Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa: Teil 2 [1 ed.] 9783428557035, 9783428157037

Der zweite Band der Trilogie über den Ersten Weltkrieg widmet sich den europäischen Staaten außer Deutschland, die in be

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Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa: Teil 2 [1 ed.]
 9783428557035, 9783428157037

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Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Band 33

Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa Teil 2 Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Adrianna A. Michel

Duncker & Humblot · Berlin

Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa

Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Herausgeber im Auftrag der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn: Gilbert H. Gornig, Christian Hillgruber, Hans-Detlef Horn, Bernhard Kempen, Eckart Klein, Hans v. Mangoldt, Adrianna A. Michel, Dietrich Murswiek, Dietrich Rauschning

Band 33

Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa Teil 2

Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Adrianna A. Michel

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Bände 1 – 19 der „Staats- und völkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht“ erschienen im Verlag Wissenschaft und Politik, Köln

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p gmbh, Rimpar Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 1434-8705 ISBN 978-3-428-15703-7 (Print) ISBN 978-3-428-55703-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-85703-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort In drei Symposien 2016 bis 2018 beschäftigte sich die Studiengruppe für Politik und Völkerrecht mit insbesondere den rechtlichen Fragen der Auseinandersetzung und den Folgen der Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg, aber auch mit den Auswirkungen des Krieges auf die Staatengemeinschaft weltweit bis zum heutigen Tag. Der zweite Band widmet sich den europäischen Staaten außer Deutschland, die in besonderer Weise am Großen Krieg beteiligt und von den Friedensverträgen von Saint Germain und Trianon unmittelbar oder mittelbar betroffen waren. Belgien wurde als neutrales Land in den Ersten Weltkrieg verwickelt und war vom Friedensvertrag von Versailles mittelbar begünstigt. Die drei baltischen Staaten waren in unterschiedlichem Maße von den kriegerischen Handlungen zwischen West und Ost betroffen. Die Gründung der baltischen Staaten im Jahr 1918 wurde erst durch die Folgen des Ersten Weltkrieges möglich. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ging der 123 Jahre andauernde Freiheits- und Unabhängigkeitskampf der polnischen Nation zu Ende und der Traum von der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit erfüllte sich. Bei der Versailler Friedenskonferenz saßen die Polen mit am Verhandlungstisch und hatten das Privileg, über ihr staatliches Schicksal mitzuentscheiden. Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn stand am Ende des Ersten Weltkriegs vor dem Zerfall. Als der Reichsrat, das Parlament der österreichischen Reichshälfte Österreich-Ungarns, nach mehr als drei Jahren parlamentsloser Regierung am 30. Mai 1917 einberufen wurde, legten Abgeordnete aus den Kronländern bereits Bekenntnisse zu Nationalstaaten ab. Am 16. Oktober 1918 erließ Karl I. auf Vorschlag der kaiserlich-königlichen Regierung unter Hussarek-Heinlein für Cisleithanien das Völkermanifest, das Anstoß dazu geben sollte, die österreichische Reichshälfte unter der Schirmherrschaft des Kaisers in eine Konföderation freier Völker umzuwandeln. Die Nationalitäten Österreichs wurden dazu aufgerufen, eigene Volksvertretungen zu bilden. Die Tschechen aber strebten einen Tschecho-Slowakischen Staat an. Die Polen Galiziens wollten sich einem neu entstehenden polnischen Staat anschließen, die Ukrainer Galiziens wollten nicht unter polnische Herrschaft gelangen. Die Slowenen und Kroaten versuchten mit den Serben einen südslawischen, jugoslawischen Staat zu bilden. Am 28. Oktober 1918 übernahmen die Tschechen in Prag von den bisherigen k. k. Behörden ohne Blutvergießen die Macht und riefen die Tschecho-Slowakische Republik aus. Slowenen und Kroaten und Serben wurden ab 29. Oktober 1918 Mitgründer des neuen südslawischen Staates. In Siebenbürgen übernahm Rumänien die Macht. Die ungarische Regierung kündigte per 31. Oktober 1918 die Realunion mit Österreich auf, womit ÖsterreichUngarn aufgelöst war. Am 12. November 1918 rief die Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich die Republik aus. In zwei Verträgen – Vertrag

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Vorwort

von Saint-Germain vom September 1919 mit Österreich und Vertrag von Trianon vom Juni 1920 mit Ungarn – wurden Gebietsabtretungen und Grenzen der Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie offiziell festgelegt. Das österreichische Südtirol wurde Italien zugesprochen. Ungarn musste nach dem Frieden von Trianon zugunsten der Tschecho-Slowakei, Rumäniens, des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen sowie Österreichs auf zwei Drittel des bisherigen Staatsgebietes verzichten und die Habsburger entthronen. Rumänien wurde insbesondere um Siebenbürgen vergrößert. Die Verträge bestätigten die völkerrechtliche Anerkennung der neuen Staaten Ungarn, Polen, Tschecho-Slowakei und des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen. Deutschösterreich wurde der Anschluss an das Deutsche Reich verboten. Im Vertrag wurde der Begriff „Deutsch“ im Staatsnamen bewusst nicht verwendet. Abwanderungen, Vertreibungen und Bevölkerungsaustausch gab es bereits während und nach dem Ersten Weltkrieg, aber nicht in dem Umfang wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Der österreichische Kaiser wurde im April 1919 durch das Habsburgergesetz des Landes verwiesen und verlor sein Vermögen. In diesem zweiten Teil der Trilogie behandelt Jean-Marie Godard die Angliederung von Eupen-Malmedy an Belgien im Jahre 1919 und stellt sich die Frage, ob eine Heimkehr ins belgische Vaterland oder eine bloße Annexion vorliegt. Jurgita Baur widmet sich den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die baltischen Staaten. Adrianna A. Michel untersucht die Folgen des Ersten Weltkriegs für Polen. Gilbert H. Gornig behandelt Österreich, die Tschechoslowakei und das Schicksal des Sudetenlandes bis heute und geht dabei auch auf die Entstehung von Staaten ein. Michael Kadgien beschäftigt sich mit der Vereinbarkeit des so genannten Habsburgergesetzes mit höherem Recht. Andreas Raffeiner diskutiert die Südtirol-Frage, also den Status Südtirols seit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Michael Portmann und Karlo RuzicicKessler behandeln den Zusammenschluss südslawischer Staaten zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Gilbert H. Gornig behandelt in seinem durch eine kurzfristige Absage erforderlich gewordenen zweiten Beitrag Ungarn und den Frieden von Trianon und diskutiert in diesem Zusammenhang auch das Problem des Fortbestands oder des Untergangs von Staaten. Am Rande wird auch auf Rumänien eingegangen. Holger Kremser untersucht die Abwanderungen, Vertreibungen und den Bevölkerungsaustausch während und nach dem Ersten Weltkrieg. Leider wurden die Manuskripte einiger Referate bis zum Redaktionsschluss nicht abgegeben. Umso mehr ist Michael Portmann und Karlo Ruzicic-Kessler zu danken, dass sie noch einen Beitrag zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen geliefert haben. Die Herausgeber danken erneut Frau Heike Frank und den Mitarbeitern des Verlages Duncker & Humblot für die gute Zusammenarbeit. Gilbert H. Gornig Adrianna A. Michel

Foreword In three symposia from 2016 to 2018, the Study Group for Politics and International Law dealt in particular with the legal issues of conflict and the consequences of the peace treaties after the First World War, but also with the effects of the war on the international community worldwide up to the present day. The second volume is dedicated to the European states except Germany, which were particularly involved in the Great War and were affected directly or indirectly by the peace treaties of Saint Germain and Trianon. Belgium became involved as a neutral country in the First World War and was indirectly favored by the Treaty of Versailles. The three Baltic States were affected to varying degrees by the belligerent actions between West and East. The foundation of the Baltic States in 1918 was made possible only by the consequences of the First World War. With the end of the First World War, the 123 years of freedom and independence struggle of the Polish nation came to an end and the dream of regaining state independence came true. At the Versailles peace conference, the Poles sat at the negotiating table and had the privilege to co-decide on their state fate. The twin monarchy of Austria-Hungary was about to collapse at the end of the First World War. When the Reichsrat, the parliament of the Austrian half of Austria-Hungary, was convened on May 30, 1917, after more than three years of parliamentary government, parliamentarians from the crownlands have already made confessions to nationstates. On October 16, 1918, Charles I, at the suggestion of the imperial-royal government under Hussarek-Heinlein for Cisleithania, issued the People’s Manifesto, which should give impetus to transform the Austrian half under the auspices of the emperor into a confederation of free peoples. The nationalities of Austria were called upon to form their own representative bodies. The Czechs, however, aimed for a Czecho-Slovak state. The Poles of Galicia wanted to join the newly emerging Polish state, the Ukrainians of Galicia did not want to come under Polish rule. The Slovenes and Croats tried to form a South Slavic, Yugoslav state with the Serbs. On October 28, 1918, the Czechs in Prague took over from the previous k. k. Authorities the power without bloodshed and exclaimed the Czecho-Slovak Republic. Slovenes and Croats and Serbs became co-founders of the new South Slavic state from 29 October 1918. In Transylvania, Romania took power. The Hungarian government left the Real Union with Austria on October 31, 1918, with which Austria-Hungary was dissolved. On November 12, 1918, the Provisional National Assembly proclaimed the Republic German Austria (“Deutschösterreich”). In two treaties – Treaty of Saint-Germain September 1919 with Austria and Treaty of Trianon June 1920 with Hungary – territorial cessions and borders of the successor states of the dual monarchy were officially established. Austrian South Tyrol was awarded to Italy. Hungary had to re-

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Foreword

nounce after the peace of Trianon in favor of Czecho-Slovakia, Romania, the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes and Austria to two-thirds of the existing territory and dethrone the Habsburgs. Romania was enlarged in particular by Transylvania. The treaties confirmed the international recognition of the new states Hungary, Poland, Czecho-Slovakia and the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes. German Austria (“Deutschösterreich”) was banned from joining the German Reich. In the contract, the term “German” was deliberately not used in the state name. Emigration, displacement and population exchange already existed during and after the First World War, but not to the same extent as after the Second World War. The Austrian emperor was expelled in April 1919 by the Habsburg law of the country and lost his fortune. In this second part of the trilogy, Jean-Marie Godard deals with the annexation of Eupen-Malmedy to Belgium in 1919 and wonders whether there is a return to the Belgian homeland or a mere annexation. Jurgita Baur is dedicated to the effects of the First World War on the Baltic states. Adrianna A. Michel examines the consequences of the First World War for Poland. Gilbert H. Gornig treats Austria, Czechoslovakia and the fate of the Sudetenland to this day, including the emergence of states. Michael Kadgien deals with the compatibility of the so-called Habsburg law with higher law. Andreas Raffeiner discusses the question of South Tyrol, i. e. the status of South Tyrol since the end of the First World War. Michael Portmann and Karlo Ruzicic-Kessler deal with the merger of South Slavic states into the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes. Gilbert H. Gornig, in his second contribution, made necessary by a short-term rejection, deals with Hungary and the Peace of Trianon and, in this context, also discusses the problem of the survival or decline of states. Incidentally, the fate of Romania is treated as well. Holger Kremser investigates the emigration, expulsions and population exchange during and after the First World War. Unfortunately, some manuscripts were not delivered until the editorial deadline. All the more thanks are due to Michael Portmann and Karlo Ruzicic-Kessler for providing a contribution to the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes. The editors thank Mrs. Heike Frank and the employees of the publisher Duncker & Humblot for the good cooperation. Gilbert H. Gornig Adrianna A. Michel

Inhaltsverzeichnis Jean-Marie Godard Die Angliederung von Eupen-Malmedy an Belgien im Jahre 1919. Heimkehr ins belgische Vaterland oder bloße Annexion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jurgita Baur Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die baltischen Staaten . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Adrianna A. Michel Die Folgen des Ersten Weltkriegs für Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gilbert H. Gornig Österreich, die Tschechoslowakei und das Schicksal des Sudetenlandes bis heute. Auch ein Beitrag zur Entstehung von Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Michael Kadgien Das Habsburgergesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Andreas Raffeiner Die Südtirol-Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Michael Portmann und Karlo Ruzicic-Kessler Der Erste Weltkrieg und die Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, 1914 – 1921 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Gilbert H. Gornig Ungarn und der Frieden von Trianon. Auch ein Beitrag zum Fortbestand oder Untergang von Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Holger Kremser Vertreibung und Bevölkerungsaustausch nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . 223 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Content Jean-Marie Godard The Annexation of Eupen-Malmedy to Belgium in 1919. Return to the Belgian Fatherland or Mere Annexation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jurgita Baur The Impact of World War I on the Baltic States . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Adrianna A. Michel The Consequences of the First World War for Poland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gilbert H. Gornig Austria, Czechoslovakia and the Fate of the Sudetenland until Today. Also a Contribution to the Emergence of States . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Michael Kadgien The Habsburg Act . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Andreas Raffeiner The South Tyrol Question . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Michael Portmann and Karlo Ruzicic-Kessler The First World War and the Creation of the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes, 1914 – 1921 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Gilbert H. Gornig Hungary and the Peace of Trianon. Also a Contribution to the Continuance or Demise of States . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Holger Kremser Expulsion and Population Exchange after the First World War . . . . . . . . . . . . . . 223 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 The Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 List of Names . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Subject Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations ABl. Abs. ADAP AdG AEUV AJIL Anm. Art. Aufl. AVR Bd. Bde. BDGVR bearb. Begr. BGBl. Blg. BT-Drs. B-VG bzw. ca. CDU d. h. DDR ders. Diss. DÖV dt. DVBl. e. V. EA EB ebd. éd. ed. EFTA EG EGMR EGV EMRK EU

Amtsblatt Absatz Akten der deutschen auswärtigen Politik Archiv der Gegenwart Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union American Journal of International Law Anmerkung Artikel Auflage Archiv des Völkerrechts Band Bände Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht bearbeitet Begründer Bundesgesetzblatt Beilagen Bundestags-Drucksache Bundesverfassungsgesetz beziehungsweise circa Christlich Demokratische Union das heißt Deutsche Demokratische Republik derselbe Dissertation Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) deutsch Deutsche Verwaltungsblatt eingetragener Verein Europa Archiv Erläuternde Bemerkungen ebenda éditeur edition/editor Europäische Freihandelsassoziation Europäische Gemeinschaft Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Europäische Menschenrechtskonvention Europäische Union

12 EVTZ EWG f. (ff.) FAZ Fn. FS gem. GP GYIL HabsbG HRLJ Hrsg. i. V. m. ICJ IGH ital. k. und k. k.k. KNV LNTS m. w. N. Mio. NATO Neudr. NLMR Nr. NRG NS NSDAP OÖNachrichten österr. ÖVP ÖZföR phil. poln. Prov. NV. RGBl. Rn. russ. RV S. SDAP SHS-Königreich Slg. sog. SPÖ Sten. Prot.

Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations Europäischer Verbund für territoriale Zusammenarbeit Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende (Seiten) Frankfurter Allgemeine Zeitung Fußnote Festschrift gemäß Gesetzgebungsperiode German Yearbook of International Law Habsburgergesetz Human Rights Law Journal Herausgeber in Verbindung mit International Court of Justice Internationaler Gerichtshof italienisch kaiserlich und königlich kaiserlich-königlich Konstituierende Nationalversammlung League of Nations Treaty Series mit weiteren Nachweisen Millionen North Atlantic Treaty Organization Neudruck Newsletter Menschenrechte Nummer Nouveau recueil général de traités Nationalsozialistisch(e) Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Oberösterreichische Nachrichten österreichisch Österreichische Volkspartei Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht philologisch polnisch Provisorische Nationalversammlung Reichsgesetzblatt Randnummer russisch Regierungsvorlage Seite Sozialdemokratische Arbeiterpartei Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (Kraljevina Srba, Hrvata i Slovenaca) Sammlung sogenannte Sozialdemokratische Partei Österreichs Stenographisches Protokoll

Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations StGBl. StV suppl. SVP tschech. tschechosl. UdSSR UN UNO UNTS UNYB US USA US-amerik. USSR VerwGH vgl. VN vol. z. B. ZaöRV zit. n. ZP

Staatsgesetzblatt Staatsvertrag supplement Südtiroler Volkspartei tschechisch tschechoslowakisch Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations United Nations Organization United Nations Treaty Series United Nations Yearbook United States United States of America US-amerikanisch Union of Soviet Socialist Republics (österreichischer) Verwaltungsgerichtshof vergleiche Vereinte Nationen volume zum Beispiel Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zitiert nach Zusatzprokoll

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Die Angliederung von Eupen-Malmedy an Belgien im Jahre 1919 Heimkehr ins belgische Vaterland oder bloße Annexion? Von Jean-Marie Godard Erlauben Sie mir zunächst eine kurze Vorstellung meiner Person. Meine Muttersprache ist Französisch. Ich komme aus Wallonien, wo ich in einem Gymnasium als Geschichtslehrer tätig war. In Südbelgien wurde ich geboren und zwar an der südlichsten Spitze des Landes, in Belgisch-Lothringen, in einem Drei-Länder-Eck (Belgien-Luxemburg-Frankreich), gerade westlich einer allmählich lockeren deutschfranzösischen Sprachgrenze, die Welsch-Lothringen vom Areler Land trennt; Arel (frz. Arlon) ist die heute französisierte Hauptstadt der belgischen Provinz Luxemburg. Diese besondere Lage meiner Heimat trug dazu bei, dass ich sehr früh großes Interesse an Minderheiten und der deutschen Kultur überhaupt pflegte. Ich bemühte mich insbesondere darum, die deutsche Sprache – größtenteils selbst – zu erlernen. Hinzu kommt, dass mein Vater den Zweiten Weltkrieg in einem Regiment der ardennischen Jäger mitmachte und beinahe fünf Jahre als Kriegsgefangener in Ostpreußen südlich von Königsberg verbrachte; als Hilfsarbeiter in einem Bauernhof und einem Junkersgut wurde er gut behandelt: Er konnte jedenfalls besser und mehr essen als im nahegelegenen Stalag1 und nahm sogar 20 kg zu. Im Laufe von sechs Monaten in Russland, unter den damaligen schweren Umständen, nahm er dann alles wieder ab. Belgien ist ein sehr kompliziertes Land mit drei Amtssprachen, nämlich Französisch, Niederländisch und Deutsch, und verwirrenden Institutionen, die, wie man in Belgien sagt, nur von einer chinesischen Delegation verstanden würden. Durch den Spiegel der winzigen deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien wird ein eigenartiges Land beleuchtet, vielleicht das einzige, in dem man ohne Zentralregierung beinahe 600 Tage überleben und sogar gut leben konnte. Das Ziel der Ausführungen besteht nicht nur darin, den Versailler Vertrag zu erörtern2, sondern einen besonderen Fall der Minderheitenproblematik zu diskutieren.

1 Stalag war in den Weltkriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Bezeichnung für größere Kriegsgefangenenlager. 2 Vgl. dazu auch Teil 1.

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Jean-Marie Godard

I. Geographische Lage Die Deutschsprachige Gemeinschaft gehört zu den sog. Ostkantonen, an den Grenzen zu den Niederlanden, Deutschland und Luxemburg von 20 bis 30 Kilometern Breite und 65 Kilometern Länge. Die Gegend umfasst eine Fläche von etwa 1000 km2 (das heißt ein Dreißigstel der belgischen Gesamtoberfläche) und zählt etwa 90.000 Einwohner. Es ist also ein sehr kleiner Teil Belgiens, aber auch ein kleines Plus für Belgien.

Abb. 1: Von El Bubi – Eigenes Werk based on this map by NordNordWest, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?cu rid=31954049.

Das kleine Gebiet ist allerdings sehr vielfältig! Nur drei Kleinstädte sind hier gelegen, nämlich von Norden nach Süden: Eupen, Malmedy und Sankt Vith; jede Stadt ist durch eigene geographische, sprachliche und historische Besonderheiten geprägt. Die Ostkantone liegen zwischen den Ardennen und der Eifel. Tatsächlich ist hier die Rede von einem einzigen Gebirge, mit verschiedenen Namen: Das Gebirge erstreckt sich vom französischen Ardennen-Departement bis zum Rhein zwischen Bonn und Koblenz. Ein erheblicher Teil Südbelgiens wird von diesem Gebirge durchzogen und der höchste Berg des Landes erhebt sich bei Malmedy: Das Signal de Botrange (694 Meter) im Hohen Venn. Somit ist Belgien im Jahr 1920 um 42 Meter höher gewor-

Die Angliederung von Eupen-Malmedy an Belgien im Jahre 1919

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den! Der höchste Gipfel ragt jedoch in der Eifel in die Höhe: Die Hohe Acht (746 Meter). Eine Ausnahme stellt das Eupener Land dar: Es liegt durchschnittlich nur auf 300 Meter Höhe und verfügt über günstige Verkehrsmöglichkeiten zur nächstgelegenen Stadt Aachen sowie zu Maastricht und Lüttich; dies erklärt dort die Entwicklung von kleinen und mittelgroßen Gewerbebetrieben. Malmedy liegt am westlichen Hang des Hohen Venns und pflegte stets Beziehungen zu Wallonien und Lüttich. Sankt Vith liegt in einer ländlichen Gegend, die sehr lange, abseits von großen Verkehrswegen gelegen, isoliert war; die natürliche Orientierung weist in die Richtung Eifel (Prüm) und Oesling (Clerf), wie die luxemburgischen Ardennen genannt werden.

II. Sprachgrenzen Sprachlich sind die Ostkantone in zwei Kultursprachgebiete unterteilt: Französisch um Malmedy mit etwa 17.000 Einwohnern und Deutsch um Eupen und Sankt Vith mit etwa 73.000 Einwohnern. Die Sprachgrenzen in den Ostkantonen lassen sich folgendermaßen erklären: Die ersten bekannten Einwohner in den Ostkantonen waren Kelten. Unter römischer Herrschaft wurden sie romanisiert; die romanisch-germanische Sprachgrenze war identisch mit der Rhein-Donau-Linie, der Grenze des Römischen Reiches (1. bis 5. Jahrhundert). Im 5. Jahrhundert veränderte die Völkerwanderung diese Lage: Franken, Alemannen und Bayern drangen vor und germanisierten weite Landstriche. Im heutigen Belgien lebten die salischen Franken (von Norden her kommend) und die ripuarischen Franken (von Osten her kommend). Unter dem Frankenreich dauerte es aber etwa fünf Jahrhunderte (vom 5. bis ins 9. Jahrhundert), bis eine neue Sprachgrenze sichtbar wurde: Anfangs gab es mehr oder minder große germanische Sprachinseln unter der gallo-romanischen Bevölkerung. Der Adel selbst war lange Zeit zweisprachig (zu erwähnen ist, dass die Merowinger aus Tournai und die Karolinger aus der Lütticher Gegend stammten). Vom 9. Jahrhundert an ist eine deutliche Sprachgrenze feststellbar. Sie änderte sich bis heute kaum: sie trennt Flamen und Deutschsprachige von den Wallonen. Allerdings wurden lange Zeit regionale Dialekte bzw. lokale Mundarten gesprochen, die heute noch zum Teil lebendig sind. Die Mundarten gehören größtenteils zum mitteldeutschen Sprachraum, im Gegensatz zu Flandern (im niederdeutschen Bereich). Sprachliche Untergruppen sind: Niederfränkisch, Ripuarisch und Moselfränkisch. Letztere Mundart betrifft auch eine kleine Gegend um Arel (dem Geburtsort des Verfassers), das schon erwähnte Areler Land. Von der Nordsee bis nach Franken sind alle fränkischen Dialekte vertreten: Niederfränkisch, Ripuarisch-Fränkisch, Moselfränkisch, Rheinfränkisch und Mainfränkisch. Ein echtes europäisches Band! Als Untergruppe des Niederfränkischen findet man Limburgisch. Dieser Dialekt ist von der belgischen Provinz Limburg bis nach Wuppertal im Ruhrgebiet vertreten. Er stellt eine Übergangssprache zwischen Niederländisch und Deutsch dar und ist der

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Dialekt des Eupener Landes. Die Wahl von Niederländisch bzw. Deutsch als Hochsprache wurde also allein durch historisch-politische Umstände bedingt! Nur ein paar Dörfer südlich von Aachen (Eynatten, Raeren und Hauset) gebrauchen wie in dieser Stadt eine ripuarisch-fränkische Mundart. In der Gegend von Sankt Vith spricht man überwiegend Moselfränkisch wie in Luxemburg, im Areler Land, Bitburg, Diedenhofen usw. Ganz anders sieht es um Malmedy aus, wo, wie in der Stadt Lüttich, ein ostwallonischer Dialekt gesprochen wird.

Abb. 2: Die Sprachgebiete Belgiens: Oben das niederländisches Sprachgebiet (in der Mitte ist das zweisprachige Gebiet Brüssel eingezeichnet), unten das französisches Sprachgebiet und im Osten das deutsche Sprachgebiet.

III. Geschichtliche Entwicklung bis 1918 1. Entwicklung bis 1918 Der geschichtliche Überblick soll dazu dienen, die belgischen Ansprüche 1919 zu beleuchten. Wie man weiß, wird die Geschichte öfter im Interesse nationalistischer Interessen aller Art missbraucht.

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Nach der Teilung des Frankenreiches unter den drei Enkeln Karls des Großen (843)3 dauerte es nicht lange, bis der größte Teil des heutigen Belgien dem ostfränkischen Reich (dem künftigen deutschen Reich) einverleibt wurde. Und diese Situation dauerte ununterbrochen 870 Jahre, von 925 bis 1795! Im Rahmen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (nach einer Auffassung gegründet 962 mit der Kaiserkrönung Ottos I., so genannt seit 1512) entwickelten sich viele territoriale Fürstentümer, deren Zahl 350 überstieg, allmählich mit immer mehr Selbständigkeit und eigenen Brauchtümern. Im 11. und 12. Jahrhundert gab es schon etwa 10 Fürstentümer auf belgischem Boden, davon mindestens drei allein in den Ostkantonen, nämlich das Herzogtum Limburg, das Eupen miteinschloss, die Reichsabtei Stablo-Malmedy, die in enger Beziehung zum Fürstbischofstum Lüttich stand, und die Grafschaft Luxemburg, welche sich von Sankt Vith bis Diedenhofen und von Montmédy (im heutigen Frankreich) bis Bitburg erstreckte. Eine solche Einteilung erklärt auch die früher erwähnte sprachliche Verteilung. Im 14. und 15. Jahrhundert wurden sogar vier luxemburgische Fürsten zu deutschrömischen Kaisern erhoben. Der berühmteste ist Kaiser Karl IV., ansässig in Prag; er erhob 1354 seine Grafschaft zum Herzogtum Luxemburg. Er war zugleich König von Böhmen und Markgraf von Brandenburg. Im Namen der Geschichte könnten also – nicht ernst gemeint – Belgier bzw. Luxemburger Berlin in Anspruch nehmen! Allerdings ist es zu spät, denn sein Sohn, Kaiser Sigismund schenkte Brandenburg 1415 einem Hohenzollern, um seine Schulden zu tilgen! Zur gleichen Zeit waren die „belgischen“ Fürstentümer durch Heirat oder Kauf in den Händen der französischen burgundischen Herzöge vereinigt: Somit wurden diese Fürsten theoretisch Vasallen der deutschen Kaiser. Ausnahmen waren nur die kirchlichen Fürstentümer Stablo-Malmedy und Lüttich, dessen Fürstbischöfe in der Neuzeit öfter Wittelsbacher waren, zugleich Fürsterzbischöfe von Köln (ihr Palast in Bonn wurde zum Teil mit ardennischem Holz gebaut). Das Jahr 1477 ist besonders wichtig: Der spätere Kaiser Maximilian von Habsburg heiratete die burgundische Erbin: Die Habsburger, Kaiser und Erzherzöge von Österreich, wurden damit auch zu Herzögen von Limburg, Luxemburg, Brabant usw. Diese unmittelbare Herrschaft dauerte bis 1795 fort, das heißt 318 Jahre. Maximilians Enkel Kaiser Karl V. wurde in Gent geboren (1500) und konnte kaum Deutsch. Nach dessen Abdankung in Brüssel (1555) wurde das burgundische Erbe unter dem Namen Niederlande von den spanischen Habsburgern regiert, allerdings weiter als Teil des Deutschen Reiches und im Einvernehmen mit den österrei3 Im Vertrag von Verdun teilten am 10.8.843 die überlebenden Söhne Kaiser Ludwigs des Frommen das Fränkische Reich der Karolinger in drei Herrschaftsgebiete auf: Lothar als ältester erhielt die Kaiserwürde sowie das später als Mittelreich bezeichnete Lotharii Regnum, Karl der Kahle erhielt das Westfrankenreich, aus dem später Frankreich hervorgehen sollte, und Ludwig der Deutsche bekam das Ostfrankenreich, aus dem sich später das Heilige Römische Reich deutscher Nation entwickelte.

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chischen kaiserlichen Habsburgern. Im Rahmen des Burgundischen Kreises wurde es mit einem Sonderstatus versehen. Ein Wechsel fand im Jahre 1713 statt: Nach dem Erlöschen der spanischen Linie wurden die sog. Niederlande den österreichischen Habsburgern zugesprochen. Somit waren die deutschen Kaiser wieder die unmittelbaren Herrscher jener Gebiete. Kaiser Josef II. (um 1780) versuchte jedoch vergeblich, jene entfernten Provinzen gegen Bayern einzutauschen (Österreich wird nur das Innviertel in Besitz bekommen, mit der Stadt Braunau am Inn). Bei den Revolutionskriegen wurden alle Gebiete westlich des Rheins von Frankreich besetzt und annektiert. Die Proklamation der Einverleibung der sog. Niederlande geschah im Jahre 1795. Zum ersten Mal wurden Malmedy und Lüttich mit den Nachbargebieten unter einer einheitlichen französischen Verwaltung verschmolzen. Die Ostkantone und Lüttich waren nun Bestandteil des Ourthe-Departements (so genannt nach dem Namen eines Nebenflusses der Maas). Es gab Missstimmung und Unruhen unter der Bevölkerung, besonders am Anfang wegen antireligiöser Umtriebe und am Ende wegen erzwungener Wehrpflicht. Die Französisierungspolitik erweckte auch Unmut in germanischen Landen. Natürlich, wie immer und überall, gab es auch „Kollaborateure“, vor allem bei den oberen Schichten. Nach der „Völkerschlacht“ bei Leipzig kamen Anfang 1814 preußische Truppen, die das Land befreiten. Im Juni 1815 wurde Napoleon bei Waterloo, südlich von Brüssel, endgültig besiegt. Gleichzeitig ging der Wiener Kongress, die Versammlung der Hauptsiegermächte, zu Ende. Dessen Beschlüsse schufen eine Neuordnung in Europa. Die Habsburger hielten nicht so sehr an ihren früheren belgischen Besitz fest und bevorzugten Kompensationen in Norditalien. Außerdem wollten die Alliierten einen Pufferstaat, eine Mittelmacht mit der Rolle eines Wächters gegen Frankreich. Deswegen wurde ein Königreich der Niederlande geschaffen, durch die Vereinigung von Holland mit fast ganz Belgien. Ein Sonderfall war die Gründung eines Großherzogtums Luxemburg, mit König Wilhelm von Oranje-Nassau an dessen Spitze, als Mitglied des neuen Deutschen Bundes, der 39 deutsche Staaten umfasste; im Namen des Bundes war eine preußische Garnison in der Stadt Luxemburg stationiert. Das Großherzogtum umschloss also ein wallonisches und ein deutsches Gebiet. Die größte Änderung aber kam seitens Preußens: Preußen erhielt fast das gesamte Rheinland sowie einen Teil des alten Luxemburg, dessen östliche Grenze an den Flüssen Our-Sauer-Mosel festgelegt wurde. Auch Eupen-Malmedy kam an Preußen. Damals war noch nicht die Rede von ethnischen Grenzen: Während das Elsass französisch blieb, wurden die Wallonen um Malmedy in Preußen eingegliedert; ei-

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nige Dörfer um Bocholtz (westlich von Sankt Vith) sowie ein Landstrich um Montzen (westlich von Eupen) wurden dem Königreich der Niederlande angeschlossen. Die preußischen Behörden schufen 1821 zwei Kreise: Eupen und Malmedy; da in den letzteren Kreis der Kreis von Sankt Vith eingeschlossen wurde, bildeten die Wallonen im neuen Kreis eine Minderheit von annähernd 30 %. Das Gebiet gehörte zur Rheinprovinz (Regierungsbezirk Aachen). Ein seltsamer Sonderfall war die kleine Gegend um Kelmis, namens Moresnet: Wegen ihres Reichtums an Bodenschätzen (Zink und Blei) war es ein Zankapfel zwischen Holland und Preußen. Das Gebiet wurde 1816 in drei Teile aufgeteilt. Moresnet kam an Holland (später Belgien), Neu-Moresnet an Preußen und in der Mitte lag Neutral-Moresnet mit nur 3,44 km2. Dieser Mikro-Staat wurde von Preußen und Holland, später Belgien, gemeinsam verwaltet. Die Bevölkerung wuchs sehr rasch an (von etwa 250 bis fast 4700 Einwohnern binnen 100 Jahren). Doch 1885 wurde das Bergwerk erschöpft. Verschiedene Projekte wurden entworfen, darunter ein Kasino, das aber nach 17 Tagen von den preußisch-belgischen Behörden geschlossen wurde. Wegen der niedrigen Zollgebühren entwickelten sich lebhafte Schmuggelgeschäfte (vorerst mit Alkohol), sogar ein unterirdischer Tunnel wurde gegraben. Im Jahr 1915 wurde Neutral-Moresnet vom Deutschen Reich annektiert und 1919 vom Versailler Vertrag an Belgien abgetreten. So war der isoliert gepflegte Traum von einer Mikro-Nation mit Esperanto als Nationalsprache unter dem Namen Amikejo (Freundschaftsort) zu Ende. Inzwischen ist zufällig und überraschenderweise ein neuer Staat entstanden. Im Jahre 1830 brach die belgische Revolution aus. Auch im Großherzogtum wurde die holländische Verwaltung ausgewiesen, außer der Stadt Luxemburg, wo die preußische Garnison die legale Autorität verteidigte. Nach dem Sturz eines kalvinistischen Monarchen wählte das katholische Belgien einen lutherischen deutschen Fürsten, nämlich Leopold von Sachsen-Coburg-Gotha, den Onkel der späteren Königin Viktoria, auch mit dem preußischen König verwandt. Dank der Unterstützung von England und Frankreich wurden die Unabhängigkeit Belgiens sowie dessen unaufhörliche Neutralität anerkannt. Die Beweggründe beider Hauptmächte waren allerdings verschiedener Art: Während England eine wirtschaftliche Konkurrenz ausschalten wollte, hatte Frankreich die Auflösung eines feindlichen Pufferstaates vor den Augen sowie künftige Annexionsmöglichkeiten. Auf jeden Fall wurde zunächst die Unabhängigkeitserklärung von König Wilhelm nicht akzeptiert. Erst 1839 erfolgte sie zum Ärgernis vieler Belgier. Belgien musste den östlichen Teil von Limburg und Luxemburg an Holland abtreten. In Luxemburg sollte zuerst die Sprachgrenze als Staatsgrenze gelten. Doch die deutschsprachige Areler Gegend blieb Belgien erhalten, mit den Ortschaften entlang der Nationalstraße 4, die nach Brüssel bzw. Lüttich führt. Arel wurde zur Hauptstadt der belgischen Provinz Luxemburg.

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Die Folgen sind bis heute sichtbar: in Belgien liegen drei geographisch getrennte Gebiete, ursprünglich deutscher Sprache, vereinigt unter der Vokabel Altbelgien: Das Montzener Land, das Bocholtzer Land und das Areler Land. Im Verhältnis dazu werden die Ostkantone als Neubelgien bezeichnet. Außer Malmedy wurde früher die Gesamtheit als Deutschbelgien gekennzeichnet, eine Darstellung, die heutzutage politisch nicht mehr korrekt ist (allerdings redeten meine Eltern immer noch von den „Deutschen“, wenn es um die Areler ging). Von Anfang an war Belgien ein Zentralstaat nach dem Muster Frankreichs. Und wie in diesem Land gab es zuerst nur eine Amtssprache: Französisch. Trotzdem gab es für Altbelgien eine deutsche Ausgabe des Gesetzblattes, in den Gemeinderäten, im Unterricht, im Gottesdienst wurde regelmäßig in Deutsch oder Mundart gesprochen. Die deutsche Sprache und Kultur genoss im 19. Jahrhundert großes Prestige. Das verhinderte aber nicht die Ausbreitung des Französischen, vor allem bei den mittleren und oberen Schichten. In Flandern sprach die Bourgeoisie hauptsächlich Französisch. Und paradoxerweise wurde zugleich der „germanische“ Charakter Belgiens betont, um sich von dem „erblichen“ Feind Frankreich zu distanzieren, trotz der Bewunderung für die Große Revolution. Diese Suche nach einer eigenen Identität erklärt, dass die Anfänge einer flämischen Kulturbewegung wohl wahrgenommen wurden. Schon in den 1840er Jahren entstand ein Nederduitsche Bond (Niederdeutscher Bund), dessen Zweck Schutz und Pflege der flämischen Kultur war. Nach gescheiterten Versuchen der Schaffung einer flämischen Sprache wurde schließlich für Niederländisch (statt Deutsch) als Kultursprache optiert, trotz des Unmuts gegenüber den Holländern. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen gesetzliche Änderungen zugunsten des Niederländischen zustande, zwar in bescheidener Weise, während eine antideutsche Stimmung Boden gewann und die Französisierung Altbelgiens fortschreitend vor sich ging. Und wie ging es unter preußischer Herrschaft in den Ostkantonen zu? Natürlich muss man zwischen Wallonen und Deutschen unterscheiden. Ein gemeinsamer Punkt einigte aber die Bevölkerung: Eine tiefe Verwurzelung im katholischen Glauben. Daher herrschte zunächst Misstrauen gegenüber dem protestantischen preußischen Staat. Doch die traditionelle Toleranz in Preußen wirkte befriedend. Desgleichen galt auch auf der sprachlich-politischen Ebene: Im Gegensatz zu Frankreich gehört es nicht zu deutschen Traditionen, eine linguistische Gleichschaltung aufzuzwingen und andersartige Sprachen zu unterdrücken, wie es gerade bis 1870 im Elsass und in Lothringen zu beobachten war. Bei den Wallonen waren deswegen zu Beginn keine wesentlichen Probleme da. Die Sprache der Verwaltung in der sog. „preußischen Wallonei“ blieb fortan französisch. Diese beruhigende Situation änderte sich aber nach der Reichsgründung 1871 unter der festen Hand des Eisernen Kanzlers Bismarck: Einerseits führte er einen „Kulturkampf“ gegen die katholische Kirche, andererseits begann er eine Germanisierungspolitik, die nicht nur die Polen in der Provinz Posen betraf, sondern auch die

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Wallonen (im Vergleich dazu war es damals bei den Frankophonen in Elsass-Lothringen entspannter). Einige Beispiele für Malmedy: ab 1876 mussten die Verhandlungen im Gemeinderat auf Deutsch gehalten werden; ab 1879 sollte in Deutsch unterrichtet werden, usw. Überdies wurde den Pfarrern verboten, auf Französisch zu predigen: Manche hielten dann ihre Predigte auf Wallonisch! Resultat: ein gewisser Widerstand manifestierte sich, vor allem unter der Leitung katholischer Pfarrer, wie Nicolas Pietkin, in Köln zum Priester geweiht, der 1897 den „club wallon“ (wallonischen Klub) mitgründete, doch immer kaisertreu bis zu Ende blieb, im Gegensatz zu Joseph Bastin, 1909 nach Belgien ausgewiesen, wegen seiner probelgischen Propaganda. Eine kleine Anekdote sei angemerkt: Neulich habe ich zufällig seine Kleinnichte, eine alte wallonische Wirtin, bei Bütgenbach getroffen; da ich zum Abendessen mit acht Minuten Verspätung kam, durfte ich keinen Aperitif mehr nehmen: Es sei zu spät. Und als Erläuterung dazu: „Wir Deutschen mögen Pünktlichkeit“! Pfarrer Bastin wird sich im Grabe umdrehen. Immerhin, der überwiegende Teil der wallonischen Bevölkerung passte sich der neuen Situation an. Die deutsche Bevölkerung genoss die fortschrittlichen Sozialgesetze und wählte vor allem die katholische Zentrumspartei, wie im übrigen Rheinland. Im Ersten Weltkrieg kämpften die preußischen Wallonen loyal „im Namen des Kaisers“, wie das neueste Buch eines Heimathistorikers heißt. 2. Eine Zeit gewaltiger Wandlungen (1918 – 1945) Am 11. November 1918 war es so weit: Die deutschen Truppen sollten binnen einem Monat alle linksrheinischen Gebiete evakuieren. Schnell wurden sie durch alliierte Truppen ersetzt: Schon am 1. Dezember trafen englische Truppen in Eupen ein, dann auch belgische. Die seit dem 9. November wiedergewonnene Pressefreiheit wurde von den Besatzungsmächten sofort aufgehoben. Etwas später kamen französische Soldaten. Erst am 26. Mai 1919 ersetzten in Eupen und am 12. August in Malmedy belgische Soldaten die französischen bzw. englischen Truppen. In diesem Schicksalsjahre 1919 wurde der Versailler Vertrag mittels eines Ultimatums Deutschland aufgezwungen und von diesem auch als Diktat empfunden. Unter demütigenden Umständen wurde er am 28. Juni 1919 unterzeichnet. Unter den 440 Artikeln dieses Vertrags mit insgesamt 258 Seiten in der Taschenbuchausgabe, gibt es nur neun Artikel (31 – 39), die Belgiens Grenzen betreffen, was viele Belgier als tiefe Enttäuschung empfanden. Vorher waren in Belgien große Pläne geschmiedet worden, meistens in Übereinstimmung mit radikalen französischen Kreisen. Und diese Pläne sollten nicht nur zulasten des besiegten Deutschen Reiches umgesetzt werden! So wurde in chauvinistischen Kreisen von früheren „historischen“ Grenzen geträumt und eine „Rückgewinnung“ von Holländisch-Limburg und dem Großherzogtum Luxemburg (das

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auch von Frankreich begehrt wurde) erwünscht. Problematisch war, dass die Niederlande neutral gewesen waren; allerdings hatten sie dem sog. verbrecherischen Kaiser Asyl gegeben. Gleichwohl konnten solche Forderungen von den Engländern und USAmerikanern nicht erfüllt werden. Luxemburg musste jedoch den Deutschen Zollverein verlassen (im Jahr 1922 wird eine belgisch-luxemburgische Zollunion entstehen). Außerdem erstrebten die Chauvinisten im Namen ihrer proklamierten keltischen Ausprägung eine Zerstückelung Deutschlands, insbesondere die Gründung rheinischer Staaten, im Namen ihrer proklamierten keltischen Ausprägung! Manche belgischen Behörden träumten sogar von einer territorialen Ausdehnung über Aachen hinaus bis nach Köln! Wäre solcher Größenwahn Wirklichkeit geworden, so wäre heute nicht die Rede von einer deutschen Minderheit in Belgien! Die belgische Regierung war sich bewusst, dass Engländer und US-Amerikaner davon nichts wissen wollten und Belgien sich mit Neutral- und Preußisch-Moresnet sowie der Aussicht auf eine bescheidene Ausdehnung nach Osten im Namen sog. „historischer“ Motive begnügen musste: nämlich der Grenzen der früheren „belgischen“ Fürstentümer. Das erfolgte aber nicht gänzlich: Wenn wir eine historische Karte betrachten und mit der heutigen Landkarte vergleichen, fällt auf, dass die Grenzen nicht im Einklang sind. Die wahren Hintergründe der belgischen Regierung waren aber kultureller (für Malmedy) und strategischer Natur (mit höheren Verteidigungslinien und dem Lager Elsenborn), was sich aber als Fehlkalkül erweisen sollte; auch wirtschaftliche Motive kamen hinzu: der Besitz einer großen Waldfläche und der Eupener Gewerbegebiete. Der Versailler Vertrag sollte am 10. Januar 1920 in Kraft treten. Am selben Tag wurde von Belgien ein Gouverneur für die Ostkantone ernannt: General Hermann Baltia. Baltia wurde in Brüssel geboren, sein Vater war Luxemburger und seine Mutter Deutsche: Er war perfekt zweisprachig. Das war nicht seine einzige Auszeichnung: Er war zuvor in Belgisch-Kongo tätig und in den Augen mancher Verantwortlichen war er daher der richtige Mann für eine widerspenstige Bevölkerung. Der damalige katholische belgische Ministerpräsident Delacroix sagte zu Baltia ausdrücklich: „Sie sollen das Gebiet wie eine Kolonie verwalten, die in direkter Verbindung mit der Metropole steht“. Seine erste Aufgabe bestand darin, die im Versailler Vertrag vorgeschriebene Volksabstimmung während der ersten sechs Monate durchzuführen. Die Bevölkerung wurde tatsächlich „konsultiert“. Aber auf einer sehr seltsamen, einmaligen Weise: in Form einer „negativen“ Volksabstimmung! Was heißt das? Während in anderen Teilen Deutschlands (Nordschleswig, Oberschlesien, Ostpreußen) die Wähler an einem bestimmten Tag sich mit einem geheimen Zettel für „Ja“ oder „Nein“ zu entscheiden hatten, hatte die Bevölkerung von Eupen-Malmedy sechs Monate Zeit, um ihre Entscheidung zu treffen. Ein Geschenk für sie? Nein, denn es wurde vorausgesetzt, dass die getrennten Brüder mit einer „Heimkehr ins belgische Vaterland“ Freude oder zumindest Zufriedenheit empfin-

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den sollten. Sodann können die Kosten einer echten Wahl erspart werden: Das demokratische Belgien legte dann zwei offene Listen auf den Tisch der neuen Verwalter in Eupen und in Malmedy, wo diejenigen, die gegen den Anschluss an Belgien waren, sich melden mussten! In der Regel ist zu lesen, dass der neue Völkerbund (der Vorgänger der UNO) Aufsicht üben und eine den Regeln entsprechende geheime Wahl gewährleisten sollte. Belgien habe aber die Konsultierung verdreht und den Völkerbund betrogen; bestenfalls habe dieser die Augen verschlossen. Dieser Ansicht war ich auch lange Zeit. Sie ist aber falsch! Wenn wir Art. 34 des Versailler Vertrags gründlich prüfen, ist zu erkennen, dass alles buchstäblich so geplant war. Artikel 34 lautet: „Deutschland verzichtet außerdem zugunsten Belgiens auf alle Rechte und Ansprüche auf das gesamte Gebiet der Kreise Eupen und Malmedy. Während sechs Monaten nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags werden von der belgischen Behörde in Eupen und Malmedy Listen ausgelegt; die Einwohner dieser Gebiete sind berechtigt, darin schriftlich den Wunsch auszudrücken, daß diese Gebiete ganz oder teilweise unter deutscher Souveränität verbleiben. Es ist Sache der belgischen Regierung, das Ergebnis dieser [engl. Text: dieser öffentlichen] Äußerung der Bevölkerung zur Kenntnis des Völkerbundes zu bringen, dessen Entscheidung anzunehmen sich Belgien verpflichtet.“

Am belgischen Beispiel lässt sich am deutlichsten erkennen, dass die demokratischen Sieger ihre hervorgehobenen Prinzipien selber ignoriert haben. Verhängnisvolle Konsequenzen werden erfolgen und zur Entfaltung vieler radikaler nationalistischer Bewegungen beitragen. Obwohl der Verlust von Eupen-Malmedy verhältnismäßig gering war, sollte die angewandte Methode der Volksbefragung die deutschbelgischen Beziehungen trüben. Diese sog. Volksbefragung fand vom 26. Januar bis 23. Juli 1920 statt. In dieser „Wahlperiode“ wurde die Bevölkerung großem Druck ausgesetzt; Hochkommissar Baltia ließ Drohungen in der Öffentlichkeit verbreiten: Ausweisung, Ausschluss vom Geldumtausch und von der Verteilung von Lebensmittelkarten, Entlassung aus dem Staatsdienst u. a., was tatsächlich alles erfolgen wird. Hinzu kamen zu große Entfernungen zum Wahlort. Die Resultate waren wie zu erwarten war: Von den 33.726 wahlberechtigten Männern und Frauen4 hatten sich nur 271 Personen in die Listen eingetragen. Davon etwa 200 Beamte, die sich keine Illusionen über ihre Zukunft machten. Viele Bürgermeister waren schon von den belgischen Behörden ersetzt worden. Am 19. August übermittelte Belgien dem Völkerbund dieses Ergebnis von fast 100 %, doch mit einem Unterschied: Im Kreis Eupen war in dem Bericht an den Völkerbund jede Gemeinde erwähnt, im Kreis Malmedy hingegen war das 4 Wie im übrigen deutschen Reich (seit dem Inkrafttreten der Weimarer Verfassung) durften Frauen wählen. Danach mussten sie im belgischen Rahmen bis 1948 warten, um das Wahlrecht wieder zu erhalten.

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Resultat pauschal erwähnt, damit die Wahl der Wallonen versteckt blieb (es war nämlich bekannt, dass manche unter ihnen preußentreu blieben und einen sozialen Rückgang befürchteten). Trotz begründeter Proteste der deutschen Regierung genehmigte am 20. September 1920 der Völkerbund die Ergebnisse der Abstimmung. EupenMalmedy wurde somit rechtlich Belgien angegliedert, doch mit einem Sonderstatus für eine Dauer von fünf Jahren. Am selben Tag richtete Ministerpräsident Delacroix eine Proklamation an die neubelgische Bevölkerung, in der nicht die Rede von einer Kolonie war, sondern von der „Wiedervereinigung“ mit „Brüdern“ in Belgien. Es ist bedenklich, dass die Mehrzahl der Bevölkerung davon betroffen wurde. Die Militärdiktatur blieb bestehen. Die einzige belgische politische Partei, die gegen diese „Farce“ protestierte, war damals die Belgische Arbeiterpartei (d. h. die Sozialisten); diese behauptete, es liege nicht in Belgiens Interesse, ein kleines Elsass an seiner Grenze zu schaffen. Bei der Annexion waren die 62.000 Einwohner wie folgt aufgeteilt: Im Kreise Eupen lebten 25.000 Personen, davon 98 Wallonen; im Kreise Malmedy 37.000 Personen, davon 12.500 Wallonen. Bei Letzteren sprachen 4000 ausschließlich Französisch oder Wallonisch; 8500 waren zweisprachig, davon 6300 mit einer Bevorzugung für Französisch und 2200 für Deutsch. Erst 1922 wurde die neue Grenze unter Aufsicht des Völkerbundes endgültig festgelegt: Belgien gewann die Vennbahn, die durch deutsches Gebiet fuhr, und ließ einige deutsche Ortschaften als Exklaven. Im Jahre 1923, in dem belgische zusammen mit französischen Truppen das Ruhrgebiet besetzten, wurde zu Ehre von Hochkommissar Baltia auf dem Gipfel des Signal von Botrange ein Denkmal von sechs Metern Höhe errichtet, so dass Belgien genau 700 Meter hoch wurde! Gleichzeitig trug die damalige chaotische Lage in Deutschland wahrscheinlich gerade dazu bei, die Bevölkerung in Ruhe zu halten. Dann kam das Jahr 1925. General Baltias Aufgabe ging zu Ende und das Gebiet, nun mit drei Kreisen ausgestattet (Eupen, Malmedy und Sankt Vith) wurde förmlich in Belgien eingegliedert, nämlich in die Provinz Lüttich, doch mit einem Vorbehalt (1934 gesetzlich geregelt): Da dessen Einwohner keine gebürtigen Belgier waren, konnten sie, wie eingebürgerte Ausländer, die belgische Staatsbürgerschaft verlieren, insbesondere im Falle antibelgischer Aktivitäten! Immerhin wurde die Zensur aufgehoben und die Einwohner der neubezeichneten Ostkantone durften zum ersten Male an freien Parlamentswahlen teilnehmen. Am 5. April 1925 wählte die Bevölkerung nach ihrer traditionellen Überlieferung: Die katholische Partei erhielt 60 % der Stimmen, während die Sozialisten trotz ihrer Abneigung der Volksabstimmung nur 25 % gewannen. Die Stimmung aber änderte sich rasch, wegen der probelgischen Haltung der katholischen Partei, ohne dass die Sozialisten davon profitierten, wie man sehen wird.

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Das Jahr 1925 war auch das Jahr des Locarno-Paktes5 zwischen Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Belgien und Italien, in dem Deutschland seine Westgrenzen förmlich akzeptierte und garantierte. Eine Entspannung in den internationalen Beziehungen trat ein; parallel dazu war die Lage in Deutschland erheblich besser geworden, insbesondere auf finanzieller Ebene, dank US-amerikanischer Investitionen. Belgien hingegen hatte Probleme. Zur gleichen Zeit bestanden geheime Verhandlungen zwischen der deutschen und der belgischen Regierung und es ging um nichts weniger als um die Rückgabe der Ostkantone gegen eine Summe von 200 Millionen Goldmark! Das war also ein echter Kuhhandel! Er scheiterte aber am scharfen Widerstand Frankreichs. Das Land, das von dem Anschluss Österreichs und sogar von einer deutsch-österreichischen Zollunion nichts hören wollte, war immer noch nicht geneigt, eine Revision des Versailler Vertrags zu dulden. Infolge der enttäuschenden Wahlen von 1925 wurden prodeutsche Parteien in der Region gegründet: Die Heimattreue Front (1926) und die Christliche Volkspartei (1929). Um die prodeutsche Gesinnung zurückzudrängen, wurde 1927 eine neue lokale Zeitung gegründet, und zwar hauptsächlich von Industriellen und Politikern aus Lüttich und Verviers, unter Beihilfe einiger weniger „Kollaborateure“: die Zeitung Grenz-Echo. Diese fand so wenig Widerhall, dass sie kostenlos verteilt wurde. Auch andere Zeitungen wurden gelesen, vor allem die katholische Eupener Zeitung. Sie werden nach 1944/45 verschwinden, aber das Grenz-Echo besteht heute noch. Bei den Wahlen 1929 erkämpfte die Christliche Volkspartei eine absolute Mehrheit mit 52,1 % der Stimmen, die probelgische katholische Partei 19,4 % und die Sozialisten erhielten 23,3 %. Am 20. September 1930 wurde ein gemeinsamer feierlicher Aufruf zugunsten einer neuen, echten Volksabstimmung von allen deutschsprachigen Zeitungen (bis auf das Grenz-Echo) veröffentlicht, unter Hervorhebung, dass die prodeutschen Parteien von rund 80 % der Bevölkerung unterstützt werden, auch von einem Teil der dortigen Wallonen. In den 30er Jahren spitzte sich die politische Situation zu. Wie überall in Europa entwickelten sich rechtsradikale Parteien, zuerst vom italienischen Faschismus beeinflusst, dann nach Hitlers Machtergreifung 1933 mehr oder minder durch das nationalsozialistische Gedankengut geprägt. Das betraf auch die Ostkantone. Immer mehr Anhänger der Christlichen Volkspartei und besonders der Heimattreuen Front, die sich im kulturellen Heimatbund trafen, orientierten sich an NS-Deutschland. Der Verein für das Deutschtum im Ausland (1881 gegründet), dessen Zweck 5 Unter den Verträgen von Locarno versteht man sieben völkerrechtliche Vereinbarungen, die vom 5. bis 16. 10. 1925 in Locarno (Schweiz) verhandelt und am 1. 12. 1925 in London unterzeichnet wurden. Sie traten am 10. 9. 1926 in Kraft. Vgl. auch: Der Vertrag von Locarno, 16. 10. 1925, in: 1000dokumente.de.

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immer die kulturelle Unterstützung und Förderung der Auslandsdeutschen gewesen war, stand immer mehr unter NS-Einfluss. Diese Einflussnahme wurde noch deutlicher ab 1935, als der Verein in den „Volksbund der Deutschen im Ausland“ umbenannt wurde. Durch persönliche Kontakte waren Gedanken eingeflossen und durch finanzielle Beihilfen (für Schulen, Theater) konnte auch ideologischer Druck ausgeübt werden. So war es auch in den Ostkantonen. Natürlich waren, wie üblich, individuelle Gesinnungen komplex und verschiedene Ansichten wurden von ein und derselben Person vertreten. Die meisten Einwohner nahmen so zwar nicht die NS-Ideologie als Ganzes an, aber sie blieben deutschgesinnt. Von den Einwohnern haben allein die Sozialisten ihren Wunsch einer Rückkehr nach Deutschland totgeschwiegen, indem sie an die Parteigenossen dachten, die in Konzentrationslagern ihr Leben verbrachten. Im Jahr 1935 wurden vier Führer des Heimatbundes, darunter der frühere Chef der Christlichen Volkspartei, von den belgischen Behörden gemäß dem schon erwähnten Gesetz entbürgerlicht und ausgewiesen. Zur gleichen Zeit wurden in Frankreich elsässische Autonomisten verurteilt. Als Vergeltungsmaßnahme stellte die Christliche Volkspartei bei den nächsten Wahlen 1936 keinen einzigen Kandidaten auf und bat ihre Anhänger, die Heimattreue Front zu wählen. Diese wiederum warb um Stimmenthaltung! Ergebnis: Eine absolute Mehrheit der Wähler enthielt sich! Bei den abgegebenen Stimmen erhielt die Katholische Partei 53 %, die Sozialistische Partei 12,3 % und die neue, rechtsradikale wallonische Partei, Rex genannt, 26,4 %. In Brüssel und Wallonien hatte diese Partei auch Erfolg, wie in Flandern die VNV (Vlaamsch Nationaal Verbond: Flämischer Nationaler Verband), die nach der Unabhängigkeit Flanderns strebte, die Belgiens Ende bedeutet hätte. Eine kleine Gruppe um den kulturellen Verein D-Vlag (Duitsch-Vlaamsche Arbeidsgemeenschap: Deutsch-Vlämische Arbeitsgemeinschaft) verlangte sogar den Anschluss Flanderns an Deutschland, hinter dem Schilde germanischer Brüderlichkeit. Dabei sei ein Wortspiel erwähnt: D-Vlag = Deutsche Flagge. Belgiens Zukunft war also trübe. Doch bei den folgenden Wahlen 1939 fielen die radikalen Parteien spürbar zurück. Sicherlich aus Angst vor den faschistischen Regimen und der Gefahr eines neuen Krieges. In den Ostkantonen erhielten 1939 die drei großen belgischen Parteien insgesamt rund 44 %: die Katholiken 36,8 %, die Sozialisten nur noch 4 % und die Liberalen 3 %. Immerhin wird die Heimattreue Front mit 45,1 % der Stimmen die stärkste Partei. Dies lag weit unter den Wahlergebnissen anderer sog. Volksdeutscher Parteien, wie etwa der Sudetendeutschen Partei in der Tschechoslowakei, die über 80 % der deutschen Stimmen buchte. Eine Erklärung mag zum Teil darin liegen, dass die tief katholische Bevölkerung in den Ostkantonen nicht besonders vom NS-Regime angelockt wurde. Auch in Bayern und dem Rheinland hatte vor 1933 die NSDAP die geringsten Wahlergebnisse erhalten.

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Am 10. Mai 1940 wurde doch die deutsche Wehrmacht mit Kaffee und Schokolade feierlich empfangen, Kirchenglocken läuteten und der deutsche Einmarsch wurde als „Tag der Befreiung“ gefeiert und anschließend zelebriert. Schon am 18. Mai 1940 wurden Eupen und Malmedy ins Reich wieder eingegliedert und es wurde laut proklamiert, das Unrecht der falschen Volksabstimmung sei damit endgültig gelöscht. Am Tage nach der belgischen Kapitulation, am 29. Mai 1940, wurden rechtswidrig auch zehn altbelgische Gemeinden inkorporiert: Aubel, das Montzener Land und das Bocholtzer Land. Jene Gemeinden hatten niemals Deutschland angehört und waren Belgiens Bestandteil seit dessen Entstehung. Das Unrecht, das nach deutscher Auffassung vorgeworfen werden durfte, war die bisherige betriebene Assimilationspolitik und teilweise Französierung. Seltsamerweise wurde das Areler Land, dessen Verhältnisse ähnlich waren, nicht von Deutschland annektiert. Es mag sein, dass die Stellung von Arel als Provinzhauptstadt eine Rolle spielte; ohne nähere Forschungen ist dies nur eine persönliche Meinung. Eine geographische Trennung war jedenfalls nicht mehr vorhanden, da auch das Großherzogtum Luxemburg sowie Elsass-Lothringen angeschlossen wurden. Die annektierten Gebiete wurden wie das übrige „Großdeutsche Reich“ verwaltet, das in Gaue aufgeteilt war, an deren Spitze je ein Gauleiter stand. Eupen-Malmedy zusammen mit den erwähnten altbelgischen Gemeinden wurde dem Gau Köln-Aachen angegliedert (das Großherzogtum Luxemburg dem Moselland, Lothringen der Westmark, das Elsass an Baden). Alle NS-Organisationen wurden eingeführt (wie Hitler-Jugend usw.) und strikte Verdeutschungsmaßnahmen bei Anderssprachigen durchgeführt, eine Art Jakobinismus, einmalig in der deutschen Geschichte. Anfangs lief alles ohne große Probleme, denn es ist ja angenehmer, plötzlich auf der Seite der Sieger zu sein und ansprechende Privilegien zu genießen. So wurden einerseits zum Beispiel alle Kriegsgefangenen aus den annektierten Gebieten sofort entlassen und nur sehr wenige unter den Nichtdeutschgesinnten protestierten aus patriotischen Gefühlen dagegen. Andererseits war der Glaube an einen endgültigen deutschen Sieg weit verbreitet: Der Krieg sollte bald enden. Bei der Zivilbevölkerung bedeutete es eine Zuneigung zur Anpassung; bei den verbliebenen Kriegsgefangenen die Aussicht auf eine schnelle Heimkehr. Später verbreitete sich die Hoffnung auf einen raschen Sieg der Alliierten mit dem Vorbehalt, dass die US-Amerikaner am schnellsten kommen: im Januar 1945 flüchteten in Ostpreußen viele Kriegsgefangene zusammen mit Zivilisten vor der Roten Armee nach Westen, darunter mein Vater, der einen Pferdewagen voller Kinder und Frauen selber fuhr. Aber der Krieg dauerte länger als geplant und der Russlandfeldzug führte zu einer Wende: Durch den Führer-Erlass vom 23. September 1941 mussten auch junge Männer aus den „Westmarken“ des Reiches für ihr neues Vaterland kämpfen und ihr Blut opfern. Damit erfolgte allmählich ein Gesinnungswandel. Von den 8500 Rekruten (darunter 700 Freiwillige) aus den Ostkantonen kamen etwa 2000 junge Männer ums Leben oder verschwanden. Das brachte tiefe Erbitterung mit sich und eine antideutsche Gesinnung brach aus.

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Gauleiter von Köln-Aachen war damals Josef Grohé (seit 1922 NSDAP-Mitglied). Er hegte weitere Annexionspläne bis Stablo und Vielsalm, und sogar bis Sint Pieters im Vuren-Gebiet. Er wurde wegen seiner Hilfe für die Bevölkerung nach Bombardierungen ausgezeichnet. Am 19. Juli 1944 erreichte er den Höhepunkt seiner Karriere: Er ersetzte General von Falkenhausen in Brüssel mit dem Grad eines Reichskommissars für die besetzten Gebiete in Belgien und Nordfrankreich. Brüssel wurde aber schon am 3. September von den Alliierten befreit, so dass er nun wieder in seinem Gau tätig wurde, um den Widerstand gegen die kommende Invasion vorzubereiten. Nach Kriegsende wurde er vier Jahre in Belgien inhaftiert, dann an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert. Aufgrund eines Gnadengesuchs des nordrheinisch-westfälischen Ministerpräsidenten (CDU) und des Kölner Kardinals wurde er befreit. Er erhielt später eine Pension als früherer Staatsbeamter. Er starb 1987 in Köln-Brück. Zurück zum Kriege: Schon im Oktober 1944 waren die Amerikaner in Aachen. Im Dezember 1944 kam die deutsche Ardennen-Offensive und die Ostkantone hatten darunter sehr zu leiden: durch US-amerikanische Bombardierungen wurde Sankt Vith total zerstört. Kämpfe gab es noch im Januar 1945. Dann fiel das Gebiet endgültig in die Hände der Alliierten. 3. Belgische politische Wandlungen (1945 – 2017) In Potsdam wurde im Juli-August 1945 beschlossen, dass Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 wiederhergestellt werden sollte (einzige Ausnahme: Der nördliche Teil Ostpreußens mit Königsberg sollte zu Russland kommen). So fiel Eupen-Malmedy an Belgien zurück. Wie verhielt sich der belgische Staat gegenüber der Bevölkerung von Eupen-Malmedy? Seitens der belgischen Behörden war der Deutschenhass wieder sehr lebhaft, gepaart mit Rachegefühlen. In den Ostkantonen wurde dies besonders spürbar: Viele Einwohner wurden als Landesverräter betrachtet und behandelt! Rund 26 % der Bevölkerung waren wegen „Kollaborationsaktivitäten“ verdächtigt. Im Vergleich dazu: 4,1 % im restlichen Belgien. Bis 1947 wurden 2,41 % der Bevölkerung gerichtlich verurteilt (gegenüber 0,68 % im restlichen Belgien). Die Strafen erstreckten sich vom Todesurteil bis zur Ausbürgerung. Doch beruhigte sich bald die Lage. Und ein Geisteswechsel war vorhanden: Die meisten Einwohner forderten nicht mehr eine Rückkehr nach Deutschland, wo übrigens die Lage katastrophal war. In belgischen politischen und militärischen Kreisen wurden wieder große Annexionspläne gehegt. Ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg wurden sie im Einvernehmen mit Frankreich entworfen. Und wieder war von der Grenze am Rhein die Rede: Das Gebiet von Aachen bis Köln mit der Mosel als Südgrenze sollte die „zehnte Provinz“ Belgiens werden. Das Projekt wurde vom katholischen Politiker Pierre Nothomb sowie dem sozialistischen Außenminister Spaak gefördert. Dieser aber änderte seine Ansichten, indem er den Europa-Gedanken immer mehr in den Vordergrund rückte.

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Weitere Hindernisse kamen hinzu: Einerseits gab es Streitigkeiten mit Holland, das sich bis zur Weser erstrecken wollte, über die Festlegung der künftigen belgisch-holländischen Grenze auf deutschem Gebiet hinaus; andererseits sollte ein Großteil der linksrheinischen Bevölkerung auf die andere Rheinseite gebracht werden, was die Schwierigkeiten der anglo-amerikanischen Besatzungsmächte erheblich vergrößert hätte, da sie schon etwa 16 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene empfangen und ernähren mussten. Die Ambitionen sollten bescheidener werden: Schließlich wurden im März 1949 aus den beanspruchten Gebieten nur einige Ortschaften an Belgien abgetreten: Die deutschen Dörfer westlich von der Vennbahn sowie Rötgen südlich von Aachen und die Gegend um Losheim. Aber überraschenderweise erklärte die belgische Regierung schon am 15. April 1949, also noch vor der Konstituierung der Bundesrepublik, sie wolle auf einen Großteil des Territoriums zugunsten Deutschlands verzichten; daher blieb nur die Losheimer Gegend in belgischer Hand, unter der Militärverwaltung von General Bolle. Deswegen wurde sie von den Einwohnern scherzhaft „Bollenien“ genannt. Im Jahr 1956 wurde schließlich ein Grenzvertrag zwischen Belgien und der Bundesrepublik unterzeichnet und eine endgültige Grenze durch Gebietsaustausch festgelegt. Am 28. August 1958 trat er in Kraft und Losheim wurde wieder deutsch: Das war das Ende Bolleniens. Kurz zuvor hatten Losheimer Bauern auf dem Viehmarkt in Weismes bei Malmedy alle Rinder gekauft, die auch bald deutsch wurden, aber mit einem um 50 % höheren Preis. Ein gutes Geschäft! Seither ist die Vennbahn zum Radfahrerweg geworden, immer noch belgisch, mit auf beiden Seiten deutschen Ortschaften. Nach vielen Säuberungsjahren und Assimilationsversuchen kam das Wendejahr 1963. Dem Wunsch der Flamen entsprechend wurde im Rahmen einer belgischen Staatsreform eine Sprachgrenze zwischen Flandern und Wallonien gesetzlich festgelegt, wo beiderseits Niederländisch bzw. Französisch die einzige Amtssprache wurde, indem ein doppelsprachiges Statut für Groß-Brüssel vorgeschrieben wurde. So wurde eine deutliche administrative Trennung geschaffen, wie der deutsche Militärgouverneur General von Bissing sie schon 1917 beschlossen hatte. Dabei wurden die Ostkantone nicht vergessen: Die Kreise Eupen und Sankt Vith erhielten Deutsch als Amtssprache, der Kreis Malmedy Französisch; in jedem Kreis wurden sog. Fazilitäten eingerichtet, das heißt die Möglichkeit für die Anderssprachigen ihre eigene Sprache weiter zu benutzen. Diese Spracherleichterungen wurden von der Bevölkerung in unterschiedlicher Weise wahrgenommen: Von den Französischsprachigen voll und ganz, von den Deutschsprachigen kaum. In Altbelgien hingegen ist seit Ende des Zweiten Weltkriegs Französisch die einzige Amtssprache. Infolge dieser Staatsreform von 1963 spalteten sich in den nächsten Jahren die belgischen Parteien in flämische und frankophone Parteien. Gleichzeitig forderten Flamen immer mehr kulturelle Selbständigkeit, während die Wallonen immer mehr nach wirtschaftlicher Autonomie strebten.

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Daraufhin gab es seit 1970 eine Reihe von Verfassungsänderungen als Resultat von Kompromissen. So wurden drei Gemeinschaften mit Kompetenzen über die dort lebende Bevölkerung (Unterrichtswesen, Gesundheitswesen usw.) gegründet: Die flämische Gemeinschaft (für Flandern und die Brüsseler Flamen), die „französische“ Gemeinschaft (für Wallonien und die Brüsseler Frankophonen), die deutschsprachige Gemeinschaft (für die Kreise Eupen und Sankt Vith). Bemerkenswert ist die Bezeichnung „französisch“: Französischsprachige Gemeinschaft wäre besser gewesen. Die dritte Gemeinschaft ihrerseits wollte sich Deutsche Gemeinschaft nennen, was abgelehnt wurde, um die Zugehörigkeit zu Belgien zu betonen; sie hatte ihrerseits die anderen Gemeinschaften zuerst gebeten, auch Sprachenbezeichnungen zu verwenden, was diese aber ablehnten. Parallel dazu wurden drei Regionen gegründet: Die flämische Region6, die Brüsseler Region7 und die wallonische Region8, welche die deutschsprachige Gemeinschaft einschloss. Deren Kompetenzen betreffen materielle Dinge (Verkehrswesen, Handel und Gewerbe, usw.) Im Jahr 1970 wurde ein Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaft mit einigen kulturellen Befugnissen errichtet. Im folgenden Jahr wurde die Partei der Deutschsprachigen Belgier gegründet, die mehr Autonomie verlangte. Schließlich ist Belgien seit dem Jahre 1992 formal ein Bundesstaat. Zum einen besitzt die Deutschsprachige Gemeinschaft Befugnisse über personenbezogene Angelegenheiten, das heißt über kulturelle Angelegenheiten, das Unterrichtswesen sowie die Zusammenarbeit zwischen den belgischen Gemeinschaften und internationale Zusammenarbeit in den erwähnten Angelegenheiten. Es besteht ein Sender in deutscher Sprache: der Belgische Rundfunk. Heutzutage steht der Deutschsprachigen Gemeinschaft außerdem die Möglichkeit zu, gewisse Kompetenzen der Wallonischen Region selbst auf ihrem Gebiet auszuüben. Aus diesem Grunde ist die Deutschsprachige Gemeinschaft ebenfalls zuständig für die Beschäftigungspolitik (2000) und die Gemeindeaufsicht und -finanzierung (2005). Ein Parlament, für eine Dauer von fünf Jahren gewählt, besteht aus 25 Vertretern. Die Prodeutschsprachige Gemeinschaft (ProDG), gegründet 2009, hat die Partei der deutschsprachigen Belgier ersetzt. Seit 2014 ist deren Leiter Oliver Paasch Ministerpräsident. Ob die Bevölkerung zufrieden ist, ist fraglich. Man könnte es wohl glauben, vor allem weil die Gemeinschaft 1990 den 15. November zum Feiertag bestimmte. Es ist nämlich der Feiertag der belgischen Dynastie. Die Einwohner betonen gerne, sie 6 Die Flämische Region umfasst fünf Provinzen: Antwerpen (Hauptstadt Antwerpen) Lim burg (Hasselt), Ostflandern (Gent), Flämisch-Brabant (Löwen), Westflandern (Brügge). 7 Die Region Brüssel-Hauptstadt gilt als provinzfrei. Sie ist deckungsgleich mit der Region Brüssel-Hauptstadt. 8 Die Wallonische Region umfasst ebenfalls fünf Provinzen: Hennegau (Mons), Lüttich (Lüttich), Luxemburg (Arlon), Namur (Namur), Wallonisch-Brabant (Wavre).

