Gestaltung des öffentlichen Schulwesens sollte darin bestehen, die verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie durch Einzelgesetze die obersten leitenden Grundsätze des Unterrichtswesens festzulegen. 121 Die weitere gesetzliche Ausgestaltung sowie der administrative Bereich war den Ländern überlassen. Faktisch jedoch war die Gesetzgebungskompetenz der Länder in Schulangelegenheiten durch die "Status-quo-Garantie,,122 des Art. 174 WRV gehemmt. Dieser verhängte eine Sperre über die Landesgesetzgebung bis zum Erlaß eines von Art. 146 WRV geforderten vereinheitlichenden Reichsschulgesetzes, das die Grundlage für landesrechtliche Vollzugs gesetze bilden sollte. 123 118 Evers. ErziehungszieIe, S. 22. Anschütz. Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850, Band I, 1912, Art. 26 Anm. 5. 120 Art. 143 Abs. 1 Satz 2 WRV galt als "reiner Programmsatz, aus dem niemand Rechte herleiten" könne, vgl. Anschütz. Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Nachdruck Darmstadt 1960, S. 667. 121 Anschütz. Verfassung von 1919, S. 667. 122 E. R. Huber. Deutsche Verfassungsgeschichte IV, S. 940. 123 Das in Aussicht genommene Reichsschulgesetz wurde wegen grundlegender politischer Differenzen nie verabschiedet. Zwischen 1921 und 1929 wurden fünf unterschiedliche Entwürfe vorgelegt, die alle scheiterten. Art. 174 WRV entwickelte sich daher von einer Übergangsvorschrift zu einer "Dauergarantie des unverbundenen Nebeneinanders der überlieferten gegensätzlichen Schulformen" der konfessionellen und der Simultanschule. Vgl. Deuschle. Kirche und Schule, S. 19; E. R. Huber. Deutsche Verfassungsgeschichte IV, S. 941, Fn. 11. 119

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

Infolge der Verschiebung der Gesetzgebungskompetenz von den Einzelstaaten hin zu einem kooperativen Modell wurde der im Laufe der schulrechtlichen Entwicklung entstandene Begriff der "Schulaufsicht" Reichsverfassungsrecht. Obwohl Art. 144 Satz 1 WRV keine Definition enthielt, war jedoch nach herrschender Ansicht die historisch überkommene Bedeutung maßgeblich. Im diesem Sinne äußerte sich auch das Reichsgericht, indem es ausführte, staatliche Schulaufsicht sei nicht nur Aufsicht im gewöhnlichen Sinne, sondern vielmehr die "Führung und Leitung der Verwaltung selbst auf dem Gebiete des inneren Schulwesens",124 denn es fehle an einer selbstverwaltenden Tätigkeit eines dem Staate untergeordneten Gemeinwesens auf dem Gebiete der inneren Schulangelegenheiten. Art. 144 Satz 2 WRV forderte für die Schulaufsicht die Einsetzung "hauptamtlich tätige[r], fachmännisch vorgebildete[r] Beamte[r]". Eine Übertragung der Aufsicht auf Kleriker, selbst in Form staatlicher Auftragsverwaltung, war unzulässig. 125 Damit war die Schulaufsicht, ausgeübt von geistlichen Inspektoren, durch eine verfassungsrechtliche Regelung beendet. Eine weitere wesentliche Änderung war die verfassungsrechtliche Normierung der allgemeinen Schulpflicht in Art. 145 Satz 1 WRV. In Preußen bestand zwar schon seit 1717 allgemeine Schulpflicht,126 diese war aber nicht eine Pflicht zum ständigen Besuch einer (öffentlichen) Schule, sondern nur eine Pflicht der Erziehungsberechtigten, ihren Kindern eine dem Schulstandard entsprechende Unterrichtung erteilen zu lassen ("Unterrichtszwang,,).127 Art. 145 Satz 1 WRV normierte demgegenüber eine Verpflichtung zum Besuch der durch den Staat bereitgestellten öffentlichen Schulen. In der Frage nach dem grundlegenden Schul typus kam es zum sogenannten ersten "Weimarer Schulkompromiß". Art. 146 WRV traf eine Regelung, die grundsätzlich vier verschiedene Schultypen nebeneinander zuließ: Als Regelschule eine "gemeinsame Grundschule" mit dem Charakter einer christlichen Gemeinschaftsschule, als Antragsschulen die Bekenntnisschule (mit konfessionellem Hintergrund), die Weltanschauungsschule (mit weltanschaulichem Hintergrund) und die "freie weltliche Schule" ohne besondere weltanschauliche Bindung. Diese Regelung kam nur durch Nachgeben der den Kirchen nahestehenden politischen Kräfte zustande; im Gegenzuge garantierte Art. 149 WRV den Religionsunterricht an den Gemeinschaftsschulen als ordentliches Lehrfach, der "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der RG - Urt. v. 09.01.1914 - E 84, 27ff. (33). AnschüfZ, Verfassung von 1919, Art. 144 Anm. 2; Deuschle, Kirche und Schule, S. 6. 126 Eingeführt durch ein Edikt Friedrich Wilhelm I. vom 9. Oktober 1717; an den Orten, an denen Schulen errichtet waren, wurde den Eltern unter Strafandrohung angeordnet, die Kinder wenigstens zweimal in der Woche zur Schule zu schicken. 127 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte IV, S. 943. 124

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A. Modelle staatlichen Erziehens vor der Geltung des Grundgesetzes

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betreffenden Religionsgesellschaft" zu erteilen war. 128 Auch die Durchsetzung dieses Kompromisses scheiterte jedoch an der Regelung des Art. 174 WRV. Daß das in Art. 146 WRV geforderte Reichsschulgesetz nicht erlassen wurde, verhinderte die Vereinheitlichung der Schultypen in den Ländern. In den deutschen Einzelstaaten blieb es daher bei der bisherigen Regelung: Die meisten Staaten behielten die Bekenntnisschule als überwiegende Schulart (Großteile von Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Oldenburg, Braunschweig, Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, die Stadtstaaten und die meisten Kleinstaaten). In den nassauischen Gebieten Preußens, in Baden und Frankfurt am Main galt das Simultanschulprinzip. Hessen und die preußische Provinz Posen waren Mischschulgebiete. Die Weimarer Schulverfassung wurde insbesondere von den Kirchen, die sich eines bedeutenden Einflußbereichs beraubt sahen, heftig kritisiert. Die Konzeption des öffentlichen Unterrichtswesens als eine rein weltliche Veranstaltung sei etatistisch und räume weder den Eltern noch den Kirchen eine ihrer Bedeutung entsprechende Einflußmöglichkeit auf die Schüler ein. Die katholische Kirche beharrte auf einem "göttlichen Recht auf die Schule,,129 und vertrat die Ansicht, daß das Elternrecht das Schulrecht breche. 130 Das Ziel der vom Staate beanspruchten Schulhoheit war nicht nur die Vorbereitung der Jugend auf die Ausübung einer gemeinwohlfördernden Tätigkeit, sondern auch die Öffnung des Zugangs zu den Kulturgütern der Nation und der Welt. In Art. 148 Abs. 1 WRV kommt dies zum Ausdruck: "In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsburgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben."

x.

Nationalsozialismus 1933-1945

Nach der "Machtergreifung" garantierte der nationalsozialistische Staat im Reichskonkordat von 1933 zunächst noch die Bekenntnisschule. Gegen den Willen eines großen Teiles der Elternschaft wurde sie aber alsbald abgeschafft und durch Gemeinschaftsschulen ersetzt. Auch das Privatschulwesen wurde unterbunden, stattdessen wurden parteieigene Schulen (',Adolf-Hitler-Schulen") eingerichtet. 131 Zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Erziehungsziele wurden zunächst die amtierenden Kultusmini128 Oebbecke, Reichweite und Voraussetzungen der grundgesetzlichen Garantie des Religionsunterrichts, RdJB 1996, S. 336ff. (337). 129 Nachweis bei Dreier-Gröschner, Grundgesetz, Art. 7 GG Rn. 8. 130 Hirtenbrief des Erzbischofs Faulhaber von 1926, Nachweis bei Dreier-Gröschner, Grundgesetz, Art. 7 GG Rn. 8. 131 Vgl. Eggers, Bildungswesen, in: Jeserich/Pohl/von Unruh, Deutsche Verwaltungsgeschichte, 1983, Band IV, S. 968 ff.

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

ster der Länder durch Parteimitglieder ersetzt und die Trennung von Staat und Kirche durch die restlose Beseitigung aller kirchlicher Einflüsse im Bildungswesen konsequent durchgeführt. 132 In Anlehnung an den Wortlaut des Art. 144 WRV, der die Schule unter die Aufsicht des Staates stellte, wurde somit das Führerprinzip auch im erzieherischen Bereiche eingeführt. Es bestand ein umfassender staatlicher Erziehungsanspruch, es galt die Auffassung "Staatsrecht bricht Elternrecht".133 Im nationalsozialistischen Staate traten an die Stelle der bislang anerkannten Erziehungsziele die "Formung des nationalsozialistischen Menschen,,134 und die Förderung des "Rassebewußtseins", 135 und dies "auf dem Baugrund von Blut und Boden, Volksgemeinschaft und Religiosität". Unterrichtsziele und -inhalte wurden aus der nationalsozialistischen Weltanschauung abgeleitet, das Unterrichtsmaterial und der Prüfungsstoff daran ausgerichtet. Hitlers "Mein Kampf' wurde zur Pflichtlektüre, die nationalsozialistische Vererbungslehre verpflichtender Prüfungsstoff in der Reifeprüfung. 136 Neu eingeführt wurde neben der "Rassenkunde" auch das Fach "Geopolitik". Schwerpunkte schulischer Erziehung waren der Geschichtsunterricht und die Körperertüchtigung zur Heranbildung "gesunder Rekruten".137 Nicht eine individualistische Bildungsvorstellung l38 war Richtschnur, sondern das Hinwirken auf ein neues "nationales Leben in Volk und Staat".139 "Kampfziel der deutschen Schule" war es somit, "den politischen Menschen zu bilden, der in allem Denken und Handeln dienend und opfernd in seinem Volke wurzelt und der Geschichte und dem Schicksal seines Staates ganz und untrennbar verbunden iSt.,,140 "An die Stelle des Trugbildes der gebildeten Persönlichkeit" trat die "Gestalt des wirklichen, d. h. durch Blut und geschichtliches Schicksal bestimmten deutschen Menschen,,141. Damit war auch das Schulwesen gleichgeschaltet. Die allgemeine erzieherische Bedeutung der Schule trat jedoch zunehmend hinter den Einfluß von Jugendverbänden (z. B. der Hitlerjugend) zurück. 142

Kurtz, Geschichte der Schulaufsicht, S. 282. Erichsen, Verstaatlichung der Kindswohlentscheidung?, 1978, S. 15. 134 Vgl. näher hierzu Hamann, Schulwesen, S. 229. 135 Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, 19362 , S. 68. 136 Vgl. Evers, Erziehungsziele, S. 30. 137 Kurtz, Geschichte der Schulaufsicht, S. 288. 138 Vgl. Evers, Erziehungsziele, S. 30. 139 Hamann, Schulwesen, S. 227. 140 Erklärung des ersten nationalsozialistischen Innenministers Frick vom 9.5.1933, zitiert nach Froese/Kramietz, Deutsche Schulgesetzgebung, Band I, S. 41 m.w.N. 141 Nachweis bei Eggers, Bildungswesen, S. 968. 142 Eggers, Bildungswesen, S. 973. 132

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B. Staatlicher Erziehungsauftrag unter der Geltung des Grundgesetzes

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XI. Zusammenfassung

Der Staat, der noch in der Antike (freilich nicht von der "Gesellschaft" getrennt) als Träger einer öffentlichen Bildung und Erziehung fungiert hatte, verlor mit dem Aufstreben des Christentums allmählich an Einfluß. Erst während des 18. Jahrhunderts übernahm er das Schulwesen als eine Staatsaufgabe aus den Händen von Kirchen und Kommunen. 143 Als Folge dieser Verstaatlichung entgegen den Interessen der Kirchen entstanden schon unter der Geltung des Preußischen Allgemeinen Landrechts jene Probleme, die auch in der Bundesrepublik Deutschland das Verhältnis zwischen Kirche und Schule belasten: 144 Die Fragen, wer auf der Grundlage eigener Erziehungsansprüche die Schulaufsicht auszuüben habe und wie die Regelschultypen und Schulformen festzusetzen seien, und ferner die Probleme im Zusammenhang mit dem Religionsunterricht. Festzuhalten ist, daß der jeweilige Hoheitsträger zunehmend Einfluß auf das Unterrichtswesen gewonnen hat, um eine einheitliche und gleiche Ausbildung aller Untertanen bzw. Bürger zu ermöglichen. Ein staatliches Schulmonopol, verstanden als alleinige und ausschließliche Bestimmungsmacht über sämtliche Bildungseinrichtungen, läßt sich aus der deutschen bzw. preußischen Schulgeschichte jedoch nicht ableiten. 145

B. Staatlicher Erziehungsauftrag unter der Geltung des Grundgesetzes - Dogmatische Herleitung Als dogmatische Grundlage eines eigenen Erziehungsauftrages des Staates in der Schule kommen die Erziehungsziele in den Verfassungen der Länder, ein möglicherweise bestehender staatlicher Bildungsauftrag, das elterliche Erziehungsrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 GG, das staatliche "Wächteramt" nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG und schließlich Art. 7 Abs. 1 GG in Betracht. I. Erziehungsauftrag, Erziehungsanspruch oder Erziehungsrecht?

Zunächst ist jedoch zwischen den Begriffen "Erziehungsaujtrag" , "Erziehungsanspruch" und "Erziehungsrecht" zu unterscheiden. Die meisten Autoren setzen den "staatlichen Erziehungsaujtrag" im wesentlichen mit der Verpflichtung des Staates gleich, ein "leistungsfähiges 143 144

145

Starck, Freiheitlicher Staat, S. 16. Deuschle, Kirche und Schule, S. 8. Starck, Freiheitlicher Staat, S. 17.

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

öffentliches Schulsystem vorzuhalten".146 Die schulische Erziehung solle einerseits dem Selbstverwirklichungsanspruch des Menschen gerecht werden, andererseits solle sie die Voraussetzungen für seine wirtschaftliche Sicherheit und zur Beschaffung der Lebensessentialien schaffen. 147 Auch die historische Entwickung zeigt, daß dieser Aspekt stets im Vordergrund staatlicher Erziehungstätigkeit gestanden hat. Bereits in der Aufklärung ging man davon aus, daß der Staat - als "Wohlfahrtsstaat" verstanden - für Bildung und Erziehung seiner Untertanen verantwortlich sei. Davon zu unterscheiden ist ein "staatlicher Erziehungsanspruch". Der Staat erhebt durch die Aufrechterhaltung eines allgemeinen öffentlichen Schulwesens in der heutigen Gestalt den Anspruch, als wichtigster Erziehungsträger neben den Eltern die außerfamiliäre Erziehung der Jugend durchzuführen. Aus diesem - quasi "vorrechtlichen" - Erziehunganspruch läßt sich möglicherweise ein "staatliches Erziehungsrecht" herleiten, das nicht nur eine Verpflichtung des Staates zur Bereitstellung eines funktionsfähigen Schulwesens umfassen würde, sondern ihm gleichzeitig umfangreiche Rechte im Zusammenhang mit Bildung und Erziehung in einem solchen Schulwesen einräumte, etwa zur Bestimmung der Bildungsinhalte und Erziehungsziele oder zur Festlegung des organisatorischen "Rahmens" ihrer Vermittlung. In der juristischen Auseinandersetzung um Erziehungsziele und die Grenzen staatlicher Erziehungstätigkeit .werden die Begriffe nicht immer exakt voneinander getrennt. Alle drei sind jedoch nur verschiedene Ausprägungen eines rechtlichen Gesamtzusammenhangs. Dem Staat müssen bestimmte Befugnisse - in Form eines Erziehungsrechts - zugebilligt werden, damit er seinem Erziehungsauftrag nachkommen und seinen Erziehungsanspruch durchsetzen kann. Der Umfang dieser Befugnisse kann theoretisch in einem breiten Spektrum variieren: Von bloßer Rechtsaufsicht über die staatlicherseits bereitgestellten Schulen bis hin zu weiten Eingriffsmöglichkeiten in den äußeren und den inneren Schulbetrieb möglicherweise auch privater Erziehungsanstalten. Die Frage nach den rechtlich eingeräumten Befugnissen des Staates ist nicht zu trennen von der Frage nach seinen Pflichten den Bürgern gegenüber. Aufgrund dieser engen Verbindung der verschiedenen Ausprägungen des Verhältnisses zwischen Staat und schulischer Erziehung ist daher bei der dogmatischen Herleitung des staatlichen ErziehungsauJtrags stets im Blick zu halten, in welchem Umfange mit diesem auch Erziehungsrechte des Staates verbunden sind.

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147

Bothe, Erziehungsauftrag, S. 17. V gl. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 284.

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11. Erziehungsziele in den Länderverfassungen als Grundlage des staatlichen Erziehungsauftrags? Als dogmatische Grundlage des staatlichen Erziehungsauftrages kommen zunächst die Zielsetzungen schulischer Erziehung in den Verfassungen der Bundesländer in Betracht. 148 In den meisten Landesverfassungen werden konkrete Erziehungsziele normiert. 149 Unter Erziehungszielen versteht man "umgangssprachlich umschriebene, für bestimmte erzieherische Maßnahmen noch nicht hinreichend präzisierte oder konkretisierte Zustände" und Charaktereigenschaften von Personen oder "Interaktionen". 150 Die nachfolgend zitierten Vorschriften der Länderverfassungen zeigen, daß die Erziehungszielkataloge in den Grundzügen übereinstimmen, daß im einzelnen aber gewisse Abweichungen gegeben sind. Baden-Württemberg (1953) Art. 12 Abs. 1 LVerf: "Die Jugend ist in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe, zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit, zu beruflicher und sozialer Bewährung und zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung zu erziehen." Bayern (1946) Art. 131 LVerf: ,,(1) Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.