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seien die besten Belgier, weil sie weder Flamen noch Wallonen seien und außerdem deutscher Abstammung wie die königliche Familie. Heutzutage möchten manche dieses Datum durch den 20. September ersetzen, mindestens für 2020, einhundert Jahre nach der Eingliederung der Ostkantone; aber dieser Vorschlag ist sehr umstritten. Seit März des Jahres 2017 benannte sich die deutschsprachige Gemeinschaft um. Die offizielle Bezeichnung lautet jetzt Ostbelgien, was übrigens anderen Belgiern lächerlich und falsch vorkommt: Wenn im Wetterbericht von Ostbelgien die Rede ist, geht es um ein viel breiteres Gebiet, das die Provinzen Limburg, Lüttich und Luxemburg umschließt. Außerdem ist diese Neubenennung verfassungswidrig, denn es bedarf einer Zweidrittelmehrheit im Bundesparlament. Gleiches gilt für die neue Benennung der französischen Gemeinschaft: die Föderation Wallonien-Brüssel. Wie wäre es, wenn Belgien aufgelöst würde? Die Zeitung „Grenz-Echo“ veröffentlichte 1992 die Ergebnisse einer Umfrage: 48 % der deutschsprachigen Bevölkerung möchten in Wallonien bleiben, 22 % wünschen eine Eigenständigkeit, 22 % wollen eine Angliederung an das Großherzogtum Luxemburg, nur noch 4 % eine Angliederung an Deutschland. Das steht im Widerspruch mit dem, was ein ehemaliger Schüler, der die Nachfolge meiner Stelle als Geschichtslehrer antrat, mir neulich erzählte: Als er vor zehn Jahren in Löwen studierte, hielt der damalige Ministerpräsident Karlheinz Lambertz einen Vortrag, und darin habe er behauptet, dass die Bevölkerung ihre Rückgliederung an Deutschland verlangen könnte, wenn die deutschsprachige Gemeinschaft eine vollberechtigte vierte Gemeinschaft (das heißt von der wallonische Bevormundung befreit) wäre. Leider gibt es keinen schriftlichen Beweis von dieser Äußerung. Immerhin ist wohl bekannt, dass der tiefste Wunsch der Bevölkerung heute gerade darin besteht, eine eigene Gemeinschaft zu sein. Die Flamen hätten keinen Einspruch dagegen, die Wallonen aber wollen nichts davon hören. IV. Fazit Heute gilt die deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien mit den Dänen in Nordschleswig und den Sorben bei Cottbus als eine der am besten geschützten Minderheiten in Europa. Ganz anders ist die Situation in Elsass-Lothringen, wo die Einwohner sich ganz assimilieren ließen und sich oft als die besseren Franzosen ausgeben. In den Ostkantonen wurde die volksdeutsche Zugehörigkeit aufgegeben, aber die deutsche Sprache und die deutschen Sitten wurden bewahrt, im Gegensatz zu der altbelgischen deutschen Gemeinschaft. Anders war es in Südtirol, wo stets proklamiert wird, dass das Land seit 1200 Jahren deutsch sei und Denkmäler zu Ehren der Soldaten errichtet wurden, die für das Vaterland gefallen sind. Hier ist natürlich nicht Italien gemeint.

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Nicht alle Minderheiten sind der luxemburgischen Devise gefolgt: „Mir wëlle bleiwe wat mir sinn“ (Wir wollen bleiben, was wir sind). * Abstract Jean-Marie Godard: The Annexation of Eupen-Malmedy to Belgium in 1919. Return to the Belgian Fatherland or Mere Annexation? (Die Angliederung von Eupen-Malmedy an Belgien im Jahre 1919. Heimkehr ins belgische Vaterland oder bloße Annexion?), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 2 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 2), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 15 – 34. In the Treaty of Versailles Germany renounces in favour of Belgium all rights and titles over the territory of Prussian Moresnet situated on the west of the road from Liège to Aix-la-Chapelle. Germany also had to renounce in favour of Belgium all rights and titles over the territory comprising the whole of the Kreise of Eupen and of Malmédy. During the six months after the coming into force of the treaty, registers have been opened by the Belgian authority at Eupen and Malmédy in which the inhabitants of the said territory can express in writing the desire to remain wholly or partially under German sovereignty. The results of this public expression of opinion should be communicated by the Belgian Government to the League of Nations, and Belgium was obliged to accept the decision of the League. Despite justified protests of the German government, on 20 September 1920 the League of Nations approved the results of the vote. Eupen-Malmedy was thus legally incorporated into Belgium. The relationship between Germany and Belgium was therefore tense for a long time. Today, the German-speaking community in Belgium with the Danes in North Schleswig and the Sorbs near Cottbus are one of the best protected minorities in Europe. Quite different is the situation in Alsace-Lorraine, where the inhabitants were completely assimilated and often posing as the better French. In the eastern cantons, the ethnic German affiliation was abandoned, but the German language and the German customs were preserved, in contrast to the old Belgian German community. It was different in South Tyrol, where it is always proclaimed that the country has been German for 1200 years and that monuments have been erected in honor of the soldiers who died for their homeland. Of course, this does not mean Italy. Not all minorities have followed the Luxembourgish motto: „Mir wëlle bleiwe wat mir sinn“ (We want to stay what we are).

Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die baltischen Staaten Von Jurgita Baur I. Einführung Rund siebzehn Millionen Menschen verloren im Ersten Weltkrieg ihr Leben. Soldaten und Zivilisten starben nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika, dem Nahen Osten und Asien. Er war der bis dahin größte und schrecklichste Krieg der Geschichte. Ausgelöst wurde er durch das Attentat von Sarajevo und die Kriegserklärung Österreich-Ungarns gegenüber Serbien am Dienstag, den 28. Juli 1914. Bereits im August befanden sich Deutschland und Österreich-Ungarn im Krieg gegen die verbündeten Staaten Frankreich, das Vereinigte Königreich und Russland. Die Kriegsbeteiligung weiterer Länder sollte im Laufe des Konflikts bis zum endgültigen Waffenstillstand am 11. November 1918 folgen. Mit dem Ersten Weltkrieg erlosch auf drastische und dramatische Weise jedwede romantische Vorstellung vom Krieg. Die Realität an der Front hatte mit einem heldenhaften Kampf nichts mehr gemeinsam. Der Kriegsalltag sowie verbitterte und blutige Kämpfe erstickte die anfängliche Kriegsbegeisterung schnell. Das Zeitalter der technischen Modernisierung und Totalisierung begann. Die Gewalt wurde im Verlauf des Krieges hin zum industrialisierten Massentod perfektioniert.1 Die Einführung immer neuer Kriegstechniken – in Form des ersten Luft-, U-Boot- und Gaskrieges – prägten alle nachfolgenden Konflikte. Nicht grundlos gilt der Erste Weltkrieg durch seine bis in die jüngste Vergangenheit nachwirkenden Folgen als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“.2 Auch Litauen blieb von der Grausamkeit des Krieges nicht verschont. Bereits seit vielen Epochen kämpfte das Land mit einer Einwohnerzahl wie Berlin leidenschaftlich um seine Unabhängigkeit. Ein Kampf von David gegen den sowjetischen Goliath. Die Verstrickungen des Ersten Weltkrieges sollten dem aufmüpfigen kleinen Staat allerdings, wie auch seinen engen Nachbarn Estland und Lettland, zu seiner Staatsgründung im Jahr 1918 verhelfen.

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https://www.welt.de/themen/erster-weltkrieg/ (zuletzt aufgerufen: 1. 5. 2018). https://www.welt.de/themen/erster-weltkrieg/ (zuletzt aufgerufen: 1. 5. 2018).

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II. Vorgeschichte Nach dem Selbstverständnis der baltischen Völker reicht ihre Abstammung bis auf die Ureinwohner des Landes zurück. Diese lebten zunächst in verschiedenen Stämmen getrennt und wuchsen schließlich durch gemeinsame Bräuche und Sitten zu größeren ethnischen Einheiten zusammen.3 Die erste Erwähnung der Litauer als „Litua“ findet sich in den Quedlinburger Annalen aus dem 11. Jahrhundert. Die Historie Estlands und Lettlands stellt sich anders da. Esten und Letten können sich auf nur zwei Jahrzehnte staatlicher Selbständigkeit zwischen den beiden Weltkriegen berufen, währenddessen die Litauer bereits im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ein bedeutungsvolles eigenes Staatswesen entwickelten.4 Aus dem nationalen Erwachen im 19. Jahrhundert trat besonders in Litauen die nationale Bewegung erstarkt hervor. Im Jahr 1896 wurde in Vilnius die Litauische Sozialdemokratische Partei gegründet. Das erste Parteiprogramm forderte die potenzielle Errichtung einer demokratischen Republik Litauen, von der Unterdrückung jeder anderen Nation befreit. Unter dem Druck der revolutionären Bewegungen unterzeichnete der Zar das sogenannte Oktober-Manifest, welches der Bevölkerung bürgerliche und politische Rechte einräumte und ihr eine eigene gewählte Nationalversammlung versprach.5 Litauische Nationalisten beriefen einen Kongress in Vilnius ein, in welchem sie eine Resolution mit der Forderung der Schaffung eines autonomen litauischen Staates verabschiedeten.6 Erst mit dem erneuten Unabhängigkeitskampf 1918 verläuft die litauische Geschichte parallel zur estnischen und lettischen.7 Der Begriff der „baltischen Staaten“ entstand erst am Ende des Ersten Weltkrieges und wird als Ausdruck einer Schicksalsgemeinschaft besonderer Art verstanden. Die Ähnlichkeit bei Entstehung und dem Niedergang des souveränen litauischen, lettischen und estnischen Staates prägt das Bild der baltischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Erst mit Wiederherstellung ihrer Unabhängigkeit 1918/19 betraten die drei Länder die europäische Bühne. Von diesem Zeitpunkt an verschmolzen die

3 G. von Pistohlkors, Die historischen Voraussetzungen für die Entstehung der drei baltischen Staaten, in: B. Meissner (Hrsg.), Die baltischen Nationen: Estland, Lettland, Litauen, 2. Aufl., 1991, S. 11; J. Baur, Die Angst der baltischen Staaten vor Russland mit Blick auf die Krim-Krise, in: G. Gornig/A. A. Michel/Chr. Bohle (Hrsg.), Territoriale Souveränität und Gebietshoheit. Selbstbestimmungsrecht und Sezession aus interdisziplinärer Sicht, 2015, S. 50. 4 M. Garleff, Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit: Die baltischen Staaten, in: J. Elvert/M. Salewski (Hrsg.), Der Umbruch in Osteuropa, 1993, S. 163 (166). 5 Nikolaus II.: Oktobermanifest. 30. 10. 1905, in: Themenportal Europäische Geschichte (2006), unter: https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/artikel-3848 (zuletzt aufgerufen: 1. 5. 2018). 6 P. van Elsuwege, From Soviet Republics to EU Member States, 2008, S. 14. 7 M. Garleff (Anm. 4), S. (163) 166.

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Wege der drei Staaten und führten zum Verständnis der „baltischen Staaten“ als europäische Subeinheit.8 Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts herrschten sprachlich, kulturell und historisch nur wenige Gemeinsamkeiten, abgesehen von der territorialen Nachbarschaft und Zugehörigkeit zum russischen Zarenreich.9 III. Erster Weltkrieg und seine Folgen 1. Außenpolitik der baltischen Staaten Die Gründung der baltischen Staaten im Jahr 1918 wurde erst durch die Folgen des Ersten Weltkrieges möglich.10 Zu Beginn des Krieges schien die Idee der nationalen Autonomie noch weit entfernt. Die drei Staaten waren in unterschiedlichem Maße von den kriegerischen Handlungen zwischen West und Ost betroffen. Nach der Besetzung Litauens durch deutsche Truppen 1915 und dem Austritt aus dem Wirtschaftsverband des Russischen Reiches ergriff Litauen die Chance zum Ausbau der eigenen Staatlichkeit.11 Die Lage in Lettland und Estland stellte sich hingegen unterschiedlich dar. Durch Lettland verlief die Frontlinie zwischen Deutschland und Russland. Im Jahr 1915 besetzte die deutsche Armee den westlichen Teil des Landes. Estland hingegen gehörte bis 1917 weiterhin zum russischen Zarenreich. Auf estnischem Territorium fanden daher keine Kämpfe statt. Aufgrund dieser unterschiedlichen Ausgangsbedingungen hatten Litauen, Lettland und Estland verschiedene Ansprechpartner für ihre Unabhängigkeitsforderungen. Die baltischen Nationen waren jedoch in ihren Bemühungen geeint während des Krieges ihre Autonomie zu stärken. Dass für die drei Länder überhaupt der Spielraum bis hin zu eigenen Staatsgründungen entstand, hängt eng mit dem Verlauf des Ersten Weltkrieges zusammen.12 Im Verlaufe des Konflikts wurden Litauen, Lettland und Estland durch deutsche Truppen besetzt und eine Politik der Germanisierung vorangetrieben. Aufgrund der staatlichen Souveränität und des Selbstbestimmungsrechts der Völker konnte Deutschland die baltischen Staaten nicht offenkundig und direkt annektieren. Deshalb erhielten sie eine formale Selbständigkeit, wurden aber eng an das Deutsche Reich gebunden.13 Diese Zugehörigkeit spiegelte sich in der Unabhängig8 J. Tauber, Die Geschichte der baltischen Staaten bis 1945, in: M. Knodt/S. Urdze (Hrsg.), Die politischen Systeme der baltischen Staaten, 2012, S. 17. 9 Ebenda. 10 Th. Schmidt, Die Außenpolitik der baltischen Staaten. Im Spannungsfeld zwischen Ost und West, 2003, S. 33. 11 Ebenda. 12 J. Tauber (Anm. 8), S. 17. 13 Ebenda.

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keitserklärung Litauens aus dem Dezember 1917 wider, in welcher von einem ewigen Bündnis sowie einer Münz- und Militärunion die Rede ist.14 Die Besatzung wurde mit der Niederlage der deutschen Truppen im November 1918 beendet. Direkt nach dem Rückzug der Truppen nahmen die baltischen Staaten ihren Kampf um die Wiederherstellung der Unabhängigkeit wieder auf. Die Bedrohung durch Russland blieb jedoch allgegenwärtig und erschwerte das Vorhaben. Estland, Lettland und Litauen waren gefordert sich sowohl außen- als auch innenpolitisch neu auszurichten. Zusätzlich zum Ziel der großen Unabhängigkeit beschäftigte Litauen der territoriale Konflikt mit Polen um die Hauptstadt Vilnius. Selbst in dem Bewusstsein der litauischen Bevölkerung gab es unterschiedliche Auffassungen zur territorialen Zugehörigkeit der Stadt. Ein Lager berief sich auf die dominierenden polnischsprachigen Einwohner in Vilnius und die kulturellen sowie historischen Beziehungen zu Polen. Die andere Seite stellte die historische Rolle der Stadt bis in die Zeit des Großfürstentums Litauens in den Vordergrund.15 Für die litauischen Unabhängigkeitskämpfe spielte also nicht nur Russland, sondern auch Polen eine große Rolle. Mit deutscher Unterstützung gelang es Litauen die Gefahr der bolschewistischen Truppen zu neutralisieren. Die Stadt Vilnius geriet mehrmals unter die Macht verschiedener Besatzer bis sie im November 1920 endgültig von Polen beansprucht wurde. Die Zwischenkriegszeit war durch die Diskussion um die territoriale Zuordnung von Vilnius geprägt. Als größte Bedrohung für die Unabhängigkeit Estlands und Lettlands galten die Bolschewiki. Die Rote Armee beherrschte beinahe das gesamte Gebiet der beiden Länder. Die vorläufige Regierung in Estland traf dennoch den mutigen Beschluss für die eigene Unabhängigkeit zu kämpfen. So wurde eine eigene Armee aufgestellt, die sich gegen die Bolschewiki stellte. Im Februar 1919 gelang es schließlich, das estnische Territorium von der Roten Armee zu befreien. Die innenpolitische Stabilität in Lettland konnte nicht völlig aus eigener Kraft, sondern nur mit Hilfe der deutschen Freiwilligenverbände sichergestellt werden. Der Einsatz dieser Hilfe führte zu Spannungen zwischen Lettland und Deutschland. Ungeachtet all dieser schwierigen Umstände konnten Litauen, Lettland und Estland letztendlich ihre Unabhängigkeit erringen. Im Jahr 1920 wurden die Friedensverträge zwischen den baltischen Staaten und Russland unterschrieben, mit denen auch Russland ihre Selbständigkeit anerkannte. Im Friedensvertrag zwischen Russland und Litauen wurde festgehalten, dass Russland die litauische Unabhängigkeit mit all den dazugehörigen juristischen Folgen anerkennt und für immer auf alle ter-

14 A. Eidintas/V. Zˇ alys, Lithuania in European Politics: the Years of First Republic, 1918 – 1940, 1998, S. 24 ff. 15 A. E. Senn, The Emergence of Modern Lithuania, 1959.

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ritorialen Ansprüche verzichtet. Die damals errungene Souveränität der baltischen Staaten verlor bis heute niemals ihre Rechtskraft.16 Der Westen tat sich mit der Anerkennung der Unabhängigkeit Litauens, Lettlands und Estlands schwer. Die Westmächte glaubten weiterhin beharrlich an die Zukunft eines großen einheitlichen russischen Staates inklusive des Baltikums. Weitere Ursache für die zögerliche Anerkennung lag in der Zusammenarbeit zwischen Litauen und Deutschland sowie den territorialen Konflikten mit Polen. Auf der Pariser Friedenskonferenz bestand Polen darauf, dass Litauen an Polen angeschlossen werden soll. Eine Umsetzung der Forderung scheiterte an der Gegenwehr des Vereinigten Königreichs und der USA. Letztendlich wurden die baltischen Staaten im September 1921 in den Völkerbund aufgenommen. De jure wurde die Unabhängigkeit der drei Länder im Jahr 1922 anerkannt, nachdem Litauen der Internationalisierung der Memel zustimmte, so wie es der Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 vorsah.17 Das Memelland wurde nach Artikel 99 des Versailler Vertrags von 1919 mit Wirkung zum 10. Januar 1920 an die alliierten Mächte abgetreten.18 Der Unabhängigkeit der baltischen Staaten diente die günstige außenpolitische Lage. Nur durch die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und den Bürgerkrieg im Russischen Imperium wurde eine Grundlage für die erfolgreichen Unabhängigkeitserklärungen geschaffen. Zudem kam die Unterstützung von den USA und dem US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson und seinem geforderten Selbstbestimmungsrecht der Völker.19 Trotz der erreichten Unabhängigkeit blieb die Lage im Baltikum während der Zwischenkriegszeit angespannt. Nicht nur geographisch befanden sich die drei Staaten in der Zange zwischen der erstarkenden Sowjetunion und dem Deutschen Reich. Das Machtgebaren zwischen Russland und Deutschland gefährdete die Sicherheitslage. Die oberste Priorität der kleinen Staaten während der komplizierten geopolitischen Lage lag in dem Schutz der eigenen Souveränität. Zu diesem Zwecke setzten sich Litauen, Lettland und Estland für die Aufnahme in das internationale Staatenbündnis ein. 16 Mehr hierzu siehe: J. Baur (Anm. 3), Die Angst der baltischen Staaten vor Russland mit Blick auf die Krim-Krise, in: Gornig/Michel/Bohle, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit, S. 43 ff. 17 Vgl. dazu Art. 331 Versailler Friedensvertrag, Text: RGBl. 1919, S. 687 ff.; dazu Th. Schmidt (Anm. 10), S. 35. 18 Vgl. dazu G. Gornig, Das Schicksal des Memellandes seit dem Versailler Friedensvertrag, in: G. Gornig/A. A. Michel (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Teil 1. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Band 32, 2017, S. 149 ff. (153 ff.); ders., Das Memelland – gestern und heute. Eine historische und rechtliche Betrachtung, herausgegeben von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, 1991, S. 27 ff.; 36 ff. 19 Ebenda.

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In der Zwischenkriegszeit existierte jedoch nur der Völkerbund als Vorläufer der Vereinten Nationen als eine zwischenstaatliche Organisation, welche den eigenen Mitgliedern Schutz gewähren konnte. Er entstand als Resultat der Pariser Friedenskonferenz nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Kriegsverbot enthielt die Satzung des Völkerbundes20 nicht. Dieses wurde erst im Briand-Kellogg-Pakt vom 27. August 192821 völkervertraglich vereinbart. In Art. 16 der Völkerbundsatzung war das Prinzip der Beistandspflicht niedergelegt, wonach alle Mitgliedstaaten verpflichtet waren, sich im Falle einer Kriegshandlung gegen einen Mitgliedstaat an gemeinsamen Sanktionen gegen den angreifenden Staat zu beteiligen. Aus diesem Grund war die Organisation für die Außenpolitik der baltischen Staaten enorm wichtig. Ihren Zielen den Frieden, die internationale Abrüstung und ein System der kollektiven Sicherheit dauerhaft zu sichern, konnte die Organisation jedoch nicht gerecht werden. Die baltischen Staaten hegten die Hoffnung, dass sie der Völkerbund vor den potenziellen Eigeninteressen der Großmächte schützen würde. Litauen sah konkrete Bedrohungen durch Polen aufgrund des Streits um Vilnius und durch deutsche Territorialansprüche des Memellandes. Litauen betrachtete das Memelland als litauisches Territorium, welches durch den Versailler Vertrag vom Deutschen Reich abgetrennt und unter die Verwaltung des Völkerbunds mit französischem Schutz gestellt wurde.22 Am 8. Mai 1924 wurde das Autonomiestatut23 vom litauischen Parlament beschlossen, mit welchem das Memelland Litauen offiziell zugeordnet wurde. Da die litauische Regierung immer wieder in die Autonomie des Gebiets eingriff, verschlechterte sich die Beziehung zu Deutschland.24 Die Außenpolitik wurde somit durch territoriale Differenzen mit den zwei Großmächten Polen und Deutschland belastet. Da Polen Lettland im Kampf gegen die Sowjetunion unterstützte, wurde das Land, im Gegensatz zu Litauen, eher als Verbündeter eingestuft. Für den lettischen Staat galt Deutschland wegen seiner Annexionspläne im Ersten Weltkrieg als größte Bedrohung. Die Estländer sahen ihre Unabhängigkeit vor allem durch die Sowjetunion als gefährdet. Deutschland hingegen wurde wegen der geographischen Distanz nicht als große Gefahr empfunden. Lettland und Estland distanzierten sich von dem litauischen Konflikt mit Polen.

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Die Völkerbundsatzung ist Teil I des Versailler Friedensvertrages. Text: RGBl. 1919, S. 687 ff.; http://www.documentarchiv.de/wr/vv01.html (zuletzt aufgerufen: 1. 5. 2018). 21 Text: RGBl. 1929 II, S. 97. 22 Ebenda, S. 40. 23 Text: A. Rogge, Die Verfassung des Memelgebiets. Ein Kommentar zur Memelkonvention 1928, S. 251 ff. G. Gornig (Anm. 18), Das Memelland, S. 206 ff. 24 Dazu vgl. G. Gornig (Anm. 18), Das Memelland, S. 50 ff.

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Die internationalen Differenzen führten zur Unterzeichnung eines Nichtangriffsund Konsultationspakts zwischen Polen, Finnland, Estland und Lettland im Jahr 192225. Litauen boykottierte seinerseits alle Gespräche mit polnischer Teilnahme. Eine außenpolitische Abstimmung innerhalb der baltischen Staaten konnte unter diesen Umständen nicht stattfinden. Der Streit um Vilnius verfügte über eine internationale Dimension und wirkte sich auch auf andere Beziehungen aus.26 Aufgrund des angespannten Verhältnisses zu Polen wurde Litauen die wichtigste Zielscheibe der sowjetischen Außenpolitik. Am 18. September 1926 unterzeichneten Litauen und die Sowjetunion einen Nichtangriffsvertrag27. In diesem erkannten die Sowjets an, dass „eine faktische Verletzung der litauischen Grenzen, die sich gegen den Willen des litauischen Volkes richtet, nicht die sowjetische Haltung bezüglich der territorialen Souveränität Litauens ändert, wie sie in Art. II und im Anhang des Friedenvertrages Litauens mit Russland vom 12. Juli 1920 festgelegt ist.“28 Diesem Nichtangriffspakt folgten am 8. Februar 1932 und 4. Mai 1932 die Nichtangriffsverträge mit Lettland und Estland.29 Die Konsequenzen des Ersten Weltkrieges spiegelten sich nicht nur in der Außensondern auch in der Innenpolitik der baltischen Staaten wieder. 2. Folgen des Ersten Weltkrieges für die Innenpolitik der baltischen Staaten Nach ihren negativen Erfahrungen mit den Bolschewiken verbündeten sich die Völker des Baltikums gegen die Sowjetunion und wendeten sich offen den politischen und kulturellen Traditionen des Westens zu. Innenpolitisch herrschte im Baltikum das Modell einer demokratisch-parlamentarischen Republik, in welchem die Parlamente über eine machtvolle Position verfügten. Ein Großteil der politischen Wortführer kam zu dieser Zeit aus der Bauernschicht. Es handelte sich um die erste Arbeitergeneration, die eine gewisse Bildung genoss. So taten sich neue bisher verborgene Kräfte in diesen sich neu definierenden Nationen auf, die entschlossen waren ihren Beitrag auf der großen Bühne der Weltpolitik zu leisten. Allerdings lag der Fokus nach dem Inkrafttreten der Friedensverträge zunächst auf den inneren Angelegenheiten der drei Länder. Zur Entwicklung einer eigenständigen und stabilen Wirtschaft musste eine Agrarreform implementiert werden. Die Motivation für die Realisierung einer solchen Reform war vielschichtig. 25 Vgl. auch R. Rotte, Stichworte zur Entwicklung des internationalen Systems 1648 – 1990/91: Skript zu den historischen Grundlagen der internationalen Beziehungen, 2014, S. 81. 26 J. Tauber (Anm. 8), S. 22. 27 Text: LNTS Bd. 60 S. 146. 28 Näher hierzu siehe: J. Baur (Anm. 3), Die Angst der baltischen Staaten vor Russland mit Blick auf die Krim-Krise, in: Gornig/Michel/Bohle, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit, S. 43 ff. (56 f.). 29 Texte: LNTS, Bd. 148, S. 126, und LNTS, Bd. 131, S. 297.

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Der erste und treibende Gedanke lag dabei in der Erschaffung einer neuen Gesellschaftsordnung. Das Land sollte auf einer gerechteren Grundlage neu verteilt werden. Den bisher weitestgehend besitzlosen Bauern sollten eigene kleine Ländereien zugesprochen werden, um die Diskrepanz zu den ehemaligen Gutsbesitzern zu beseitigen.30 Des Weiteren wurden die Bestrebungen auch als politisch relevant betrachtet und entsprechend gefördert. Die Agrarreform wurde als einzige wirksame Möglichkeit zur Bekämpfung der durch die Sowjetunion erzwungenen Sozialund Wirtschaftspolitik gesehen. Als weitere Motivation sollte ein Hauptproblem der baltisch-nationalistischen Politiker beseitigt werden. Es galt den politischen Einfluss von Mitgliedern der ausländischen Oberschicht in ihren Territorien zu eliminieren. Die geplante Umverteilung schien als effektiver Weg zur wirtschaftlichen und damit verbundenen politischen Schwächung entsprechender Einflussnehmer.31 Aufgrund dieses Selbstverständnisses als Nationalstaat in einem nationalistischen Sinne entstand ein Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen Ethnien. In Estland und Lettland wurden die bis dato führenden Positionen der deutschbaltischen und in Litauen der polnischsprachigen Oberschicht aufgehoben. Demzufolge hatten die Agrarreformen in den baltischen Staaten neben den wirtschaftlichen Zwecken auch ethnisch orientierte Absichten zum Ziel. Die Reformen verursachten zudem erhebliche Auswirkungen auf den Charakter des Landlebens. Im Rahmen des neuen Gesetzes wurden die traditionellen Ländergemeinschaften ähnlich wie in Russland durch die Stolypin-Agrarreformen32 aufgelöst. Dies führte zu einer radikalen Veränderung im Leben einer ländlichen Bevölkerung. Hinsichtlich der Zweckmäßigkeit dieser besonderen Maßnahmen gab es unterschiedliche Auffassungen. Während ihre Befürworter die Zunahme des allgemeinen Wohlstands auf Seiten der litauischen Bauern anführten, prangerten die Kritiker die gleichzeitigen schädlichen sozialen Auswirkungen der erzwungenen Isolation an. In allen drei baltischen Staaten wurde auf diese Weise das Ziel in Form der Entmachtung der Grundbesitzer erreicht. Weitere positive Ziele wie die Schaffung eines einheimischen „gesunden“ Bauernstandes konnten nicht realisiert werden.33 Die nun existierenden kleinen Bauernhöfe konnten mit der weltweiten wirtschaftlichen Entwicklung nicht mithalten. Als weiterer Negativeffekt wendete sich die politische Elite von der neuen Ordnung ab. Dies führte in allen drei Ländern zu tiefen Umbrüchen und zum Scheitern der demokratischen Staatsform.

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G. von Rauch, Geschichte der baltischen Staaten, 3. Aufl., 1990, S. 87. Ebenda. 32 Dazu J. Unterhuber, Agrarreform in Rußland: Fortschritte und Hemmnisse auf dem Weg zu einem marktwirtschaftlichen System, 1998, S. 13 f. 33 J. Tauber (Anm. 8), S. 20. 31

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In Lettland und Estland regierte in der Zwischenkriegszeit ein Drei-Parteien-System: nationalistische Liberale, agrarische Konservative und die Sozialdemokraten. In Litauen wurde dasselbe Model verfolgt. Allerdings gab es keine Balance zwischen den Parteien. Der fromme Katholizismus der indigenen Bevölkerung und die im Wesentlichen agrarische Struktur der Wirtschaft führten zur Vorherrschaft der Christlichen Demokratischen Partei, einer landwirtschaftlichen Vereinigung, in der die Kirche eine wichtige Rolle einnahm. Im Mai 1926 konnten aber die Linksparteien die Regierung in Litauen übernehmen. Durch die Unterdrückung der Christdemokraten verschlechterte sich das Stimmungsbild im Land. So kam es zum Putsch, der jedoch nicht den Christdemokraten, sondern einer bislang unbedeutenden Nationalpartei Tautininkai (die „Völkischen“), welche von dem späteren ersten Präsidenten der Republik Litauens Antanas Smetona gegründet wurde, nutzte. Nachdem Smetona das Parlament aufgelöst hatte, etablierte sich unter seiner unumstrittenen Vorherrschaft ein autoritäres Regime, das bis zum Juni 1940 in Litauen herrschte.34 Durch die litauische Verfassung aus dem Jahre 1928 erhöhte sich der Machtbereich des Präsidenten Smetona auf drastische Weise. Das Parlament trat in den Hintergrund und das Land wurde weitestgehend per Dekret regiert. In Lettland und Estland spielten vor allem die nationalsozialistische Bewegung in Deutschland und die durch die Agrarreform verursachte fehlende wirtschaftliche Entwicklung im Baltikum eine bedeutende Rolle. Auch in Lettland endete die Demokratie vor allem durch das Erstarken rechtsradikaler Kräfte. Die sogenannten Donnerkreuzler standen ideologisch in ihrer antisemitischrassistischen Ausrichtung den Nationalsozialisten nahe und bedrohten das bisherige System.35 Das nichtdemokratische Regime in den baltischen Staaten trug den Namen der Präsidialdiktatur. Ein besonderes Merkmal dieser demokratischen Krise zeigte sich darin, dass sich ausgerechnet die Befürworter der demokratischen Orientierung von 1918/19 zu den Führern der autoritären Regime aufschwangen. Dieser Umstand weist auf strukturelle Defizite hin, zugleich aber auch auf die Krisenanfälligkeit der noch ungefestigten demokratischen Ordnung. Die Kontinuität zwischen Staatsgründern und autoritären Herrscherfiguren legt zudem nahe, dass alle drei Systeme stark nationalistisch orientiert waren und somit dogmatisch einem idealtypischen Nationalstaat nacheiferten.36 Die inneren Unruhen im Baltikum und die erneut wachsende Rivalität zwischen der Sowjetunion und Deutschland gefährdete die jungen Nationen. Die Unabhängigkeit der drei Staaten sollte nicht lange Bestand haben. 34

Ebenda. Ebenda. 36 Ebenda. 35

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IV. Zweiter Weltkrieg und Eingliederung der baltischen Staaten in die Sowjetunion Nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland wurde die Sicherheitslage der baltischen Staaten erheblich beeinträchtigt. Der territoriale Konflikt um Litauens Klaipeda und das Vorhandensein von Deutschbalten in Estland und Lettland bildeten eine potenzielle Gelegenheit für die Aufnahme der baltischen Staaten in den deutschen Wirtschaftsraum. Ab 1935 geriet die baltische Außenpolitik immer stärker in den Wirbel der wachsenden Rivalität zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Die baltische Frage spielte in der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges eine bedeutsame Rolle.37 Sie bewahrte auch nach dem Krieg ihre politische Aktualität. Als Ausgangspunkt einer Kette von Interventionen, die das Gesicht der ostmitteleuropäischen Staatenzone verwandelte und die nationalstaatliche Struktur ganz Europas in Frage stellte, wurde sie zu einem Symbol der weltweiten Auseinandersetzung zwischen West und Ost.38 In der komplizierten internationalen Situation kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde zwischen Deutschland und der Sowjetunion der Molotov-Ribbentrop-Pakt39 vom 23. August 1939 unterschrieben. Durch die „Geheimen Zusatzprotokolle“40 wurden Finnland, Estland und Lettland der sowjetischen und Litauen der deutschen Einflusssphäre unter Berücksichtigung der litauischen Interessen im Gebiet Vilnius zugewiesen.41 In weiteren Geheimprotokollen zum deutsch-sowjetischen „Grenz- und Freundschaftsvertrag“ 1939 wurde schließlich auch Litauen nach „streng vertraulicher Aussprache“ der sowjetischen Interessensphäre zugesprochen.42 Die Sowjetunion übernahm schnell die Kontrolle über die ihr vom Vertrag mit Deutschland zugeordneten Gebiete. Im Sommer 1940 setzte der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw M. Molotov Litauen ein Ultimatum und forderte die Neubildung der Regierung und die Zu37 Näher hierzu siehe: J. Baur (Anm. 3), Die Angst der baltischen Staaten vor Russland mit Blick auf die Krim-Krise, in: Gornig/Michel/Bohle, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit, S. 43 ff. (56 ff.). 38 B. Meissner, Die Sowjetunion, die Baltischen Staaten und das Völkerrecht, 1956, Vorwort, XII. 39 Auch Hitler-Stalin-Pakt genannt. Text: RGBl. 1939 II, S. 968 f. Vgl. dazu G. Gornig, Der Hitler-Stalin-Pakt. Eine völkerrechtliche Studie, 1990. 40 Text: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918 – 1945. Serie D (1937 – 1945), Bd. VII. Die letzten Wochen vor Kriegsausbruch 9. August bis 3. September 1939 (ADAP VII), Nr. 229, S. 206 f., ferner: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918 – 1945. Serie D (1937 – 1945), Bd. VIII. Die letzten Kriegsjahre. Erster Band 4. September 1939 bis 18. März 1940 (ADAP VIII), Nr. 159, S. 129; ADAP VIII, Nr. 160, S. 129, auch G. Gornig (Anm. 39), Der Hitler-Stalin-Pakt, S. 125, 128 f. und 129. 41 G. von Rauch (Anm. 30), S. 198; P. van Elsuwege (Anm. 6), S. 30. 42 H. Schützler, Der Anschluß der baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland an die Sowjetunion 1940 und seine Folgen, in: UTOPIE kreativ, H. 95 (September) 1998, S. 24 ff. (25).

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stimmung zum sofortigen Einmarsch sowjetischer Truppen.43 Ähnliche Ultimaten bekamen auch Estland und Lettland. Da es keine Aussicht auf einen militärischen Erfolg gab, stimmten die baltischen Staaten den sowjetischen Forderungen zu. Die neu gegründeten Regierungen lösten das Parlament auf und ordneten Neuwahlen an, die in drei baltischen Republiken kurz darauf stattfanden.44 Die Festnahme der Oppositionsführer und das drohende Vorhandensein von Truppen der Roten Armee untergrub die demokratische Glaubwürdigkeit der neu gewählten Parlamente, welche im Anschluss die Mitgliedschaft in der Sowjetunion beantragten. Die Sowjetunion bestätigte die Anträge auf Eingliederung der baltischen Staaten in die Sowjetunion.45 In jeder der neuen Republiken startete Stalin eine Politik der Sowjetisierung.46 Im Juni 1941 brach Adolf Hitler den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt und startete die Operation „Barbarossa“47. Als die deutschen Truppen die baltischen Staaten erreichten, wurden sie als Befreier von der Bevölkerung empfangen. Litauische, lettische und estnische Nationalisten schlossen sich mit den Deutschen in der Hoffnung zusammen, dass die Unabhängigkeit der drei Staaten wiedererstellt wird. Das Bild von Hitler als „Befreier“ erhielt schnell einen erheblichen Dämpfer, als die wahren Auswirkungen der Rassenpolitik der Nazis deutlich wurden. Die deutsche Okkupation dauerte von 1941 bis 1944. Nach einem kurzlebigen Versuch von Estland seine Unabhängigkeit zurückzugewinnen, führte die Wiederherstellung der sowjetischen Herrschaft zu einer neuen Welle von Abschiebungen und einer verstärkten Politik der Sowjetisierung. Darüber hinaus wurden die eingegliederten Republiken gezwungen eine Reihe von Grenzänderungen zu übernehmen. V. Reaktionen auf die Eingliederung der baltischen Staaten in die Sowjetunion: Frage der Anerkennung Die Eingliederung des Baltikums in die Sowjetunion wurde von den meisten westlichen Ländern nicht de jure anerkannt.48 Insgesamt ist hierbei zwischen vier unterschiedlichen Haltungen der Staaten zu unterschieden. Eine kleine Anzahl von Staa-

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G. von Rauch (Anm. 30), S. 207. Ebenda, S. 212. 45 G. von Rauch (Anm. 30), S. 213; I. A. Smith/M. V. Grunts, The Baltic States: Estonia, Latvia, Lithuania, 1993, Introduction, XXX. 46 P. van Elsuwege (Anm. 6), S. 32. 47 Dazu etwa Chr. Hartmann, Unternehmen Barbarossa. Der deutsche Krieg im Osten 1941 – 1945, 2011; G. R. Ueberschär/W. Wette (Hrsg.), Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion – „Unternehmen Barbarossa“ 1941, 1991. 48 Näher hierzu siehe: J. Baur (Anm. 3), Die Angst der baltischen Staaten vor Russland mit Blick auf die Krim-Krise, in: Gornig/Michel/Bohle, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit, S. 43 ff. (60 ff.). 44

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ten akzeptierte die baltischen Staaten als Teil der Sowjetunion.49 Die Mehrzahl erkannte die Eingliederung nie de jure, aber de facto an. Die dritte Gruppe der Staaten äußerte sich nicht zur Frage der Anerkennung.50 Die letzte Haltung, die vor allem von den USA vertreten wurde, erkannte die Eingliederung der baltischen Staaten in die Sowjetunion weder de jure noch de facto an. Die Auffassung der USA stützte sich auf die Grundlage, dass die Geheimprotokolle des Molotow-Ribbentrop-Pakts unter dem militärischen Druck der sowjetischen Führung erzwungen wurden. Nur so kam es dazu, dass die baltischen Parlamente das Ultimatum akzeptierten, welches die Bildung von sowjetischen Regierungen verlangte. Dabei handelte es sich um eine offensichtliche Verletzung zweier Grundprinzipien des Völkerrechts, der Souveränität und der Selbstbestimmung.51 VI. Nationales Wiedererwachen und Wiederherstellung der Unabhängigkeit (1985 – 1991) Als Michail Gorbatschow 1985 zum neuen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ernannt wurde, begann eine neue Ära. Er startete die sogenannte Politik der Perestroika. Es gab viele verschiedene nationalistische Bewegungen. Die kommunistischen Parteien bekamen in den baltischen Staaten immer mehr Widerstand zu spüren.52 Im Jahr 1988 verabschiedete Estland ein Gesetz zur Änderungen und Ergänzung der Verfassung der estnischen Sowjetrepublik zusammen mit einer Souveränitätserklärung. In der neuen Verfassung der sowjetischen Republik Estland wurde die estnische Sprache als offizielle Sprache vorgesehen. Lettland und Litauen folgten dem estnischen Vorbild und erklärten knapp ein Jahr später ihre Souveränität. Sie begründeten diesen Schritt mit der Souveränitätserklärung Estlands, der unabhängigen Vergangenheit ihrer Republiken sowie der illegalen Eingliederung in die Sowjetunion. Die Geschichte der Eingliederung der baltischen Staaten in die Sowjetunion bildeten wiederkehrende und zentrale Themen in den Ansprüchen für die Souveränität und Unabhängigkeit, wie nach dem Ersten Weltkrieg.

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Zu diesen Staaten zählen Schweden, die Schweiz, die Niederlande und Neuseeland. Z. B. Finnland hat nie eine offizielle Mitteilung wegen der Frage der Anerkennung abgegeben. Vgl. L. Mälksoo, Illegal Annexation and State Continuity. The Case of the Incorporation of the Baltic States by the USSR, 2003, S. 122. 51 B. Meissner (Anm. 22), S. 194 ff. 52 Näher hierzu siehe: J. Baur (Anm. 3), Die Angst der baltischen Staaten vor Russland mit Blick auf die Krim-Krise, in: Gornig/Michel/Bohle, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit, S. 43 ff. (61 ff.). 50

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VII. Zerfall der Sowjetunion und der gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft Die Entwicklung in den baltischen Staaten wurde durch die revolutionäre Atmosphäre in Zentral- und Osteuropa nach dem Fall der Berliner Mauer beeinflusst. Insbesondere das Recht auf Selbstbestimmung inspirierte baltische Nationalisten, die Frage der nationalen Souveränität und Unabhängigkeit zu stellen.53 Die erste Zerfallserscheinung sowohl der Sowjetunion als auch der gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft war wohl das Ausscheiden des Baltikums aus dem sowjetischen Staatsverbund. Völkerrechtlich handelt es sich um die Beseitigung der rechtswidrigen Annexion der drei Staaten durch die Sowjetunion 1940.54 Im Juli 1990 erklärte Litauen als erste der Sowjetrepubliken seine Unabhängigkeit von Moskau. Der Oberste Rat stimmte für die „Erklärung über die Wiederherstellung der Unabhängigkeit des litauischen Staates“.55 Darin stand, dass „der Akt des Litauischen Rates vom 16. Februar 1918 und die Resolution der Verfassunggebenden Versammlung vom 15. Mai 1920 über die Wiederherstellung des demokratischen litauischen Staates ihre Rechtskraft niemals verloren haben und die Verfassungsgrundlage des litauischen Staates sind“.56 Estland und Lettland folgten dem Beispiel und beschlossen den Übergang zur Wiederherstellung unabhängiger Republiken einzuleiten. Im August 1991 begrüßten die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten herzlich die Wiederherstellung der nach dem Ersten Weltkrieg erlangten Souveränität und Unabhängigkeit der baltischen Staaten, welche sie im Jahr 1940 verloren.57 Noch im selben Jahr wurde Litauen Mitglied der Vereinten Nationen und begann seine Stellung als eigenständige Nation aufzubauen. Im Jahr 2004 traten Litauen sowie Estland und Lettland als vollwertige Mitglieder der NATO bei. Nur zwei Monate später wurden alle drei Länder in die EU aufgenommen.

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Näher hierzu siehe: J. Baur (Anm. 3), Die Angst der baltischen Staaten vor Russland mit Blick auf die Krim-Krise, in: Gornig/Michel/Bohle, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit, S. 43 ff. (61 ff.). 54 K. Schmid, Untergang und Entstehung von Staaten in Mittel- und Osteuropa. Neue Entwicklungen in Staats- und Völkerrecht, in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, 1993, S. 2. Vgl. auch G. Gornig/I. Rusu, Entstehung und Untergang von Staaten im Völkerrecht, in: Conferintei internationale. Statul s¸i Dreptul – Mutatii institutionale contemporane, Sibiu, 2006, S. 78 ff. 55 A. M. Klein/R. Lapiniene, Litauen feiert 20. Jahrestag der Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit, unter: http://www.kas.de/wf/doc/kas_19191 - 1522 - 1 - 30.pdf?100415093758 (zuletzt aufgerufen: 1. 5. 2018). 56 Akt des Obersten Rates der Republik Litauen „Über die Wiederherstellung des Litauischen Staates“ vom 11. 3. 1990, unter: http://www.verfassungen.eu/lt/wiederherstellungsakt91. htm (zuletzt aufgerufen: 1. 5. 2018). 57 Bulletin of the European Communities, No. 7/8, 1991, 1.4.23.

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VIII. Das Verhältnis zwischen Russland und den baltischen Staaten heute. Bestehende Streitpunkte nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeiten Noch heute ist das Verhältnis zwischen dem Baltikum und Russland von der Geschichte und wiederkehrenden Konflikten belastet.58 Aus Sicht des Kremls werden die Menschenrechte der russischen Minderheit vor allem in Estland und Lettland grob verletzt. Ein ähnliches Argumentationsmuster wurde zur Rechtfertigung der gewaltsamen Annexion der Krim vorgetragen. Moskau griff Tallinn und Riga scharf an und bezeichnete das „chronische Problem der Staatenlosigkeit“ in den beiden Ländern als „beschämend“ und „schändliches Phänomen“. Gemäß Russlands Interpretation entsprächen die Anforderungen für die Staatsbürgerschaft (Bestehen einer Sprachprüfung und einer Bürgerschafts-Prüfung) in diesen beiden Ländern sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Praxis nicht den internationalen Normen.59 Ein weiterer Streitpunkt ist die NATO-Mitgliedschaft der drei baltischen Staaten und ihre Rolle in der atlantischen Allianz. Aus russischer Sicht förderte die NATOMitgliedschaft die anti-russischen Bewegungen in Tallin, Riga und Vilnius. Die Tatsache, dass das Baltikum die neokonservative Regierung Washingtons unterstützte, machte es umso mehr zum Ziel Moskaus. Das Verhältnis Russlands zu Litauen ist verhältnismäßig besser als zu den anderen beiden baltischen Staaten. Eine Ursache hierfür ist die erfolgte mühelose Einbürgerung der russischen Minderheit. Ein weiterer pragmatischer Grund liegt darin, dass Litauen als Verbindung zur russischen Exklave Kaliningrad benötigt wird. Dies sorgt dafür, dass auch Moskau in gewisser Weise von Litauen abhängig ist und ein stabiles Verhältnis für beide Seiten von Interesse ist. Dieser Umstand führte unter anderem dazu, dass die russische Duma zusammen mit Litauen und der EU im Frühjahr 2004 den 1997 unterzeichneten Grenzvertrag mit Litauen ratifizierte.60 Dennoch ist die Beziehung zwischen Russland und Litauen sowie dem restlichen Baltikum wegen der unterschiedlichen geschichtlichen Interpretation, aber vor allem verschiedenen politischen sowie wirtschaftlichen Interessen im postsowjetischen Raum, insbesondere bei Energiefragen, als schwierig und angespannt zu betrachten. 58 Näher hierzu siehe: J. Baur (Anm. 3), Die Angst der baltischen Staaten vor Russland mit Blick auf die Krim-Krise, in: Gornig/Michel/Bohle, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit, S. 43 ff. (70 ff.). 59 H. Adomeit, Die baltischen Staaten, 2011, unter: http://www.bpb.de/internationales/euro pa/russland/47984/baltikum?p=all (zuletzt aufgerufen: 1. 5. 2018). 60 Auch mit Lettland (2007) und Estland (2011) schloss Russland Grenzverträge. https:// www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/071219-lett-russ-grenzvertrag/222708 sowie http:// www.baltikum-blatt.eu/estland/1702-putin-unterschreibt-estnisch-russischen-grenzvertrag (zuletzt aufgerufen: 1. 5. 2018).

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IX. Ausblick Neben all seinen Schrecken und Schatten führte der Erste Weltkrieg zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Unabhängigkeit Litauens, Estlands und Lettlands. Diese Freiheit wurde durch den Untergang des russischen und deutschen Kaiserreiches sowie das darauffolgende Machtvakuum geebnet. Die Konflikte zwischen dem Baltikum und Deutschland dauerten bis zum Ende der Nazi-Diktatur an. Während die heutige litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite˙ ein sehr enges Verhältnis zu Bundeskanzlerin Angela Merkel pflegt, sind die Beziehungen zum machthungrigen Nachbarn Russland heute noch belastet. Nach den erschreckenden Ereignissen in der Ukraine erscheint eine Entspannung der Lage als unrealistisch. Dass die Situation auch in Deutschland ernst genommen wird zeigt, dass seit Januar 2017 über 5.000 deutsche NATO-Soldaten im litauischen Raum stationiert wurden. Das kleine Land ist weiterhin fest entschlossen für seine Freiheit einzustehen und den europäischen, demokratischen Weg mit Überzeugung weiterzugehen. * Abstract Jurgita Baur: The Impact of World War I on the Baltic States (Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die baltischen Staaten), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 2 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 2), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 35 – 50. The concept of the “Baltic States” emerged only at the end of the First World War and is understood as an expression of a fateful community of a special kind. The similarity in the origin and decline of the sovereign Lithuanian, Latvian and Estonian states characterizes the image of Baltic history in the 20th century. Only with the restoration of their independence 1918/19 the three countries entered the European stage. From then on, the paths of the three states merged and led to the understanding of the “Baltic states” as a European subunit. The Baltic nations were united in their efforts to strengthen their autonomy during the First World War. In the course of the conflict, however, Lithuania, Latvia and Estonia were occupied by German troops and a policy of Germanization began. The occupation was ended with the defeat of the German troops in November 1918. Immediately after the withdrawal of the troops, the Baltic States resumed their fight for the restoration of independence. The threat of Russia, however, remained omnipresent and made the project more difficult. In addition to the goal of great independence, Lithuania was engaged in a territorial conflict with Poland concerning the capital, Vilnius. The West struggled to recognize the independence of Lithuania, Latvia and Estonia. The Western powers continued to believe in the future of a large unified Russian state, including the Baltic. Another reason for the hesitant recognition lay in the cooperation between Lithuania and Germany as well as the territorial conflicts with Poland. At the Paris Peace Conference Poland insisted that Lithuania be annexed to Poland. Implementation of the demand failed due to opposition from the United Kingdom and the United States.

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Finally, the Baltic States were admitted to the League of Nations in September 1921. De jure, the independence of the three countries was recognized in 1922, after Lithuania agreed to the internationalization of the river Memel, as envisaged by the Versailles Treaty of June 28, 1919. In the summer of 1940, Soviet Foreign Minister Vyacheslav M. Molotov gave Lithuania an ultimatum and demanded that Lithuania rebuild the government and agree to the immediate entry of Soviet troops. Similar ultimates were given to Estonia and Latvia. With no prospect of military success, the Baltic States agreed to Soviet demands. The newly formed governments dissolved parliament and ruled for new elections that took place in three Baltic republics shortly thereafter. The arrest of opposition leaders and the threat of Red Army troops undermined the democratic credibility of the newly elected parliaments, which subsequently applied for membership of the Soviet Union. The Soviet Union confirmed the requests for the incorporation of the Baltic States into the Soviet Union. In each of the new republics Stalin launched a policy of Sovietization. In July 1990, after the great upheaval in Europe and the fall of the Berlin Wall, Lithuania became the first of the Soviet republics to declare its independence from Moscow. The Supreme Council voted for the “Declaration on the Restoration of the Independence of the Lithuanian State”. It stated that “the act of the Lithuanian Council of 16 February 1918 and the resolution of the Constituent Assembly of 15 May 1920 on the restoration of the democratic Lithuanian state have never lost their legal force and are the constitutional basis of the Lithuanian state”. Estonia and Latvia followed the example and decided to initiate the transition to restoration as independent republics. While today’s Lithuanian President Dalia Grybauskaite˙ maintains a close relationship with German Chancellor Angela Merkel, her relations with power-hungry neighbor Russia are still burdened today. After the appalling events in Ukraine, a relaxation of the situation seems unrealistic. The fact that the situation is taken seriously in Germany shows that since January 2017 more than 5,000 German NATO soldiers have been stationed in Lithuania. The small country remains determined to stand up for its freedom and continue the European democratic way with conviction.

Die Folgen des Ersten Weltkriegs für Polen Von Adrianna A. Michel I. Einleitung Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ging der 123 Jahre andauernde Freiheitskampf der polnischen Nation zu Ende und der Traum von der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit erfüllte sich. In der Kriegszeit waren die Polen eine Nation ohne Staat. Bei der Versailler Friedenskonferenz saßen die Polen mit am Verhandlungstisch und hatten das Privileg, über ihr staatliches Schicksal mitzuentscheiden. Infolge des Versailler Vertrags waren die polnischen Gebiete wieder in einem souveränen polnischen Staat miteinander verbunden. Die Polen mussten auf die Wiedererlangung ihrer Staatlichkeit allerdings nicht bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und den Regelungen des Versailler Vertrages warten, denn mit der Schaffung eines Königreichs Polen durch die Mittelmächte im November 1916 wurde ein bedeutender erster Schritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit gesetzt. Damit war die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität die bedeutendste Folge des Ersten Weltkriegs für Polen. Dem Kampf um die staatliche Unabhängigkeit folgte der Kampf um den Erhalt dieser lang ersehnten Freiheit. Die junge Republik stand in der Nachkriegszeit daher vor großen Herausforderungen, es galt den Status quo aufrechtzuerhalten und hierfür mussten zunächst zahlreiche Konfliktherde beseitigt werden. Diese betrafen die Westgrenze mit Posen und Schlesien, die Korridorfrage, den Status der Freien Stadt Danzig und schließlich die Ostgrenze in Bezug auf die Ukraine, Litauen und Sowjetrussland. Dieser Kampf um die Sicherung des polnischen Staatsgebietes endete erst im März 1923 mit der internationalen Anerkennung Polens – einschließlich Galiziens und Wilnas (Vilnius) – und führte zu dessen Eintritt in den Kreis souveräner europäischer Staaten. Polen bekam die Folgen von vier Jahren Weltkrieg mit außergewöhnlicher Härte zu spüren, da der Kriegsschauplatz sich zu einem großen Teil auf polnischem Boden, besonders in den ehemaligen russischen und österreichischen Teilungsgebieten abgespielt hatte. Von den 388.000 km2 der polnischen Teilungsgebiete waren

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335.000 km2 Kriegsschauplatz, davon 33 Prozent Schauplatz besonders erbitterter Gefechte und Stellungskämpfe.1 Die Kriegsschäden selbst sind zum Teil auf unmittelbare Zerstörungen der kriegführenden Truppen, aber auch zu einem Großteil auf die Verwaltung der Okkupationsbehörden während des Krieges zurückzuführen. So waren nahezu alle Industriegebiete im ehemaligen russischen Teilungsgebiet bei Beendigung der Okkupation zerstört und mussten erst einmal von Grund auf neu errichtet werden.2 II. Wiederherstellung des polnischen Staates 1. Erste Weichenstellungen auf dem Weg zur Unabhängigkeit: Das Königreich Polen Bereits während des Ersten Weltkriegs stand die polnische Frage auf der Tagesordnung der europäischen Politik. Zwischen den Mittelmächten bestanden allerdings unterschiedliche territoriale Vorstellungen über den wiederherzustellenden polnischen Staat. Die Polen forderten in verschiedenen Programmen wiederholt einen direkten Zugang zum Meer und die Eingliederung Danzigs in das polnische Gebiet.3 Im Frühjahr 1916 stand zumindest fest, dass das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn einen polnischen Staat mit beschränkter Souveränität in der Größenordnung Kongresspolens, im Westen und Norden beschnitten, im Osten erweitert, schaffen wollten4 und dass Teile von Litauen sowie Kurland in einer noch nicht näher bestimmten Form an das Königreich angegliedert werden sollten.5 So kam es am 5. November 1916 schließlich zu einer gemeinsamen deutsch-österreichischen Proklamation6, in der die Wiederherstellung eines polnischen unabhängigen Staates auf dem Gebiet Kongresspolens in Aussicht gestellt wurde.7 Die deutsche Regierung rief im Ein1 Generalkonsul St. Zielin´ski, Polen 1918 – 1930. Beitrag zur außenwirtschaftlichen Entwicklung, 1930, S. 4. 2 Generalkonsul St. Zielin´ski (Anm. 1), Polen 1918 – 1930, S. 3. 3 Vgl. W. Wrzesin´ski, Das Recht zur Selbstbestimmung oder die Festigung der staatlichen Souveränität. Die osteuropäischen Plebiszite 1920, in: B. Jähnig, (Hrsg.), Die Volksabstimmung 1920. Voraussetzungen, Verlauf und Folgen, 2002, S. 11 ff. (12). 4 Vgl. M. Bobrzyn´ski, Wskrzeszenie pan´stwa polskiego. Szkic historyczny, Bd. 1: 1914 – 1918, 1920, S. 113. 5 Vgl. W. Conze, Polnische Nation und deutsche Politik im Ersten Weltkrieg, 1958, S. 151. 6 Vgl. M. Bobrzyn´ski (Anm. 4), Wskrzeszenie pan´stwa polskiego, Bd. 1, S. 113; H. Jabłon´ski, Narodziny drugiej Rzeczypospolitej (1918 – 1919), 1962, S. 37 f.; W. Conze (Anm. 5), Polnische Nation, S. 226 f.; T. Komarnicki, Rebirth of the Polish Republic. A Study in the Diplomatic History of Europe 1914 – 1920, 1957, S. 95 f.; Z. Cybichowski, Polskie prawo pan´stwowe. Na tle uwag dziedziny nauki o pan´stwie i porównawczego prawa pan´stwowego, Bd. I, 1933, S. 188; P. Roth, Die Entstehung des polnischen Staates. Eine völkerrechtlichpolitische Untersuchung, 1926, Anlage 3, S. 129. 7 Vgl. J. Blociszewski, La restauration de la Pologne et la diplomatie européenne, 1927, S. 30; J. Tomicki, II Rzeczpospolita. Oczekiwania i rzeczywistos´c´, 1986, S. 70. Eine Analyse

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klang mit dem Akt vom 5. November 1916 den Regentschaftsrat8 des Königreichs Polen9 ins Leben. Dieser Rat sollte so lange existieren, bis ein „König von Polen“ aus der österreichischen oder preußischen Dynastie den Thron besteigen würde.10 Die verschiedenen polnischen politischen Richtungen standen der deutsch-österreichischen Proklamation zwar skeptisch gegenüber, verbanden aber mit ihr Hoffnungen auf die Unabhängigkeit des gesamten polnischen Territoriums.11 Der Ausgang des Ersten Weltkriegs eröffnete für Polens Wiedererrichtung unerwartet günstige Konstellationen, da die drei Teilungsmächte nicht mehr existierten.12 In dem Vakuum, das die drei Kaiserreiche hinterlassen hatten, konnte sich die nationalrevolutionäre Vereinigung des Polentums der drei Teilungsgebiete schnell durchsetzen.13 Am 8. Januar 1918 verkündete US-Präsident Woodrow Wilson sein Vierzehn-Punkte-Programm14, dessen 13. Punkt die Schaffung eines unabhängigen polnischen Staates auf den ethnisch polnischen Gebieten mit eventuellem Zugang zum Meer vorsah.15 Am 25. Februar 1918 überreichte die polnische Delegation der alliierten „Kommission für polnische Angelegenheiten“ eine Denkschrift Dmowskis, die die Angliederung ganz Oberschlesiens, der Provinzen Posen und Westpreußen, des südlichen Ostpreußens (Masuren und Ermland) sowie einiger niederschlesischer und ostpommerscher Kreise forderte, insgesamt ein Gebiet von rund 84.000 km2.16 Am 29. August 1918 wurden auf Lenins Initiative durch ein Regierungsdekret alle von der zaristischen Regierung mit Preußen und Österreich geschlossenen Verträge über die Teilungen Polens annulliert und das „unbestreitbare Recht des polnischen

der Proklamation aus zwischenstaatlicher Sicht findet sich bei M. Kornat, Co dał narodowi polskiemu Akt 5 listopada? Perspektywa mie˛ dzynarodowa, in: J. Kłaczkow/K. Kania/Z. Girzyn´ski (red.), Akt 5 listopada 1916 roku i jego konsekwencje dla Polski i Europy, 2016, S. 215 ff.; B. Conrad, Umkämpfte Grenzen, umkämpfte Bevölkerung. Die Entstehung der Zweiten Polnischen Republik 1918 – 1923, 2014, S. 65. 8 Poln.: Rada Regencyjna. 9 Häufig auch als Regentschaftskönigreich Polen (poln.: Królestwo Regencyjne) bezeichnet. 10 Vgl. M. Borucki, Historia Polski do 2009 roku, 2009, S. 207. 11 Vgl. J. Tomicki (Anm. 7), II Rzeczpospolita, S. 71. 12 Vgl. H. Ludat, Slaven und Deutsche im Mittelalter, 1982, S. 111. 13 Vgl. M. Broszat, 200 Jahre deutsche Polenpolitik, 1963, S. 154. 14 Dt. Text: H. K. G. Rönnefarth/H. Euler, Konferenzen und Verträge, Teil II, Bd. 4, 2. Aufl. 1959, S. 23 f.; poln. Text: M. Kallas/M. Krzymkowski, Historia ustroju i prawa w Polsce 1772/1795 – 1918. Wybór z´ródeł, 2006, Nr. 138, S. 257 f. 15 Vgl. W. Roszkowski, Najnowsza historia Polski 1914 – 1945, 2003, S. 40. 16 Vgl. K. Lundgreen-Nielsen, The Polish Problem at the Paris Peace Conference. Study of the Policies of the Great Powers and the Poles, 1979, S. 32 ff.; Wortlaut des 13. Punktes: „Ein unabhängiger polnischer Staat soll errichtet werden, der die von einer unbestreitbar polnischen Bevölkerung bewohnten Gebiete umfassen und dem ein freier und gesicherter Zugang zum Meere gewährleistet werden soll“. Vgl. F. Berber, Das Diktat von Versailles, Bd. II, 1939, S. 4; M. Broszat (Anm. 13), 200 Jahre deutsche Polenpolitik, S. 157.

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Volkes auf Unabhängigkeit und Einheit“ anerkannt.17 Dieses Dokument war für die Einstellung ganz Europas zur Unabhängigkeit Polens von großer Bedeutung. 2. Kriegsende und Gründung der Zweiten Polnischen Republik Formell begann die Zweite Polnische Republik18 schließlich mit der Kapitulation der Deutschen am 11. November 191819 auf dem Gebiet des Königreichs Polen. Mit dem formalen Waffenstillstand endete nämlich die Besatzung des Königreichs Polen durch das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn. Die Oberhoheit der Mittelmächte über das Gebiet des Königreichs Polen war damit beendet.20 Hieraus resultierte, dass am 11. November 1918 die volle Staatsgewalt auf den Regentschaftsrat im Königreich Polen überging. 3. Bildung einer einheitlichen polnischen Staatsgewalt Das Ende des Ersten Weltkriegs hatte zur Folge, dass sich verschiedene Machtzentren in Krakau, Posen, Lemberg und Lublin bildeten, die in Konkurrenz zum Regentschaftsrat in Warschau standen. Ein Beispiel hierfür ist die Lubliner Regierung, die für sich beanspruchte, polnische Staatsgewalt auszuüben. Darüber hinaus war auch das Polnische Nationalkomitee darum bemüht, die neue unabhängige Regierung zu verkörpern. Fraglich ist daher, wann der Prozess der Bildung einer einheitlichen polnischen Staatsgewalt beendet war und welches Organ schließlich die Staatsgewalt der Zweiten Polnischen Republik de facto ausübte, also wer die Regierung des neuen unabhängigen polnischen Staates repräsentierte. Da der Regentschaftsrat im Zeitpunkt der faktischen Auflösung der Besatzung bereits als polnisches Staatsoberhaupt bestand, setzte er diese Funktion nach Kriegsende auf dem Territorium des Königreichs Polen fort. Die anderen Machtzentren hingegen konnten sich in der Folgezeit nicht als Übergangsregierung durchsetzen. a) Regentschaftsrat In seinem Manifest vom 7. Oktober 191821 richtete sich der Regentschaftsrat an die polnische Nation und verkündete, dass diejenige Stunde, auf die die gesamte pol17

Vgl. K. Marek, Identity and Continuity of States in Public International Law, 1954, S. 418; P. Roth (Anm. 6), Die Entstehung des polnischen Staates, S. 19 f. 18 Die Zweite Polnische Republik (poln.: II. Rzeczpospolita) bezeichnet Polens Staatswesen in den Jahren von 1918 bis 1945. 19 Franz. Text: H. Kraus/G. Rödiger, Urkunden zum Friedensvertrage von Versailles vom 28. Juni 1919, Erster Teil, 1920, Nr. 3 a), S. 11 – 18. 20 C. Berezowski, Powstanie pan´stwa polskiego w s´wietle prawa narodów, 2008 (Neudr. d. Aufl. v. 1934), S. 237. 21 Poln. Text: M. Kallas/M. Krzymkowski (Anm. 14), Historia ustroju i prawa, Nr. 140, S. 258 f.

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nische Nation sehnsüchtig gewartet habe, geschlagen habe. Der Regentschaftsrat stellte den baldigen Frieden und damit auch die Unabhängigkeit Polens in Aussicht. Um den Willen des polnischen Volkes auf Wiedererrichtung eines unabhängigen Staates durchsetzen zu können, sollte der Rat aufgelöst werden und an seine Stelle eine neue polnische Regierung treten. Aufgrund der drohenden inneren und äußeren Gefährdung des Königreichs Polen übergab der Regentschaftsrat am 11. November 1918 Józef Piłsudski kommissarisch die oberste Militär- und Staatgewalt. Es wurde ihm jedoch nur ein Teil der Staatsgewalt übertragen. Den verbleibenden Rest behielt sich der Rat zunächst vor. Mit Dekret vom 14. November 191822 übertrug ihm der Regentschaftsrat schließlich die umfassende Staatsgewalt23. Die Folge dieser Abtretung war, dass der Regentschaftsrat abdankte und Piłsudski neues Staatsoberhaupt wurde. Das neue Staatsoberhaupt kündigte die Errichtung einer Übergangsregierung und die Durchführung von gesellschaftlichen Reformen an. Die Berufung der neuen polnischen Regierung unter Ignacy Paderewski erfolgte am 18. Januar 1919. Am 20. Februar 1919 bestätigte der polnische verfassungsgebende Sejm Józef Piłsudski als Staatspräsidenten. b) Provisorische Volksregierung der Polnischen Republik Am 7. November 1918 wurde in Lublin eine „Provisorische Volksregierung der Polnischen Republik“ proklamiert24. Die „Lubliner Regierung“ verkündete, dass der polnische Staat aus sämtlichen Gebieten, die in der Mehrheit von Polen bewohnt waren, gebildet werden sollte. Ferner sollte der polnische Staat, der für immer die Volksrepublik Polen bilden sollte, einen Zugang zum Meer haben. Der Regentschaftsrat sollte abgesetzt werden. Für den Fall, dass die Deutschen die polnischen Gebiete nicht freiwillig verlassen würden, appellierte die „Regierung“ an die Polen, zu den Waffen zu greifen und eine Volksarmee zu bilden, um sich gegen die deutsche Besatzung zu wehren. Zum Zeitpunkt der Konstituierung der Lubliner Regierung war der Regentschaftsrat der rechtliche Vormund der polnischen Souveränität.25 Außerdem dauerte die Besatzung formal noch an. Die Lubliner Regierung konnte daher nicht als Regierung Polens auftreten und besaß folglich nicht einmal den Charakter einer de facto-Regierung.26 22 Poln. Text: M. Kallas/M. Krzymkowski (Anm. 14), Historia ustroju i prawa, S. 149, 276; K. W. Kumaniecki, Odbudowa pan´stwowos´ci polskiej. Najwaz˙ niejsze dokumenty 1912-styczen´ 1924, 1924, Nr. 78, S. 135. 23 Piłsudski (1867 – 1935) war ein polnischer Militär und Politiker, der gegen die russische Herrschaft kämpfte. Er war Marschall der Zweiten Polnischen Republik, die er von 1926 bis zu seinem Tod 1935 de facto diktatorisch regierte. 24 Poln. Text der Proklamation vom 7. 11. 1918: M. Kallas/M. Krzymkowski (Anm. 14), Historia ustroju i prawa, Nr. 141, S. 259 – 261; K. W. Kumaniecki (Anm. 21), Odbudowa, Nr. 74, S. 130 – 132. 25 C. Berezowski (Anm. 20), Powstanie pan´stwa polskiego, S. 260. 26 C. Berezowski (Anm. 20), Powstanie pan´stwa polskiego, S. 250 f.