(2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt. (3) Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen. (4) Die Mädchen sind außerdem in der Säuglingspflege, IGndererziehung und Hauswirtschaft besonders zu unterweisen." Art. 134 LVerf: u[ ... ] 2 In ihnen [den öffentlichen Volksschulen] werden die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen." 148 Zur geschichtlichen Entwicklung der Erziehungsziele in Nordrhein-Westfalen vgl. Frauenrath, Die Erziehungsziele in den Schulartikeln der Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen, 1995, S. 3 ff. 149 Die Jahresangaben hinter den Namen der Bundesländer bezeichnen das Jahr des Inkrafttretens der jeweiligen Landesverfassung. 150 Lenzen, Pädagogische Grundbegriffe I, Stichwort: Erziehungsziel, S. 538. Vgl. sehr eingehend zur Definition des Begriffs "Erziehungsziel" Frauenrath, Erziehungsziele, S. 202ff.

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Brandenburg (1992) Art. 28 LVerf: "Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, die Entwicklung der Persönlichkeit, selbständiges Denken und Handeln, Achtung vor der Würde, dem Glauben und den Überzeugungen anderer, Anerkennung der Demokratie und Freiheit, den Willen zu sozialer Gerechtigkeit, die Friedfertigkeit und Solidarität im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für Natur und Umwelt zu fördern." Bremen (1947) Art. 26 LVerf: "Die Erziehung und Bildung der Jugend hat im wesentlichen folgende Aufgaben:

1. Die Erziehung zu einer Gemeinschaftsgesinnung, die auf der Achtung vor der Würde jedes Menschen und auf dem Willen zu sozialer Gerechtigkeit und politischer Verantwortung beruht, zur Sachlichkeit und Duldsamkeit gegenüber den Meinungen anderer führt und zur friedlichen Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Völkern aufruft. 2. Die Erziehung zu einem ArbeitswilIen, der sich dem allgemeinen Wohl einordnet, sowie die Ausrüstung mit den für den Eintritt ins Berufsleben erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten. 3. Die Erziehung zum eigenen Denken, zur Achtung vor der Wahrheit, zum Mut, sie zu bekennen und das als richtig und notwendig Erkannte zu tun. 4. Die Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker. 5. Die Erziehung zum Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt." Hessen (1946) Art. 56 Abs. 4 LVerf: "Ziel der Erziehung ist, den jungen Menschen zur sittlichen Persönlichkeit zu bilden, seine berufliche Tätigkeit und die politische Verantwortung vorzubereiten zum selbständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit durch Ehrfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit." Mecklenburg- Vorpommern (1993) Art. 15 Abs. 4 LVerf: "Das Ziel der schulischen Erziehung ist die Entwicklung zur freien Persönlichkeit, die aus Ehrfurcht vor dem Leben und im Geiste der Toleranz bereit ist, Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern sowie gegenüber künftigen Generationen zu tragen." Nordrhein- Westfalen (1950) Art. 7 LVerf: ,,(1) Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung.

(2) Die Jugend soll erzogen werden im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zu Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung."

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Art. 12 Abs. 6 L Verf: ,,. In Gemeinschaftsschulen werden die Kinder auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte in Offenheit für die christlichen Bekenntnisse und für andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen gemeinsam unterrichtet und erzogen. 2 In Bekenntnisschulen werden Kinder des katholischen oder des evangelischen Glaubens oder einer anderen Religionsgemeinschaft nach den Grundsätzen des betreffenden Bekenntnisses unterrichtet und erzogen. [... ]" Rheinland-Pfalz (1947) Art. 33 LVerf: "Die Schule hat die Jugend zur Gottesfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit, zur Liebe zu Volk und Heimat, zum Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt, zu sittlicher Haltung und beruflicher Tüchtigkeit und in freier, demokratischer Gesinnung im Geiste der Völkerversöhnung zu erziehen." Saarland (1947) Art. 26 Abs. 1 S. 1 LVerf: "Unterricht und Erziehung haben das Ziel, den jungen Menschen so heranzubilden, daß er seine Aufgabe in Familie und Gemeinschaft erfüllen kann." Sachsen (1992) Art. 101 Abs. 1 LVerf: "Die Jugend ist zur Ehrfurcht vor allem Lebendigen, zur Nächstenliebe, zum Frieden und zur Erhaltung der Umwelt, zur Heimatliebe, zu sittlichem und politischem Verantwortungsbewußtsein, zu Gerechtigkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zu beruflichem Können, zu sozialem Handeln und zu freiheitlicher demokratischer Haltung zu erziehen." Sachsen-Anhalt (1992) Art. 27 Abs. 1 LVerf: "Ziel der staatlichen und der unter staatlicher Aufsicht stehenden Erziehung und Bildung der Jugend ist die Entwicklung zur freien Persönlichkeit, die im Geiste der Toleranz bereit ist, Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern und gegenüber künftigen Generationen zu tragen." Thüringen (1993) Art. 22 Abs. 1 LVerf: "Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, selbständiges Denken und Handeln, Achtung vor der Würde des Menschen und Toleranz gegenüber der Überzeugung anderer, Anerkennung der Demokratie und Freiheit, den Willen zu sozialer Gerechtigkeit, die Friedfertigkeit im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen und der Umwelt zu fördern."

Die grundsätzliche Zulässigkeit der Formulierung von Erziehungszielen durch den Staat wird von der überwiegenden Meinung anerkannt. 151 151 Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 7 Anm. 4f.; nach Schmitt-Kammler, Elternrecht, S. 47, zumindest dann, wenn

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

Werden der Schule durch landesverfassungsrechtliche Normierungen derartige Richtlinien vorgegeben, so muß es eine Möglichkeit für den Staat geben, auf die Erreichung dieser Ziele hinzuwirken und zu diesem Zwecke den Erziehungsprozeß in den öffentlichen Schulen zu steuern. Unter Berufung auf die Positivierung staatlicher Erziehungsziele wird daher die Auffassung vertreten, ein staatlicher Erziehungsauftrag sei - ohne daß die Landesverfassungen dies explizit erwähnten - von diesen vorausgesetzt, oder er ergebe sich aus diesen Erziehungszielen. 152 Unabhängig von der Frage, ob der Staat überhaupt berechtigt sei, Erziehungsziele festzulegen, spricht aber gegen die Ansicht, aus den in den Länderverfassungen festgesetzten Erziehungszielen lasse sich ein staatlicher Erziehungsauftrag herleiten, daß diese nur landes weit Geltung beanspruchen können,153 so daß sie jedenfalls nicht zur Herleitung eines einheitlichen (gesamt)staatlichen Erziehungsauftrages, den die Länder im Rahmen ihrer Kulturhoheit wahrnehmen könnten, geeignet sind. Insbesondere in den Ländern, die keine Erziehungsziele normiert haben, stieße diese Auffassung auf nur schwer zu überwindende Schwierigkeiten. Gegen diese Argumente ließe sich einwenden, daß nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes das Schulwesen grundsätzlich den Ländern überlassen sei. Unter die Kulturhoheit der Länder fallt auch das Schulehalten, 154 so daß die landesverfassungsrechtlichen Regelungen hinsichtlich der Erziehungsziele ausreichen würden, um jedenfalls einen auf das jeweilige Land beschränkten staatlichen Erziehungsauftrag herzuleiten. Ein einheitlicher (gesamt)staatlicher Erziehungsauftrag wäre dann im Hinblick auf die grundgesetzliche Zuständigkeitsverteilung nicht erforderlich. Dem läßt sich aber entgegenhalten, daß Art. 7 GG sich mit schulischen Belangen befaßt und grundlegende Fragen des Schulsystems klärt. Diese Vorschrift "zieht" die Frage nach dem staatlichen Erziehungsauftrag auf die bundesverfassungsrechtliche Ebene hinauf. Mit Maunz ist davon auszugesie sich als Umschreibung der "Verfassungsessenz" darstellen oder sich in diesem Sinne verfassungskonform auslegen lassen. - Zur Kritik an den Erziehungszielen der nordrhein-westfälischen Landesverfassung und zu möglichen Alternativen eingehend Frauenrath, Erziehungsziele, S. 255 ff. 152 So wohl Bothe, Erziehungsauftrag, S. 18, der aber Art. 7 Abs. I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip als primäre Grundlage heranzieht. 153 Schmitt-Kammler, Elternrecht, S. 21. 154 Das Schulwesen ist nicht im Zuständigkeitskatalog des Bundes in Art. 71 ff. GG aufgeführt; nach Art. 70 Abs. I GG liegt die Gesetzgebungsbefugnis daher bei den Ländern. - Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Kompetenzverteilung stellt das Zusammenwirken von Bund und Ländern bei der Bildungsplanung nach Art. 91b GG dar. Dazu ausführlich Maunz, Die Abgrenzung des Kulturbereichs zwischen dem Bund und den Ländern, in: Riuerspach/Geiger (Hg.), Festschrift für Müller, 1970, S. 257 ff. (269 ff.).

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hen, daß die Kulturhoheit der Länder nicht ausschließlich ist, sondern daß vielmehr auch bestimmte bundes(verfassungs)rechtliche Grundsätze Einfluß auf das Schulwesen haben. 155 Unmittelbare Wirkung auf den Kulturbereich haben insbesondere die Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG, das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG sowie die in Art. 7 GG niedergelegten Grundsätze des "Bundesschulrechts". 156 Vor allem letztere müssen von den Ländern bei der Gestaltung ihres Schulrechts beachtet werden. 157 "Staat" im Sinne von Art. 7 GG meint in diesem Zusammenhang nicht ausschließlich die Länder, sondern umfaßt grundsätzlich Bund und Länder. Daß für das Schulwesen im Ergebnis die Länder zuständig sind, ergibt sich aus der Zuweisung aufgrund der allgemeinen Aufgabenabgrenzung zwischen den Ländern und dem Bund. 158 Art. 7 GG macht unmißverständlich deutlich, daß die Kompetenz für die von ihm getroffenen grundSätzlichen Entscheidungen das Schulwesen betreffend beim Bund liegt. Daher ist der Auffassung zu folgen, daß der staatliche Erziehungsauftrag auch aus dem Grundgesetz herzuleiten sein müsse und eine Ableitung aus den Länderverfassungen nicht genüge. Im Grundgesetz sind aber keine konkreten Bildungs- und Erziehungsziele vorgegeben. 159 Die landesverfassungsrechtlichen Erziehungsziele könnten jedoch Ausfluß eines nicht ausdrücklich normierten allgemeinen Erziehungsauftrags des Staates sein, diesen also voraussetzen. Es erscheint aber unwahrscheinlich, daß die Länderverfassungen bei der Formulierung ihrer Erziehungsziele einen nicht ausdrücklich normierten (Bundes)Erziehungsauftrag voraussetzen. Eine solche Konstruktion stößt zudem an ihre Grenzen, wenn sie sich der Frage aussetzen muß, weshalb nicht alle Bundesländer auf der Grundlage dieses "allgemeinen Erziehungsauftrags" Erziehungsziele normiert haben, warum in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden und aus welchem Grunde bestimmte Erziehungsziele nur in einigen Länderverfassungen geregelt sind. Soweit ein155 156

Maunz. Kulturbereich, S. 258 ff. Maunz. Kulturbereich, S. 260. - Noch weitergehende Rechte des Bundes im

Kulturbereich, etwa im Sinne einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs, sind aber abzulehnen, Maunz. Kulturbereich, S. 260. 157 Geiger. Vorschlag zu einer Neufassung des Art. 7 GG. in: Ritterspach/Geiger (Hg.), Festschrift für Müller, 1970, S. 107ff. (108). 158 Maunz/Dürig. Grundgesetz, Art. 7 GG Anm. 4a. 159 Evers. Verwaltung und Schule, S. 152. - Zum interessanten Ansatz, bestimmte Verfassungsprinzipien als "Erziehungs ziele kraft Verfassungsinterpretation" zu definieren, vgl. Häberle. Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: Eichenberger u. a. (Hg.). Recht als Prozeß und Gefüge, Festschrift für Huber. 1981, S.211ff. 4 Thiel

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

zeIne dieser Erziehungsziele gegen das Grundgesetz verstoßen sollten, würden sie schon aus diesem Grunde nicht als "Beweis" für einen (B undes )Erziehungsauftrag herangezogen werden können. Die landesverfassungsrechtlich festgelegten Erziehungsziele sind nach alle dem zwar ein Indiz dafür, daß nach dem Willen der Landesverfassungsgeber eine umfangreiche staatliche Bestimmungsmacht für das Schulwesen bestehen solle, die den Staat zur Normierung von Erziehungszielen berechtigt; ein nicht normierter, allgemeiner (gesamt)staatlicher Erziehungsauftrag läßt sich ihnen aber nicht entnehmen.

III. Annex zu einem ,,(Grund-)Recht auf Bildung" Möglicherweise ließe sich ein staatlicher Erziehungsauftrag als "Annex" zu einem staatlichen Bildungsauftrag verstehen. Begründet werden könnte dies mit der Vorstellung, daß dem Staate nicht nur die Vermittlung von Grundfertigkeiten und -kenntnissen (im Sinne einer "Ausbildung") obliege, sondern daß er darüber hinaus zur Formung der Persönlichkeit der Schüler verpflichtet sei, um sie zu mündigen Mitgliedern der Gesellschaft heranzubilden. Dieser Pflicht könnte dann ein Recht des Staates korrespondieren, die nötigen Maßnahmen zu ihrer Erfüllung zu treffen. Ein solcher Bildungsauftrag könnte dem Staate vor allem dann erteilt sein, wenn den Schülern bzw. den Eltern durch das Grundgesetz ein ,,(Grund-)Recht auf Bildung" eingeräumt wäre, das den Staat zumindest zur Errichtung und Unterhaltung geeigneter Erziehungsanstalten verpflichtete. Teilweise wird in der verfassungsrechtlichen Literatur das Bestehen eines ,,(Grund-)Rechts auf Bildung" behauptet. 160 Grundsätzliche Überlegungen zu einem sogenannten "Bürgerrecht auf Bildung" hat der Soziologe Dahrendorf 161 schon Mitte der sechziger Jahre angestellt. Er billigte jedem jungen Menschen ein Recht auf eine intensive Grundausbildung und eine seiner Leistungsfähigkeit entsprechende weiterführende Ausbildung zu. Das "Recht auf Bildung" solle ein soziales Grundrecht aller Bürger sein, um Chancengleichheit ohne systematische Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Gruppen herbeizuführen. Dem Recht auf Bildung korrespondiere somit auch eine Forderung an den Staat, ein solches Bildungsmodell zu gewährleisten. Der Staat sei im 160 So wohl Schefold, Erziehung als Wertvennittlung im wertpluralistischen Staat, RdJB 1996, S. 309ff. (313). 161 Vgl. Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, 1965, sowie die Nachweise bei Bauer, Recht auf Bildung - Anspruch und Wirklichkeit, RdJB 1973, 225 ff.

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Rahmen der Schule dazu verpflichtet, den Schülern die Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln, die sie benötigten, um als Staatsbürger in der Gesellschaft ihre Aufgaben wahrnehmen zu können und in der Lage zu sein, ihre Grundrechte auszuüben. Das Recht auf Bildung stellt sich nach der Auffassung Dahrendorfs somit als ein subjektives Recht dar. Bauer meint, aus Grundgesetz und Länderverfassungen eine soziales Grundrecht aller Bürger und das Recht auf Chancengleichheit herleiten zu können, wobei seiner Ansicht nach diese bei den Aspekte ein Bürgerrecht auf Bildung im Sinne Dahrendorfs begründen. 162 Dieses bedürfe aber noch einer Ergänzung durch eine entsprechende Bildungspolitik. Zu prüfen ist, ob sich aus den Länderverfassungen oder aus dem Grundgesetz ein solches ,,(Grund-)Recht auf Bildung" herleiten läßt. 1. "Recht auf Bildung" in den Länderverfassungen

In einige Verfassungen der Länder hat ausdrücklich ein "Recht auf Bildung" Eingang gefunden (vgl. Art. 8 Abs. 1 LVerf NW; Art. 29 LVerf Brandenburg; vgl. auch Art. 128 Abs. 1 LVerf Bayern). Die Verfassungstexte gewährleisten in annähernd identischem Aufbau zunächst ein "Recht auf Bildung" als Prinzip und konkretisieren anschließend die Mittel zu seiner Durchsetzung durch das Gebot der finanziellen Förderung bzw. der Öffentlichkeit des Bildungswesens. 163 Ferner wird in den meisten Schulgesetzen der Länder ein "Recht auf Bildung" oder ein "Recht auf Erziehung" postuliert. 164 Nach überwiegender Meinung beschränkt sich das Recht auf Bildung, wie es die Landesverfassungen formulieren, darauf, daß durch den Staat ein ausreichendes öffentliches Schulsystem vorgehalten werden müsse, daß jeder den Zugang zu den bereits bestehenden Bildungseinrichtungen müsse erlangen können l65 , und daß jeder unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Kapazitätserweiterung 166 oder - bei Bedürftigkeit - auf finanzielle Förderung habe. 167 Jedenfalls wird überwiegend vertreten, daß es sich nicht um ein echtes Grundrecht mit subjektiv-rechtlichen GewährleiBauer, RdJB 1973,226. Richter, Bildungsverfassungsrecht, 1973, S. 186. 164 Vgl. beispielhaft: § 1 Abs. 1 des Hessischen Schulgesetzes vom 17.06.1992; § 1 Abs. 1 des Schulgesetzes für das Land Mecklenburg-Vorpommem vom 15.05. 1996; § 1 Abs. 1 des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen vom 03.07.1991. 165 Vgl. statt aller Stein, Selbstentfaltung, S. 39 ff. 166 Bothe, Erziehungsauftrag, S. 21; Richter Bildungsverfassungsrecht, S. 187. 167 Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 187. 162 163

4*

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stungen handele, sondern (nur) um unmittelbar geltendes objektives Recht. 168 Zudem beschränkten sich die Landesverfassungen darauf, jedem ein Recht auf Bildung "nach Maßgabe seiner Begabung" einzuräumen. Die Heranziehung der "Begabung" - im überlieferten Sinne verstanden - als Grundlage könne jedoch deshalb nicht zu für das Bildungssystem strukturverändernden Konsequenzen führen (zum Beispiel durch die Etablierung eines weitreichenden Rechts auf Bildung), da sich die Begabung gerade erst nach Zugang zum Bildungssystem zeige. 169 Ein umfassender, eigenständiger staatlicher Bildungsauftrag läßt sich allein aus den landesverfassungsrechtlichen Normierungen eines "Rechts auf Bildung" deshalb nicht herleiten. 2. Art. 2 S. 1 des Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention

Auch Art. 2 des Ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention ist im Hinblick auf ein umfangreiches Recht auf Bildung unergiebig: Art. 2 S. 1 ZP EMRK: "Das Recht auf Bildung darf niemandem verwehrt werden.