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c) Polnisches Nationalkomitee Am 15. August 1917 wurde in Lausanne ein neues Polnisches Nationalkomitee gegründet. Noch während des Ersten Weltkrieges war das Nationalkomitee bemüht, seine völkerrechtliche Anerkennung bei den Regierungen der Westmächte durchzusetzen. Das Nationalkomitee wurde schließlich von einigen Staaten, darunter Frankreich am 20. September 191727, das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland am 15. Oktober 191728, Italien am 30. Oktober 191729 und die Vereinigten Staaten von Amerika am 1. Dezember 191730, als offizielle polnische Organisation akzeptiert.31 Die französische Regierung erkannte das Nationalkomitee als gouvernement de fait an, das sich mit der auswärtigen Politik, der Führung der polnischen Armee und der Zivilpflege der Polen im Ausland befassen sollte.32 Eine Anerkennung als polnische Regierung erfolgte damit allerdings nicht. Das allgemeine Ziel des Nationalkomitees war, die Ententemächte dafür zu gewinnen, ein unabhängiges Polen aus allen drei Teilungsgebieten zu errichten. Das Komitee wollte nach Kriegsende als Regierung in Warschau einziehen. Problematisch war, dass das Nationalkomitee nicht die polnische Regierung im Land anerkannte und dies damit begründete, dass der Regentschaftsrat eine unsolide und nicht dauerhafte Konstruktion sei. Außerdem schloss das Nationalkomitee aus, dass es sich zukünftig der Staatsgewalt in Polen unterwerfen werde. Stattdessen betrachtete es sich als gleichberechtigt zum Staatsoberhaupt.33 Das Nationalkomitee gab seine Bedeutung, die es in Paris erlangt hatte,34 nicht so schnell auf, deswegen war es auch keine Überraschung, dass Piłsudski eine Delegation zum Nationalkomitee mit dem Ziel der Verständigung sandte. Die Delegation legte dem Komitee als Vorschläge für eine Übereinkunft unter anderem folgende Punkte vor: die Anerkennung Piłsudskis als Staatsoberhaupt, die Anerkennung des Polnischen Nationalkomitees als polnische Vertretung im Ausland und die Anerkennung seines Rechts zur Teilnahme an der Friedenskonferenz im Namen des Staatsoberhauptes durch die Delegation. Ferner sollte das Komitee und das Staatsoberhaupt jeweils einen Vertreter der polnischen Delegation bei der Friedenskonferenz nominieren und entsenden.35 Paderewski sorgte schließlich als Präsident des Ministerrates dafür, dass das Komitee in ein offizielles Regierungsor27

Dt. Text: P. Roth (Anm. 6), Die Entstehung des polnischen Staates, Anlage 5, S. 131. Dt. Text: P. Roth (Anm. 6), Die Entstehung des polnischen Staates, Anlage 6, S. 132. 29 Dt. Text: P. Roth (Anm. 6), Die Entstehung des polnischen Staates, Anlage 7, S. 132 f. 30 Dt. Text: P. Roth (Anm. 6), Die Entstehung des polnischen Staates, Anlage 8, S. 132. 31 P. Roth (Anm. 6), Die Entstehung des polnischen Staates, S. 41 f. 32 Vgl. D. Cisowska-Hydzik, Komitet Narodowy w Polsce, in: A. Ajnenkiel (red.), Rok 1918. Odrodzona Polska w nowej Europie, 1999, S. 44 ff. (46). 33 Vgl. D. Cisowska-Hydzik (Anm. 32), Komitet Narodów, in: A. Ajnenkiel, Rok 1918, S. 55. 34 Das Polnische Nationalkomitee hatte seine Sprecher im französischen Außenministerium. 35 Vgl. D. Cisowska-Hydzik (Anm. 32), Komitet Narodów, in: A. Ajnenkiel, Rok 1918, S. 54. 28

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gan Polens umgebildet wurde.36 Der polnische Staat wurde nun offiziell nach außen vom Nationalkomitee vertreten.37 Demzufolge galt das Nationalkomitee als eine „unechte“ Exilregierung Polens.38 Die verbindlichen Richtlinien des Nationalkomitees, die in einer Sitzung am 14. Oktober 1918 angenommen wurden, besagten in Punkt 1, dass das Nationalkomitee eine politische Organisation Polens während der Kriegszeit und der Friedensverhandlungen sei, die offiziell außerhalb der Grenzen der Zentralmächte und deren Besatzungsgebiete tätig sei.39 Das Polnische Nationalkomitee musste seine anfänglichen Pläne, die eine Übernahme der Staatsgewalt Polens vorsahen, im November 1918 schließlich aufgeben.40 Als es zu den Friedensverhandlungen in Versailles kam und der Prozess der Etablierung der Staatsgewalt in Polen auch formal vollzogen war, mussten die Vertreter des Nationalkomitees, allen voran Dmowski, die polnische Regierung akzeptieren.41 d) Der erste Sejm im unabhängigen Polen Am 26. Januar 1919 erfolgten die Wahlen zum ersten gesetzgebenden Sejm der wiederhergestellten polnischen Republik.42 Dem Sejm sollten ursprünglich 526 Abgeordnete angehören, jedoch war dies aufgrund der zahlreichen militärischen Auseinandersetzungen in einigen Regionen und wegen der Nichtanbindung von einigen Gebieten an Polen nicht umsetzbar.43 Zum Marschall des Sejm wurde am 14. Februar 1919 Piłsudski gewählt. Mit der Konstituierung des Sejm wurde die Übergangsregierung abgelöst.44 Bis zur Fertigstellung der polnischen Verfassung wurde eine „Kleine

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J. Blociszewski (Anm. 7), La restauration de la Pologne, S. 145. Vgl. D. Cisowska-Hydzik (Anm. 32), Komitet Narodów, in: A. Ajnenkiel, Rok 1918, S. 45. 38 G. Górski, Polonia Restituta, 2009, S. 41. 39 Vgl. D. Cisowska-Hydzik (Anm. 32), Komitet Narodów, in: A. Ajnenkiel, Rok 1918, S. 49. 40 Vgl. D. Cisowska-Hydzik (Anm. 32), Komitet Narodów, in: A. Ajnenkiel, Rok 1918, S. 47. Hinsichtlich des Scheiterns des Polnischen Nationalkomitees in ihren Bestrebungen, die Regierung Polens zu bilden, hatte Piłsudski gesagt, dass bei den Polen eine Aversion gegenüber Exilregierungen herrschen würde und dass es daher nur möglich sei, die Staatsgewalt in Polen als Regierung zu übernehmen, wenn man sich tatsächlich auf polnischem Gebiet befinde. Vgl. D. Cisowska-Hydzik (Anm. 32), Komitet Narodów, in: A. Ajnenkiel, Rok 1918, S. 47. 41 Vgl. D. Cisowska-Hydzik (Anm. 32), Komitet Narodów, in: A. Ajnenkiel, Rok 1918, S. 59. 42 Vgl. M. Borucki (Anm. 10), Historia Polski, S. 211. 43 Vgl. H. Swoboda, Pierwsze pie˛ tnastolecie Polski niepodległej (1918 – 1933). Zarys dziejów politycznych, 1933, S. 39; A. Ajnenkiel, Od rza˛dów ludowych do przewrotu majowego. Zarys dziejów politycznych Polski 1918 – 1926, 1976, S. 41 f. 44 Vgl. H. Swoboda (Anm. 43), Pierwsze pie˛ tnastolecie Polski, S. 49 f.; Z. Landau/J. Tomaszewski, Polska w Europie i s´wiecie 1918 – 1939, 1984, S. 90 f. 37

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Verfassung“ verkündet, die in der Übergangszeit die wichtigsten Regeln für die Regierung enthielt.45 4. Der Versailler Vertrag Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Versailles endete der Erste Weltkrieg im Jahre 1919 auch aus völkerrechtlicher Sicht. Nach der Ratifizierung und dem Austausch der Urkunden trat er am 10. Januar 1920 in Kraft. Den Bestimmungen des Versailler Vertrages zufolge wurde Polen eine international anerkannte und unabhängige Republik. Neben dem polnischen Staat entstanden weitere neue Nationalstaaten auf europäischem Boden. Auf dem Gebiet der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie konstituierten sich die Nachfolgestaaten (Deutsch-)Österreich, Ungarn und die Tschechoslowakei. Darüber hinaus wurde das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen als neuer Staat errichtet. 5. Verfassung vom 17. März 1921 Die Verfassung vom 17. März 192146 wurde am 1. Juli des gleichen Jahres mit der überwiegenden Mehrheit beschlossen,47 jedoch traten viele Bestimmungen erst nach den Parlamentswahlen im Jahre 1922 in Kraft. Die Verfassung sah zwei parlamentarische Kammern vor, dabei sollte der Sejm mit 444 Abgeordneten die eigentliche Macht ausüben, der Senat als Kontrollinstanz mit Einspruchsrecht fungieren. Die Verfassung des unabhängigen Polens gilt als erste moderne polnische Verfassung, die auf eine demokratische Republik48 gestützt wurde. Die Verfassung sah unter anderem die persönliche Freiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Briefgeheimnis, die Meinungsäußerungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Gewissensfreiheit, die Wissenschaftsfreiheit und die Versammlungsfreiheit vor.49 Die Mitglieder beider Kammern wurden vom Volk in allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen gewählt. Die eigentliche Staatsgewalt ging auf den Sejm über, während der Senat bei der Gesetzgebung mitwirkte. Der Staatspräsident bekam hingegen nur eine repräsentative Funktion zugesprochen.50 In den Folgejahren geriet das parlamentarische Regime aufgrund innerer Unruhen in eine Krise. Der 45

Vgl. H. Roos (Begr.)/M. Alexander, Geschichte der polnischen Nation 1918 – 1985, 4. Aufl. 1986, S. 99 f. 46 Text: Dziennik ustaw Rzeczypospolitej Polski (Polnisches Gesetzblatt) Jahr 1921, Nr. 267, S. 633 ff. 47 Vgl. W. Roszkowski (Anm. 15), Najnowsza historia Polski, S. 101; A. Ajnenkiel (Anm. 43), Od rza˛dów, S. 200. 48 Vgl. Art. 1 der Verfassung vom 17. 3. 1921. 49 Vgl. H. Swoboda (Anm. 43), Pierwsze pie˛ tnastolecie Polski, S. 87 f.; A. Ajnenkiel (Anm. 43), Od rza˛dów, S. 205 ff. 50 Vgl. J. Rogall, in: J. Rogall (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas. Land der großen Ströme. Von Polen nach Litauen, 1996, S. 373.

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Sejm und Senat entwickelten sich zu einer Kampfarena der vielen Parteien und Splittergruppen. Es gab zwischen 1919 und 1926, also binnen sieben Jahren, 13 Regierungen.51 6. Die polnische Staatsangehörigkeit Die Rechtsgrundlagen der polnischen Staatsangehörigkeit wurden in der Verfassung vom 17. März 1921, im Gesetz betreffend die Staatsangehörigkeit des polnischen Staates vom 20. Januar 192052 und in völkerrechtlichen Verträgen, darunter der Vertrag vom 18. Juni 191953 und das Staatsangehörigkeitsabkommen vom 30. August 192454, geregelt. Gemäß dem Gesetz betreffend die Staatsangehörigkeit des polnischen Staates vom 20. Januar 1920 wurde die polnische Staatsangehörigkeit nach Art. 2 an diejenigen Personen verliehen, die auf dem Gebiet des polnischen Staates lebten. Der erste Vertrag, der das Staatsangehörigkeitsproblem betraf, war der Vertrag zwischen den Hauptmächten und Polen, der am 18. Juni 1919 in Versailles unterzeichnet wurde. Danach wurden als polnische Staatsbürger diejenigen Bürger bezeichnet, die die deutsche, österreichische, ungarische und russische Staatsbürgerschaft besaßen und dauerhaft in jenen Gebieten, die in Versailles Polen zuerkannt wurden, lebten.55 Ferner bestimmte der Vertrag, dass eine Person, die nicht die Staatsbürgerschaft eines anderen Staates besaß, automatisch mit der Geburt auf polnischem Territorium die polnische Staatsbürgerschaft erlangte. Art. 91 des Versailler Friedensvertrages regelte nämlich, dass die deutschen Staatsbürger, die dauerhaft in den als Teil Polens anerkannten Gebieten lebten, die polnische Staatsbürgerschaft erhielten.56 Die Staatsangehörigkeit richtete sich somit nach dem Wohnsitzprinzip.57 Von dieser allgemeinen Regel gab es die Ausnahme, dass diejenigen Deutschen oder deren Angehörige, 51 M. Barski, Die österreichisch-polnischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit, 1999, S. 34 f.; H. Michael, Zwischen den Kriegen. Die Außenpolitik Polens 1918 – 1939, 2013, S. 146 f. 52 Poln. Text: K. W. Kumaniecki (Anm. 21), Odbudowa, Nr. 253, S. 545 – 547. 53 Der Vertrag wurde als „kleiner Versailler Vertrag“ bezeichnet. Vgl. M. Pietrzak, in: J. Bardach/B. Les´nodorski/M. Pietrzak (Hrsg.), Historia ustroju i prawa polskiego, 6. Aufl. 2009, S. 494. 54 Dt. Text: RGBl., Bd. II, 1925, S. 33 f.; § 1 dieses Gesetzes enthielt die Zustimmung zu dem am 30. 8. 1924 unterzeichneten deutsch-polnischen Abkommen über Staatsangehörigkeits- und Optionsfragen. 55 Vgl. F. Ryszka, Historia pan´stwa i prawa Polski. 1918 – 1939, Teil 1, 1962, S. 50 f., 53; M. Pietrzak (Anm. 53), in: J. Bardach/B. Les´nodorski/M. Pietrzak, Historia ustroju i prawa polskiego, S. 500. 56 Wortlaut von Art. 91 Abs. 1: „Die deutschen Reichsangehörigen, die ihren Wohnsitz in den endgültig als Bestandteil Polens anerkannten Gebieten haben, erwerben von Rechts wegen die polnische Staatsangehörigkeit“. 57 Ausführlich hierzu: C. G. Bruns, Staatsangehörigkeitswechsel und Option im Friedensvertrage von Versailles, 1921, S. 11 ff.

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die die Gebiete erst nach dem ersten Januar 1908 bewohnt hatten, die polnische Staatsbürgerschaft erst aufgrund einer Spezialermächtigung des polnischen Staates erlangen konnten. Gemäß Art. 5 des Staatsangehörigkeitsabkommens von 1924 war es für den Erwerb der polnischen Staatsangehörigkeit ausreichend, dass ein Wohnsitz im polnischen Gebiet nachgewiesen werden konnte. Neben diesem Wohnsitzprinzip enthielt der Vertrag ein Optionsrecht58, das die Möglichkeit der Wahl zwischen der deutschen und der polnischen Staatsangehörigkeit eröffnete59. Wer in einem der beiden Staaten lebte, sich aber dafür entschied, Bürger des anderen zu sein, musste eine Optionserklärung abgeben. Wenn sich beispielsweise eine Person, die auf polnischem Territorium lebte, dazu entschied, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen, wurde sie auf Grund dieses Abkommens ins Deutsche Reich ausgewiesen. Darüber hinaus ging auch der Rigaer Friedensvertrag von 1921 in den Art. II und VI auf die Frage des Staatsangehörigkeitswechsels ein.60 In erster Linie sollte sich die Staatsangehörigkeit nach dem Wohnsitz richten. In Art. VI war zusätzlich ein Optionsrecht geregelt. Dieses ermöglichte es, das Recht der Option zugunsten Russlands, der Ukraine oder Weißrusslands auszuüben. Eine Voraussetzung hierfür war, dass die betreffende Person am 1. August 1914 die Staatsangehörigkeit des ehemaligen russischen Kaiserreichs besessen hatte.61 Schließlich enthielt auch Art. 25 des deutschpolnischen Abkommens vom 15. Mai 1922 betreffend Oberschlesien62 Regelungen zur Staatsangehörigkeit, wonach auch in diesem Vertrag das Wohnsitzprinzip angewendet wurde.

58 Kreuzer definiert die „Option der Staatsangehörigkeit“ wie folgt: „als den Erwerb einer Staatsangehörigkeit, den Verzicht auf eine Staatsangehörigkeit oder die Abwendung einer bevorstehenden Staatsangehörigkeitsveränderung durch rechtsgestaltende Erklärung des Einzelnen“. Sie unterscheidet weiter zwischen einer negativen Option, bei der die erworbene Staatsangehörigkeit abgelehnt wird, und der positiven Option, die zum Erwerb der neuen Staatsangehörigkeit führt. Zit. n.: C. Kreuzer, Staatsangehörigkeit und Staatensukzession, 1998, S. 52. 59 Der Sinn und Zweck der Option ist, dass die Möglichkeit eröffnet wird, über seine Staatsangehörigkeit selber zu entscheiden, sodass keine unangemessenen Nachteile wie bei einem automatischen Wechsel der Staatsangehörigkeit eintreten. Es kann aus der Staatenpraxis aber keine völkerrechtliche Verpflichtung zur Optionsgewährung bei der Bestimmung der Staatsangehörigkeit festgestellt werden. Vgl. C. Kreuzer (Anm. 58), Staatsangehörigkeit und Staatensukzession, S. 51. 60 Ausführlich hierzu: S. Gargas, Das Staatsangehörigkeitsproblem im polnisch-russischen Friedensvertrage von Riga, in: Sonderdruck der Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. XLII (1927), S. 342 – 351. 61 Vgl. Art. VI Nr. 3. 62 Poln. Text: K. Kierski (Hrsg.), Zbiór ustaw i rozporza˛dzen´ o obywatelstwie polskim według traktatów wersalskich, 1925, Nr. 3, S. 18 ff.

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III. Die Grenzen der Zweiten Polnischen Republik 1. Hintergrund In den früheren Gebieten der Adelsrepublik setzte sich der Erste Weltkrieg als Bürgerkrieg fort.63 Die gerade erst neu formierte Republik hatte in der unmittelbaren Nachkriegsphase zwei wesentliche Probleme zu bewältigen. Diese betrafen die noch ungeklärten Fragen nach dem Korridor, dem Status der Freien Stadt Danzig sowie nach der Ostgrenze in Bezug auf die Ukraine, Litauen und Sowjetrussland.64 Vor dem Hintergrund dieser offenen Fragen war die Zukunft der neuen Republik keineswegs gesichert. Die Folge dieser Konfliktherde war, dass sie sich in mehreren Aufständen und Kriegen niederschlugen.65 2. Militärische Auseinandersetzungen um die Neugestaltung der Westgrenze a) Der Posener Aufstand In der preußischen Provinz Posen kam es vom 27. Dezember 1918 bis zum 16. Februar 1919 zu einem militärischen Aufstand der polnischen Bevölkerung.66 Der Aufstand wird als Posener oder Großpolnischer Aufstand (poln.: Powstanie Wielkopolskie) bezeichnet. Ziel des Aufstandes war die Eingliederung der mehrheitlich polnischsprachigen Provinz in den nach dem Ersten Weltkrieg wiedererstandenen polnischen Staat.67 Der Aufstand endete mit einem militärischen und politischen polnischen Sieg. Der Hauptteil der bisherigen Provinz Posen wurde noch vor Inkrafttreten der Bestimmungen des Versailler Vertrages faktisch vom Deutschen Reich abgetrennt. Im polnischen Geschichtsbild lebt die Erinnerung an den „Großpolnischen Aufstand“ fort als eine der wenigen erfolgreich verlaufenen Aufstandsbewegungen gegen die nationale Fremdherrschaft.68 63

W. Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, 2010, S. 100. Vgl. I. Loose, Der Erste Weltkrieg als Eschatologie. Staatliche Einheit und Sinnstiftung in der Zweiten Polnischen Republik 1918 – 1939, in: N. Stegmann (Hrsg.), Die Weltkriege als symbolische Bezugspunkte, 2009, S. 39 ff. (138 f.). 65 Vgl. A. Ajnenkiel (Anm. 43), Od rza˛dów, S. 209 ff.; I. Loose (Anm. 64), Der Erste Weltkrieg als Eschatologie, in: N. Stegmann (Hrsg.), Die Weltkriege als symbolische Bezugspunkte, S. 45. 66 Auch aus polnischer Sicht wird der Aufstand auf Grundlage der rechtlichen Betrachtung nicht als legitim gewertet, jedoch wird wegen der jahrzehntelangen Unterdrückung der polnischen Bevölkerung in der Provinz Posen der Aufstand als moralisch legitim angesehen. Vgl. B. Conrad (Anm. 7), Umkämpfte Grenzen, S. 119. 67 Vgl. G. Rhode, Staatliche Entwicklung und Grenzziehungen, in: G. Rhode (Hrsg.), Die Ostgebiete des Deutschen Reiches, 4. Aufl. 1957, S. 96 ff. (120). 68 Vgl. B. Conrad (Anm. 7), Umkämpfte Grenzen, S. 125. 64

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b) Aufstände in Oberschlesien Bei den Aufständen in Oberschlesien69 handelte es sich um insgesamt drei bewaffnete Konflikte, die zwischen 1919 und 1921 in Oberschlesien stattfanden. Erklärtes Ziel der polnischen Aufständischen war es, Oberschlesien an die Zweite Polnische Republik anzuschließen. Die Aufständischen erhielten keine offene militärische Unterstützung durch den polnischen Staat, der sich im Polnisch-Sowjetischen Krieg befand. Zu den Aufständen kam es, weil der Versailler Vertrag keine Entscheidung zum territorialen Status Oberschlesiens traf, sondern bestimmte, dass diese Frage erst in einer Volksabstimmung entschieden werden sollte. Der erste Aufstand in Oberschlesien brach unter dem Oberkommando der Polnischen Militärorganisation (poln.: Polska Organizacja Wojskowa Górnego S´la˛ska) in der Nacht vom 16. auf den 17. August 1919 nur zwei Monate nach Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages aus. Anlass war ein Massaker an Streikenden der Myslowitzer Grube am 15. August 1919, bei dem zehn polnische Bergleute getötet wurden. Mehr als 10.000 Aufständische wollten das Industriegebiet besetzen, gerieten jedoch mit den Verbänden der Reichswehr, die dort stationiert waren, in Konflikt. Auf beiden Seiten gab es mehr als 100 Tote.70 Der Aufstand wurde durch die Schwarze Reichswehr am 26. August 1919 niedergeschlagen. Als die Niederlage Polens bei den Referenden in Masuren und im Ermland bekannt wurde und sich das Gerücht verbreitete, dass Warschau auf Oberschlesien verzichte, wenn das Deutsche Reich sich am Kampf gegen die vorrückende Rote Armee beteilige, schlugen polnische Aktivisten erneut zu.71 Der zweite Aufstand begann in der Nacht vom 19. auf den 20. August und dauerte bis zum 25. August 1920. Auch nach dieser gewaltsamen Erhebung ließen die Spannungen zwischen der deutschen Mehrheit und der polnischen Minderheit in Oberschlesien nicht nach und es kam immer wieder auf beiden Seiten zu Übergriffen.72 Nach der Volksabstimmung in Oberschlesien besserte sich die Lage kaum. Die Spannungen mündeten in dem dritten Aufstand, der in der Nacht vom 2. auf den 3. Mai 1921 ausbrach und bis zum 5. Juli 1921 andauerte. Die polnische Regierung stellte unmissverständlich klar, dass sie den Aufstand missbilligte. Dennoch rückten 69 Umstritten ist, ob diese bewaffneten Konflikte als „Schlesische Aufstände“ – so überwiegend die polnische Wissenschaft – bezeichnet werden können. Die Kritik an dem Begriff der „Schlesischen Aufstände“ wird damit begründet, dass mit dem Begriff „Aufstand“ der gewaltsame Charakter des Konflikts nicht gerecht, sondern vielmehr verharmlost werde. Ein Aufstand werde lediglich mit einem Widerstand gegen die Führungsschicht in Verbindung gebracht. Die Kritiker, die die Bezeichnung „Schlesische Aufstände“ ablehnen, bevorzugen daher Begrifflichkeiten, wie etwa „Angriff“. Die Bezeichnung „Schlesische Aufstände“ wird zudem abgelehnt, um eine Verwechslung zum Schlesischen Weberaufstand 1844 zu vermeiden. 70 Vgl. P. Urban, Deutsche in Polen. Geschichte und Gegenwart einer Minderheit, 4. Aufl. 2000, S. 32. 71 Vgl. H. Roos (Begr.)/M. Alexander (Anm. 45), Geschichte der Polnischen Nation, S. 91. 72 Vgl. P. Urban (Anm. 68), Deutsche in Polen, S. 34.

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4.000 Aufständische nach Nordwesten vor und eroberten innerhalb von vier Tagen das von Polen beanspruchte Gebiet. Die Deutschen schlugen am strategisch wichtigen Annaberg erfolgreich zurück.73 Die unmittelbare Ursache des dritten Aufstandes in Oberschlesien war die Ablehnung des britisch-italienischen Gebietsaufteilungsvorschlags (Percival-de Marinis-Linie) durch die propolnische Seite, wonach drei Viertel Oberschlesiens, darunter alle Industriezentren, dem Deutschen Reich zugesprochen werden sollten. Der Aufstand selbst endete formal am 5. Juli 1921 mit einem Waffenstillstandsabkommen, das auf Druck der Interalliierten Regierungsund Plebiszitskommission für Oberschlesien zustande kam. c) Polnisch-Tschechoslowakischer Grenzkrieg Südwestlich von Galizien war das ehemals österreichische Herzogtum Teschen74 umstritten. In drei der vier ländlichen Kreise des 2.300 km2 und 440.000 Bewohner kleinen Herzogtums dominierten die Polen, im vierten Kreis lebten überwiegend Deutsche und Tschechen. Während die Polen den Anschluss eines Großteils dieses Gebiets an die Republik forderten, favorisierten die Tschechen den Fluss Olsa als Grenzlinie, da auf diese Weise der stärker industrialisierte Westteil des Herzogtums zur Tschechoslowakei gezählt hätte.75 Beide Staaten einigten sich am 5. November 1918 auf eine Grenzziehung entlang der ethnischen Grenze76, wobei der Vertrag eine endgültige Grenzziehung noch offen ließ und deren Festlegung den jeweiligen Regierungen überließ.77 Der Polnisch-Tschechoslowakische Grenzkrieg fand vom 23. bis zum 30. Januar 1919 um das Olsagebiet statt. Polen ließ im Dezember 1918 Teile der Armee an die Grenze verlegen. Nachdem Polen der Aufforderung zum Abzug der Militärpräsenz nicht nachgekommen war, marschierte die tschechoslowakische Armee am 23. Januar 1919 nach Polen ein, um nun auch den polnischen Teil des Olsagebietes dem tschechoslowakischen Staatsgebiet einzuverleiben.78 Die militärischen Auseinandersetzungen brachten keiner der beiden Seiten entscheidende Vorteile. Im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz einigten sich beide Parteien auf eine diplomatische Lösung des Grenzkonfliktes. Jedoch blieben die zwischen dem 23. Juli und 30. Juli 1919 im polnischen Krakau durchgeführten Verhandlungen er73

Vgl. P. Urban (Anm. 68), Deutsche in Polen, S. 36. Von den Polen als Herzogtum Schlesien bezeichnet. 75 W. Borodziej (Anm. 63), Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 100. 76 Die Bezirkshauptmannschaft Friedeck wurde der tschechischen und die Bezirkshauptmannschaft Teschen und Bielitz der polnischen Seite zugeordnet. Die Bezirksmannschaft Freistadt wurde auf beide Seiten aufgeteilt, darunter das Karwiner Bergbaurevier, das an Polen fiel (insgesamt bekam Polen drei Viertel des umstrittenen Gebietes zugesprochen). Vgl. B. Conrad (Anm. 7), Umkämpfte Grenzen, S. 105 f. 77 Vgl. H. Michael (Anm. 49), Zwischen den Kriegen, S. 130. 78 Zum Verlauf des Konfliktes B. Conrad (Anm. 7), Umkämpfte Grenzen, S. 109 f.; H. Michael (Anm. 49), Zwischen den Kriegen, S. 131 f. 74

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gebnislos, da die tschechoslowakische Seite die von Polen geforderte Volksabstimmung im gesamten Olsagebiet strikt ablehnte, weil der tschechische Bevölkerungsanteil dort eine Minderheit darstellte und die Abstimmung zulasten der Tschechoslowakei ausgefallen wäre. Die Friedenskonferenz folgte jedoch dem polnischen Vorschlag zur Durchführung des Plebiszits, das jedoch niemals umgesetzt wurde. Am 28. Juli 1920 kam es zum Abschluss eines neuen Grenzvertrages, nachdem beide Regierungen durch die Siegermächte massiv zur Akzeptanz dieser Bedingungen aufgefordert worden waren. Polen erhielt danach lediglich die Bezirke ostwärts des Flusses Olsa mit etwa 142.000 deutschen und polnischen Einwohnern, während die Tschechoslowakei den größeren und wirtschaftlich wertvolleren Teil mitsamt der Stadt Teschen zugesprochen bekam.79 Damit hatte die alliierte Botschafterkonferenz weitgehend den tschechoslowakischen Vorstellungen entsprochen. Endgültig beendet wurde der Konflikt erst am 2. Juni 1958, als die Volksrepublik Polen auf ihren Gebietsanspruch verzichtete und mit der Tschechoslowakei den Grenzverlauf an der Olsa in einem Grenzvertrag bestätigte. 3. Polens West- und Südgrenze nach dem Versailler Vertrag a) Hintergrund Nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags wurde Polen 1919 eine international anerkannte und unabhängige Republik. Der Versailler Vertrag sollte die neuen Grenzen des polnischen Staates festlegen. Am schwierigsten war für die Versailler Konferenz das Problem der russisch-polnischen Territorien, da Russland außerhalb der Konferenz stand. Eine Lösung für dieses Problem zu finden, gelang der Versailler Konferenz daher nicht. Sie musste zu dem Ausweg des Art. 87 Abs. 3 greifen, wonach die Festsetzung dieser Grenzen Polens späterer Entschließung der alliierten und assoziierten Hauptmächte vorbehalten bleiben sollte.80 Zwei Vertreter Polens durften an den Vertragsverhandlungen, die am 18. Januar 1919 in Paris aufgenommen wurden, teilnehmen.81 Die Polen bestimmten Roman Dmowski und Ignacy Paderewski, der inzwischen zum Ministerpräsidenten der Warschauer Regierung bestimmt worden war, zu ihren Vertretern. Dmowski forderte in seinem Bericht82 für Polen die historische Grenze aus dem Jahre 1772 mit Nieder-

79 H. Roos (Begr.)/M. Alexander (Anm. 45), Geschichte der Polnischen Nation, S. 89 f.; B. Conrad (Anm. 7), Umkämpfte Grenzen, S. 187. 80 P. Roth (Anm. 6), Die Entstehung des polnischen Staates, S. 69. 81 Vgl. S. Kozicki, Sprawa granic Polski na konferencji pokojowej w Paryz˙ u, 1921, S. 11. 82 Franz. Text: Sekretariat Jeneralny Delegacji Polskiej (Hrsg.), Akty i dokumenty dotycza˛ce spraw granic Polski na konferencji pokojowej w Paryz˙ u 1918 – 1919, cze˛ s´c´ 1. Program terytorialny delegacji, 1920, S. 109 – 123 (die polnische Westgrenze betreffend) und S. 125 – 133 (die polnische Ostgrenze betreffend).

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schlesien und Teilen von Ostpreußen.83 Am 28. Juni 1919 unterzeichneten beide Vertreter im Namen Polens im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles den Friedensvertrag84. b) Die Regelungen nach dem Versailler Vertrag aa) Unmittelbar ohne Volksabstimmung vom Deutschen Reich abgetrennte Gebiete Der Versailler Vertrag sprach Polen den Hauptteil von Posen zu.85 Ferner wurde der größere, westlich von der Weichsel liegende Teil Westpreußens an Polen abgetreten.86 bb) Gebietsabtrennungen nach den Volksabstimmungen Volksabstimmungen wurden für Südostpreußen, darunter das Gebiet zwischen der West- und Nordgrenze des Regierungsbezirks Allenstein bis zu ihrem Zusammentreffen mit der Grenzlinie zwischen den Kreisen Oletzko und Angerburg, von dort die Nordgrenze des Kreises Oletzkos bis zu ihrem Zusammentreffen mit der alten Grenze Ostpreußens87 und einem Teil des Regierungsbezirks Gumbinnen, ferner für die westpreußischen Kreise Marienburg, Marienwerder, Rosenberg und Stuhm88 sowie für Teile Oberschlesiens89 vorgesehen.90 Die genannten Abstimmungsgebiete wurden der Kontrolle der Siegermächte des Ersten Weltkriegs unterstellt und eine Interalliierte Kommission übte diese Kontrolle in dem formal selbstän-

83 Vgl. T. Komarnicki (Anm. 6), Rebirth of the Polish Republic, S. 326; Z. Wroniak, Sprawa polskiej granicy zachodniej w latach 1918 – 1919, 1963, S. 101. 84 Text: RGBl. 1919, Nr. 140, S. 688 ff. 85 Nicht an Polen fiel ein schmaler Streifen Posens im Westen mit Fraustadt, Schwerin, Schönlanke und Schneidemühl. Vgl. Art. 27 Nr. 7 Teil II (Grenzen des Deutschen Reichs) Versailler Vertrag. 86 Beim Deutschen Reich verblieben die rechts der Weichsel liegenden Kreise Elbing, Marienburg, Stuhm, Marienwerder und Rosenburg sowie die Kreise Flatow, Schlochau und weitere Kreisteile im Westen. Vgl. Art. 27 Nr. 7 Teil II (Grenzen des Deutschen Reichs) Versailler Vertrag; auch G. Rhode (Anm. 67), Staatliche Entwicklung und Grenzziehungen, in: G. Rhode (Hrsg.), Die Ostgebiete, S. 121. 87 Vgl. Art. 94 Versailler Vertrag. 88 Vgl. Art. 96 Versailler Vertrag. 89 Vgl. Art. 88 Versailler Vertrag. 90 Die polnische Delegation konnte die von der Pariser Friedenskonferenz gefassten Beschlüsse wegen der damaligen internationalen Situation nicht in Frage stellen. Trotzdem waren die Polen über die Beschlussfassung zu den ostpreußischen Plebisziten enttäuscht. Die Deutschen betrachteten die Beschlüsse der Alliierten zu den Plebisziten als ungerecht. Vgl. W. Wrzesin´ski (Anm. 3), Das Recht zur Selbstbestimmung oder die Festigung der staatlichen Souveränität, in: B. Jähnig (Hrsg.), Die Volksabstimmung 1920, S. 16.

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digen Staat91 aus.92 Bei der Abstimmung in Masuren und Westpreußen am 11. Juli 1920 entschieden sich im Abstimmungsgebiet Masuren 363.209 Stimmberechtigte93 (97,8 %) und im Gebiet Marienwerder 96.894 Stimmberechtigte (92,4 %) für den Verbleib beim Deutschen Reich.94 Trotz des eindeutigen Abstimmungsergebnisses95 sprach die Botschafterkonferenz am 12. August 1920 nicht die gesamten Abstimmungsgebiete dem Deutschen Reich zu, sondern trennte vom Allensteiner Bezirk die drei Grenzdörfer Groschken, Klein Nappern und Klein Lobenstein und von Westpreußen fünf weitere Dörfer96 ab und sprach sie Polen zu.97 Ostpreußen wurde als Enklave vom Deutschen Reich getrennt.98 Im Ermland stimmten etwa 6.000 Personen für Polen.99 Im westpreußischen Abstimmungsgebiet wurden 7.947 Stimmen für Polen abgegeben.100 Am 20. März 1921 fand die Volksabstimmung in Oberschlesien statt.101 Das Plebiszit brachte kein eindeutiges Ergebnis. Bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung von 98 Prozent votierten 59,7 Prozent der wahlberechtigen Oberschlesier (707.554 Stimmen)102 für die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich, 40,3 Prozent der Einwohner (478.820 Stimmen) wollten beim polnischen Staat verbleiben.103 Die Festlegung einer Grenze in Ober91

Dies kam etwa darin zum Ausdruck, dass im oberschlesischen Abstimmungsgebiet eigene Briefmarken gedruckt wurden. 92 Vgl. R. Ritter, Die Geschichtsschreibung über Abstimmungskämpfe und Volksabstimmung in Oberschlesien (1918 – 1921). Eine Auswahlbibliographie, 2009, S. 13. 93 Vgl. M. Worgitzki, Geschichte der Abstimmung in Ostpreußen. Der Kampf um Ermland und Masuren, 1921, S. 142. 94 G. Rhode (Anm. 67), Staatliche Entwicklung und Grenzziehungen, in: G. Rhode (Hrsg.), Die Ostgebiete, S. 122; dazugehörige Tabelle S. 154; P. Hoffmann, Die Volksabstimmung in Westpreußen am 11. Juni 1920. Vergleichende Darstellung der Abstimmungsergebnisse aufgrund des amtlichen Materials, 1920, S. 7. 95 Vgl. detaillierte Angaben zu den Ergebnissen der Volksabstimmungen, in: Göttinger Arbeitskreis (Hrsg.), Selbstbestimmung für Ostdeutschland. Eine Dokumentation zum 50. Jahrestag der ost- und westpreußischen Volksabstimmung am 11. Juli 1920 (erarbeitet und zusammengestellt von H. G. Marzian), 1970, S. 60 ff. 96 Darunter die Weichseldörfer Johannisdorf, Außendeich, Neuliebenau, Kramershof und Kleinfelde. 97 Vgl. B. Schumacher, Geschichte Ost- und Westpreußens, 2002, S. 300; G. Rhode (Anm. 67), Staatliche Entwicklung und Grenzziehungen, in: G. Rhode (Hrsg.), Die Ostgebiete, S. 123. 98 Vgl. Z. M. Szaz, Die deutsche Ostgrenze. Geschichte und Gegenwart, 1960, S. 63. 99 G. Rhode (Anm. 67), Staatliche Entwicklung und Grenzziehungen, in: G. Rhode (Hrsg.), Die Ostgebiete, S. 123. 100 G. Rhode (Anm. 67), Staatliche Entwicklung und Grenzziehungen, in: G. Rhode (Hrsg.), Die Ostgebiete, S. 123. 101 Vgl. H. Roos (Begr.)/M. Alexander (Anm. 45), Geschichte der Polnischen Nation, S. 91. 102 G. Rhode (Anm. 67), Staatliche Entwicklung und Grenzziehungen, in: G. Rhode (Hrsg.), Die Ostgebiete, S. 123. 103 Vgl. H. Roos (Begr.)/M. Alexander (Anm. 45), Geschichte der Polnischen Nation, S. 91; D. Smolorz, Die deutsch-polnische Grenze in Oberschlesien 1922 – 1939, in: K. Gil/C. Plet-

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schlesien, die exakt dem Wahlergebnis entsprochen hätte, war nicht möglich. Diese hätte zu der Entstehung einer Vielzahl von Enklaven und damit zu einer vollständigen Lähmung der Wirtschaft und der Kommunikation der Region geführt.104 Entgegen dem Abstimmungsergebnis105 entschieden die Alliierten daher am 22. Oktober 1921,106 dass Polen den kleineren, mit 75 Prozent seiner Industrieanlagen und 85 Prozent seiner Kohlevorkommen aber wirtschaftlich bedeutenderen Teil Oberschlesiens107 erhält.108 Demzufolge wurden der polnischen Republik nur 30 Prozent des Abstimmungsgebiets zugesprochen, 46 Prozent der Bevölkerung, drei Viertel der Steinkohlegruben, die Mehrheit der Zinkergruben, Stahlwerke und Hochöfen.109 4. Die Freie Stadt Danzig Während des ersten Stadiums der Verhandlungen der Versailler Konferenz Anfang 1919 vertraten die Teilnehmerstaaten noch die Ansicht, dass Danzig Polen zugesprochen werden müsse. Am Ende wurde die Danziger Frage anders entschieden und Danzig als Freie Stadt errichtet.110 Gemäß Art. 100 des Versailler Vertrages verzichtete das Deutsche Reich zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte auf alle Rechte und Ansprüche hinsichtlich des Danziger Gebietes. Die Hauptmächte erwarben gemäß Art. 256 des Versailler Vertrages alles Gut und Eigentum des Deutschen Reiches, das in den Gebieten, auf die das Deutsche Reich verzichtete, belegen war. Die alliierten und assoziierten Hauptmächte waren gemäß Art. 102 des Versailler Vertrages verpflichtet, aus dem Danziger Gebiet eine Freie Stadt zu errichten. Bis zing (Hrsg.), Granica. Die deutsch-polnische Grenze vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, 2010, S. 75 ff. (76). 104 Vgl. D. Smolorz (Anm. 103), Die deutsch-polnische Grenze in Oberschlesien, in: K. Gil/C. Pletzing (Hrsg.), Granica, S. 77. 105 Städte wie Kattowitz oder Königshütte, die sich eindeutig für die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich ausgesprochen hatten, fielen an Polen. Hingegen blieb der Landkreis Groß Strehlitz deutsch, obwohl die Abstimmung zugunsten Polens ausfiel. Folglich stimmte die Entscheidung über die Aufteilung des Abstimmungsgebietes keine der beiden Seiten zufrieden. 106 Gem. § 5 S. 1 des Anhangs zu Art. 88 Versailler Vertrag sollte eine Interalliierte Abstimmungskommission, in der neben dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien auch Japan vertreten war, über die Frage Oberschlesiens entscheiden. Da diese Kommission aber keine Empfehlung abgab, wurde der Rat des Völkerbundes um ein Gutachten gebeten. Dieser wiederum beauftragte einen Ausschuss, dem ein Belgier, ein Chinese, ein Spanier und ein Brasilianer angehörten, die Stellungnahme des Rates vorzubereiten. Der Ausschuss empfahl schließlich die Aufteilung Oberschlesiens. Diese Empfehlung wurde in der Note vom 20. 10. 1921 umgesetzt. 107 Vgl. R. Ritter (Anm. 92), Die Geschichtsschreibung über Abstimmungskämpfe, S. 26. 108 Vgl. Z. M. Szaz (Anm. 98), Die deutsche Ostgrenze, S. 56; G. Rhode (Anm. 67), Staatliche Entwicklung und Grenzziehungen, in: G. Rhode (Hrsg.), Die Ostgebiete, S. 124; R. Kaczmarek, Historia Polski. 1914 – 1989, 2010, S. 105; D. Smolorz (Anm. 103), Die deutsch-polnische Grenze in Oberschlesien, in: K. Gil/C. Pletzing (Hrsg.), Granica, S. 78. 109 W. Borodziej (Anm. 63), Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 122. 110 Vgl. Art. 100 Versailler Vertrag.

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zur tatsächlichen Errichtung der Freien Stadt stand Danzig unter einem Kondominium der vier alliierten Hauptmächte.111 Art. 104 des Versailler Vertrages enthielt die Verpflichtung der alliierten und assoziierten Hauptmächte, ein Übereinkommen zwischen der polnischen Regierung und der Freien Stadt Danzig zu vermitteln. Zunächst unterzeichnete nur die Danziger Delegation ein entsprechendes Abkommen am 9. November 1920. Auf erheblichen Druck der Alliierten folgte die Unterzeichnung durch die polnische Delegation am 18. November 1920, wobei das Datum der Unterzeichnung zurückdatiert wurde.112 Die Danziger Delegation unterzeichnete daher offiziell bereits am 9. November 1920 die Errichtungsurkunde der vier Hauptmächte vom 27. Oktober 1920. Mit Inkrafttreten dieser Urkunde am 15. November 1920 wurde schließlich die Freie Stadt Danzig konstituiert.113 Die auswärtigen Beziehungen übertrug man Polen und unterwarf die Freie Stadt der polnischen Zollhoheit.114 Des Weiteren gehörte zu den Rechten der Polen im Danziger Bereich, dass ihnen ein freier Zugang zum Meer gesichert wurde und dass die polnischen Interessen zur Nutzung des Danziger Hafens gesetzlich verankert wurden.115 Trotz dieser Rechte sah die Realität anders aus, sodass die Polen mit zahlreichen Hindernissen kämpfen mussten.116 So hatten während des Polnisch-Sowjetischen Krieges die Danziger Hafenarbeiter durch einen Streik die polnischen Lieferungen behindert. Daher wurden die den Polen zugesprochenen Hafenrechte wegen der Ressentiments seitens der überwiegend deutschen Bevölkerung als unzuverlässig angesehen.117 Die Einwohner Danzigs verloren die deutsche Staatsangehörigkeit. Eine doppelte Staatsangehörigkeit für das Deutsche Reich und Danzig war untersagt.118 Die Danziger Verfassung wurde schließlich am 14. Juni 1922 verkündet, nachdem Polen und der Völkerbund sie genehmigt hatten. Darüber trat am 20. Dezember 1921 ein Sondergesetz in Kraft, das der polnischen Minderheit angemessene Schul- und Lehrmöglichkeiten zusicherte.

111 Vgl. J. Makowski, La situation juridique du territoire de la ville libre de Dantzig, in: Revue Générale de droit international public, Bd. 30 (1923), S. 169 ff. (174 f.). 112 H. V. Böttcher, Die Freie Stadt Danzig. Wege und Umwege in die europäische Zukunft, 3. Aufl. 1999, S. 88. 113 H. V. Böttcher (Anm. 112), Die Freie Stadt Danzig, S. 88 f.; B. Conrad (Anm. 7), Umkämpfte Grenzen, S. 154. 114 Art. 104 Versailler Vertrag. Hierzu S. Kutrzeba, Polska odrodzona 1914 – 1928, 3. Aufl. 1928, S. 135; H. Roos (Begr.)/M. Alexander (Anm. 45), Geschichte der Polnischen Nation, S. 93. 115 Vgl. R. Ruhnau, Danzig. Geschichte einer Stadt, 1971, S. 88; Z. M. Szaz (Anm. 98), Die deutsche Ostgrenze, S. 64 f. 116 Vgl. Z. Landau/J. Tomaszewski, Gospodarka Drugiej Rzeczypospolitej, 1991, S. 1. 117 Vgl. J. Rogall (Anm. 50), in: J. Rogall (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas, S. 374. 118 Vgl. Art. 104 Versailler Vertrag.

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5. Polens Ostgrenze a) Polnische Vorstellungen Im Zuge der Diskussion um die zukünftigen Grenzen des wieder auferstandenen polnischen Staates insbesondere im Hinblick auf die Ostgrenze bildeten sich in Polen zwei politische Richtungen119: Die sogenannte Föderalistische, die vom Sozialisten Leon Wasilewski120 entwickelt und mit Piłsudski in Verbindung gebracht wurde (Linke), und die sogenannte Inkorporationistische (Rechte), die Dmowski verkörperte.121 Ziel der Linken war es, die weitgehend litauisch, weißrussisch und ukrainisch besiedelten Regionen östlich des ethnisch polnischen Territoriums in Form einer zunächst nicht weiter definierten Föderation teilsouveräner Staatsgebilde an das polnische Kernland anzuschließen, um die Grenze des künftigen Staatenbundes möglichst weit nach Osten zu verschieben.122 Eine konkrete Ausgestaltung dieser Verbindung unterblieb.123 Piłsudskis „föderale Lösung“ diente in erster Linie dem Ziel, Polen als Kern eines antirussischen Schutzbündnisses zu etablieren, da er Russland als dauerhafte und ernste Bedrohung für Polen erachtete.124 Die Rechten hingegen forderten einen polnischen Staat, der weitgehend national homogen zusammengesetzt sein sollte.125 Im Osten sollten daher die mehrheitlich polnisch besiedelten Gebiete samt den dort lebenden Minderheiten vollständig in den künftigen polnischen Staat eingegliedert werden.126 Polen sollte als zentralistischer Nationalstaat aufgebaut werden, in welchem zwar immer noch nationale Minderheiten leben würden, die Regierungsgewalt aber von den Polen ausging.127 Das Argument für diesen Grenzverlauf war die Wiedergutmachung des „Teilungsverbrechens“, gleichzeitig beriefen sich die Anhänger dieser Konzeption auch auf histori-

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Siehe hierzu B. Conrad (Anm. 7), Umkämpfte Grenzen, S. 45 ff. Wasilewski (1870 – 1936) war enger Vertrauter Piłsudskis, wurde im Jahre 1918 erster Außenminister der Zweiten Republik und zählte im Jahre 1919 zu der polnischen Delegation auf der Friedenskonferenz. Er befasste sich intensiv mit der künftigen Ostpolitik. Dieses Interesse belegte nicht zuletzt seine Arbeit „Über die Ostgrenze des polnischen Staates“, die er bereits im Jahre 1917 veröffentlichte. 121 Die Konzeption Dmowskis wurde auch als „piastische“ bezeichnet, weil sie sich auf das erste Herrschergebilde der Piasten bezog. Das Programm Piłsudskis wurde als „jagiellonisch“ bezeichnet. Vgl. J. Rogall (Anm. 50), in: J. Rogall (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas, S. 369. 122 W. Benecke, Die Ostgebiete der Zweiten polnischen Republik, 1999, S. 9. 123 A. Schweiger, Polens Zukunft liegt im Osten. Polnische Ostkonzepte der späten Teilungszeit (1890 – 1918), 2014, S. 33. 124 Vgl. A. Schweiger (Anm. 123), Polens Zukunft liegt im Osten, S. 35. 125 Vgl. A. Schweiger (Anm. 123), Polens Zukunft liegt im Osten, S. 43. 126 W. Benecke (Anm. 122), Die Ostgebiete der Zweiten polnischen Republik, S. 9. 127 M. Kornat, Polen zwischen Hitler und Stalin. Studien zur polnischen Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit, 2012, S. 17. 120

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sche und ethnische Anfänge des polnischen Staates.128 Dabei sollte es laut Dmowski nicht um die vollständige Wiederherstellung der damaligen Grenzen gehen, sondern um ein Territorium von 447.000 km2 mit über 33 Millionen Menschen. Im Vergleich zur Adelsrepublik verzichtete Polen damit auf 311.000 km2, also auf rund 40 Prozent des alten Staatsgebietes und 16 Millionen Menschen. Auch im Westen verkleinerte sich das Staatsgebiet im Vergleich zu den Grenzen vor den Teilungen um weitere 35.000 km2 und drei Millionen Menschen.129 Während sich der Inkorporationismus am Modell eines polnischen Nationalstaates orientierte, griff der Föderalismus hingegen das geschichtsphilosophische Axiom von Polens Rolle als Vormauer der europäischen Zivilisation wieder auf und suchte die künftige Rolle der Republik als Kernmacht eines westlich-lateinischen, möglichst weit nach Osten vorgeschobenen Schutzbündnisses gegen die russische Gefahr.130 b) Beschluss des Botschafterrates vom 8. Dezember 1919: „Curzon-Linie“ Eine provisorische, aber nicht mit dem Übergang der territorialen Souveränität verbundene Bestimmung über die Ostgrenzen Polens traf der Botschafterrat am 8. Dezember 1919.131 Diese Grenzlinie, die gewöhnlich als „Curzon-Linie“ 132 bezeichnet wird, entsprach den Vorschlägen der Kommission für polnische Angelegenheiten vom 22. April 1919. Weder Sowjetrussland noch Polen gaben sich mit diesem Vorschlag zufrieden. Die Polen, insbesondere Józef Piłsudski, wollten weiterhin, dass Polen in den Grenzen von Polen-Litauen in der Zeit vor den drei Teilungen wiederhergestellt würde.

128 Vgl. J. Rogall (Anm. 50), in: J. Rogall (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas, S. 370. 129 W. Borodziej (Anm. 63), Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 109. 130 W. Benecke (Anm. 122), Die Ostgebiete der Zweiten polnischen Republik, S. 25. 131 Vgl. Die Demarkationslinie verlief vom äußersten Zipfel Ostpreußens nach Grodno und von dort südlich bis zum Bug, dann über Brest-Litowsk den Bug entlang bis Sokoly, wo bisher das Habsburger- und das Zarenreich sich berührt hatten. Diese Linie entsprach weitgehend der Grenze, die zwischen 1815 und 1914 Kongresspolen und Russland voneinander getrennt hatte. 132 Den Namen „Curzon-Linie“ erhielt die Demarkationslinie erst im Juli 1920, nachdem sie im Zusammenhang mit den Waffenstillstandsverhandlungen der Alliierten im PolnischSowjetischen Krieg vom britischen Außenminister Lord Curzon im Protokoll von Spa als Waffenstillstandslinie vorgeschlagen worden war. Vgl. K. von Jena, Polnische Ostpolitik nach dem Ersten Weltkrieg. Das Problem der Beziehungen zu Sowjetrussland nach dem Rigaer Frieden von 1921, 1980, S. 22.

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c) Militärische Auseinandersetzungen um die Ostgrenze aa) Polnisch-Ukrainischer Krieg Am 27. Oktober 1918 bildete sich auf Beschluss des Regentschaftsrates in Krakau aus Vertretern aller polnischen Parteien eine „Liquidationskommission“, die innerhalb weniger Tage die volle Gebietshoheit in Westgalizien übernahm.133 Westgalizien gehörte ab diesem Zeitpunkt de facto zum polnischen Staatsgebiet. In Ostgalizien kam es hingegen zu Kampfhandlungen mit den Ukrainern.134 Die polnischen Truppen besetzten dieses Gebiet, es erfolgte also eine Besatzung Ostgaliziens durch den polnischen Staat.135 Die Kampfhandlungen zwischen Polen und Ukrainern dauerten gleichwohl bis zum Frühjahr 1919 an. Als Österreich-Ungarn Ende Oktober 1918 zusammenbrach, verlangte der ukrainische Nationalrat vom letzten österreichischen Statthalter in Galizien, die Kontrolle über Ostgalizien offiziell an die Ukrainer zu übertragen. Als der Statthalter dieser Forderung am 31. Oktober 1918 entsprochen hatte, marschierten ukrainische Milizen in Lemberg ein, um sicherzustellen, dass es unter ukrainische Kontrolle kommt. Für die Polen äußerst überraschend wurde am 1. November 1918 die Westukrainische Volksrepublik mit Lemberg als Hauptstadt ausgerufen. Die Proklamation der Republik sah die Souveränität für Ostgalizien einschließlich der Karpaten bis nach Nowy Sa˛cz im Westen sowie für Wolhynien, die Karpatoukraine und die Bukowina vor. Im Dezember 1918 begannen die Kämpfe in Wolhynien. Polnische Einheiten versuchten, die Kontrolle über die Region zu gewinnen, während zur selben Zeit die Kräfte der Westukrainischen Volksrepublik versuchten, die von ihnen kontrollierten Gebiete nach Westen, in Richtung der Stadt Chełm, auszudehnen. 136 Der Konflikt konnte schließlich im März 1919 zugunsten der Polen beigelegt werden. Diese Konfliktbeilegung wehrte jedoch nicht lange, da bereits am 14. Mai 1919 die polnische militärische Generaloffensive in Wolhynien und Ostgalizien begann. Am 17. Juli 1919 wurde eine Waffenruhe vereinbart, die den Krieg endgültig beendete. Der Botschafterrat beschloss schließlich auf seiner Sitzung am 21. November 1919, dass Polen das Territorium Ostgaliziens auf Grundlage einer Art Mandat des Völkerbundes für die Dauer von 25 Jahren verwalten sollte, verbunden mit der Auflage nach Ablauf dieses Zeitraumes eine Volksbefragung abzuhalten. Formal bedeutete dies die Anerkennung der kriegerischen Besatzung Ostgaliziens durch Polen, es bedeutete aber nicht, dass damit der rechtliche Übergang Ostgaliziens in 133 Vgl. E. Hurwicz, Der neue Osten. Wandlungen und Aussichten, 1927, S. 10; S. Hubert, Rozbiory i odrodzenie Rzeczypospolitej. Zagadnienie prawa mie˛ dzynarodowego, 1937, S. 213. 134 P. Roth (Anm. 6), Die Entstehung des polnischen Staates, S. 29. 135 C. Berezowski (Anm. 20), Powstanie pan´stwa polskiego, S. 282. 136 Siehe zum Hintergrund und Verlauf des Konfliktes B. Conrad (Anm. 7), Umkämpfte Grenzen, S. 204 ff.

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das polnische Staatsgebiet anerkannt wurde.137 Weder die polnische noch die westukrainische Seite waren mit dieser Lösung zufrieden. bb) Polnisch-Litauischer Krieg Die Polen bildeten in Wilna die Mehrheit der Bevölkerung, gefolgt von den Juden und den Litauern, die die kleinste Minderheit darstellten. Auch im Umland der Stadt dominierten polnische Bauern.138 Diese Tatsache bildete die Grundlage für die Begründung der Gebietsansprüche seitens der polnischen Seite. Bei den Polen herrschte daher große Unzufriedenheit darüber, dass Wilna gemäß der Curzon-Linie auf der Seite Litauens verblieb. Nach einem am 10. Juli 1920 unterzeichneten Protokoll über die Bedingungen des Waffenstillstandes zwischen Polen und Sowjetrussland sollte sich Polen hinter die Curzon-Linie zurückziehen. Sowjetrussland hielt sich aber nicht an diesen Waffenstillstand und drang weiter in das Innere Polens vor. Am 14. Juli 1920 wurde Wilna schließlich von der Roten Armee besetzt. Am 15. Juli 1920 wurde der Frieden zwischen der Republik Litauen und Sowjetrussland unterzeichnet. Sowjetrussland erkannte Litauen als unabhängigen Staat an und am 27. August 1920 übergab die Rote Armee Wilna endgültig an Litauen. Am 7. Oktober 1920 unterzeichneten Polen und Litauen durch Vermittlung des Völkerbundes schließlich den Vertrag von Suwałki. Das Abkommen sah in Art. 1 vor, dass die Demarkationslinie entsprechend der Curzon-Linie verlaufen sollte. Darüber hinaus verpflichteten sich beide Seiten dazu, die Feindseligkeiten einzustellen. Der Status von Wilna blieb durch den Vertrag unberührt. Trotz dieses Abkommens besetzten polnische Truppen bereits zwei Tage nach Vertragsabschluss Wilna und weitere Gebiete im Umland.139 Als vorübergehende Lösung wurde die Gründung von Mittel-Litauen (etwa 13.000 km2 und eine halbe Million Einwohner) auf dem besetzten Gebiet proklamiert. cc) Polnisch-Sowjetischer Krieg Bis heute ist der genaue Zeitpunkt des Beginns sowie der Auslöser des PolnischSowjetischen Krieges umstritten. Teilweise wird der polnische Angriff auf Kiew als Beginn des Krieges angesehen. Andere siedeln den Kriegsbeginn bereits im Jahre 1919 an. Fest steht, dass seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zwischen Polen und Sowjetrussland ein Grenzkonflikt vorherrschte und die ersten militärischen Zusammenstöße um die Stadt Wilna zwischen beiden Staaten bereits im Frühjahr 1919 erfolgten. 140

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Vgl. B. Conrad (Anm. 7), Umkämpfte Grenzen, S. 218. W. Benecke (Anm. 122), Die Ostgebiete der Zweiten polnischen Republik, S. 111. 139 W. Borodziej (Anm. 63), Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 112. 140 Vgl. K. von Jena (Anm. 132), Polnische Ostpolitik, S. 21. 138

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Die am 21. April 1920 in Warschau unterzeichnete polnisch-ukrainische Allianz, die als „Piłsudski-Petljura-Pakt“ bekannt ist, kündigte den Kampf um die Befreiung der Ukraine von der sowjetischen Herrschaft an.141 Auf Grundlage dieser Allianz startete Polen am 22. April eine Offensive in Richtung der ukrainischen Hauptstadt. Polen verfolgte dabei das Ziel, einen bedeutenden Verbündeten zu gewinnen. Nach nur zwei Wochen marschierten polnische Truppen am 7. Mai 1920 in Kiew ein.142 Die Rote Armee setzte allerdings bald zur Gegenoffensive an, sodass am 5. Juni die polnische Südfront zusammenbrach, sechs Tage später verließen die Polen Kiew. Durch die stark ausgedehnte Front war die Rote Armee allerdings geschwächt und konnte bei einem Gegenangriff neu formierter Truppen unter Piłsudski am 16. August 1920 entscheidend militärisch besiegt und zur Aufgabe aller eroberten Gebiete gezwungen werden.143 Der polnische Gegenangriff und Sieg bei Warschau wurde als „Wunder an der Weichsel“ zum Gründungsmythos der polnischen Republik. d) Friedensvertrag von Riga Im Friedensvertrag von Riga vom 18. März 1921144, der den Polnisch-Sowjetischen Krieg formal beendete,145 wurde Polens Ostgrenze etwa 250 Kilometer östlich der Curzon-Linie festgelegt.146 Polen bekam große Teile der Ukraine und Weißrusslands sowie die litauische Hauptstadt Wilna zugesprochen.147 Die Polen waren trotz ihres Sieges mit dem Versuch gescheitert, ein „Zwischeneuropa“ als antirussisches Staatensystem zu organisieren. Ostgalizien und Wolhynien blieben bei Polen, die weitaus größeren Gebiete der Zentral- und Ostukraine wurden hingegen an die Sowjetrepublik angegliedert.

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M. Kornat (Anm. 129), Polen zwischen Hitler und Stalin, S. 20. Zum Kriegsverlauf siehe H. Roos (Begr.)/M. Alexander (Anm. 45), Geschichte der Polnischen Nation, S. 82 ff.; B. Conrad (Anm. 7), Umkämpfte Grenzen, S. 229 ff. 143 Vgl. K. von Jena (Anm. 134), Polnische Ostpolitik, S. 29. Zu den Ereignissen und dem Hintergrund des Krieges unübertroffen N. Davies, White Eagle, Red Star. The Polish-Soviet War 1919 – 20, 1983, S. 130 ff., 188 ff. 144 Der Friedensvertrag von Riga wurde am 18. 3. 1921 unterzeichnet und trat am 30. 4. 1921 in Kraft. Vgl. poln. Text: K. W. Kumaniecki (Anm. 21), Odbudowa, Nr. 252, S. 526 – 545; dt. Text: H. K. G. Rönnefarth/H. Euler (Anm. 14), Konferenzen und Verträge, S. 63 ff. 145 Vgl. J. Kumaniecki, Pokój polsko-radziecki 1921. Geneza, Rokowania, Traktat, Komisje mieszane, 1985, S. 63. 146 Vgl. H. V. Böttcher (Anm. 112), Die Freie Stadt Danzig, S. 53; Art II des Rigaer Friedensvertrages zwischen Polen und Russland mit der Ukraine; insgesamt konnte Polen mit der Grenzverschiebung ein Gebiet von etwa 10.000 km2 hinzu gewinnen. Vgl. Z. G. Kowalski, Granica ryska, in: M. Wojciechowski (Hrsg.), Traktat ryski 1921 roku po 75 latach, 1998, S. 127 ff. (133). 147 B. Kempen, Die deutsch-polnische Grenze nach der Friedensregelung des Zwei-plusVier-Vertrages, 1997, S. 23 f. 142

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e) Beschluss des Botschafterrates vom 15. März 1923 Mit dem Beschluss des Botschafterrates vom 15. März 1923 wurden gemäß Art. 87 Abs. 3 des Versailler Vertrages die bisher noch nicht bestimmten östlichen Grenzen Polens festgelegt.148 Da Polens Souveränität über ganz Galizien anerkannt wurde, wurde auch endgültig über die Eingliederung Ostgaliziens in das polnische Staatsgebiet entschieden. Darüber hinaus wurde Wilna als polnisches Staatsgebiet anerkannt.149 6. Schlussfolgerung Nach der endgültigen Festlegung der Grenzen der neuen polnischen Republik besaß der polnische Staat ein Territorium von knapp 389.000 km2, das mit 27 Millionen Einwohnern bewohnt war.150 Damit war die Zweite Republik nach der Sowjetunion und dem Deutschen Reich der bevölkerungsreichste Staat in Europa.151 Die polnische Grenze hatte insgesamt eine Länge von 5.534 km, wobei die Grenze zum Deutschen Reich 1.912 km, zu Sowjetrussland 1.412 km, zur Tschechoslowakei 984 km, zu Litauen 507 km, zu Rumänien 349 km, zu Lettland 109 km und zur Freien Stadt Danzig 121 km lang war.152 Die Seeküste hatte eine Länge von lediglich 140 km153, wobei damals der Zugang zur Ostsee nur durch die Freie Stadt Danzig möglich war.154 Der Bau des Hafens Gdingen begann erst 1921. Dieses neu auferstandene Staatsgebilde verursachte ein neues Kräfteverhältnis in Ostmitteleuropa. Die vielen territorialen Kämpfe der Polen trugen dazu bei, dass Polen als ein Unruheherd innerhalb Europas wahrgenommen wurde und hieraus ein insgesamt negatives Bild über den jungen polnischen Staat vorherrschte.155 Dieses Bild brachte der britische Premier Lloyd George auf den Punkt, als er feststellte, dass Europa vor dem Ersten Weltkrieg nur ein Elsass-Lothringen gehabt habe, das

148 Vgl. P. Łossowski, Stosunki polsko-litewskie 1921 – 1939, 1997, S. 43; A. Bubnys, Der litauisch-polnische Konflikt 1919 – 1923 aus völkerrechtlicher Sicht, in: E. Oberländer (Hrsg.), Polen nach dem Kommunismus, 1993, S. 106 ff. (112); A. A. Alius, Die Curzon-Linie. Das Grenzproblem Sowjetunion-Polen, 1945, S. 39. 149 P. Roth (Anm. 6), Die Entstehung des polnischen Staates, S. 111, 125 f.; E. Hurwicz (Anm. 132), Der neue Osten, S. 14. 150 Główny Urza¸ d Statystyczny, Polska 1918 – 1988 (dane statystyczne), 1989, S. 9; J. Rogall (Anm. 50), in: J. Rogall (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas, S. 373. 151 W. Borodziej (Anm. 63), Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 99. 152 Siehe bei Z. Landau/J. Tomaszewski (Anm. 118), Gospodarka Drugiej Rzeczypospolitej, S. 1; W. Bonusiak, Druga Rzeczpospolita (1918 – 1939), 2011, S. 38. 153 Vgl. W. Bonusiak (Anm. 152), Druga Rzeczpospolita, S. 39. 154 Z. Landau/J. Tomaszewski (Anm. 116), Gospodarka Drugiej Rzeczypospolitej, S. 1. 155 So auch die Einschätzung Rogalls in J. Rogall (Anm. 50), in: J. Rogall (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas, S. 376.

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wiederauferstandene Polen dagegen jetzt gleich „fünf Elsass-Lothringen“ zutage gebracht habe.156

IV. Bevölkerung 1. Situation und Statistik Eine Folge der Fremdherrschaft über die polnische Nation war, dass die Polen als Untertanen in allen drei Teilungsgebieten zum Wehrdienst eingezogen wurden. Beinahe 400.00 Soldaten fielen auf diese Weise bei den Kampfhandlungen des Ersten Weltkrieges. Hinzu kamen die Opfer in der polnischen Zivilbevölkerung, die auf 50.000 geschätzt werden.157 Zu den polnischen Kriegsschäden zählen auch die Zwangsdeportationen der polnischen Bevölkerung. So deportierte Russland die polnische Zivilbevölkerung aus der Kriegszone insbesondere nach Sibirien und Turkestan. Nach der amtlichen russischen Statistik befanden sich bis Oktober 1916 insgesamt zwei Millionen Polen als „Flüchtlinge“ auf russischem Boden. Nur etwa eine Million kehrte mittellos in die polnische Republik zurück.158 Durch die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs verringerte sich die Bevölkerung im künftigen polnischen Staatsgebiet von 30,3 Millionen im Jahr 1913 auf 26,3 Millionen bei Kriegsende, d. h. um etwa 13 Prozent. Die erwähnte Rückkehr der Polen vor allem aus Russland, aber auch aus Österreich, verbesserte diese Bilanz erheblich. Gleichzeitig verschärften die meist mittellosen Rückkehrer, die ihr ganzes Hab und Gut verloren hatten, die ohnehin von dramatischer Verarmung geprägte Lage im Land.159 Der Kampf ums Überleben beeinflusste den Alltag der Bevölkerung besonders in den Wintermonaten, nicht nur in den Jahren 1918/19, sondern auch noch in den Jahren 1920/21, als der letzte Nachfolgekrieg zu Ende ging. Die erste Bevölkerungszählung von 1921 ergab 27 Millionen Bürger in der Republik,160 darunter über 18 Millionen Polen (69,2 %). Fast jeder dritte Staatsbürger gehörte einer Minderheit an. Die Hälfte der ursprünglich zwei Millionen Deutschen verließ das polnische Staatsgebiet und wanderte161 ins Deutsche Reich aus.162 Dane156

M. Kornat (Anm. 127), Polen zwischen Hitler und Stalin, S. 33. Vgl. I. Loose (Anm. 64), Der Erste Weltkrieg als Eschatologie, in: N. Stegmann (Hrsg.), Die Weltkriege als symbolische Bezugspunkte, S. 43. 158 Generalkonsul St. Zielin´ski (Anm. 1), Polen 1918 – 1930, S. 5. 159 W. Borodziej (Anm. 63), Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 99. 160 Główny Urza¸ d Statystyczny, Polska 1918 – 1988 (dane statystyczne), 1989, S. 9. 161 Zwischen vielen Deutschen und Polen ist umstritten, wie die „Wanderung“ der Deutschen ins Deutsche Reich nach dem Ersten Weltkrieg rechtlich zu bewerten ist. Von deutscher Seite aus wird insbesondere gestützt auf Zeugenaussagen häufig von „Vertreibungen“ ge157

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ben lebten 3,7 Millionen Ukrainer (14,3 %), 1,06 Millionen Weißrussen (3,9 %) und 2,7 Millionen Juden (7,8 %) in Polen.163 Polen erlebte in den 1920er Jahren einen regelrechten Babyboom. Das Bevölkerungswachstum betrug fast das Dreifache des österreichischen und war im Vergleich zum deutschen und tschechoslowakischen jeweils doppelt so hoch.164 Auf diese Weise ist die Bevölkerung bis zum Jahre 1938 auf 34,5 Millionen gestiegen.165 2. Minderheiten a) Minderheitenschutzvertrag Der Hauptgrund für die Verpflichtung Polens zur Unterzeichnung des Minderheitenschutzvertrages war, dass die Teilnehmerstaaten der Friedenskonferenz Misstrauen gegenüber Polen im Hinblick auf die Behandlung der jüdischen, deutschen und ungarischen Minderheit hatten. Dieses Misstrauen geht insbesondere auf die Vorkommnisse in den Jahren 1918 und 1919 zurück, als es zu einer Reihe von Pogromen und antijüdischen Ausschreitungen in mehreren polnischen Städten gekommen war, darunter im November 1919 in Lemberg, wo 72 Juden ermordet wurden.166 Der Minderheitenschutzvertrag wurde in Polen als „kleiner Versailler Vertrag“ bezeichnet, weil er zusammen mit dem Versailler Vertrag am 28. Juni 1919 unterschrieben wersprochen, während die polnische Seite offiziell von einer „Ausreise“ bzw. „Abwanderung“ spricht. Aus völkerrechtlicher Sicht wird unter Vertreibung, die mit Gewalt oder sonstigen Zwangsmitteln bewirkte Aussiedlung der Bevölkerung aus ihrer Heimat, sei es mit oder ohne völkerrechtlichen Bevölkerungsaustauschvertrag, verstanden. Die Vertreibung vollzieht sich demnach äußerlich als Ausweisung, Verjagung oder Flucht über die Grenzen des vertreibenden Staates hinweg (vgl. H. Bülck, Vertreibung, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer [Hrsg.], Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. III, 1962, S. 560 ff. [560]; K. Ambos, Internationales Strafrecht, 4. Aufl. 2014, S. 298; A.-M. de Zayas, Population, Expulsion and Transfer, in: R. Bernhardt [ed.], Encyclopedia of Public International Law, vol. 3, 1997, S. 1062 ff. [1063 ff.]). Aus dieser Definition kann geschlossen werden, dass zahlreiche Vorkommnisse, die mit einer „Ausreise“ von Deutschen in Zusammenhang standen, sicherlich als Vertreibung seitens der Polen bewertet werden müssen. Dies lässt sich mit der grundlegenden Einstellung der Polen im Sinne ihrer Polonisierungspolitik begründen. Gleichwohl führen diese Vorkommnisse nicht dazu, dass von einer systematischen Vertreibung der Deutschen aus Polen gesprochen werden kann. Zu konstatieren ist allerdings, dass die Abwanderung ins Deutsche Reich von vielen Deutschen dennoch als eine Vertreibung empfunden wurde. Vgl. H. Michael (Anm. 51), Zwischen den Kriegen, S. 150. 162 Hierzu J. Rogall (Anm. 50), in: J. Rogall (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas, S. 381 f.; W. Bonusiak (Anm. 152), Druga Rzeczpospolita, S. 44. 163 Vgl. die Statistik bei W. Bonusiak (Anm. 152), Druga Rzeczpospolita, S. 43 f.; H. Michael (Anm. 51), Zwischen den Kriegen, S. 148. 164 W. Borodziej (Anm. 63), Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 158. 165 M. Barski (Anm. 51), Die österreichisch-polnischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit, S. 48. 166 Hierzu ausführlich K. Zielin´ski, Stosunki polsko-z˙ ydowskie na ziemiach Królestwa Polskiego w czasie pierwszej wojny s´wiatowej, S. 405 ff.