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Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR 170 läßt sich aus dieser Formulierung nicht einmal ein Anspruch darauf herleiten, daß der Staat ein bestimmtes Bildungssystem - etwa das bestehende - zur Verfügung stelle, sondern nur, daß er überhaupt ein Bildungssystem vorhalte. 171 In den Beratungen zur EMRK war die Normierung eines Rechts auf Bildung zudem sehr umstritten; die Aufnahme in das Zusatzprotokoll stellte einen Komprorniß dar, ohne daß zuvor eine Einigung zu dieser Frage erzielt worden wäre. 172 Art. 2 ZP EMRK ist daher eng auszulegen und gewährleistet lediglich ein Zugangsrecht zu bestehenden Bildungseinrichtungen. 173

So für Bayern Falckenberg, Grundriß des Schulrechts in Bayern, 1995 2 , S. 58. Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 187. 170 Nachweise bei Eiselstein, Staatliches Bildungsmonopol und Europäische Menschenrechtskonvention, in: Birk/Dittmann/Erhardt (Hg.), Kulturverwaltungsrecht im Wandel- Festschrift für Oppermann zum 50. Geburtstag, 1981, S. 178ff. (180). 171 Eise/stein, Bildungsmonopol, S. 182. 172 Eiseistein, Bildungsmonopol, S. 180. 173 Eiselstein, Bildungsmonopol, S. 184. 168

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3. Art. 6 Abs. 2 GG

Ein Grundrecht auf Bildung könnte aus dem Elternrecht in Art. 6 Abs. 2 GG abzuleiten sein. Dieses gewährt in erster Linie Rechte an die Eltern, nicht aber an die Schüler. Diese Vorschrift könnte es den Eltern allenfalls gestatten, ein anderweitig begründetes Recht des Kindes auf Bildung für das Kind geltend zu machen. 174 Würde man aus dieser Vorschrift einen umfassenden Anspruch der Eltern auf Bildung ihrer Kinder dem Staat gegenüber begründen wollen, würde das bedeuten, den "Charakter" des Art. 6 Abs. 2 GG in unangemessener Weise zu verändern: Art. 6 Abs. 2 GG sichert die elterliche Erziehungsfreiheit auch und vor allem dem Staat gegenüber. Ein Bildungsanspruch der Eltern, der den Staat verpflichtete, hieße, unter Freiheitsverzicht dem Staate die Erziehung übertragen zu wollen. Die erzieherische Freiheit der Eltern würde ausgehöhlt. 175 Art. 6 Abs. 2 GG eignet sich daher nicht als Grundlage eines Grundrechts der Schüler auf Bildung. 4. Art. 12 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip

Nach einer im Vordringen befindlichen Meinung ergibt sich auf bundesverfassungsrechtlicher Ebene ein "Recht auf Bildung" aus dem Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG. 176 Maunz will einen mit Verfassungsrang ausgestatteten Anspruch auf (Aus-) Bildung aus Art. 12 Abs. 1 GG herleiten. 177 Die "Kraft" dieses Anspruchs sei jedoch weit geringer als weithin angenommen: Zunächst beziehe er sich nur darauf, in einer der Person des zu Bildenden entsprechenden Weise gebildet zu werden, auch dies aber nur, sofern die gewünschte Ausbildungsstätte vorhanden sei und genügend Plätze zur Verfügung stünden. 178 Der Bildungsanspruch habe nur eine sehr beschränkte und verhältnismäßig schwache Fundierung im Grundgesetz gefunden und stelle in seinem überwiegenden Gehalt ein politisches Programm und kein verfassungsrechtliches Grundrecht dar. I79 Art. 12 Abs. 1 GG eignet sich daher ebenfalls nicht als dogmatische Grundlage für ein umfassendes Recht auf Bildung. 174 175 176

177

Vgl. hierzu Abelein, Recht auf Bildung, DÖV 1967, S. 375ff. (377) Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 187. Bull, Staatsaufgaben, S. 285. Maunz, Der Bildungsanspruch in verfassungsrechtlicher Sicht, in: Hablitzell

Wollenschläger (Hg.), Recht und Staat - Festschrift für Küchenhoff, 1972, S. 605 ff. 178 So wohl Jarass, Zum Grundrecht auf Bildung und Ausbildung, DÖV 1995, S. 674ff. (675); Maunz, Bildungsanspruch, S. 605. - Vgl. zu der Unergiebigkeit eines Bildungsanspruchs als Grundrecht ders., Lehrplan und Toleranzgebot, RdJB 1976, S. 264ff. (266).

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5. Art. 2 Abs. 1 GG - freie Entfaltung der Persönlichkeit Andere Autoren ziehen (neben Art. 12 Abs. 1 GG oder aber als eigenständige Grundlage) Art. 2 Abs. 1 GG zur Begründung eines solchen Rechts heran. 180 So ist Hennecke der Auffassung, aus dem allgemeinen Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf Bildung herleiten zu können. 181 Er stellt jedoch fest, daß sich aus einem solchen Recht keine Bindungswirkung für den Staat ergebe. Im Ergebnis beschränke sich der Inhalt dieses Rechts darauf, daß jedermann einen Anspruch auf Zugang zum öffentlichen Schulwesen und auf eine Förderung nach Maßgabe seiner Begabung habe. Die Heranziehung des Art. 2 Abs. 1 GG zur Begründung eines Teilhaberechts erscheint jedoch bedenklich. Die aus Freiheitsgrundrechten abgeleiteten Teilhaberechte sind Folge der in diesen Rechten statuierten Wertentscheidung, die die Nutzung der betreffenden Freiheit als ein gesamtgesellschaftlich bedeutsames Gut einstuft. 182 Der allgemeinen Handlungsfreiheit kann jedoch keine diesem Anforderungsprofil entsprechende Wertentscheidung entnommen werden; sie schützt jegliches Verhalten unabhängig von dessen Bedeutung für die Persönlichkeitsentfaltung. ls3 Dasselbe gilt für das aus Art. 2 Abs. 1 GG LV. m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete allgemeine Persönlichkeitsrecht. 184 Auch Oppermann vertritt die Ansicht, daß von einem undifferenziert allgemeinen Recht auf Bildung im Grundgesetz nicht die Rede sein könne; der "rasche" Zugriff im Bereich der Art. 2, 3, 12 und 20 GG zur Begründung eines solches Grundrechts erscheint ihm unzulässig. 185 Aus dem Grundgesetz ergebe sich - immer unter Berücksichtigung des Sozial staatsprinzips - nur ein Anspruch der Schüler auf Offenhaltung gleicher Chancen bei der Ausübung des kindlichen Entfaltungsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG LV. m. Art. 3 Abs. 1 GG)186 und ein Recht auf Chancengleichheit bei der Maunz, Bildungsanspruch, S. 609. Oppermann, Nach welchen Grundsätzen sind das öffentliche Schulwesen und die Stellung der an ihm Beteiligten zu ordnen?, Gutachten für den 51. Deutschen Juristentag 1976, S. C 86. 181 Hennecke, Staat und Unterricht, S. 180, 182. 182 Jarass, DÖV 1995, S. 675. 183 Jarass, DÖV 1995, S. 675. 184 Jarass, DÖV 1995, S. 676. 185 Oppermann, Grundsätze, S. C 87f. 186 Gegen weitergehende Ansprüche aus diesem Grundrecht auch Falckenberg, Schulrecht, S. 58. - Ausführlich zu Entfaltungs- und Zugangsrechten sowie zur Chancengleichheit Richter, in: Wassermann (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1984, Art. 7 GG Rn. 39ff. 179

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freien Berufs- und Ausbildungswahl (Art. 12 Abs. I GG),187 z. B. durch die Begründung eines Rechts auf freien Zugang zu den vorhandenen öffentlichen Bildungseinrichtungen. 188 Die Gewährleistungen der Länderverfassungen und der EMRK seien daher auch nicht als individuell einklagbare Teilhaberechte, sondern als bloße verfassungsrechtliche Zielbestimmungen zu sehen. 189 Der Nachteil eines undifferenziert-allgemeinen "Rechts auf Bildung" liegt nach Oppermann darin, daß ein solches Recht dem Gleichheitsgedanken zu Lasten des Entfaltungs- und Leistungsprinzips eine unangemessene Priorität einräumen würde. 190 Eine Durchsetzung "aller möglichen aus Art. 3 GG ableitbaren Schlußfolgerungen" versetze den Leistungs- und Differenzierungsgedanken, wie er sich aus Art. 2 Abs. 1 GG und aus der landesverfassungsrechtlichen Betonung von Begabung und Leistung ergebe, in den zweiten Rang. 191 Infolge der durch die Verfassungsrechtsprechung ohnehin eingetretenen Priorisierung des Gleichheitssatzes müsse sich die Qualität der schulischen Sekundarstufe bei internationalem Vergleich ein vernichtendes Urteil gefallen lassen; die in der vorbereitenden Bildungsund Erziehungsphase versäumte Leistungsauslese müsse dann spätestens beim Eintritt in die reale Berufswelt nachgeholt werden. 192 Diesen Auffassungen ist zuzustimmen. Die grundgesetz lichen Gewährleistungen in den Art. 12, 2 und 3 GG decken jeweils bestimmte "Ausschnitte" des (Aus-)Bildungswesens ab. Auf diese Funktion müssen die genannten Grundgesetznormen beschränkt bleiben. Eine Erweiterung des grundrechtlichen Schutzes durch den Rückgriff auf ein allgemeines Bildungs-Grundrecht ist in allen denkbaren Streitfällen nicht notwendig. Des weiteren fielen die Umschreibung und die Begrenzung des Schutzbereichs eines "Grundrechtes auf Bildung" schwer. Soll dieses den Bildungserfolg sichern (und wenn ja, auf welche Weise wäre "Erfolg" in diesem Zusammenhang zu bestimmen), oder soll es den Staat lediglich dazu verpflichten, ein funktionsfähiges Schulsystem bereitzustellen? Vor allem die Aussage Oppermanns über die Folgen eines ausschließlich gleichheitsorientierten Bildungsrechts unter Vernachlässigung des Leistungsprinzips sind überzeugend. Zwar sprechen die dargelegten Folgen nicht zwingend gegen ein Grundrecht auf Bildung als solches. Dessen Ableitung 187 188

189 190 191 192

Oppermann, Grundsätze, S. C 88. Abelein, DÖV 1967, S. 376. Oppermann, Grundsätze, S. C 91. Oppermann, Erziehungsauftrag, S. 24. Oppermann, Erziehungsauftrag, S. 24. Oppermann, Erziehungsauftrag, S. 25.

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aus dem Grundgesetz würde aber der ohnehin schon zu weit fortgeschrittenen "Gleichmacherei" im Bildungswesen weiter Vorschub leisten. Zudem würde die Anerkennung eines umfassenden Rechts auf Bildung auf der Grundlage von Art. 12 Abs. 1 GG oder Art. 2 Abs. 1 GG zur Voraussetzung haben, daß die Grundrechte nicht nur gesellschaftliche Freiheitsrechte gegenüber staatlichen Eingriffen wären, sondern gesellschaftliche Leistungsgewährleistungen; es würde zu einer "Materialisierung" der Grundrechte kommen, deren Umfang dem Grundgesetz nicht mehr entnommen werden könnte. 193 Die Gegenansicht zieht aus diesem Grund zwar das Sozialstaatsprinzip heran, dieses ist jedoch für eine genaue "Fixierung" eines umfassenden Rechts auf Bildung aus den oben genannten Gründen ungeeignet. Die Formulierungen in den Landesverfassungen, die ein Recht auf Bildung normieren, wären zwar überflüssig, wenn man die Pflicht des Staates zur Errichtung und Aufrechterhaltung sowie zur Gewährung von Zugang (also ein "Recht auf Bildung" im eingeschränkten Sinne) schon aus Art. 12 Abs. 1 GG herleiten wollte. 194 Der Gesetzgeber erhält durch die Normierungen in den Landesverfassungen aber über diese Verpflichtungen hinaus zusätzlich den Auftrag, die Voraussetzungen der Zulassung zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen, ihrer Weiterbenutzung, der Zulassung zu öffentlichen Prüfungen und die Bedingungen für ihre erfolgreiche Ablegung derart zu normieren, daß dem Einzelnen bei Erfüllung dieser Voraussetzungen ein klagbarer Anspruch zusteht. 195 Aus alledem ergibt sich, daß ein ,,(Grund-)Recht auf Bildung" aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht hergeleitet werden kann. 6. Das Sozialstaatsprinzip als Grundlage für ein Recht auf Bildung

Aus denselben Gründen ist ein subjektives öffentliches Recht auf Bildung abzulehnen, wie es Abelein aus Art. 20 GG herleiten will: 196 Seiner Ansicht nach verlangt nicht nur das Sozialstaatsprinzip, sondern auch die Menschenwürde die Bereitstellung entsprechender Bildungseinrichtungen für jeden einzelnen. Auch Normen, die nach früherer Auffassung keine subjektiven öffentlichen Rechte gewährleisteten, könnten heute als Grundlage klagbarer öffentlicher Ansprüche anerkannt werden. 197 Abelein vergleicht Richter. Bildungsverfassungsrecht, S. 188. Zudem gewährte schon Art. 143 Abs. 1 WRV ähnliche Rechte; vgl. Fuß. Verwaltung und Schule. VVDStRL 1966 (Heft 23). S. 199ff. (201). 195 Vgl. Fuß. Verwaltung und Schule. S. 201. 196 Abelein. DÖV 1967, S. 377. 197 Abelein. DÖV 1967, S. 378. 193

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das "Recht auf Bildung" mit dem Anspruch des Bedürftigen auf Sozialhilfe, der sich auch erst durch die Entwicklung der Rechtsprechung verfestigt habe. Die Bedeutung der Vermittlung von Bildung übertreffe aber bei weitem die Leistung von Fürsorge und Sozialhilfe. 198 Insoweit gäben auch diejenigen Normierungen der Länderverfassungen, die ein Recht auf Bildung enthielten, einen Rechtsanspruch. Abgesehen davon, daß Abelein Inhalt und Umfang eines solchen klagbaren Rechtsanspruchs nicht näher spezifiziert, erscheint die Ableitung aus dem Sozialstaatsprinzip und der Menschenwürde sowie der Vergleich mit dem Anspruch auf Sozialhilfe und Fürsorge etwas dürftig. Auch dieser Konstruktion stehen schließlich die von Oppermann geltend gemachten Bedenken entgegen. 7. Art. 7 Abs. 1 GG Jarass will ein Recht auf Bildung und Ausbildung der Schüler aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG herleiten. 199 Dem Staat werde in Art. 7 Abs. 1 GG die Aufgabe zur Lenkung und Überwachung des Schulwesens im Interesse der Schüler gegeben. Art. 7 Abs. 1 GG enthalte eine grundlegende Wertentscheidung, mit der man die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG "anreichern" könne, um diesem ein Teilhaberecht zu entnehmen. 2OO Diese Konstruktion ist abzulehnen. Art. 7 Abs. 1 GG enthält keine umfassende Regelung des Schulwesens und kann nicht zur Begründung eines Grundrechts auf Bildung herangezogen werden. 201 Er regelt im wesentlichen die Befugnisse des Staates in Form einer institutionellen Garantie und gerade nicht einzelne Rechtspositionen der zu Erziehenden. Jarass begrenzt zudem das so gewonnene Recht auf Bildung und Ausbildung auf ein Teilhaberecht an den bestehenden Ausbildungsanstalten und will es durch die Ausgestaltungsbefugnis des Staates im Rahmen seiner Schulaufsicht einschränken. Daher geht das von ihm konstruierte Grundrecht nicht über die bisher dargestellten Ansätze hinaus?02 Abelein, DÖV 1967, S. 378. Jarass, DÖV 1995, S. 677. - Für die Eltern ergebe sich ein entsprechendes Recht auf Ausbildung und Bildung ihrer Kinder aus Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG (im Bereich der berufsbezogenen Ausbildung Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG), ders., DÖV 1995, S. 679. 200 Jarass, DÖV 1995, S. 677. 201 Bauer, RdJB 1973, S. 226. 202 Auch die Äußerung Jarass', der Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG erstrecke sich nur auf die "berufsbezogene Ausbildung", Art. 12 Abs. 1 GG habe daher einen engeren Schutzbereich als Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 7 Abs. 1 GG, der auch nichtbe198

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Schließlich wäre ein solchennaßen begründetes (Grund-)Recht auf (Aus-) Bildung nicht geeignet, einen eigenen staatlichen Erziehungsauftrag zu begründen, da die von Jarass vorgeschlagene Herleitung diesen gerade voraussetzt. 8. Ergebnis

Ein allgemeines, umfassendes, grundrechtlieh gewährleistetes Recht auf Bildung ist nach alle dem abzulehnen. Ein Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates läßt sich aus einem solchen daher nicht herleiten.