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den musste und auf diese Weise die Ansicht vorherrschte, dass er Polen „aufgezwungen“ wurde.167 Die polnische Bevölkerung sah den Vertrag sehr kritisch und verband ihn mit einer einseitigen Diskriminierung, die als Einmischung in die polnischen Angelegenheiten bewertet wurde.168 Eventuelle Klagen der Minderheiten sollten daher vor dem Völkerbundrat verhandelt werden. Sofern Polen als beschuldigter Staat das Urteil nicht annehmen würde, sollte die Angelegenheit vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag erneut verhandelt werden. b) Deutsch-Polnisches Abkommen über Oberschlesien Ferner wurde am 15. Mai 1922 das Deutsch-Polnische Abkommen über Oberschlesien (auch als Genfer Abkommen bezeichnet) unter Aufsicht des Völkerbundes in Genf geschlossen. Das Abkommen regelte neben dem Schutz von Minderheiten auch die wirtschaftlichen Verhältnisse in den vom Deutschen Reich an Polen abgetretenen Gebieten in Oberschlesien und sah die Einrichtung einer internationalen Schiedskommission vor.169 Während das Abkommen von der polnischen Seite als positiv empfunden wurde, erachteten es die Deutschen für einen weiteren „Schandfleck“.170 Zwischen den Jahren 1926 und 1929 kam es zu fast 100 Beschwerden wegen Verstößen gegen das Abkommen. c) Schlussfolgerung Durch den Minderheitenschutzvertrag von Versailles, die Verfassung171, den Frieden von Riga, sowie das Genfer Abkommen waren die Minderheiten im polnischen Staatsgebiet rechtlich geschützt. Doch die Realität sah anders aus, denn die nationaldemokratisch geführte Regierung in Warschau betrieb eine Polonisierungspolitik, die zu der bereits erwähnten massiven Ausreisewelle der Deutschen führte. So wurden vor allem in Ostpolen zahlreiche deutsche, ukrainische, russische und auch litauische Schulen geschlossen.172 Die Deutschen reagierten auf diese Unterdrückung in der Weise, dass sie sich zunehmend politische Vertretungen aufbauten, vor allem in Oberschlesien, darunter die Deutsche Katholische Volkspartei.173 Insbesondere 167

W. Borodziej (Anm. 63), Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 108. Vgl. J. Rogall (Anm. 50), in: J. Rogall (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas, S. 378. 169 P. Urban (Anm. 70), Deutsche in Polen, S. 39. 170 W. Borodziej (Anm. 63), Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 122. 171 Art. 109 der poln. Verfassung von 1921 lautete: „Jeder Bürger hat das Recht auf Beibehaltung seiner Volkszugehörigkeit und Pflege seiner Sprache und nationalen Eigenarten“. 172 P. Urban (Anm. 70), Deutsche in Polen, S. 39. 173 Hierzu: Vgl. B. Lakeberg, Das politische Leben der Deutschen in der Zweiten Republik Polen und die Auswirkungen der Teilungszeit, in: M. G. Müller/K. Struve (Hrsg.), Fragmen168

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die deutsche Minderheit nutzte zudem die Möglichkeit, internationale Schiedsorgane anzurufen. Zwischen 1920 und 1930 gab es über 300 Petitionen aus Polen an den Völkerbund.174 Somit war Polen de facto ein multinationaler Staat.175 3. Bildung Der Bildungsstandard in Polen war insbesondere in den ersten Nachkriegsjahren sehr unterschiedlich. Im Landesdurchschnitt war jeder Dritte Analphabet, in einigen Wojewodschaften im Osten, darunter Podlesien und Wolhynien lag der Anteil der Analphabeten sogar bei 50 Prozent, während in Oberschlesien nur 1,5 Prozent und im ehemals preußischen Teilungsgebiet nur acht Prozent Analphabeten waren.176 Die Zweite Polnische Republik baute ihr Hochschulwesen schnell aus. So kamen zu den bereits existierenden Universitäten in Krakau, Warschau und Lemberg im Jahre 1918 die Katholische Universität in Lublin, im Jahre 1919 die wiedergegründete Universität in Wilna und im selben Jahr die Universität Posen hinzu. V. Die politischen und wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkrieges 1. Innenpolitik a) Allgemein Wichtigste Aufgabe der polnischen politischen Führung war es, staatliche Institutionen zu etablieren, hierzu zählten die Bildung einer zentralen Gewalt, die Aufstellung einer Armee und die Festlegung der Grenzen. Innenpolitisch waren die Jahre bis 1926 durch die Abfolge mehrerer parlamentarischer Regierungen dominiert. Im Jahre 1925 gab es 92 registrierte Parteien, wovon 32 im Parlament vertreten waren. Zum ersten offiziellen Präsidenten Polens wurde im Jahre 1922 Gabriel Narutowicz, ein Vertreter der gemäßigten Linken, gewählt. Narutowicz wurde jedoch wenige Tage nach seiner Amtseinführung von einem nationalistischen Fanatiker ermordet. Zu seinem Nachfolger wählte die Nationalversammlung den gemäßigten Sozialisten Stanisław Wojciechowski. Die häufig wechselnden Regierungen Polens standen vor der Aufgabe, drei unterschiedliche Verwaltungs-, Rechts-, Verkehrs- und Bildungssysteme zusammenzuführen, die wirtschaftlichen und sozialen Unausgewogenheiten zu beseitigen und die ethnischen Minderheiten zu integrieren. Doch zeigte sich schnell, dass diese Auftierte Politik? Das politische Erbe der Teilungszeit in Polen 1918 – 1939, 2017, S. 351 ff. (353 ff.). 174 Vgl. H. Michael (Anm. 51), Zwischen den Kriegen, S. 151 ff. 175 So auch W. Bonusiak (Anm. 152), Druga Rzeczpospolita, S. 43. 176 W. Borodziej (Anm. 63), Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 130.

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gabe insbesondere vor dem Hintergrund der zahlreichen Grenzkonflikte schwieriger als angenommen war. Aufgrund der Uneinigkeit und Zerrissenheit innerhalb der verschiedenen politischen Lager waren die Nachkriegsjahre von einer instabilen innenpolitischen Situation geprägt. b) Mai-Umsturz Vor dem Hintergrund wachsender Korruption und Ämterstreitigkeiten unter den häufig wechselnden, instabilen Regierungen, vor allem aber angesichts einer seit 1925 bedrohlicher werdenden Wirtschaftskrise mit steigender Arbeitslosigkeit und staatlicher Finanznot, führte Piłsudski am 12. Mai 1926 einen Staatsstreich durch.177 Gestützt auf seine außerordentlich große Autorität bei der Bevölkerung und auf die Loyalität der Streitkräfte, begann er unter formaler Beibehaltung der Verfassung eine „moralische Diktatur“, die zu einer „Gesundung“ (poln: sanacja) des vermeintlichen Versagens des bisherigen politischen Systems führen sollte. Bis zu seinem Tod im Jahre 1935 blieb Piłsudski in Polen an der Macht. Die Jahre von 1926 bis 1929 brachten vor allem dank der guten Finanzverwaltung Piłsudskis einen gewissen Wohlstand in Polen und zählten jedenfalls zu den glücklichsten Jahren der Zwischenkriegszeit. So ging die Arbeitslosigkeit nahezu vollständig zurück und Investitionen konnten in Angriff genommen werden.178 2. Außenpolitik Die polnische Außenpolitik war in den 1920er Jahren ausgerichtet auf die Stärkung des Status quo und die Vorbereitung auf die Verteidigung des eigenen Staates im Hinblick auf den „unausweichlichen zukünftigen Zusammenstoß mit dem Deutschen Reich“.179 Die wohl bedeutendste außenpolitische Fragestellung im Hinblick auf Polen war, ob der polnische Staat eher als „Barriere“ oder als „Brücke“ zwischen dem Deutschen Reich und Russland bzw. zwischen Ost und West fungieren sollte. Piłsudski plädierte für eine selbständige Außenpolitik, die weder das Deutsche Reich noch Russland nachgeben würde. Daher sprach er auch von der Notwendigkeit eines „neutralen Polens“, das eine stabile Politik betreibe, die unabhängig von Schwankungen internationaler Konstellationen sein sollte. Polen sollte kein Staat werden, der nicht ohne den Schutz der Mächtigen überlebensfähig sein könne. Gleichwohl stellte Polen wegen seiner geopolitischen Lage im Rahmen des Versailler Systems dessen

177

Vgl. H. Roos (Begr.)/M. Alexander (Anm. 45), Geschichte der Polnischen Nation, S. 115. 178 Vgl. H. Roos (Begr.)/M. Alexander (Anm. 45), Geschichte der Polnischen Nation, S. 121. 179 Vgl. M. Kornat (Anm. 127), Polen zwischen Hitler und Stalin, S. 35.

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„Achse“ dar.180 Das Zurückdrängen Russlands in seine ethnischen Grenzen war die Schlüsselaufgabe der polnischen Außenrepublik. Dieses Programm resultierte aus dem Bestreben, Russland soweit wie möglich zu schwächen. Ein großes Problem der Republik bestand darin, dass sie in ihrer unmittelbaren Umgebung so gut wie keine Partner fand. Die beiden großen Nachbarn, das Deutsche Reich und Sowjetrussland waren nach dem Krieg Feinde. Hinzu kamen die Feindschaft zur Tschechoslowakei und das ungeregelte Verhältnis zu Litauen. Auch waren die Beziehungen zur Freien Stadt Danzig äußerst angespannt. Gute Beziehungen unterhielt die Republik lediglich zu Lettland und zu Rumänien, mit dem es verbündet war. Das Fundament der polnischen Außenpolitik war die Allianz zu Frankreich, die am 19. Februar 1921 in Paris mittels eines politischen Vertrages und eines Militärabkommens geschlossen wurde. Für Polen war von großer Bedeutung, dass neben einer gegenseitigen Verständigung Frankreich im Rahmen des Militärabkommens Polen vor einem vom Deutschen Reich begonnenen Krieg oder militärischen Aktionen verteidigen und seine berechtigten Interessen schützen würde.181 Die Allianz mit Rumänien besaß hingegen nur eine geringe Abschreckung für den Fall eines Konfliktes mit Sowjetrussland und hatte damit für Polen einen geringeren Wert als die polnisch-französische Allianz.182 Parallel zu dieser außenpolitischen Entwicklung kamen die immer besser werdenden Beziehungen zum Vereinigten Königreich von Großbritannien hinzu. Für die Stabilisierung Mitteleuropas, die wichtigste Aufgabe im Rahmen der polnischen Außenpolitik, waren gute Beziehungen zur Tschechoslowakei unabdingbar. Dies verdeutlichte bereits ein Blick auf die Karte. Trotz der Bemühungen der polnischen Seite kam es nicht zu einer Versöhnung und Annäherung zwischen beiden Staaten. Der Hauptgrund hierfür war, dass die Tschechoslowakei Polen skeptisch gegenüberstand und es als eine Bedrohung für ihre staatliche Existenz wahrnahm.183 Als außenpolitische Ziele Polens können demnach die Verteidigung des Status quo in Europa, die Beibehaltung der Verteidigungsbündnisse mit Frankreich und Rumänien und der Aufbau eines mitteleuropäischen Staatenblockes zusammengefasst werden.184

180

M. Kornat (Anm. 127), Polen zwischen Hitler und Stalin, S. 28. M. Kornat (Anm. 127), Polen zwischen Hitler und Stalin, S. 30. 182 Vgl. M. K. Kamin´ski/M. J. Zacharias, W cieniu zagroz˙ enia. Polityka zagraniczna RP 1918 – 1939, 1993, S. 62 f. 183 Vgl. H. Michael (Anm. 51), Zwischen den Kriegen, S. 134; M. Kornat (Anm. 127), Polen zwischen Hitler und Stalin, S. 35 f. 184 M. Kornat (Anm. 127), Polen zwischen Hitler und Stalin, S. 63. 181

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3. Wirtschaft a) Allgemein Nach dem Ersten Weltkrieg verfügte Polen über ein Gebiet von 388.600 km2. Davon wurden 260.000 km2 landwirtschaftlich genutzt. Das übrige Staatsgebiet verteilte sich mit 83.000 km2 auf Waldgebiete, mit 35.000 km2 auf Städte und 10.000 km2 auf Gebirgsregionen.185 Schätzungen zufolge gingen mehr als 50 Prozent der wirtschaftlichen Schäden auf die deutsche Besatzungsmacht zurück, über ein Fünftel auf die österreichische, weniger als ein Fünftel auf die russische Politik; nur vier Prozent waren direkte Folgen der Kriegshandlungen.186 Die Zahl der handwerklichen Betriebe verdoppelte sich innerhalb von zwei Jahren (1919 – 1921). Die Landwirtschaft erholte sich als erste und erreichte in den Jahren 1921 bis 1923 in den meisten Bereichen den Stand der Vorkriegszeit.187 Noch härter traf der Krieg die Industrie. In Zentralpolen lebten im November 1918 nur noch etwa 15 Prozent der Arbeiter von 1913. Der Grund für diese Entwicklung war die Vernichtung der Verkehrsverbindungen. Hinzu kam der Verlust an Menschen, die als Arbeitskräfte fehlten.188 Lediglich auf dem Boden des preußischen Teilungsgebiets beschränkten sich die Kriegsfolgen auf jenes Maß, das für das gesamte Deutsche Reich charakteristisch war: Rückgang der landwirtschaftlichen Erträge, Produktionsrückgang in mehreren Industriezweigen, die unter Rohstoffmangel zusammenbrachen bzw. unter dem Wegfall der Absatzmärkte.189 In Zentralpolen gaben die direkten Kriegseinwirkungen von 1914 und 1915 ebenfalls nicht den Ausschlag für die negativen Entwicklungen. Gravierend wirkte sich hier hingegen die russische Politik von 1915 aus, vor allem die Evakuierung von mehr als ein Dreiviertel Millionen Zivilisten und die Demontage der Industrieanlagen während des Rückzugs der Roten Armee. In kriegsgewichtigen Branchen gelang es zwar, die Produktion zu steigern, so etwa die Kohleförderung im Dombrowaer Becken von 1,6 Millionen Tonnen im Jahre 1915 auf fast 2,5 Millionen Tonnen im Jahre 1917, in mehreren anderen Bereichen wurde die Produktion jedoch entweder verlagert oder vor Ort komplett eingestellt, so etwa in der Textilindustrie.190

185 M. Barski (Anm. 51), Die österreichisch-polnischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit, S. 47. 186 Vgl. Z. Landau/J. Tomaszewski (Anm. 118), Gospodarka Drugiej Rzeczypospolitej, S. 42. 187 W. Borodziej (Anm. 63), Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 134. 188 Vgl. W. Borodziej (Anm. 63), Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 98. 189 Vgl. H. Michael (Anm. 51), Zwischen den Kriegen, S. 140 f. 190 W. Borodziej (Anm. 63), Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 97 f.

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Im Westen Galiziens fiel der wichtigste Industriezweig, die Erdölförderung, um ein Drittel. Noch schlechter erging es dem östlichen Teil des Landes, der 1914 bis 1917 Kriegsschauplatz gewesen war. Zerstörungen Hunger und Krankheiten wurden hier zum erbitterten Alltag. In Wolhynien, wo die größten Schlachten der Ostfront getobt hatten und auch weiter im Norden, wo über zwei Jahre lang der Stellungskrieg stattfand, sah man nach Kriegsende nur Verwüstung.191 Im ehemaligen Kongresspolen hatte vor allem die Lebensmittelversorgung drastische Folgen für die Bevölkerung. So fielen im Jahre 1918 die Lebensmittelzuteilungen auf knapp 900 Kalorien, die Zahl der Tuberkuloseerkrankten in Warschau verfünffachte sich bis zum Frühjahr 1917.192 Polen hatte unter anderem wegen der enormen Staatsausgaben, insbesondere für das Militär (etwa ein Drittel), im Jahre 1929 eine Gesamtverschuldung von rund 4,1 Milliarden Złoty (entsprach 1,93 Milliarden Reichsmark). Dagegen lag die deutsche Reichsschuld mit Stand vom 30. September 1929 bei 9,58 Milliarden Reichsmark (ohne Reparationen).193 Die größte Herausforderung für die Konsolidierung des polnischen Staatswesens war, dass durch die Teilung Polens sich die jetzt in einem Staat wiedervereinten Teile sehr unterschiedlich entwickelt hatten und so etwa das ehemals russische Teilungsgebiet im Verhältnis zum preußischen deutlich mehr unterentwickelt und ärmer war.194 b) Währung Ab dem 15. Januar 1920 wurde die unter der deutschen Okkupation im Königreich Polen eingeführte Polnische Mark als Landeswährung schrittweise eingeführt. Bereits in den ersten Jahren kam es jedoch zu einer Inflation, die durch ein ständig wachsendes Defizit des Staatshaushaltes hervorgerufen wurde.195 Im April 1924 wurde der Złoty196 eingeführt und so bis Mitte des Jahres die Polnische Mark vollständig abgelöst.197

191

Vgl. W. Benecke (Anm. 122), Die Ostgebiete der Zweiten polnischen Republik, S. 27 ff. W. Borodziej (Anm. 63), Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, S. 98. 193 Generalkonsul St. Zielin´ski (Anm. 1), Polen 1918 – 1930, S. 9. 194 Siehe hierzu C. Henschel, Brüchige Einheit. Die polnischen Streitkräfte 1918 – 1921, in: M. G. Müller/K. Struve (Hrsg.), Fragmentierte Republik? Das politische Erbe der Teilungszeit in Polen 1918 – 1939, 2017, S. 39 ff. 195 Generalkonsul St. Zielin´ski (Anm. 1), Polen 1918 – 1930, S. 7. 196 Der Złoty war bereits vom 14. bis zum 19. Jahrhundert die Währung im Königreich Polen. 197 Vgl. J. Łazor/W. Morawski, Das Finanzsystem der Zweiten Republik und das Erbe der Teilungszeit, in: M. G. Müller/K. Struve (Hrsg.), Fragmentierte Politik? Das politische Erbe der Teilungszeit in Polen 1918 – 1939, 2017, S. 68 ff. (69). 192

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c) Landwirtschaft Etwa 70 Prozent der Bevölkerung des heutigen Polens waren in der Vorkriegszeit landwirtschaftlich tätig. Der Weltkrieg und der darauffolgende Polnisch-Sowjetische Krieg fügten der Landwirtschaft die schwersten Schäden zu. Während des Krieges wurden zwei Millionen Hektar Saat vernichtet. Insgesamt beklagte die Landwirtschaft einen Verlust von 21 Millionen Zentnern Getreide. Die Kriegsbesatzung hinterließ in Polen rund 4,6 Millionen Hektar verwüstete Landfläche. Darüber hinaus musste ein Verlust von einer Million Pferden, 1,6 Millionen Rindern und 2,5 Millionen Schweinen und Schafen bewältigt werden.198 d) Industrie und Infrastruktur Die allgemeinen Schäden der Industrie betrugen – ohne die verhältnismäßig geringen Schäden im ehemaligen preußischen Teilungsgebiet – insgesamt 10,1 Milliarden Goldfranken199. Gegen Ende des Jahres 1918 waren beispielsweise in Kongresspolen knapp 47.000 Arbeiter beschäftigt. Diese Zahl stellt nur 14 Prozent der Vorkriegsbelegschaft dar, während sich z. B. in den USA der Produktionswert zum gleichen Zeitpunkt gegenüber dem Jahr 1914 um das Dreifache gesteigert hatte. Der Wiederaufbau der Industrie wurde durch den Kapitalmangel erschwert. So wurden während der Teilungszeit nahezu alle staatlichen Kassen in das Innere Russlands verlegt, sodass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fällige Gehälter und Pensionen nicht ausgezahlt werden konnten. Auf diese Weise entstand ein Verlust von rund 3,3 Milliarden Goldfranken.200 Eine weitere negative Folge der Teilung Polens war, dass die Industrie in den Jahren der Fremdherrschaft auf die Bedürfnisse der Teilungsmächte ausgerichtet und wenig exportorientiert gewesen war. Zudem war sie nur mangelhaft mit Kapital ausgestattet. In der Entwicklung der polnischen Wirtschaft kam es zu einem entscheidenden Aufschwung, als im Juni 1922 der südliche Teil Oberschlesiens dem polnischen Staat zugesprochen wurde. Dieser Gebietszugewinn hatte zur Folge, dass Polen nun im Besitz eines Zentrums des Steinkohlebergbaus war, sodass die Region Oberschlesien zum wichtigsten Industriegebiet Polens wurde.201 Die Infrastruktur – zuvor über viele Jahre auf die jeweilige Teilungsmacht ausgerichtet – war schlecht miteinander verbunden. Besonders gravierend waren die Schäden im polnischen Eisenbahnnetz. So wurden 48 Prozent der Brücken von weniger als 20 m Länge und 25 Prozent der großen Eisenbahnbrücken während des Krieges 198

Generalkonsul St. Zielin´ski (Anm. 1), Polen 1918 – 1930, S. 5. Der Goldfranken war zwischen 1920 und 2003 eine internationale Fiktiv-Währung zur Abrechnung von Post- und Fernmeldeleistungen. 200 Generalkonsul St. Zielin´ski (Anm. 1), Polen 1918 – 1930, S. 4. 201 Vgl. Z. Landau/J. Tomaszewski (Anm. 116), Gospodarka Drugiej Rzeczypospolitej, S. 1. 199

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gesprengt. Ferner wurden 34 Prozent der Bahnhöfe und 24 Prozent der Lokomotivhallen zerstört.202 So gab es keine direkte Bahnverbindung von den Kohlerevieren im Süden des Landes zum Hafen der Freien Stadt Danzig. Zahlreiche Streckenführungen waren durch Kriegsschäden deutlich länger als nötig. So dauerte die Fahrt von Warschau ins etwa 400 Kilometer entfernte Lemberg bis zum Jahre 1925 zwölf Stunden. Erst ab dem Sommer 1925 nach der Wiederherstellung eines im Krieg zerstörten Streckenabschnitts verkürzte sich die Fahrtzeit auf neun Stunden. Für den Wiederaufbau fehlte es überall an Kapital. Der Mangel trat am deutlichsten in den Ostgebieten zutage, aber selbst in Warschau wurde die im August 1918 von den Russen zerstörte Weichselbrücke erst nach zehn Jahren wiederhergestellt. Im Jahre 1921 begann der polnische Staat in Gdingen mit dem Bau eines neuen Hafens als Konkurrenz zum benachbarten Danziger Hafen. Der Grund für den Bau des modernen Überseehafens war die Erlangung der Unabhängigkeit vom Danziger Hafen, dessen Nutzungsrechte als keinesfalls gesichert angesehen wurden.203 Dank der finanziellen Unterstützung aus dem Vereinigten Königreich und Frankreich konnte ein Teil des Hafens am 29. April 1923 eröffnet werden. Die endgültige Einweihung des Fischereihafens erfolgte allerdings erst im Jahre 1933. VI. Fazit Der Erste Weltkrieg war ungeachtet der unmittelbaren Kriegsfolgen für Polen mit einem Aufstieg verbunden. Nachdem Polen nach der letzten Teilung des polnischen Staatswesens im Jahre 1795 von der Landkarte Europas verschwunden war, tauchte es als souveräner Staat nach dem Ersten Weltkrieg wieder auf. Polen in den Grenzen von 1925 war jedoch ein Land voller Gegensätze. Es bestand aus vier unterschiedlichen Gebieten: Die beiden ehemals russischen Teile machten zusammen etwa zwei Drittel des neuen Staatsgebiets aus, der österreichische etwa ein Fünftel, der preußische lediglich ein Achtel. Die bedeutendste Aufgabe für die junge polnische Republik war, die Folgen von 123 Jahren Fremdherrschaft auszugleichen und die polnischen Gebiete zu einer Einheit zu vereinigen. Der Verlust der nationalen Unabhängigkeit wirkte sich auf die polnischen Gebiete verheerend aus, da die drei Teilungsmächte bewusst die wirtschaftliche Entwicklung in den Besatzungsgebieten gebremst hatten. Der Grund hierfür war, dass die Teilungsmächte die polnischen Gebiete lediglich als Abnehmer sahen und diese Gebiete nicht konkurrenzfähig zum eigenen Staatsgebiet werden sollten. Es war daher zu spüren, dass die Teilungsmächte in den Nachkriegsjahren als Kapitalgeber, Investor und Absatzmarkt weggefallen waren. Der bestehende Ost-West-

202

Generalkonsul St. Zielin´ski (Anm. 1), Polen 1918 – 1930, S. 5. Vgl. J. Rogall (Anm. 50), in: J. Rogall (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas, S. 374. 203

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Gegensatz verstärkte sich mit der Angliederung Oberschlesiens. Die durchschnittlichen Erträge waren im Westen etwa doppelt so hoch wie im Osten. Das Land stand folglich vor der Aufgabe, drei unterschiedliche Verwaltungs-, Rechts-, Verkehrs- und Bildungssysteme zusammenzuführen, die wirtschaftlichen und sozialen Unausgewogenheiten zu beseitigen und die ethnischen Minderheiten, die mehr als 30 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten, zu integrieren. Das Thema der Sicherung der Grenzen der Zweiten Polnischen Republik, vor allem im Osten, bildete einen Schwerpunkt in Polens Außenpolitik und führte dazu, dass die Innenpolitik vernachlässigt wurde. Die Polen mussten nämlich zunächst einmal eine territoriale Gestalt finden, welche die Funktionsfähigkeit des Staates garantieren konnte. In den ersten beiden Jahren, die vordergründig dringend in den staatlichen Wiederaufbau hätten investiert werden müssen, drehte sich daher alles um die Grenzkämpfe an der Ostfront. Der Wiederaufbau wurde insbesondere durch den Russisch-Polnischen Krieg, der von 1918 bis Ende 1920 geführt wurde, gebremst.204 In der heutigen Erinnerung spielen diese negativen Folgen des Ersten Weltkriegs jedoch nur eine verhältnismäßig geringe Rolle, weil sie durch die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs gewissermaßen überdeckt worden sind. Die Unabhängigkeit Polens war das Resultat einer äußerst günstigen internationalen Konstellation: Dem Konflikt zwischen den Teilungsmächten Russland, Preußen und Österreich-Ungarn und der gleichzeitigen Zerschlagung dieser Mächte. Mit der internationalen Anerkennung des wiedererrichteten polnischen Staates verstummten allerdings nicht die revisionistischen Absichten seitens der Nachbarn Polens, allen voran des Deutschen Reiches. Unter den neuen Staaten Europas gehörte Polen – neben Rumänien und der Tschechoslowakei – zu den größten Profiteuren des Versailler Systems. Von den vielen Territorialstreitigkeiten verlor es nur denjenigen mit der Tschechoslowakei um das Teschener Schlesien. Besonders negativ für die Sicherheit des Staates war die geographische Lage. Hinzu kam, dass Polen im Hinblick auf ihre Nachbarn lediglich zu Rumänien und Lettland gute Beziehungen unterhielt und das Deutsche Reich die neue Ostgrenze nicht akzeptierte, sondern als ein mit Gewalt aufgezwungenes Diktat empfand. Die Friedenskonferenz in Paris verschaffte der polnischen Republik aus diesem Grunde keine ausreichenden Sicherheitsgarantien. Historiker stellen immer wieder die Frage, ob das Versailler System hätte stabiler sein können. Diese Frage kann nicht positiv ausfallen. Das Versailler System zerfiel nämlich nicht, weil es in seinen Grundlagen nicht stabil genug war, sondern weil es von außen zerschlagen wurde. Die Grundvoraussetzung für den Frieden in Europa wäre nämlich die Akzeptanz seitens des Deutschen Reichs und Sowjetrusslands hinsichtlich der Existenz des wieder-

204 M. Barski (Anm. 51), Die österreichisch-polnischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit, S. 30.

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errichteten polnischen Staates gewesen, mit dieser Akzeptanz konnte aber nicht ernsthaft gerechnet werden.205 * Abstract Adrianna A. Michel: The Consequences of the First World War for Poland (Die Folgen des Ersten Weltkriegs für Polen), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 2 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 2), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 51 – 87. Despite the immediate consequences of the war for Poland, the First World War was associated with a rise. After Poland had disappeared from the map of Europe after the last partition of the Polish state in 1795, it reappeared as a sovereign state after the First World War. Poland in the borders of 1925, however, was a land of contrasts. It consisted of four different areas: The two formerly Russian parts together made up about two-thirds of the new territory, the Austrian about one-fifth, the Prussian only one-eighth. The most important task for the young Polish republic was to offset the consequences of 123 years of foreign rule and to unite the Polish territories into a single unit. The loss of national independence had a devastating effect on the Polish territories, as the three powers of division had deliberately slowed economic development in the occupation areas. The reason for this was that the powers that divided the country saw the Polish areas only as a buyer and these areas should not be competitive to their own territory. It was therefore felt that the powers of division had disappeared in the post-war years as an investor and sales market. The existing East-West opposition intensified with the annexation of Upper Silesia. The average yields in the West were about twice as high as in the East. The country was therefore faced with the task of bringing together three different administrative, legal, transport and education systems, to eliminate economic and social imbalances and to integrate the ethnic minorities, which accounted for more than 30 percent of the total population. The issue of securing the borders of the Second Polish Republic, especially in the East, was a focal point in Poland’s foreign policy and led to its domestic policy being neglected. First of all, the Poles had to find a territorial form which could guarantee the functioning of the state. In the first two years, which ostensibly had to be urgently invested in state reconstruction, everything revolved around the frontier battles on the Eastern Front. The reconstruction was slowed down in particular by the Russo-Polish War, which was conducted from 1918 to the end of 1920. In today’s memory, however, these negative consequences of the First World War play only a relatively minor role, because they have been somewhat masked by the devastation of the Second World War. The independence of Poland was the result of an extremely favorable international constitution: the conflict between the powers of division Russia, Prussia and Austria-Hungary and the simultaneous destruction of these powers. With the international recognition of the reconstitu-

205

Vgl. M. Kornat (Anm. 129), Polen zwischen Hitler und Stalin, S. 29.

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ted Polish state, however, did not stop the revisionist intentions of the neighbors of Poland, especially the German Reich. Among the new European states, Poland was one of the largest profiteers of the Versailles system, along with Romania and Czechoslovakia. Of the many territorial disputes it lost only those with Czechoslovakia concerning the Teschener Silesia. The geographical situation was particularly negative for the security of the state. In addition, with regard to its neighbors, Poland had good relations only with Romania and Latvia, and the German Reich did not accept the new eastern border but felt it was dictated by force. For this reason, the peace conference in Paris did not provide the Republic of Poland with sufficient security guarantees. Historians ask again and again whether the Versailles system could have been more stable. This question cannot be answered positively. The Versailles system did not disintegrate because it was not stable enough in its foundations, but because it was smashed from the outside. The basic requirement for peace in Europe would have been the acceptance by the German Reich and Soviet Russia of the existence of the re-established Polish state, but this acceptance could not be seriously expected.

Österreich, die Tschechoslowakei und das Schicksal des Sudetenlandes bis heute Auch ein Beitrag zur Entstehung von Staaten Von Gilbert H. Gornig I. Allgemein zur Entstehung von Staaten 1. Einführung Es gibt im Gegensatz zum Staatsrecht, in dem das Unternehmen der Bildung eines neuen Staates auf dem Boden eines bestehenden Staates ohne sein Einverständnis regelmäßig als Hochverrat mit schwerer Strafe1 bedroht ist, keinen Satz des Völkerrechts, der die freie Bildung neuer Staaten verbietet.2 Das allgemeine Völkerrecht blendet somit bei der Prüfung der Frage, ob – wie im Fall der Tschecho-Slowakei, so die Kurzform bis 1920 – ein auf dem Boden eines oder mehrerer bestehender Staaten neu entstandener Staat zur Völkerrechtsgemeinschaft zugelassen werden soll, die Würdigung seines innerstaatlich legalen oder illegalen Entstehens bewusst aus. Nur so kann das Völkerrecht dem Prinzip der Offenheit des welthistorischen Prozesses, das eines der konstitutiven Prinzipien der gegenwärtigen weltpolitischen Epoche ist, gerecht werden. Das Völkerrecht übernimmt somit nicht den Schutz für die Existenz 1 Art. 155 der spanischen Verfassung kann angewendet werden, wenn eine autonome Region die ihr von der Verfassung oder anderen Gesetzen auferlegten Verpflichtungen nicht erfüllt oder so handelt, dass ihr Verhalten einen schweren Verstoß gegen die allgemeinen Interessen Spaniens darstellt. Die spanische Regierung kann dann die „erforderlichen Maßnahmen“ zum Schutz der Allgemeinheit ergreifen. Für Madrid kommt daher die Ausrufung eines unabhängigen Kataloniens einem Hochverrat gleich. Die Einheit des spanischen Staates ist nicht verhandelbar. Vgl. http://de.euronews.com/2017/10/05/katalonien-drangt-trotz-isolie rung-auf-internationale-vermittlung (letzter Aufruf hier und bei den folgenden Internetquellen: 1. 2. 2018). 2 Der IGH stellte im Rechtsgutachten zur Gültigkeit der Unabhängigkeitserklärung Kosovos (englisch: Accordance with international law of the unilateral declaration of independence in respect of Kosovo) fest, dass weder die Praxis des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen noch das Völkerrecht generell einseitige Unabhängigkeitserklärungen verbieten. Insbesondere verletze die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht die territoriale Integrität Jugoslawiens bzw. Serbiens, weil territoriale Unversehrtheit als Völkerrechtsprinzip nur für das Verhältnis zwischen Staaten, nicht jedoch für Akteure innerhalb eines Staates gelte. Vgl. dazu auch P. Hilpold (Hrsg.), Das Kosovo-Gutachten des IGH vom 22. Juli 2010, 2012; P. Roguski, Unabhängigkeitserklärung des Kosovo. Was der IGH wirklich entschied, in: Legal Tribune Online, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/unabhaengigkeitserklaerung-deskosovo-was-der-igh-wirklich-entschied/.

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oder den gegenwärtigen Umfang von Staaten gegen Loslösungs- oder Umsturzbestrebungen im Innern. Es gibt allerdings die Möglichkeit, dass sich Staaten durch den Abschluss völkerrechtlicher Verträge gegen von innen kommende Gefahren zu sichern suchen, wie das durch die Heilige Allianz vom 14./26. September 1815 geschehen ist.3 Die Heilige Allianz wurde in Paris zwischen Zar Alexander I. von Russland, Franz I. von Österreich und Friedrich-Wilhelm III. von Preußen abgeschlossen. In Art. 1 gewährten sich die drei Monarchen „bei jeder Gelegenheit und an jedem Ort Beistand, Hilfe und Unterstützung“. Das Völkerrecht verbietet heute nicht nur nicht das Entstehen neuer Staaten, es erleichtert sogar diesen Vorgang seit der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. In seinen „Vierzehn Punkten“4, vorgetragen bei einer Ansprache vor dem Kongress am 8. Januar 1918, entwickelte5 der US-amerikanische Präsident und politische Idealist Woodrow Wilson6 eine revolutionäre Lösung der Kolonialfrage, indem er in Punkt 5 forderte, dass bei Entscheidung aller Fragen der Staatssouveränität die Interessen der betroffenen Bevölkerung dasselbe Gewicht haben sollten wie die berechtigten Ansprüche der Regierungen.7 Und für die zukünftige Weltordnung fasste er diesen Aspekt noch weiter und präzisierte inhaltlich, dass man in erster Linie dafür gekämpft habe, dass keine Regierung oder Gruppe von Regierungen berechtigt sein solle, über das Gebiet eines Volkes und dessen politische Zugehörigkeit zu entscheiden.8 Am 11. Februar 1918 betonte Wilson, dass Völker und Provinzen nicht verschachert werden dürften, als ob es sich um bloße Gegenstände oder Steine in einem Spiele handeln würde.9 In seiner Rede vom 4. Juli 1918 in Mount Vernon verlangte er schließlich, dass alle Gebietsfragen auf Grund der freien Annahme durch

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Text: K. Strupp, Urkunden zur Geschichte des Völkerrechts, Bd. 1, 1911, S. 161 f.; M. Fleischmann, Völkerrechtsquellen, 1905, Nr. 3, S. 19 f. 4 Text: J. Hohlfeld (Hrsg.), Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Bd. II. Das Zeitalter Wilhelms II. 1890 – 1918, o. J., S. 393 ff. 5 Im Jahre 1908 hatte der österreichische Jurist und Politiker Karl Renner in seinem Buch über den „Kampf der österreichischen Nationen um ihren Staat“ zum ersten Mal das Selbstbestimmungsrecht der Völker theoretisch begründet. 6 Vgl. Th. Veiter, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, in: D. Blumenwitz/B. Meissner (Hrsg.), Das Selbstbestimmungsrecht und die deutsche Frage, 1984, S. 9 ff. (13 f.). 7 Zu erwähnen sind ferner die Punkte X und XII, wonach auch den Völkern ÖsterreichUngarns und den unter türkischer Herrschaft lebenden Nationalitäten eine autonome Entwicklung zu sichern sei. Es wurde allerdings nicht jede territoriale Veränderung der Zustimmung der betroffenen Bevölkerung unterworfen. Die Zustimmung wurde dort für entbehrlich gehalten, wo eine Bevölkerung unbestritten einem bestimmten Volk angehört (Punkt XIII) oder Unrecht wiedergutgemacht werden sollte (Punkt VIII). 8 Vgl. auch K. J. Partsch, Selbstbestimmung, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Handbuch der Vereinten Nationen. 1991, S. 746. 9 Text: J. Hohlfeld (Anm. 4), Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Bd. II, S. 395 f.

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das unmittelbar betroffene Volk geregelt werden müssten.10 Es gelang aber Wilson nicht, die zukünftige Weltordnung unter den Gedanken des Selbstbestimmungsrechts zu stellen.11 In seinem Entwurf für die Satzung des Völkerbundes hatte er vorgesehen, dem Grundsatz der Unverletzlichkeit der Staaten12 – Art. 10 – einen Vorbehalt für Gebietsvereinbarungen beizufügen, in dem klargestellt werden sollte, dass der Grundsatz der Selbstbestimmung zu beachten sei.13 Im endgültigen Text der Völkerbundsatzung taucht dann aber der Begriff der Selbstbestimmung nicht auf. Erst mit der Verabschiedung der Friendly Relations Declaration von 197014 wurde das vorher nur politische Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker15 zu einem universalen Rechtsprinzip16 erhoben, das ein legitimes Eingangstor für die Entstehung neuer Staaten bildet, indem es nicht nur die erzwungene Vorenthaltung dieses Rechts untersagt, sondern allen Staaten die Pflicht auferlegt, aktiv die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu unterstützen. Als Modalität der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts werden „die Errichtung eines souveränen und unabhängigen Staates, die freie Verbindung mit oder das Aufgehen in einem unabhängigen Staat oder die Entstehung irgendeines anderen frei gewählten politischen Status“ ausgeführt. 10

Text: J. Hohlfeld (Anm. 4), Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Bd. II, S. 396 f. 11 Vgl. auch D. Thürer, Das Subjekt des Selbstbestimmungsrechts, in: Politische Studien, Sonderheft 6, 1993, S. 29 ff. 12 Zum Text des Entwurfs vgl. G. Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 1955, S. 128. 13 Vgl. auch K. J. Partsch (Anm. 8), in: R. Wolfrum, S. 746. 14 A/Res/2625 (XXV). 24. 10. 1970. Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation among States in Accordance with the Charter of the United Nations, http://www.un-documents.net/a25r2625.htm. 15 Dazu vgl. J. Delbrück, Selbstbestimmung und Völkerrecht, in: JIR 1967, S. 180 ff.; O. Kimminich, Rechtscharakter und Inhalt des Selbstbestimmungsrechts, in: D. Blumenwitz/ B. Meissner (Hrsg.), Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage, 1984, S. 37 ff.; D. Thürer (Anm. 11), in: Politische Studien, Sonderheft 6, 1993, S. 30 ff.; G. Gornig, Der Inhalt des Selbstbestimmungsrechts, in: Politische Studien, Sonderheft 6, 1993, S. 11 ff. 16 Zum Selbstbestimmungsrecht der Völker als ius cogens vgl. die International Law Commission, in: Yearbook of the International Law Commission 1976 II/2, S. 95; ferner: H. G. Espiell, Self-Determination and ius cogens, in: A. Cassese (Hrsg.), UN Law. Fundamental Rights, 1979, S. 188; ders., Der Begriff des Selbstbestimmungsrechts der Völker in heutiger Sicht, in: VN 1982, S. 54 ff. (56 f.); E. Klein, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage, 1990, S. 56 ff.; D. Murswiek, Offensives and defensives Selbstbestimmungsrecht. Zum Subjekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker, in: Der Staat, Bd. 23 (1984), S. 523 ff.; A. Kiss, The People’s Right to Self-Determination, in: HRLJ 1986, S. 165 ff. (174); O. Kimminich, Die Renaissance des Selbstbestimmungsrechts nach dem Ende des Kolonialismus, in: G. Brunner/Th. Schweisfurth (Hrsg.), Sowjetsystem und Ostrecht. Festschrift für Boris Meissner, 1985, S. 601 ff. (607 f.). – Da das Selbstbestimmungsrecht der Völker heute als zwingendes Völkerrecht anerkannt ist, kann es nicht mehr zulässig sein, dass ein Staat gewaltsam die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts eines Volkes oder einer Volksgruppe unterdrückt. Aus dem gleichen Grunde ist es nicht mehr zulässig, dass sich in diesem Fall der unterdrückende Staat vom Ausland unterstützen lässt.

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Ein Staat ist entstanden, wenn die nach der Drei-Elemente-Lehre17 erforderlichen Tatbestandsmerkmale eines Staates, das Staatsgebiet, das Staatsvolk und die Staatsgewalt, vorliegen. Unter Staatsgebiet verstehen wir den gesicherten Raum, in dem ein Volk seine Herrschaft effektiv ausüben kann und über den ihm die Verfügungsgewalt zusteht. Beim Staatsvolk18 handelt es sich um einen dauernden Personenverband, der in der Geschlechterfolge fortlebt. Staatsgewalt19 schließlich ist die Herrschaftsgewalt über diesen Personenverband und das Gebiet. Auf die Legitimität der Staatsgewalt kommt es nicht an. Konstituierend sind letztlich die Zusammengehörigkeit der drei Elemente sowie die Effektivität der Ordnung20. Das Völkervertragsrecht hat das Erfordernis dieser drei Merkmale in Art. 1 der Montevideo-Konvention21, dem Abkommen über Rechte und Pflichten der Staaten vom 26. Dezember 1933, übernommen. Jedes Element wird erst durch die Gegenwart und Anknüpfung an die beiden anderen Elemente zu einem Element des Staates. Insoweit besteht nach der herrschenden Meinung die grundsätzliche Notwendigkeit, die drei Merkmale als gleichwertige Elemente zu behandeln.22 Bei endgültigem Wegfall nur eines der drei Elemente geht ein Staat unter. Das Entstehen und die Existenz eines Staates sind also unabhängig von Rechtmäßigkeits- und Legitimationsüberlegungen. Eine politische Organisation, die unter Verletzung des Völkerrechts zustande gekommen ist, ist demnach ein Staat, wenn sie dessen faktische Voraussetzungen erfüllt. Auch spielt keine Rolle, ob sich die Staatsgewalt in Übereinstimmung mit dem Volkswillen etabliert hat oder nicht.23 Für die Völkerrechtssubjektivität ist es auch unerheblich, ob ein Staat von anderen Staaten anerkannt wird oder nicht.24 Die Anerkennung hat nur insoweit eine konstitutive Wirkung, als sie den Willen des anerkennenden Staates zum Ausdruck bringt, mit dem anerkannten Staat diplomatische Beziehungen zu pflegen und den anderen als Völkerrechtssubjekt zu behandeln.25 Allerdings fordert die Stimson-Doktrin26 17

Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1928, S. 394 ff. Vgl. G. Jellinek (Anm. 17), S. 406 ff. 19 Vgl. G. Jellinek (Anm. 17), S. 427 ff. 20 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1928, S. 394 ff. 21 Text: ZaöRV, Bd. 4 (1934), S. 650 ff.; AJIL, Bd. 28 (1934), suppl. S. 75 ff. 22 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1928, S. 394 ff. 23 Vgl. auch G. Teyssen, Deutschlandtheorien auf der Grundlage der Ostpolitik, 1987, S. 35 f. 24 Vgl. auch O. Kimminich, Deutschland als Rechtsbegriff und die Anerkennung der DDR, in: DVBl. 1970, S. 437 ff. (439 ff.). 25 So kann die Anerkennung nicht einen „Nichtstaat“ zum Staat machen; umgekehrt kann trotz Nichtanerkennung ein Staat vorliegen. 26 Die Lehre der Nichtanerkennung gewaltsamer Gebietsveränderungen nahm ihren Ausgangspunkt in der Stimson-Doktrin, benannt nach dem ehemaligen US-amerikanischen Außenminister Henry L. Stimson. Ihren Ursprung hat die Doktrin in einer an China und Japan gerichteten Note Stimsons vom 7. 1. 1932 anlässlich der japanischen Besetzung der Mandschurei, in der erklärt wurde, dass die Vereinigten Staaten nicht beabsichtigten, eine Situa18

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von 1932 aus den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts, dass jede Anerkennung einer Situation, die unter Verletzung des Völkerrechts zustande gekommen ist, ausgeschlossen sein müsse. Bei der Entstehung der Tschechoslowakei 1918/1919 spielte die Stimson-Doktrin also noch keine Rolle. Bezüglich der Existenz eines auf völkerrechtswidrige Weise entstandenen Staates konnte sich die Stimson-Doktrin zudem nicht durchsetzen. Lediglich die DDR wurde über zwei Jahrzehnte auch unter Hinweis auf die fehlende völkerrechtliche Legitimität nicht anerkannt. Die fehlende Anerkennung der Transkei und anderer homelands wurde ebenfalls mit der fehlenden völkerrechtlichen Legitimität begründet27. Die Geburtsstunde des neuen Staates ist nicht der Zeitpunkt der Ratifikation der Verträge, die die Neugründung beschließen, sondern allein der Zeitpunkt, von dem an die neue Staatsgewalt effektiv ausgeübt wird. Vom Blickwinkel des Völkerrechts her betrachtet ist die Entstehung eines Staates also ein historischer Vorgang, die Entstehung eines Völkerrechtssubjekts dagegen ein rechtlicher Vorgang. 2. Entstehung von Staaten als historischer Vorgang a) Der Staat als Produkt der Menschen Ein Staat kann sich entwickeln, ohne dass es hierzu ausdrücklicher Entscheidungen und Handlungen bedarf. Er ist dann natürlich gewachsen und ein Produkt der Geschichte, der menschlichen Entwicklung und des politischen Lebens.28 Als staatenloses Gebiet betrachtete man in der Zeit vor dem 20. Jahrhundert unbesiedelten oder von so genannten nichtzivilisierten Völkern besiedelten Boden. Staaten im Sinne des Völkerrechts entstanden dann dadurch, dass sich eine Bevölkerungsgruppe auf staatenlosem Gebiet, das sie als ihr Eigentum betrachtete, betion, einen Vertrag oder eine Übereinkunft anzuerkennen, die unter Verletzung des BriandKellogg-Paktes geschaffen wurde. Stimson konnte natürlich kein neues Völkerrecht schaffen, sondern proklamierte nur ein Prinzip der US-amerikanischen Außenpolitik. Nach der Stimson-Doktrin können völkerrechtswidrige Gebietsveränderungen auch nicht durch Anerkennung anderer Staaten rechtmäßig werden. Die Doktrin wurde in eine Resolution der Völkerversammlung vom 11. 3. 1932 übernommen. Die Stimson-Doktrin fand Eingang in die Deklaration von neunzehn amerikanischen Staaten vom 3. 8. 1932 zum Gran-Chaco-Konflikt zwischen Bolivien und Paraguay, in Art. 2 des Saavedra-Lamas-Vertrages vom 10. 10. 1933, in Art. 11 der Interamerikanischen Konvention über die Rechte und Pflichten der Staaten vom 26. 12. 1933 sowie in Art. 20 der OAS-Charta. Im Rahmen der Vereinten Nationen wurde sie auch in die Prinzipiendeklaration 2625 (XXV) vom 24. 10. 1970 und in die Aggressionsdefinition 3314 (XXIX) vom 14. 1. 1974 integriert. 27 K. Ginther, Das Anerkennungsverbot der Homelands, in: GYIL, Bd. 23 (1980), S. 323 ff.; E. Klein, Die Nichtanerkennungspolitik der Vereinten Nationen gegenüber den in die Unabhängigkeit entlassenen südafrikanischen homelands, in: ZaöRV, Bd. 39 (1979), S. 469 ff.; L. Harding, Unabhängigkeit der Transkei, 1976. 28 G. Gornig/I. E. Rusu, Entstehung und Untergang von Staaten im Völkerrecht, in: Conferintei internationale. Statul s¸i Dreptul – Mutatii institutionale contemporane, 2006, S. 78 ff. (82).

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wusst zu einer staatlichen Gemeinschaft verband. Auf diese Weise entstanden einst die meisten Staaten wie noch im 19. Jahrhundert der Staat Liberia29, der von aus den USA heimgekehrten Personen gegründet wurde. Zur Errichtung eines Staates bedarf es entsprechend der Drei-Elemente-Lehre zunächst des Erwerbs von Staatsgebiet. Hieran knüpfen die weiteren Vorgänge, insbesondere die Etablierung der Staatsgewalt an, die auch für die Schaffung einer Staatsangehörigkeit sorgen wird. Die Frage nach der Entstehung des Staates konzentriert sich vor allem darauf, inwiefern sich die Staatsgewalt auf dem betroffenen Gebiet durchgesetzt hat. b) Der Staat als Produkt der Entscheidung von Staatsteilen und Staaten Ebenso entsteht ein Staat, wenn sich ein Teil eines bereits vorhandenen Staates von diesem gegen dessen Willen löst und selbständig wird. Hierbei bleibt der alte Staat mit verkleinertem Gebiet neben dem neu gegründeten bestehen. Dieses Losreißen vom Mutterland wird als Sezession30 bezeichnet. So waren schon im 17. Jahrhundert die Niederlande und die Schweiz durch ihre Lostrennung vom Deutschen Reich unabhängige Staaten geworden. Im 18. Jahrhundert trennten sich 13 nordamerikanische Staaten vom Vereinigten Königreich. Die meisten lateinamerikanischen Staaten sagten sich zwischen 1808 und 1824 von Spanien los, im Jahre 1822 trennte sich Brasilien von Portugal. Belgien löste sich 1831/1839 von den Niederlanden, Panama 1903 von Kolumbien. Von der Türkei lösten sich nach dem Ersten Weltkrieg mehrere Staaten auf dem Balkan, später auch in Asien und Afrika ab, teilweise über den Umweg von halbsouveränen Staaten, Protektoraten und Mandaten. Die Philippinen spalteten sich 1916/1934 von den USA ab, Indonesien trennte sich 1945/1949 von den Niederlanden, Bangladesch löste sich 1971 von Pakistan. Eine Sezession erfolgte auch durch die Abspaltung der Staaten Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien von Jugoslawien in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts.31 Der Kosovo löste sich schließlich im Jahr 2008 von Serbien. Und heute sind wir Zeugen von Abspaltungsbemühungen Schottlands vom Vereinigten Königreich und Kataloniens von Spanien. Im Falle der Entstehung der Tschecho-Slowakei könnte an eine Sezession von Böhmen, Mähren, Österreichisch-Schlesien und der Slowakei oder gar der gesamten Tschecho-Slowakei von der Donaumonarchie oder von Österreich bzw. Ungarn (Slowakei) als Teile der Donaumonarchie zu denken sein.

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Auf Druck der US-amerikanischen und britischen Regierungen trat Liberia im Jahr 1917 auf der Seite der Alliierten in den Ersten Weltkrieg ein. 30 Vgl. dazu G. Gornig/I. E. Rusu (Anm. 28), in: Conferintei internationale. Statul s¸i Dreptul – Mutatii institutionale contemporane, S. 78 ff. (82). 31 Vgl. dazu St. Baer, Der Zerfall Jugoslawiens im Lichte des Völkerrechts, 1995.

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Eine Loslösung vom Mutterland kann aber auch durch Entlassung oder Separation32 des neu gebildeten Staates aus dem früheren Staatsverband erfolgen. So wurden Irland sowie verschiedene britische Kolonien durch einen Akt des Parlaments33 aus der britischen Oberhoheit entlassen. Island und auch zahlreiche afrikanische und asiatische Staaten wurden im Einvernehmen mit den sie bisher beherrschenden Staaten unabhängig.34 Montenegro löste sich 2006 von Serbien-Montenegro nach einer Volksabstimmung35. Bezüglich der Entstehung der Tschecho-Slowakei könnte man auch eine einvernehmliche Loslösung der oben genannten Gebiete von der Donaumonarchie oder von Österreich bzw. Ungarn als Teile der Donaumonarchie in Betracht ziehen. Darüber hinaus kann ein neuer Staat entstehen, wenn ein bereits vorhandener Staat auseinander fällt, damit untergeht, und die Teile dieses Staates jeweils selbständige Staaten werden. Es handelt sich hierbei um eine Aufgliederung oder Dismembration36. Im 19. Jahrhundert entstanden in Deutschland durch den Zerfall des alten Deutschen Reiches 1806 zahlreiche neue deutsche Staaten. Großkolumbien37 zerfiel 1832 in die drei Staaten Neu Granada38, Venezuela und Ecuador, die Zentralamerikanische Föderation39 1839 in die Republiken Guatemala, Honduras, Salvador, Nicaragua und Costa Rica. Im 20. Jahrhundert entstanden durch den Zusammenbruch des Kaiserreichs Russland neue Staaten. Sehr bald trat der gleiche Zersetzungsprozess im Britischen Reich ein, auf dessen Boden sich zunächst die sog. Dominions als unabhängige Staaten konstituierten und dann eine Reihe weiterer Staaten in Asien und Afrika. Auch auf dem Boden des Französischen Reichs bildeten sich sowohl in Asien als auch in Afrika zahlreiche neue Staaten. Nach dem Jahr 1990 ist nach

32 Vgl. G. Gornig/I. E. Rusu (Anm. 28), in: Conferintei internationale. Statul s¸i Dreptul – Mutatii institutionale contemporane, S. 78 ff. (82 f.). 33 Vgl. den Ireland Act vom 2. 6. 1949, den Indian Independence Act vom 18. 7. 1947, den Ghana Independence Act vom 6. 3. 1947. 34 Auf den Färöern gibt es Bestrebungen hinsichtlich einer Loslösung von Dänemark. Die Färöer genießen innerhalb des Königreichs Dänemark ein hohes Maß an Selbstbestimmung seit dem Gesetz über die innere Selbstverwaltung vom 31. 3. 1948. Es gibt einflussreiche Gruppen, die eine vollständige Lösung von Dänemark anstreben. Das Kräfteverhältnis zwischen separatistischen Republikanern und pro-dänischen bzw. pragmatisch orientierten Gruppen ist relativ ausgeglichen. Vgl. R. von Lucius, Eine Welt von Mikrostaaten? Die Färöer streben in die Unabhängigkeit und nutzen dafür Fußball und Briefmarken, in: FAZ vom 1. 10. 2002, S. 12. 35 Nach Angaben der Wahlkommission betrug das Ergebnis 55,4 Prozent. 36 Vgl. dazu G. Gornig/I. E. Rusu (Anm. 28), in: Conferintei internationale. Statul s¸i Dreptul – Mutatii institutionale contemporane, S. 78 ff. (83). 37 Großkolumbien bestand aus den heutigen Staaten Kolumbien, Ecuador, Panama und Venezuela sowie Teilen von Peru und Guyana und existierte von 1819/23 bis 1830. 38 Ab 1861 Kolumbien. 39 Dazu H. Pérez Brignoli, A Brief History of Central America, 2000.

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weit verbreiteter Auffassung40 die Sowjetunion durch Dismembration in Einzelstaaten zerfallen.41 Die Tschecho-Slowakei könnte nach einer Dismembration Österreich-Ungarns, aber auch nach einer Dismembration des kaiserlichen Österreich und des königlichen Ungarn entstanden sein. Neue Rechtssubjekte und folglich auch Staaten können schließlich durch sog. Auflockerung oder Dezentralisierung oder Devolution entstehen. Dies ist etwa der Fall, wenn ein Einheitsstaat sich in einzelne Glieder aufteilt und diesen Gliedern ein gewisses Maß an Autonomie verleiht, wodurch der Einheitsstaat zu einem Bundesstaat wird. Hierbei entstehen neue Staaten, ohne dass sich jedoch der alte Staat auflöst. Als Devolution kann auch die Umwandlung des russischen Einheitsstaates in die RSFSR am 7. November 1917 und die Dezentralisierung Österreichs in einen Bundesstaat durch das Bundesverfassungsgesetz vom 1. Dezember 192042 bezeichnet werden. Eine Devolution könnte bei der Umwandlung des österreichischen Einheitsstaates in die „österreichisch-ungarische Monarchie“ (Doppelmonarchie) durch den Ausgleich vom Februar 186743 erfolgt sein. Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass sich mehrere, bereits existierende, unabhängige Staaten zu einem einzigen Staat zusammenschließen und dadurch ihre bisher herrschende Staatsgewalt und ihre völkerrechtliche Selbständigkeit verlieren. Hierbei handelt es sich um eine Fusion44. Allerdings kann Folge der Fusion auch sein, dass die sich zusammenschließenden Staaten Völkerrechtssubjekte bleiben und ihre Autonomie behalten, dann nämlich, wenn sie sich zu einem Bundesstaat zusammenschließen. Sie gehen damit nicht unter. So entstanden die Vereinigten Staaten durch den Zusammenschluss unabhängiger nordamerikanischer Staaten und der Norddeutsche Bund durch Fusion Preußens mit anderen norddeutschen Staaten durch den Bündnisvertrag vom 18. August 186645. Bei der UdSSR handelte es sich nach einer Ansicht um ein neues Völkerrechtssubjekt, da die Gründerstaaten, die russische, die ukrainische, die weißrussische und die transkaukasische Sowjetrepublik miteinander fusionierten und hierdurch zu Gliedstaaten des neu geschaffenen Unionsstaates wurden, wobei nach einer Ansicht die Sowjetunion mit keinem dieser 40 Vgl. ausführlich zu diesem Problem C. Willershausen, Zerfall der Sowjetunion. Staatennachfolge oder Identität der Russländischen Föderation. Auch ein Beitrag zu Staatsuntergang und Staatennachfolge, 2002, S. 233 ff. 41 Vgl. dazu C. Willershausen (Anm. 40), Zerfall der Sowjetunion, passim. 42 Gesetz vom 1. 10. 1920, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-Verfassungsgesetz), http://www.verfassungen.de/at/at18 - 34/index20.htm. Vgl. dazu auch unten. 43 Jeder der beiden Staaten, nämlich Transleithanien („Länder der heiligen Stephanskrone“, also Ungarn mit seinen Nebenländern) und Cisleithanien („im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“, also die österreichischen Kronländer) erhielt eine Verfassung und der österreichische Kaiser war zugleich König von Ungarn. 44 Vgl. G. Gornig/I. E. Rusu (Anm. 28), in: Conferintei internationale. Statul s¸i Dreptul – Mutatii institutionale contemporane, S. 78 ff. (84). 45 Text: E. R. Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. 1, 1949, S. 316 ff.

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Gründerstaaten rechtlich identisch war.46 Der Zusammenschluss von Ägypten und Syrien schuf 1958 die Vereinigte Arabische Republik. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate sind durch Zusammenschluss von sieben Scheichtümern am 1. Januar 1971 entstanden. Die Frage taucht auf, ob möglicherweise die Tschecho-Slowakei durch Fusion der Länder Böhmen, Mähren, Österreichisch-Schlesien und Slowakei entstanden ist. c) Produkt dritter Staaten Staaten können dazu beitragen, dass neue Staaten entstehen.47 So schuf Art. 6 der Wiener Kongressakte vom 9. Juni 1815 den neutralen Freistaat Krakau48, Bulgarien entstand durch Art. 1 des Berliner Vertrags vom 13. Juli 187849, der Staat der Vatikanstadt durch Art. 2 Lateranvertrag vom 11. Februar 192950. Es können aber auch dritte Staaten durch Verträge unter sich die Errichtung eines neuen Staates auf dem Gebiet eines am Vertrag nicht gleichberechtigt beteiligten Staates beschließen. Albanien wurde im Jahr 1913 durch Beschlüsse der Botschafterkonferenz der Großmächte konstituiert, denen die Türkei in Art. 3 Londoner Präliminarfrieden 30. Mai 1913 51 dazu die Erlaubnis gab. Die Freie Stadt Danzig52 wurde durch Art. 100 ff. des Vertrags von Versailles vom 28. Juli 191953 gegründet. Das Territorio libero di Trieste sollte durch den Friedensvertrag mit Italien vom 10. Februar 194754 geschaffen werden, die Umsetzung erfolgte jedoch nicht. Auch Resolutionen der UNO trugen zur Staatswerdung bei. Der Staat Libyen wurde in Resolution 289 (IV) A vom 21. November 1949 der UN-Generalversammlung aufgrund von 46

Th. Schweisfurth, Vom Einheitsstaat (UdSSR) zum Staatenbund (GUS), in: ZaöRV, Bd. 52 (1992), S. 541 ff. (547); ders., Ausgewählte Fragen der Staatensukzession im Kontext der Auflösung der UdSSR, in: AVR, Bd. 32 (1994), S. 99 ff. (100); O. Dörr, Die Inkorporation als Tatbestand der Staatensukzession, 1995, S. 316 ff. Vgl. aber C. Willershausen (Anm. 40), Zerfall der Sowjetunion, S. 261 ff. 47 G. Gornig/I. E. Rusu (Anm. 28), in: Conferintei internationale. Statul s¸i Dreptul – Mutatii institutionale contemporane, S. 78 ff. (84 ff.). 48 Text: M. Fleischmann (Anm. 3), Völkerrechtsquellen, S. 5 ff.; vgl. auch Vertrag über den Freistaat Krakau vom 3. 5. 1815 (Text: Preußisches Gesetzblatt 1816, S. 161 ff.). 49 Text: M. Fleischmann (Anm. 3), Völkerrechtsquellen, S. 148 ff. 50 Text des Lateranvertrags: F. Berber, Völkerrecht. Dokumentensammlung, Bd. 1: Friedensrecht, 1967, S. 831 ff. 51 Text: K. Strupp, Ausgewählte diplomatische Aktenstücke zur orientalischen Frage, 1916, S. 278 ff. Zur Londoner Botschafterkonferenz vgl. R. R. Kritt, Die Londoner Botschafter-Konferenz 1912 – 1913, Diss. Wien 1960. 52 Vgl. H. V. Böttcher, Die Freie Stadt Danzig, 3. Aufl. 1999, S. 76 ff.; vgl. ferner dazu G. Gornig, Das Schicksal Danzigs vor und nach dem Versailler Friedensvertrag. Auch ein Beitrag zu den Gebietsverlusten in Westpreußen, in: G. Gornig/A. Michel (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Teil 1, 2017, S. 113 ff. 53 Text: RGBl. 1919, S. 689 ff. 54 Text: UNTS, Bd. 49, S. 3 ff.

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Art. 23 des Friedensvertrags mit Italien vom 10. Februar 194755 konzipiert. Durch Resolution 289 (IV) B wurde die Errichtung eines unabhängigen Staates Somaliland nach Ablauf von zehn Jahren beschlossen.56 Letztlich sind aber nicht der Vertrag oder die Resolution für das Entstehen des Staates entscheidend, sondern die faktische Errichtung57. Erfolgt nicht die faktische Umsetzung, wird kein Staat erschaffen. Ist der Vertrag rechtswidrig, nichtig oder niemals in Kraft getreten, wurde er aber umgesetzt, so ist der neue Staat existent. Es ist denkbar, dass auch die Tschecho-Slowakei in erster Linie ein Produkt dritter Staaten ist. Die Gründung zahlreicher Staaten, insbesondere in Afrika und Asien, ist in Verträgen der bisherigen Staatsgewalt mit den vorläufigen Regierungen der zu gründenden Staaten, also mit dem nasciturus, verabredet worden. So wurde in einem Vertrag des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland mit der Führung der irischen Republikaner vom 6. Dezember 192158 die Unabhängigkeit Irlands beschlossen. Der Errichtung Birmas ging der Vertrag vom 17. Oktober 1947 zwischen der britischen Regierung und der provisorischen Regierung Birmas voraus. Vor der Unabhängigkeit der Philippinen wurde der Manila-Vertrag vom 4. Juli 194659 zwischen den USA und der künftigen Regierung der Philippinen geschlossen.60 In einem Vertrag vom 2. November 194961 erklärten die Niederlande gegenüber der noch nicht entstandenen Republik Indonesien, dass sie die Souveränität auf den neuen Staat übertrügen und diesem die Anerkennung gewährten, während die noch nicht entstandene Republik Indonesien erklärte, dass sie die Hoheitsgewalt annehmen wolle. Auch bei den afrikanischen Staaten Dahomey (Benin), Elfenbeinküste, Mauretanien, Niger und Obervolta (Burkina Faso) wurde die Staatswerdung in vorangegangenen Verhandlungen und Verträgen vorbereitet. Zwar wird in den Verträgen bestimmt, dass sie erst zu einem späteren Zeitpunkt, also in der Regel nach der Unabhängigkeit, 55

Text: UNTS, Bd. 49, S. 3 ff. Vgl. UNYB 1948 – 49, S. 275 f. 57 So hat die Tschechoslowakei schon die Pariser Vorortverträge unterzeichnet, obwohl sie erst durch den Vertrag von St. Germain, der am 16. 7. 1920 in Kraft trat, unabhängig wurde. Sie bestand also bereits vor dessen Inkrafttreten faktisch. – Ägypten bestand schon, bevor die Türkei im Frieden von Lausanne vom 24. 7. 1923 (Text: G. Fr. Martens/H. Triepel (éd.), Nouveau Recueil Général de Traité, troisième série, tome XIII, 1924, S. 342 ff.) auf ihre Hoheitsrechte über Ägypten verzichtete. – Korea bestand, bevor Japan im Frieden von San Francisco vom 8. 9. 1951 (Text: EA 1951, S. 4552 ff.) auf seine Hoheitsrechte über Korea verzichtete. 58 Text: http://www.nationalarchives.ie/topics/anglo_irish/dfaexhib2.html. Der Anglo-Irische Vertrag aus dem Jahr 1921 beendete den anglo-irischen Krieg und besiegelte die Entstehung des irischen Freistaates. Mit der Ratifizierung wurden Fünfsechstel von Irland – der Freistaat – zu einem eigenständigen Herrschaftsgebiet innerhalb des British Empire, während die anderen sechs Grafschaften unter dem Namen Nordirland beim United Kingdom verblieben. 59 Die Republik der Philippinen wurde offiziell am 4. 7. 1946 proklamiert. Vgl. AdG 1946/ 47, S. 801. 60 Vgl. H. W. Briggs, Recognition of States, in: AJIL, Bd. 43 (1949), S. 113 ff. (115 f.). 61 Text: AdG 1948/49, S. 2119 C. 56

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in Kraft treten sollen; geschlossen wurden die Verträge aber bereits zu einem Zeitpunkt, der vor der Existenz eines Vertragspartners lag. Werdende Staaten haben also bereits die Vertragsabschließungskompetenz für Verträge, die ihr Entstehen zum Gegenstand haben. II. Zerfall von Österreich-Ungarn 1. Reichsrat Als der Reichsrat62, das Parlament der österreichischen Reichshälfte ÖsterreichUngarns, nach mehr als drei Jahren parlamentsloser Regierung am 30. Mai 1917 einberufen wurde, legten die Abgeordneten aus den Kronländern Bekenntnisse zur Errichtung unabhängiger Nationalstaaten ab.63 Am Ende des Ersten Weltkriegs stand die Entität Österreich-Ungarn64 also vor dem Zerfall: Die Polen Galiziens wollten sich einem neu entstehenden polnischen Staat anschließen, die Ukrainer Galiziens versuchten nicht unter polnische Herrschaft zu gelangen. Die Slowenen und Kroaten wünschten mit den Serben einen südslawischen Staat zu bilden. Slowaken, Rumänen und Kroaten verspürten keine Lust länger unter magyarischer Oberhoheit zu leben. Und die Tschechen strebten einen Tschecho-Slowakischen Staat an.65 Die Deutschböhmen und Deutschmährer66 befürchteten deswegen, in den Ländern der böhmi62 Der Reichsrat war von 1861 an das Parlament des Kaisertums Österreich und von 1867 bis 1918 das Parlament der cisleithanischen Reichshälfte der nunmehrigen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Er bestand aus zwei Kammern, dem Herrenhaus und dem Abgeordnetenhaus. Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder (Cisleithanien) sind: Königreich Böhmen, Königreich Dalmatien, Königreich Galizien und Lodomerien, Erzherzogtum Österreich unter der Enns, Erzherzogtum Österreich ob der Enns, Herzogtum Bukowina, Herzogtum Kärnten, Herzogtum Krain, Herzogtum Salzburg, Herzogtum Ober- und Niederschlesien, Herzogtum Steiermark, Markgrafschaft Mähren, Gefürstete Grafschaft Tirol, Gefürstete Grafschaft Görz und Gradisca, Reichsunmittelbare Stadt Triest und ihr Gebiet, Vorarlberg. Im Gegensatz dazu verstand man unter „Transleithanien“ die Länder der ungarischen Krone (das historische Königreich Ungarn samt Kroatien und Slawonien sowie die Freistadt Fiume). 63 Stenographische Protokolle. Haus der Abgeordneten. – 1. (Eröffnungs-)Sitzung der XXII. Session am 30. Mai 1917, S. 33 ff. (http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=spa&da tum=0022&page=1000&size=45). 64 Vgl. dazu M. Silagi, Staatsuntergang und Staatennachfolge. Mit besonderer Berücksichtigung der DDR, 1996, S. 30 ff. Zu den Habsburgern vgl. P. M. Judson, Habsburg. Geschichte eines Imperiums, 2017. 65 Die Idee, einen gemeinsamen tschechoslowakischen Staat zu bilden, entstand Mitte des 19. Jahrhunderts. Es gab aber auch die Idee eines panslawischen Staatenbundes unter der Hoheit des russischen Zaren. Vgl. M. B. Petrovich, The Emergence of Russian Panslavism: 1856 – 1870, 1958. Den eigentlichen Schub in die Richtung eines tschecho-slowakischen Staates erfolgte durch Tomásˇ Garrigue Masaryk. Der Unterschied zwischen Tschechen und Slowaken war aber durchaus erkennbar. Die Tschechen waren mehr nach Österreich hin orientiert, die Slowaken nach Ungarn. Ein gewisser tschechischer Überlegenheitsdünkel war zudem unverkennbar. 66 Der Begriff Deutschböhmen ist eine Sammelbezeichnung für die deutschsprachigen Bewohner aller böhmischen Länder sowie für das Siedlungsgebiet dieser Bevölkerungsgruppe.