IV. Ableitung aus Art. 6 Abs. 2 GG 1. Der staatliche Erziehungsauftrag als Derivat des natürlichen Elternrechts?

Es ließe sich die Ansicht vertreten, der staatliche Erziehungsauftrag sei lediglich ein Derivat des elterlichen Erziehungsrechts. Die Eltern seien die eigentlichen Träger auch der schulischen Bildung; der Staat habe diese nur aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes übernommen. Die herrschende Meinung vertritt demgegenüber jedoch die Auffassung, das elterliche Erziehungsrecht und der staatliche Erziehungsauftrag seien nicht in irgendeiner Fonn voneinander abgeleitet und (deshalb) einander nicht nach-, sondern gleichgeordnet. 203 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zur hessischen Förderstufe festgestellt: "Der Staat ist in der Schule nicht auf das ihm durch Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zugewiesene Wächteramt beschränkt. Der staatliche Erziehungsauftrag [... ] ist in seinem Bereich dem elterlichen Erziehungsrecht nicht nach-, sondern gleichgeordnet.,,204 rufsbezogene Ausbildung und Bildung umfasse, DÖV 1995, S. 675, überzeugt nicht. "Ausbildung" bezieht sich per definitionem ohnehin nur auf die berufsbezogene Vermehrung von Kenntnissen und Fähigkeiten, und einem Teilhabeanspruch auf "Bildung" im weiteren Sinne steht entgegen, daß der Staat diese nicht in gleichem Umfange für alle Bürger wird gewährleisten können. 203 Vgl. statt vieler Böckenförde, Elternrecht, S. 83; P. Huber, Erziehungsauftrag und Erziehungsrnaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, BayVBI 1994, S. 545ff. (549); Oppennann, Grundsätze, S. C 91; Pieroth, Erziehungsauftrag und Erziehungsrnaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, DVBI 1994, S. 949 ff. (956). - Kritisch u. a. Ossenbühl, Schule im Rechtsstaat, DÖV 1970, S. 801 ff. 204 BVerfG - Urt. v. 06.12.1972 - E 34, S. 165ff. (183), bestätigt in der Sexualkundeentscheidung BVerfG - Beschl. v. 21.12.1977 - E 47, S. 46ff. (72); ständige Rechtsprechung.

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Ungeachtet der Frage, wie die grundsätzlich gleichgeordneten Erziehungsrechte von Eltern und Staat ins Verhältnis gesetzt werden müssen, wird jedenfalls eine Ableitung des staatlichen Erziehungsauftrags aus dem Elternrecht auch im verfassungsrechtlichen Schrifttum überwiegend abgelehnt. 205 Das Elternrecht, wie es in Art. 6 Abs. 2 GG Erwähnung finde, verpflichte den Staat zwar sicherzustellen, daß die den Eltern zugewiesene Rechtsrnacht, ihr Vorrang vor dem erziehenden Staat und anderen Erziehungsprätendenten gewahrt bleibe. 206 Ein eigenes Pflege- und Erziehungsmandat erwachse dem Staat daraus jedoch nicht; er sei darauf beschränkt, die gesetzlichen Voraussetzungen für die Ausübung des Elternrechts bereitzustellen und damit den sachlichen Verbürgungen des Elternrechts auch im Verhältnis zu nicht Grundrechtsverpflichteten Rechtsverbindlichkeit zu verschaffen. 207 . Dieser Ansicht ist zu folgen. Die Ableitung eines staatlichen Erziehungsrechts aus dem natürlichen Elternrecht widerspricht auch der Intention des Art. 6 Abs. 2 GG, der dieses Elternrecht normiert. Den Eltern wird der grundsätzliche Erziehungsprimat zugewiesen. Aus der Formulierung "zuvörderst" ergibt sich zwar, daß der Verfassungsgeber von der Existenz auch anderer Erziehungsträger ausgegangen ist; für eine Begründung eigener Rechte dieser anderen ist dies jedoch nicht hinreichend. Im übrigen würde eine Ableitung des staatlichen Erziehungsrechts aus dem Elternrecht zwingend dazu führen, daß jenes diesem nachgeordnet wäre. Daraus ergäben sich, wie bei der Behandlung der Theorien zum Verhältnis von staatlichem und elterlichem Erziehungsrecht noch zu zeigen sein wird, nur schwer zu lösende Probleme. Der schulische Erziehungsauftrag des Staates kann daher nicht aus dem natürlichen Elternrecht abgeleitet werden. 2. Der Begriff "zuvörderst" als Grundlage des staatlichen Erziehungsauftrags?

Ein dem Elternrecht entgegenstehendes staatliches Erziehungsrecht könnte sich jedoch aus dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 GG ergeben. Das Bundesverfassungsgericht hat formuliert, daß das Wort "zuvörderst" erken205 Böckenförde, Elternrecht - Recht des Kindes - Recht des Staates - Zur Theorie des verfassungsrechtlichen Elternrechts und seiner Auswirkung auf Erziehung und Schule, in: KrautscheidtiMarre (Hg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 14 (1980), S. 81; lestaedt, Staatliche Rollen in der Eltern-Kind-Beziehung, DVBl 1997, S. 693ff. (695); Schmitt-Kammler, Elternrecht, S. 31, Fn. 82. 206 lestaedt, DVBI 1997, S. 694. 207 lestaedt, DVBI 1997, S. 694.

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nen lasse, daß neben den Eltern auch der Staat die Funktion eines Erziehungsträgers mit entsprechenden Pflichten habe,z°8 Diese Formulierung könnte dazu verleiten, den staatlichen Erziehungsauftrag aus Art. 6 Abs. 2 abzuleiten. Es ist schon fraglich, ob der Terminus "zuvörderst" die erzieherische Bestimmungsmacht der Eltern einschränken will. 209 Selbst wenn man ihn so verstehen wollte, als stelle er der erzieherischen Hauptverantwortung der Eltern eine zusätzliche und gleichgeordnete, einem anderen zustehende Erziehungsverantwortung zur Seite, würde er noch nicht besagen, daß diese Teilhabe an der Gesamterziehung dem Staate zufallen solle. 210 Das Wort "zuvörderst" ist daher untauglich zur Herleitung staatlicher Rechte. 3. Ableitung aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG - "staatliches Wächteramt"

Läßt sich ein eigener staatlicher Erziehungsauftrag weder aus dem natürlichen Elternrecht noch aus dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ("zuvörderst") herleiten, so doch möglicherweise aus dem in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG normierten staatlichen "Wächteramt". Dieses gibt dem mit Überwachungsfunktionen betrauten Staat ein Eingriffsrecht für den Fall, daß die Grenzen des elterlichen Erziehungsrechts zu Lasten des Kindes überschritten werden. Diese Grenzen des Elternrechts ergeben sich nicht aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, sondern werden aus Art. 6 Abs. 2 GG als Gesamtheit hergeleitet. Es handelt sich beim staatlichen Wächteramt jedoch nicht um die Normierung umfassender staatlicher Regelungs- und Eingriffsbefugnisse, aus denen sich ein staatlicher Erziehungsauftrag ableiten ließe, sondern lediglich um das Recht des Staates, fremde Erziehungstätigkeit - die der Eltern - zu überwachen und unter besonderen Voraussetzungen korrigierend einzugreifen. Die elterliche Betätigung wird jedoch nicht unter allen möglichen Gesichtspunkten kontrolliert, sondern nur im Hinblick darauf, ob sie das Kindswohl gewährleisten kann. 2l1 Der Staat übernimmt eine subsidiäre "Ausfallbürgschaft" für den "pathologischen" Fall, daß die elterliche Verantwortung, die elterliche Verantwortlichkeit ausfällt. 212 Eine solche Überwachungs- und Eingriffsbefugnis ist zwingend erforderlich, um die BVerfG - Beschl. v. 29.07.1968 - E 24, S. 119ff. (135f.). Ablehnend Bärmeier. Über die Legitimität staatlichen Handeins unter dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, 1992, S. 297ff. (298). 210 Bärmeier, Legitimität, S. 298. 211 Miehe. Erziehung unter dem Grundgesetz, in: Mußgnug (Hg.), Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, 1990, S. 249ff. (255). 212 lestaedt. DVBI 1997, S. 696. 208

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Kinder vor grundrechtswidrigen Eingriffen seitens der Eltern zu schützen und ihre normale Entwicklung zu gewährleisten, wenn die Eltern bei der Erziehungstätigkeit überfordert sind und versagen. Der Staat kontrolliert zum Wohle des Kindes und somit im Dienste der Gemeinschaft fremde Erziehungstätigkeit. Eine eigene Erziehungstätigkeit übt er auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG allein schon deshalb nicht aus, weil die durch das "Wächteramt" als formeller Ermächtigungsnorm gerechtfertigten Eingriffe zeitlich und räumlich begrenzter, ja punktueller Natur sind und daher nicht das erforderliche "Kontinuum" aufweisen, um einen allgemeinen staatlichen Erziehungsauftrag begründen zu können. Das "Wächteramt" beschreibt eine im wesentlichen passive Funktion des Staates; Eingriffe in die elterliche Erziehungsgewalt kommen erst dann in Betracht, wenn eine geregelte Erziehung durch die Eltern nicht mehr gewährleistet ist. 213 Aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG läßt sich ein Erziehungsauftrag des Staates deshalb nicht herleiten.

V. Art. 7 Abs. 1 GG Es bleibt Art. 7 Abs. 1 GG 214 als mögliche verfassungsrechtliche Grundlage des staatlichen Erziehungsauftrags. Nach dieser Vorschrift steht das "gesamte Schulwesen" "unter der Aufsicht des Staates". Mit dem Begriff "Staat" meint Art. 7 Abs. 1 GG grundsätzlich Bund und Länder; nach der kompetenzrechtlichen Grundentscheidung des Grundgesetzes für das Schulwesen aber die jeweilige Landesstaatsgewalt. 215 1. Art. 7 Abs. 1 GG als für den Erziehungsauftrag konstitutive Norm

Von der herrschenden Meinung wird die Auffassung vertreten, Art. 7 Abs. 1 GG begründe eine umfassende Befugnis des Staates zur Leitung des Schulwesens in formal-organisatorischer und inhaltlicher Hinsicht und Keim, Schule und Religion, S. 100. Bei Art. 7 Abs. I GG handelt es sich nicht um ein Grundrecht, da den Bürgern keine Rechte eingeräumt werden. Insoweit ist die Stellung des Art. 7 Abs. I GG bei den Grundrechten systematisch inkonsequent. 215 Starck, Freiheitlicher Staat, S. 9. - A. A. Kloepfer, Staatliche Schulaufsicht und gemeindliche Schulhoheit, DÖV 1971, S. 837 ff. (840) - der Begriff des "Staates" sei nicht unter Ausschluß, sondern unter Einschluß des kommunalen Hoheitsträgers auszulegen. Ziel dieser Auslegung ist es, eine Kollision zwischen Art. 7 Abs. I und Art. 28 Abs. 2 GG zu umgehen; vgl. dazu und zur Kritik dieser Ansicht unten 2. Teil, B. IX. 2. a). 213

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damit einen eigenen staatlichen Erziehungsauftrag in der Schule. 216 Der Begriff der "Schulaufsicht" bedeute nicht nur Aufsicht im eigentlichen Sinne, sondern "Gestaltung des Schulwesens durch den Staat.,,217 Zu untersuchen ist daher, ob 1. nach der Auslegung des Schulaufsichtsbegriffs durch die herrschende Meinung tatsächlich eine solche umfassende Gestaltungsbefugnis des Staates besteht (sub a)), ob sich 2. aus dieser Gestaltungsbefugnis auch ein eigener staatlicher Erziehungsauftrag ableiten läßt (sub b )), und ob schließlich 3. die extensive Auslegung des Schul aufsichtsbegriffs der gegen sie erhobenen Kritik standhalten kann (sub c)). Ausdrücklich regelt der im Vergleich zu den ausführlicheren übrigen Absätzen des Art. 7 GG sehr knapp gehaltene Absatz I nur die Frage, wem die Schulaufsicht zustehe, nicht aber, was unter Aufsicht zu verstehen und in welchem Umfang sie dem Staate übertragen sei. Erforderlich ist daher eine verfassungskonforme Auslegung des Aufsichtsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 GG.

a) Auslegung des Begriffs "Aufsicht" aa) Wortlaut Der Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 GG ist unergiebig im Hinblick auf die Frage nach Inhalt und Umfang der staatlichen Befugnisse im Bereich des Schulwesens. Insbesondere ergibt sich aus ihm keine ausdrückliche umfassende Bestimmungsmacht über die Schule, die auch ein eigenes Erziehungsrecht des Staates einschlösse. "Aufsicht" bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch eine Beziehung in Form eines Über-/Unterordnungsverhält216 Avenarius, Die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, 1995, S. 110; Bothe, Erziehungsauftrag, S. 18; von Campenhausen, Erziehungsauftrag und staatliche Schulträgerschaft, 1967, S. 21 ff.; Dittmann, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, VVDStRL 1995 (Heft 54), S. 47 ff.; Eriehsen, Kindswohlentscheidung, S. 8, 11; Falekenberg, Schulrecht, S. 37; HopjlNevermann/Riehter, Schulaufsicht und Schule, 1980, S. 44ff.; Jsensee, Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation, ZRP 1996, S. IOff. (14); Keim, Schule und Religion, S. 106; Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 7 GG Anm .. 16ff.; Oppermann, Grundsätze, S. C 11 ff. (C 21 f.); Saehs-Schmitt-Kammler, Grundgesetz, 1998 2 , Art. 7 GG Rn. 22ff.; Sehlie, Elterliches Erziehungsrecht und staatliche Schulaufsicht im Grundgesetz. Ein Beitrag zum Verhältnis elterlicher und staatlicher Verantwortung für das Kind und die Gemeinschaft, 1986, S. 71; Stern, Autonomie der Schule?, in: Merten/Schmidt/Stettner (Hg.), Der Verfassungsstaat im Wandel, Festschrift für Knöpfle, 1996, S. 333 ff. (339). 217 Frowein, Zur verfassungsrechtlichen Lage der Privatschulen, 1979, S. 18. Mit demselben Ergebnis, aber mit anderer Begründung Model/Müller, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1996 11 , Art. 7 GG Rn. 2: "Zutreffenderweise ist vor ,Aufsicht' zu lesen ,mindestens'."

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nisses,218 wobei sich der Umfang der Weisungs- bzw. Eingriffsmöglichkeiten des Aufsichtsführenden nicht eindeutig bestimmen läßt. Aufgrund dieser terminologischen Unsicherheit wird der Begriff der "Aufsicht" in der Rechtssprache unterschiedlich ausgelegt. Insbesondere in der verwaltungsrechtlichen Terminologie bezeichnet der Begriff der "Aufsicht" eine Rechts- und Fachaufsicht, wobei 1. Rechtsaufsicht die Kontrolle einer nicht mit dem Staat identischen Selbstverwaltungseinrichtung hinsichtlich der Beachtung bestimmter Handlungsgrenzen bedeutet und 2. Fachaufsicht darüber hinausgehend bestimmte Eingriffsmöglichkeiten auch im Hinblick auf Zweckmäßigkeitserwägungen bei ansonsten weitgehender Eigenständigkeit des Beaufsichtigten einräumt. 219 Andererseits ließe sich jedoch auch eine "Aufsicht" mit noch weiterreichenden Eingriffsmöglichkeiten denken, etwa dergestalt, daß der Aufsichtsführende selbst wirksam sämtliche beaufsichtigte Handlungen ausführen oder für jeden Einzelfall verbindlichen Handlungsanweisungen geben könnte. In einem solchen Falle wäre "Aufsicht" im Sinne einer umfassenden "Leitung" zu verstehen. 22o Da sich die Bedeutung dieser Formulierung aus dem Wortlaut nicht direkt erschließt, muß auf die historische Auslegung des Schulaufsichtsbegriffs zurückgegriffen werden. bb) Historische Auslegung Art. 7 Abs. 1 GG übernimmt wörtlich die Formulierung des Art. 144 Satz 1 WRV. 221 In Art. 144 Satz 1 WRV bedeutete der Begriff der "Aufsicht" nach damals überwiegender Ansicht 222 das "dem Staate ausschließlich zustehende administrative Bestimmungsrecht über die Schule".223 Ungeachtet der Bezeichnung sei die Aufsicht - so Anschütz - "nicht nur Aufsicht im engeren und eigentlichen Sinne, d. h. keine bloße Kontrolle einer von der Staatsverwaltung im Subjekt verschiedenen Selbstverwaltung [... ), sondern mehr und etwas anderes: Leitung und Verwaltung der (inneren) Schulangelegenheiten durch den Staat".224 Lande vertritt die darüber 218 Becker, Aufsicht über Privatschulen, 1969, S. 85 ff.; Stephany, Staatliche Schulhoheit und kommunale Selbstverwaltung, 1964, S. 23 f. 219 Oebbecke, RdJB 1996, S. 338. 220 Vgl. zur begrifflichen Unterscheidung Stephany, Schulhoheit, S. 24. 221 Allgemein zu Unterschieden zwischen der Weimarer Schulverfassung und der des Grundgesetzes sowie zur Heranziehbarkeit der WRV zur Auslegung grundgesetzlicher Schulrechtsregelungen vgl. Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 7 GG Anm. 4d. 222 Nachweise bei Stephany, Schulhoheit, S. 27 Fn. 6. 223 Anschütz, Verfassung von 1919, S. 672.