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schen Krone als Minderheit unter tschechische Herrschaft zu geraten. Die kaum berücksichtigten Interessen anderer Nationalitäten Österreich-Ungarns und die ungarische Magyarisierungspolitik, insbesondere in der Slowakei, führten zu ethnischen Spannungen und zu Begriffen wie „Völkerkerker“.67 2. Völkermanifest Am 16. Oktober 1918 erließ Karl I. auf Vorschlag der kaiserlich-königlichen Regierung unter Max Hussarek von Heinlein für Cisleithanien68 das sogenannte Völkermanifest.69 Dieses Manifest sollte den Anstoß dazu geben, die österreichische In den zur böhmischen Krone gehörenden Ländern Mähren und Schlesien sprach man von Deutschmährern und Deutschschlesiern im ehemaligen Österreichisch-Schlesien. Im 20. Jahrhundert wurde für diese Gruppierungen zunehmend der Begriff „Sudetendeutsche“ verwendet. Deutschböhmen und Deutschmährer: http://www.nidiot.de/de/Deutschb%C3 % B6hmen_ und_Deutschm%C3 %A4hrer. , 67 Der Ausdruck stammt wohl von Ludovít Sˇ túr (* 29.10.1815 in Uhrovec bei Bánovce nad Bebravou, Königreich Ungarn; † 12.1.1856 in Modra bei Pressburg). So St. Löwenstein, Keine Selbstverständlichkeit. Am 28. Oktober 1918 wurde die Tschechoslowakische Republik ausgerufen, in: FAZ vom 26. 10. 2018, S. 8. Sˇ túr war eine bedeutende Persönlichkeit der slowakischen Nationalbewegung, Philologe, Schriftsteller und Politiker im Kaisertum Österreich und kodifizierte die Grundlagen der heutigen slowakischen Schriftsprache. Zu seiner Person: C. von Wurzbach, Sˇ túr, Ljudevit, in: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. 40. Theil, 1880, S. 218 ff. Auch Renner nannte 1919 die Monarchie als „Völkerkerker“. 68 Cisleithanien ist die im Beamtentum und bei Juristen gebräuchliche inoffizielle Bezeichnung für den nördlichen und westlichen Teil Österreich-Ungarns. Diesen nannten die Deutschen sonst einfach Österreich. Bis 1915 lautete die offizielle inländische Bezeichnung für diesen Reichsteil, der nun wie der andere Reichsteil ein autonomer Staat war, die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder, danach bis zum Auseinanderfallen des Staates 1918 österreichische Länder. Die Bezeichnung „Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ bezieht sich auf das gemeinsame Parlament dieser Länder, den Reichsrat in Wien, aus dem die Länder der Ungarischen Krone 1867 ausgeschieden waren. – Die Bezeichnung Cisleithanien, leitet sich vom Fluss Leitha ab, der teilweise die Grenze zwischen Niederösterreich und Ungarn bildete und meist überquert wurde, wenn man südlich der Donau von Wien nach Budapest fuhr. Die Leitha ist 180 Kilometer lang und ein Nebenfluss der Donau in Niederösterreich, dem Burgenland und Ungarn. Die Bezeichnung war allerdings geografisch ungenau, da große Gebiete Cisleithaniens weder diesseits noch jenseits der Leitha lagen, sondern im Norden und Nordosten (Länder der Böhmischen Krone: Böhmen, Mähren und ÖsterreichischSchlesien; dann Galizien und die Bukowina) und im Süden des Staates (Österreichisches Küstenland, Krain, Dalmatien). Analog zu Cisleithanien wurde das Königreich Ungarn mit dem zu den Ländern der ungarischen Stephanskrone gehörigen halbautonomen Königreich Kroatien-Slawonien inoffiziell Transleithanien genannt. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/ Cisleithanien; http://www.xn–sterreich-ungarn-lwb.de/laender.html. 69 Text: W. Bihl, Der Erste Weltkrieg 1914 – 1918. Chronik – Daten – Fakten, 2010, S. 230; D. G. McGuigan, Familie Habsburg 1273 – 1918. Aufstieg und Fall einer großen europäischen Dynastie, 5. Aufl. 1992, S. 624 f. Dort ist irrtümlich vom 6. 10. 1918 die Rede. Das Völkermanifest war die inoffizielle Bezeichnung für ein Manifest, das Kaiser Karl I. am 16. 10. 1918 in seiner Eigenschaft als Staatsoberhaupt der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder (seit 1915 österreichische Länder genannt) erließ, um den Zerfall Altösterreichs zu vermeiden. Das mit der Anrede „An meine getreuen österreichischen Völker“ überschriebene Manifest,

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Reichshälfte unter der Schirmherrschaft des Kaisers in einen Bundesstaat mit weitreichender Autonomie für die nationalen Gruppen70 umzuwandeln. Die Nationalitäten Österreichs wurden dazu aufgerufen, eigene Nationalräte (Volksvertretungen) zu bilden. Dieses Angebot kam aber zu spät, es ermunterte vielmehr dazu, die Monarchie zu verlassen und die Zukunft selbst zu gestalten.71 Von einer bundesstaatlichen Ordnung unter der Führung des Kaisers Karl wollten die Völker und Volksgruppen der Monarchie also nichts mehr wissen.72 Viele der Staaten sahen sich vielmehr durch die k. und k. Monarchie73 unterdrückt und wollten nun durch Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ihre eigenen unabhängigen Staaten schaffen. Wollte Österreich überleben, gab es mehrere Möglichkeiten: Eine Donauföderation74, der Anschluss an einen Bundesstaat Deutschland75, die Restauration der Habsburgermonarchie oder der Verzicht auf alle nicht-deutschsprachigen Gebiete76. Die ersten drei Varianten hatten allerdings kaum Chancen auf Realisierung.77

das offiziell vom Ministerium Hussarek, inoffiziell aber teilweise vom Kaiser selbst entworfen und am 17. 10. 1918 in einer Extra-Ausgabe der amtlichen Wiener Zeitung publiziert wurde, verfehlte seine Wirkung. Dazu vgl. 100 Jahre Erster Weltkrieg „Umbruch und Neubeginn“. Völkermanifest 16. 10. 1918: http://wk1.staatsarchiv.at/umbruch-und-neubeginn/voelkermani fest-16101918/. 70 M. Mutschlechner, „An meine getreuen österreichischen Völker!“ – Das Völkermanifest Kaiser Karls: http://www.habsburger.net/de/kapitel/meine-getreuen-oesterreichischen-voelkerdas-voelkermanifest-kaiser-karls. Vgl. auch R. Rickett, Österreich. Sein Weg durch die Geschichte, 5. Aufl. 1991, S. 156. 71 Vgl. auch Mutschlechner (Anm. 70), „An meine getreuen österreichischen Völker!“ – Das Völkermanifest Kaiser Karls: http://www.habsburger.net/de/kapitel/meine-getreuen-oester reichischen-voelker-das-voelkermanifest-kaiser-karls. 72 R. Geyer/E. von Vietsch, Die Große Enzyklopädie der Erde. Alles über Staaten, Völker und Kulturen von den ersten Spuren bis zur Gegenwart, Bd. 3, 1971, S. 239. 73 Die Bezeichnung kaiserlich und königlich (kurz k. u. k.) wurde in der 1867 aus dem Kaisertum Österreich entstandenen Österreichisch-Ungarischen Monarchie für die gemeinsamen Einrichtungen beider Reichshälften, also der Doppelmonarchie, eingeführt. Sie ist von der Bezeichnung kaiserlich-königlich (abgekürzt k. k.) zu unterscheiden. Die Bezeichnung kaiserlich-königlich stand im Kaisertum Österreich bis zum Österreichisch-Ungarischen Ausgleich im Jahr 1867 für die Behörden und staatlichen Einrichtungen des gesamten Reiches. Danach in der Doppelmonarchie bezog sich die Abkürzung k. k. nur auf die westliche Reichshälfte (Cisleithanien). Das erste k. (kaiserlich) stand für den Titel Kaiser von Österreich, das zweite k. (königlich) stand vor 1867 für den Titel König von Ungarn, ab 1867 hingegen für den Titel König von Böhmen, die der Kaiser jeweils in Personalunion führte. 74 Dazu vgl. P. J. Kock, Donauföderation (19./20. Jahrhundert), in Historisches Lexikon Bayerns, https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Donauf%C3 %B6deration_(19./ 20._Jahrhundert). 75 Österreich als Bundesland. Vgl. auch R. Rickett (Anm. 70), S. 169. 76 Man befürchtete aber, dass ein so kleines Österreich nicht lebensfähig sein könnte; vgl. auch R. Rickett (Anm. 70), S. 169. 77 Vgl. auch R. Rickett (Anm. 70), S. 168 ff.

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Abb. 1: Cisleithanien rot, Transleithanien grau, Bosnien-Herzegowina dunkelgrau http://www.xn–sterreich-ungarn-lwb.de/laender.html

3. Erstes Parlament des Staates Österreich Am 21. Oktober 1918 bildeten die deutschen Abgeordneten des Reichsrates unter Berufung auf das Manifest des Kaisers die Provisorische Nationalversammlung78 für Deutschösterreich79, das erste Parlament des Staates Deutschösterreich.80 Am 12. November 191881, dem Tag nach der Verzichtserklärung des Kaisers und der Enthebung seiner letzten Regierung82, beschloss die Nationalversammlung mit 78 Die 208 deutschsprachigen Abgeordneten des alten Reichsrates, die im Jahre 1911, also in Friedenszeiten, gewählt worden, trafen sich bewusst nicht im Parlamentsgebäude am Wiener Ring, sondern im niederösterreichischen Landtagssitzungssaal. 79 Die Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich (inoffiziell auch Wiener Nationalversammlung) war nach dem Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie von 21. 10. 1918 bis 16. 2. 1919 tätig. Die letzte Sitzung fand am 6. 2. 1919 statt. Vgl. dazu W. Brauneder, Deutsch-Österreich 1918. Die Republik entsteht, 1999, passim. 80 Vgl. Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich vom 21. 10. 1918: Text: L. Epstein, Studienausgabe der Verfassungsgesetze der Tschechoslowakischen Republik, 1923, S. 55 ff. Dort heißt es: „… Der deutsch-österreichische Staat beansprucht die Gebietsgewalt über das ganze deutsche Siedlungsgebiet, insbesondere aber auch in den Sudetenländern. Jeder Annexion von Gebieten, die von deutschen Bauern, Arbeitern oder Bürgern bewohnt werden, durch andere Nationen wird sich der deutsch-österreichische Staat widersetzen. (…)“. Damit war nicht geplant, einen neuen Staat zu gründen. Noch hielten die Abgeordneten an der Monarchie fest. Vgl. K. Berchtold, Verfassungsgeschichte der Republik Österreich, Bd. I: 1918 – 1933 Fünfzehn Jahre Verfassungskampf, 1998, S. 14 und 20. 81 Am 12. 11. 1918 fand in Wien auch die letzte Reichsratssitzung statt.

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nur zwei Gegenstimmen das „Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich“.83 Am selben Tag rief die Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich die Republik aus. Laut Stenographischem Protokoll der Sitzung stellte Präsident Franz S. Dinghofer fest, dass das Gesetz einstimmig angenommen wurde.84 Der Beschluss und die Bekanntgabe werden in der Geschichtsschreibung als „Ausrufung der Republik“ bezeichnet.85 Die ersten beiden Artikel des Gesetzes lauten: Artikel 1 „Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt“. Artikel 2 „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik. Besondere Gesetze regeln die Teilnahme Deutschösterreichs an der Gesetzgebung und Verwaltung der Deutschen Republik sowie die Ausdehnung des Geltungsbereiches von Gesetzen und Einrichtungen der Deutschen Republik auf Deutschösterreich.“

Staatskanzler Karl Renner86 rechnete in der Konstituierenden Nationalversammlung am 5. März 1919 vor, dass rund vier Millionen unzweifelhaft deutsche Einwohner daran gehindert worden seien, am neuen Parlament Deutschösterreichs mitzuwirken; damit habe man eine Teilung Deutschlands bewirkt. Im Einzelnen nannte der Staatskanzler:87 - Deutschböhmen mit 14.496 km2 und 2,23 Mio. Einwohnern, - Böhmerwaldgau (an Oberösterreich anzuschließen) mit 3.280 km2 und 183.000 Einwohnern, - Sudetenland mit 6.533 km2 und 678.800 Einwohnern,

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Vgl. dazu unten II.4. Gesetz vom 12. 11. 1918 über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich, StGBl. Nr. 5/1918 (ALEX – Historische Rechts- und Gesetzestexte Online: http://alex.onb.ac.at/ cgi-content/alex?. 84 Stenographisches Protokoll. 3. Sitzung der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich am 12. 11. 1918, S. 68 (ALEX – Historische Rechts- und Gesetzestexte On line: http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?. 85 Vgl. auch R. Rickett (Anm. 70), S. 158. 86 Karl Renner (* 14.12.1870 in Untertannowitz, Mähren; † 31.12.1950 in Wien) war Jurist und ein österreichischer Sozialdemokrat (SDAP/SPÖ). Nach dem Ersten Weltkrieg war er von 1918 bis 1920 Staatskanzler. Er leitete die österreichische Delegation bei den Verhandlungen in Saint Germain. 1938 war er der bedeutendste sozialdemokratische Befürworter des „Anschlusses“ Österreichs an das Nationalsozialistische Deutsche Reich. Vgl. W. Goldinger/ D. Binder, Geschichte der Republik Österreich 1918 – 1938, 1992, S. 79 ff. und 298. 87 Stenographisches Protokoll. 2. Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung für Deutschösterreich. Mittwoch, den 5. 3. 1919, in: Stenographische Protokolle der Ersten Republik, Jahrgang 0002, S. 26 (Online bei ANNO). 83

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- Kreis Deutsch-Südmähren (an Niederösterreich anzuschließen) mit 1.840 km2 und 173.000 Einwohnern, - Sprachinsel Brünn mit 140.000 Einwohnern, - Sprachinsel Olmütz mit 48.000 Einwohnern, - Sprachinsel Iglau mit 37.000 Einwohnern, - an Niederösterreich anzuschließende südmährische Gemeinden mit 385 km2 und 22.900 Einwohnern, - Deutsch-Südtirol mit 6.496 km2 und 250.861 Einwohnern88. Die Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich beanspruchte für ihren neuen Staat also das gesamte deutsche Siedlungsgebiet Altösterreichs (Cisleithanien, die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder) und somit auch Teile der Länder der böhmischen Krone (Sudetenland). Diese proklamierte Republik umfasste89 118.311 km2 und 10,37 Millionen Einwohner, bestehend aus: Niederösterreich (und dem südmährischen Kreis Znaim), Oberösterreich (und dem deutschen Südböhmen um Krumau), Steiermark (inklusive Marburg an der Drau, jedoch ohne die slowenische Untersteiermark), Kärnten (inklusive das mehrheitlich slowenisch besiedelte Südkärnten sowie das dreisprachige Kanaltal), Tirol (mit Deutsch-Südti rol, jedoch ohne Welschtirol90), Vorarlberg, Salzburg, Provinz Deutschböhmen (mit den Städten Eger, Karlsbad, Aussig und Reichenberg), Provinz Sudetenland (Nordost-Böhmen, Nord-Mähren sowie Österreichisch-Schlesien91), ferner die „Einschlussgebiete“ Iglau, Olmütz und Brünn (Sprachinseln mehrheitlich deutscher Städte in tschechischem Gebiet). Beim Anschluss dieser Gebiete an Deutschösterreich hätte sich das Staatsgebiet nach Norden92 in einem Halbkreis entlang der Grenzen zu Bayern, Sachsen und Schlesien fortgesetzt. Deutsch-Westungarn (später Burgenland) wurde im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Völker politisch, nicht aber rechtlich beansprucht. Der rechtliche Anspruch Österreichs entstand erst mit dem Staatsvertrag von Saint Germain en Laye (Art. 27 Nr. 5) und wurde 1921 weitgehend umgesetzt.

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Hier lebten seit mehr als tausend Jahren eine Viertelmillion deutschsprachige Südtiroler; vgl. auch R. Rickett (Anm. 70), S. 162. 89 Übernommen aus https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch%C3 %B6sterreich. 90 Welschtirol ist das südliche Tirol, in dem die italienische Sprache vorherrscht; Hauptstadt ist Trient. 91 Unter Österreichisch-Schlesien, offiziell Herzogtum Ober- und Niederschlesien, versteht man einen Teil der Länder der Böhmischen Krone und damit der k. und k. Monarchie, der nach der Teilung Schlesiens infolge des Ersten Schlesischen Kriegs 1742 gegen Maria Theresia bei Österreich verblieb. Von 1850 bis 1918 war es Kronland des Kaisertums Österreich. 92 Im Norden mit 27.022 km2 und 3.515.509 Einwohnern.

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Abb. 2: Von Niesen – Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12853023

4. Rückzug von Kaiser Karl Der letzte österreichische Kaiser Karl I. verzichtete für Österreich am 11. November 1918 „auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften“93. Er dankte aber nicht ab und führte den Titel „Kaiser von Österreich“ bis zu seinem Tod am 1. April 1922 in Funchal, Madeira, weiter. Da sich Kaiser Karl weigerte förmlich abzudanken, drohte ihm die österreichische Regierung mit der Ausweisung. Am 23. März 1919 reiste Karl mit seiner Familie in die Schweiz aus. Wenige Tage nach seiner Ausreise wurde er auf Lebenszeit des Landes verwiesen. Am 3. April 1919 verabschiedete das österreichische Parlament das sogenannte Habsburgergesetz94, wonach nach § 1 Abs. 1 „alle Herrscherrechte und sonstige Vorrechte des Hauses Habsburg-Lothringen sowie aller Mitglieder dieses Hauses (…) in Österreich für immerwährende Zeiten

93 W. Brauneder, „Ein Kaiser abdiziert doch nicht bloß zum Scheine!“ – Der Verzicht Kaiser Karls am 11. November 1918, in: S. D. Dirbach (Hrsg.), Thronverzicht. Die Abdankung in Monarchien vom Mittelalter bis in die Neuzeit, 2010, S. 123 ff. (128); zur Person Karl: D. G. McGuigan (Anm. 69), S. 624 ff. 94 Gesetz vom 3. 4. 1919, betreffend die Landesverweisung und die Übernahme des Vermögens des Hauses Habsburg-Lothringen, StGBl. Nr. 209/1919. https://www.ris.bka.gv.at/ GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000038.

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aufgehoben“ sind.95 Nach § 2 Habsburgergesetz wurden im Interesse der Sicherheit der Republik „der ehemalige Träger der Krone und die sonstigen Mitglieder des Hauses Habsburg-Lothringen“ des Landes verwiesen, soweit sie nicht auf ihre Mitgliedschaft zu diesem Hause und auf alle aus ihr gefolgerten Herrschaftsansprüche ausdrücklich verzichtet und sich als getreue Staatsbürger der Republik bekannt haben. 5. Friedensvertrag von Saint Germain a) Anschlussverbot an das Reich Am 6. September 1919 wurde im Parlament in Wien der künftige Österreich betreffende Friedensvertrag erörtert. Trotz der immensen Lasten stimmten am Ende der Debatte die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten, nicht aber die Großdeutschen, der Vertragsunterzeichnung zu. Zugleich wurde aber Protest gegen die Abtrennung des Sudetenlandes und Südtirols erhoben.96 Am 10. September 1919 unterzeichnete Staatskanzler Renner den Vertrag von Saint Germain en Laye, der die größtenteils bereits erfolgte Auflösung der österreichischen Reichshälfte zur Folge hatte. Mit der Ratifizierung des Vertrages durch die Nationalversammlung am 21. Oktober 1919 wurde der Name des Landes gemäß den Vertragsbestimmungen von „Deutschösterreich“ in „Republik Österreich“ geändert. Den Bestrebungen zum Zusammenschluss mit dem republikanischen Deutschen Reich stand das „Anschlussverbot“ entgegen, das sowohl im Vertrag von Saint Germain für Österreich als auch im Versailler Vertrag verankert wurde. Artikel 88 Vertrag von Saint Germain97 lautet: „Die Unabhängigkeit Österreichs ist unabänderlich, es sei denn, daß der Rat des Völkerbundes einer Abänderung zustimmt. Daher übernimmt Österreich die Verpflichtung, sich, außer mit Zustimmung des gedachten Rates, jeder Handlung zu enthalten, die mittelbar oder unmittelbar oder auf irgendwelchem Wege, namentlich – bis zu seiner Zulassung als Mitglied des Völkerbundes – im Wege der Teilnahme an den Angelegenheiten einer anderen Macht seine Unabhängigkeit gefährden könnte.“

Artikel 80 Versailler Vertrag98 lautet: „Deutschland erkennt die Unabhängigkeit Österreichs innerhalb der durch Vertrag zwischen diesem Staate und den alliierten und assoziierten Hauptmächten festzusetzenden Grenzen

95 Dazu vgl. M. Kadgien, Das Habsburgergesetz, hier in diesem Band, sowie ders., Das Habsburgergesetz, 2005. 96 C. Moos, Südtirol im St. Germain-Kontext, in: G. Grote/H. Obermair (Hrsg.), A Land on the Threshold. South Tyrolean Transformations, 1915 – 2015, 2017, S. 29 f. 97 Text: Staatsgesetzblatt Nr. 303/1920; http://www.versailler-vertrag.de/svsg/svsg-i.htm. Vgl. F. Prinz, 70 Jahre Saint Germain, in: Sudetenland. Vierteljahresschrift für Kunst, Literatur, Volkstum und Wissenschaft, Böhmen. Mähren. Schlesien, 1990, Heft 4, S. 290 ff. 98 Text: http://www.documentarchiv.de/wr/vv.html.

Österreich, die Tschechoslowakei und das Schicksal des Sudetenlandes bis heute 107 an und verpflichtet sich, sie unbedingt zu achten; es erkennt an, daß diese Unabhängigkeit unabänderlich ist, es sei denn, daß der Rat des Völkerbunds einer Abänderung zustimmt.“

Die Siegermächte des „Großen Krieges“ wollten damit ein neues mächtiges Deutschland verhindern. Im Gesetz vom 21. Oktober 1919 über die Staatsform hieß es daher:99 Artikel 1: „Deutschösterreich in seiner durch den Staatsvertrag von St. Germain bestimmten Abgrenzung ist eine demokratische Republik unter dem Namen ,Republik Österreich‘. Artikel 3: „In Durchführung des Staatsvertrags von St. Germain wird die bisherige gesetzliche Bestimmung ,Deutschösterreich ist ein Bestandteil des Deutschen Reiches‘ […] außer Kraft gesetzt“.

b) Gebietsabtretungen und völkerrechtliche Anerkennung der Neustaaten Im Vertrag von Saint Germain 1919 mit Österreich und im Vertrag von Trianon 1920 mit Ungarn wurden Gebietsabtretungen und Grenzen der Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie festgelegt.100 Die Gebietsabtretungen Österreichs an Italien, an den serbisch-kroatisch-slowenischen Staat, an Ungarn und die Tschechoslowakei regelt detailliert Art. 27 Vertrag von Saint Germain. Die im Vertrag von Saint Germain beschriebenen Grenzen sind auf einer Karte im Maßstabe 1:1,000.000 eingezeichnet, die dem Vertrag beigegeben ist. Im Falle von Abweichungen zwischen Text und Karte ist der Text maßgebend (Art. 28 Vertrag von Saint Germain). Die Verträge enthalten ferner eine völkerrechtliche Anerkennung der Staaten Ungarn, Polen, Tschechoslowakei und des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Königreich Jugoslawien).101 Artikel 89 Vertrag von Saint Germain: „Österreich erklärt schon jetzt, daß es die Grenzen Bulgariens, Griechenlands, Ungarns, Polens, Rumäniens, des serbisch-kroatisch-slowenischen und des tschecho-slowakischen Staates, wie sie von den alliierten und assoziierten Hauptmächten werden festgesetzt werden, anerkennt und annimmt.“ 99 Gesetz über die Staatsform, in: Staatsgesetzblatt für den Staat Deutschösterreich, Jahrgang 1919, S. 1153 (StGBl. Nr. 484/1919) (https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung). 100 Winston Churchill bezeichnete allerdings die Zerschlagung Österreich-Ungarns als große Tragödie, weil dieses Reich einer großen Anzahl von Völkern jahrhundertelang den Vorteil von Handel und Sicherheit beziehungsweise eines gemeinsamen Lebens ermöglichte und nach dessen Zerfall keines dieser Völker gegen den Druck Deutschlands oder Russlands bestehen konnte, W. S. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 1948, S. 19 ff. 101 Vgl. insbesondere Teil III des Friedensvertrags von Saint Germain. Politische Bestimmungen über Europa.

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Nach dem Vertrag war Österreich nur noch jener Teil, den niemand anderer beanspruchte.102 Österreich war somit nach den bösen Worten des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau: „L’Autriche c’est ce que reste“ – Österreich ist das, was übrig bleibt.103 Österreich ist also keine Summe, sondern eine Differenz.104 Es war nirgendwo mehr die Rede davon, dass das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker auch für Österreich angewendet werden sollte. Damit wurde den Österreichern verwehrt, was anderen Völkern unter Berufung auf den US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zugesprochen wurde. III. Entstehung und Entwicklung der Tschechoslowakei 1. Bemühungen der Exilpolitiker Die Tschechen befürchteten nach einem Sieg der Mittelmächte nicht ganz zu Unrecht eine Kooperation oder gar eine Vereinigung Österreichs mit Deutschland, womit sich die deutsche Dominanz weiter ausbreiten und die Tschechen in Böhmen und Mähren um ihre nationale Identität bangen müssten. Der tschechische Gelehrte und Politiker Tomásˇ Garrigue Masaryk105 ging im Jahr 1914 ins Exil und versuchte mit Hilfe von Gleichgesinnten die Konstituierung eines autonomen tschecho-slowakischen Staates zu verwirklichen.106 Er stellte sich einen eigenständigen Staat vor, der sich am Westen orientiert und seinen Platz im neu geordneten Europa einnimmt. Der neu zu bildende Staat Tschechoslowakei sollte eine Republik mit parlamentarischer Regierungsform sein, in dem Grundrechte der Bürger garantiert, die Trennung von Kirche und Staat, das allgemeinem Wahlrecht, die Gleichberechtigung der Frauen und der Minderheitenschutz verfassungsrechtlich verbürgt und weitreichende soziale Reformen wie die Enteignung des Großgrundbe102 A. Stangl, Mythen und Narrative: „Der Rest ist Österreich!“ (…) oder so ähnlich, http:// ww1.habsburger.net/de/kapitel/mythen-und-narrative-der-rest-ist-oesterreich-oder-so-aehnlich. 103 Dazu: J. Achleitner, Der Rest ist Österreich, 20. 1. 2018, in: OÖNachrichten spezial, https://www.nachrichten.at/nachrichten/spezial/art194059,2792274. Ferner: Austria Forum. Wissenssammlungen. Zitate, https://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Zitate/Verschie dene%20Autoren. Zur Frage des Verhältnisses Österreichs zur k. und k. Monarchie vgl. G. Gornig, Ungarn und der Frieden von Trianon. Auch ein Beitrag zum Fortbestand oder Untergang von Staaten, in diesem Band. 104 So A. M. Dusl, Die österreichischen Werte, 27. 10. 2018, http://comandantina.com/. 105 Tomásˇ Garrigue Masaryk (* 7.3.1850 in Hodonín, Mähren; † 14.9.1937 in Lány) war ein tschechischer Philosoph, Schriftsteller und Politiker. Es gibt Spekulationen darüber, dass Masaryk der uneheliche Sohn einer hochgestellten Person gewesen sein könnte, eventuell sogar der Sohn Kaiser Franz Josephs. Brisante Spekulation: War Masaryk ein Sohn des österrei chischen Kaisers? auf radio.cz, http://www.radio.cz/de/rubrik/geschichte/brisante-spekulationwar-masaryk-ein-sohn-des-oesterreichischen-kaisers. 106 Vgl. auch R. Geyer/E. von Vietsch, Die Große Enzyklopädie der Erde. Alles über Staaten, Völker und Kulturen von den ersten Spuren bis zur Gegenwart, Bd. 4: Europa, 1971, S. 97.

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sitzes und die Abschaffung aristokratischer Vorrechte in Angriff genommen werden.107 Masaryk überreichte im April 1915 dem Außenminister des Vereinigten Königreichs, Edward Grey, einen Entwurf, der einen Zusammenschluss Tschechiens mit der Slowakei (Independent Bohemia108) vorsah: „The Bohemian State would be composed of the so-called Bohemian countries, namely of Bohemia, Moravia, Silesia; to these would be added the Slovak districts of North Hungary, from Ungvar through Kaschau along the ethnographical boundaries down the river Ipoly (Eipel) to the Danube, including Pressburg and the whole Slovak north to the frontier line of Hungary. The Slovaks are Bohemians, in spite of their using their dialect as their literary language. The Slovaks strive also for independence and accept the programme of union with Bohemia.“109

In dem Buch „Das neue Europa“ schrieb Masaryk, die Deutschen wollten ein „pangermanisches Mitteleuropa“.110 Am 5. Februar 1916 formierte sich mit Erlaubnis der französischen Regierung der Nationalrat der tschechischen Länder (Conseil National des pays tchèques)111, als dessen Präsident Masaryk fungierte. Generalsekretär war Edvard Benesˇ.112 Auf seiner Seite wähnte er auch Russland. Die zaristische russische Kriegsführung trachtete doch danach, insbesondere auch die nationalen Gegensätze in Österreich-Ungarn zu schüren. Die Zeitung „Russkoje Slowo“ kommentierte das Kriegsmanifest des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch Romanow folgendermaßen: „Die große Stunde hebt an. Die verschiedenstämmigen Völker Österreich-Ungarns werden zu neuem Leben aufgerufen. Bosnien und Herzegowina, Dalmatien und Kroatien vereinigen sich mit Serbien, Siebenbürgen (Transsylvanien) und die südliche Bukowina mit Rumänien, Istrien und Südtirol mit Italien; verwickelter ist die Frage nach dem Schicksal der Tschechen, Slowenen, Magyaren und österreichischen Deutschen. Gegen ein Deutschösterreich in seinen ethnographischen Grenzen läßt sich nichts einwenden, aber unzulässig ist, daß 107 Vgl. dazu W. Jaksch, Europas Weg nach Potsdam. Schuld und Schicksal im Donauraum, 1967, S. 124 ff.; ferner zur Person: T. G. Masaryk/K. Capek, Masaryk erzählt sein Leben. Aus dem Tschechischen übersetzt von Camill Hoffmann, 1935; Tomásˇ Garrigue Masaryk, https:// de.wikipedia.org/wiki/Tom%C3 %A1 %C5 %A1_Garrigue_Masaryk. 108 „Independent Bohemia, an account of the Czecho-Slovak struggle for liberty“, 1915; Text: https://archive.org/stream/cu31924028113458/cu31924028113458_djvu.txt; ferner: https://ecommons.cornell.edu/bitstream/handle/1813/1451/Masaryk_Bohemia_1915.pdf;se quence=1. 109 „Independent Bohemia, an account of the Czecho-Slovak struggle for liberty“, 1915, S. 125. 110 Th. G. Masaryk/E. Saudek (Übersetzer), Das neue Europa, 1. Aufl., Neudruck 1976, S. 21 ff., 116. 111 Der Name deutet darauf hin, dass weniger eine ethnische Konzeption der Schaffung des Neustaates zugrundeliegen sollte. 112 P. Deutschmann, Eine „Weltfrage“ und eine Weltreise. Tomásˇ G. Masaryk im Ersten Weltkrieg, in: Th. Previsˇic´/B. Zink, Boris/A. Grob (Hrsg.), Erzählte Mobilität im östlichen Europa, S. 59 ff. (67).

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deutsche Gegenden Deutschland angegliedert werden, denn auf diese Weise würde Deutschland aus dem Kriege gestärkt hervorgehen. Ein unabhängiges Österreich muß Deutschland vom nahen Osten trennen. Auf dem Wege zur Schaffung eines unabhängigen tschechischen Staates ersteht die Frage nach dem Ausgang der Tschechen zum Meer, eine Frage, die sich in den ethnographischen oder historischen Grenzen der tschechischen Nation nicht lösen läßt. Die Ungarn erhalten ihre Selbständigkeit, der verhängnisvolle Fehler des Jahres 1849 wird wieder gutgemacht. Dabei müssen die Ungarn jedoch durch die Grenzen der magyarischen Gebiete beschränkt sein.“113

Von Mai bis Dezember 1918 versuchte Masaryk, die Alliierten des Ersten Weltkriegs von der Konstituierung eines tschechoslowakischen Staates zu überzeugen.114 Die Integration der Karpatenukraine vereinbarte Masaryk mit den in den USA lebenden Karpato-Ruthenen115 und Repräsentanten der Auslandsslowaken am 30. Mai 1918. 2. Pittsburgher Abkommen Am 31. Mai 1918 wurde zwischen tschechischen und slowakischen Exilgruppen das Pittsburgher Abkommen116 geschlossen, in dem die Grundlagen für den zu gründenden gemeinsamen Staat Tschecho-Slowakei festgelegt wurde. Das Pittsburgher Abkommen hielt fest, dass der gemeinsame Staat aus den alten Böhmischen Ländern117 und der Slowakei bestehen sollte. Den slowakischen Vertretern wurde vom späteren tschechoslowakischen Präsidenten Masaryk Autonomie und Gleichberechtigung im zukünftigen Staat zugesichert. Die Slowakei sollte eine autonome Verwaltung, einen eigenen Landtag und einen eigenständigen Justizapparat bekommen. Slowakisch sollte Schul- und Amtssprache werden.

113 So überliefert von: Tomásˇ Garrigue Masaryk, Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen 1914 – 1918, 1925, Kapitel 3 I.5. (http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-weltrevo lution-8544/3), zitiert aber nach W. Jaksch (Anm. 107), S. 126. 114 R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 106), Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 4, S. 97. 115 Als Ruthenen werden vom 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts in der Habsburgermonarchie die Ostslawen des Reiches, die Ukrainer und die Russinen, Lemken, Bojken und Huzulen bezeichnet. Die Bezeichnung kommt von Rutheni, der latinisierten Form von Rus, den alten Eigenbezeichnungen der Ostslawen. Vgl. W. Bihl, Die Ruthenen, in: A. Wandruszka/ W. Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, Bd. 3: Die Völker des Reiches. 1. Teilband, 1980 S. 555 – 584. 116 Vgl. J. Pesˇek, Die Gründung der Tschechoslowakei 1918, in: Nähe und Ferne. Deutsche, Tschechen und Slowaken, 2004, S. 22 – 30. 117 Darunter versteht man die Gesamtheit der Länder, die mit dem Königreich Böhmen durch den gemeinsamen Herrscher sowie über Lehensbeziehungen verbunden waren. Dazu: H. Schenk, Die Böhmischen Länder. Historische Landeskunde. Deutsche Geschichte im Osten, Bd. 1, 1993, S. 9 ff.; ferner: https://de.wikipedia.org/wiki/L%C3 %A4nder_der_B% C3 %B6hmischen_Krone.

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3. Nationalrat der tschechischen Länder als vorläufige Regierung Edvard Benesˇ bemühte sich, dass die Regierungen des Vereinigten Königreichs und Frankreichs den Nationalrat der tschechischen Länder als vorläufige Regierung anerkannten, was ihm am 3. Juni in London (offiziell am 9. August 1918 erfolgt) und am 29. Juni 1918 in Paris gelang. Am 11. August 1918 kam aus den USA die Nachricht, dass der Nationalrat der tschechischen Länder an den Verhandlungen der Alliierten teilnehmen dürfe. Am 3. September 1918 wurden die Tschechen von den USA als kriegsteilnehmende Macht und ihr Nationalrat als rechtmäßiger Vertreter anerkannt, am 28. September 1918 erkannte Frankreich den Nationalrat als de facto-Regierung an.118 Am 14. Oktober 1918 bildete Edvard Benesˇ in Paris den Nationalausschuss119 als provisorische tschechoslowakische Regierung mit Masaryk als Ministerpräsidenten. Damit war der Weg zu einer Exilregierung120 beschritten. Das bereits erwähnte Völkermanifest von Kaiser Karl vom 16. Oktober 1918 war somit der erfolglose Versuch, zumindest die österreichische Reichshälfte zu retten. Seine Einladung an die Nationalitäten Cisleithaniens, Nationalräte zu bilden, wurde zwar angenommen. Die Tschechen taten dies aber bereits vorher ohne Einladung. Sie waren entschlossen, einen eigenen, unabhängigen und demokratisch regierten Staat zu gründen. 4. Tschechoslowakische Unabhängigkeitserklärung und Ausrufung der Republik Das Pittsburgher Abkommen ebnete den Weg zur von Masaryk am 18. Oktober 1918 proklamierten tschechoslowakischen Unabhängigkeitserklärung121, der Washingtoner Deklaration. Masaryk berief sich bei der Unabhängigkeitserklärung auf das Naturrecht, die Geschichte und die demokratischen Prinzipien der USA sowie Frankreichs. 118

W. Bihl (Anm. 69), Der Erste Weltkrieg 1914 – 1918, S. 228. Tschechoslowakischer Nationalausschuss (1918), in: http://dictionnaire.sensagent.lepari sien.fr/Tschechoslowakischer%20Nationalausschuss%20(1918)/de-de/; ferner: R. Geyer/E. von Vietsch (Anm.106), Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 4, S. 97; https://de.wikipedia.org/ wiki/Tschechoslowakischer_Nationalausschuss_(1939. Der Tschechoslowakische Nationalausschuss vom Juli 1918 sollte auch das tschechische und slowakische Volk nach der Besetzung des Landes durch die deutsche Wehrmacht im Ausland vertreten und seine Befreiung bewirken. Das Komitee war nach eigenem Selbstverständnis Organ des tschechoslowakischen Widerstandes und eine Art Ersatzregierung, bis am 20. 7. 1940 das Vereinigte Königreich die tschechoslowakische Exilregierung in London anerkannte. 120 Vgl. dazu A. Koberg, Die Exilregierung im Völkerrecht, 2005, S. 6 ff., insbesondere S. 84 ff. 121 Sie wurde von Masaryk, Milan Rastislav Sˇ tefánik und Edvard Benesˇ unterzeichnet. Vgl. auch R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 106), Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 4, S. 97. 119

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Am 28. Oktober 1918 akzeptierte die österreichisch-ungarische Regierung die Bedingungen von Präsident Woodrow Wilson für die Beendigung des Krieges und bot den sofortigen Waffenstillstand an. Es erfolgte dann die Ausrufung der Tschechoslowakei am gleichen Tag in Prag im Gemeindehaus: „Tschechoslowakisches Volk! Dein uralter Traum ist Wirklichkeit geworden. Der tschechoslowakische Staat reiht sich ab heute in die selbständigen, freien und kulturträchtigen Staaten der Welt ein. Der Nationalausschuss übernimmt als einzig berechtigtes Organ die ganze Macht!“

Mit diesen Worten begann ein Aufruf des tschechoslowakischen Nationalausschusses, der von einem Balkon auf dem Prager Wenzelsplatz am 28. Oktober 1918 vorgetragen wurde.122 Dieser Tag gilt offiziell als Gründungstag der Tschechoslowakischen Republik.123 Masaryk kam erst am 21. Dezember 1918 aus dem Exil nach Prag zurück.124 Dort wurde er bereits am 14. November 1918 in Abwesenheit von den Parlamentariern zum Staatspräsidenten gewählt. Die sogenannte „erste Republik“ umfasst die Zeit seit der Staatsgründung der Tschechoslowakei 1918 bis 1938. Eine Gruppe slowakischer Politiker proklamierte am 30. Oktober 1918 in Turcˇ iansky Sväty´ Martin (heute: Martin) in der Deklaration von Martin (Martiner Deklaration) den Anschluss der Slowakei an den neuen Staat Tschechoslowakei.125 Mit der „Deklaration von Martin“126 machten die Slowaken ihren Anspruch auf Autonomie im neuen Staat geltend. Ungarn war mit der Gründung der Tschechoslowakei nicht einverstanden, da es die Slowakei als unter seiner territorialen Souveränität stehend betrachtete. Der neue Staat Tschechoslowakei bestand 1921 aus 14 Millionen Menschen, von denen 50,82 % Tschechen, 23,36 % Deutsche, 14,71 % Slowaken, 5,57 % Ungarn und 3,45 % Ruthenen waren. Außerdem lebten in dem Gebiet noch einige Rumänen, Polen und Kroaten.127 122

Weg zum eigenen Staat: Tschechoslowakei entstand vor 95 Jahren: http://www.radio.cz/ de/rubrik/geschichte/der-weg-zum-eigenen-staat-vor-95-jahren-entstand-die-tschechoslowakei. 123 Zur Geschichte: H. Schenk (Anm. 117), Die Böhmischen Länder, S. 18 ff. 124 R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 106), Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 4, S. 97. 125 Der 30. 10. 2018 wurde in der Slowakei zu einem einmaligen Staatsfeiertag erklärt, https://dersi.rtvs.sk/clanky/gesellschaft-politik/178988/100-jahrestag-der-deklaration-von-mar tin. 126 Masaryk University, https://is.muni.cz/elportal/estud/praf/ps08/recht/no_av/doc/Deklara tion_des_slowakischen_Nationalrates_in_Turz_St._Martin_vom_30._Oktober_1918.pdf; ferner: Geschichte der Tschechoslowakei: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Tsche choslowakei. 127 So: http://universal_lexikon.deacademic.com/311820/Tschechoslowakische_Republik% 3A_Zentralismus_und_Nationalit%C3 %A4tenprobleme_in_der_%C4 %8CSR; ferner: L. Darowska, Widerstand und Biografie: Die widerständige Praxis der Prager Journalistin Milena Jesenská gegen den Nationalsozialismus, 2012, S. 306. Fn. 1; S. Müller, Die Holdschicks aus Weseritz: Vom Zerfall der Donaumonarchie bis zum Verlust der Heimat, 2009, S. 28; https://

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Der Böhmische Landesteil Österreichs als Teil der Doppelmonarchie fusionierte also mit der Slowakei als Teil Ungarns zur Tschecho-Slowakei. Böhmen und Mähren trennten sich damit von Österreich und die Slowakei von Ungarn. Qualifizierte man die k. und k. Monarchie als Staat, bedeutet dies jeweils eine Sezession von der Doppelmonarchie. Qualifizierte man die k. und k. Monarchie hingegen als eine Realunion, also einen Staatenverbund, dann erfolgte ein Austritt der Gebiete aus dieser, unterstellt man noch die Existenz der Doppelmonarchie.128 Da aber die provisorische Nationalversammlung von Österreich bereits am 21. Oktober 1918 die Republik Deutschösterreich ausrief, war die Doppelmonarchie zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung der Tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober 1918 nicht mehr existent, so dass von einer Sezession der böhmischen und mährischen Gebiete von Deutschösterreich und der Slowakei von Ungarn auszugehen ist. Eine Separation wird man verneinen müssen, da Deutschösterreich und Ungarn damit nicht einverstanden waren und machtlos zusehen mussten. 5. Grenzkonflikte Im Jahre 1919 brach der Polnisch-Tschechoslowakische Grenzkrieg um das OlsaGebiet (auch Olsaland, Teschener Schlesien129), den östlichen Teil des Kronlandes Österreichisch-Schlesien, aus. Er dauerte vom 23. bis zum 30. Januar 1919 und wird daher auch als Siebentagekrieg bezeichnet. Der Konflikt konnte erst 1958 beigelegt werden konnte.130 Auch kleinere Gebietsforderungen Polens an der Nordgrenze der Slowakei führten immer wieder zu Grenzkonflikten. 6. Deutschböhmen und Deutschmährer Die Deutschböhmen und Deutschmährer, für die sich der Begriff „Sudentendeutsche“131 durchsetzte, widerstanden Ende November und Anfang Dezember 1918 de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Tschechoslowakei. Leicht andere Zahlen bei: R. Geyer/ E. von Vietsch (Anm. 106), Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 4, S. 97. 128 Zu dieser Frage und der Frage der Rechtsnatur der Doppelmonarchie vgl. G. Gornig, Ungarn und der Frieden von Trianon. Auch ein Beitrag zum Fortbestand oder Untergang von Staaten, in diesem Band. 129 Das Olsagebiet ist ein Gebiet am Fluss Olsa, das zur Zeit der Habsburgermonarchie der östliche Teil des Kronlandes Österreichisch-Schlesien war und davor einmal das Herzogtum Teschen (https://de.wikipedia.org/wiki/Olsagebiet). Das Gebiet und die am namensgebenden Fluss liegende Stadt Teschen wurden nach 1918 aufgeteilt. Es entstand eine Doppelstadt, mit Cˇ esky´ Teˇ sˇín in der Tschechoslowakei, heute Tschechien, am westlichen Flussufer und Cieszyn in Polen am Ostufer. Vgl. K. Szymeczek, Kurzer Abriss der Geschichte des Teschener Schlesien (S´la˛sk Cieszyn´ski, Teˇ sˇínské Slezsko in: http://www.eurac.edu/en/research/autonomies/ commul/Documents/Teschen/Czeski_Cieszyn_3_Gesch_de.pdf). 130 P. Heumos, Polen und die böhmischen Länder im 19. und 20. Jahrhundert. Politik und Gesellschaft im Vergleich, 1991, S. 138. 131 Dazu: F. P. Habel, Die Sudetendeutschen, 1992, auch mit Beiträgen zur Kulturgeschichte von weiteren Autoren. Vgl. ferner in diesem Zusammenhang: Ackermann-Gemeinde

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ihrer Eingliederung in die Tschechoslowakei nur vereinzelt. Als am 4. März 1919 die ohne sudetendeutsche Beteiligung neu gewählte deutschösterreichische Nationalversammlung zusammentrat, demonstrierten Sudetendeutsche vergeblich für ihr Selbstbestimmungsrecht. Der Vertrag von Saint Germain bestätigte aber im Herbst 1919 die tschechoslowakische Position. 7. Friedensverträge a) Friedensvertrag von Versailles Nach Art. 81 des Friedensvertrag von Versailles erkannte Deutschland, wie dies schon die alliierten und assoziierten Mächte getan hatten, die vollkommene Unabhängigkeit des Tschechoslowakischen Staates, der das autonome Gebiet der Ruthenen im Süden der Karpathen umfasste, an. Deutschland erklärte, die Grenzen dieses Staates, so wie sie von den alliierten und assoziierten Hauptmächten und den anderen beteiligten Staaten festgesetzt werden, anzuerkennen. Deutschland musste ferner nach Art. 83 des Friedensvertrag von Versailles das Hultschiner Ländchen132 (tschechisch Hlucˇ ínsko) ohne Volksabstimmung abtreten.133 Vorher hatten sich im Rahmen einer freiwilligen Volksbefragung 93,7 % der 48.446 Stimmberechtigten für einen weiteren Verbleib bei Deutschland ausgesprochen. b) Friedensvertrag von Saint Germain Der Abschnitt III des Friedensvertrages von Saint Germain mit den Art. 53 bis 58 ist dem Tschecho-slowakischen Staat gewidmet.134

(Hrsg.), Deutsche und Tschechen. Gemeinsame Geschichte – getrennte Gegenwart – Zukunft Europa, 1999. Vgl. auch H. Schenk (Anm. 117), Die Böhmischen Länder, S. 18 ff. 132 Vgl. H. Weczerka, Hultschiner Ländchen, in: Handbuch der historischen Stätten Deutschlands – Schlesien, 1977, S. 198 ff. 133 Im Schlesischen Krieg verlor Österreich 1742 das Hultschiner Ländchen an Preußen. Es wurde Teil der preußischen Provinz Schlesien. Ab dem 1. 5. 1816 gehörte es zum Regierungsbezirk Oppeln, Kreis Ratibor. 134 Die Art. 62 – 69 des Friedensvertrags von Saint Germain über den Schutz der Minderheiten wurden ergänzt durch den tschechoslowakischen Minderheitenschutzvertrag vom 10. 9. 1919 (Vertrag zwischen den alliierten und assoziierten Hauptmächten und der Cechoslovakei, unterzeichnet zu Saint Germain en Laye am 10. 9. 1919 [Gesetz Nr. 508/1921], Text: http:// www.verfassungen.net/cssr/minderheitenschutzvertrag19.htm). Vgl. E. Viefhaus, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919, 2008), der Bestandteil der tschechoslowakischen Verfassung war. Die territorialen Fragen wurden ohne Berücksichtigung der Nationalität der Bewohner gelöst. So entstand die Tschechoslowakei als Vielvölkerstaat aus Teilen der ehemaligen Donaumonarchie Österreich-Ungarn.

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Mit Art. 53 erkannte auch Österreich, „wie es bereits die alliierten und assoziierten Mächte getan haben“, die vollständige Unabhängigkeit der Tschecho-Slowakei an, die das autonome Gebiet der Ruthenen südlich der Karpaten mit umfasste. In Art. 54 verzichtete Österreich zugunsten der Tschecho-Slowakei auf alle Rechte und Ansprüche auf die Gebiete der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie, die jenseits der Grenzen Österreichs, wie sie in Art. 27 des II. Teiles (Österreichs Grenzen) festgesetzt sind, liegen und gemäß dem gegenwärtigen Vertrag als Teile der Tschecho-Slowakei anerkannt sind. c) Friedensvertrag von Trianon In Art. 48 des Friedensvertrags von Trianon135 erkannte Ungarn, vergleichbar mit dem Friedensvertrag von Saint Germain mit Österreich, ebenfalls die vollständige Unabhängigkeit der Tschechoslowakei an, die das autonome Gebiet der Ruthenen südlich der Karpathen mit einbegreift. Nach Art. 49 verzichtet Ungarn für seinen Teil zugunsten des tschechoslowakischen Staates auf alle Rechte und Ansprüche auf die Gebiete der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie, die jenseits der Grenzen Ungarns, wie sie in Art. 27 des II. Teiles (Unarns Grenzen) festgesetzt sind, liegen und gemäß dem gegenwärtigen Vertrag als Teile des tschechoslowakischen Staates anerkannt sind. 8. Entwicklung der Tschechoslowakischen Republik bis 1939 Die offizielle Bezeichnung des neu geschaffenen Staates auf dem Gebiet von Böhmen und Mähren war von 1918 bis 1938 Tschechoslowakische Republik (Cˇ SR, anfangs RCˇ S); bis 1920 war die Kurzform Tschecho-Slowakei gebräuchlich. Der Staat setzte sich aus den vorher zu Österreich gehörenden Gebieten Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien (nunmehr zum Land Mähren-Schlesien vereinigt) sowie aus den zu Ungarn gehörenden Gebieten Oberungarn (Slowakei) und Karpatenukraine zusammen.136

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Text: http://www.versailler-vertrag.de/trianon/index.htm. Die Art. 62 – 69 des Friedensvertrags von Saint Germain über den Schutz der Minderheiten wurden ergänzt durch den tschechoslowakischen Minderheitenschutzvertrag vom 10. 9. 1919 (Text: Th. Grentrup, Die kirchliche Rechtslage der deutschen Minderheiten katholischer Konfession in Europa. Eine Materialsammlung 1928, S. 366), der Bestandteil der tschechoslowakischen Verfassung war (D. Blumenwitz, Der Prager Vertrag. Eine Einführung und Dokumentation zum Vertrag vom 11. 12. 1973 unter besonderer Berücksichtigung des Münchner Abkommens und seiner Auswirkung auf Deutschland als Ganzes, 1985, S. 14). Die territorialen Fragen wurden ohne Berücksichtigung der Nationalität der Bewohner gelöst. So entstand die Tschechoslowakei als Vielvölkerstaat aus Teilen der ehemaligen Donaumonarchie Österreich-Ungarn; dazu vgl. M. Silagi (Anm. 64), Staatsuntergang und Staatennachfolge, S. 30. 136

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Erster Präsident des Staates wurde – wie bereits erwähnt – Tomásˇ Garrigue Masaryk. Nach Masaryks Rücktritt 1935 wurde sein engster Mitarbeiter Edvard Benesˇ sein Nachfolger. Erster Ministerpräsident wurde Karel Kramárˇ.137 Die Verfassungsurkunde der Tschechoslowakischen Republik wurde am 29. Februar 1920 durch die Provisorische Nationalversammlung angenommen.138 Von den 270 Abgeordneten der Nationalversammlung besaßen die Slowaken 54 Sitze. Die Deutschen in Böhmen und Mähren boykottierten die Nationalversammlung. In den Grenzgebieten des Sudetenlandes fand die Sudetendeutsche Partei von Konrad Henlein großen Zuspruch. Am 13. März 1938 lud Adolf Hitler den von den Tschechen abgesetzten slowakischen Premierminister Jozef Tiso nach Berlin ein und empfahl ihm, unverzüglich die Unabhängigkeit der Slowakei auszurufen. Am 6. Oktober 1938, nachdem Präsident Edvard Benesˇ sein Amt niedergelegt hatte, erklärten die Slowaken ihre Autonomie innerhalb der Tschechoslowakei. Diese wurde einen Tag später von der Nationalversammlung anerkannt und am 22. November 1938 im Autonomiegesetz verankert. Mit diesem Gesetz wurde der Staat in Tschecho-Slowakische Republik umbenannt. Dieser Staat ist auch unter dem Namen Zweite Republik bekannt. Am 11. Oktober 1938 wurde die erste autonome Regierung der Karpatenukraine errichtet. Am 14. März 1939 stimmte das aus Wahlen hervorgegangene slowakische Parlament einstimmig für die Selbstständigkeit. Diese Erste Slowakische Republik war ein deutscher Vasallenstaat139. Am 15. März 1939 besetzte die deutsche Wehrmacht die sogenannte Rest-Tschechei140, die zum Reichsprotektorat erklärt wurde. Am 16. März 1939 wurde das „Protektorat Böhmen und Mähren“ ausgerufen.141 Das „Protektorat“142 umfasste die über137

R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 106), Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 4, S. 97. Verfassungsurkunde der tschechoslowakischen Republik vom 29. 2. 1920 (Sammlung der Gesetze Nr. 121/1920): http://www.verfassungen.net/cssr/verf20-i.htm. 139 Es kann ein Staat in völlige Abhängigkeit von einem anderen Staat geraten bzw. nur zum Schein ein Protektoratsverhältnis aufrechterhalten werden. Solche Staaten, deren Existenz vollständig von einem anderen Staat abhängig sind, nennt man scheinsouveräne Staaten, Vasallenstaaten oder Marionettenstaaten. 140 Vgl. auch die Unterredung zwischen Adolf Hitler und dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Dr. Hacha in Gegenwart des Reichsministers v. Ribbentrop und des tschechoslowakischen Außenministers Dr. Chvalkovsky in Berlin in der Nacht vom 14. zum 15. 3. 1939, Text: Akten der deutschen Auswärtigen Politik 1918 – 1945, Serie D, Bd. IV, S. 229 ff. Vgl. ferner das Abkommen zwischen Adolf Hitler und dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Dr. Hacha vom 15. 3. 1939, Text: K. Hohlfeld (Hrsg.), Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1948 bis zur Gegenwart. Bd. V: Die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur 1933 – 1945. Deutschland im zweiten Weltkrieg 1939 – 1945, o. J., S. 22. 141 Text: RGBl. 1939 I, S. 485. 142 Zu den protegierten Staaten zählen diejenigen Staaten, die durch einen völkerrechtlichen Vertrag einem anderen Staat die Befugnis eingeräumt haben, ihre Außenpolitik zu führen (vollständiges Protektorat) oder zu überwachen (abgeschwächtes Protektorat). Insoweit han138

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wiegend von Tschechen bewohnten Teile Böhmens und Mährens. Die Regierung unter Präsident Emil Hácha stand unter der Aufsicht eines Reichsprotektors.143 Die Slowakei musste mit Deutschland nur einen „Schutzvertrag“ abschließen. Mit dem „Schutzvertrag“ vom 18. März 1939144 übernahm Deutschland den „Schutz“ über die politische Unabhängigkeit und die Gebietsintegrität des slowakischen Staates: Artikel 1. Das Deutsche Reich übernimmt den Schutz der politischen Unabhängigkeit des Slowakischen Staates und der Integrität seines Gebietes.

Das Deutsch-Slowakische Schutzzonenstatut vom 12. August 1939145 zwischen dem Deutschen Reich und der Slowakischen Republik über die Errichtung einer sogenannten Schutzzone in der Westslowakei sah innerhalb der Schutzzone die Errichtung deutscher Militäranlagen vor.

IV. Insbesondere: Sudetenland 1. Ende des Ersten Weltkriegs Am 28. September 1918, also ein Jahr vor dem Abschluss des Versailler Friedensvertrags, schufen die Entente-Mächte durch die vorzeitige Anerkennung eines tschechoslowakischen Nationalrates im böhmisch-mährischen Raum vollendete Tatsachen. Als ein Monat später, am 28. Oktober 1918, in Prag die Unabhängigkeit ausgerufen wurde, konstituierte sich auch Deutsch-Böhmen als österreichische Provinz mit der Hauptstadt Reichenberg, Deutsch-Südmähren und der Böhmerwaldgau schlossen sich an. Die Tschechen beanspruchten jedoch die Herrschaft über ganz Böhmen und Mähren. Sie besetzten im Winter 1918/19 das sudetendeutsche Gebiet mit Truppengewalt und vertrieben die dortige Provinzregierung, die sich nach Wien zurückzog und nach dem Frieden von Saint Germain am 24. September 1919146 aufdelte es sich beim „Protektorat Böhmen und Mähren“ nicht um ein Protektorat im Sinne des Völkerrechts. 143 Dazu: D. Martinova, Das Ende der Zweiten Republik: Emil Hacha und der 15. März 1939, http://www.radio.cz/de/rubrik/geschichte/das-ende-der-zweiten-republik-emil-hachaund-der-15-maerz-1939. 144 Text: Vertrag über das Schutzverhältnis zwischen dem Deutschen Reich und dem Slowakischen Staat, in: Herder-Institut (Hrsg.), Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Slowakei im Zweiten Weltkrieg“, bearb. von St. Kolková. URL: https://www.herder-institut.de/resolve/qid/2789.html. Als Folge des Schutzzonenvertrages wurden mehrere deutsche Garnisonen und ein großer Truppenübungsplatz (Truppenübungsplatz Kleine Karpathen, heute Truppenübungsplatz Záhorie im Föhrenwald bei Malacky) in der westslowakischen Schutzzone eingerichtet. 145 Text: http://wwii.germandocsinrussia.org/de/nodes/2158-akte-20-schutzzonenvertragzwischen-deutschland-und-slowakei-vom-12-august-1939-vereinbarung#page/2/mode/inspect/ zoom/7. 146 Text: G. Fr. Martens/H. Triepel (éd.), Nouveau Recueil Général de Traité, troisième série, tome XII, 1923, S. 691 ff.

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gelöst wurde. Dieser Friedensvertrag trug dann den tschechischen territorialen Forderungen Rechnung.147 2. Vereinbarungen 1938 a) Notenwechsel vom 19./21. September 1938 In der britisch-französischen Note vom 19. September 1938148 gaben die beiden Regierungen des Vereinigten Königreichs und Frankreichs unmissverständlich ihrer Überzeugung Ausdruck, dass „das weitere Verbleiben der überwiegend von Sudetendeutschen bewohnten Bezirke innerhalb der Grenzen des tschechoslowakischen Staates nicht mehr länger andauern kann, ohne die Interessen der Tschechoslowakei selbst und den europäischen Frieden zu bedrohen“.149 Die Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit könnten nicht wirksam gesichert werden, „es sei denn, diese Gebiete werden nunmehr dem Reich übertragen“. Es werden dann in weiteren sieben Punkten Einzelheiten der Gebietsübertragung und der weitere modus procedendi angesprochen. In der tschechoslowakischen Antwortnote vom 21. September 1938150 bedauert die tschechoslowakische Regierung zutiefst, dass ihr früherer Vorschlag, die Sudetenfrage einer schiedsgerichtlichen Lösung zuzuführen, von den verbündeten Regierungen abgelehnt wurde und „nimmt die Vorschläge als Ganzes an“.

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Vgl. hier die Ausführungen in G. Gornig, Der völkerrechtliche Status Deutschlands zwischen 1945 und 1990. Auch ein Beitrag zu Problemen der Staatensukzession, in: Abhandlungen der Marburger Gelehrten Gesellschaft, Bd. 27, 2007, S. 89 ff. 148 Text: Akten der deutschen Auswärtigen Politik 1918 – 1945 aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes, Serie D (1937 – 1945), Bd. II. Deutschland und die Tschechoslowakei (1937 bis 1938), hrsg. von einer amerikanisch-britisch-französischen Kommission, 1950 (ADAP), Nr. 523, S. 664; K. Hohlfeld, Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Band IV. Die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur 1933 – 1945. Aufbau und Entwicklung 1933 – 1938, o. J., S. 450; ferner: D. Blumenwitz (Anm. 136), Der Prager Vertrag, S. 100 ff. 149 Text: F. P. Habel, Dokumente zur Sudetenfrage. Unerledigte Geschichte, 5. Aufl. 2003, S. 405 f. Bei Habel finden sich alle Dokumente zur sudetendeutschen Frage! Ferner: Sudetendeutscher Rat e.V. (Hrsg.), München 1938. Dokumente sprechen, in: Mitteleuropäische Quellen und Dokumente, Bd. 8, 1965. 150 Text: Französischer Originaltext abgedruckt in: E. L. Woodward/R. Butler (ed.), Documents on British Foreign Policy 1919 – 1939, Serie III, vol. II (1938), 1949, Doc. 1005, S. 447 f. Deutsche Übersetzung: Mitteleuropäische Quellen und Dokumente, Bd. 8, hrsg. vom Sudetendeutschen Rat e. V., 1963, S. 123; ferner F. P. Habel (Anm. 149), S. 409 f.; D. Blumenwitz (Anm. 136), Der Prager Vertrag, S. 100 ff.

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Abb. 3: Die mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete in Böhmen 1930 sind schwarz markiert. https://de.wikipedia.org/wiki/Deutschb%C3 %B6hmen_und_Deutschm%C3 %A4hrer

b) Münchener Abkommen vom 29. September 1938 Das Münchener Abkommen vom 29. September 1938151 regelt nach dem Willen der vertragsschließenden Parteien Deutschland, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien „unter Berücksichtigung des Abkommens, das hinsichtlich der Abtretung des sudetendeutschen Gebietes bereits grundsätzlich erzielt wurde“, die Modalitäten dieser Abtretung. Unter dem in der Präambel erwähnten „Abkommen“ verstanden die Vertragsparteien den britisch-französisch-tschechoslowakischen Notenwechsel vom 19./21. September 1938.152 Nummer 1 des Münchener Abkommens legt fest, dass die Räumung des Gebiets am 1. Oktober 1938 erfolgen solle. Nach Nummer 4 soll die „etappenweise Besetzung des vorwiegend deutschen Gebietes durch deutsche Truppen“ am 1. Oktober 1938 beginnen und bis zum 10. Oktober 1938 abgeschlossen sein. Im Anhang sprechen die beteiligten Mächte eine Garantie der neuen Grenzen des tschechoslowakischen Staates gegen einen unprovozierten Angriff aus. Der amtliche Bericht vom 30. September 1938, der die offizielle Stellungnahme der tschechoslowakischen Regierung zum Münchener Abkommen enthält, stellt fest: 151

Text: ADAP, Bd. II. (Anm. 148), Nr. 675, S. 812 ff.; K. Hohlfeld (Anm. 148), Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Band IV, S. 489 f. Die offizielle Bezeichnung der Vereinbarung lautet: „Abkommen zwischen Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien, getroffen in München am 29. September 1938“. 152 Vgl. auch H. Glassl, Das Münchner Abkommen – Europäische Zusammenhänge zwischen 1918 und 1938, in: Institutum Bohemicum (Hrsg.), 50 Jahre Münchner Abkommen. Zusammenhänge. Erkenntnisse. Urteile. Perspektiven, 1988, S. 11 ff.; W. L. Shirer, The Rise and Fall of the Third Reich: A History of Nazi Germany, 2011, S. 383 f., 389.

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„Nach eingehender Beratung und Erwägung der dringenden Empfehlungen der britischen und französischen Regierung und im Bewußtsein ihrer geschichtlichen Verantwortung hat die tschechoslowakische Regierung nach einhelliger Zustimmung der verantwortlichen Faktoren der politischen Parteien beschlossen, die Münchener Vier-Mächte-Übereinkommen auch ihrerseits anzunehmen. Sie hat diesen Beschluß im Bewußtsein gefaßt, daß es notwendig ist, die Nation als solche zu erhalten, und daß jede andere Entscheidung unmöglich erscheint. Indem die Regierung der tschechoslowakischen Republik diese ihre Zustimmung bekannt gibt, erhebt sie Einspruch vor der ganzen Welt gegen Entscheidungen, die einseitig und ohne ihre Beteiligung getroffen wurden“.153

Die Tschechoslowakei nahm bereits am 30. September 1938 an der ersten Sitzung des im Münchener Abkommen vorgesehenen Internationalen Ausschusses teil, der Einzelfragen des Gebietsübergangs zu klären hatte. Bereits am 1. Oktober 1938 leitete der tschechoslowakische Außenminister im tschechoslowakisch-polnischen Grenzstreit über das Grenzkohlebergbaugebiet östlich von Mährisch-Ostrau aus dem Münchener Abkommen Rechtspositionen zugunsten der Tschechoslowakei ab.154 In Übereinstimmung mit der am 21. und 30. September 1938 gegebenen Zusage trug die Tschechoslowakei ihren Teil zur Durchführung der Gebietsübertragung bei. Die endgültige Festlegung der deutsch-tschechoslowakischen Grenze erfolgte mit Billigung des Internationalen Ausschusses155 durch deutsch-tschechoslowakische Regierungsverhandlungen, die dann zum deutsch-tschechoslowakischen Abkommen über den Grenzverlauf vom 20. November 1938 führten.156 Die Einigung wurde im Protokoll vom 21. November 1938 fixiert. Die deutsch-tschechoslowakische Einigung über den Grenzverlauf dokumentiert, dass eine einvernehmliche Gebietsabtrennung im Sinne des Völkerrechts erfolgte.157 Weiteres Indiz hierfür sind die etwa 50 deutsch-tschechoslowakischen Abkommen, die die beiden Staaten nach dem Münchener Abkommen in Bezug auf das abgetretene Gebiet abgeschlossen haben.158 Bis zur Jahreswende 1938/1939 wurde das sudetendeutsche Gebiet in mehr als 40 Abkommen des Deutschen Reiches mit seinen

153 Text: Le Temps vom 2. 10. 1938, ferner: Auswärtiges Amt, Verhandlungen zur Lösung der sudetendeutschen Frage, 1938, S. 58; F. P. Habel (Anm. 149), S. 418 f. 154 Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918 – 1945 aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes, Serie D (1937 bis 1945) (ADAP), Bd. IV: Die Nachwirkungen von München 1938 – 1939, 1951, S. 7. 155 Vgl. ADAP, Bd. IV (Anm. 154), Dok. 135, S. 144 ff. 156 E. Spengler, Zur Frage des vo¨ lkerrechtlich gu¨ ltigen Zustandekommens der deutschtschechoslowakischen Grenzneuregelung von 1938, 1967; H. Diwald, Deutschland einig Vaterland: Geschichte unserer Gegenwart, 4. Aufl. 1991, S. 322. 157 D. Blumenwitz (Anm. 136), Der Prager Vertrag, S. 21 m. w. N. 158 Vgl. hierzu H. Singbartl, Das Münchener Abkommen und seine Durchführung, in: ˇ SFR“), S. 12 ff. Politische Studien, Sonderheft 1/1974 („Bundesrepublik Deutschland – C

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wichtigsten ausländischen Handelspartnern einbezogen.159 Die Tschechoslowakei errichtete ihrerseits tschechoslowakische Konsulate im abgetrennten Gebiet.160 c) Rechtliche Würdigung Als mögliche Gründe für die Unwirksamkeit des Münchener Abkommens von Anfang an (ex tunc) oder ab einem späteren Zeitpunkt (ex nunc) werden viele Fehlerquellen, die einem Rechtsgeschäft anhaften können, in Betracht gezogen.161 Es wird vorgetragen, dass die die Gebietsübertragung begründenden Erklärungen der Parteien nicht ratifiziert wurden.162 Tschechoslowakische Völkerrechtler163 machen geltend, dass unabhängig von der völkerrechtlichen Frage der Ratifikationsbedürftigkeit des Münchener Abkommens jede Änderung des tschechoslowakischen Staatsgebiets der Zustimmung der Nationalversammlung in Form eines Verfassungsgesetzes bedurft hätte.164 Die Genehmigung des Vertrags weist aber darauf hin, dass die Parteien im Rahmen ihrer Vertragsfreiheit aus politischen und militärischen Gründen auf das langwierige Ratifikationsverfahren verzichtet haben.165 Es taucht ferner die Frage auf, ob die tschechoslowakische Verfassung von 1920 im Jahre 1938 in Anbetracht des Staatsnotstands überhaupt noch die völkerrechtlich maßgebliche effektive Verfassungsrechtslage wiedergab.166 Schließlich erscheint zweifel159 Heute wird in Vereinbarungen mit Russland ausdrücklich die Krim vom Vertragsgebiet ausgenommen, um nicht eine Anerkennung der Annexion der Krim auszusprechen. 160 Vgl. H. Singbartl, Die Durchführung der deutsch-tschechoslowakischen Grenzregelung von 1938 in völkerrechtlicher und staatsrechtlicher Sicht, 1971, S. 110. 161 Vgl. dazu O. Kimminich, Die völkerrechtliche Beurteilung des Münchner Abkommens, in: Schriftenreihe des Arbeitskreises Sudetendeutscher Studenten, 1963, Heft 1, S. 18 ff.; Sudetendeutscher Rat e.V. (Hrsg.), Gutachten zum Münchner Abkommen. Aus dem Blickwinkel allgemeiner Rechtsgrundsätze, in: Mitteleuropäische Quellen und Dokumente, Bd. 10, 1967, S. 9 ff., 19 ff., 34 ff., 51 ff.; H. Raschhofer, Völkerbund und Münchener Abkommen. Die Staatengesellschaften von 1938, 1976; H. Dähne, Das Münchner Abkommen von 1938 – eine völkerrechtliche Analyse, in: Institutum Bohemicum (Hrsg.), 50 Jahre Münchner Abkommen. Zusammenhänge. Erkenntnisse. Urteile. Perspektiven, 1988, S. 75 ff.; D. Blumenwitz (Anm. 136), Der Prager Vertrag, S. 22. 162 W. Magerstein, Die Frage des staatsbürgerlichen Status der in der Tschechoslowakischen Republik mit Verfassungsdekret des Präsidenten vom 2. August 1945 ausgebürgerten Personen „deutscher Nationalität“, in: ÖZföR, Bd. V (1953), S. 338 ff. (347). 163 T. Michal, Das Münchener Abkommen in der zeitgenössischen westdeutschen bourgeoisen Literatur, deutsche Übersetzung bei O. Kimminich, Das Münchener Abkommen in der tschechoslowakischen wissenschaftlichen Literatur seit dem Zweiten Weltkrieg 1968, S. 49 ff. (55). 164 Vgl. dazu § 64 der tschechoslowakischen Verfassung vom 29. 2. 1920. Text: CSRSlg. 1920, Nr. 121 vom 29. 2. 1920 im 26. Stück vom 6. 3. 1920, S. 255 ff. 165 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Band 1, 2. Aufl. 1975, S. 455 Fn. 68; Biesing, Die Rechtsgültigkeit des Münchner Abkommens vom 29. 9. 1938, Diss. Bonn, 1954, S. 35; D. Blumenwitz (Anm. 136), Der Prager Vertrag, S. 22. 166 D. Blumenwitz (Anm. 136), Der Prager Vertrag, S. 22; H. Kier, Das tschechoslowakische Staatsverteidigungsgesetz, in: ZaöRV, Bd. 6 (1936), S. 803 ff.

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haft, ob Verstöße gegen die die innerstaatliche Willensbildung betreffenden Verfassungsnormen völkerrechtliche Relevanz besitzen. Aber auch wenn dies der Fall sein sollte, so würde dieser Mangel beim Vertragsschluss nicht ipso facto zur Nichtigkeit der Vereinbarung führen, sondern müsste geltend gemacht werden, wobei diesem Anfechtungsrecht wieder seine Verwirkung durch die Folgen deutsch-tschechoslowakischer Verträge entgegen gehalten werden könnte. Verfassungsrechtliche Mängel lassen in der Regel zudem die völkerrechtliche Wirksamkeit eines Vertrags unberührt.167 Für diese Ansicht spricht auch die Völkergewohnheitsrecht wiedergebende Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, in deren Art. 46 es heißt: „Ein Staat kann sich nicht auf den Umstand berufen, dass seine Zustimmung, durch einen Vertrag gebunden zu sein, unter Verletzung einer Bestimmung seines innerstaatlichen Rechts über die Vertragsabschlusskompetenz erfolgt und somit seine Zustimmung ungültig ist, es sei denn, dass die Verletzung offenkundig ist und eine Regel seines innerstaatlichen Rechts von grundlegender Bedeutung betrifft“. Hier kommen die Irrelevanztheorie und die Evidenztheorie zum Ausdruck. Die deutsche Reichsregierung drohte ferner der Tschechoslowakei unmissverständlich mit dem Einsatz militärischer Gewalt, falls diese nicht den ultimativen deutschen Forderungen auf Abtretung der Sudetengebiete nachkäme. Die Drohung mit militärischem Zwang erfolgte 1938 zu einem Zeitpunkt des Umbruchs im Völkerrecht. Im sogenannten klassischen Völkerrecht galten Zwang und Drohung nur dann als Anfechtungsgrund, wenn sie sich unmittelbar gegen die vertragschließenden Personen richteten.168 Der Briand-Kellogg-Pakt von 1928169, der 1938 von fast allen Staaten ratifiziert worden war, verbot nur den Krieg als solchen. Ein ausdrückliches Verbot, mittels Kriegsdrohung politische Ziele zu erreichen, enthält der Pakt aber genauso wenig, wie eine Regelung über die Gültigkeit von Verträgen, die ein Angreiferstaat dem Besiegten auferlegt. Man könnte allerdings argumentieren, dass wegen des allgemeinen Rechtsgrundsatzes von Treu und Glauben auch die Drohung mit einem rechtswidrigen Handeln rechtswidrig ist. Indiz dafür, dass jedenfalls im Jahre 1938 die Androhung von Gewalt noch nicht zur Nichtigkeit eines damit im Zusammenhang stehenden Vertragsschlusses führte, ist aber die Rechtsprechung des Alliierten Militärgerichtshofs. Im Gegensatz zur Anklage gelangte das Gericht nicht zur Auffassung, dass das Münchener Abkommen wegen Drohung mit militärischer Gewalt nichtig sei.170 Das Nürnberger Militärtribunal nahm allerdings aufgrund des 167 Vgl. D. Blumenwitz, Der Schutz innerstaatlicher Rechtsgemeinschaften beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge, 1972, S. 270 ff. 168 Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs sahen sich auch rechtlich nicht daran gehindert, die Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags durch Androhung militärischer Gewalt herbeizuführen. Vgl. hierzu F. Berber (Hrsg.), Das Diktat von Versailles. Entstehung – Inhalt – Zerfall, 1939, Dokument 24, S. 58 ff. 169 Text: RGBl. 1929 II, S. 97. 170 H. Raschhofer, Die Sudetenfrage. – Ihre völkerrechtliche Entwicklung vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, 1953, S. 191; K. Rabl, Die gegenwärtige völkerrechtliche Lage der deutschen Ostgebiete, 1958, S. 55.

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ihm vorliegenden Aktenmaterials deutscherseits eine arglistige Täuschung an, da die deutsche Regierung von vornherein nicht daran gedacht habe, das in der ersten Zusatzerklärung zum Münchener Abkommen171 angekündigte Garantieversprechen bezüglich der neuen Grenzen der Tschechoslowakei einzulösen. Ein solcher innerer Vorbehalt wird allerdings im entscheidenden Zeitpunkt des Vertragsschlusses kaum nachweisbar sein. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Nichterfüllung des Münchener Abkommens durch das Deutsche Reich. Im Vordergrund stehen hierbei die Nichterfüllung der Garantiezusage und der Verstoß gegen das Gewaltverbot am 15. März 1939. Beide Verstöße gegen die im Herbst getroffenen Vereinbarungen sind unbestritten. Strittig erscheint aber, ob die im Annex enthaltene Garantiezusage mit der Grenzregelung selbst in einem inneren Zusammenhang steht und welche Konsequenzen sich aus dem Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei als Folge des sogenannten Hácha-Abkommens172 vom 15. März 1939 für die wenige Monate zuvor vollzogenen Gebietsübertragungen ergeben. Aber selbst eklatante Rechtsbrüche für sich vermögen an einer zuvor erfolgten Zession nichts mehr zu ändern. Die Gültigkeit des Münchener Abkommens wurde auch von den Vertragspartnern immer wieder bestätigt. Der britische Premierminister Neville Chamberlain hat die Kompetenz der europäischen Großmächte zur Regelung der deutsch-tschechoslowakischen Krise auf ihrer Münchener Konferenz verteidigt und mehrfach bemerkt, die Sudetenfrage sei eine europäische Frage und die Großmächte hätten nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, die damit zusammenhängenden Fragen zu lösen. Die Ergebnisse des Münchener Abkommens, die auch von der UdSSR und den USA als Bestandteil der europäischen Ordnung respektiert wurden, wurden in ihrer völkerrechtlichen Effektivität und Verbindlichkeit auch nicht durch die Ereignisse des Jahres 1939 berührt. So heißt es etwa im britischen Settlement of Financial Claims Act, der für die Zwecke der Kriegsgesetzgebung von der Zugehörigkeit des Sudetengebietes zum Staatsgebiet des Deutschen Reiches ausging: „Für die Zwecke dieser Verordnung schließt der Ausdruck Tschechoslowakei das gemäß dem Münchener Abkommen vom 29. September 1938 an Deutschland abgetretene Gebiet nicht ein“173. Trotz verschiedener Vorstöße der tschechoslowakischen Exilregierung sah sich die britische Regierung nicht zur förmlichen Annullierung des Münchener Abkommens bereit. Das Münchener Abkommen sei zwar durch Deutschland zerstört worden, die britische Regierung betrachtete sich selbst als Unterzeichnerstaat aber „in dieser Beziehung von jeglicher Verpflichtung frei“. Die endgültigen Grenzen der Tschechoslowakei seien erst bei Kriegsende zu regeln. Diesen Standpunkt vertrat das Verei171

Text: D. Blumenwitz (Anm. 136), Der Prager Vertrag, S. 103. Text: K. Hohlfeld (Anm. 140), Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart, Bd. V, S. 21. Emil Hácha wurde im Oktober 1938 tschechoslowakischer Staatspräsident. Er unterzeichnete am 15. 3. 1939 unter Zwang des Hitlerschen Ultimatums den Protektoratsvertrag, Text: RGBl. 1939 I, S. 485 ff. 173 Vgl. hierzu auch H. Raschhofer, Nullität des Münchener Abkommens?, in: Politische Studien 1972, S. 268 ff. (271). 172

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nigte Königreich bis zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung Deutschlands.174 Schon im Jahre 1942 betrachteten allerdings das französische Nationalkomitee unter Charles de Gaulle und 1943 die italienische Regierung unter Pietro Badoglio das Münchener Abkommen als „null und nichtig“.175 Die Bundesrepublik Deutschland erhob zu keiner Zeit trotz der vorhandenen Gültigkeit des Münchener Abkommens territoriale Forderungen gegenüber der Tschechoslowakei bzw. gegenüber der Tschechischen Republik. Dies brachte die Bundesregierung bereits unter Bundeskanzler Ludwig Erhardt unmissverständlich zum Ausdruck: „Das Münchener Abkommen vom Jahre 1938 ist von Hitler zerrissen worden. Die Bundesregierung erhebt gegenüber der Tschechoslowakei keinerlei territoriale Forderungen und distanziert sich ausdrücklich von Erklärungen, die zu einer anderen Deutung geführt haben.176 Diese Erklärung wurde Bestandteil der sogenannten Friedensnote der Bundesregierung vom 25. März 1966177; diese Erklärung wurde in der Regierungserklärung vom Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger vom 13. Dezember 1966 wieder aufgegriffen.178 Eine Ungültigkeit „von Anfang an“ wurde allerdings von Kiesinger ausdrücklich abgelehnt.179 3. Prager Vertrag vom 11. Dezember 1973 Im Prager Vertrag vom 11. Dezember 1973 heißt es in Art. I: „Die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechoslowakische Sozialistische Republik betrachten das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 im Hinblick auf ihre gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe dieses Vertrags als nichtig“. Nach dem Wortlaut des Art. I erstreckt sich diese Regelung nur auf das Münchener Abkommen vom 29. September 1938. Der das Münchener Abkommen im engeren Sinne vorbereitende britisch-französisch-tschechoslowakische Notenwechsel vom 19./21. September 1938 wird ebenso wenig erwähnt wie die positive Stellungnahme der tschechoslowakischen Regierung vom 30. September 1938 zum Münchener Abkommen. Über die 174

Vgl. insbesondere die Stellungnahme von Außenminister Stewart am 24. 4. 1965 in Prag: F. Wittmann, Vor einem deutsch-tschechoslowakischen Vertrag (Stand 12. 6. 1973), in: Politische Studien, Heft 210 (Juli/August) 1973, S. 383. Vgl. auch die Stellungnahme der britischen Regierung vom 24. 4. 1967: „Die endgültige Festlegung der tschechoslowakischen Grenzen im Verhältnis zu Deutschland und Polen kann nicht vor einem Friedensvertrag förmlich erfolgen. Die Regierung Ihrer Majestät kennt die tschechoslowakischen Grenzen im Verhältnis zu Österreich, Ungarn und die UdSSR de iure an“. 175 F. Wittmann (Anm. 174), in: Politische Studien, Heft 210 (Juli/August) 1973, S. 381. 176 Text: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 26. 3. 1966, S. 849. 177 Text: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 26. 3. 1966, S. 326. 178 Text: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 14. 12. 1966, S. 1269. 179 Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 18. 1. 1967, S. 37.

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etwa 50 weiteren Verträge, die 1938/39 zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakei in Bezug auf das abgetretene Gebiet abgeschlossen wurden, schweigt das Abkommen vom 11. Dezember 1973 ebenfalls. Bei oberflächlicher Auslegung lässt sich die durch den Vertrag getroffene Wortwahl eigentlich nur so verstehen, dass eine Nichtigkeit ex tunc gemeint sei. Entscheidend ist aber die Wortwahl in Art. I „betrachten (…) als nichtig“. Hätten die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechoslowakei hier in Bezug auf das Münchener Abkommen mit konstitutiver Wirkung handeln wollen, wäre die Wortwahl „erklären, dass das Münchener Abkommen (…) nichtig ist“ nahegelegen. Ein derartiger konstitutiver Akt war von den Vertragsparteien aber weder politisch beabsichtigt noch rechtlich möglich. 180 Zum einen hatten die Ostblockstaaten und insbesondere die Tschechoslowakei kein Interesse daran, nach außen zu dokumentieren, dass erst mit dem Vertragsschluss mit der Bundesrepublik Deutschland 1974 die nach 1945 eingetretene faktische Lage ihre rechtliche Legitimation erhalten habe.181 Der Bundesrepublik Deutschland hingegen war es an einer noch offenen Deutschlandfrage und einem Friedensvertragsvorbehalt gelegen. Zudem hatte sie selbst als nichtsouveräner Staat182 keine Kompetenz, über deutsches Staatsgebiet zu verfügen. Vor allem wäre aber der tschechoslowakische Versuch, in Bezug auf das Münchener Abkommen zu einer konstitutiven Regelung zu gelangen, an seinem multilateralen Charakter gescheitert. Die grundsätzlich erga omnes, gegenüber jedermann wirkende Nichtigkeit wird nur im Hinblick auf die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakei im Prager Vertrag geregelt. Damit wird klargestellt, dass die bilaterale deutsch-tschechoslowakische Verständigung über das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 das Münchener Abkommen selbst als multilateralen Vertrag nicht weiter berühren konnte. Ein vielseitiger Vertrag kann nämlich nicht von zwei Parteien, von denen eine am vielseitigen Vertrag gar nicht beteiligt ist, für nichtig erklärt werden. Es erscheint daher naheliegend, dass im deutsch-tschechoslowakischen Vertrag eine wesentliche Vertragsmaterie nicht einvernehmlich geregelt werden konnte und deshalb durch einen Formelkompromiss ausgeklammert wurde.183 Dies bedeutet, dass von der Tschechoslowakei das Münchener Abkommen weiterhin als von Anfang an nichtig betrachtet werden kann. Die Bundesrepublik Deutschland wird, was den Eintritt der Nichtigkeit anbelangt, durch die tschechoslowakische Betrachtungsweise nicht verpflichtet, da sich aus dem völkerrechtlichen Begriff der Nichtigkeit nicht automatisch eine Unwirksamkeit ex tunc ergibt. Insbesondere spricht die Verwendung der Formulierung „betrachten“ dafür, dass gerade nicht von der Nichtigkeit ausgegangen werden sollte, sondern nur ab jetzt, ex nunc, so getan werden sollte, als ob das Abkommen nichtig sei. Beide Seiten tragen für ihre Interpretation des Art. I des deutsch-tschechoslowakischen Ab180

D. Blumenwitz (Anm. 136), Der Prager Vertrag, S. 37. D. Blumenwitz (Anm. 136), Der Prager Vertrag, S. 37. 182 Vgl. dazu G. Gornig (Anm. 147), Der völkerrechtliche Status Deutschlands zwischen 1945 und 1990, S. 23 ff. 183 D. Blumenwitz (Anm. 136), Der Prager Vertrag, S. 38. 181

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kommens politisch das Interpretationsrisiko. Es wird eine Frage des jeweiligen politischen Standvermögens sein, welche Auslegung sich endlich durchsetzen wird.184 Da durch die Aussagen des Prager Vertrags zum Münchener Abkommen vom 29. September 1938 das Deutsche Reich, nicht aber Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 berührt wird, bedurfte es im deutsch-tschechoslowakischen Vertrag auch keiner Unberührtheitsklausel185 zur Offenhaltung der die deutsche Frage betreffenden politischen Ziele. Aus demselben Grund entfiel auch ein spezifisches Interesse der Siegermächte am deutsch-tschechoslowakischen Normalisierungsvertrag, so dass hier die sonst bei Ostverträgen übliche Abstimmung mit den Siegermächten durch Notenwechsel entbehrlich war. Das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 führte also in Verbindung mit weiteren völkerrechtlichen Verträgen zu einer völkerrechtlich wirksamen Abtretung des Sudetengebiets an das Deutsche Reich, das bis zum 9. Mai 1945186 die territoriale Souveränität und die Gebietshoheit über dieses Gebiet inne hatte. Durch welchen völkerrechtlichen Akt bei Gültigkeit des Münchner Abkommens die territoriale Souveränität und die Gebietshoheit wieder auf den neu konstituierten tschechoslowakischen Staat überging und ob der durch den Vertrag vom 11. Dezember 1973 bestätigte Besitzstand noch einer weiteren völkerrechtlichen Legitimierung bedarf, blieb offen. 4. Bedeutung des Zwei-plus-vier-Vertrags 1990 Erst im „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“187 (sog. „Zwei-plus-vier-Vertrag“) vom 12. September 1990 gab das vereinte Deutschland die territoriale Souveränität über Gebiete außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschlands, der DDR und Berlins auf, also auch über das Sudetenland, wenn man Deutschland nach wie vor als Inhaber der territorialen Souveränität über dieses Gebiet betrachtete.188

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D. Blumenwitz (Anm. 136), Der Prager Vertrag, S. 38. Vgl. Art. 4 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 12. 8. 1970 (Moskauer Vertrag), Text: BGBl. 1972 II, S. 354 f.; Art. IV Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen vom 7. 12. 1970 (Warschauer Vertrag), Text: BGBl. 1972 II, S. 362 f. 186 Vgl. Art. II Abs. 1 Prager Vertrag. 187 Text: BGBl. 1990 II, S. 1317 ff. Inkrafttreten am 15. März 1991. 188 Vgl. ferner: H. R. Übelacker, Die Zukunft Europas und das Sudetenland. Beiträge aus gesamtdeutscher Sicht zu Fragen des Rechts und der Politik, 1992. 185

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5. „Schlussstricherklärung“ Die deutsch-tschechische Erklärung vom 21. Januar 1997189 enthält gemeinsame Erklärungen Deutschlands und der Tschechischen Republik, die sich jedoch nicht zu völkerrechtlichen Verpflichtungen verdichten190. Es handelt sich um einseitige Erklärungen beider Seiten und Neubestätigungen bereits existenter völkerrechtlicher Verpflichtungen beider Seiten, die konkretisiert und relativiert werden. Beide Staaten betrachten das Dokument als Nichtrechtsvertrag.191 Maßgeblich bleibt nach wie vor insbesondere der Prager Vertrag.192 Inhaltlich kommt zum Ausdruck, dass sich die deutsche Seite zur Verantwortung Deutschlands für seine Rolle in einer historischen Entwicklung bekennt, die zum Münchner Abkommen von 1938, zur Flucht und Vertreibung von Menschen aus dem tschechoslowakischen Grenzgebiet sowie zur Zerschlagung und Besetzung der Tschechoslowakischen Republik führte. Sie bedauert das Leid und das Unrecht, das dem tschechischen Volk durch die nationalsozialistischen Verbrechen von Deutschen angetan wurde. Die tschechische Seite bedauert, dass durch die nach dem Kriegsende erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde, und dies auch angesichts des kollektiven Charakters der Schuldzuweisung.193 Sie bedauert insbesondere die Exzesse, die im Widerspruch zu elementaren humanitären Grundsätzen und auch den damals geltenden rechtlichen Normen gestanden haben, und bedauert darüber hinaus, dass es aufgrund des Gesetzes Nummer 115 vom 8. Mai 1946 ermöglicht wurde, diese Exzesse als nicht widerrechtlich anzusehen, und dass infolge dessen diese Taten nicht bestraft wurden. In Punkt vier wird festgestellt, dass jede Seite 189

Text: http://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/havel/havel2/244732. Vgl. dazu D. Blumenwitz, Die deutsch-tschechische Erklärung und ihre eigentumsrechtliche Relevanz, in: D. Blumenwitz/G. Gornig/D. Murswiek (Hrsg.), Der Beitritt der Staaten Ostmitteleuropas zur Europäischen Union und die Rechte der deutschen Volksgruppen und Minderheiten sowie der Vertriebenen, 1997, S. 39 ff. 191 Das Parlament wirkte nur politisch bekräftigend mit. Vgl. Parlamentsentschließung vom 30. 1. 1997. 192 Vgl. auch den deutsch-tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrag vom 31. 12. 1992, Text: BGBl. 1992 II, S. 462 f. Obwohl am 31. 12. 1992 die Tschechoslowakei untergegangen ist und die Tschechische Republik ein Neustaat ist, gelten auf der Grundlage der deutschtschechischen Verständigung die deutsch-tschechoslowakischen Vertragsbeziehungen grundsätzlich fort. 193 Zur Vertreibung der Sudetendeutschen vgl. auch G. Gornig, Völkerrechtswidrigkeit von Vertreibung und entschädigungsloser Enteignung unter besonderer Berücksichtigung der Sudetendeutschen. Aspekte der Wiedergutmachung, in: Literaturspiegel 1996, S. 1 ff.; ders., Aspekte der Wiedergutmachung der Vertreibung, in: R. Schnürch/Th. Harald (Hrsg.), Von Prag nach Sarajewo. Vertreibung und Wiedergutmachung, 1996, S. 57 ff.; ders., Völkerrechtswidrigkeit von Vertreibung und entschädigungsloser Enteignung der Sudetendeutschen, in: Deutschland und seine Nachbarn. Forum für Kultur und Politik, Heft 16, Mai 1996, S. 1 ff. Ferner: Sudetendeutscher Rat e.V. (Hrsg.), Dokumente zur Vertreibung der Sudetendeutschen, in: Mitteleuropäische Quellen und Dokumente, Bd. 24, 1992. 190

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ihrer Rechtsordnung verpflichtet bleibt und respektiert, dass die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat. Beide Seiten erklären deshalb, dass sie ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden. V. Resümee Am Ende des Ersten Weltkriegs stand die Entität Österreich-Ungarn vor dem Zerfall: Die Polen Galiziens wollten sich einem neu entstehenden polnischen Staat anschließen, die Ukrainer Galiziens wollten nicht unter polnische Herrschaft gelangen. Die Slowenen und Kroaten wollten mit den Serben einen südslawischen Staat bilden. Slowaken, Rumänen und Kroaten verspürten keine Lust länger unter magyarischer Oberhoheit zu leben. Und die Tschechen strebten einen tschechoslowakischen Staat an. Die Deutschböhmen und Deutschmährer befürchteten deswegen, in den Ländern der böhmischen Krone als Minderheit unter tschechische Herrschaft zu geraten. Am 16. Oktober 1918 erließ Karl I. auf Vorschlag der kaiserlich-königlichen Regierung unter Max Hussarek von Heinlein für Cisleithanien das sogenannte Völkermanifest. Dieses Manifest sollte den Anstoß dazu geben, die österreichische Reichshälfte unter der Schirmherrschaft des Kaisers in einen Bundesstaat mit weitreichender Autonomie für die nationalen Gruppen umzuwandeln. Die Nationalitäten Österreichs wurden dazu aufgerufen, eigene Nationalräte (Volksvertretungen) zu bilden. Dieses Angebot kam aber zu spät, es ermunterte vielmehr dazu, die Monarchie zu verlassen und die Zukunft selbst zu gestalten. Am 21. Oktober 1918 bildeten die deutschen Abgeordneten des Reichsrates unter Berufung auf das Manifest des Kaisers die Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich, das erste Parlament des Staates Deutschösterreich. Am 12. November 1918 beschloss die Nationalversammlung mit nur zwei Gegenstimmen das „Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich“. Art. 1 lautet: „Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt“. In Satz 1 des Art. 2 heißt es: „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik“. Staatskanzler Karl Renner rechnete in der Konstituierenden Nationalversammlung am 5. März 1919 vor, dass rund vier Millionen unzweifelhaft deutsche Einwohner daran gehindert worden seien, das neue Parlament Deutschösterreichs mitzuwählen; damit habe man eine Teilung Deutschlands bewirkt. Unter anderen nannte der Staatskanzler Deutschböhmen mit 14.496 km2 und 2,23 Mio. Einwohnern, Böhmerwaldgau (an Oberösterreich anzuschließen) mit 3.280 km2 und 183.000 Einwohnern, Sudetenland mit 6.533 km2 und 678.800 Einwohnern sowie Kreis Deutsch-Südmähren (an Niederösterreich anzuschließen) mit 1.840 km2 und 173.000 Einwohnern. Beim Anschluss dieser Gebiete an Deutschösterreich hätte sich das Staatsgebiet nach Norden in einem Halbkreis entlang der Grenzen zu Bayern, Sachsen und Schlesien fortgesetzt. Die Provisorische National-

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versammlung für Deutschösterreich beanspruchte für ihren neuen Staat also das gesamte deutsche Siedlungsgebiet Altösterreichs (Cisleithanien, die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder) und somit auch Teile der Länder der böhmischen Krone (Sudetenland). Den Bestrebungen zum Zusammenschluss mit dem republikanischen Deutschen Reich stand das „Anschlussverbot“ entgegen, das sowohl im Vertrag von Saint Germain für Österreich als auch im Versailler Vertrag für Deutschland verankert wurde. Die Verträge enthalten ferner eine völkerrechtliche Anerkennung der Staaten Ungarn, Polen, Tschechoslowakei und des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Königreich Jugoslawien). Das Pittsburgher Abkommen ebnete den Weg zur von Masaryk am 18. Oktober 1918 proklamierten tschechoslowakischen Unabhängigkeitserklärung, der Washingtoner Deklaration. Am 28. Oktober 1918 erfolgte dann die Ausrufung der Tschechoslowakei. Dieser Tag gilt offiziell als Gründungstag der Tschechoslowakischen Republik. Die Deutschböhmen und Deutschmährer, für die sich der Begriff „Sudentendeutsche“ durchsetzte, widerstanden Ende November und Anfang Dezember 1918 ihrer Eingliederung in die Tschechoslowakei nur vereinzelt. Deutschland und Österreich erkannten die vollständige Unabhängigkeit der Tschecho-Slowakei an, die das autonome Gebiet der Ruthenen südlich der Karpaten mit umfasste. Eine Gruppe slowakischer Politiker proklamierte am 30. Oktober 1918 in Turcˇ iansky Sväty´ Martin (heute: Martin) in der Deklaration von Martin (Martiner Deklaration) den Anschluss der Slowakei an den neuen Staat Tschechoslowakei. Mit der „Deklaration von Martin“ machten die Slowaken ihren Anspruch auf Autonomie im neuen Staat geltend. Ungarn war mit der Gründung der Tschechoslowakei nicht einverstanden, da es die Slowakei als unter seiner territorialen Souveränität stehend betrachtete. Der neue Staat Tschechoslowakei bestand 1921 aus 14 Millionen Menschen, von denen 50,82 % Tschechen, 23,36 % Deutsche, 14,71 % Slowaken, 5,57 % Ungarn und 3,45 % Ruthenen waren. Außerdem lebten in dem Gebiet noch einige Rumänen, Polen und Kroaten. Der Böhmische Landesteil Österreichs als Teil der Doppelmonarchie fusionierte also mit der Slowakei als Teil Ungarns zur Tschecho-Slowakei. Böhmen und Mähren trennten sich damit von Österreich und die Slowakei von Ungarn. Qualifizierte man die k. und k. Monarchie als Staat, bedeutet dies jeweils eine Sezession von der Doppelmonarchie. Qualifizierte man die k. und k. Monarchie hingegen als eine Realunion, also einen Staatenverbund, dann erfolgte ein Austritt der Gebiete aus dieser, unterstellt man noch die Existenz der Doppelmonarchie. Da aber die provisorische Nationalversammlung von Österreich bereits am 21. Oktober 1918 die Republik Deutschösterreich ausrief, war die Doppelmonarchie zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung der Tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober 1918 nicht mehr existent, so dass von einer Sezession der böhmischen und mährischen Gebiete von Deutschösterreich und der Slowakei von Ungarn auszugehen ist. Eine Separation

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wird man verneinen müssen, da Deutschösterreich und Ungarn damit nicht einverstanden waren und machtlos zusehen mussten. Die Tschechen beanspruchten die Herrschaft über ganz Böhmen und Mähren. Sie besetzten im Winter 1918/19 das sudetendeutsche Gebiet mit Truppengewalt und vertrieben die dortige Provinzregierung, die sich nach Wien zurückzog und nach dem Frieden von Saint Germain am 24. September 1919 aufgelöst wurde. Dieser Friedensvertrag trug dann den tschechischen territorialen Forderungen Rechnung. In der britisch-französischen Note vom 19. September 1938 gaben die beiden Regierungen des Vereinigten Königreichs und Frankreichs unmissverständlich ihrer Überzeugung Ausdruck, dass „das weitere Verbleiben der hauptsächlich von Sudetendeutschen bewohnten Distrikte innerhalb der Grenzen des tschechoslowakischen Staates tatsächlich nicht länger andauern kann, ohne die Interessen der Tschechoslowakei selbst und des europäischen Friedens zu gefährden“. Die Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit könnten nicht wirksam gesichert werden, es sei denn, diese Gebiete werden nunmehr dem Reich übertragen. In der tschechoslowakischen Antwortnote vom 21. September 1938 bedauert die tschechoslowakische Regierung zutiefst, dass ihr früherer Vorschlag, die Sudetenfrage einer schiedsgerichtlichen Lösung zuzuführen, von den verbündeten Regierungen abgelehnt wurde und „nimmt die Vorschläge als Ganzes an“. Das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 regelt nach dem Willen der vertragsschließenden Parteien Deutschland, Vereinigtes Königreich, Frankreich und Italien unter Berücksichtigung des Notenwechsels die Modalitäten dieser Abtretung. In Übereinstimmung mit der am 21. und 30. September 1938 gegebenen Zusage trug die Tschechoslowakei ihren Teil zur Durchführung der Gebietsübertragung bei. Die endgültige Festlegung der deutsch-tschechoslowakischen Grenze erfolgte mit Billigung des Internationalen Ausschusses durch deutsch-tschechoslowakische Regierungsverhandlungen, die dann zum deutsch-tschechoslowakischen Abkommen über den Grenzverlauf vom 20. November 1938 führte. Als mögliche Gründe für die Unwirksamkeit des Münchener Abkommens von Anfang an (ex tunc) oder ab einem späteren Zeitpunkt (ex nunc) werden viele Fehlerquellen, die einem Rechtsgeschäft anhaften können, in Betracht gezogen. Sie greifen aber nicht, so dass das Münchner Abkommen jedenfalls wirksam ist. Im Prager Vertrag vom 11. Dezember 1973 heißt es in Art. I: „Die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechoslowakische Sozialistische Republik betrachten das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 im Hinblick auf ihre gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe dieses Vertrags als nichtig“. Die Verwendung der Formulierung „betrachten“ spricht dafür, dass gerade nicht von der Nichtigkeit ausgegangen werden sollte, sondern nur ab jetzt so getan werden sollte, als ob das Abkommen nichtig sei. Erst im „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ (sog. „Zwei-plus-vier-Vertrag“) vom 12. September 1990 gab das vereinte Deutschland die territoriale Souveränität über Gebiete außerhalb der Grenzen der Bundesre-

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publik Deutschlands, der DDR und Berlins auf, also auch über das Sudetenland, wenn man Deutschland nach wie vor als Inhaber der territorialen Souveränität über dieses Gebiet betrachtete. In der deutsch-tschechischen Erklärung vom 21. Januar 1997 bedauern beide Seiten das Unrecht, das man sich gegenseitig zugefügt hatte. * Abstract Gilbert H. Gornig: Austria, Czechoslovakia and the Fate of the Sudetenland until Today. Also a Contribution to the Emergence of States (Österreich, die Tschechoslowakei und das Schicksal des Sudetenlandes bis heute. Auch ein Beitrag zur Entstehung von Staaten), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 2 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 2), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 89 – 133. At the end of the First World War, the Austro-Hungarian entity was about to collapse: the Poles of Galicia wanted to join a newly emerging Polish state, the Ukrainians of Galicia did not want to come under Polish rule. The Slovenes and Croats wanted to form a South Slavic state with the Serbs. Slovaks, Romanians and Croats felt no desire to live longer under Magyar sovereignty. And the Czechs were aiming for a Czechoslovak state. The German Bohemians and German Moravians were therefore afraid that they would come under Czech rule in the lands of the Bohemian crown as a minority. On October 16, 1918, Charles I issued at the suggestion of the imperial royal government under Hussarek von Heinlein for Cisleithanien the so-called Völkermanifest. This manifest was intended to initiate the transformation of the Austrian half of the empire under the auspices of the Kaiser into a federal state with far-reaching autonomy for the national groups. The nationalities of Austria were called upon to form their own National Councils (People’s Representatives). But this offer came too late, it encouraged rather to leave the monarchy and shape the future itself. On October 21, 1918, the German deputies of the Imperial Council, citing the Emperor’s manifest, formed the Provisional National Assembly for German Austria, the first parliament of the State of German-Austria. On November 12, 1918, the National Assembly passed the “Law on the State and Government of German Austria” with only two votes against. Art. 1 reads: “German Austria is a democratic republic. All public powers are appointed by the people”. The first sentence of Art. 2 reads: “German Austria is part of the German Republic”. Chancellor Karl Renner predicted in the Constituent National Assembly on March 5, 1919, that around four million undoubtedly German inhabitants had been prevented from voting for the new parliament of German-Austria; this has caused a division of Germany. Among others, the State Chancellor called German Bohemia with 14,496 km2 and 2.23 million inhabitants, Böhmerwaldgau (to connect to Upper Austria) with 3,280 km2 and 183,000 inhabitants, Sudetenland with 6,533 km2 and 678,800 inhabitants and Kreis German South Moravia (to connect to Lower Austria) with 1,840 km2 and 173,000 inhabitants. When connecting these areas to German Austria, the state territory would have continued northwards in a semicircle along the borders with Bavaria, Saxony and Silesia. The Provisional National Assembly for German Austria

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thus claimed for its new state the entire German settlement area of Old Austria (Cisleithania, the kingdoms and lands represented in the Reichsrat) and thus also parts of the lands of the Bohemian crown (Sudetenland). The efforts to merge with the republican German Reich were opposed by the “ban on connection”, which was enshrined in the Treaty of Saint Germain for Austria as well as in the Treaty of Versailles. The treaties also include an international recognition of the states of Hungary, Poland, Czechoslovakia and the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes (from 1929 Kingdom of Yugoslavia). The Pittsburgh Agreement paved the way for Masaryk’s October 18, 1918 proclamation of the Czechoslovak Declaration of Independence, the Washington Declaration. On October 28, 1918, the proclamation of Czechoslovakia took place. This day is officially known as the founding of the Czechoslovak Republic. The German Bohemians and German Moravians, for whom the term “Sudeten Germans” prevailed, resisted their integration into Czechoslovakia only occasionally in late November and early December 1918. Germany and Austria recognized the complete independence of Czechoslovakia, which included the autonomous territory of the Ruthenians south of the Carpathians. A group of Slovak politicians proclaimed on October 30, 1918 in Turcˇ iansky Sväty´ Martin (now Martin) in the Declaration of Martin (Martin Declaration) the connection of Slovakia to the new state of Czechoslovakia. With the ”Declaration of Martin” the Slovaks asserted their demand for autonomy in the new state. Hungary disagreed with the founding of Czechoslovakia as it considered Slovakia to be under its territorial sovereignty. The new state of Czechoslovakia in 1921 consisted of 14 million people, of whom 50.82 % were Czechs, 23.36 % Germans, 14.71 % Slovaks, 5.57 % Hungarians and 3.45 % Ruthenians. In addition, some Romanians, Poles and Croats still lived in the area. The Czech part of Austria as part of the dual monarchy thus merged with Slovakia as part of Hungary to Czecho-Slovakia. Bohemia and Moravia secedes from Austria and Slovakia secedes from Hungary. If the monarchy is qualified as a state, this means a secession from the dual monarchy. If the monarchy, on the other hand, is qualified as a Real Union, i. e. as a federation of states, then an exit of the territories would take place from this Real Union, as far as it is assumed that the dual monarchy still exists. However, since the provisional National Assembly of Austria proclaimed the Republic of German Austria on 21 October 1918, the double monarchy at the time of the declaration of independence of the Czechoslovak Republic on 28 October 1918 no longer existed, so that a secession of the Bohemian and Moravian areas from German Austria and a secession of Slovakia from Hungary have been the consequences. A – consensual – separation must be denied because German Austria and Hungary did not agree and had to watch powerlessly. The Czechs claimed sovereignty over the whole of Bohemia and Moravia. They occupied in the winter of 1918/19 the Sudeten German territory with troops and expelled the local provincial government, which retreated to Vienna and was dissolved after the Treaty of Saint Germain on September 24, 1919. This peace treaty then took into account the Czech territorial demands. In the Anglo-French note of 19 September 1938, the two governments of the United Kingdom and France unequivocally expressed their conviction that “the continued survival of the districts inhabited mainly by Sudeten Germans within the borders of the Czechoslovak state can no longer last, without jeopardizing the interests of Czechoslovakia itself and European peace”. The maintenance of peace and security could not be effectively secured, unless these areas are now transferred to the Reich. In the Czechoslovakian response of 21 September 1938, the Czechoslovak Government deeply regrets that its earlier proposal to bring the Sudeten

Österreich, die Tschechoslowakei und das Schicksal des Sudetenlandes bis heute 133 question to a settlement by arbitration was rejected by the Allied governments and “accepted the proposals as a whole”. The Munich Agreement of 29 September 1938 governs, according to the wishes of the contracting parties Germany, the United Kingdom, France and Italy, the modalities of this assignment, taking account of the change of notes of 19/21 September 1938. In accordance with the pledge given on 21 and 30 September 1938, Czechoslovakia contributed its part to carry out the territorial transfer. The final determination of the German-Czechoslovak border was made with the approval of the International Committee by German-Czechoslovak government negotiations, which then led to the German-Czechoslovak Agreement on the border of 20 November 1938. Possible reasons for the ineffectiveness of the Munich Agreement from the outset (ex tunc) or from a later date (ex nunc) are considered to be many sources of error which may be inherent in a legal transaction. But they do not work, so that the Munich Agreement is in any case effective. Article I of the Prague Treaty of 11 December 1973 states: “The Federal Republic of Germany and the Czechoslovak Socialist Republic consider the Munich Agreement of 29 September 1938 to be null and void in view of their mutual relations in accordance with this Treaty”. The use of the word “consider” suggests that it should not be presumed that it is null and void but that from now on it should be treated as if the agreement were void. Only in the “Treaty on the Final Settlement in Relation to Germany” (so-called “Two-PlusFour-Contract”) gave the united Germany territorial sovereignty over areas outside the borders of the Federal Republic of Germany, the GDR and Berlin, including on the Sudetenland, if Germany was still regarded as the holder of territorial sovereignty over this area. In the GermanCzech declaration of January 21, 1997, both sides regret the injustice they inflicted on each other.

Das Habsburgergesetz Von Michael Kadgien I. Einleitung Das Habsburgergesetz spiegelt das bis heute schwierige Verhältnis Österreichs zu seinem ehemaligen Herrscherhaus, den Habsburgern, wider. In seiner 100 jährigen Geschichte ist das Gesetz immer wieder kritisch hinterfragt worden, existiert allerdings dennoch weiter. Die Untersuchung der Entwicklung des Habsburgergesetzes von einem essentiellen Bestandteil der österreichischen Verfassung hin zu einem Relikt der Vergangenheit war Thema einer juristischen Dissertation im Jahre 20041. Mit diesem Beitrag wird das Gesetz in Anlehnung an die zeitpolitische und historische Entwicklung des Ersten Weltkrieges dargestellt. Ausgangspunkt ist – nach kurzer historischer Darstellung – das Habsburgergesetz selbst, das am Ende des Ersten Weltkrieges, als Österreich vor einer tiefgreifenden Umwälzung seiner Staatsform stand, in Kraft trat. 1. Die Habsburger in Österreich Die Geschichte der Familie Habsburg ist seit über 900 Jahren mit der Geschichte Österreichs eng verbunden. Die Habsburger treten in Österreich mit Rudolf I.2 im Jahr 1278 in das Licht der Öffentlichkeit.3 Der letzte österreichische Kaiser Karl I. verzichtete am 11. November 1918 auf seinen Anteil an den Regierungsgeschäften.4 Ob damit auch ein Verzicht auf den österreichischen Kaiserthron vorlag, beschäftigte die junge Republik Österreich, deren Regierung die Verfasserin des Habsburgergesetzes war.

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M. Kadgien, Das Habsburgergesetz, in: Gornig, Gilbert (Hrsg.), Schriften zum internationalen Recht und zum öffentlichen Recht, Bd. 60, 2006. 2 Rudolf I., Graf von Habsburg, 1218 – 1291, deutscher König von 1273 – 1291. 3 Siehe auch: B. Stollberg-Rilinger, Maria Theresia, 2018. 4 E. J. Görlich, Grundzüge der Geschichte der Habsburgermonarchie und Österreichs, 2. Aufl. 1980, S. 275.

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2. Das Habsburgergesetz Unter dem Habsburgergesetz versteht man das „Gesetz vom 3. April 1919 betreffend die Landesverweisung und die Übernahme des Vermögens des Hauses Habsburg-Lothringen“.5 Da das Habsburgergesetz vom 3. April 1919 bis zur Gegenwart immer wieder geändert wurde, fallen darunter ebenfalls die das Habsburgergesetz in seiner Fassung vom 3. April 1919 ändernden Gesetze.6 Das Habsburgergesetz hat Verfassungsrang und gilt in weiten Teilen bis heute.7 II. Der Weg Österreichs von der Monarchie zur Republik Das Habsburgergesetz entstand kurz nach dem Ende der Monarchie 1919 in der noch jungen österreichischen Ersten Republik. Der Weg dorthin war in Österreich ebenso wie in anderen europäischen Monarchien gesäumt von verschiedenen Verfassungsentwürfen und einem Prozess der Demokratisierung und Parlamentarisierung. Kaiser Franz Joseph folgte am 21. November 1916 als dritter und letzter Thronfolger Erzherzog Karl auf den österreichischen Thron8, weil seine Vorgänger in der Thronfolge starben.9 In Anbetracht der Kriegslage 1916 machte Kaiser Karl mehrere vergebliche Versuche einen Friedensschluss über offizielle und inoffizielle Kanäle zu erwirken.10 Allgemein werden die Friedensbemühungen Kaiser Karls zwar als gut gemeint, aber im Ergebnis als ungeschickt bewertet.11 Innenpolitisch wich der neue Kaiser nicht von der bisherigen politischen Linie seines Vorgängers ab, sondern blieb ihr weitgehend treu. Der Versuch, durch ein sog. „Völkermanifest“ vom 16. Oktober 1918 einen Umbau der österreichisch-ungarischen Monarchie in einen mitteleuropäischen Bundesstaat einzuleiten, kam zu

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StGBl. 209/1919 vom 3. 4. 1919, Anhang, S. 244 ff. Diese sind das Habsburgergesetz in der Fassung vom 30. 10. 1919, das Bundesverfassungsgesetz vom 30. 7. 1925, das Bundesverfassungsgesetz vom 26. 1. 1928, das Bundesverfassungsgesetz vom 4. 7. 1963 sowie das Bundesverfassungsgesetz vom 4. 1. 2008. 7 http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen& Gesetzesnummer= 10000038. 8 E. Zöllner, Geschichte Österreichs, 8. Aufl. 1990, S. 486. 9 Kronprinz Rudolf, der Sohn Kaiser Franz Josephs und erster Thronfolger, nahm sich am 30. 1. 1889 das Leben. Erzherzog Franz Ferdinand, der zweite Thronfolger wurde am 28. 6. 1914 in Sarajevo ermordet. 10 R. Lorenz, Kaiser Karl und der Untergang der Donaumonarchie, 1959, S. 243 ff.; W. Brauneder, Deutsch-Österreich 1918, 2000, S. 158; E. Feigl, Kaiserin Zita, 1982, S. 278. 11 G. Shepherd, Engelbert Dollfuß, 1961, S. 41. 6

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spät.12 Das kaiserliche Manifest hinkte der Zeit und der Realität hinterher. Allein die Deutschen standen noch hinter seinen Plänen für den Umbau des Staates in einen Bundesstaat.13 Der Zerfall der Monarchie war hier schon vorgezeichnet. III. Die Erste Republik Österreichs 1. Die Gründung des Staates Deutschösterreich Durch den Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung in der Sitzung vom 30. Oktober 1918 über die grundlegende Einrichtung der Staatsgewalt wurde unter dem Bruch der Rechtskontinuität der Staat Deutschösterreich gegründet,14 was de facto ein Ende der Monarchie bedeutete.15 Dass bereits in dem vorläufigen Verfassungsgesetz vom 30. Oktober 1918 keinerlei Raum mehr für die Monarchie bestand, stellt der damalig Staatskanzler Karl Renner (1870 – 1950) in seiner Begründung des Habsburgergesetzes fest.16 a) Die Verzichtserklärung des Kaisers Bereits in der Sitzung des Ministerrates der noch bestehenden kaiserlichen Regierung vom 10. November 1918 kam es zur Ausarbeitung einer Verzichtserklärung des Kaisers. Dieses Dokument unterzeichnete der Kaiser am 11. November 1918. Die Verzichtserklärung stellt nach übereinstimmender Meinung aber noch keine Abdankung dar.17 b) Ausrufung der demokratischen Staatsform Erst durch das Gesetz vom 12. November 1918 wurde Österreich zu einer Republik, in der alle öffentliche Gewalt vom Volk eingesetzt werden sollte. Damit waren auch die Vorrechte des Kaisers und der Mitglieder des kaiserlichen Hauses beseitigt.18 Die Übernahme der Krongüter erfolgte durch ein eigenes Gesetz. Die provisorische Nationalversammlung stellte damit klar, dass alles, was bisher im Eigentum des 12 G. Schefbeck, Verfassungsentwicklung 1918 – 1920, in: Österreichische Parlamentarischen Gesellschaft (Hrsg.), 75 Jahre Bundesverfassung, Festschrift, 1995, S. 55 ff. (56). 13 H. Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, 1923, S. 75. 14 StGBl. 1/1918 vom 15. 11. 1918. 15 Sten. Prot. der 2. Sitzung der Prov. NV., S. 31. Im Geleitwort zu H. Kelsen, Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich, Teil 3, 1919, stellte Renner fest, dass die Verfassung ein „Werk voller Mängel und Widersprüche, aber auch ein Provisorium“ sei. 16 Sten. Prot. 6. Sitzung der KNV, S. 113. 17 Sten. Prot. der 6. Sitzung der KNV, S. 114; F. Kleinwächter, Der Untergang der Österreichisch-ungarischen Monarchie, 1920, S. 23. 18 StGBl. 5/1918 Art. 1 – 8 vom 12. 11. 1918.

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Staates stand, auch weiterhin im Eigentum des neuen Staates stehen solle. Dies ist eine Regelung, die bereits in die Richtung des späteren Habsburgergesetzes geht.19 c) Schicksal des Kaisers Nach dem Umzug des Kaisers nach Eckartsau/Niederösterreich20 reiste er mit seiner Familie am 24. März 1919 ins Schweizer Exil. Noch auf österreichischem Boden widerrief Kaiser Karl durch das sog. Manifest von Feldkirch seine Verzichtserklärung.21 2. Das Habsburgergesetz vom 3. April 1919 Das am 3. April 1919 von der Konstituierenden Nationalversammlung erlassene Habsburgergesetz22 ist das Ergebnis einer allgemein antimonarchistischen Haltung in den ersten Tagen der Republik. Das Gesetz räumte mit dem Erbe der k. und k. Monarchie rigoros auf und wollte keinerlei Zweifel über die zukünftige Staatsform Österreichs offen lassen. a) Vorbilder und Parallelen für das Habsburgergesetz Auf der Suche nach Vorbildern für das Habsburgergesetz zeigen sich gewisse Parallelen in anderen europäischen Monarchien, die 1918 zerbrachen. Keiner der Nachfolgestaaten der ehemaligen Monarchien in Europa ging aber so vehement und umfassend gegen sein ehemaliges Herrscherhaus vor wie es Österreich nach dem Ersten Weltkrieg tat.23 19 In den §§ 5 ff. Habsburgergesetz (HabsbG) wird die angekündigte Übernahme der Krongüter geregelt. § 5 HabsbG verwendet aber nicht den Begriff der Krongüter, sondern konkretisiert diesen. Es wird zwischen drei verschiedenen Arten von Vermögen differenziert. 20 E. Feigl (Anm. 10), Kaiserin Zita, S. 395; K. Stadler, Die Gründung der Republik, in: E. Weinzierl/K. Skalnik (Hrsg.), Österreich 1918 – 1938, Geschichte der Republik, Bd. 1, 1983, S. 24 ff. 21 H. Andics, Der Untergang der Donaumonarchie, 1974, S. 310. 22 StGBl. 209/1919 vom 3. 4. 1919. 23 So z. B: Ungarn: XLVII. Gesetzesartikel vom Jahre 1921 über das Erlöschen der Herrscherrechte Sr. Majestät Karl IV. und der Erbfolge des Hauses Habsburg; kundgemacht in dem „Országos Törvénytár“ am 6. 11. 1921. Der deutsche Kaiser hat abgedankt, ein vergleichbares Gesetz gab es hier nicht: E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung, 1914 – 1919, 1978, S. 682 ff.; Wortlaut der Verzichtserklärung: E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 3. Aufl. 1990, S. 312. Trotzdem kam es zum Vermögenseinzug, vgl. Preußische Gesetzgebungsmaterial 1918, S. 825. Die Lage in Bayern ist in keiner Weise vergleichbar mit Österreich, vgl. Gesetzes- u. Verordnungsblatt für den Freistaat Bayern, Nr. 7 vom 14. 3. 1923, Gesetz vom 9. 3. 1923; zu Baden: P. Brandt/R. Rürup, Volksbewegung und demokratische Neuordnung in Baden 1918/1919, 1991, S. 86.

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b) Beweggründe für das Habsburgergesetz Für den Staatskanzler Karl Renner war einer der Beweggründe, ein solches Gesetz wie das Habsburgergesetz zu verabschieden, die in seinen Augen unzureichende Verzichtserklärung des Kaisers vom 11. November 1918. Diese Erklärung enthielt keinerlei Abdankung. Sie bedeutete lediglich eine zeitlich begrenzte Nichteinmischung in die Regierungsgeschäfte und die Akzeptierung der zukünftigen Staatsform Deutschösterreichs.24 Außerdem war die Erklärung des Kaisers, die er vor seiner Abreise aus Österreich in Form des sog. Manifestes von Feldkirch25 abgegeben hatte, ein weiterer Grund für das Habsburgergesetz. Aus diesem Manifest konnte geschlossen werden, dass der Kaiser nicht bereit war, sich an seine Erklärung vom 11. November 1918 zu halten und die Entscheidung des Volkes über die künftige Staatsform anzuerkennen.26 Darüber hinaus war die junge Republik sowohl äußeren als auch inneren Gefahren ausgesetzt. Zu den inneren Gefahren für die noch nicht gefestigte Republik zählte Renner die noch immer drohende Restauration der Monarchie.27 Nicht zuletzt sah Renner im Verweilen der Habsburger in Österreich eine dauernde Gefährdung der Republik.28 Die Beweggründe für den Einzug des gesamten Vermögens waren vor allem, dass damit „ein Werk der Sühne für einen (…) mutwillig im Interesse des Erzhauses vom Zaun gebrochenen Krieg“ durch das ehemalige Herrscherhaus geleistet werden sollte.29 Nach § 7 des Habsburgergesetzes sollte das übernommene Vermögen der Habsburger „zur Fürsorge für die durch den Weltkrieg in ihrer Gesundheit geschädigten oder ihres Ernährers beraubten Staatsbürger“ dienen. Zuletzt sah Renner einen Beweggrund für das Gesetz in der zeitlichen Veränderung: „Das Erzhaus hat sich ausgelebt und überlebt.“ Die Zukunft lag für Renner in der „allgemeinen Freiheit des Volkes“, also in der Errichtung und Festigung der Republik.30 c) Inhalt des Gesetzes Am 26. März 1919 reichte die Staatsregierung der Nationalversammlung „den Entwurf eines Gesetzes über die Landesverweisung und die Übernahme des Vermögens des Hauses Habsburg-Lothringen“ ein.31

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K. Schuschnigg, Im Kampf gegen Hitler, 1988, S. 45. Hierzu H. Andics (Anm. 21), Der Untergang der Donaumonarchie, S. 310. 26 K. Stadler (Anm. 20), in: E. Weinzierl/K. Skalnik, Österreich 1918 – 1938, Bd. 1, S. 77. 27 Sten. Prot. der 6. Sitzung der KNV, S. 114. 28 Sten. Prot. der 6. Sitzung der KNV, S. 116. 29 Ebenda. 30 Ebenda. 31 Sten. Prot. der 6. Sitzung der KNV, S. 112. 25

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Das Habsburgergesetz in seiner Fassung vom 3. April enthält neun Paragraphen. Geregelt ist einerseits die Aufhebung aller „Herrscherrechte und sonstiger Vorrechte des Hauses Habsburg-Lothringen“ andererseits die Landesverweisung der Mitglieder des Hauses Habsburg-Lothringen und der Entzug des „hofärarischen und gebundenen Vermögens“ des regierenden Hauses.32 Adressat sind alle Mitglieder des Hauses Habsburg-Lothringen. Wer Mitglied des Hauses Habsburg-Lothringen war, bestimmte sich zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes nach dem Hausrecht des Hauses Habsburg-Lothringen.33 aa) § 1 HabsbG Im ersten Satz des § 1 spricht das Gesetz von der Aufhebung „alle(r) Herrscherrechte und sonstige(r) Vorrechte“. Mit diesen Rechten sind die monarchischen Rechte des regierenden Hauses Habsburg-Lothringen gemeint. Die Inhalte der genannten Herrscher- und Vorrechte finden sich in der Verfassung von 1867. Da „alle Autoritäten vom Volke ausgehen“, könne man nicht daneben „Majestätsrecht und Herrscherrechte“ gewähren.34 Die erläuternden Bemerkungen zum Gesetz gestehen dem § 1 nur eine „deklaratorische Bedeutung“ zu. Deutschösterreich war schon mit dem „Staatsgründungsbeschluss“ vom 30. Oktober 1918 von Rechts wegen eine Republik.35 Zusammenfassend kann § 1 HabsbG als politische Demonstration in Form eines Gesetzes für die Republik und gegen die Monarchie verstanden werden.36 bb) § 2 HabsbG § 2 HabsbG enthält eine sehr einschneidende Regelung: die Landesverweisung. In der Nationalversammlung gab ein Abgeordneter während der Generaldebatte die Entwicklung des österreichischen Volkes hin zu einer republikanischen Staatsform sowie „die Reife der Menschheit, sich selbst zu regieren“ als Grund für die Landesverweisung an.37 Adressaten des § 2 in der verabschiedeten Fassung sind „der ehemalige Träger der Krone und die sonstigen Mitglieder des Hauses Habsburg-Lothringen“. Träger der Krone waren Kaiser Karl und seine Frau. Der rechtliche Begriff des „Hauses“ (Österreich, Habsburg, Habsburg-Lothringen oder kaiserliches Haus) bedeutete nach der bis November 1918 in Österreich gelten32

StGBl. 209/1919 vom 3. 4. 1919. „Familienstatut des Allerhöchsten Kaiserhauses vom 3. 11. 1839“, Hauptstaatsarchiv Wien. 34 Sten. Prot. der 6. Sitzung der KNV, S. 113. 35 EB zu Nr. 83 der Blg. KNV, S. 3. 36 H. Kelsen (Anm. 13), Österreichisches Staatsrecht, S. 145; W. Brauneder (Anm. 10), Deutsch-Österreich 1918, S. 185. 37 Sten. Prot. der 7. Sitzung der KNV am 2. 4. 1919, S. 163. 33

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den Staats- und Verfassungsrechtsordnung eine Zusammenfassung der Personen, die aufgrund ihrer Abstammung einen mehr oder weniger entfernten Nachfolgeanspruch auf den österreichischen Thron hatten.38 Ungeklärt ist, ob die Mitgliedschaft zu diesem Haus nur auf den Zeitpunkt des Erlasses des Habsburgergesetzes oder auch auf die Folgezeit bezogen ist und auch die Mitglieder der nächsten Generation darunter fallen. Die Zielsetzung des Habsburgergesetzes, nämlich die Sicherung der Republik gegen die Gefahr einer Restauration, könnte nur dann wirksam sein, wenn sich der § 2 auch auf Mitglieder des Hauses Habsburg-Lothringen bezieht, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes geboren wurden. Allerdings werden diese Mitglieder keine Gefahr mehr für die Republik darstellen, da sie nie Herrschaftsmacht innehatten und diese demnach später auch nicht mehr beanspruchen können. Es ist nur logisch, dass die Regelung des § 2 nicht auf Nachkommen angewendet werden kann. Diese Mitglieder können nämlich nicht auf etwaige Herrschaftsrechte verzichten, da ihnen solche zu keinem Zeitpunkt zugestanden haben. Die Mitgliedschaft zum Hause Habsburg-Lothringen bezieht sich danach nur auf den Zeitpunkt des Erlasses des Habsburgergesetzes. In der Fassung des Gesetzes vom 3. April gilt nur noch die Landesverweisung des ehemaligen Trägers der Krone Kaiser Karl bedingungslos. Da Kaiser Karl bereits seit dem 24. März 1919 nicht mehr in Österreich weilte, gab es für ihn nach Verabschiedung des Gesetzes keine Rückkehrmöglichkeit ohne Rechtsverletzung. Die bedingungslose Landesverweisung aller übrigen Mitglieder des Hauses Habsburg-Lothringen, wie sie die Regierungsvorlage noch formulierte, erschien nicht gerechtfertigt zu sein. Daher entschied sich der Gesetzgeber für die Einführung einer Erklärung, mit der die Landesverweisung durch Mitglieder des Hauses Habsburg-Lothringen selbst abgewehrt werden konnte. Diese in § 2 HabsbG vorgesehene Erklärung beinhaltete einen ausdrücklichen Verzicht auf die Mitgliedschaft zum Hause Habsburg-Lothringen und ein Bekenntnis als treuer Staatsbürger der Republik. Die neue Republik eröffnete damit den Mitgliedern des Hauses Habsburg-Lothringen die Möglichkeit, im Lande zu verbleiben, wenn sie die im Gesetz geforderte Verzichts- und Loyalitätserklärung abgaben. Ob die abgegebene Erklärung als ausreichend anerkannt würde, sollte „die Staatsregierung im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss der Nationalversammlung“ bestimmen. cc) § 3 HabsbG § 3 HabsbG stellt den „Gebrauch von Titeln und Ansprachen“ unter Verbot. Hier wird der Bezug zum ehemaligen Herrscherhaus nicht ausdrücklich hergestellt. Die dem Kaiser geleisteten Eide in seiner Funktion als bisheriges Staatsoberhaupt werden als unverbindlich angesehen. Inhaltlich entspricht § 3 HabsbG dem § 2 Adels38

Vgl. auch die Entscheidung des VerwGH vom 11. 2. 1980, 201/79.

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aufhebungsgesetz (AdelsaufG). Darin wird die Führung von Adelsbezeichnungen, Titeln und Würden untersagt,39 was bis heute gilt. dd) § 4 HabsbG § 4 HabsbG hebt in der Republik Österreich jedes Privatfürstenrecht auf. Inhalt des „Privatfürstenrechts“ sind vor allem familien-, erb- und eigentumsrechtliche Regelungen innerhalb einer fürstlichen Familie.40 In § 4 HabsbG geht es sowohl um das Privatfürstenrecht des ehemals herrschenden Hauses Habsburg-Lothringen als auch um jedes andere in Deutschösterreich zur damaligen Zeit bestehende Privatfürstenrecht. Motiv für diesen Paragrafen ist die Unvereinbarkeit des Privatfürstenrechts mit den demokratischen Grundsätzen der Republik.41 ee) § 5 HabsbG Mit § 5 HabsbG beginnt der zweite Abschnitt des Habsburgergesetzes. In diesem zweiten Abschnitt wird die vermögensrechtliche Seite des Habsburgergesetzes normiert. Danach wurde die Republik Deutschösterreich „Eigentümerin des gesamten in ihrem Staatsgebiet befindlichen beweglichen und unbeweglichen hofärarischen sowie des für das früher regierende Haus oder für eine Zweiglinie desselben gebundenen Vermögens“. In § 5 HabsbG ist also von zwei Vermögensmassen die Rede, dem hofärarischen und dem gebundenen Vermögen. Eine Legaldefinition des hofärarischen Vermögensbegriffes folgt in § 6 HabsbG. Nur das nicht unter einen dieser beiden Begriffe fallende Privatvermögen blieb nach den §§ 5 bis 7 HabsbG im Eigentum der Mitglieder der Familie Habsburg-Lothringen.42 Den Vermögensentzug begründete Renner vor der Nationalversammlung zum einen mit dem Zweck des Vermögens, zum anderen mit dem Ursprung des Vermögens. Zweck war, „den Glanz und das Ansehen des Erzhauses zu erhöhen“. Das Vermögen entstammte nicht dem Privaterwerb des Erzhauses, vielmehr besaß das Erzhaus das gebundene Vermögen in seiner Eigenschaft als herrschendes Haus. Da dieses Haus aber nicht mehr herrschte, fiel auch das aus diesem Ursprung stammende Vermögen weg.43 Dem Vollzug dieser Schlussfolgerung diente nach Ansicht der Staatsregierung die Verabschiedung des Habsburgergesetzes. Woher das gebundene Vermögen aber konkret stammte, wenn nicht aus Privaterwerb, ließ Renner offen.44 39

StGBl. 210/1919 vom 3. 4. 1919. D. Willoweit, Privatfürstenrecht, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, 1984, Sp. 1966 ff. 41 EB zu Nr. 83 der Blg. KNV, S. 3. 42 H. Kelsen (Anm. 15), Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich, Teil 3, 1919, S. 166 ff. 43 Sten. Prot. der 6. Sitzung der KNV am 27. 3. 1919, S. 116. 44 Ebenda. 40

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Über eine Entschädigungsregelung trifft das Gesetz keine Aussage. Die Art des Eigentumsübergangs auf die Republik Deutschösterreich regelt erst eine spätere Novellierung des Habsburgergesetzes.45 ff) § 6 HabsbG § 6 HabsbG enthält eine Legaldefinition des Begriffes „hofärarisches Vermögen“. In der Zeit der konstitutionellen Monarchie bezeichnete man das an das Herrscherhaus gebundene Vermögen als Hofärar. Der Begriff Ärar steht für Staatsvermögen.46 Das Vermögen ist danach vergleichbar mit dem „Hof-Staatsvermögen“. Dieses Hofärar war für den Zweck der repräsentativen Haus- und Hofhaltung des Herrscherhauses bestimmt.47 Es diente staatlichen Zwecken, die hieraus fließenden Einkünfte waren streng von den privaten Einkünften des Herrscherhauses zu trennen.48 Schon im Gesetz über die Staatsform49 bestimmte Art. 7 die Übernahme der „Krongüter“ durch ein Gesetz. Weshalb der Begriff der „Krongüter“ in dem nunmehrigen Habsburgergesetz nicht mehr auftaucht, sondern nur noch der Begriff des „hofärarischen Vermögens“, erklärt Kelsen damit, dass es „Krongüter im eigentlichen Sinn“ auf deutschösterreichischem Staatsgebiet nicht gab. Daher erschien es sinnvoller, den Begriff des „hofärarischen Vermögens“ in das Habsburgergesetz aufzunehmen.50 Nach dem Wortlaut des § 6 HabsbG muss die Zugehörigkeit des Vermögens zum Privatvermögen „nachweisbar“ sein. Die sich aus diesem Wortlaut ergebende Beweislast traf den Anspruchssteller.51

45

StGBl. 501/1919. Deutsches Wörterbuch, 3. Bd., 2. Lieferung, 2000, Spalte 180. 47 K. G. Hugelmann/G. Turba/F. Zehentbauer, Gutachten betreffend die Rechtsnatur der im Jahre 1919 vom Staate Deutsch-Österreich übernommenen Vermögensschaften des Hauses Habsburg-Lothringen, erstattet an den Vorstand des „Volksbundes des Katholiken Österreichs“, in: Das Vermögen der Habsburger, 1929, S. 13; I. Ritter von Zolger, Der Hofstaat des Hauses Österreich, 1917, S. 260. 48 Gutachten der Finanzprokuratur Wien, in: A. Schager-Eckartsau (Hrsg.), Die Konfiskation des Privatvermögens der Familie Habsburg-Lothringen und des Kaisers u. Königs Karl, 1922, S. 112. 49 „Gesetz vom 12. 11. 1918 über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich“, StGBl. 5/1918. 50 H. Kelsen (Anm. 15), Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich, Teil 3, 1919, S. 167. 51 D. Kolonovits, Kommentar zum Habsburgergesetz, in: K. Korinek/M. Holoubek (Hrsg.), Textsammlung und Kommentar zum österreichischen Bundesverfassungsrecht, 4. Lieferung, 2001, §§ 5 – 7, Rn. 3. In der heutigen Fassung des Habsburgergesetzes ist der Nachweis des Privatvermögens erbracht, wenn ein Anerkenntnis der zuständigen staatlichen Stelle oder ein rechtskräftiges richterliches Urteil vorliegt. 46

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gg) § 7 HabsbG In § 7 HabsbG wird die Nutzung des eingezogenen Vermögens durch die Republik Deutschösterreich geregelt. Danach soll das „Reinerträgnis des auf Grund dieses Gesetzes in das Eigentum der Republik Deutschösterreich gelangenden Vermögens“ nach Abzug der mit dem Vermögen „verbundenen Lasten zur Fürsorge für die durch den Weltkrieg in ihrer Gesundheit geschädigten oder ihres Ernährers beraubten Staatsbürger“ verwendet werden. Die Nutznießer des eingezogenen Vermögens sind nach den erläuternden Bemerkungen Kriegsinvalide, Witwen und Waisen, die „allein von dieser Vermögensübernahme Vorteil haben“ sollen. Die im Wortlaut des Gesetzes genannten Lasten erklärten die erläuternden Bemerkungen der Staatsregierung mit den „Pensionen der ehemaligen Hofbeamten und den Verwaltungskosten dieses Vermögens“.52 Zur Ausführung des § 7 wurde am 18. Dezember 1919 ein Gesetz über den Kriegsentschädigungsfonds verabschiedet.53 Was unter dem „Reinerträgnis“ des Vermögens in § 7 HabsbG zu verstehen war, zeigte sich erst anhand dieses Ausführungsgesetzes zu § 7 HabsbG, dem Gesetz Nr. 573 vom 18. Dezember 1919. Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Habsburgergesetzes verstand die Staatsregierung darunter das gesamte eingezogene Vermögen abzüglich der genannten bestehenden Belastungen. Auch über den Inhalt des Begriffes der „Lasten“ bestand trotz der Erläuterungen durch die Staatsregierung weiterer Klärungsbedarf. Eine Lösung dieser Unklarheit im Gesetzeswortlaut des Habsburgergesetzes schuf kurze Zeit nach Inkrafttreten desselben das Gesetz Nr. 501 vom 30. Oktober 1919.54 Die Frage, ob die §§ 5 bis 7 HabsbG einen andauernden oder nur einen einmaligen Vermögensentzug darstellen, spielt insbesondere für die spätere Rechtsprechung zum Habsburgergesetz eine wesentliche Rolle. Der Wortlaut des Gesetzes gibt auf diese Frage keine Antwort. hh) § 8 und § 9 HabsbG Die §§ 8 und 9 HabsbG sind rein technischer Natur. Zum einen wird der Vollzug geregelt, zum anderen der Zeitpunkt des Inkrafttretens. d) Betroffener Personenkreis Das Habsburgergesetz betraf nach seinem Wortlaut in § 1 das „Haus HabsburgLothringen sowie alle Mitglieder dieses Hauses“. In § 2, der die Landesverweisung regelte, betraf es „ehemalige Träger der Krone und die sonstigen Mitglieder des Hau52

EB zu Nr. 83 der Blg. KNV, S. 4. StGBl. 573/1919. 54 StGBl. 501/1919. Zu den Inhalten des Gesetzes siehe Kapitel III. 1. 53

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ses Habsburg-Lothringen“. § 5, die Regelung über das Vermögen, richtete sich in seiner Fassung vom 3. April 1919 an „das früher regierende Haus oder (…) eine Zweiglinie desselben“, ebenso § 6. Demnach waren alle lebenden Mitglieder des Hauses Habsburg-Lothringen vom Habsburgergesetz betroffen.55 Dass eine eventuelle Thronfolge durch die genealogisch entfernte Verwandtschaft mit dem Kaiser eher unwahrscheinlich war, spielte für die Verzichtserklärung keine Rolle. Am 3. Oktober 1919 verhandelte der Kabinettsrat unter Vorsitz von Staatskanzler Karl Renner über die Verzichtserklärungen mehrerer Mitglieder der Familie Habsburg-Lothringen.56 Die Mitglieder des Hauses Habsburg konnten nach Abgabe der Erklärung unbehelligt in Österreich leben. 3. Entwicklung des Habsburgergesetzes bis 1945 Das Habsburgergesetz unterlag nach seiner Bekanntmachung am 10. April 1919 bis zur Besetzung Österreichs durch das Deutsche Reich 1938 wechselvolle Entwicklungen. Schon knapp sechs Monate nach seiner Veröffentlichung nahm die konstituierende Nationalversammlung im Oktober 1919 zum Teil erhebliche inhaltliche Änderungen und Ergänzungen an dem Habsburgergesetz vor. a) Novellierung durch Gesetz Nr. 501 vom 30. Oktober 1919 Mit dem Gesetz vom 30. Oktober 1919 wollte der österreichische Staat vermeiden, dass etliche Teile des „gebundenen Vermögens“ als reines Privatvermögen deklariert werden, da es aus privaten Mitteln erworben war und nur privaten Familienzwecken diente. Zweck des Gesetzes war den Begriff des gebundenen Vermögens zu klären.57 Anlass dazu war eine sich anbahnende Diskussion über den Umfang des gebundenen Vermögens seitens des Hauses Habsburg-Lothringen. Gebundenes Vermögen i. S. d. Habsburgergesetzes muss danach die drei Merkmale: „Genuss des Hauses Habsburg-Lothringen“, „öffentlicher Charakter“ und „spezifische Provenienz“ in sich vereinen. Im Gesetz werden zahlreiche Vermögensgegenstände aufgezählt. Fraglich ist, ob alle diese Gegenstände „gebundenes Vermögen“ sind. Bei den aufgezählten Vermögenswerten handelt es sich um solche, die im „Genuss des Hauses Habsburg-Lothringen“ standen. Der in den erläuternden Bemerkun55

Siehe hierzu: „Familienstatut des Allerhöchsten Kaiserhauses vom 3.II.1839“, Hauptstaatsarchiv Wien. Entscheidung des VerwGH vom 11. 2. 1980. 56 Zu diesen einzelnen Mitgliedern des Hauses Habsburg siehe: B. Hamann, Die Habsburger – Ein biographisches Lexikon, 1988. 57 EB zu Nr. 83 der Blg. KNV, S. 4.

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gen geforderte „öffentliche Charakter“ ist aber in keinem Fall zweifelsfrei nachzuweisen. Mit Sicherheit hätte das Haus Habsburg-Lothringen solche Vermögenswerte wie die aufgezählten nicht ansammeln können, hätte es nicht aus seinen Reihen mehrere deutsche und später österreichische Kaiser gestellt. Ob dies aber auf den „öffentlichen Charakter“ der angehäuften Vermögenswerte schließen lässt, ist umstritten. Da die aufgezählten Vermögenswerte auch aus privatem Erwerb des Hauses Habsburg-Lothringen stammen, kann ein „öffentlicher Charakter“ der Vermögenswerte trotz der exponierten Stellung der Erwerber zumindest angezweifelt werden. In der Bestimmung dieser Vermögensgegenstände liegt sicherlich eine der größten Streitpunkte, nämlich die Weite der Auslegungsmöglichkeiten des Habsburgergesetzes. Mit dem Gesetz Nr. 501/1919 füllte der Gesetzgeber nachträglich die formalen Lücken des Habsburgergesetzes, die es den rechtlichen Vertretern des Hauses Habsburg-Lothringen möglich gemacht hätten, Ansprüche gegen die Republik Österreich zu stellen. b) Kriegsgeschädigtenfondsgesetz Das am 18. Dezember 1919 ausgefertigte Kriegsgeschädigtenfondsgesetz58 war ein Ausführungsgesetz zu § 7 HabsbG. Wie bereits erwähnt wurde in § 7 HabsbG als Verwendungszweck für das eingezogene Vermögen die „Fürsorge für die durch den Weltkrieg in ihrer Gesundheit geschädigten oder ihres Ernährers beraubten Staatsbürger“ genannt. Mit dem Kriegsgeschädigtenfonds ist auch ein Rückgabeverbot des durch das Habsburgergesetz konfiszierten Vermögens verbunden. Erst wenn die widmungsgemäße Verwendung der Erträgnisse aus dem Habsburgervermögen durch den Kriegsgeschädigtenfonds wegfällt, könnte es zu einer Rückgabe des Privatvermögens kommen. Das Kriegsgeschädigtenfondsgesetz ging selbst davon aus, dass der Fondszweck auslaufen würde. Nach dem Verständnis der Nationalversammlung galt die Zweckbindung solange, wie ein Fürsorgebedarf bestand. Noch Anfang 1937 standen ungefähr 200.000 Personen im staatlichen Bezug von Kriegsopferleistungen.59 Die in § 7 HabsbG verlangte Zweckbindung bestand demnach zumindest noch 1937. c) Das Bundesverfassungsgesetz von 1920 Am 1. Oktober 1920 verabschiedete die Nationalversammlung ein Bundesverfassungsgesetz. 58

StGBl. 573/1919. R. Faber, Habsburgervermögen und Restitution: Eine staats- und verfassungsrechtliche Studie zu Konfiskation, Rückgabe, Entziehung und Restitution des Familienversorgungsfonds der Familie Habsburg-Lothringen, in: I. Eisenberger u. a. (Hrsg.), Norm und Normvorstellung: Festschrift für Bernd Christian Funk zum 60. Geburtstag, 2003, S. 185 ff. (204). 59

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Dadurch entstand in Österreich eine demokratische parlamentarische Republik mit bundesstaatlicher Organisationsform. Die Bundesverfassung (B-VG) vom 1. Oktober 1920 war deshalb so wichtig, weil es das Habsburgergesetz als Bundesverfassungsgesetz rezipierte.60 Es hatte fortan als Verfassungsgesetz zu gelten.61 IV. Österreich während des Ständestaates und der Besetzung 1. Die Beseitigung des Habsburgergesetzes im Ständestaat Die Zeit von 1932 bis 1945 stellt innenpolitisch eine Abkehr von der bisherigen Demokratie dar. Auch für das Habsburgergesetz entstanden in dieser Zeit weitreichende Veränderungen. Die Regierung Schuschnigg wollte mit der Aufhebung des Habsburgergesetzes „Revolutionsschutt“ beseitigen.62 Per Gesetz hob der Bundestag die Landesverweisung des Hauses Habsburg-Lothringen auf und leitete die Rückgabe des Vermögens ein.63 Damit wurde der Weg für die Errichtung eines Familienversorgungsfonds eröffnet. Der Ministerrat erkannte die Rechtspersönlichkeit des Familienversorgungsfonds an und genehmigte seine Statuten. Dies bestätigte das Bundeskanzleramt am 29. April 1936.64 In der Folge erhielt der Familienversorgungsfonds Wertpapiere und fünf Mietshäuser in Wien zurück. Im Jahr 1937 wurden land- und forstwirtschaftliche Güter im Gesamtausmaß von ca. 27.000 Hektar übergeben.65 2. Die Wiederherstellung des Habsburgergesetzes mit der Besetzung Mit der Besetzung durch das Deutsche Reich wurde der Familienversorgungsfonds per Gesetz aufgehoben. Das Vermögen ging in das Eigentum des Landes Österreich über. Die Aufhebung der Landesverweisung, die im Gesetz von 1935 geregelt war, wurde nicht beseitigt.