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hinausgehende Ansicht, daß der Satz der Reichsverfassung "bedeute, [... ], daß die Schule Staatssache schlechthin ist, er besagt das gleiche wie der Satz der ALR (11 12 § 1): ,Schulen sind Veranstaltungen des Staates,."m In den zwanziger Jahren hatte sich die Auffassung in der Staatsrechtswissenschaft entwickelt, daß sich aus Art. 143 Abs. 1 S. I WRVein eigenständiges Erziehungsrecht des Staates ergebe, das nicht vom Elternrecht in Art. 120 WRV abgeleitet sei. 226 Insoweit könnte daher davon gesprochen werden, daß das Grundgesetz mit der Formulierung der Weimarer Reichsverfassung die Ideen des Preußischen Allgemeinen Landrechts, das den Staat als zum Schulehalten verpflichtet angesehen hat?27 übernommen habe. Die Weimarer Reichsverfassung setzte die überlieferte Bedeutung des materiellen Schulaufsichtsbegriffs als bekannt voraus. 228 cc) Übernahme der historischen Auslegung durch das Grundgesetz Es stellt sich jedoch die Frage, ob das Grundgesetz mit dem Wortlaut des Art. 144 Satz 1 WRV auch den überlieferten extensiven materiellen Schulaufsichtsbegriff übernehmen wollte. Der Entstehungsgeschichte der Vorschrift lassen sich keine Anhaltspunkte entnehmen. Für den Parlamentarischen Rat stellte der Begriff der "Schulhoheit" offenbar kein· größeres Problem dar und wurde in den Sitzungen nicht erörtert; sein Inhalt wurde offensichtlich in allen Debatten und Entwürfen vorausgesetzt. 229 Daß die Auslegung des Begriffs der Schulhoheit zumindest in ihren Grundsätzen aus der Weimarer Staatsrechtslehre übernommen werden sollte, ist dann anzunehmen, wenn nicht ein Gegensatz zwischen den rechtlichen Verhältnissen des Schulwesens der Weimarer Zeit und den gegenwärtigen Verhältnissen feststellbar ist oder sonstige Umstände entgegenstehen. 23o Das Schulwesen und die Schulaufsicht waren und sind sowohl während der Weimarer Republik als auch unter der Geltung des Grundgesetzes aufgrund der kompetenzrechtlichen Entscheidung Angelegenheit der Anschütz, Verfassung von 1919, S. 672. Lande, Die Schule in der Reichsverfassung, 1929, S. 64. 226 Vgl. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 332. 227 Kohl, Schule und Eltern in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeidler/Maunz/RoeIIecke (Hg.), Festschrift für FaIIer, 1984, S. 201 ff. (203); Starck, Freiheitlicher Staat, S. 11. 228 Keim, Schule und Religion, S. 103. 229 Vgl. die Steriographischen Berichte über die Verhandlungen des Hauptausschusses in der 21. Sitzung (7. Dezember 1948), S. 245ff.; der 43. Sitzung (18. Januar 1949), S. 558f., und der 57. Sitzung (13. April 1949), S. 760f. 230 Friedrich, Erziehungsrechte. S. 130. 224 225

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Länder. Auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 7 Abs. I GG läßt sich nicht ersehen, daß eine Abweichung von den inhaltlichen Vorgaben der Weimarer Republik vorgesehen gewesen wäre. Zwar war in der Weimarer Reichsverfassung das Schulwesen umfassender und eingehender geregelt, als dies im Grundgesetz der Fall ist. 231 Daraus läßt sich jedoch nicht folgern, das Grundgesetz vertrete eine grundlegend andere Konzeption des Schulwesens im allgemeinen oder der Schulaufsicht im besonderen als die Weimarer Verfassung, und dem Staate als "Aufsichtsführendem" sollten daher weniger Befugnisse zustehen. Nicht nur die Staatsrechtslehre ist nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes überwiegend der Ansicht gefolgt, der Schulaufsichtsbegriff des Grundgesetzes decke sich weitgehend mit dem der Weimarer Reichsverfassung; auch die Obergerichte haben recht früh diese Auffassung unterstütZt. 232 Schließlich haben die meisten Landesverfassungen in ihren Schulgesetzen die Befugnisse der Schulaufsicht im Sinne des weiten Schulaufsichtsbegriffs - als Rechts-, Fach- und Dienstaufsicht - normiert?33 Im Ergebnis ist also davon auszugehen, daß das Grundgesetz den Schulaufsichtsbegriff der herrschenden Meinung während der Weimarer Republik übernehmen wollte. Bezüglich der Reichweite und des Umfangs des Schulaufsichtsbegriffes sind jedoch gegenüber der extrem extensiven Auslegung während der Weimarer Republik gewisse Einschränkungen vorzunehmen. So geht die herrschende Meinung von einem gegenüber der Weimarer Reichsverfassung veränderten geistigen und weltanschaulichen Hintergrund des Grundgesetzes davon aus, daß die Aufsicht daher bestimmten Beschränkungen unterliegen müsse 234 und in Abstufungen gewährleistet sei. 235 Dazu Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 7 GG Anm. 4d. BVerwG - Besch!. v. 28.12.1957 - E 6, S. 101 ff. (104); dass. - Urt. v. 31.01.1964 - E 18, S. 38ff. (39); dass. - Urt. Y. 11.03.1966 - E 23, S. 35lff. (352f.); OVG Münster - Urt. v. 22.11.1963 - DVBI 1964, S. 829ff. (830); OVG Koblenz - Urt. v. 10.07.1954 - DVBI 1955, S. 503ff. (504f.). - Vg!. allgemein zur Verwaltungsrechtsprechung im Schulbereich H. Heckel, Die Bedeutung der Verwaltungsrechtsprechung für die Entwicklung des deutschen Schulrechts, DÖV 1963, S.442ff. 233 Vg!. beispielhaft: § 32 des Schulgesetzes für Baden-Württemberg vom 01.08.1983; § 92 Abs. 3 des Hessischen Schulgesetzes vom 17.06.1992; § 95 des Schulgesetzes für das Land Mecklenburg-Vorpommem vom 15.05.1996; § 58 Abs. 1 des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen vom 03.07.1991. 234 Vg!. von Campenhausen, Erziehungsauftrag, S. 22; Stephany, Schulhoheit, S. 28. - Ähnlich auch Richter, Grundgesetz, Art. 7 GG Rn. 18f., der dem herrschenden Schulaufsichtsbegriff vorwirft, keine "materielle Bestimmung der schulischen Bildungsprozesse" anzustreben, jedoch selbst nicht deutlich macht, worin der Vorteil seiner eigenen Konzeption liege. Im Ergebnis bejaht auch Richter eine weitreichende Gestaltungsfreiheit des Staates im Schulwesen, Richter, Grundgesetz, Art. 7 GG Rn. 19. 231

232

5 Thiel

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

kommt, daß auch Art. 144 WRV im wesentlichen keine neue Bestimmung der Schulaufsicht geliefert hat, sondern die Regelung des § 1 11 12 ALR übernommen hat. 236 Auch das spricht für die Notwendigkeit einer Modifizierung des extensiven Schulaufsichtsbegriffs. Ansonsten würde die Auslegung eines Rechtsbegriffs übernommen, die vor über zweihundert Jahren in anderem historischen und geistigen Zusammenhang entwickelt worden ist. Trotz alledem ist im Anschluß an die Verfassungslehre der Weimarer Republik der Begriff der Schulaufsicht, wie er in Art. 7 Abs. 1 GG übernommen wurde, grundsätzlich weit auszulegen. Unter Schulaufsicht ist damit die "Gesamtheit der dem Staate nach dem Grundgesetz unentäußerbar zugewiesenen gubernativen und administrativen Rechte und Pflichten" zu verstehen; sie umfaßt sowohl (materielle) staatliche Rechtsetzung als auch Regierungs- und Verwaltungstätigkeit. 237 Das Recht zur ersteren ergibt sich aber nicht aus Art. 7 Abs. 1 GG, sondern aus der generellen Möglichkeit des Staates, seine gesetzgeberische Tätigkeit auf alle Bereiche auszudehnen, die nicht von der Verfassung verschlossen sind. 238 Angesichts der begrifflichen Schwierigkeiten, die mit der Verwendung des Wortes Schulaufsicht einhergehen, ist dem Vorschlag von Stephany zu folgen, der den Begriff der Schulhoheit für besser geeignet hält, die umfassenden Rechte und Pflichten des Staates im Schulwesen zu beschreiben?39 dd) Ergänzung durch das Sozialstaatsprinzip? Teilweise wird neben Art. 7 Abs. 1 GG auch das Sozialstaatsprinzip herangezogen 240 und die grundsätzliche öffentliche Verantwortlichkeit für das Schulwesen aus einer Zusammenschau von Art. 7 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG begründet. 241 Nur durch diese Zusammenschau sei es möglich, das Verhältnis von grundsätzlicher staatlicher Schulhoheit zur Privatschulfreiheit des Art. 7 Abs. 4 GG zu klären. Art. 7 Abs. 4 GG sei eine echte verfassungsrechtliche m H. Heckei, Schulrecht und Schulpolitik - Der Einfluß des Rechts auf die Zielsetzung und den Erfolg in der Bildungspolitik, 1967, S. 53; vgl. auch Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 7 GG Anm. 19, der nach der Rechtsstellung der zu beaufsichtigenden Schule differenzieren will. 236 Becker, Privatschulen, S. 98. 237 Stephany, Schulhoheit, S. 42. 238 Maunz, Das Elternrecht als Verfassungsproblem, in: Ehmke/Kaiser/Kewenig/ Meessen/Rüfner (Hg.), Festschrift für Scheuner, 1973, S. 419ff. (426). 239 Zum Begriff der "Hoheit" im Verhältnis zu dem der "Aufsicht" eingehend Stephany, Schulhoheit, S. 43; vgl. auch Starck, DÖV 1979, S. 269. 240 Bothe, Erziehungsauftrag, S. 17 f. 241 Oppermann, Grundsätze, S. C 21.

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Gewährleistung, die der Staat "nicht nur formal, sondern auch real,,242 ernstzunehmen habe. Die Unterstützung des Privatschulwesens durch den Staat sei im Sinne "sozialer" Grundrechtsauslegung zu ermöglichen; das Sozialstaatsprinzip gewährleiste als verbindliche Staatszielbestimmung die "Existenz einschließlich zeitgemäßer Fortentwicklung eines ausgebauten Bildungssystems".243 Als ratio essendi für Existenz und Wahrung eines leistungsfähigen öffentlichen Schulsystems folge vor allem aus dem Sozialstaatsprinzip eine grundsätzliche Entscheidung des Grundgesetzes und der Länderverfassungen für die "prinzipielle Staatlichkeit" des Bildungswesens. 244 Die Einbeziehung des Sozialstaatsprinzips in die Herleitung des staatlichen Erziehungsauftrags hat den Vorteil, die grundsätzliche Konzeption der staatlichen Schulhoheit, wie sie in Art. 7 Abs. 1 GG normiert ist, im sozialen Sinne zu modifizieren. Oppermann stellt fest, daß die Einbeziehung der sozialstaatlichen Bestandsgarantie für die Existenz und die zeitgemäße Fortentwicklung eines Bildungssystems vor allem unter folgenden Aspekten sinnvoll und angebracht erscheine: Zunächst gewährleistet das Sozialstaatsprinzip eine quantitative Untergrenze der öffentlichen Bildungsvorsorge, wobei die allgemeine Schulpflicht diese Untergrenze konkret ausgestalten solle. Zudem gebiete das Sozialstaatsprinzip die Bereitstellung von Fördermitteln, damit der Erwerb von Bildung jedenfalls nicht aus dem alleinigen Grunde fehlender materieller Hilfsmittel unmöglich werde. 245 Andererseits merkt Oppermann an, daß eine "einseitige und exklusive Übersteigerung der sozialstaatlichen Inhalte" für das Bildungswesen einerseits dessen Bedeutung für andere Sektoren öffentlicher Tätigkeit unzulässig verkürze, andererseits - durch die Notwendigkeit einer steigenden Subventionierung - eine Hinwegsetzung über das parlamentarische Budgetrecht erfolgen könne. 246 Das Sozialstaatsprinzip fordere, so Oppermann, das ,jederzeitige Mitbedenken des sozialstaatlichen Aspektes. ,,247 Andererseits binde es Entscheidungen über Erhaltung und Fortentwicklung des Schulwesens nicht; diese stünden vielmehr in bildungspolitischem Ermessen. Das Sozialstaatsprinzip gebe darüber hinaus für schulpolitisch umstrittene Fragen keinerlei stringente Handlungsanweisungen. 248 242 243

244 245 246 247 248

5"

Oppennann, Oppennann, Oppennann, Oppennann, Oppennann, Oppennann, Oppennann,

Grundsätze, Grundsätze, Grundsätze, Grundsätze, Grundsätze, Grundsätze, Grundsätze,

S. S. S. S. S. S. S.

C C C C C C C

21. 23. 21. 25. 24. 26. 26.

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

Der Auffassung Oppennanns ist zumindest in dem Punkte zuzustimmen, daß eine sozialstaatliehe Ausrichtung des Schulwesens grundsätzlich anzuerkennen und zu fördern ist. Meines Erachtens unterscheidet sie sich aber nicht wesentlich von derjenigen, die einzig auf Art. 7 Abs. I GG als verfassungsrechtliche Grundlage staatlichen Schulehaltens zurückgreifen will. Das Sozialstaatsprinzip ist weder so eindeutig in seinem Inhalt und seinen Folgen für das Schulwesen bestimmbar, daß es als dogmatische Grundlage geeignet wäre, noch kann es bestimmte schulpolitische Entscheidungen binden. Seine Heranziehung als zusätzliche Grundlage staatlichen Schulehaltens ist daher überflüssig. b) Kritik der extensiven Auslegung des Schulaufsichtsbegriffs im Schrifttum

Auch die abgeschwächt extensive Auslegung des Schulaufsichtsbegriffes sieht sich in letzter Zeit erneut zunehmender Kritik ausgesetzt, wobei einerseits an den Wortlaut und die Systematik, andererseits an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder an allgemeinpolitische Erwägungen angeknüpft wird. 249 aa) "Aufsicht" im Verfassungssprachgebrauch Die Kritik richtet sich vornehmlich gegen die weite Auslegung des Begriffs "Aufsicht". In anderen Bestimmungen des Grundgesetzes sei ebenfalls das Wort "Aufsicht" enthalten, so z. B. in Art. 84 Abs. 3 S. 1 GG (Aufsicht der Bundesregierung über die Länder, den landeseigenen Vollzug der Bundesgesetze betreffend), Art. 85 Abs. 4 GG (Aufsicht der Bundesregierung über die Länder bei der Bundesauftragsverwaltung) und Art. 93 Abs. I Nr. 3 GG (Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern insbesondere im Bereich der Bundesaufsicht). "Aufsicht" sei in diesen Vorschriften nur "technisch" zu verstehen, d. h. als Fach- und Rechtsaufsicht, nicht aber im Sinne einer weiterreichenden, umfassenden Bestimmungsgewalt über das betreffende Regelungsgebiet. Aufsicht umfasse das Merkmal der Kontrolle, wobei der Maßstab der Kontrolle von der Aufsicht vorausgesetzt werde. 25o Daher könne die Befugnis zur generellen Ordnung nicht Bestandteil der Auf249 Im folgenden werden auch diejenigen kritischen Einwände überprüft, die sich nicht gegen die extensive Auslegung des Schulaufsichtsbegriffs als solche wenden, sondern allgemein die staatliche Herrschaft über die Schule angreifen. Da sich die Schulhoheit aber gerade aus dem Aufsichtsbegriff des Art. 7 Abs. 1 GG herleiten läßt, erscheint eine Behandlung der Kritik an dieser Stelle systematisch legitim. 250 Löhning, Der Vorbehalt des Gesetzes im Schulverhältnis, 1974, S. 147.

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sicht sein, weil die Schaffung des Kontrollrnaßstabs und seine Anwendung ihrem Wesen nach nicht dasselbe sein könne. 251 Deshalb könne auch Art. 7 Abs. 1 GG mit "Aufsicht" lediglich die Fach- und Rechtsaufsicht über das Schulwesen meinen. 252 Finde ein Begriff in einem Gesetz mehrmalige Verwendung, müsse er auch jeweils dieselbe Bedeutung haben,z53 Der Grundsatz der Sinngleichheit bei Formulierungsgleichheit sei zu beachten. Schließlich wird vorgebracht, aus der Tatsache, daß der Parlamentarische Rat den Begriff der staatlichen Schulaufsicht aus Art. 144 WRVohne eingehende Auseinandersetzung mit diesem übernommen habe, ergebe sich lediglich, daß für die Auslegung des Art. 7 Abs. 1 GG kein selbständiges Argument aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zur Verfügung stehe,z54 Es lasse sich dagegen nicht folgern, daß das historische Verständnis des Begriffes "Aufsicht" uneingeschränkt übernommen werden sollte. Die Kritik geht fehl. Den dargelegten Widerspruch zum übrigen Verfassungssprachgebrauch hat bereits Anschütz bei seiner Definition des Schulaufsichtsbegriffs erkannt, das sonstige Wortverständnis aber zugunsten des umfangreichen Bestimmungsrechts des Staates nachdrücklich beiseite geschoben. 255 Vom Grundsatz der Sinngleichheit bei Formulierungsgleichheit sind Ausnahmen zulässig,z56 Das Grundgesetz mißt auch an anderen Stellen demselben Ausdruck verschiedene Bedeutungen ZU,z57 Zudem lassen sich Zweifel daran anmelden, ob bei der "Bundesaufsicht" in Art. 85 Abs. 4 GG und Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG und bei der "Aufsicht" in Art. 7 Abs. 1 GG tatsächlich von einer gleichen Formulierung gesprochen werden kann.