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L. K. Adamovich/B.-Chr. Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 1984, S. 61. BGBl. 1/1920. 62 Sten. Prot. der 11. Sitzung des BT am 10. 7. 1935, S. 106. 63 BGBl. 299/1935. 64 RV 283 Blg. Nr., 7. GP, S. 4. 65 V. Pawlowsky/E. Leisch-Prost/Chr. Klösch, Vereine im Nationalsozialismus. Vermögensentzug durch den Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände und Aspekte der Restitution in Österreich nach 1945, 2002, S. 411 ff., hier findet sich auch eine genaue Aufstellung des Fondsbesitzes im Jahre 1938. 61

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V. Das Habsburgergesetz nach dem Zweiten Weltkrieg Kurz nach der Besetzung Österreichs durch sowjetische Truppen bildete der ehemalige Staatskanzler Karl Renner im April 1945 eine provisorische Staatsregierung unter seiner Leitung als Bundeskanzler.66 In der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 verkündete diese Staatsregierung in Art. I die Wiederherstellung Österreichs „im Geist der Verfassung von 1920“ und erklärte den Anschluss an Deutschland für „null und nichtig“.67 Damit wurde auch das Habsburgergesetz wieder in Kraft gesetzt und gilt somit in Teilen bis heute. Mit Art. 10 Z 2 StV Wien vom 15. Mai 1955 übernahm die Republik Österreich die völkerrechtliche Verpflichtung, das Habsburgergesetz aufrecht zu erhalten. Durch die Bundesverfassungsgesetznovelle von 1964 bekam diese Vorschrift Verfassungsrang.68 In der Rechtsprechung zum Habsburgergesetz wurde regelmäßig auf Art. 10 StV Wien Bezug genommen, um das Fortbestehen des Habsburgergesetzes zu rechtfertigen.69 Die Gründe für den Erlass des Art. 10 StV Wien, der ausdrücklich die Aufrechterhaltung des Habsburgergesetzes festschreibt, sind umstritten. Galt das Habsburgergesetz schon in der Ersten Republik als Republikschutzgesetz, so sollte es diese Funktion wohl auch in der Zweiten Republik übernehmen.70 1. Vereinbarkeit mit der österreichischen Verfassung Das Habsburgergesetz ist mit verschiedenen Artikeln der österreichischen Verfassung unvereinbar. Diese Unvereinbarkeit versuchte der Gesetzgeber damit zu entkräften, dass es sich bei dem Habsburgergesetz um ein Ausnahmegesetz zur Verfassung handele.71 Am schwersten wiegt sicherlich der Verstoß gegen den auch in Österreich normierten Gleichheitsgrundsatz. Kurios ist, dass das Habsburgergesetz im Verfassungsrang steht. Zum Inhalt des Verfassungsrechts gehört aber, dass es nicht dazu ermächtigt, sich selbst auszuschalten oder einzuschränken.72 Das Habsburgergesetz als Verfassungsrecht schränkt aber durch seine Regelungen die Grundrechte der Betroffenen teilweise ein. 66

R. Hoke, Österreichische und Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 1996, S. 501. StGBl. 1/1945. 68 BGBl. 59/1964, Art. II Z. 3 B-VG. 69 Vgl. VerfGH, Slg. 11.888/1988, VerfGH, Slg. 11.150/1986, VerwGH, Slg. 6035/1963, Entscheidung des VerwGH vom 11. 2. 1980, 201/79, VerwGH, Slg. 6878/1966. 70 R. Walter/H. Mayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 9. Aufl. 2000, Rn. 84. 71 F. Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und Menschenrechte, 1963, S. 87. 72 VerfGH, Slg. G 12/00 – 17, S. 19. 67

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2. Das Habsburgergesetz im Zusammenspiel mit supranationalem Recht Österreich trat im Jahr 1958 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4. November 1950 bei. Der Nationalrat verabschiedete die Konvention zusammen mit dem 1. Zusatzprotokoll als verfassungsändernden Staatsvertrag.73 Auch wenn in der Wiedereinsetzung des Habsburgergesetzes nach 1945 ein erneuter Eigentumsentzug gesehen wird, so greift nicht der Schutz des Art. 1 des 1. ZP-EMRK vom 20. März 1952. Das Habsburgergesetz ist zwar spätestens mit dem Rechtsüberleitungsgesetz vom 1. Mai 1945 wieder in Kraft getreten war. Die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle haben aber keine rückwirkende Kraft und binden Österreich erst ab ihrem Inkrafttreten im Jahr 1958. Die Regelungen des Habsburgergesetzes verstoßen also nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und deren 1. und 4. Zusatzprotokoll. Dies liegt aber nicht daran, dass das Eigentum und die Landesverweisung nicht durch diese Zusatzprotokolle geschützt wären, als vielmehr an formalen Gründen, nämlich dem zeitlichen Geltungsbereich und dem wirksam eingelegten Vorbehalt der Republik Österreich. Dies gilt, obwohl grundsätzlich die Bindung an diese Schutzrechte umfassend ist.74 Wie bereits festgestellt ist aus zeitlicher Sicht die EMRK nur für solche Maßnahmen anwendbar, die nach Inkrafttreten der EMRK getroffen wurden. Da es sich aber beim Eigentumsentzug um eine fortdauernde Verletzung handelt, könnte allerdings die EMRK zumindest aus zeitlicher Perspektive ab dem Inkrafttreten Wirksamkeit entfalten.75 3. Auswirkungen des Beitritts Österreichs zur EU für die Existenz des Habsburgergesetzes In Österreich hat mit dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 199276, mit dessen Ratifizierung und mit dem Beitritt zur Europäischen Union am 1. Januar 1995 Gemeinschaftsrecht Geltung erlangt. Hierfür bildet Art. 2 der Beitrittsakte die zentrale Bestimmung. Sie besagt, dass mit dem Beitritt die ursprünglichen Verträge sowie die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe für die neuen Mitgliedstaaten verbindlich sind und in diesen Staaten gelten.77

73

BGBl. 210/1958. A. von Arnauld, Völkerrecht, 2016, Rn. 638. 75 A. von Arnauld (Anm. 74), Völkerrecht, Rn. 646. 76 Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum, ABl. 1994 L 1/3 vom 3. 1. 1994; BGBl. 909/1993. 77 P. Fischer/H. F. Köck, Europarecht einschließlich des Rechts supranationaler Organisationen, 3. Aufl. 1997, S. 111. 74

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Da Gemeinschaftsrecht bzw. Unionsrecht in Österreich nun zur Geltung kommt, beansprucht das von den Organen der heutigen Europäischen Union erzeugte Recht Vorrang vor dem gesamten nationalen Recht einschließlich dem Verfassungsrecht.78 Wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts käme das Habsburgergesetz bei einer Kollision mit Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht dann nicht zur Anwendung. Spätestens durch die Charta der Grundrechte der EU wird deutlich, dass das Habsburgergesetz nicht im Einklang mit Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht steht. Im Ergebnis ist das Habsburgergesetz weder hinsichtlich der Landesverweisung noch hinsichtlich des Vermögensentzugs mit dem Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht vereinbar. VI. Fazit Hat sich das Habsburgergesetz im Laufe seines Bestehens überholt? Grundsätzlich kann die Frage bejaht werden: das Habsburgergesetz ist nicht mehr zeitgemäß und angesichts der politischen Entwicklungen seit dem Ende des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren überholt. Das Habsburgergesetz ist mit den entsprechenden österreichischen Grundrechtsartikeln unvereinbar. Diese Unvereinbarkeit versuchte der Gesetzgeber damit zu entkräften, dass es sich bei dem Habsburgergesetz um ein Ausnahmegesetz zur Verfassung handele.79 Gerade im Hinblick auf die seit 1995 bestehende Mitgliedschaft Österreichs in der Europäischen Union erscheint ein solches Ausnahmegesetz jedoch anachronistisch. Auf der anderen Seite muss aber gesehen werden, dass das Gesetz auch seine Berechtigung hatte: Zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens Anfang 1919 war das Habsburgergesetz – insbesondere die Landesverweisung – sicherlich ein essentieller Bestandteil der Verfassung der jungen österreichischen Republik. Es trug zur Sicherung der republikanischen Errungenschaften bei und schloss die Habsburger von allen zukünftigen politischen Ereignissen und Handlungen aus. Auch nach dem Tod des österreichischen Kaisers 1922 bestand in Österreich die Möglichkeit der Wiedereinführung der Monarchie. Spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte aber die republikanische Staatsform in Österreich so weitgehend Fuß gefasst, dass wohl keine Gefahr für die Republik bestand. Im Jahr 1980 kam es durch eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs zu einer grundsätzlich neuen Auslegung des Habsburgergesetzes.80 Der Verwaltungsge78

Th. Öhlinger, Verfassungsrecht, 5. Aufl. 2003, Rn. 159. F. Ermacora (Anm. 71), Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 87. 80 Entscheidung des VerwGH vom 11. 2. 1980, 201/79; Ergebnis dieser Entscheidung war, dass sich die Landesverweisung nur auf vor dem 10. 4. 1919 geborene Mitglieder des ehemaligen Herrscherhauses bezog. 79

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richtshof stellte klar, dass § 2 HabsbG nicht für die Ewigkeit gültig sei und nur für Personen gelte, die vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Habsburgergesetzes, dem 10. April 1919, geboren wurden. Damit war ein erster Schritt getan, um die Landesverweisung durch das Habsburgergesetz für erledigt zu erklären. Sie führte zur Erklärung des § 2 HabsbG als „totes Recht“ durch den österreichischen Ministerrat im Jahre 1996.81 Offen ist die Frage des Vermögensentzugs. Der 1919 ausgesprochene Vermögensentzug hat weiterhin Bestand. Bei einer Beseitigung auch dieses Teils des Habsburgergesetzes drängt sich die Frage einer Entschädigung auf. Das Habsburgergesetz stellt heute einen Anachronismus dar. Es sollte aufgehoben werden. Unter Zugrundlegung der Fakten erscheint es an der Zeit, dass Habsburgergesetz endgültig zu beseitigen und sich mit der Familie Habsburg-Lothringen über eine für beide Seiten sinnvolle Regelung der Vermögensfrage zu einigen. Somit käme es zu dem von beiden Seiten ohne Zweifel angestrebten Rechtsfrieden und zu einer abschließenden Bewältigung dieses Teils der österreichischen Vergangenheit. * Abstract Michael Kadgien: The Habsburg Act (Das Habsburgergesetz), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 2 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 2), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 135 – 152. At the time of its entry into force at the beginning of 1919, the Habsburg Act – and in particular the expulsion of the Habsburg family – was certainly an essential part of the constitution of the young Austrian republic. It helped safeguard Republican achievements and excluded the Habsburgs from all future political events and actions. In the first sentence of § 1 Habsburg Act repeals “all rulers’ rights and other prerogatives”. § 2 Habsburg Act contains a very drastic regulation: the expulsion. The addressee of § 2 in the adopted version are “the former bearer of the crown and the other members of the House of Habsburg-Lorraine”. The bearers of the crown were Kaiser Karl and his wife. The legal concept of the “house” (Austria, Habsburg, Habsburg-Lorraine or imperial house) meant according to the constitutional law valid until November 1918 in Austria a summary of the persons, who due to their descent a more or less distant succession claim on the Austrian throne. § 3 Habsburg Act puts the “use of titles and speeches” under prohibition. § 4 Habsburg Act abolishes in the Republic of Austria any private law of princes. According to § 5 Habsburg Act, the Republic of German-Austria became the “owner of the entire moveable and immovable ‘hofärarische Vermögen’ located in its territory as well as of the property bound for the earlier ruling house or for a branch line of the same”. About compensation, the law makes no statement. Even after the death of the Austrian emperor in 1922, there was the possibility of the reintroduction of the monarchy in Austria. At the latest after the end of the Second World War, how81

Parlamentskorrespondenz vom 16. 4. 1996, Nr. 197.

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Michael Kadgien

ever, the republican form of government had taken hold in Austria so far that no danger existed for the republic. In 1980, a decision by the Administrative Court led to a fundamentally new interpretation of the Habsburg Act. The Administrative Court clarified that § 2 Habsburg Act was not valid for eternity and only applies to persons who were born before the date of entry into force of the Habsburg Act, April 10, 1919. It led to the declaration of § 2 Habsburg Act as a “dead right” by the Austrian Council of Ministers in 1996. Open is the question of deprivation of property. The deprivation of assets declared in 1919 continues to exist. If this part of the Habsburg Act is eliminated, the question of compensation arises. The Habsburg Act is today an anachronism. It should be repealed. On the basis of the facts, it seems time to finally abolish the Habsburg Act and to agree with the Habsburg-Lorraine family on a meaningful settlement of the property question for both sides. Thus, there would be no doubt about the legal peace sought by both sides and a final overcoming of this part of the Austrian past.

Die Südtirol-Frage Von Andreas Raffeiner I. Persönliche Einleitung Wieso sprechen Sie als Italiener so gut Deutsch? Diese Frage deutscher Landsleute lässt mich immer wieder aufs Neue staunen. Staunen über Unwissen über die Geschichte und die Bevölkerungsgeographie. Man glaubt, Deutsch als Muttersprache wäre auf Deutschland und Österreich, ferner Liechtenstein, allenfalls noch auf die Deutschschweiz beschränkt. Keine Rede von den Deutschen in Ostbelgien, in den niederländischen Grenzgebieten, im Elsass, in Ostlothringen, in Nordschleswig, von jenen Resten deutscher Bevölkerung, die durch Flucht, Vertreibung und Spätaussiedlung beinahe in Vergessenheit geraten sind: von den Deutschen in Russland, in der Ukraine, im Baltikum, in Kasachstan, Usbekistan, Siebenbürgen und Schlesien.1 Und wie ist es um Südtirol bestellt? II. Historische Prämissen Das Schicksal Südtirols wurde während des Ersten Weltkriegs bei einem Geheimtreffen in London im Frühjahr 1915 besiegelt, als die drei Entente-Mächte Vereinigtes Königreich, Frankreich und Russland Italien zum Kriegseintritt auf ihre Seite bewegen konnten.2 Überlegungen zu einem Recht bzw. einem Prinzip der nationalen 1 A. Raffeiner, Südtirol spricht immer noch Deutsch. Ein Streifzug durch die Geschichte eines begehrten Landes (Teil 1), in: Deutsche Sprachwelt 41 (2010), S. 5. 2 A. Raffeiner, 100 Jahre Londoner Geheimvertrag, ein sehr unmoralisches Abkommen, in: Tiroler Schützenzeitung (Sondernummer 2015), S. 1 – 2; H. Afflerbach, Vom Bündnispartner zum Kriegsgegner. Ursachen und Folgen des italienischen Kriegseintritts im Mai 1915, in: J. Hürter/G. E. Rusconi (Hrsg.), Der Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 (= Sondernummer der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte), 2007, S. 53 – 72; zum Vertrag selber sei § 4 angeführt: Beim kommenden Friedensschluss soll Italien erhalten: Das Gebiet des Trentino, ganz Südtirol bis zu seiner natürlichen geographischen Grenze, als welche der Brenner anzusehen ist. Anmerkung: 1. In Ergänzung des § 4 soll die Grenze durch folgende Punkte gezogen werden: Vom Gipfel des Umbrail in nördlicher Richtung bis zum Stilfser Joch und weiter auf der Wasserscheide der Rätischen Alpen bis zu den Quellen der Flüsse Etsch und Eisack, danach über die Reschen-Scheidech [Anm. d. Verf.: gemeint ist das Rechen-Scheideck], den Brenner und die Ötztaler und Zillertaler Alpen. Danach soll die Grenzlinie sich nach Süden wenden, das Gebirge von Toblach schneiden und bis zur jetzigen Grenze von Krain gehen, die sich auf den Alpen hinzieht; dieser folgend, wird sie bis zu den Bergen von Tarvis gehen, aber dann auf der Wasserscheide der Julischen Alpen über die Höhe Predil, den Berg Mangart, die Berggruppe Triglav und die Pässe von Podbrda, Podlaneskan und Idria verlaufen. Von dort setzt

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Selbstbestimmung gab es bereits, aber erst der weitere Verlauf des Kriegs sollte zu einer konkreteren Konzeption führen. Auf diese Weise propagierten einerseits die Bolschewiken ab 1917 auf dem Territorium des ehemaligen russischen Zarenreichs den Grundsatz der nationalen Selbstbestimmung, andererseits wurde die Debatte über deren Verwirklichung und Umsetzung für die kleineren europäischen Länder Europas durch den Kriegseintritt der USA geprägt. Immerhin proklamierte US-Präsident Woodrow Wilson in vielen Reden und in seinem bekannten 14-Punkte-Programm3 im Januar 1918 die Idee der nationalen Selbstbestimmung, die dessen ungeachtet in dieser Form nicht immer umgesetzt werden konnte, da Wilson die nationalen Interessen seiner europäischen Partner falsch eingeschätzt hatte. Die Entscheidung über den neuen Grenzverlauf zwischen Österreich und Italien nach dem Ende des Krieges wurde ohne Rücksicht des Prinzips auf Selbstbestimmung, wie 1915 in der britischen Hauptstadt ausverhandelt, bestätigt. Die nationalen Wünsche Italiens, jedoch auch Österreichs, wurden in den folgenden Jahren, hauptsächlich während der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg, über das Recht der nationalen Selbstbestimmung der Südtiroler Bevölkerung gestellt. Dieser Aufsatz befasst sich mit der Spannung zwischen der nationalen Selbstbestimmung und dem nationalen Interesse der politischen Darsteller anhand des Beispiels Südtirol. Die Untersuchung der Interessen Italiens und Österreichs sowie eine geschichtliche Zusammenfassung über die bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Staaten sollen verständlich machen, aus welchem Grund vielerorts der Wunsch nach einer Stärkung der Autonomie den Wunsch nach der Forderung einer nationalen Selbstbestimmung abgelöst hat. III. Nach dem Ersten Weltkrieg Drehen wir das Rad der Zeit zurück in das Jahr 1918. Das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung wurde nach dem Ersten Weltkrieg meistens jenen Staaten zugestanden, welche sich als neue Nationalstaaten aus den Gebieten der einstigen europäischen Großreiche herauslösen wollten. Dem Gebiet der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches entsprangen mehrere kleine Länder, die sich auf der Basis des nationalen Selbstbestimmungsrechts zu unabhängigen Nationalstaaten erklärten. Die Anerkennung dieser neuen Staaten erfolgte durch die alliierten Siegermächte, die sich in den Pariser Vororten über die Grenzlinien dieser neuen Staaten verständigen mussten. Die Friedensverträge trugen dem Recht der nationalen Selbstbestimmung, wie von US-Präsident Wilson entworfen und offiziell von Frankreich, sich die Grenze in südöstlicher Richtung zum Schneeberg fort, so dass das Becken des Flusses Save mit seinen Quellflüssen nicht in das italienische Gebiet fällt. Vom Schneeberg zieht sich die Grenzlinie zur Küste hin, indem sie Castua, Matuglie und Bolosca in die italienischen Besitzungen einschließt (siehe Neue Freie Presse vom 22. 2. 1918) 3 Dazu insb. den Punkt 9: „Berichtigung der Grenzen Italiens nach den genau erkennbaren Abgrenzungen der Volksangehörigkeit“, siehe u. a. K. H. Ritschel, Diplomatie um Südtirol, 1966, S. 81.

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dem Vereinigten Königreich und Italien bestätigt, nicht immer Rechnung. Insbesondere Italien war über die denkbare Umsetzung des Prinzips keineswegs erfreut, da es seine territorialen Ambitionen und Forderungen durchdrücken wollte, um den Ideen des italienischen Irredentismus entgegenzukommen. Überdies galt es für Frankreich und das Vereinigte Königreich sicherzustellen, dass Deutschland nicht wieder an politischem Einfluss gewann, weshalb sie den Anschluss Deutschösterreichs an Deutschland aus realpolitischen Überlegungen ablehnten,4 obwohl dieser von der Überzahl der Bewohner gewünscht wurde. Schnell wurde klar, dass die Siegermächte ihre persönlichen Wünsche verfolgten, die Wilsons Prinzip der nationalen Selbstbestimmung widersprachen. Die nationalen Interessen der Entente-Staaten standen einer schlüssigen Umsetzung entgegen. Vor diesem Hintergrund kam es 19195 in den Friedensverhandlungen von Saint-Germainen-Laye zur unwiderruflichen Entscheidung, das Land Tirol durch eine Grenze am Brenner, am Reschen und bei Winnebach aufzuteilen und den südlichen Teil des deutschen Sprachgebiets des historischen Tirols an das Königreich Italien abzutreten. Die offizielle Annexion des seit dem Kriegsende in den ersten Novembertagen 1918 besetzten Gebietes erfolgte am 10. Oktober 1920.6 Die deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung des Landes an Etsch und Eisack, die laut der letzten österreichischen Volkszählung im Jahr 1910 mehr als 90 Prozent der Gesamtbevölkerung7 ausmachte, wurde nicht befragt. IV. Von Mussolini bis zur Option Die Lage der deutschsprachigen Bewohner verschlimmerte sich mit der Machtübernahme der Faschisten unter der Führung Benito Mussolinis im Oktober 1922. König Viktor Emanuel III., der noch 1919 den neuen Provinzen Italiens eine Selbstverwaltung zugesichert hatte,8 übergab aufgrund einer innerstaatlichen Krise die

4

Vgl. S. Beller, Geschichte Österreichs, 2007, S. 190. Vgl. M. Gehler, Tirol im 20. Jahrhundert. Vom Kronland zur Europaregion, 2008, S. 65 – 76; R. Schober, Die Tiroler Frage auf der Friedenskonferenz von Saint Germain, 1982; allgemein I. Ackerl/R. Neck (Hrsg.), Saint-Germain 1919. Protokoll des Symposiums am 29. und 30. Mai 1979 in Wien, 1989; zur negativen Wahrnehmung der Bestimmungen von Saint Germain in Tirol vgl. T. Kraler, Saint Germain im Spiegel der Presse, Dipl. Arb. Innsbruck 2003. 6 Der Tiroler vom 10. 10. 1920, 1. 7 Laut der Volkszählung von 1910, in der zwischen vier Sprachgruppen (deutsch, ladinisch, italienisch, „Einheimische“ mit einer anderen Umgangssprache und „Nicht-Einheimische“, Anm. A. R.) unterschieden wurde, sprachen 89 % deutsch, 3,8 % ladinisch und 2,9 % italienisch bei insgesamt 251.000 Einwohnern, siehe dazu O. Benvenuto (Hrsg.) South Tyrol in Figures 2008. Landesinstitut für Statistik der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol, 2007, S. 19. 8 „Unsere Tradition der Freiheit wird uns den Weg zur Lösung weisen, die dem höchsten Respekt für die Autonomien und die lokalen Traditionen entsprechen wird“, zitiert nach R. Ballardini, Bericht des Präsidenten der ständigen Verfassungskommission an die italieni5

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Herrschaft an Mussolini. Unter den Schwarzhemden sollte eine Italianisierung Südtirols erreicht werden: So wurden deutsch- und ladinischsprachige Bewohner ausgesiedelt, während eine mehrheitlich italienische Bevölkerungszusammensetzung angestrebt wurde, was dessen ungeachtet nicht gelang. Der Unterricht in deutscher Sprache wurde untersagt, während Italienisch ab 1925 als alleinige Amtssprache eingeführt wurde. Schon ab 1923 begannen die italienischen Behörden, historische deutsche und ladinische Ortsnamen zu italianisieren. Der Name „Tirol“ wurde verboten, deutsche Verbände und Vereine wurden aufgelöst. Der glühende Nationalist und Faschist Ettore Tolomei arbeitete einen 32 Punkte umfassenden Maßnahmenkatalog aus, der alles Deutsche aus dem öffentlichen Leben verbannen sollte:9 1.

Vereinigung des Alto Adige und des Trentino in einer einzigen Provinz mit der Hauptstadt Trient,

2.

Ernennung italienischer Gemeindesekretäre,

3.

Revision der (Staatsbürgerschafts-)Optionen und Schließung der Brennergrenze für alle Personen, denen die italienische Staatsbürgerschaft nicht zuerkannt worden war,

4.

Einreise- und Aufenthaltserschwernisse für Deutsche und Österreicher,

5.

Verhinderung der Einwanderung Deutscher,

6.

Revision der Volkszählung von 1921,

7.

Einführung des Italienischen als Amtssprache,

8.

Entlassung der deutschen Beamten bzw. Versetzung in die alten Provinzen,

9.

Auflösung des „Deutschen Verbandes“,

10. Auflösung aller Alpenvereine, die nicht dem italienischen Alpenverein unterstanden; Übergabe der Schutzhütten an den italienischen Alpenverein, 11. Verbot des Namens „Südtirol“ und „Deutsch-Südtirol“, 12. Einstellung der in Bozen erscheinenden Tageszeitung „Der Tiroler“, 13. Italianisierung der deutschen Ortsnamen, 14. Italianisierung der öffentlichen Aufschriften, 15. Italianisierung der Straßen- und Wegbezeichnungen, 16. Italianisierung der verdeutschten Familiennamen, 17. Entfernung des Denkmals Walthers von der Vogelweide vom Bozner Waltherplatz, 18. Verstärkung der Carabinieritruppe unter Ausschluss deutscher Mannschaften, sche Abgeordnetenkammer (anläßlich der Vorlage des neuen Autononomiestatutes) aus Atti Parlamentari (Protokolle), Abgeordnetenkammer Nr. 2216 – 277 A, 1970, S. 2. 9 So auch bei A. Gruber, Südtirol unterm Faschismus, 1974, S. 21 f.

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19. Begünstigung von Grunderwerb und Einwanderung von Italienern, 20. Nichteinmischung des Auslandes in Südtiroler Angelegenheiten, 21. Beseitigung deutscher Banken, Errichtung einer italienischen Bodencreditbank, 22. Errichtung von Grenzzollämtern in Sterzing und Toblach, 23. großzügige Förderung der italienischen Sprache und Kultur, 24. Errichtung italienischer Kindergärten und Volksschulen, 25. Errichtung italienischer Mittelschulen, 26. strenge Kontrolle von Auslands-Hochschuldiplomen, 27. Ausbau des Istituto di Storia per l’Alto Adige, 28. Änderung des Gebietsumfangs des Bistums Brixen und strenge Kontrolle der Aktivität des Klerus, 29. Verwendung des Italienischen vor Gericht, 30. Staatliche Kontrolle der Handelskammer Bozen und der landwirtschaftlichen Körperschaften (Corporazioni), 31. umfangreiche Programme für neue Eisenbahnknoten, um die Italianisierung des Alto Adige zu erleichtern (Bahnprojekte Mailand-Mals, Veltlin-Brenner, Agordo-Brixen) und 32. Steigerung des Truppenbestandes im Alto Adige. In Österreich kam es aufgrund von ökonomischen und politischen Krisen im März 1933 zur Selbstausschaltung des Parlaments.10 Dies wurde von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß genutzt, um einen austrofaschistischen Ständestaat ins Leben zu rufen.11 Sowohl Dollfuß als auch sein Nachfolger Kurt Schuschnigg suchten bei Mussolini, der den autokratischen Ständestaat unterstützte, Schutz vor HitlerDeutschland. Die „Freundschaft“ Österreichs zum faschistischen Italien bedeutete für die Bevölkerung Südtirols, dass von Wien keine Hilfe zu erwarten war. Der Ständestaat versuchte vergeblich, ein selbstständiges Österreich zu erhalten, doch der stärker werdende innen- und außenpolitische Druck veranlasste die österreichische Obrigkeit, sich dem deutschen nationalsozialistischen Regime anzupassen. Für die deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler brachten die Übernahme der Regierungsgewalt durch Hitler im Jahr 1933 und der Anschluss Österreichs an HitlerDeutschland fünf Jahre später keinerlei Besserung. Die für beide Regierungen politisch wichtigen italienisch-deutschen Beziehungen sollten durch das Südtirolproblem keinesfalls behindert werden. Folge der politischen Akklimatisierung zwischen beiden Willkürherrschaften war das Bündnis zwischen Hitler und Mussolini, das der 10

Vgl. E. Tálos/W. Neugebauer (Hrsg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur. 1933 – 1938, 2005. 11 Vgl. S. Neuhäuser (Hrsg.), „Wir werden ganze Arbeit leisten.“ Der austrofaschistische Staatsstreich 1934, 2004.

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deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols 1939 die „Option“12 gab, das Land zu verlassen und in deutschsprachige Gebiete umgesiedelt zu werden oder schutzlos im faschistischen Italien zu verbleiben und sich zu integrieren. Die Entscheidung verursachte eine Spaltung der Bevölkerung, die als Zäsur noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg bestehen blieb. In der Summe entschieden sich 86 Prozent zur Auswanderung, doch konnte aufgrund des Kriegsverlaufs nur ein kleiner Teil der Optanten ausgesiedelt werden. Im Jahr 1939 wurde die nationale Selbstbestimmung der Südtiroler Bevölkerung durch eine subjektive Bestimmung einer Person über ihr Schicksal und ihre weitere Zukunft ersetzt. V. Kriegsende und Pariser Vertrag Das Ende der Achse Berlin-Rom kam im Herbst 1943.13 Südtirol wurde mit den Nachbarprovinzen Trient und Belluno zur Operationszone Alpenvorland14 vereinigt. Nach dem Einzug US-amerikanischer Truppen in Südtirol im Mai 194515 erhoffte man sich keineswegs nur dort, sondern auch in Österreich die Berichtigung des Grenzverlaufs und die Realisierung des nationalen Selbstbestimmungsrechts für die Bevölkerung an Etsch und Eisack in Form einer Volksabstimmung. Diese wurde jedoch von den Alliierten abgelehnt. Auch die im Mai 1945 gegründete Südtiroler Volkspartei forderte bei den Siegermächten das Selbstbestimmungsrecht ein, doch die nach Paris zur Friedenskonferenz entsandten Repräsentanten fanden kein Gehör. Auch die über 155.000 Südtiroler Unterschriften, die eine Wiedervereinigung Tirols, einhergehend mit einer Rückgliederung an Österreich, forderten, erzielten keine Wirkung. Italiens Interesse lag im Erhalt der italienischen territorialen Einheit, jedoch konnte es sich nicht gegenüber den jugoslawischen Territorialansprüchen durchsetzen und musste dem Druck der Siegermächte nachgeben. Die umstrittene Grenze am Brenner, am Reschen und bei Winnebach, die seit dem Friedensvertrag 1919 zur Zerreißung Tirols geführt hatte, wurde von den Siegermächten nach dem Zweiten Weltkrieg bestätigt. Die Agenda Südtirol wurde aus den Friedensverhandlungen entfernt und zur bilateralen Aufgabe zwischen Österreich und Italien erklärt. Beide Staaten 12

Vgl. H. Alexander [u. a.], Heimatlos: Die Umsiedlung der Südtiroler, 1993; K. Eisterer/ R. Steininger (Hrsg.), Südtirol zwischen Faschismus und Nationalsozialismus, 1989; K. Stuhlpfarrer, Umsiedlung Südtirol: 1939 – 1940, 2 Bde., 1985. 13 Vgl. J. Petersen, Sommer 1943, in: H. Woller (Hrsg.), Italien und die Großmächte 1943 – 1949, 1988, S. 23 – 48, hier S. 27. 14 Vgl. M. Lun, NS-Herrschaft in Südtirol. Die Operationszone Alpenvorland 1943 – 1945, 2004; G. Steinacher (Hrsg.), Südtirol im Dritten Reich: NS-Herrschaft im Norden Italiens (1943 – 1945)/L’Alto Adige nel Terzo Reich: l’occupazione nazista nell’Italia settentrionale (1943 – 1945), 2003. 15 Zur kurzen US-amerikanischen Besatzung Südtirols vgl. E. Pfanzelter, Südtirol unterm Sternenbanner: Die amerikanische Besatzung Mai–Juni 1945, 2005.

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führten aus diesem Grund abseits der offiziellen Friedensverhandlungen in Paris Gespräche, welche im September 1946 im Gruber-Degasperi-Abkommen16 kulminierten. In diesem eineinhalb Seiten umfassenden Vertrag wurde die Einbindung Österreichs in Angelegenheiten Südtirols als Schutzmacht für die Südtiroler bestätigt: „Den deutschsprachigen Einwohnern der Provinz Bozen und der benachbarten zweisprachigen Ortschaften der Provinz Trient wird volle Gleichberechtigung (complete equality of rights) mit den italienischsprachigen Einwohnern im Rahmen besonderer Maßnahmen zum Schutze des Volkscharakters und der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung des deutschsprachigen Bevölkerungsteiles zugesichert werden. 1. In Übereinstimmung mit schon getroffenen oder in Vorbereitung befindlichen gesetzgeberischen Maßnahmen wird den Staatsbürgern deutscher Sprache insbesondere folgendes gewährt werden: a. Volks- und Mittelschulunterricht in der Muttersprache, b. Gleichstellung der deutschen und italienischen Sprache in den öffentlichen Ämtern und amtlichen Urkunden sowie bei den zweisprachigen Ortsbezeichnungen, c. das Recht, die in den letzten Jahren italianisierten Familiennamen wiederherzustellen, d. Gleichberechtigung hinsichtlich der Einstellung in öffentliche Ämter, um ein angemesseneres Verhältnis der Stellenverteilung zwischen den beiden Volksgruppen zu erzielen. 2. In der Absicht, gutnachbarliche Beziehungen zwischen Österreich und Italien herzustellen, verpflichtet sich die italienische Regierung, in Beratung mit der österreichischen Regierung binnen einem Jahr nach Unterzeichnung dieses Vertrages: a. in einem Geist der Billigkeit und Weitherzigkeit die Frage der Staatsbürgerschaftsoptionen, die sich aus dem Hitler-Mussolini-Abkommen von 1939 ergeben, zu revidieren; b. zu einem Abkommen zur wechselseitigen Anerkennung der Gültigkeit gewisser akademischer Grade und Universitätsdiplome zu gelangen; c. ein Abkommen für den freien Personen- und Güterdurchgangsverkehr zwischen Nordund Osttirol auf dem Schienenwege und in möglichst weitgehendem Umfange auch auf dem Straßenwege auszuarbeiten; d. besondere Vereinbarungen zur Erleichterung eines erweiterten Grenzverkehrs und eines örtlichen Austausches gewisser Mengen charakteristischer Erzeugnisse und Güter zwischen Österreich und Italien zu schließen“.

16 Vgl. R. Steininger, Autonomie oder Selbstbestimmung? Die Südtirolfrage 1945/46 und das Gruber-De Gasperi-Abkommen (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 2), 2008; M. Gehler (Hrsg.), Gescheiterte Selbstbestimmung. Die Südtirolfrage, das Gruber-De Gasperi-Abkommen und seine Aufnahme in den italienischen Friedensvertrag 1945 – 1947, 2011; A. Raffeiner (Hrsg.), 70 Jahre Pariser Vertrag 1946 – 2016. Vorgeschichte – Vertragswerk – Zukunftsaussichten, 2016.

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VI. Zwischen Erstem Autonomiestatut und Österreichischem Staatsvertrag In der Folge verabschiedete die italienische Regierung 1948 das Erste Autonomiestatut, das eine Autonomie für die Region Trentino-Tiroler Etschland vorsah und Südtirol bloß mit einer „bescheidenen Unterautonomie“ ausstattete, innerhalb welcher Südtirol eine untergeordnete Gebietseinheit mit beschränkten Autonomierechten blieb, während die Region von einer italienischen Mehrheit regiert wurde. Diese Konstellation führte zu Enttäuschung bei den Südtiroler Einwohnern, die sich verstärkte, als klar wurde, dass weitere Punkte des Gruber-Degasperi-Abkommens nicht erfüllt wurden. Trotz der Schutzmachtfunktion Österreichs überwog das innenpolitische Verlangen, gute Beziehungen zu Italien zu unterhalten und die alliierten Besatzungsmächte davon zu überzeugen, Österreichs Souveränität durch die Unterzeichnung eines Staatsvertrags wiederherzustellen. Erst nach dem Staatsvertrag vom Mai 195517 war es der Alpenrepublik möglich, ihre Stellung als Anwältin und Fürsprecherin der deutschsprachigen Bevölkerung des Landes zwischen dem Brennerpass und der Salurner Klause wahrzunehmen. Die Bedürfnisse Südtirols blieben auch nach dem Autonomiestatut von 1948 aufgrund der nationalen Interessen beider Staaten und der politisch schwachen Lage Österreichs unberücksichtigt. Die Forderung der österreichischen Regierung, dass Italien den Gruber-Degasperi-Vertrag umzusetzen habe, wurde in bilateralen Konversationen von österreichischer Seite wiederholt bestätigt, trotzdem konnten dementsprechend keine Fortschritte und positiven Errungenschaften erzielt werden. Zusätzlich erzwang die italienische Regierung mit einem eigens geförderten Wohnbauprogramm die Niederlassung von (Süd-)Italienern in der mehrheitlich deutschsprachigen Region.18 Diese Vorgänge schürten innerhalb der Südtiroler Bevölkerung deutscher Muttersprache die Angst, kulturell von den Zuwanderern unterwandert zu werden. Diese Furcht wurde durch die Teilnahme von rund 35.000 Menschen an der Kundgebung unter dem Motto „Los von Trient“ auf Schloss Sigmundskron südwestlich von Bozen im November 195719 bezeugt. Gefordert wurde die Umsetzung einer Landesautonomie für Südtirol – und dadurch ein Ende der Region Trentino-Südtirol, in der die Italiener die Mehrheit hatten. Es zeichnete sich daneben ab, dass die Politik bei der Umsetzung der Minderheitenrechte für die deutsche und la17 Vgl. A. Suppan (u. a.) (Hrsg.), Der österreichische Staatsvertrag. Internationale Strategie, rechtliche Relevanz, nationale Identität, 2005; E. Trost, Österreich ist frei – Leopold Figl und der Weg zum Staatsvertrag, 2005. 18 Vgl. A. Gruber, Geschichte Südtirols: Streifzüge durch das 20. Jahrhundert, 2000, S. 120. 19 Vgl. M. Lun, Der Tag von Sigmundskron: Eine Kundgebung macht Geschichte, 2007; G. Steinegger, Schicksal eines Menschen und Volkes gleichermaßen. Das Los von Trient auf Schloss Sigmundskron jährt sich zum 50. Mal, in: Tiroler Bauernkalender 2007, 2006, S. 167 – 173.

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dinische Bevölkerung versagt hatte. Der österreichische Außenminister Bruno Kreisky wurde von Südtiroler Politikern, insbesondere vom SVP-Obmann und späteren Landeshauptmann Silvius Magnago, gebeten, vor den Vereinten Nationen das Recht der nationalen Selbstbestimmung für die Südtiroler einzufordern. Das hätte aber eine Verletzung des Gruber-Degasperi-Abkommens bedeutet, in dem nur eine Autonomie für die deutschsprachigen Südtiroler beschlossen worden war. Somit vertrat Österreich weiterhin die These, dass Italien die internationale Abmachung einzuhalten habe. Nachdem jedoch auf bilateralem Weg keine Fortschritte erzielt worden waren, wurde die Auseinandersetzung auf die internationale Ebene gehoben. Der Appell von Kreisky an die Vereinten Nationen im Jahr 1959 war ein Vorstoß Österreichs, seiner Rolle als Schutzmacht Südtirols gerecht zu werden und die überstaatliche Staatengemeinschaft über die Verhältnisse zu informieren, wobei der Außenminister dabei nicht das nationale Selbstbestimmungsrecht für Südtirol forderte. In der Folge bestätigten die Vereinten Nationen in einer Resolution im Herbst 1960,20 dass der Vertrag zwischen Karl Gruber und Alcide Degasperi Italien verpflichtete, eine Autonomie zum Schutz der ethnischen Minderheit umzusetzen und dass Österreich in dieser Obliegenheit ein Mitspracherecht einzuräumen war. Der Gegenstand war zwar ebenso bilateral zu klären, aber Österreich hatte mit dem Gang zur UNO eine außenpolitische Errungenschaft erzielen können. Dieser Entscheid führte dazu, dass der zu jener Zeit im Amte weilende italienische Innenminister Mario Scelba die 19er-Kommission21 im römischen Parlament einsetzte, welche sich mit der Autonomie Südtirols befassen sollte. Die Südtiroler konnten im Rahmen dieses Komitees, das sich aus italienischen, deutschsprachigen und ladinischen Vertretern zusammensetzte und aus dem die Österreicher ausgeschlossen waren, direkt mit den politischen Vertretern der Italiener Südtirols als auch mit den Vertretern des Staats ihren politischen Status besprechen, ohne den Umweg über Wien machen zu müssen. Immerhin bewirkten diese Beratungen, dass Ende der 1960er Jahre zwischen Österreich und Italien ein neues Abkommen zustande gebracht wurde. VII. Das „Südtirol-Paket“ Das „Paket“ war ein Bündel von Maßnahmen, die Italien den deutschsprachigen Bewohnern Südtirols zugestand. Die Zielsetzung lag darin, für die Provinz Bozen – unter Zurückdrängung der regionalen Dominanz – eine Autonomie auszubauen, die auch Kompetenzen im Gesetzgebungs- und Verwaltungsbereich inkludierte. Nachdem die SVP bei einer außerordentlichen Landesversammlung in Meran 1969 die20

Resolution 1497 (XV) vom 31. 10. 1960. Vgl. M. Gehler, Landesspezifika. Selbstbestimmung – kulturelle Landeseinheit – Europaregion? Die Tiroler Südtirolpolitik 1945 – 1998, in: ders. (Hrsg.), Tirol. Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945. Land im Gebirge. Zwischen Tradition in Moderne, 2000, S. 569 – 728, hier S. 631 f. 21

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sem „Paket“ mit einer äußerst knappen Mehrheit zugestimmt hatte,22 verabschiedete auch das italienische Parlament23 das Zweite Autonomiestatut für Südtirol, dem der österreichische Nationalrat zustimmte.24 Die Frage, inwieweit die Südtiroler Aktivisten rund um den „Befreiungsausschuss Südtirol“ und der Ereignisse um die „Feuernacht“25 die Bereitschaft Italiens, ein positives Ergebnis in der Südtirol-Frage zu erreichen, erhöht haben, ist umstritten. Unter dem Eindruck der in Südtirol eskalierenden Gewalt bewegte sich immerhin auf diplomatischer und innenpolitischer Ebene etwas. Doch blicken wir noch einmal über den Brenner: Nach dem Abschluss des Staatsvertrages 1955 orientierten sich die österreichischen Interessen neu und die Regierungen konzentrierten sich auf eine stärkere Integration in die europäischen Institutionen. Die Dringlichkeit, das Südtirolproblem zu lösen, erhöhte sich Mitte der 1960er-Jahre, nachdem Italien ein Veto bei den Assoziierungsgesprächen mit der EWG26 einlegte. Als Grund wurde der „Vorfall“ auf der Porzescharte im osttirolerisch-bellunesischen Grenzgebiet angeführt, bei dem vier italienische Soldaten den Tod fanden.27 Italien sah in Österreich die Keimzelle des Südtirol-„Terrorismus“. Auch der SVP-Führung war dieser Umstand bekannt, obwohl die österreichische Seite dies nicht offen aussprach. Die bilateralen Debatten unter Miteinbeziehung der SVP brachten eine Einigung, doch die Umsetzung verzögerte sich, die Umsetzung der Bestimmungen des neuen Autonomiestatuts zog sich bis Anfang 1992 hinaus. Auf diese Weise erfolgte die offizielle Streitbeilegung Österreichs vor den Vereinten Nationen erst im Jahr 1992.28 Dieser Akt machte Österreich den Weg in die 22 Vgl. S. Magnago, 30 Jahre Pariser Vertrag, 1976, S. 46. Von den 1111 Stimmrechten waren 1104 (99,4 %) durch Delegierte vertreten. Von diesen stimmten 583 (52,8 %) für und 492 (44,6 %) gegen das „Paket“; 15 (1,3 %) enthielten sich der Stimme und 14 (1,3 %) gaben ungültige Stimmzettel ab. 23 Vgl. O. Peterlini, Autonomie und Minderheitenschutz in Südtirol und im Trentino. Überblick über Land und Geschichte, Recht und Politik, 2000, S. 99. 24 Vgl. O. Peterlini (Anm. 25), S. 99. 25 Zur Feuernacht vgl. E. Baumgartner [u. a.] (Hrsg.), Feuernacht. Südtirols Bombenjahre: Ein zeitgeschichtliches Lesebuch, 1992; B. Mosser-Schuöcker/G. Jelinek, Herz Jesu Feuer. Südtirol 1961. Die Anschläge. Die Folterungen. Die Prozesse. Die Rolle Österreichs, 2011; H. K. Peterlini, Südtiroler Bombenjahre. Von Blut und Tränen zum Happy End?, 2005; H. Speckner, Von der „Feuernacht“ zur „Porzescharte“ … Das „Südtirolproblem“ der 1960er Jahre in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten, 2016; R. Steininger, Südtirol zwischen Diplomatie und Terror, 3 Bde., 1999. 26 Vgl. H. Speckner, Der „Höhepunkt“ des Streites. Das italienische Veto gegen Österreichs Beitrittsverhandlungen zur „EWG“, in: A. Raffeiner (Hrsg.), 25 Jahre Streitbeilegung 1992 – 2017. Ist das „Südtirolproblem“ gelöst!?, 2018, S. 547 – 555. 27 Vgl. H. Speckner (Anm. 29); ders., Zwischen wischen Porze und Roßkarspitz … Der „Vorfall“ vom 25. Juni 1967 in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten, 2013. 28 Vgl. S. Clementi/J. Woelk (Hrsg.), 1992: Ende eines Streits. Zehn Jahre Streitbeilegung im Südtirolkonflikt zwischen Italien und Österreich, 2003; A. Raffeiner (Hrsg.), 25 Jahre Streitbeilegung 1992 – 2017. Ist das „Südtirolproblem“ gelöst!?, 2018. Beide Sammelbände enthalten zahlreiche interessante, themenbezogene Beiträge.

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Europäische Gemeinschaft frei, der für einige Zeit durch ein italienisches Veto blockiert worden war. Schon 1972, nach dem Erlass des Zweiten Autonomiestatuts, konnte Bundeskanzler Kreisky das bilaterale Freihandelsabkommen mit der EWG abschließen. Die EWG und die EFTA beschlossen, ihre wirtschaftliche Zusammenarbeit durch den Aufbau eines Europäischen Wirtschaftsraums zu vertiefen. Ein Jahr später beschloss die Europäische Gemeinschaft, einen EG-Binnenmarkt einzurichten, welcher im Rahmen der Einheitlichen Europäischen Akte umgesetzt wurde.29 Da diese Entwicklungen für Österreich ökonomische Nachteile mit sich brachten, wurde über einen Antrag zur Aufnahme in die EG nachgedacht, der 1989 bei der EG konkret gestellt wurde.30 Doch solange die Südtirol-Frage nicht „abgeschlossen“ war, würde sich Italien gegen einen Beitritt Österreichs aussprechen – so die Annahme in Wien. Die Umsetzung des Statuts erstreckte sich über einen längeren Zeitraum, da es zum einen im Interesse der SVP lag, diverse offene Fragen immer wieder aufs Neue zu erörtern, um bessere Bedingungen zu erhalten, und zum anderen, weil mehrere Regierungswechsel in Rom zu Hinausschiebungen bei den Besprechungen führten. Eile war allerdings geboten, da auch die Amtszeit des Kabinetts unter Giulio Andreotti, welches eine gute Beziehung mit den österreichischen Verhandlungspartnern, besonders zu ÖVP-Außenminister Alois Mock, pflegte, dem Ende zuging. Gegen Ende der 80er bzw. zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts standen die Zeichen gut für ein zufriedenstellendes Übereinkommen in der Südtirol-Frage, da die Verwirklichung der noch ausständigen Angelegenheiten 1986 vom damaligen Außenminister Andreotti zugesagt wurde. Italienischen Zugeständnissen in der Südtirol-Frage wurde dabei immerzu mit einem Wohlwollen der österreichischen Seite entsprochen – d. h. jeder zusagenden und beipflichtenden Tatkraft Roms folgte ein Entgegenkommen Wiens. Die Beständigkeit Andreottis, der anfänglich als Außenminister und ab 1989 als Ministerpräsident mit der Südtirol-Frage beschäftigt war, bewirkte eine beschleunigende Umsetzung des Statuts von 1972. Darüber hinaus förderten die zentrifugalen Kontroversen innerhalb der SVP und der erneute Appell der jüngeren Generation nach nationaler Selbstbestimmung eine verstärkte Kooperation. Nach dem Abschluss des Südtirolpakets, das der deutschen Bevölkerung in der Region Trentino-Südtirol bemerkenswerte Minderheitenrechte und die Einführung und Umsetzung von Gleichberechtigung, Schutz und Recht auf Selbstregierung im Rahmen

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Die vertraglichen Grundlagen hierzu wurden 1987 durch das Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte geschaffen, die den EG-Vertrag in zahlreichen Punkten abänderten; programmatisch wurde unter anderem das Ziel der Verwirklichung des Binnenmarktes als „Raum ohne Binnengrenzen“ bis zum 31. 12. 1992 (Art. 14 EGV, jetzt Art. 26 AEUV) erklärt. 30 https://www.uibk.ac.at/zeitgeschichte/zis/library/oesterreich-und-die-europaische-integra tion-dokumente- teil-3.html#dok6 (zuletzt abgerufen am 18. 2. 2018).

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einer Territorialautonomie einräumte sowie eine lokale Autonomie zugestand, erklärte Österreich 1992 den Streit mit Italien offiziell für beendet. VIII. Und heute? Der Forschungsgegenstand der nationalen Selbstbestimmung hat aufgrund der Referenden in Schottland31 und in Katalonien32 auch in Südtirol an Aktualität gewonnen. Im Sommer 2013 beauftragte die Süd-Tiroler Freiheit um Eva Klotz, der Kämpferin für die Selbstbestimmung, eine Umfrage mit der Forderung nach der Abhaltung eines Selbstbestimmungsreferendums. Insgesamt wurden 700 deutsch- und ladinischsprachige Südtiroler befragt: 26 Prozent sprachen sich für einen Verbleib bei Italien aus, 54 Prozent wünschten sich eine Unabhängigkeit ihres Heimatlandes.33 Schon im Jahr zuvor hatte die Süd-Tiroler Freiheit zusammen mit den Südtiroler Freiheitlichen einen Antrag auf eine Volksbefragung über die Selbstbestimmung Südtirols in den Landtag eingebracht, der jedoch von der Mehrheitspartei abgelehnt wurde.34 Im Herbst 2018 verlor die SVP bei den Landtagswahlen die absolute Mehrheit und erhielt nur noch 41,9 Prozent.35 Die erwähnte Partei steht für den Ausbau der Autonomie und spricht sich gegen eine Loslösung von Italien aus. Auch wenn das patriotische Lager bei den Wahlen an Zustimmung verloren hat, bleibt die Südtirol-Frage nach wie vor unbeantwortet. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, die im Aufgabenkreis des freien Personen- und Güterverkehrs zwischen Nord- und Osttirol schon im Gruber-DegasperiAbkommen von 1946 vereinbart worden war, konnte im Rahmen der EG-/EU-Mitgliedschaft Österreichs umgesetzt und ausgebaut werden. Die Grenzkontrollen zwi31 Das Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands vom Vereinigten Königreich (engl. Scottish independence referendum) fand am 18. 9. 2014 statt. Das Endergebnis betrug 55,3 % Nein-Stimmen und 44,7 % Ja-Stimmen bei einer Beteiligung von 84,59 %, wodurch die Unabhängigkeit Schottlands von der Mehrheit der Wähler abgelehnt wurde (http://www.bbc. com/news/events/scotland-decides, zuletzt abgerufen am 18. 2. 2018). 32 Am 1. 10. 2017 wurde von der Regionalregierung Kataloniens ein Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens (katalanisch Referèndum d’Autodeterminació de Catalunya) abgehalten. Nach der Abstimmung meldeten die katalanischen Behörden eine Wahlbeteiligung von 42,3 % sowie eine Zustimmung von rund 90 % der Wähler zu einer Unabhängigkeit. Das Referendum führte zu einer Verfassungskrise mit der einige Wochen später erfolgten Ausrufung einer unabhängigen Republik und der anschließenden Entmachtung der katalanischen Regierung durch die spanische Regierung sowie der Ankündigung von Neuwahlen (Stand: 16. 11. 2017). 33 Dazu Süd-Tiroler Freiheit Online [http://www.suedtiroler-freiheit.com/neue-meinungsum frage-zur-selbstbestimmung-nur-26-der-sud-tiroler-wunschen-sich-einen-verbleib-bei-italien/] (zuletzt abgerufen am 18. 2. 2018). 34 Dazu Süd-Tiroler Freiheit Online [http://www.suedtiroler-freiheit.com/beschlussantragvon-sud-tiroler-freiheit-und-freiheitlichen-abgelehnt/] (zuletzt abgerufen am 18. 2. 2018). 35 Die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen kann man auf der Weltnetzpräsenz der Autonomen Provinz Bozen (http://www.buergernetz.bz.it/vote/landtag2018/results/home/ld/vg. htm, zuletzt abgerufen am 29. 3. 2019), nachlesen.

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schen den gleichgestellten EU-Mitgliedstaaten wurden aufgrund des Schengener Abkommens36 aufgehoben. Seit den 1990er Jahren finden gemeinsame Treffen der Landtage von Tirol, Südtirol, Trentino und Vorarlberg statt, was später als „Dreierlandtag“ (ohne Vorarlberg, Anm. d. Verf.) institutionalisiert wurde. Diese Treffen finden auch auf Landesregierungsebene statt. Die Zusammenarbeit der Provinzen und Regionen in Italien wurde außerdem durch zwei Verfassungsnovellen von 200137 erleichtert, die den Regionen das Recht einräumten, internationale Übereinkommen abzuschließen, und die in ihren Sachgebieten Mitsprache- und Entscheidungsrechte bei EU-Verordnungen zugestand. Im Jahr 2011 wurde die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino im Rahmen des EU-Programms des Europäischen Verbundes für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ)38 gegründet, die aus dem Bundesland Tirol und aus den Autonomen Provinzen Bozen-Südtirol und Trient besteht. Das Europa der Regionen, das grenzüberschreitende Kooperation begünstigt, könnte die Lösung für Konflikte sein, die aufgrund der oft sinnfreien Grenzziehungen nach 1918 erfolgt sind. Die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino kann, wenn sie als solche von den Einwohnern wahrgenommen und mit Leben gefüllt wird, ein Beispiel dafür sein.39 IX. Resümee Südtirol ist seit fast einem Jahrhundert ein Teil Italiens, obwohl drei Viertel seiner Bevölkerung ethnische Deutschtiroler und Ladiner, die eine Varietät der rätoromanischen Sprache sprechen, sind. Trotz der Selbstbestimmungserklärung des US-Präsidenten Wilson wurde Südtirol sowohl nach dem Ersten als auch nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Alliierten das Land als eine Provinz Italiens bestätigten, das Selbstbestimmungsrecht verweigert. Als Entschädigung erhielt Südtirol im Gruber-Degasperi-Abkommen von 1946 neben der Anerkennung der nationalen Minderheit als gleichberechtige Gruppe eine territoriale Autonomie. Diese Autonomie entstand 1972 und wurde erst 1992 vollständig angewandt. Ist die Südtirol-Frage mit der Streitbeilegung vor den Vereinten Nationen im Jahr 1992 wirklich beendet worden? Sind die Selbstbestimmungsbefürworter, wie von manchen Zeitgenossen tituliert, „Zündler“ oder „Ewiggestrige“? 36 Die Schengener Abkommen sind internationale Übereinkommen insbesondere zur Abschaffung der stationären Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der teilnehmenden Staaten, vgl. dazu zu den Folgen A. Achermann [u. a.], Schengen und die Folgen, Der Abbau der Grenzkontrollen in Europa, 1995 und zur Praxis S. Breitenmoser [u. a.] (Hrsg.), Schengen in der Praxis. Erfahrungen und Ausblicke, 2009. 37 Vgl. A. Albanese, Il principio di sussidiarietà orizzontale: autonomia sociale e compiti pubblici, in: Dir. Pubbl. 1 (2002), S. 51 – 84, hier S. 51. 38 Vgl. A. Engl/B. Oberkofler, Europäische Verbünde territorialer Zusammenarbeit (EVTZ) im Alpenraum, in: P. Bußjäger/C. Gsodam (Hrsg.), Multi-Level-Governance im Alpenraum, 2013, S. 151 – 177. 39 Dazu G. Pallaver/C. Traweger, Die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino in Bewegung, 2016.

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Sicher wurde das Gruber-Degasperi-Abkommen ursprünglich von Italien ungenügend eingehalten. Für Rom stand der Erhalt der territorialen Einheit nach dem Zweiten Weltkrieg an erster Stelle – für Minderheiten hatte man wenig Zeit oder gar kein Verständnis. Österreich hatte mit der Wiederherstellung der staatlichen Hoheitsgewalt ein anderes Ziel. Dabei suchte die Alpenrepublik westliche Bündnispartner – und Italien war einer dieser Partner. Seit 1992 wurde die Autonomie einerseits ausgebaut, andererseits wurde sie auch laut einem Gutachten von Happacher/Obwexer40 beschnitten. Sie ist lediglich zum Teil ein Erfolg, zum Teil ein Korsett für eine weitergehende politische Eigenständigkeit. Ein Drittel der deutschsprachigen Wählerschaft stimmt für Parteien, welche die Selbstbestimmung, ein „Los von Rom!“ auf ihre Fahne schreiben. Der Autonomiekonvent hat nach eineinhalb Jahren eine sehr lange Liste von Reformvorschlägen vorgelegt, die nun (2018) vom Landtag und später vom Regionalrat in einen institutionellen Vorschlag für ein Drittes Autonomiestatut umgewandelt werden müssen. Danach ist das Parlament in Rom am Zug. Wirtschaftlich gesehen geht es Südtirol einigermaßen gut, doch politisch gibt es auseinanderstrebende Stellungen und Strömungen. Die Beziehungen Österreichs und Italiens waren durch die individuelle Unsicherheit in Bezug auf staatliche Souveränität und territoriale Einheit geprägt. Die lange Ausgestaltung des Autonomiestatuts für Südtirol wurde von beiden Ländern am Ende im Sinne der guten Nachbarschaft beeinflusst und abgeschlossen. Die Südtirolautonomie ist zurzeit eine Erfolgsgeschichte, aber sie ist, wenn sie nicht dynamisch ist und an die tagesaktuellen Erfordernisse angepasst wird, keinesfalls der Weisheit letzter Schluss. Wenn alle Volksgruppen in Südtirol sich zur Geschichte bekennen, zur eigenen Kultur, frei von Nationalismus, so kann sich Südtirol im zukünftigen Europa durchaus beweisen. Dies mag ein Europa der Regionen oder eines der Vaterländer sein. Egal, ob das Südtiroler Volk eines Tages die ihm zustehende Selbstbestimmung wahrnimmt oder nicht, es kann die Brückenfunktion einnehmen, die ihm seit Jahrhunderten zusteht.41 * Abstract Andreas Raffeiner: The South Tyrol Question (Die Südtirol-Frage), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 2 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 2), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 153 – 167.

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Vgl. W. Obwexer/E. Happacher, Entwicklungen und Veränderungen der Südtiroler Autonomie seit der Streitbeilegungserklärung 1992, Innsbruck (erstattet 2015, erschienen 2017). 41 Vgl. A. Raffeiner, Südtirol spricht immer noch Deutsch. Ein Streifzug durch die Geschichte eines begehrten Landes (Teil 2), in: Deutsche Sprachwelt 42 (2010/11), S. 5.

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South Tyrol has been a part of Italy for almost a century, although three-quarters of its population are ethnic Germans and Ladins, who speak a variety of the Rhaeto-Romanic language. Despite the declaration of self-determination of US President Wilson, South Tyrol was denied the right of self-determination both after the First World War and after the Second World War, when the Allies confirmed the country as a province of Italy. As compensation, South Tyrol received territorial autonomy in the Gruber-Degasperi Agreement of 1946, in addition to the recognition of the national minority as an equal group. This autonomy originated in 1972 and was fully implemented in 1992. Did the South Tyrol issue really come to an end with dispute settlement before the United Nations in 1992? Are the supporters of self-determination, as dubbed by some contemporaries, “arsonists” or “backward facing persons”? Certainly, the Gruber-Degasperi agreement was initially insufficiently respected by Italy. For Rome, the preservation of territorial unity after the Second World War came first – there was little time or no understanding for the protection of minorities. Austria had another goal with the restoration of state sovereignty. The Alpine Republic was looking for Western allies – and Italy was one of those partners. Since 1992, the autonomy was expanded on the one hand, on the other hand, it was also limited according to a report by Happacher/Obwexer. It is only partly a success, partly a corset for a more political self-reliance. One-third of the German-speaking electorate votes in favor of parties that write the self-determination, a “Go away from Rome!” on their banner. After a year and a half, the Autonomous Convention has presented a very long list of reform proposals, which now (2018) must be converted by the Landtag and later by the Regional Council into an institutional proposal for a Third Statute of Autonomy. It is the turn of the Parliament in Rome to implement autonomy. Economically, South Tyrol is doing reasonably well, but politically there are diverging positions and currents. The relations between Austria and Italy were characterized by individual uncertainty regarding state sovereignty and territorial unity. The long form of the Statute of Autonomy for South Tyrol was ultimately influenced and concluded by both countries in the spirit of good neighborliness. South Tyrolean autonomy is currently a success story, but if it is not dynamic and adapted to the day’s needs, it is by no means the last word of wisdom. If all ethnic groups in South Tyrol are committed to history, to their own culture, free from nationalism, then South Tyrol can certainly prove itself in the future of Europe. This may be a Europe of the regions or one of the fatherlands. It does not matter whether the people of South Tyrol one day or not perceive their self-determination, it can take on the bridging function it has enjoyed for centuries.

Der Erste Weltkrieg und die Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, 1914 – 1921 Von Michael Portmann und Karlo Ruzicic-Kessler I. Einleitung Die Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (Königreich SHS) wurde durch das Zusammenspiel und den Antagonismus verschiedener Akteure bedingt. Drei Seiten, die auf Grund ihrer historischen Voraussetzungen sehr unterschiedliche Positionen einnahmen, standen dem Projekt südslawischerseits gegenüber.1 Jede dieser Seiten war bestrebt, ihr Konzept eines jugoslawischen Staates verwirklicht zu sehen. Darüber hinaus waren die Entwicklungen der Kriegshandlungen während des Ersten Weltkriegs und insbesondere der italienische Kriegseintritt und die italienischen Vorstellungen für die Neuordnung des Balkans nach dem Krieg entscheidende Entwicklungen für die Entstehung des Königreichs SHS. Somit lassen sich folgende grundlegende Faktoren festhalten, die die Entstehung des Königreichs SHS auf den Trümmern der Habsburgermonarchie (mit-)prägten: a) Die Königreiche Serbien und Montenegro, die auf der Seite der Kriegsgewinner aus dem Ersten Weltkrieg hervorgingen und für die militärische Befreiung des Landes im Herbst 1918 sorgten. Serbien verlor im Ersten Weltkrieg nahezu ein Viertel seiner Bevölkerung2 und sah sich stets als Mittelpunkt eines südslawischen Nachfol-

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Die Vorstellung von einer gemeinsamen „jugoslawischen“ Nation (jug bedeutet „Süden“) wurde erstmals zu Beginn des 19. Jahrhunderts von einer zahlenmäßig kleinen Gruppe südslawischer Intellektueller ventiliert. Die Verfechter des Jugoslawismus (jugoslovenstvo) gingen davon aus, dass die Sprecher eines südslawischen Idioms trotz Unterschiede in Sprache/ Dialekt, Konfession, Religion, Kultur und historischer Erfahrung Teil einer jugoslawischen d. h. südslawischen Nation seien. Bis zum Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens in den 1990er Jahren konkurrierte die Idee stets mit slowenischen, kroatischen, serbischen, montenegrinischen, mazedonischen und bulgarischen Nationalismen. Obwohl diese als Massenphänomene ebenso wenig „natürlich“ oder „künstlich“ wie der jugoslawische Nationalismus waren bzw. sind, konnten deren Vertreter stärker auf historische, sprachliche und konfessionelle Traditionskerne zurückgreifen als dies beim vergleichsweise jungen Jugoslawismus der Fall war. Mehr dazu bei: A. Baruch Wachtel, Making a Nation, Breaking a Nation. Literature and Cultural Politics in Yugoslavia, 1998; D. Djokic´ (Hrsg.), Yugoslavism. Histories of a Failed Idea 1918 – 1992, 2003. 2 Serbien verlor zwischen 1914 und 1918 fast eine halbe Million Soldaten, die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung war noch größer. Vgl. J. Pirjevec, Das Königreich der

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gestaates der Habsburgermonarchie. Bereits im Sommer 1914 hielt die serbische Regierung fest, dass die jugoslawische Frage durch Vereinigung aller Südslawen, mit Ausnahme der Bulgaren, mit dem Zentrum in Belgrad gelöst werden müsse. Immerhin sah sich Serbien als Vorreiter in der Befreiung von der osmanischen Herrschaft im 19. Jahrhundert und stand wegen Ereignissen wie der Annexion Bosnien-Herzegowinas Österreich-Ungarn besonders kritisch gegenüber.3 Serbien kämpfte zunächst mit seiner Armee gegen Österreich-Ungarn, bevor die Reste der Armee und die Regierung im Herbst 1915 den Weg ins Exil antraten, um von dort für die Kriegsziele Belgrads bei den Ententemächten zu werben. b) Die südslawischen Politiker innerhalb der Habsburgermonarchie, die gegen Ende des Ersten Weltkrieges für das Entstehen eines eigenen Staates eintraten. Die meisten Südslawen innerhalb der Monarchie unterstützten lange Zeit allerdings Österreich-Ungarn im Krieg gegen Serbien. c) Die politische Emigration aus den jugoslawischen Ländern der Habsburgermonarchie, die sich seit Mai 1915 im Jugoslawischen Komitee (Jugoslovenski odbor) mit Sitz in London unter dem Vorsitz des Dalmatiners Ante Trumbic´ vereinigt hatte. Dies waren vor allem Intellektuelle aus Kroatien-Slawonien und Dalmatien, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg für die Entstehung eines südslawischen Staates eintraten, damit klar gegen die habsburgische Ordnung opponierten und zum Teil bereits vor 1914 im Exil lebten. d) Die italienische Diplomatie in Zusammenhang mit dem Balkan und der Gegensatz zwischen den Kriegszielen Serbiens und Italiens nach der Unterzeichnung des Londoner Abkommens vom April 1915, der den italienischen Kriegseintritt sanktionierte. Die drei erstgenannten Seiten rangen ab 1915 um das Entstehen eines gemeinsamen südslawischen Staates, stets beeinflusst und bedrängt durch den Verlauf des Krieges und seinen ungewissen Ausgang. Der Zusammenbruch der Monarchie zeichnete sich erst im Frühjahr und Sommer 1918 ab und war bis dahin auch kein Kriegsziel der Entente.4 Das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen5 (Kraljevina Srba, Hrvata i Slovenaca, im Folgenden auch Königreich SHS) ging am 1. Dezember 1918 aus

Serben, Kroaten und Slowenen. Von der Einheit bis zur Verfassung des „Veitstages“ (1918 – 1921), in: S. Karner/G. Schöpfer (Hrsg.), Als Mitteleuropa zerbrach, 1990. 3 Siehe: N. Malcolm, Geschichte Bosniens, 1994. 4 Der US-amerikanische Präsident Wilson erklärte erst im Sommer 1918, dass eine Anerkennung der Tschechoslowakei und des Königreichs SHS Voraussetzung für weitere Friedensverhandlungen mit Österreich-Ungarn sei. 5 Vom 1. 12. 1918 bis zum 27. 7. 1921 hieß der Staat offiziell zunächst „Königtum der Serben, Kroaten und Slowenen“ (Kraljevstvo Srba, Hrvata i Slovenaca) und danach „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ (Kraljevina Srba, Hrvata i Slovenaca). Die Bezeichnung „Königreich Jugoslawien“ (Kraljevina Jugoslavija) wurde erst nach Einführung

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der Vereinigung des Königreichs Serbien mit dem Königreich Montenegro und vormals habsburgischer Gebiete – namentlich die cisleithanischen Kronländer Krain und Dalmatien, Teile der cisleithanischen Kronländer Kärnten und Steiermark, das zur ungarischen Krone gehörende Kroatien-Slawonien, das historische „Südungarn“/Délvidék (d. h. ungefähr die heutige Autonome Provinz Vojvodina in der Republik Serbien) sowie das seit 1908 annektierte, vom k.u.k. Finanzministerium in Wien verwaltete Bosnien-Herzegowina – hervor6. Mit den Worten von Joseph Rothschild war dieses jugoslawische Gebilde „[…] by virtually every relevant criterion […] the most complicated of the new states of interwar East Central Europe, being composed of the largest and most varied number of pre-1918 units.“7 Dieser Einschätzung ist voll und ganz zuzustimmen: Abgesehen von der sprachlich-kulturellen Vielfalt und den beträchtlichen Unterschieden in der politischen, administrativen und militärischen Kultur hätte das sozio-ökonomische Gefälle zwischen den reicheren, vormals habsburgischen Landesteilen im Nordwesten („Slowenien“, Kroatien, „Vojvodina“) und den lange Zeit osmanisch beherrschten Gebieten im Südosten (Serbien, Kosovo, „Mazedonien“, Montenegro) mit Bosnien als geografischer und kultureller „Zwischenregion” auf so engem Raum kaum ausgeprägter sein können.8 Anzupassen galt es zudem die Währungen, die Lehr- und Unterrichtspläne, die „serbokroatische“ bzw. „kroatoserbische“ Schrift und Sprache und eben auch eine neue gemeinsame Armee. Insbesondere dort hätte auch ein homo jugoslavicus geschaffen werden sollen. Im neu zu gründende Staat mussten zahlreiche außen- und innenpolitische Hindernisse überwunden werden: die Vereinigung von ehemaligen, direkten Kriegsgegnern (dabei als besonderes Erschwernis jene von Kriegsverlierern und Kriegsgewinnern), die Frage der Grenzziehung und schließlich die stark divergierenden staatspolitischen Zielsetzungen vor allem zwischen (habsburgischen) Kroaten einerseits und Serben aus dem Königreich Serbien andererseits stellten die Gründer vor große Probleme.9 Zwar sprachen zumindest Serben, Kroaten und die Bevölkerung BosnienHerzegowinas eine gemeinsame Sprache, doch hatten die westslawischen Gebiete am Balkan aufgrund historischer Begebenheiten über Jahrhunderte unterschiedliche der Königsdiktatur im Januar 1929 offiziell; dennoch werden in diesem Beitrag die Termini „Jugoslawien“ bzw. „jugoslawisch“ auch bereits für die Zeit davor verwendet. 6 Hinweise zu Literatur über die Gründung des „ersten“ Jugoslawien sind zu finden bei: M.-J. Calic, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, 2010; J. Lampe, Yugoslavia as History: Twice there Was a Country, 2007; S. P. Ramet, The Three Yugoslavias. State-Building and Legitimation, 1918 – 2005, 2006. 7 Zitiert nach: D. Djokic´, Elusive Compromise. A History of Interwar Yugoslavia, 2007, S. 39. 8 Zur Geschichte des königlichen Jugoslawiens siehe: Djokic´ (Anm. 7); I. Banac, The National Question in Yugoslavia. Origins, History, Politics, 1984; Z. Janjetovic´, Deca Careva, pastorcˇ ad Kraljeva. Nacionalne manjine u Jugoslaviji 1918 – 1941, 2005. 9 Obwohl es weder Abstimmungen noch Umfragen zu diesem Thema gab, kann man davon ausgehen, dass die Vereinigung nur einen Bruchteil der Bevölkerung befürwortet hätte. Vgl. J. Pirjevec (Anm. 2), S. 45 f.