Fuß, Verwaltung und Schule, S. 207. Ähnlich Perschet, Die Lehrfreiheit des Lehrers, DÖV 1970, S. 34ff. (39): Art. 7 Abs. 1 GG sage nicht mehr, als daß der Staat über das Schulwesen "wache", so daß für eine nichtstaatliche Organisation des öffentlichen Schulwesens, insbesondere für Selbstbestimmungsmodelle, weiter Raum bleibe. Die Schulaufsicht habe "subsidiäres Korrektiv" zu bleiben. - Vgl. auch Jach, Schulvielfalt, S. 24. 253 Peters, Die höhere Schule als Gemeindeeinrichtung, Städtetag 1952, S. 99 ff. 254 Müller, Das Recht der Freien Schule nach dem Grundgesetz, 1982, S. 77f. Zustimmend Jach, Schulvielfalt, S. 24. 255 Anschütz, Verfassung von 1919, S. 409 f. 256 Vgl. Becker, Privatschulen, S. 99. 257 Das Reichsgericht erkannte im Zivilrecht an, daß bei Vorliegen bestimmter Umstände Durchbrechungen des Grundsatzes von der Sinngleichheit bei Formulierungsgleichheit möglich seien, RG - Urt. v. 14.11.1936 - Z 153, S. Iff. (20). Vgl. auch Becker, Privatschulen, S. 99; Stephany, Schulhoheit, S. 25. - Als Beispiel im Grundgesetz läßt sich die sogenannte "verfassungsmäßige Ordnung" mit unterschiedlicher Bedeutung in Art. 2 Abs. 1 GG einerseits und in Art. 20 Abs. 3 GG andererseits anführen. 251

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I. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

Zudem läßt sich aus der Verfassungssystematik ersehen, daß diese Vorschriften aus anderen Gründen eine Aufsicht vorschreiben als Art. 7 Abs. I GG und andere Aufsichts-Funktionen behandeln: In den Art. 84 und 85 geht es um ein Aufsichtsverhältnis zwischen Hoheitsträgern als Gebietskörperschaften; sie behandeln die Aufsicht seitens des Bundes bei der Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder. Aus einem Vergleich der Art. 84ff. GG ergibt sich, daß in diesen mit dem Begriff "Aufsicht" lediglich das Subordinationsverhältnis gekennzeichnet wird, während die sich daraus ergebenden Befugnisse als Rechts- bzw. Zweckmäßigkeitskontrolle in den jeweiligen Artikeln gesondert festgelegt werden. 258 Art. 7 Abs. I GG regelt dagegen kein Aufsichtsverhältnis zwischen Hoheitsträgern als Gebietskörperschaften, sondern die Aufsicht des Staates über das gesamte Schulwesen, also des Hoheitsträgers über eine öffentlich ausgestaltete Einrichtung. Zwar ist auch die öffentliche Schule eine hoheitliche Erscheinung; die Art. 84 und 85 GG behandeln aber überwiegend staatsorganisatorische Fragen, während die Schulaufsicht des Staates in Ausübung einer hoheitlichen Aufgabe direkte Auswirkung auf natürliche Personen hat und daher aus der Natur der Sache praktischer und am Einzelfall orientiert sein muß. Die Funktion der Aufsicht in Art. 85 Abs. 4 und Art. 93 Abs. I Nr. 3 GG ist eine andere als die der in Art. 7 Abs. I GG geregelten Schulaufsicht. Schließlich können lediglich terminologische Gründe nicht ausreichend sein, um einen historisch gewachsenen Begriff, über dessen überkommene Bedeutung man sich zudem bei der Schaffung des Grundgesetzes angesichts der klaren Übereinstimmung von Lehre und Rechtsprechung während der Weimarer Republik im klaren war, neu zu interpretieren. 259 Die bewußte Wiederaufnahme der hergebrachten Formulierung in das Grundgesetz zeigt die Absicht der Verfassungsgeber, an den umfassenden Befugnissen des Staates im Schulwesen nichts wesentliches zu ändern. 26o Trotz der Formulierungsgleichheit in den Art. 84, 85 GG und Art. 7 Abs. I GG ist somit von einer differierenden Regelungsabsicht auszugehen. Der Begriff der Aufsicht in Art. 7 Abs. I GG muß folglich nicht notwendigerweise eng als Fach- und Rechtsaufsicht ausgelegt werden. Diese Auffassung wird im verfassungsrechtlichen Schrifttum auch nahezu einhellig vertreten. 261

258 259

260 261

Stephany, Schulhoheit, S. 25. Keim, Schule und Religion, S. 105. Keim, Schule und Religion, S. 105. Vgl. Starck, Freiheitlicher Staat, S. 11.

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bb) "Anti-administrativer" Ansatz Gegen die Auslegung des Aufsichtsbegriffs durch die herrschende Meinung wendet sich auch Löhning. Grundsätzlich sei gegen die weite Auslegung der Schulaufsicht nichts einzuwenden, allerdings rechtfertigten die Gründe für die extensive Interpretation zwar die Schulhoheit des Staates, nicht aber die Begrenzung der Ausübungsbefugnisse auf die Verwa[tung. 262 Die Regelungsbefugnis stehe vielmehr in erster Linie dem Gesetzgeber zu, vor allem, weil der Staat durch die Schulaufsicht in besonders intensiver Weise in die gesellschaftliche Sphäre einwirke. 263 Träger der Schulhoheit sei der "gewaltengeteilte Staat".264 Art. 7 Abs. 1 GG sei in erster Linie eine Absage an die geistliche Schulaufsicht. 265 Die so im Schulwesen durchgesetzte Trennung von Staat und Kirche besage jedoch nichts über die Verteilung der Regelungsbefugnisse innerhalb des "gewaltengeteilten Staates", insbesondere enthalte sie keine ausdrückliche Zuweisung der Schulaufsichtsbefugnisse an die Verwaltung. 266 Löhning versucht nachzuweisen, daß die de facto bestehende "Zuweisung" vielmehr auf einer historischen Zufälligkeit beruhe?67 Die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Schulangelegenheiten, wobei sich die Aufsicht auf die inneren Angelegenheiten beziehe, gehe zurück auf § 179b der revidierten Steinschen Städteordnung vom 17. März 1831. Die äußeren Schul angelegenheiten oblagen den Schulträgern, also in der Regel den Kommunen, die inneren dem Staate. Die Schulaufsicht unterschied somit staatliche und gemeindliche Befugnisse. 268 Die Schulaufsicht brauchte dagegen keine Unterscheidung darüber zu treffen, welches Organ des Staates tätig zu werden hatte - aufgrund der damaligen Verfassungsstruktur und gerade nicht aus dem Wesen der Schulaufsicht habe sich ergeben, daß die Verwaltung zuständig sei. 269 Aus der historischen Auslegung ergebe sich daher kein zwangsläufiger Anhaltspunkt für Normsetzungs- und Regelungsbefugnisse der Verwaltung. Ähnlich äußert sich auch Hildebrandt gegen ein weitgehendes administratives Bestimmungsrecht: Art. 7 Abs. 1 GG treffe keine Aussage über die Löhning, Vorbehalt des Gesetzes, S. 151. Löhning, Vorbehalt des Gesetzes, S. 151. 264 Löhning, Vorbehalt des Gesetzes, S. 152. 265 Vgl. Püttner, Verfassungsrecht und Gestaltung des Schulwesens, in: Realschullehrerverband Nordrhein-Westfalen (Hg.), Schule im Rechtsstaat - 10. Mülheimer Kongreß, 1977, S. 12 ff. (14); Stein/Roell, Schulrecht, S. 24. 266 Löhning, Vorbehalt des Gesetzes, S. 150. 267 Löhning, Vorbehalt des Gesetzes, S. 151. 268 Peters, Städtetag 1952, S. 99 ff. 269 Löhning, Vorbehalt des Gesetzes, S. 149. 262 263

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

Ennächtigung irgendeines Rechtssubjekts zur Wahrnehmung bestimmter SChulangelegenheiten;270 vielmehr berufe die Vorschrift primär den Gesetzgeber zur Festlegung der Bildungs- und Erziehungsziele. 271 cc) Ungenauigkeiten in der historischen Betrachtung Becker272 versucht, die extensive Auslegung des Schulaufsichtsbegriffs durch die Weimarer Staatsrechtslehre zu widerlegen, indem er das Argument, schon unter der Geltung des Preußischen Allgemeinen Landrechts habe eine volle Bestimmungsmacht des Staates über die Schule bestanden, angreift. Das Verständnis der Weimarer Republik bezüglich der Schulaufsicht habe sich nicht weiterentwickelt, sondern einfach die während der Geltung des Preußischen Allgemeinen Landrechts bestehende Vorstellung übernommen. 273 Das ALR sei wie ein Lehrbuch aufgebaut gewesen; die Zuweisung der Schulen als "Veranstaltungen" an den Staat habe nur besagen wollen, daß die Schule den staatlichen Maßnahmen unterworfen sei. Die Bedeutung des § I 11 12 ALR habe darin gelegen, daß unter Schulen im Sinne der nachfolgenden Bestimmungen nur solche Veranstaltungen zu verstehen seien, die "den Unterricht der Jugend in nützlichen Kenntnissen und Wissenschaften zur Absicht hatten. ,,274 Die ursprüngliche Funktion des § 1 11 12 ALR sei also nicht gewesen, die Schulen als staatliche Anstalten zu qualifizieren, die umfangreichen administrativen Regelungsbefugnissen unterlägen, sondern nur dem Staat die allgemeine Möglichkeit zur Beeinflussung des Schulwesens zu verschaffen. 275 dd) Unmöglichkeit der historischen Auslegungsmethode Auch Bänneier wendet sich gegen die historische Auslegung des Schulaufsichtsbegriffs?76 Das Grundgesetz sei sichtbarer Ausdruck "tiefgreifend" veränderter "Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen" in Deutschland. Es sei ein Bedeutungswandel eingetreten, und die rechtlichen Rahmenbedingungen hätten sich verändert. Aufgrund dieser "fundamentalen und beispiellosen" Veränderungen der rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedin270 Hildebrandt, Das Schulwesen als Bestandteil der rechtsstaatlichen Hoheitsverwaltung, 1971, S. 17. 271 Hildebrandt, Schulwesen, S. 23 f. 272 Becker, Privatschulen, S. 92ff. 273 Becker, Privatschulen, S. 98. 274 Becker, Privatschulen, S. 92. 275 Becker, Privatschulen, S. 93. 276 Bärmeier, Legitimität, S. 267ff.

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gungen für das Schulwesen in Deutschland sei die historische Interpretation des Schulaufsichtsbegriffs daher unmöglich, nicht durchführbar. 277 Auf eine Auslegung, die völlig anderen Umständen entstamme, könne nicht zurückgegriffen werden. ee) Unzulässige "Vennengung" staatlicher Befugnisse Fuß wirft dem weiten Schulaufsichtsbegriff der herrschenden Meinung vor, er vermenge unzulässigerweise teils ganz verschiedenartige Tätigkeiten des Staates. 278 Die Folge sei, daß unklar bleibe, welche Aufgaben und Befugnisse der Exekutive in Bezug auf das Schulwesen zukämen. Durch die Zusammenlegung der verschiedenen historisch überlieferten Befugnisse habe sich der Tenninus "Schulaufsicht" zu einer Sammelbezeichnung staatlicher Verwaltungs- und Leitungsbefugnisse im Schulwesen verwischt. Fuß bemerkt, daß für eine gesetzliche Regelung der Schulangelegenheiten ohnehin kein Rückgriff auf Art. 7 Abs. 1 GG notwendig sei, da die Staatsgewalt es dem Staat erlaube, seine Nonnierungstätigkeit potentiell auf alle Lebensbereiche auszudehnen, die ihm nicht durch grundrechtliehe Gewährleistungen verschlossen seien. 279 Für den Begriff der Schulaufsicht sei daher eine Modifizierung der Bedeutung erforderlich. Ihm sollten nur noch die administrativen Aufsichtsbefugnisse im eigentlichen Wortsinn unterfallen, also die Fachaufsicht und die Rechtsaufsicht. 28o Fuß fölgt daher im Ergebnis der oben sub aa) dargestellten Ansicht. ff) Unverhältnismäßigkeit staatlicher Erziehung Noch weiter geht in jüngster Zeit die eingehende Kritik Bänneiers. 281 Er hält die bisherige Praxis des staatlichen Schulehaltens, die auf der weiten Auslegung des Schulaufsichtsbegriffs des Art. 7 Abs. 1 GG beruht, für unverhältnismäßig. Er stellt die Frage, ob zur Erfüllung der Gemeinschaftsaufgabe, ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen Schülern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet, tatsächlich erforderlich sei, daß ein staatliches Bildungssystem unterhalten werde, und ob dieses überhaupt zur Erfüllung dieser 277 278 279

280

281

Bärmeier, Legitimität, S. 287 f. Fuß, Verwaltung und Schule, S. 206f. Fuß, Verwaltung und Schule, S. 213. Fuß, Verwaltung und Schule, S. 215. Ausführlich Bärmeier, Legitimität.

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I. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

Aufgabe geeignet sei. 282 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts habe einen "unbedachten Gedankensprung" vorgenommen, indem die der Schule zugewiesene Aufgabe, bei der Erziehung mitzuwirken, zur Staatsaufgabe gemacht worden sei. Damit sei der Unterschied zwischen einer pädagogischen und einer politischen Aufgabe ignoriert worden. 283 Daß Art. 7 Abs. 1 GG ein eigenständiger staatlicher Erziehungsauftrag entnommen werden könne, sei ein bloßes Postulat der obersten Bundesgerichte, das nie näher begründet worden sei?84 Bärmeier räumt ein, daß die Entscheidung über Bildungsziele und -inhalte zwar beim Gesetzgeber liege, daß aber aus dieser legislativen Befugnis nicht das Erfordernis staatlichen Schulehaltens abzuleiten sei. 285 Es gebe keinen triftigen Grund für die Annahme, daß ein "staatsfreies" , sich selbst verwaltendes, "genossenschaftliches" Schulsystem weniger effektiv sein würde als das bisherige System. Weiterhin führe die staatliche Tätigkeit und die Verrechtlichung zwangsläufig zu einer Bürokratie, die gerade im kulturellen Bereiche schädlich sei, weil dieser von der "ungehemmten Kreativität seiner Protagonisten" lebe. Bärmeier stellt zudem fest, daß das staatliche Schulwesen gegen das Verfassungsprinzip der "Staatsfreiheit" verstoße. 286 Das öffentliche Schulwesen sei am individuellen und öffentlichen Meinungsbildungsprozeß beteiligt. Seine Staatlichkeit eröffne Versuche, das Schulwesen für weltanschauliche Zwecke zu instrumentalisieren. Bärmeier kommt zu dem Ergebnis, die bisherige Praxis staatlichen Schulehaltens sei mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht vereinbar, weil dem öffentlichen Interesse an der Kindererziehung auch auf andere, die Grundrechtsträger weniger belastende Weise entsprochen werden könne. Der Staat habe sich darauf zu beschränken, die nötigen Mittel bereitzustellen, die Gleichwertigkeit der Schulabschlüsse zu gewährleisten und schließlich den praktischen Schulbetrieb gemäß Art. 7 Abs. 1 GG in der im Verwaltungsrecht üblichen Interpretation des Begriffs "Aufsicht" zu beaufsichtigen. 287 Bärmeier fordert somit ein gänzlich privatisiertes Schulwesen ohne 282 Bärmeier, Das Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit und die Unverhältnismäßigkeit staatlichen Schulehaltens, RdJB 1993, S. 80ff. (83). Zu dieser Fragestellung kommt Bärmeier über die Feststellung, daß im Schulwesen eine "Begründungslücke" bestehe, die durch den Rückgriff auf den auch sonst im Verfassungsrecht anzuwendenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu schließen sei. 283 Bärmeier, Legitimität, S. 180. 284 Bärmeier, Legitimität, S. 195. 285 Bärmeier, RdJB 1993, S. 84. 286 Bärmeier, Legitimität, S. 164ff. 287 Bärmeier, RdJB 1993, S. 89.

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eine umfassende staatliche Schulhoheit, sondern lediglich mit in engen Grenzen gewährleisteten staatlichen Eingriffsmöglichkeiten, etwa bei Verletzungen von Rechtsnormen. gg) Unfähigkeit des Staates zur Erziehung Zu einem ähnlichem Ergebnis kommt Roellecke, der die Auffassung vertritt, der Staat erziehe niemanden und könne niemanden erziehen. 288 Der Staat sei darauf beschränkt, die Mittel zu verteilen, die Wissensvermittlung zu überwachen, Streitigkeiten zu entscheiden und Gefahren abzuwehren. Ein eigener staatlicher "Erziehungsauftrag" sei darüber hinaus nicht denkbar. Auch von seiten der Sozialwissenschafe 89 wird zum Teil scharfe Kritik am bestehenden Bildungssystem geübt: Es handele sich bei der Schule um eine "quasi monopolistische Regelagentur für organisierte Sozialisation in der modernen Gesellschaft", ihr eigne eine "charakteristische Distanz" zum Alltagsleben, zur sozialen Umwelt und Situation der Kinder und Jugendlichen, zu ihrer Freizeit und politischen Betätigung. 29o Wenn auch unausgesprochen, wird somit der staatlichen Schule die Fähigkeit aberkannt, den Kindern und Jugendlichen die "Kompetenz für eine Selbstentfaltung" in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu vermitteln; die Konzeption eines staatlichen Erziehungsauftrags wird als überholt abgelehnt. hh) Andere Ansätze Bereits Ende der vierziger Jahre setzte eine "anti-etatistische" Kritik an der staatlichen Schul hoheit ein?91 Diese war motiviert durch die Sorge, ein totalitäres Staatssystem könnte das Schulwesen zu einer "Gewinnung politischer Rekruten" nutzen. Im Erziehungswesen gehe es um Gewissensangelegenheiten, die nicht der Zuständigkeit des Staates zur Reglementierung unterfielen und in den Bereich des Gesellschaftlichen verwiesen werden müßten. Der Staat habe daher nur die Befugnis, offenkundig unvertretbare Unterrichtsinhalte zu beanstanden. 288 Roellecke, Erziehungsziele und der Auftrag der Staatsschule, in: Zeidlerl Maunz/Roellecke (Hg.), Festschrift für Faller, 1984, S. 187ff. (195). 289 Schefold. Jugendverbände und Bildungssystem, in: Böhnisch/Gängler/Rauschenbach (Hg.), Handbuch Jugendverbände, 1991, S. 153ff. 290 Schefold. Jugendverbände, S. 153. 291 Vgl. die Nachweise bei Hennecke. Staat und Unterricht, S. 94 ff. - Eingehend zur diesbezüglichen Kritik auch von Campenhausen. Erziehungsauftrag, S. 14ff.

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

Kritisch im Sinne einer "anti-etatistischen" Sichtweise äußert sich auch Jach. 292 Die extensive Interpretation des Schulaufsichtsbegriffs basiere auf der "alten Angst der , Kulturpolizei ' vor gesellschaftlichem Einfluß auf das Schulwesen" und vor der venneintlichen Gefahr, die Kontrolle über letzteres zu verlieren. Hinter der Denkweise der herrschenden Meinung verberge sich in "preußisch-absolutistischer Tradition" die Vorstellung vom Staat als "kulturellem Selbstzweck, in den sich die Bürger schlicht einzuordnen" hätten. Die Übernahme der historischen Auslegung der staatlichen Schulaufsicht sei systemwidrig; aufgrund der spezifisch preußisch-deutschen Bedingungen sei die schulische Erziehung auf externe Befehle und Unterordnung ausgerichtet gewesen, der Staat habe ein "selbstherrliches Bestimmungsrecht" über die "Objekte der Erziehung" ausgeübt. 293 Das Erfordernis der Toleranz gegenüber der Pluralität der Eltern- und der Schülenneinungen werde vernachlässigt. 294 Erziehung sei der "Prozeß der kulturellen Identitätswerdung verschiedener gesellschaftlicher Wertvorstellungen"; ihre Transfonnation in ein staatliches "Meta-Erziehungsrecht" sei das Ende der kulturellen Vielfalt der Gesellschaft. 295 Die herrschende Meinung begründe den extensiven Schulaufsichtsbegriff mit der "Fiktion der gegenseitigen Durchdringung bzw. mit der Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft." Zwar wäre es mit der eindeutigen Aussage des Art. 7 Abs. 1 GG nicht vereinbar, wenn man ein Schulsystem außerhalb jeglicher staatlichen Kontrolle errichten wollte,296 die Schulaufsicht sei jedoch auf Rechtsaufsicht zu beschränken. In jüngerer Zeit wirft Schefold297 die Frage auf, ob nicht der Bürger, wenn die staatliche Bildungstätigkeit differenzierte inhaltliche Regelungen, eine entsprechende Verrechtlichung und umfassende organisatorische Vorkehrungen voraussetze, die Freiheit von solcher Organisation fordern könne. Es sei daran zu denken, der "verwalteten Schule" das Prinzip freien Lernens, der von festgefügten Bildungsgängen freien Selbstentwicklung junger Menschen gegenüberzustellen. 298 Alternative, auf Zwang weitgehend verzichtende Bildungsangebote könnten auf Erfolge verweisen, auf die staatliche Schulen oft nur neidisch sein könnten. 299 Es bestehe daher Anlaß, 292 lach, Schulvielfalt, S. 12f. - Auch Bärmeier, Legitimität, S. 191 ff., spricht von "rigorosem Etatismus" der obersten Bundesgerichte und der von ihnen vertretenen Auslegung des Art. 7 Abs. 1 GG. 293 lach, Schul vielfalt, S. 23. 294 lach, Schul vielfalt, S. 13. 295 lach, Schulvielfalt, S. 17. 296 lach, Schulvielfalt, S. 14. 297 Schefold, RdJB 1996, S. 318. 298 Schefold, RdJB 1996, S. 319. 299 Schefold, RdJB 1996, S. 319.

B. Staatlicher Erziehungsauftrag unter der Geltung des Grundgesetzes

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auf die Durchsetzung eines staatlichen Systems zu verzichten und die Regulierung des Schulwesens gesellschaftlichen Kräften zu überlassen. 3OO Schefold räumt jedoch selbst ein, daß der Verzicht auf eine rechtliche Organisation bei der Vermittlung von Werten bedeute, die Gesellschaft der Heterogenität auszuliefern; konkurrierende Kräfte seien dann nicht mehr Faktoren einer Integration zum gesellschaftlichen Besten, sondern den sozialen Zusammenhang sprengende Rivalen. 301 Andere Autoren wollen die Entscheidungen, die die inhaltliche Ausgestaltung des Unterrichts betreffen, aus der staatlichen Verwaltung herausnehmen und einer obersten Selbstverwaltung übertragen. Auch finden sich Ansätze zu einer rigorosen Einschränkung staatlicher Schulhoheit durch Erweiterung der kommunalen Befugnisse. 302 Schließlich werden auch von pädagogischer Seite die Defizite der (öffentlichen) Schule bzw. der schulischen Erziehung als solcher aufgezeigt. 303 c) Stellungnahme

Der Befund zeigt, daß staatliches Schulehalten und die damit verbundenen weitreichenden Befugnisse Angriffen von verschiedensten Seiten ausgesetzt sind. Ihnen ist jedoch nicht beizutreten. I. Die staatliche Schulhoheit ist zunächst eine organisatorische Notwendigkeit zur Sicherung einer Gleichwertigkeit der Schulabschlüsse. Zu dieser Sicherung verpflichtet Art. 3 GG als objektiver Verfassungsauftrag den Staat. 304 Die Absolventen der Schulen müssen sich in einem zunehmend härter werdenden Konkurrenzkampf um Ausbildungs- und Studienplätze, um Weiterbildungsmöglichkeiten und um Arbeitsplätze behaupten. Das Schulwesen aus der Hand des Staates zu nehmen und es in ein privates, genossenschaftliches, gesellschaftliches Erziehungssystem umzuwandeln, begegnet erheblichen Bedenken. In der Bundesrepublik Deutschland ist keine Organisation denkbar, die die Schulhoheit selbständig übernehmen oder ein dezentralisiertes Schulsystem im notwendigen Umfange steuern könnte. Der Hinweis Bärmeiers auf die Erkenntnisse organisations wissenschaftlicher Forschung, daß die "Erfüllung großer Aufgaben" besser dezentral zu betreiben sei, kann aus mehreren Gründen im Schulwesen nicht zum Tragen kommen: Es liegt im Interesse von Staat und Gesellschaft, daß in SchefoLd, RdJB 1996, S. 320. SchefoLd, RdJB 1996, S. 321. 302 Vgl. hierzu unter 2. Teil, B. IX. 2. b). 303 Vgl. hierzu eingehend Gronemeyer, Lernen mit beschränkter Haftung, 1996. 304 Grabbe, Verfassungsrechtliche Grenzen der Privatisierung kommunaler Aufgaben, 1979, S. 168. 300

301

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

einem gewissen Umfang "einheitlich" erzogen wird. Die Grundrechte - insbesondere Art. 12 Abs. 1 GG - verwehren es der öffentlichen Gewalt, dem einzelnen ein Bildungsminimum zu versagen,30S und damit auch, beim Erwerb eines solchen den einzelnen von nichtstaatlichen Schulträgern abhängig zu machen. Nicht nur die Gleichwertigkeit von Schulabschlüssen würde bei einem dezentral und nicht staatlich organisierten Schulwesen gefahrdet, sondern auch die Vergleichbarkeit der Absolventen. Beim harten Konkurrenzkampf um Hochschulzugang und Arbeitsplätze würden derartige Schwierigkeiten bei der Vergleichbarkeit jedenfalls zu Lasten der Schüler gehen. Es bestünde zudem die Gefahr eine bildungsspezifischen "Kastenbildung" der Abstand zwischen vermeintlich "guten" und vermeintlich "schlechten" Schulen würde wachsen, eventuell würde der Zugang zu bestimmten Schulen vom Einkommen der Eltern abhängig gemacht. Finanzstarke Bevölkerungsgruppen könnten durch besondere Förderung und Ausstattung einzelner Schulen für ihre eigenen Kinder wesentlich bessere Ausbildungsmöglichkeiten schaffen als andere Bevölkerungsgruppen. 306 Diesen Erwägungen ließe sich zwar entgegenhalten, auch die in Art. 7 Abs. 4 GG gewährleistete Privatschulfreiheit könne die genannten negativen Folgen mit sich bringen. Bei einem grundsätzlich öffentlich ausgestalteten Schulwesen bleibt jedoch die Möglichkeit, die Privatschulen an den staatlichen Einrichtungen etwa hinsichtlich der Schulabschlüsse zu messen und so im Ergebnis eine hinreichende Vergleichbarkeit herbeizuführen. Einem ausschließlich privaten Schulsystem würde ein solcher Maßstab fehlen. Das Schulwesen in den Händen des Staates sichert zudem schnelle Einwirkungsmöglichkeiten in Problemfallen. Der Staat hat am ehesten die Möglichkeit, die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften zu kontrollieren und gegebenfalls korrigierend einzugreifen. Die Kritik am staatlichen Schulehalten kommt an der Vorschrift des Art. 7 Abs. 1 GG nicht vorbei, der auch bei der denkbar engsten Auslegung zumindest die staatliche Rechtsaufsicht über das Schulwesen festsetzt. Es wäre der Erziehung hinderlich, wenn der Staat zwar die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Schule verbindlich festsetzen könnte, dann aber die Durchführung dieser Vorschriften aus den Händen gäbe und auf eine bloß "passive" Kontrolle beschränkt wäre. Eine solche Konzeption mag bei der Erledigung "örtlicher Angelegenheiten" durch die Kommunen auch im Hinblick auf die Selbstverwaltungsgarantie in Art. 28 Abs. 2 GG nützlich und funktionell sein; im pädagogischen Bereich ist sie es sicherlich nicht. 305 Stephany, Schul hoheit, S. 29 . .:. . Vgl. zu einem subjektiv-öffentlichen Recht der Eltern auf die Beibehaltung einer öffentlichen Schule Grabbe, Privatisierung kommunaler Aufgaben. S. 171 f. 306 Grabbe, Privatisierung kommunaler Aufgaben, S. 168.

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Auch die Ansicht Geigers vermag nicht zu überzeugen. Sie tastet den "Kern" jeglicher staatlichen Aufsichtstätigkeit an, indem sie nicht einmal das Minimum einer beständigen Rechtsaufsicht garantieren will. 307 Eine "Entstaatlichung" des Schulwesens unter Aufhebung der staatlichen Schulhoheit müßte aber dazu führen, daß umfangreiche gesetzliche Regelungen erforderlich würden, um Erziehungsinhalte und -methoden auf der Grundlage der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu bestimmen. Eine zunehmende Privatisierung hätte eine weitere Verrechtlichung zur Folge, was gerade den von den Verfechtern der "Privatisierung" erwünschten Effekt der Pluralisierung gänzlich zunichte machen würde.

2. Die Schule dient der Erfüllung einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe. Sie soll nicht die Verwirklichung individueller Wunschvorstellungen fördern, sondern weiß sich einem objektiven Interesse - der Gesellschaft und des Individuums - verpflichtet. 308 Sie steht an sich schon im Dienste der Allgemeinheit und hat daher eine "natürliche Affinität zum Staat hin,,?09 Nach dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 GG kann es daher keine völlige Unabhängigkeit des Schulwesens vom Staate geben. 310 Die Demokratie stellt hohe Anforderungen an die Fähigkeiten ihrer Staatsbürger; die Voraussetzungen zur Ausübung ihrer demokratischen Rechte und zur Wahrnehmung ihrer Grundrechte müssen ihnen bereits im Kindesalter vermittelt werden. 311 Diesem Zweck dient die allgemeine Erziehung in der Schule. Es handelt sich zwar nicht um eine genuin hoheitliche Aufgabe,312 da eine völlige Übernahme des Schulwesens durch private Ausbildungsstätten zumindest theoretisch denkbar wäre; in der Schule werden aber grundlegende Lebenschancen vergeben, so daß in diesem Bereiche der Staat selbst gefordert iSt. 313 Der Staat muß mit Hilfe der Schulaufsicht überwachen, daß in seinen Schulen die Minderjährigen ordnungsgemäß erzogen werden. 314 So ist auch gewährleistet, daß eventuelle Erziehungsfehler der Eltern im Interesse der Gesellschaft korrigiert werden können. 315 Im Verhältnis zu den Lehrern, die eine gewisse faktische "Machtposition" innehaben, muß der Staat eine umfassende Kontrolle aus307 308 309 310

17.

Becker, Privatschulen, S. 101. Hennecke, Staat und Unterricht, S. 98 f. Hennecke, Staat und Unterricht, S. 99. Becker, Privatschulen, S. 101; Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 7 GG Anm.

Stephany, Schulhoheit, S. 30. Hennecke, Staat und Unterricht, S. 21. 313 Bothe, Erziehungsauftrag, S. 18. 314 Eiselt, Schulaufsicht im Rechtsstaat, DÖV 1981, S. 82lff. (822). 315 Zum Verhältnis zwischen Elternrecht und staatlichem Erziehungsrecht vgl. eingehend 2. Teil, B. 11. 4. 311

312

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I. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

üben, um gegebenenfalls auch pädagogisches Versagen des Lehrers ausgleichen zu können. 3 !6 Die Bedenken der Kritiker setzen vornehmlich bei der Übertragung der Schulhoheit auf den "Staat" an. Diese Bedenken sollen durch eine wie auch immer gelagerte "Umverteilung" von Befugnissen und Verantwortung auf nichtstaatliche oder kommunale Körperschaften ausgeräumt werden. Bereits die Auffassung, bei einer solchen Umverteilung auf außerstaatliche Entscheidungsgremien würden die Interessen von Eltern und Schülern in größerem Umfange geschützt und gewährleistet als unter einer staatlichen Schulaufsicht, ist nicht durch überzeugende Argumente zu belegen. Im Gegenteil: Die Schule würde auch dann nicht "autonom" in einem vielleicht zu erstrebenden Sinne werden, wenn sich der Staat aus der Schulträgerschaft zurückzöge - sie würde vielmehr aus der Bestimmungsgewalt des Staates, der aufgrund demokratischer Legitimierung seiner hoheitlichen Befugnisse kontrollierbar ist, in die "schwerlich liberale Botmäßigkeit wenig kontrollierbarer partikularer Mächte geraten"?!7 Die grundlegenden Prinzipien der Erziehung wären durch die "Aufsplitterung" des schulischen Angebots (über das sinnvolle Spektrum hinaus, das durch die Errichtung von Privatschulen gemäß Art. 7 Abs. 4 GG entsteht) dem Zufall anheimgegeben, zudem der Kommerzialisierung und Partikularinteressen. Ein rigoros pluralistisches System, wie es Jach vorschlägt,3!8 berücksichtigt nicht in angemessener Weise, daß auch in der Gesellschaft die einzelnen Kräfte nicht in gleichem Maße durchsetzungsfähig sind, so daß Pluralismus im Bildungswesen nicht dadurch zu verwirklichen wäre, daß man es einfach den gesellschaftlichen Gruppierungen überließe. Bestimmte partielle Interessen würden vernachlässigt, andere würden dominieren. 3 !9 Der Vorwurf Jachs, die extensive Auslegung des Schulaufsichtsbegriffes gründe sich auf historische Umstände, die in einer pluralen Gesellschaft unhaltbar seien, ist zwar bedenkens wert; dennoch ist auch in der heutigen Gesellschaftsform ein umfassendes Bestimmungsrecht des Staates über die Schule erforderlich, ohne daß die Bedeutung pluralistischer Einflußnahme vernachlässigt werden sollte. Einzig der Staat kann aber - entweder durch ein grundsätzlich öffentlich organisiertes und überwachtes Schulsystem oder aber durch intensive, nicht nur auf Fach- und Rechtsaufsicht beschränkte Regulierung eines rein privaten Systems - die "Einheit des Bildungswesens" sichern. Das Bildungswesen kann in einer hochmobilen Gesellschaft seine Aufgabe nur dann erfüllen, wenn den Qualifikationen, die es vergibt, 316 Eiselt, DÖV 1981, S. 823. - Eingehend zur "pädagogischen Freiheit" des Lehrers 2. Teil, B. X. 317 von Campenhausen, Erziehungsauftrag, S. 17. 318 Vgl. zusammenfassend lach, Schulvielfalt, S. 78ff. 319 Richter, RdJB 1997, S. 10.

B. Staatlicher Erziehungsauftrag unter der Geltung des Grundgesetzes

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ein Kurswert zukommt. Eine Privatisierung der Schule unter Ausschluß umfassender staatlicher Regelungsbefugnisse hätte die Vollendung der "Bildungskatastrophe" zur Folge. 32o Die Lösung des erzieherischen Konfliktes, der angesichts des geistig-ethischen Pluralismus in der Gesellschaft besteht, kann nicht darin liegen, jedem Bildungskonzept im Wege eines "ziellosen Laufenlassens" seine Schule zu konzedieren, bei der Festlegung von Unterrichtsinhalten und Bildungszielen Enthaltsamkeit zu üben und sie der "Autonomie der Lehrenden" zu überantworten. 321 Insoweit ist auch Richter zuzustimmen, wenn er den Grundsatz aufstellt: "Der Staat darf die unterschiedlichen bildungspolitischen Interessen der Betroffenen nicht auf die Privatschulfreiheit verweisen, sondern muß im Bereich des öffentlichen Schulwesens selber ein organisatorisch und curricular differenziertes System schaffen. ,,322 Die Chance der Teilnahme der Bevölkerung an der demokratischen Willensbildung, wesentliches Element des Demokratieprinzips, ist durch die staatliche Schulhoheit auch im Schulwesen gegeben?23 Nur der Staat kann die Gewähr dafür bieten, daß alle gesellschaftlichen "Strömungen" im Sinne des Pluralismus zumindest die Möglichkeit eingeräumt erhalten, an der Ausbildung der zukünftigen mündigen Staatsbürger teilzuhaben. Eine solche Gewähr bestünde bei der Übertragung des Schulwesens auf außerstaatliche Gruppierungen dagegen nicht mehr. Die Transparenz der Entscheidungsfindung und -durchsetzung ginge verloren. Bärmeier ist daher entgegenzuhalten, daß zwar ein schlechteres "Funktionieren" eines privaten Schulsystems nicht erwiesen sei, allerdings auch nicht ein besseres. Die Herausnahme des Schulwesens aus dem Einflußbereiche des Staates birgt die Gefahr, daß das Schulwesen von Vorstellungen durchsetzt und gesteuert wird, die den berechtigten Interessen von Staat und Gesellschaft zuwiderlaufen. Das grundlegende Problem würde nicht gelöst, sondern nur verschoben?24 3. Aus den genannten Gründen kann auch eine Regelung der Bildungsleistungen auf der Grundlage von Angebot und Nachfrage (als "Markt der Bildungsleistungen") nicht in Betracht kommen. Zwar können auch öffentliche Güter auf einem Markte angeboten und nachgefragt werden. 325 Der Staat kann, sollte das Gleichgewicht sich nicht von selbst einstellen, So schon Hennecke. Staat und Unterricht, S. 99. Böckenförde. Der Staat als sittlicher Staat, 1978, S. 32. 322 Richter. Versuch macht klug, in: Goldschmidt/Roeder (Hg.), Alternative Schulen, 1979, S. 63ff. (74). 323 Hennecke. Staat und Unterricht, S. 103. 324 Hennecke. Staat und Unterricht, S. 98. 325 Richter. RdJB 1997, S. 10. 320

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6 Thiol

1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

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regelnd eingreifen wie bei anderen Märkten. 326 Bildung und Erziehung sind aber, wie bereits gezeigt, von kaum zu überschätzender Bedeutung für Staat und Gesellschaft; durch das öffentliche Schulwesen sichert der Staat seine Zukunft. Das Schulwesen den Schwankungen und Unwägbarkeiten eines Marktes zu überlassen, hieße die Kontrolle über existentielle Staatsaufgaben aus der Hand zu geben. Mögliche Eingriffsbefugnisse müssen schnell in die Tat umzusetzen und wirkungsvoll sein; um dies zu gewährleisten, müssen die angeblichen Vorteile des freien Marktes der Bildungsleistungen wieder preisgegeben werden. Eine der Leitideen der Privatisierungsforderungen ist es, durch privates Management und durch Konkurrenz die wirtschaftliche Effizienz zu steigern. 327 Ein Verhältnis der Konkurrenz zwischen allen bestehenden Schulen ist aber im Interesse der Schüler nicht wünschenswert. Der Leistungsgedanke muß zwar auch zunehmend im Schulwesen Einzug halten; die durch die Privatisierung beabsichtigte Verbesserung des Unterrichts könnte aber nur dann erreicht werden, wenn man ein "Schulgeld" einführte und damit die Entscheidung der Eltern, ihre Kinder auf eine bestimmte Schule zu schicken, für letztere mit "greifbaren" Vorteilen - etwa einer besseren Ausstattung mit Lehrkräften und Lehrmitteln - verbunden wäre. 4. Auch in den neueren Verfassungen der europäischen Staaten ist das Schulehalten überwiegend eine Aufgabe des Staates bzw. seiner Untergliederungen. Unterschiede bestehen nur in Art und Umfang der Gewährleistung von privaten Schulen und ihrer Finanzierung. 328 Man kann daher von einer "gemeineuropäischen Verfassungspraxis,,329 sprechen. Die Schulhoheit in die Hände des jeweiligen Hoheitsträgers zu legen, hat sich offensichtlich in praxi auch in anderen Staaten bewährt, in denen sich das Schulwesen historisch anders entwickelt hat. 5. Zudem läßt sich anführen, daß bereits Anfang der siebziger Jahre die Ansicht vertreten wurde, die extensive Auslegung des Schulaufsichtsbegriffes habe sich bereits zu Gewohnheitsrecht verdichtet. 33o Tatsächlich ist die "Fülle der rechtlichen Überlieferung,,331 derart überzeugend, daß schon von einer langjährigen Anwendung der extensiven Auslegung in nahezu einhelliger Meinung ausgegangen werden kann. Freilich muß auch Gewohnheitsrecht den nötigen Modifikationen unterliegen. Die Ausgestaltung des bunRichter, RdJB 1997, S. 10. Bothe, Erziehungsauftrag, S. 19. 328 Vgl. hierzu ausführlich Wolfram, Öffentliches Schulwesen im Spannungsfeld von Staat und Kirche, in: Riedel (Hg.), Öffentliches Schulwesens im Spannungsfeld von Staat und Kirche, 1998, S. 17 ff. 329 Bothe, Erziehungsauftrag, S. 18, mit Nachweisen in Fn. 46. 330 Hennecke, Staat und Unterricht, S. 111. 33\ Hennecke, Staat und Unterricht, S. 111. 326 327

B. Staatlicher Erziehungsauftrag unter der Geltung des Grundgesetzes

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desrepublikanischen Schulwesens als staatliches kann und muß aber unangetastet bleiben. 6. Die Befürchtungen der Kritiker des extensiven Schulaufsichtsbegriffes, die umfassende Bestimmungsmacht des Staates über das Schulwesen berge die Gefahr totalitärer Beeinflussung der Schüler in sich, stehen allzusehr unter dem negativen Eindruck der überwundenen nationalsozialistischen Diktatur und können in einer seit Jahrzehnten bestehenden Demokratie nicht mehr ernsthaft als Argument ins Feld geführt werden. Der Vorwurf des "Etatismus" ist unhaltbar. Unbestritten ist, daß Art. 7 Abs. 1 GG sich entstehungs geschichtlich in erster Linie gegen die geistliche Schulaufsicht wendet. Seine Funktion erschöpft sich jedoch nicht darin. Schließlich überzeugt auch nicht der "anti-administrative" Ansatz, der eine ausschließliche Zuweisung der Schul hoheit an die Verwaltung ablehnt. Eine solche ergibt sich aber aus Art. 7 Abs. 1 GG gar nicht. Vielmehr kommen auch dem Gesetzgeber wichtige "aufsichtliche" Befugnisse im Sinne dieser Vorschrift zu. Es handelt sich im weiteren dann nicht um die Frage der sachlichen Reichweite des Aufsichtsbegriffes, sondern um die der Geltung des Gesetzesvorbehalts im Schulwesen. Mit "Staat" in Art. 7 Abs. 1 GG muß nicht nur die Exekutive gemeint sein, sondern der "gewaltengeteilte Staat" - die Notwendigkeit ausführlicher gesetzlicher Regelungen ergibt sich dann eben daraus, daß auch im Schulverhältnis als einem besonderen Gewaltverhältnis der Gesetzesvorbehalt Anwendung finden muß. Im Ergebnis ist diese Auffassung also zwar zutreffend; eine Lösung mittels der Einengung des Aufsichtsbegriffes erscheint aber angesichts der vielfältigen Argumente für die überlieferte Auslegung nur wenig überzeugend. 7. Den Kritikern ist zuletzt vorzuwerfen, daß sie fast ausnahmslos keine brauchbaren Änderungsvorschläge liefern. Es ist nicht damit getan, die Unverhältnismäßigkeit staatlichen Schulehaltens festzustellen, die pädagogischen Defizite staatlicher Schulerziehung aufzuzeigen oder sich über die zunehmende Reglementierung unter Beschränkung einzelner Freiheitsrechte zu beklagen - hier sind durchführbare und überzeugende Ansätze vonnöten. Die gänzliche Entstaatlichung der Schule wäre wohl der Wunsch vieler vorgeblich fortschrittlicher Kritiker. Ob dies allerdings das bemängelte "Bildungschaos" zu ordnen vermöchte, kann - wie gezeigt - aus guten Gründen bezweifelt werden. Die nicht abreißende Kritik an einem öffentlichen Schulwesen sollte nicht die "normative Kraft des Faktischen" außer acht lassen: Faktum ist, daß sich dieses Schulwesen seit Jahrzehnten ausgezeichnet bewährt hat. Die Kritik am extensiven Schulaufsichtsbegnff geht somit fehl. Es ergibt sich eine grundSätzliche und nicht vollständig delegierbare "Eigenzustän6'

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1. Teil: Grundlagen des staatlichen Erziehungsauftrags

digkeit" des Staates für das Bildungs- und Erziehungswesen 332 und somit eine Legitimierung, das Schulwesen inhaltlich zu bestimmen und den eigenen Erziehungsanspruch durchzusetzen. 2. Art. 7 Abs. 1 GG als deklaratorische Norm Eine andere Ansicht, an der Spitze das Bundesverfassungsgericht, verlegt die Frage nach dem staatlichen Erziehungsauftrag in den naturrechtlichen Bereich. vor und behauptet, Art. 7 Abs. I GG normiere nicht erst einen umfassenden staatlichen Erziehungsauftrag, sondern setze ihn voraus. 333 Damit umgeht diese Ansicht das Problem der Auslegung des Art. 7 Abs. I GG, indem sie den Wortlaut beiseite läßt und stattdessen ein dieser Vorschrift "naturrechtlieh" vorgelagertes oder zumindest ein gewohnheitsrechtlieh anzuerkennendes Erziehungsrecht des Staates postuliert. Letztlich kann die Entscheidung zwischen dieser Auffassung und der Ansicht, Art. 7 Abs. I GG konstitutiere erst die staatliche Schulhoheit (und damit einen eigenen staatlichen Erziehungsauftrag) jedoch dahinstehen. 334 Die Erwägungen, die zur Annahme eines naturrechtlich vorgegebenen staatlichen Erziehungsauftrages führen, entsprechen denjenigen, die schon vom Verfassungsgeber angestellt wurden und daher historisch zur Entstehung des Art. 7 Abs. I GG geführt haben. 335 Art. 7 Abs. I GG gilt bei den Ansichten als die Norm, aus der sich - deklaratorisch oder konstitutiv - ein staatliches Erziehungsrecht ergibt. VI. Ergebnis Art. 7 Abs. I GG enthält nach alledem nicht nur eine Gewährleistung exekutiver Rechts- und Fachaufsicht, sondern er bildet die Grundlage einer umfassenden staatlichen Schulhoheit. 336 Besteht eine solche, so muß der Staat auch dazu befugt sein, die Grundsätze des Schulwesens, insbesondere für Bildung und Erziehung festzulegen. Eine in sich geschlossene VorstelStephany, Schulhoheit, S. 30. BVerfG E 34, S. 165 ff. (183): "Der staatliche Erziehungsauftrag in der Schule, von dem Art. 7 Abs. 1 GG ausgeht ( ... )"; Ossenbühl, DÖV 1977, S. 80lff. (807). 334 So auch im Ergebnis lestaedt, DVBl 1997, S. 695, und Starck, Freiheitlicher Staat, S. 11, der es für eine "Geschmacksfrage" hält, ob man der herkömmlichen Terminologie folgt oder ob man von einem engeren Aufsichtsbegriff ausgeht, hinter dem eine ungeschriebene staatliche Schulhoheit steht. m Vgl. Fehnemann, Bemerkungen zum Elternrecht in der Schule, DÖV 1978, S. 489ff. (491). 336 Starck, Freiheitlicher Staat, S. 11. 332

333

B. Staatlicher Erziehungsauftrag unter der Geltung des Grundgesetzes

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lung von Bildung und Erziehung kann sich nicht nur auf Lehrpläne beziehen; alle Tätigkeits- und Bewegungsformen der schulischen Prozesse müssen mit einheitlichen Prinzipien durchformt werden. 337 Der Aufsichtsbegriff ist als umfassender Veranstaltungs auftrag zu verstehen. Ausfluß dieser Befugnis sind unter anderem die landesverfassungsrechtlich normierten Bildungs- und Erziehungsziele. Fällt dem Staat eine solche Bestimmungsmacht im Schulwesen zu, so kann von einem eigenen Erziehungsanspruch des Staates in der öffentlichen Schule gesprochen werden. Die verfassungsrechtliche Grundlage für einen staatlichen Erziehungsauftrag ist folglich die in Art. 7 Abs. 1 GG zum Ausdruck gebrachte umfassende Schulhoheit des Staates. Im Vergleich mit den übrigen Versuchen einer dogmatischen Herleitung dieses Anspruches wird der Vorteil dieser Ansicht deutlich: Der Erziehungsanspruch des Staates - korrespondierend mit einem eigenen Erziehungsauftrag - entspringt der Schulhoheit und damit einem eigenen staatlichen Erziehungsrecht. Organisation des Schulwesens und Lehrinhalte erwachsen unter der Geltung des Grundgesetzes in der Tradition der Weimarer Republik nicht mehr wie in Antike und Mittelalter dem freien Spiel der kulturellen Gestaltungskräfte; das Schulwesen wird vielmehr von "oben herab" veranstaltet. 338 Nach herrschender Meinung ist jedoch der Schulaufsichtsbegriff der Weimarer Reichsverfassung angesichts der grundrechtlichen Gewährleistungen und der Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes zu modifizieren. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird zu untersuchen sein, welchen Beschränkungen der staatliche Erziehungsanspruch bzw. das Erziehungsrecht unterworfen sind.

337 W. Spies. Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule, in: Sievering (Hg.), Schulrecht - Schulpraxis, 1984, S. 82ff. (83). 338 Erlinghagen. Die Schule in der pluralistischen Gesellschaft - Kleine Kapitel zur Schulreform, 1964, S. 30.

Zweiter Teil

Inhalt und Grenzen des staatlichen Erziehungsauftrags A. Inhalt des staatlichen Erziehungsauftrags I. Inhalt der staatlichen Schulhoheit gemäß Art. 7 Abs. 1 GG I 1. Zuweisung der Schulhoheit an die Länder

Nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes ist das Schulwesen in seiner legislativen und administrativen Ausgestaltung den Ländern überlassen. Damit wurde ein Schulsystem favorisiert, das zwischen einer zentralstaatlichen Schulhoheit und einem vollständig in kommunaler bzw. privater Hand befindlichen Schulsystem angesiedelt ist. 2 Die Zuweisung der Bildungsangelegenheiten an die Länder integriert das Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. I, Art. 28 Abs. I, Art. 30, Art. 70 ff., Art. 83 ff. GG) als konstituierendes Merkmal in das Schulwesen und stellt eine der wichtigsten Grundlagen der Eigenstaatlichkeit der Länder dar? Die Zuweisung der Schul hoheit im Grundgesetz an die Länder hat ihre Vorteile, wirft aber auch eine Reihe von Problemen auf. Der Schulföderalismus ermöglicht eine gewisse Vielfalt des Bildungswesens; in den Regionen historisch entwickelte Sonderformen können weiter gepflegt werden. 4 Auf 1 Genau genommen ist der Begriff der Schulhoheit weiter als der des Erziehungsanspruchs. Letzterer umfaßt begrifflich nicht die Organisationsrechte bzw. die Bildungsvermittlung. Sie sind vielmehr Ausfluß der staatlichen Schulhoheit. Eine knappe Darstellung der Rechte, die sich aus der Schulhoheit ergeben, erscheint jedoch notwendig, um den Umfang des Erziehungsanspruchs bestimmen zu können. 2 Starck, Freiheitlicher Staat, S. 19. - Zu den Einwirkungen des Bundesverfassungsrechts auf die Kulturhoheit der Länder vgl. Maunz, Kulturbereich, S. 260ff.; zu Art. 91 b GG S. 269ff. 3 Oppermann, Grundsätze, S. C 64. - Die Kulturhoheit wird daher auch häufig als "Krongut" des Föderalismus bezeichnet, vgl. Maier, Die Kultusministerkonferenz im föderalen System, in: Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Einheit in der Vielfalt 50 Jahre Kultusministerkonferenz 1948-1998, 1998, S. 2lff. (22). 4 Starck, Freiheitlicher Staat, S. 19.

A. Inhalt des staatlichen Erziehungsauftrags

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der anderen Seite ist der Staat aufgrund der zu garantierenden "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse,,5 zu einer Bemühung um bundesweite Harmonisierung verpflichtet. Zu diesem Zwecke wurde die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der BRD (Kultusministerkonferenz)6 geschaffen. Deren Tätigkeit und Funktion als "Instrument der Koordination und des Ausgleichs,,7 konnte ein allzu starkes "Auseinanderdriften" der Schulsysteme in den Ländern bislang weitgehend verhindern. 8 Die Grundgesetzänderung vom 12. Mai 19699 hat durch die Erweiterung des Art. 74 Nr. 13 GG und durch die Neueinführung des Art. 91 b GG zu einer Stärkung der vereinheitlichenden Elemente geführt. Art. 74 Nr. 13 GG unterstellt die gesetzliche Regelung von Ausbildungsbeihilfen (im Sinne einer individuellen Förderung einzelner) und der Forschungsförderung (bei der jedoch im Bereich der Projekt- und Einrichtungsförderung an Hochschulen nur eine Rahmenkompetenz des Bundes nach Art. 75 Abs. 1 GG besteht) der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes. Art. 91 b GG sichert die bereits vorher bestehende Zusammenwirkung von Bund und Ländern im Bereich der Bildungsplanung und der Förderung überregionaler wissenschaftlicher Einrichtungen und Vorhaben verfassungsrechtlich ab. Die Vereinheitlichungsbemühungen sind angebracht, um die (Aus-)Bildungsund Chancengleichheit der Jugend zu gewährleisten. Eine weitere Zentralisierung der Schulhoheit in den Händen des Bundes ist indes nicht wünschenswert. 1O Insbesondere für das Schulwesen als stark regional ausgerichtetem Bereich hoheitlicher Tätigkeit liegt die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz zu Recht bei den Ländern. Infolge einer fortschreitenden freiwilligen Koordination besteht der Schulföderalismus ohnehin nur noch in abgeschwächter Form. 11

5 Die Tendenz zur "Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse" ergibt sich aus dem Wunsch, das Grundrecht der Freizügigkeit leichter zu aktualisieren (Art. 11 und 72 Abs. 2 GG); vgl. Starck, Freiheitlicher Staat, S. 19. - Art. 72 Abs. 2 n.F.: "Gleichwertigkeit" . 6 Die Kultusministerkonferenz, begründet 1948, schafft als Instrument des "kooperativen Föderalismus" den institutionellen Rahmen, in dem die Länderregierungen im Interesse der Vereinheitlichung des deutschen Schulwesens Absprachen und Abkommen treffen können. Ziel ist eine gemeinsame Meinungs- und Willensbildung sowie die Vertretung gemeinsamer Anliegen. - Ausführlich zu Befugnissen und Tätigkeitsbereich der Kultusministerkonferenz Fuß, Verwaltung und Schule, S.229ff. 7 Maier, Kultusministerkonferenz, S. 24. 8 Avenarius, Rechtsordnung, S. 109. 9 BGBI 1969 I, S. 359 ff. IO Oppermann, Grundsätze, S. C 69. 11 Starck, Freiheitlicher Staat, S. 20.

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2. Teil: Inhalt und Grenzen des staatlichen Erziehungsauftrags

2. Organisationsrechte

Aus Art. 7 Abs. 1 GG ergibt sich zunächst ein umfassendes Recht des Staates zur Organisation des Schulwesens. 12 Dazu zählen vor allem die grundsätzliche Gestaltung des Schulsystems, die Zusammenstellung des Fächerkanons und die Festlegung der Unterrichtsmethoden. 13 Als Rahmenbedingungen zur Ausübung des staatlichen Erziehungsauftrags sind diese organisatorischen Befugnisse unerläßlich. Insbesondere die Frage, welcher Schultyp als staatliche Regelschule in Betracht kommt, ist den Ländern im Rahmen ihrer Schulhoheit übertragen (christliche Gemeinschaftsschule, Weltanschauungsschule, Gemeinschaftsschule, Bekenntnisschule etc.). Diese Befugnisse dienen dazu, die Aufgabe des Staates zu erfüllen, ein den Anforderungen der Gesellschaft genügendes Schulsystem aufrechtzuerhalten. 3. Vermittlung von Bildung

Ohne Zweifel ist der Staat im Rahmen seines Erziehungsauftrages berechtigt, den Schülern wertneutrales Wissen und bestimmte Grundfertigkeiten zu vermitteln. Insbesondere der Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen unterf