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Richtungen genommen. Der konfessionelle Unterschied zwischen katholischen Slowenen und Kroaten sowie orthodoxen Serben, Mazedoniern und Montenegrinern stand ebenso einer einfachen Einigung im Wege. Im Grunde genommen wussten die Bevölkerungen im südslawischen Raum nur sehr wenig voneinander.10 Hinzu kommt, dass von slowenisch-kroatischer Seite der Anstoß zur schnellen, vielleicht vorschnellen Vereinigung mit Serbien vor allem auf die militärische Bedrohung durch Italien zurückzuführen war.11 Im Folgenden wird es darum gehen, die Schritte, die zur Entstehung dieses Königreichs geführt haben, die Akteure und deren Motivationen ab dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und bis zur Gründung des Königreiches SHS, zu untersuchen. Darüber hinaus soll auch ein Einblick in die unmittelbare Nachkriegsgeschichte geboten werden, um zu beleuchten, wie sehr diese von den Ereignissen der Jahre 1914 – 1918 geprägt war und mit welchen gravierenden Herausforderungen sich das junge Königreich konfrontiert sah. II. Der Erste Weltkrieg in Serbien Nachdem der österreichisch-ungarische Kronprinz Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie in Sarajewo am 28. Juni 1914 durch Gavrilo Princip, einem Mitglied der Schwarzen Hand (Crna Ruka)12 ermordet worden waren, stellte sich für das Königreich Serbien unter Peter I. Karadjodjevic´ und dem Prinzregenten Alexander (später Alexander I.) die Frage nach der Reaktion auf dieses Ereignis. Das Königreich Serbien war in den Jahren vor 1914 in verschiedene militärische Auseinandersetzungen am Balkan verwickelt gewesen, allen voran die Balkankriege von 1912/13.13 Es war insbesondere an der Vereinigung mit dem Königreich Montenegro interessiert, strebte einen Zugang zum Mittelmeer durch albanisches Territorium an und wollte seine Selbstständigkeit trotz des Drucks aus der Donaumonarchie beibehalten.14 Während der Balkankriege hatte Serbien sein Territorium beinahe verdoppelt und verleibte fast 1,3 Millionen neue Bewohner ein. Die Staatskasse wurde durch die Mobilisierung einer Armee von rund 500.000 Mann stark belastet und die Übernahme und Integration von zuvor osmanischen Gebieten mit zahlenmä-

10 A. Suppan, Jugoslawien und Österreich 1918 – 1938. Bilaterale Außenpolitik im europäischen Umfeld, 1996, S. 56. 11 Vgl. J. Pirjevec (Anm. 2). 12 Siehe zur Schwarzen Hand: D. T. Batakovic´, Nikola Pasˇic´, les radicaux et la Main noire. Les défis à la démocratie parlementaire serbe 1903 – 1917, in: Balcanica 37, 2014, S. 143 – 169. 13 Siehe: R. C. Hall, The Balkan Wars. Prelude to the First World War, 2000. 14 D. T. Batakovic´, Serbia in the Great War. Anglo-Saxon Testimonies and Historical Analysis, 2014, S. 10.

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ßig bedeutenden nicht-serbischen Bevölkerungsgruppen stellte die staatliche Administration vor bedeutende Herausforderungen.15 Unter diesen Voraussetzungen war das Königreich Serbien zunächst an einer inneren Konsolidierung interessiert und wollte unmittelbar nach 1913 in keinen neuen Konflikt verwickelt werden. Die oben erwähnte „Schwarze Hand“ war 1911 gegründet worden; deren Mitglieder (darunter auch serbische Offiziere) hatten sich der Vereinigung aller als serbisch geltenden Gebiete am Balkan verschrieben und arbeiteten u. a. in Bosnien-Herzegowina im Untergrund, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Eine führende Figur war Dragutin Dimitrijevic´, genannt Apis (Leiter des serbischen Militärnachrichtendienstes), der die Attentäter von Sarajewo mit Waffen ausstattete.16 Er handelte hierbei ohne das Wissen der Regierung des langjährigen Ministerpräsidenten und Außenministers Nikola Pasˇic´, der als Architekt der serbischen Politik in den Jahren vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg gilt.17 Ein Konflikt mit der Donaumonarchie sah Pasˇic´ 1914 als gefährlichen Schritt, der ein geschwächtes Serbien leicht in den Ruin hätte treiben können. Deswegen verwundert nicht, dass Belgrad auf das Attentat von Sarajewo mit den üblichen Schritten reagierte. König und Prinzregent sendeten Kondolenzschreiben an Kaiser Franz Joseph, Pasˇic´ tat das gleiche gegenüber dem Reichsrat in Wien.18 Nach mehreren Gesprächs- und Verhandlungsrunden, die zu einer Entscheidungsfindung zwischen Wien, Budapest und Berlin führten19, wurde Belgrad am 23. Juli mit einem Ultimatum aus Wien konfrontiert. Für Österreich-Ungarn galt es, den Unruhestifter am Balkan zu bändigen. Serbien sollte nicht zum „Piemont“ der Südslawen werden – eine Anspielung auf die italienischen Einheitskriege der 1860er Jahre. Gegebenenfalls wollte man Serbien in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Donaumonarchie bringen bzw. territoriale Abstriche gegenüber seinen Nachbarn durchzusetzen.20 Das Ultimatum sah die Mitarbeit von Behörden aus der Donaumonarchie bei der Auflösung von gegen die Monarchie gerichteten Gruppierungen in Serbien vor sowie andere Punkte, die sich auf die Einstellung von Propaganda gegen Österreich-Ungarn und der Versuche Gebiete der Monarchie abzutrennen, die Verhaftung Verantwortlicher für das Attentat und die Einstellung von Waffenschmuggel über die Grenze nach Bosnien-Herzegowina be15

F. Le Moal, La Serbie du martyre à la victoire 1914 – 1918, 2008, S. 23 ff. D. Mackenzie, Apis. The Congenial Conspirator. The Life of Colonel Dragutin T. Dimitrijevic´ Apis, 1989. 17 Zu Pasic´: D. Djokic´. Pasic & Trumbic. The Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes, 2010. 18 D. T. Batakovic´ (Anm. 14), S. 15. 19 Zur Julikrise, siehe: I. Geiss (Hrsg.), Julikrise und Kriegsausbruch 1914. Eine Dokumentensammlung, 2 Bände, 1963, 1964. 20 Siehe: W. Bihl, Zu den österreichisch-ungarischen Kriegszielen 1914, in: Jahrbuch für Geschichte Osteuropas, 16:4, 1968, S. 505 – 530; Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (1914 – 1918), eingeleitet und zusammengestellt von Miklós Komjáthy, 1966, Dok 1, Protokoll des Ministerrates vom 7. 7. 1914, 141 – 149; Dok. 2, Protokoll des Ministerrates vom 19. 7. 1914, S. 150 – 154. 16

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zogen.21 Serbien lehnte das Ultimatum nicht durchwegs ab, akzeptierte jedoch keine Eingriffe in seine Souveränität – so die Interpretation in Belgrad.22 Österreich-Ungarn hatte allerdings noch vor der Kriegserklärung gegen Serbien sich bemüht festzuhalten, dass es keine territorialen Veränderungen anstrebte, was einerseits Russland beruhigen und andererseits Italien signalisieren sollte, dass die Lage am Balkan sich nicht ändern würde – womit Rom keine Kompensationsforderungen nach dem Dreibundvertrag von 1881 hätte einklagen können.23 Wie sich zeigen sollte, ging die Strategie nicht auf und das russländische Reich stellte sich auf die Seite Serbiens gegen Österreich-Ungarn. Die ersten Schritte auf dem Weg zum Weltkrieg waren gesetzt. III. Serbien im Krieg Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Daraus resultierte ein Dominoeffekt, der in wenigen Tagen einen Großteil Europas in den Kriegszustand versetzte. Während das Deutsche Reich aufseiten Österreich-Ungarns in den Krieg eintrat, stellte sich eine Koalition aus Russland, Frankreich und Großbritannien gegen die Mittelmächte. Italien blieb zunächst neutral. Bereits Anfang August erklärte der König von Montenegro, Nikola I. Petrovic´-Njegosˇ, dass er an der Seite Serbiens in den Krieg ziehen werde.24 Die serbische Regierung verließ Belgrad nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Österreich-Ungarn und begab sich in den Süden des Landes nach Nisˇ, das als Kriegshauptstadt fungieren sollte, während ein Angriff auf die exponierte Hauptstadt Belgrad, die sich direkt an der Grenze zum habsburgischen Ungarn befand, erwartet wurde. Die serbische Strategie war defensiv. Der Gegner sollte in Rückzugsgefechten ins Landesinnere gelockt werden, von wo ein Gegenangriff vorbereitet werden konnte. Auf dem Papier war die österreichisch-ungarische Armee in praktisch jedem Bereich der serbischen überlegen. Die Armee Serbiens war schlecht ausgerüstet, es fehlte an Munition und Lebensmittel, was zu zahlreichen Desertionen während der Kampagnen von 1914 und 1915 führte.25 Dennoch gelang ÖsterreichUngarn in drei Offensiven kein entscheidender Sieg. Im Gegenteil: die österreichisch-ungarischen Streitkräfte griffen zunächst nicht wie erwartet aus dem Norden

21 B. Petranovic´/M. Zecˇ evic´, Jugoslavija 1918 – 1988. Tematska zbirka dokumenata, 1988, Nota austro-ugarske – Vladi Kraljevine Srbije, S. 27 ff. 22 M. Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914 – 1918, 2013, S. 117 f. 23 M. Rauchensteiner (Anm. 22), S. 294. 24 B. Petranovic´/M. Zecˇ evic´ (Anm. 21), Proklamacija crnogorskog Kralja Nikole, 6. 8. 1914, S. 34; A. Mitrovic´, Serbia’s Great War, 2007, S. 1 ff. 25 J. Lyon, Serbia and the Balkan Front 1914. The Outbreak of the Great War, 2015, S. 80 ff.

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an, sondern wurden durch den Einfluss von Oskar Piotorek26, dem Gouverneur von Bosnien-Herzegowina, der die Strategie vorgab, aus dem Westen über die Drina nach Serbien geleitet. Dies resultierte in der Niederlage in der Schlacht am Berg Cer und einem Rückzug im August.27 Anfang Dezember gelang schließlich während der dritten Offensive die Einnahme von Belgrad. Diese dauerte allerdings nur zwei Wochen, da ein breit angelegter Gegenangriff der serbischen Armee die österreichisch-ungarischen Truppen abermals zum Rückzug zwang. Diese waren heillos überdehnt worden und mussten in den Wochen zuvor bei winterlicher Witterung mit sommerlicher Bekleidung und mit immer weniger Unterstützung durch zurückgebliebene Artillerie auf breiter Front gegen die serbischen Truppen vorgehen.28 Die Witterung, Krankheiten und Desertionen zollten entsprechend hohen Tribut. Eine Konsequenz des erbitterten Krieges zwischen Österreich-Ungarn und Serbien war jedenfalls, dass dieser unermessliches Leiden unter der Zivilbevölkerung verursachte, da die Truppen der Besatzer Geiseln nahmen und jegliches Verhalten gegen die Besatzung mit Hinrichtungen hunderter Zivilisten abgalten, was in vielen serbischen Orten zu regelrechten Massakern führte.29 Die serbische Armee war allerdings nach der Offensive vom Winter 1914 ebenfalls entkräftet und hatte ihren Erfolg vor allem einer taktischen Meisterleistung zu verdanken gehabt. Hierfür waren die letzten Reserven zusammengezogen worden, an weitere offensive Maßnahmen war allerdings nicht mehr zu denken gewesen.30 Jedenfalls befand sich die österreichisch-ungarische Armee wieder dort, wo sie im August 1914 gestanden war, an den Grenzen zu Serbien. 26 Potiorek amtierte seit 1911 als Chef der Landesregierung für Bosnien und die Herzegowina und hatte in dieser Funktion im Jahr 1918 Thronfolger Franz Ferdinand zu Manövern nach Sarajevo eingeladen. Diese fanden unter seinem Oberbefehl am 26. und 27.6. des Jahres statt. Unmittelbar nach dem Attentat von Gavrilo Princip auf Franz Ferdinand und dessen Gemahlin Sophie hielt Potiorek in seinem Tagebuch fest: „Ich habe geglaubt, die Lage richtig zu beurteilen. Aber die Schreckenstat vom 28. Juni hat mich leider belehrt, daß ich mich insofern getäuscht hatte, als die Verschlechterung der Situation bereits ungleich weiter gediehen und dieselbe schon ungleich ernster geworden ist, als ich dermaßen glaubte.“ Zit. aus: D. Juzbasˇic´/Z. Sˇ ehic´ (Hrsg.), Licˇ ne zabiljesˇke Generala Oskara Potioreka o unutrasˇnjopoliticˇ koj [sic!] situaciji u Bosni i Hercegovini / Persönliche Vormerkungen von General Oskar Potiorek über die innerpolitische [sic!] Lage in Bosnien und der Herzegowina, 2015, S. 572. 27 D. T. Batakovic´ (Anm. 14), S. 20 f. 28 Ebd.; M. Rauchensteiner (Anm. 22), S. 279 ff. 29 Hierzu: D. M. Segesser, Kriegsverbrechen auf dem Balkan und in Anatolien in der internationalen juristischen Debatte während der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs, in: J. Angelow (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan, 2011, S. 193 – 209, hier: S. 202 ff.; D. Schanes, Serbien im Ersten Weltkrieg. Feind- und Kriegsdarstellungen in österreichischungarischen, deutschen und serbischen Selbstzeugnissen, 2011, S. 166 ff.; B. M. Scianna, Reporting Atrocities. Archibald Reiss in Serbia 1914 – 1918, in: The Journal of Slavic Military Studies, 25:4, 2012, S. 596 – 617; H. Leidinger et al., Habsburgs schmutziger Krieg. Ermittlungen zur österreichisch-ungarischen Kriegsführung 1914 – 1918, 2014. 30 D. T. Batakovic´/N. B. Popovic´, Kolubarska Bitka, 1989, S. 190 ff.; M. Rauchensteiner (Anm. 22), S. 285 f.

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Ab Frühling 1915 drängte das Deutsche Reich auf eine Wiederaufnahme der Offensive gegen Serbien. Österreich-Ungarn zierte sich insbesondere nach dem Kriegseintritt Italiens im Mai 191531 und wollte Südosteuropa nicht den Deutschen überlassen. Tatsächlich hatte Deutschland nach den Niederlagen Österreich-Ungarns im Jahre 1914/15 das Zepter in die Hand genommen und bereitete eine Offensive am Balkan vor. Bulgarien wurde im September in das Bündnis einbezogen und erhielt die Zusage über Gebietserweiterungen in Serbien und die Rückabwicklung von Territorialverlusten aus dem zweiten Balkankrieg.32 In den Monaten davor war es der Entente nicht gelungen, einen Kompromiss zwischen Serbien und Bulgarien zu finden, der territoriale Zugeständnisse Belgrads enthalten hätte, die durch die Abtretung österreichisch-ungarischer Territorien nach dem Krieg hätte abgegolten werden sollen.33 Darüber hinaus wurden zehn deutsche Divisionen an die serbische Front entsandt. Den Oberbefehl der neuen Offensive sollte ebenso ein Deutscher, August von Mackensen, innehaben. Deutschland rechnete mit einem Dominoeffekt. Wenn Serbien besiegt werden sollte, würde sich sich auch die Einstellung Rumäniens zum Krieg verändern und Albanien sowie Montenegro könnten besetzt werden. Damit öffnete sich auch die Landverbindung zum Osmanischen Reich, das Unterstützung von den Mittelmächten erwartete und territoriale Zugeständnisse an Bulgarien akzeptierte.34 Anfang Oktober begann schließlich die deutsch-österreichisch-ungarische Offensive, der sich die bulgarische Armee am 14. Oktober durch Kriegserklärung an Serbien anschloss. Am 11. Oktober verließ die serbische Armee Belgrad und es war klar, dass sie nicht wie 1914 in der Lage sein würde, der Offensive standzuhalten. Zu hoch waren die Verluste des Vorjahres gewesen, zu schlecht die Ausrüstung und nicht zuletzt machte das Abschneiden der Bahnlinie Nisˇ-Saloniki durch bulgarische Truppen jegliche Versorgungsmöglichkeit durch die Entente aus Griechenland zunichte.35 Der serbischen Armee und der politischen Führung blieb nur noch der Gang ins Exil. Zermürbende Märsche, bei denen über 200.000 Opfer unter Soldaten und Zivilisten zu beklagen waren, brachten die Reste der Armee im Winter 1915/16 an die albanische Küste, von wo sie mit italienischen, französischen und britischen Schiffen Anfang 1916 nach Korfu verschifft wurde. Damit waren die Kampfhandlungen in Serbien vorerst eingestellt, kapituliert hatte das Land allerdings nicht. Nun sollte die politisch-diplomatische Strategie der Regierung um Nikola Pasˇic´ die wichtigste Rolle für Serbien spielen.

31

A. Varsori, Radioso maggio. Come l’Italia entrò in guerra, 2015. Zˇ . Avramovski, Ratni ciljevi Bugarske i Centralne sile 1914 – 1918, 1985, S. 150 ff. 33 V. Pavlovic´, The Treaty of London and the Creation of Yugoslavia, in: Acta Histriae, 25:4, 2017, S. 1029 – 1050, hier: S. 1032. 34 ˇ Z. Avramovski (Anm. 32). 35 A. Mitrovic´ (Anm. 24). 32

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IV. Die jugoslawische Frage und der Erste Weltkrieg Nach der Kriegserklärung an Serbien eröffnete Prinzregent Alexander am 29. Juli ein Manifest an das serbische Volk, das erklärte, wie ungerecht Österreich-Ungarn sich gegenüber Serbien in den Jahrzehnten bis 1914 verhalten habe und die Habsburger beschuldigte, undankbar gegenüber den Serben und Kroaten gewesen zu sein, obschon diese große Opfer für das Reich erbracht und sich immer für Wien eingesetzt hätten.36 Nikola Pasˇic´ erklärte in einer Korrespondenz an den serbischen Botschafter in Petersburg, Miroslav Spalajkovic´, im September 1914, dass „obschon die Zeit noch nicht reif […] sei, um über territoriale Veränderungen zu sprechen […], die Grenzen nach dem siegreichen Krieg“ jedenfalls verschoben werden sollten. So sah Pasˇic´ in der Einverleibung der Vojvodina, Kroatien-Slawoniens, Sloweniens und Istriens wichtige Ziele für die Stabilisierung des Balkan und für die Bildung eines starken südslawischen Blocks.37 Nur so könne garantiert werden, dass es am Balkan einen dauerhaften Frieden gebe, Kleinstaaten würden nur zur Destabilisierung beitragen.38 Tatsächlich sah das Programm der serbischen Regierung bei Kriegsausbruch eine Vereinigung der Südslawen (ohne Bulgarien) vor, trug jedoch gleichzeitig auch den Stempel einer Erweiterung des serbischen Territoriums, also die Entstehung eines Großserbiens, das Kroaten und Slowenen miteinschließen sollte.39 Schließlich veröffentlichte die serbische Regierung Ende 1914 ihre offizielle Position in der Deklaration von Nisˇ vom 7. Dezember. Darin hielt die Regierung Pasˇic´ fest, dass sie nunmehr für das siegreiche Ende des Krieges eintrete, einen Krieg, der seit seinem Ausbruch auch zum Kampf für die „Befreiung der serbischen, kroatischen und slowenischen Brüder“ geworden sei.40 Das Königreich Serbien kämpfte nicht nur um das eigene Überleben, sondern auch um die Vereinigung der Südslawen des Westbalkan unter serbischer Flagge.41 Nach den ersten Siegen der serbischen Armee von 1914 erwiesen sich im Frühling 1915 zwei Ereignisse auf internationaler Ebene als bedeutende Wegweiser für die Politik im und um den Balkan. Zunächst gelang es der Entente nach langen Verhandlungen, das Königreich Italien für den Krieg gegen die Mittelmächte zu gewinnen. Am 26. April 1915 unterzeichnete Italien mit Großbritannien, Frankreich und Russland ein Abkommen in London. Darin enthalten waren die Zusicherung von Gebietsgewinnen gegenüber Österreich-Ungarn in der Form der Annexion jener Teile Tirols, F. Sˇ isˇic´, Dokumenti o postanku Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca 1914 – 1919, 1920, Manifest regenta Aleksandra, 29. jula 1914, S. 2. 37 B. Petranovic´/M. Zecˇ evic´ (Anm. 21), N. Pasˇic´/M. Spalajkovic´u, 21. septembra 1914, S. 36. 38 A. Mitrovic´ (Anm. 24), S. 68. 39 A. Mitrovic´, The Yugoslav Question, the First World War and the Peace Conference 1914 – 20, in: Djokic´ (Anm. 1), S. 42 – 56, hier: S. 43 f. 40 B. Petranovic´/M. Zecˇ evic´ (Anm. 21), Nisˇka deklaracija, 7. decembra 1914, S. 37. 41 M. Ekmecˇ ic´, Ratni ciljevi Srbije 1914, 32014 [1973], S. 80 ff.; Ð. D. Stankovic´, Nikola Pasˇic´ i jugoslovensko pitanje, knj. 1, 1985, S. 148; B. Petranovic´, Istorija Jugoslavije 1918 – 1988, Knj. 1, Kraljevina Jugoslavija, 1988, S. 11. 36

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die südlich des Brenners lagen, Triests, des Bezirks Görz, Istriens, Dalmatiens, sowie eines Teils Albaniens.42 Dieser Vertrag, dessen geheime Klauseln erst während der Revolution in Russland 1917 durch die Bolschewisten öffentlich gemacht wurden, dessen Inhalt allerdings bereits nach Unterzeichnung den meisten Politikern und Diplomaten offensichtlich erschien, schaffte einen Gegensatz zwischen den südslawischen (serbischen) und italienischen Aspirationen. Immerhin sah Italien bereits während der ersten Verhandlungen über die Möglichkeit eines Kriegseintrittes aufseiten der Entente die Entstehung eines geeinten südslawischen Reiches als absolut undenkbar an. Der Kriegseintritt wäre eine Antwort auf die Gefahr, die Österreich-Ungarn für die italienischen Interessen an der Adria darstellte. Der Tausch der Doppelmonarchie gegen einen territorial anspruchsvollen südslawischen Staat war alles andere als im Sinne Italiens.43 Viel interessanter erschien hingegen die Bildung kleinerer Staaten, die die ostadriatischen Küsten teilen sollten, bei gleichzeitigen italienischen Gebietsgewinnen.44 Nikola Pasˇic´ hatte hingegen 1914 durchaus die Idee einer Teilung Istriens ins Auge gefasst, als er über einen zukünftigen südslawischen Staat sinnierte. Italien hätte dementsprechend Kompensationen erhalten können, wenn es sich für den Kriegseintritt gegen die Mittelmächte entschied.45 Die Vorstellung, dass Italien sich allerdings weit in den Balkan ausbreiten würde und somit zwangsläufig große Gebiete mit slawischer Mehrheitsbevölkerung einverleibte, war hingegen nicht akzeptabel und somit verwundert es nicht, dass Pasˇic´ abermals beteuerte, dass die Vereinigung sämtlicher Südslawen das zentrale Ziel seiner Politik sei.46 Eine direkte Folge der Unterzeichnung des Vertrages von London und des italienischen Kriegseintritts aufseiten der Entente war die Gründung des „Jugoslawischen Komitees“. Dieses Komitee war ein Zusammenschluss jugoslawisch orientierter, allen voran kroatischer Emigranten aus der Habsburgermonarchie.47 Geleitet wurde das Komitee, das am 30. Mai 1915 in Paris gegründet wurde und seinen Sitz in London hatte, von Ante Trumbic´, dem ehemaligen Bürgermeister von Spala42 Für den Text des Vertrages, siehe: Documenti Diplomatici Italiani (DDI), Quinta Serie, III, doc. 470, Accordo di Londra, S. 369 – 375. 43 Hierzu siehe die Benachrichtigung des italienischen Außenministers Antonio San Giuliano an den Botschafter in London, Guglielmo Imperiale: DDI, Quinta Serie, I, doc. 703, Il ministro degli esteri, Di Sangiuliano, all’ambasciatore a Londra, Imperiali, 16 settembre 1914, S. 411 – 413; San Giulianos Nachfolger, Sidney Sonnino, sprach sich ebenfalls strikt gegen die Entstehung eines südslawischen Staates aus. Siehe: DDI, Quinta Serie, III, S. 164. 44 San Giulianos Nachfolger als Außenminister, Sidney Sonnino, brachte diese Vorstellungen in einer Korrespondenz an die italienischen Botschafter in London, Paris und Petersburg im März 1915 zum Ausdruck. Siehe: DDI, Quinta Serie, III, doc. 164, Il ministro degli esteri, Sonnino, agli ambasciatori a Londra, Imperiali, a Parigi, Tittoni e a Pietrogrado, Carlotti, 21 marzo 1915, S. 134 f. 45 B. Petranovic´/M. Zecˇ evic´ (Anm. 21), N. Pasˇic´/M. Spalajkovic´u, 21. septembra 1914, S. 36. 46 F. Sˇ isˇic´ (Anm. 36), S. 23. 47 Slowenen waren im Komitee kaum vertreten und wurden von Frano Supilo nicht als gleichberechtigte Partner innerhalb des Komitees angesehen. Vgl. J. Lampe, Yugoslavia as History. Twice there was a Country, 2003, S. 103 – 104.

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to/Split. Prominente Mitglieder waren der dalmatinische Politiker Frano Supilo, der später aus dem Komitee austrat, und der bekannte Bildhauer Ivan Mesˇtrovic´.48 Die ca. 20 Mitglieder des Komitees waren selbsternannte Vertreter ihrer Sache und repräsentierten keine Parteien oder sonstige offizielle Organisationen. Sie waren Intellektuelle, die „sich aus einer Widerstandshaltung gegen Österreich-Ungarn schon vor 1914 Serbien und dann während des Weltkrieges in der Emigration Jugoslawien zugewandt hatten.“49 Wichtige Zielsetzungen waren die Klärung der Position zwischen den Südslawen und die Idee einer Vereinigung derselben. Die jugoslawische Emigration hatte allerdings anfänglich einen schwierigen Stand. Sie agierte im Schatten der tschechischen Emigration und versuchte vergeblich, von der Entente als Vertretung einer verbündeten Nation akzeptiert zu werden. Ebenso hatten die südslawischen Emigranten Schwierigkeiten, mit der serbischen Exilregierung auf Korfu, die von Pasˇic´ geführt wurde, Verhandlungen aufzunehmen.50 Die serbische Exilregierung war nicht daran interessiert, einen gleichwertigen Partner im Komitee anzuerkennen, gefährdete dieses doch möglicherweise die Aspirationen Serbiens. Somit kam für die Regierung Pasˇic´ eine Annäherung an die Forderungen dieser Gruppe von habsburgischen Emigranten nicht in Frage. Immerhin wollte die serbische Regierung zunächst alle Serben in einem Staat vereinen. Dazu hatte Pasˇic´ zum serbischen Diplomaten Jovan Jovanovic´-Pizˇ on noch in London im Oktober 1915 gemeint: „Serbia wants to liberate and unite the Yugoslavs and does not want to drown in the sea of some kind of Yugoslavia. Serbia does not want to drown in Yugoslavia, but to have Yugoslavia drown in her.“51 Treffender hätte man das Selbstverständnis so mancher Serben aus dem Königreich Serbien mit Blick auf die Verschmelzung mit dem habsburgischen „Südslawien“ nicht ausdrücken können. Ein auf Gleichberechtigung basierender, südslawischer Staat war anfangs keine verbreitete Vorstellung, genau das war aber die Zielsetzung des Komitees.52 Schließlich lag auch ein deutlicher Unterschied in den Vorstellungen über die Staatsform. Die serbische Regierung wollte die Monarchie und das Königshaus beibehalten, das Jugoslawische Komitee setzte sich für die Gründung einer Republik ein.53

48 Trumbic´ hatte bereits im Januar 1913 mit kroatischen Politikern vereinbart, im Falle eines Krieges vom Ausland her für eine Vereinigung der Südslawen zu wirken. Ein Teil dieser Politiker befand sich bei Kriegsausbruch gerade im Ausland, anderen gelang kurz nach Beginn die Flucht ins neutrale Italien. 49 A. Suppan (Anm. 10), S. 53. 50 Der ,Südslawische Ausschuss‘ hatte nach Prunk seine drei wesentlichen Aufgaben, nämlich a) Einfluss auf die jugoslawischen Völker in der Habsburgermonarchie zu gewinnen, b) internationale Anerkennung durch die Entente-Staaten zu erhalten und c) die Londoner Vereinbarungen zu verhindern, nicht erfüllt. Vgl. J. Prunk, Die Gründung des jugoslawischen Staates, in: S. Karner/G. Schöpfer, Als Mitteleuropa zerbricht, 1990, S. 27 – 42. 51 Zit. aus I. Banac (Anm. 8), S. 132. 52 Ebd., S. 117. 53 V. B. Sotorovic´, Creation of the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes 1914 – 1918, 2007, S. 56.

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Während bis zum Sommer 1917 die Positionen zwischen Jugoslawischem Komitee und serbischer Regierung kaum eine Veränderung erfuhren, bewegten sich die innerhalb der Donaumonarchie ansässigen politischen Eliten der Südslawen im Frühling 1917, um Fragen der Nachkriegsordnung zu diskutieren. Der „Jugoslawische Klub“, in dem 37 Abgeordnete der jugoslawischen Völker aus Cisleithanien (Slowenen, Kroaten und zwei Serben aus Dalmatien) vertreten waren, beschloss, auf der ersten Sitzung des seit Juli 1914 suspendierten Reichsrates mit einer eigenen nationalpolitischen Erklärung aufzutreten, um die Bedingungen der Fortsetzung der Zusammenarbeit im politischen Leben der Monarchie festzulegen. Der Klub verlas im Wiener Reichsrat am 30. Mai 1917 unter seinem Vorsitzenden Dr. Anton Korosˇec die Mai-Deklaration, die die Vereinigung des ganzen Gebietes der Monarchie, auf dem Slowenen, Kroaten und Serben lebten, unter dem Zepter der habsburgischen Dynastie in einer selbständigen staatlichen Einheit forderte. Korosˇec erklärte im Reichsrat: „Auf Grundlage des Nationalitätenprinzips sowie des historischen kroatischen Staatsrechtes verlangen wir die Vereinigung aller Länder innerhalb der Monarchie, die von Slowenen, Kroaten oder Serben bewohnt werden, in einer geeinten autonomen politischen Einheit, frei von jeder Fremdherrschaft, auf demokratischer Basis unter dem Zepter der habsburgischen Dynastie.“54

Die Deklaration entstand zu einer Zeit, als andere slawischen Nationen (Tschechen, Polen und Ukrainer) ebenfalls eine Reform der Monarchie – hin zu einer trialistischen oder föderalistischen Form – anstrebten55. Zu Gesprächen zwischen Ante Trumbic´ und Nikola Pasˇic´, also dem Jugoslawischen Komitee und der serbischen Regierung, kam es schließlich im Sommer 1917 auf Korfu. Auf Einladung Pasˇic´’ verhandelte vom 15. Juni bis zum 20. Juli 1917 die serbische Regierung mit dem Südslawischen Komitee, nachdem der Zarismus durch die Februarrevolution gestürzt worden war und somit der wichtigste Verbündete der Serben ausfiel. Nun erkannte Pasˇic´ die Notwendigkeit, sich mit dem Komitee zu arrangieren, da sich seine Position deutlich geschwächt hatte. Trotzdem konnte sich Trumbic´ nicht durchsetzen, zumal die Mehrheit der Mitglieder des Komitees unitaristisch eingestellt war und das zentralistische Konzept von Pasˇic´ befürwortete. Die gemeinsame Deklaration bedeutete den Sieg des serbischen Zentralismus sowie den Aufstieg der Dynastie Karad¯ord¯evic´.56 In der Deklaration von Korfu hieß es, dass zwischen der serbischen Regierung und dem Südslawischen Komitee Grundsätze vereinbart worden seien, um innerhalb geschlossener Siedlungsgebiete des „dreinamigen Volkes“ der Serben, Kroaten und Slowenen in Anwendung des na54 S. Moennesland, Land ohne Wiederkehr. Ex-Jugoslawien, die Wurzeln des Krieges, 1997, S. 200. 55 Nach Prunk stellt die Deklaration eine „wichtige Tat im Kampfe der Slowenen, Kroaten und Serben der Habsburger-Monarchie für ihre nationale Unabhängigkeit und Vereinigung mit andren Südslawen dar“. Vgl. J. Prunk (Anm. 50), S. 37. 56 J. Prunk (Anm. 50), S. 34.

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tionalen Selbstbestimmungsrechts ein Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen zu errichten. Die Verfassung des künftigen Staates sollte durch eine zahlenmäßig qualifizierte Mehrheit in der verfassunggebenden Versammlung verabschiedet werden. Es wurde jedoch nicht präzisiert, was unter einer zahlenmäßig qualifizierten Mehrheit zu verstehen sei.57 Pasˇic´ widersetzte sich zudem dem von Trumbic´ vorgeschlagenen Namen „Südslawien“ (Jugoslavija), da er auf den Serbenbegriff im Staatsnamen nicht verzichten wollte. Das später dringendste Problem – zentralistischer oder föderalistischer Staatsaufbau – blieb auf Korfu ungelöst. Es deutet einiges darauf hin, dass Pasˇic´ die Deklaration als nicht sehr verbindlich ansah, während Trumbic´ in ihr die „Magna Charta der jugoslawischen Vereinigung“ erblickte.58 Die Dominanz der Serben über die anderen Südslawen im späteren Königreich SHS widerspiegelte sich schon damals im Verhältnis zwischen Pasˇic´ und dem Südslawischen Komitee. In Kroatien nahm man die Deklaration nicht mit Begeisterung auf. Allgemein herrschte die Ansicht, dass Kroatien zuerst als selbständiger Staat hergestellt werden müsste und erst danach auf gleichberechtigter Basis mit den Serben verhandelt werden könne. Die Deklaration von Korfu hatte allerdings auch direkte Folgen für die kriegführenden Parteien, die gegen die Mittelmächte kämpften. Der italienische Außenminister Sidney Sonnino empfing Pasˇic´ im September 1917 in Rom.59 Die Deklaration von Korfu stand im krassen Gegensatz zu den italienischen Kriegszielen, weswegen der serbische Regierungschef versuchte, einen Kompromiss zwischen den südslawischen und italienischen Territorialvorstellungen zu finden. Dies erwies sich allerdings als unmöglich, da der italienische Außenminister keinesfalls von seiner Position abrücken wollte.60 Damit war eine Verständigung zwischen Italien und Serbien zunächst vom Tisch, was die gemeinsamen Kriegsanstrengungen lähmte und in Italien innenpolitische Probleme verursachte.61 Gleichzeitig versuchte Italien in den letzten Monaten des Jahres 1917 und Anfang 1918 eine vorteilhafte Einigung mit Serbien zu erzielen. Hintergrund waren der US-amerikanische Kriegseintritt und die 14 Punkte von Präsident Woodrow Wilson, die seine Sympathie für die Völker der Habsburgermonarchie zum Ausdruck brachten. Sonnino drängte Pasˇic´ zur Unterzeichnung eines Dokumentes, das die gemischte Beschaffenheit der Bevölkerung an der östlichen Adria bestätigte und die italienischen Forderungen nach einem erfolg57

H. Sundhaussen, Geschichte Jugoslawiens 1918 – 1980, 1982, S. 36 f. Ebd. 59 DDI, Quinta Serie, IX, Il ministro degli esteri, Sonnino, agli ambasciatori a Parigi, Salvago Raggi, a Pietrogrado, Carlotti, e all’incaricato d’affari a Londra, Borghese, 10 settembre 1917, 20 – 22. 60 V. Pavlovic´ (Anm. 33), S. 1033. 61 Die Deklaration von Korfu beflügelte die pazifistischen und neutralistischen Strömungen im italienischen Parlament, was ein Hauptgrund war, warum von italienischer Regierungsseite kein Kompromiss mit den südslawischen Vorstellungen gefunden werden konnte. Auch hierzu führte Sonnino in Detail aus. Siehe: DDI, Quinta Serie, IX, Il ministro degli esteri, Sonnino, agli ambasciatori a Parigi, Salvago Raggi, a Pietrogrado, Carlotti, e all’incaricato d’affari a Londra, Borghese, 10 settembre 1917, S. 20 ff. 58

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reichen Krieg untermauerte. Pasˇic´ verstand das italienische Kalkül und beabsichtigte lediglich, eine gemeinsame Erklärung über das herzliche Einverständnis der beiden Kriegsparteien zu unterzeichnen.62 Die Frage blieb somit offen und verhieß nichts Gutes für die Verhandlungen nach dem Krieg. Im Laufe des Sommers 1918 wurde die Niederlage Österreich-Ungarns im Krieg immer deutlicher absehbar. Mehr und mehr regten sich die Vertreter der Völker der Monarchie und verlangten ein Selbstbestimmungsrecht. So taten dies auch einige Vertreter der Südslawen der Habsburgermonarchie. Der Nationalrat der Slowenen, Kroaten und Serben (Narodno vijec´e Slovenaca, Hrvata i Srba) wurde am 5./6. Oktober 1918 in Zagreb als deren politische Vertretung gegründet. Dieser bestand aus 73 südslawisch ausgerichteten österreichischen Reichsrats-, und Landtags- sowie ungarischen Reichstagsabgeordneten, deren Wunsch es war, „[…] die Vereinigung aller Slowenen, Kroaten und Serben in einem nationalen, freien und unabhängigen Staat der Slowenen, Kroaten und Serben auf der Basis demokratischer Prinzipien […]“ zu realisieren.63 Im Präsidium dieses Nationalrats saßen der „Slowene“ Anton Korosˇec als Präsident, der „Serbe“ Svetozar Pribic´evic´ und der „Kroate“ Ante Pavelic´ (nicht identisch mit dem gleichnamigen späteren Ustasˇa-Führer!) als Vizepräsidenten. Der Nationalrat existierte bis Ende Oktober 1918 parallel zum kroatischen Landtag (Sabor) und zur kroatischen Landesregierung mit Banus Anton Mihalovich an der Spitze. Damit verfügten die Südslawen der Donaumonarchie gegen Kriegsende über zwei „nationale“ Vertretungen: den Nationalrat in Zagreb einerseits und das Komitee in London andererseits. Der Nationalrat beanspruchte für sich das alleinige Recht, die habsburgischen Südslawen zu vertreten, er stand also in einer gewissen Konkurrenz zum Südslawischen Komitee. Im Manifest von Kaiser Karl gab die Regierung in Wien am 16. Oktober 1918 die Zustimmung, das Reich als Föderation mit autonomen Teilen zu organisieren.64 Dies galt jedoch nur für den cisleithanischen Teil der Monarchie, da aufgrund des dualistischen Systems der Kaiser auf die ungarische Reichshälfte keinen Einfluss hatte. Der Zagreber Nationalrat lehnte deshalb das Völkermanifest ab und forderte einen einheitlichen südslawischen Nationalstaat, ohne Berücksichtigung der dualistischen Struktur 62

V. Pavlovic´ (Anm. 33), S. 1034 f.; hierzu auch: DDI, Quinta Serie, X, doc. 83, Il ministro degli esteri, Sonnino, agli ambasciatori a Londra, Imperiali, e a Parigi, Bonin, 14 gennaio 1918, 58 f.; idem, doc. 156, Il ministro degli esteri, Sonnino, al ministro presso il governo serbo a Corfù, Sforza, 27 gennaio 1928, S. 115; idem, doc. 198, Il ministro presso il governo serbo a Corfù, Sforza, al ministro degli esteri, Sonnino, 8 febbraio 1918, S. 180. 63 „Zusammensetzung und Statut des Nationalrats der Slowenen, Kroaten und Serben“, Dokument abgedruckt in: F. Sˇ isˇic´ (Anm. 36), S. 171 – 176. 64 An meine getreuen österreichischen Völker!, in: Extra-Ausgabe der Wiener Zeitung Nr. 240 (17. 10. 1918); H. Rumpler, Das Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918. Letzter Versuch zur Rettung des Habsburgerreiches, 1966; E. Kovács, Untergang oder Rettung der Donaumonarchie? Die österreichische Frage. Kaiser und König Karl I. (IV.) und die Neuordnung Mitteleuropas 1916 – 1922, Bd. 1, 2004; M. Rauchensteiner, „Das neue Jahr machte bei uns einen traurigen Einzug“. Das Ende des Großen Krieges, in: H. Konrad/ W. Maderthaner, … der Rest ist Österreich (Das Werden der Ersten Republik I), 2008, S. 21 – 44.

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des Reiches. Zwei Tage später, am 18. Oktober 1918, erklärte Präsident Wilson, die unterdrückten Völker Österreich-Ungarns in ihren Bestrebungen nach Unabhängigkeit zu unterstützen. Am 19. Oktober verkündete der Nationalrat die Vereinigung der Slowenen, Kroaten und Serben und verlangte an den Friedensverhandlungen teilzunehmen.65 Nachdem am 28. Oktober 1918 Österreich-Ungarn um einen Waffenstillstand mit der Entente ersucht hatte, beschloss tags darauf der kroatische Sabor, also das Parlament, die Loslösung vom österreichisch-ungarischen Staatsverband und übertrug dem Nationalrat die oberste vollziehende Gewalt.66 Der Rat erklärte Kroatien zum souveränen Staat und beschloss, dem Staat der Slowenen, Kroaten und Serben beizutreten. Somit hatten die Südslawen noch vor den Tschechen und Slowaken auf den Trümmern der Habsburgermonarchie ihr eigenes Gemeinwesen errichtet. Am 31. Oktober 1918 erklärte sich dieser neue Staat bereit, mit Serbien und Montenegro Verhandlungen aufzunehmen und sandte eine offizielle Note an die Regierungen der Alliierten, um den Wunsch nach Vereinigung mit Serbien kundzutun und zu erklären, dass er sich nicht als im Krieg mit diesen erachtete. Darüber hinaus habe der Nationalrat die Häfen und die Marine Österreich-Ungarns unter seine Kontrolle gebracht.67 Einen Tag zuvor hatte die serbische Armee Belgrad erreicht und setzte ihren Vormarsch entlang der Donau über die Vojvodina auf die ehemaligen habsburgischen Gebiete fort. Am 6. November zogen serbische Truppen in Sarajewo ein, wenig später besetzten sie Mostar, Cetinje, Subotica und Sombor.68 Die Vertretungen der Südslawen, sei es in Zagreb, sei es in Belgrad, versuchten Nägel mit Köpfen zu machen und die Alliierten von ihren Forderungen zu überzeugen. Noch immer war der Konflikt mit Italien nicht gelöst und noch immer war unklar, welche territorialen Konstellationen aus den Trümmern der Habsburgermonarchie hervortreten würden. Die Entente stellte sich in dieser Frage allerdings uneingeschränkt hinter Italien. Sowohl London als auch Paris signalisierten, dass Italien die Bestimmungen des Waffenstillstandes mit Österreich-Ungarn umsetzen würde. Konkret bedeutete dies, dass sich italienische Schiffe und Militäreinheiten an die östliche Adria begaben und weite Teile ehemals österreichisch-ungarischen Territoriums besetzten.69 Sie übernahmen somit die Kontrolle über diese Gebiete und die militärische Infrastruktur vom Nationalrat, der die Kontrolle wenige Tage zuvor durchgesetzt hatte und hatten bis 19. November sämtliche Gebiete (und mehr) in Besitz genommen, die der Vertrag von London Italien zusprach.70 Damit hatte Italien in dieser heiklen Frage die Ober65

B. Krizman, Raspad Austro-Ugarske i stvaranje jugoslavenske drzˇ ave, 1977, S. 59 f. Der slowenische Nationalrat hatte bereits einen Tag zuvor, am 28. 10. 1918, den Austritt aus der Habsburgermonarchie erklärt; am 30. 10. 1918 verkündete der bosnische Nationalrat den Anschluss an Serbien. Vgl. W. Markert, Jugoslawien, 1954, S. 70. 67 F. Sˇ isˇic´ (Anm. 36), Nota drzˇave Slovenaca, Hrvata i Srba Ententi, 31. oktobra 1918, S. 216 f. 68 D. T. Batakovic´ (Anm. 14), S. 33 f. 69 V. Pavlovic´ (Anm. 33), S. 1040 f. 70 L. Monzali, La politica italiana nel primo dopoguerra 1918 – 1922, in: Italia Contemporanea 256 – 257, 2009, S. 379 – 406, hier: S. 383 f. 66

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hand behalten und konnte mit der Besetzung bis zu einem gewissen Grad ein fait accompli erreichen und so in einer besseren Lage in die Friedensverhandlungen eintreten. In der Zwischenzeit mussten sich die Vertretungen der Südslawen auch um ihre internen Probleme kümmern. Um die Kompetenzfragen zwischen den beiden Vertretungen der habsburgischen Südslawen (Zagreb und London) und der inzwischen seit dem 4. November 1918 wieder in Belgrad residierenden serbischen Regierung zu klären, trafen sich Korosˇec, Trumbic´ und Pasˇic´ vom 6. bis 9. November 1918 in Genf, um die anstehenden Verfassungsfragen zu besprechen, die auf Korfu noch nicht angegangen worden waren. Trumbic´’ Südslawisches Komitee sollte als Auslandsvertretung des Nationalrates fungieren. In der „Genfer Deklaration“ wurde auf Druck Frankreichs beschlossen, in absehbarer Zukunft das auf Korfu geplante Königreich SHS zu schaffen. In Genf setzte Korosˇec die Anerkennung des Nationalrates seitens der serbischen Regierung durch und einigte sich mit Pasˇic´ auf die Einsetzung einer gemeinsamen zwölfköpfigen Regierung. Bis zur Entscheidung einer Verfassunggebenden Nationalversammlung über die künftige Staatsform sollten Serbien und der Staat des Zagreber Nationalrates in der bisherigen Form weiterbestehen.71 Pasˇic´ stimmte nur widerwillig der Deklaration zu, ebenso waren die meisten Mitglieder der serbischen Regierung und Prinzregent Alexander gegen die Vereinbarung. Die Genfer Deklaration war lediglich eine Übergangslösung, solange noch keine konstituierende Versammlung bestehen würde. Schließlich setzte sich im Laufe des Novembers im Nationalrat die Ansicht durch, dass nur die serbische Armee in der Lage sein würde, die südslawischen Interessen zu verteidigen, zumal die Serben von der Entente als Mitsieger betrachtet wurden, während die Slowenen und Kroaten eindeutig zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs gehörten.72 Im Nationalrat zeichnete sich im Laufe des Novembers eine deutliche Polarisierung ab: Während die Volkspartei von Korosˇec und die Kroatische Bauernpartei unter Stjepan Radic´ für eine föderalistische Staatsform kämpften, wollte die Kroatisch-Serbische Koalition von Svetozar Pribic´evic´ eine rasche Einigung mit Belgrad im Rahmen eines zentralistischen Königreichs erreichen. Am 24. November 1918 beschloss der Ausschuss des Nationalrats unter Druck von außen und innen die sofortige Vereinigung der einst zum Habsburgerreich gehörigen südslawischen Gebieten mit dem Königreich Serbien.73 Am 27. November kam eine Delegation des Nationalrates nach Belgrad, um 71

P. Bartl, Grundzüge der jugoslawischen Geschichte, 1985, S. 80. „Nicht zuletzt das militärische Vorrücken Italiens im November 1918 nach Triest, Istrien, Fiume und Dalmatien zwang Kroaten und Slowenen zur raschen Verbindung mit den siegreichen Serben in einem gemeinsamen Staat, der freilich zu einem multinationalen Königreich unter serbischer Hegemonie ausgestaltet wurde“. Vgl. N. Budak u. a., Kroatien. Landeskunde – Geschichte – Kultur – Politik – Wirtschaft – Recht, 1995, S. 251 – 287, hier: 257. 73 Als einziger stimmte Radic´ gegen die Entsendung einer Delegation nach Belgrad und damit gegen die Vereinigung mit Serbien. In seiner anlässlich dieser Diskussion gehaltenen 72

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über einen Zusammenschluss mit Serbien zu verhandeln. Allerdings gehörte dieser Delegation, die von Pribic´evic´ gebildet wurde, weder der bedeutendste slowenische noch der bedeutendste kroatische Politiker an: Korosˇec kam erst am 2. Dezember aus dem Ausland nach Ljubljana (dt. Laibach) zurück, Stjepan Radic´, der Führer der Kroatischen Bauernpartei, war bei der Abstimmung im Nationalrat am 24. November in der Minderheit geblieben und lehnte die Teilnahme an der Delegation ab.74 Pribic´evic´ gelang es hingegen, eine 28-köpfige Delegation des Nationalrates zu bilden und sich nach Belgrad zu begeben. Am 1. Dezember 1918 verlas der Vizepräsident des Nationalrates Ante Pavelic´ die Adresse an den Prinzregenten Alexander. Damit übertrug der Nationalrat die Regierungsmacht über das gesamte Territorium des Staates der Slowenen, Kroaten und Serben auf König Peter bzw. den Prinzregenten. Alexander nahm die Erklärung an und verkündete die Vereinigung des Königreichs Serbien mit dem Staat der Slowenen, Kroaten und Serben.75 Das Königreich SHS war somit geboren, allerdings blieben viele Fragen über die zukünftige Ordnung nach wie vor unbeantwortet.

Rede ist die Richtung jener Politik schon vorgezeichnet, die die Kroatische Bauernpartei bis zum Untergang des alten Jugoslawiens verfolgte. Radic´ sprach den Politikern im Nationalrat das Recht ab, eine so folgenschwere Entscheidung zu treffen, ohne den Willen des Volkes dabei zu berücksichtigen. „Das Volk und besonders die Bauern, die vor dem Krieg politisch geschlafen hätten, seien jetzt erwacht und lehnten die Politik der Herren, also den Militarismus, den Kapitalismus, den Bürokratismus und den Klerikalismus ab.“ Vgl. A. Moritsch, Die Bauernparteien bei den Serben, Kroaten und Slowenen, in: H. Gollwitzer (Hrsg.), Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert, 1977, S. 359 – 402, hier: S. 377. 74 In einer Rede am 24. 11. 1918 warnte Radic´ vor einem einheitlichen Königreich unter der Dynastie Karadjordjevic´ : „Meine Herren, Ihr Mund ist voll mit Phrasen wie ,narodno jedinstvo, ein vereinigter Staat, ein Königreich unter der Karadjordjevic´ Dynastie‘. Und Ihr meint, dass es genug ist zu sagen, wir Kroaten, Slowenen und Serben sind ein Volk, nur weil wir eine Sprache sprechen, und dass wir daher einen einheitlichen, zentralistischen Staat, und zwar ein Königreich, habe müssen, und dass nur die sprachliche und staatliche Einheit uns glücklich machen kann … .Meine Herren, Ihr kümmert Euch nicht im geringsten darum, dass unser Bauer, vor allem unser kroatischer Bauer weder von König und Kaiser, noch von einem ihm aufgezwungenen Staat nichts hören will … Ihr denkt, dass Ihr die Leute einschüchtern könnt (mit der italienischen Bedrohung) und dass Ihr so die Leute für eure Politik gewinnen werdet. Vielleicht werdet Ihr die Slowenen gewinnen, Ich weiss es nicht. Möglicherweise werdet ihr auch die Serben gewinnen. Aber ich bin sicher, dass ihr niemals die Kroaten gewinnen werdet …, weil das ganze kroatische Volk ebenso gegen Euren Zentralismus wie gegen Militarismus, ebenso für eine Republik wie für die nationale Verständigung mit den Serben ist. Und solltet Ihr versuchen, uns Euren Zentralismus aufzuzwingen, wird das passieren. Wir Kroaten werden offen und klar sagen: Falls die Serben wirklich solch einen zentralistischen Staat und eine zentralistische Regierung haben wollen, Gott möge mit ihnen sein, aber wir Kroaten wollen keine andere staatliche Organisation als die einer föderativen Republik.“ Zitiert und übersetzt aus: I. Banac (Anm. 8), S. 226. 75 A. Suppan (Anm. 10), S. 55.

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V. Conclusio: Das Erbe des Krieges und die erste Verfassung Obschon mit der Deklaration vom Dezember 1918 zum ersten Mal ein gemeinsames Königreich aller Südslawen – mit Ausnahme der Bulgaren –, entstanden war, stellten sich diesem neuen Staat etliche schwerwiegende Fragen. Immerhin hatte sich dieser aus äußerst unterschiedlichen Entitäten gebildet, und es fehlte eine Verfassung und bis zu den Friedensschlüssen von Paris blieben auch territoriale Ansprüche ungeklärt. Ebenso schwer wog die Frage, wie man auf verschiedener Ebene zur institutionellen Vereinigung von ehemals habsburgischen und serbischen Gebieten schreiten sollte. In der Zeit von der Proklamierung des Königreichs SHS bis zur Verabschiedung der „Vidovdan-Verfassung“ vom 28. Juni 1921 wurde die oberste Gewalt vom König, von der zentralen Regierung und von der Provisorischen Volksvertretung ausgeübt. Als dann die erste Regierung am 16. Dezember 1918 gebildet wurde, war klar, dass an ihrer Spitze Pasˇic´ stehen würde, der seit 1880 die serbischen Geschicke entscheidend mitbestimmt hatte und bereits seit 1912 als serbischer Ministerpräsident im Amt war.76 Da aber Pasˇic´ seine großserbischen Ambitionen nie kaschierte, wollte und konnte er nicht mit Trumbic´ und Korosˇec zusammenarbeiten, die maßgeblich an der Bildung des neuen Staates beteiligt gewesen waren und die man aus diesem Grunde unmöglich übergehen konnte. Regent Alexander hatte ohnehin – wie es offiziell hieß – das Vertrauen zu Pasˇic´ verloren und er übergab deshalb die Führung der ersten jugoslawischen Regierung einem anderen Spitzenvertreter der serbischen Radikalen Partei: Stojan Protic´. Stellvertretender Ministerpräsident wurde Anton Korosˇec, Führer der klerikalen Slowenischen Volkspartei, zum Außenminister wurde Trumbic´ ernannt, den Posten des Innenministers bekam Svetozar Pribic´evic´. Somit waren die wichtigsten Persönlichkeiten des Südslawischen Komitees und des Zagreber Nationalrates in der ersten Regierung vertreten. Am 24. Dezember 1918 trat die Provisorische Nationalversammlung zusammen, die die Wahlen zur Konstituante vorbereiten sollte.77 Das Königreich SHS verfolgte bei der Friedenskonferenz von Paris die Befriedigung aller Wünsche von Mitgliedern der jeweiligen nationalen Entitäten78 – immerhin hatten zuvor slowenische und kroatische Vertreter einen Gesamtstaat unter der serbischen Karad¯ord¯evic´-Dynastie akzeptiert, weil sie sich damit mehr Chancen auf Selbstbestimmung ausrechneten. Das Königreich SHS schaffte es, Bosnien-Herzegowina in seinem Staatsgebiet zu integrieren. Gegenüber Ungarn erreichte Belgrad die Abtretung der Bacˇ ka, Baranja, des Banat, Prekmurjes und Kroatien-Slawoniens. 76 Pasˇic´ war überdies der einzige Staatsmann Europas, der während des ganzen Weltkrieges ununterbrochen die Regierungsgeschäfte geleitet hatte. 77 Das Parlament setzte sich aus 84 Abgeordneten aus Serbien, 66 aus Kroatien (inklusive Istrien, Fiume und Med¯umurje), 42 aus Bosnien und der Herzegowina, 32 aus Slowenien, je 24 aus der Vojvodina und Makedonien und je 12 aus Dalmatien und Montenegro zusammen. Vgl. A. Suppan (Anm. 10), S. 57. 78 Siehe: B. Krizman, Vanjska politika jugoslavenske drzˇ ave 1918 – 1941, 1975; A. Mitrovic´, Jugoslavija na konferenciji mira 1919 – 1920, 1969.

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Bei den Gebieten der österreichischen Reichshälfte gestaltete sich die Grenzziehung deutlich komplizierter. In der Untersteiermark kam es zu Übergriffen der neuen Herrscher, in Kärnten schaukelte sich die neue Situation in einer militärischen Auseinandersetzung auf, dem sogenannten Kärntner Abwehrkampf, weswegen ein Plebiszit über die Zukunft der umstrittenen Gebiete entscheiden sollte. An der Adria war die Situation noch festgefahrener: Der stärkste Widersacher Belgrads war ein Mitstreiter aus dem Krieg, das Königreich Italien. Die italienische Diplomatie war zwischen verschiedenen politischen Strömungen, die entweder Fiume (Rijeka) bzw. Dalmatien als wichtiger erachteten oder aber die Konkurrenz aus dem Osten ausschalten wollten, hin- und hergerissen.79 Sowohl Rom als auch Belgrad beanspruchten somit ganz Dalmatien und Istrien, wobei Italien von seinen Kriegszielen abwich und zusätzlich zu den im Pakt von London geschlossenen Abmachungen die Stadt Fiume verlangte.80 Immerhin waren die diplomatischen Beziehungen zwischen Rom und Belgrad zu dieser Zeit derart angespannt, dass Italien zunächst die Annexion Montenegros als illegal bezeichnete und verurteilte, das Königreich SHS nicht anerkannte und separatistische Bestrebungen innerhalb des jungen Staates unterstützte.81 Darüber hinaus hatte Italien einen Plan für die Friedensgespräche entwickelt, der die strategischen Gesichtspunkte für die Neuordnung Europas in den Vordergrund stellte und mit dem Gedanken spielte, das Land möglichst in den Balkanraum auszuweiten, um der Gefahr einer neuen, die Habsburgermonarchie ersetzenden südslawischen Hegemonie entgegenzutreten.82 Der Streit zwischen Italien und dem Königreich SHS sowie die starre italienische Einstellung während der Verhandlungen führten schließlich zur Isolation Roms im Kreise der Entente-Mächte. Die USA unterstützten zudem die südslawische Causa und sahen sich als Nicht-Unterzeichner des Londoner Paktes auch nicht an dessen Klauseln gebunden. Woodrow Wilson strebte eine Lösung nach ethnischen Gesichtspunkten an und versuchte, die Grenze dementsprechend zu definieren.83 Paris und London zeigten sich gegen-

79 Hier ist insbesondere der Zwist zwischen dem italienischen Premierminister, Vittorio Emanuele Orlando, und seinem Außenminister, Sidney Sonnino, zu erwähnen. Während Orlando für eine Annexion Fiumes plädierte, optierte Sonnino eher für strategische Gesichtspunkte und die Einverleibung Dalmatiens. Siehe: C. J. Lowe/F. Marzari, Italian foreign Policy 1870 – 1940, 2002, S. 161 f.; O. Malagodi, Conversazioni della guerra 1914 – 1919, vol. I, Da Sarajevo a Caporetto, 1960, S. LXXIII f. 80 I. J. Lederer, La Jugoslavia dalla conferenza della pace al trattato di Rapallo 1919 – 1920, 1966, S. 143 ff.; M. Bucarelli, Mussolini e la Jugoslavia (1922 – 1939), 2006, S. 7. 81 L. Monzali, Il sogno dell’egemonia. L’Italia, la questione jugoslava e l’Europa centrale (1918 – 1941), 2010, S. 16. 82 F. Caccamo, L’Italia e la „Nuova Europa“. Il confornto sull’Europa orientale alla conferenza di pace di Parigi (1919 – 1920), 2000, S. 90 ff. 83 Diese Haltung führte auch zum entrüsteten Abgang der italienischen Delegation aus Paris im Mai 1919, was die Front gegen Roms Ansprüche nur stärkte. Siehe: O. Malagodi, Conversazioni della Guerra 1914 – 1919, vol. II; Dal Piave a Versailles, 1960, S. 469 ff.; C. Seton-Watson, Italy from Liberalism to Fascism 1870 – 1925, 1967, S. 530 ff.

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über der italienischen Haltung zunehmend ungeduldig und begrüßten durchaus die Entstehung eines starken südslawischen Staates als Gegengewicht zu Italien.84 Der italienische Ministerpräsident Francesco Saverio Nitti, der nur ein halbes Jahr zuvor sein Amt angetreten hatte, versuchte im Januar 1920 auf Druck aus Paris und London, die Wogen mit einem Kompromissvorschlag an der Adria zu glätten. Nach seinen Vorstellungen sollten Fiume und Zara (Zadar) Freistaaten, Dalmatien Teil des Königreichs SHS werden und Istrien zu Italien kommen. Zudem sah der Vorschlag eine Demilitarisierung der dalmatinischen Inseln vor. Auf Drängen verschiedener Regionalvertreter torpedierte Belgrad allerdings den letzten Punkt. Die südslawische Delegation sah sich schließlich großem Druck der verschiedenen national gesinnten Kreise aus Serbien, Kroatien und Slowenien ausgesetzt.85 Dies stellte den letzten Versuch dar, während der Friedensverhandlungen von Paris zu einer Lösung der italienisch-südslawischen Probleme zu gelangen. Danach wurde die adriatische Frage an die beiden beteiligten Länder zurückgegeben und einer bilateralen Lösungsfindung unterworfen. Dass überraschenderweise relativ rasch ein Kompromiss gefunden werden konnte, war in erster Linie innenpolitischen Gründen geschuldet. Die neue italienische Regierung unter dem alten liberalen Führer Giovanni Giolitti streckte die Hand aus, um dem Nachbarstaat einen für beide Seiten gangbaren Vorschlag zu unterbreiten. Italien hatte im Frühling 1920 seine Ansprüche auf Albanien zurückgezogen, was bereits eine Entspannung bedeutete.86 Während der Konferenz von Spa im Juli konnten die Delegationen der beiden Staaten bereits erste Annäherungsversuche starten und weitere bilaterale Gespräche vorbereiten.87 Schließlich legte die Regierung Giolitti den Kompromissvorschlag für Dalmatien vor, der nun nur noch die Stadt Zara und einige Inseln für Italien vorsah, während für Fiume der Status eines unabhängigen Freistaates beibehalten wurde.88 In Belgrad konnte der Vorschlag zu jenem Zeitpunkt als akzeptabel betrachtet werden. Die serbischen Entscheidungsträger hatten nunmehr die Macht im jungen Staat mehrheitlich an sich gerissen und konnten die slowenischen und kroatischen Ansprüche hintanhalten.89 Außerdem hatte die slowenische Politik mit dem Plebiszit in Unterkärnten vom 10. Oktober 1920 eine Niederlage erlitten.90 Der am 12. November 1920 unterschriebene Vertrag von Rapallo teilte die Gebiete wie folgt auf: Belgrad erhielt für den Verzicht auf einige Territorien im ostadriatischen Raum die Anerkennung seines Staates durch 84 C. J. Lowe–F. Marzari (Anm. 79), S. 167 f., S. 529, O. Malagodi (Anm. 79), S. LXXV ff. 85 M. Bucarelli (Anm. 80), S. 10; siehe auch: L. Bertucelli/M. Orlic´ (Hrsg.), Una storia balcanica. Fascismo, comunismo e nazionalismo nella Jugoslavia del Novecento, 2008, S. 55 f. 86 D. Gashi/I. Steiner, Albanien. Archaisch, orientalisch, europäisch, 1997, S. 144 f. 87 C. Seton-Watson (Anm. 83), S. 578 ff. 88 M. Bucarelli (Anm. 80), S. 11 f.; L. Bertucelli/M. Orlic´ (Anm. 85), S. 58. 89 L. Monzali (Anm. 81), S. 23 f. 90 A. Suppan, Hitler – Benesˇ – Tito. Konflikt, Krieg und Völkermord in Ostmittel- und Südosteuropa, 3 Bände, 2014, S. 538 ff.

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Rom und somit auch die Zurückdrängung vieler interner irredentistischer Kräfte, die auf italienische Unterstützung zählten. Der Vertrag sah vor, aus Zara eine italienische Stadt und aus Fiume einen Freistaat zu machen. Italien sicherte sich zudem eine strategisch günstige Position durch die Annexion der Inseln Cherso/Cres, Lussino/Losˇinj, Lagosta/Lastovo und Pelagosa/Palagruzˇ a. Italien erbte somit insgesamt Gebiete von der Habsburgermonarchie, die von rund 400.000 Slowenen und 100.000 Kroaten bewohnt waren.91 Damit verschärfte sich der Gegensatz zwischen Slowenen und Kroaten auf der einen Seite und Serben auf der anderen. Der südslawische Staat hatte sich eindeutig zu Ungunsten der ersten beiden Bevölkerungsgruppen entwickelt. Die Wahlen zur Konstituante des Königreichs SHS wurden schließlich am 28. November 1920 abgehalten.92 Die Kroatische Bauernpartei, die nur in Kroatien und Slawonien kandidierte, erreichte die absolute Mehrheit der kroatischen Stimmen und war nach Mandaten die viertstärkste Partei im Staat. Als stärkste Partei ging die serbische Demokratische Partei (Demokratska stranka) mit 92 Mandaten hervor, gefolgt von der ebenfalls serbischen Radikalen Partei (Radikalna stranka) mit 91 Mandaten. Auf dem dritten Platz landete die supranationale Kommunistische Partei (Komunisticˇ ka stranka) mit 58 Mandaten, die jedoch kurz darauf in die Illegalität abgedrängt wurde.93 Da die Kroatische Bauernpartei den Staat in dieser Form nicht anerkennen wollte, entschloss sie sich, der Konstituante fernzubleiben und berief ihre 50 Abgeordneten als „Kroatische Volksvertretung“ nach Zagreb ein. Die Obstruktionspolitik der Kroatischen Bauernpartei, die sich kurz nach den Wahlen in Kroatische Republikanische Bauernpartei (Hrvatska republikanska seljacˇ ka stranka, abgekürzt: HRSS) umbenannte, hatte zur Folge, dass im Verfassungsausschuss, der kurz darauf gebildet wurde, die Zentralisten mit 22 von 42 Stimmen eine knappe Mehrheit hatten. Bei der Abstimmung über die Verfassung am 28. Juni 1921 stimmten von den 419 Mitgliedern des Parlaments 223 für den Entwurf, 161 waren der Abstimmung ferngeblieben und 35 hatten dagegen gestimmt. Mit nur 27 Stimmen Anwesenheitsmehrheit wurde somit die zentralistische Vidovdan-Verfassung Gesetz. Gemäß der Verfassung war das Königreich SHS eine konstitutionelle Monarchie mit Serbokroatisch und Slowenisch als Amtssprachen. Insgesamt hatte somit die serbische Politik (von Nikola Pasˇic´) auf der ganzen Linie Recht bekommen. Die Entwicklungen und Divergenzen, die sich seit Ausbruch des Ersten Weltkrieges zwischen Föderalisten und Zentralisten, Monarchisten und Republikanern, vereinfacht gesprochen, zwischen Belgrad und Zagreb, abgezeichnet hatten, wurden mit einer klaren Ausrichtung auf die serbischen Wünsche beantwortet. Hierin lag allerdings auch die Keimzelle 91

B. Krizman (Anm. 78), S. 22 ff., S. 147 ff.; A. Becherelli, Italia e Stato Indipendente Croato (1941 – 1943), 2012, S. 15. 92 Die Wahlbeteiligung war in Serbien mit 56,33 % am niedrigsten, in Slowenien mit 73,5 % am höchsten. Vgl. A. Suppan (Anm. 10), S. 57. 93 Vgl. A. Moritsch (Anm. 73), S. 380.

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für die Entwicklung eines dysfunktionalen Königreiches in der Zwischenkriegszeit, das unweigerlich Ende der 1920er Jahre, von Krisen gebeutelt, in eine Königsdiktatur schlitterte und schließlich im Frühjahr 1941 durch Hitler und dessen Verbündete zerschlagen werden sollte. * Abstract Michael Portmann and Karlo Ruzicic-Kessler: The First World War and the Creation of the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes, 1914 – 1921 (Der Erste Weltkrieg und die Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, 1914 – 1921), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 2 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 2), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 169 – 190. This article focuses on the history of the creation of the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes during and after the First World War. The creation of this new kingdom was maybe one of the most complex outcomes of the destruction of the Habsburg monarchy. This was due to the different actors involved in this process that had partly widely diverging agendas. There were the kingdoms of Serbia and Montenegro, which emerged on the side of the war winners from the First World War and provided for the military liberation of the country in the autumn of 1918. Serbia saw itself as the center of a southern Slavic successor to the Habsburg monarchy. Already in the summer of 1914, the Serbian government stated that the Yugoslav question had to be solved by uniting all the southern Slavs, with the exception of the Bulgarians, with the center in Belgrade. After all, Serbia saw itself as a pioneer in the liberation from Ottoman rule in the 19th century. An important role was also played by the South Slavic politicians within the Habsburg Monarchy, who advocated the emergence of a separate state towards the end of the First World War, as well as the political emigration from the Yugoslav countries of the Habsburg monarchy, which had been united since May 1915 in the Yugoslav Committee based in London. Finally, the Italian diplomacy in connection with the Balkans and the conflict between the war aims of Serbia and Italy following the signing of the London Agreement of April 1915, which sanctioned the Italian entry into the war, was another crucial factor in this complex state-creation process. This article examines the steps that led to the creation of the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes, the main actors and their motivations from the outbreak of World War I to the founding of the kingdom itself. In addition, an insight into the immediate post-war history is offered to shed light on how much this history was shaped by the events of the years 1914 – 1918 and with which serious challenges the young kingdom was confronted.

Ungarn und der Frieden von Trianon Auch ein Beitrag zum Fortbestand oder Untergang von Staaten Von Gilbert H. Gornig I. Allgemein zum Staatsuntergang 1. Fortbestand und Untergang von Staaten a) Im Völkerrecht Auf europäischem Boden sind in den letzten Jahrhunderten zahlreiche Staaten untergegangen, so Schottland, Polen, das Heilige Römische Reich deutscher Nation, Venedig, der Kirchenstaat, das Königreich beider Sizilien, Genua, Mailand, Toskana, Parma, Modena, Lucca, Montenegro, Königreich Westfalen, Hannover, Kurhessen, Nassau, Frankfurt, Preußen, die Tschechoslowakei, die Sowjetunion, Jugoslawien und vielleicht auch Österreich-Ungarn. Der Untergang eines Staates kann endgültig sein, der Staat kann aber auch wieder auferstehen, nach kurzer Zeit1, aber auch nach langer Zeit2. Wie das Entstehen eines Staates knüpft auch der Untergang eines Staates an die Drei-Elemente-Lehre3 an, die den Begriff des Staates definiert.4 Danach beendet ein 1

Österreich 1945, nachdem es 1938 als Völkerrechtssubjekt verschwunden war. Polen 1919, nachdem es 1795 bzw. 1814 untergegangen war. Vgl. dazu auch A. A. Michel, Polens Staatlichkeit in sieben Jahrhunderten. Eine völkerrechtliche Analyse zur Staatensukzession, 2015. – Ein als souveränes Völkerrechtssubjekt existierendes Gebilde kann, beispielsweise nach einer Fusion mit anderen Staaten, als nicht voll souveräner Staat weiter bestehen, so etwa Preußen nach 1867, Bayern, Württemberg, Württemberg-Baden oder Württemberg-Hohenzollern nach dem Beitritt zum Norddeutschen Bund. Diese Staaten können ihre spezifischen Rechte, ihre besondere kirchliche Organisation oder ihre Titel beibehalten. Auch die Nationen, die durch das untergegangene Völkerrechtssubjekt repräsentiert worden waren, existieren fort. Wenn trotz Verschwindens der Völkerrechtssubjektivität der Wunsch nach „Unabhängigkeit“ erhalten bleibt oder wiederauflebt, ist dies für die Beantwortung der Frage, ob ein Völkerrechtssubjekt noch besteht oder ob es untergegangen ist, nicht entscheidend. 3 Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1928, S. 394 ff.; vgl. ferner: A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 224 § 380; vgl. ferner G. Teyssen, Deutschlandtheorien auf der Grundlage der Ostvertragspolitik, 1987, S. 27 ff., mit einer umfassenden Würdigung der Drei-Elemente-Lehre. 4 Vgl. auch Hessischer Verwaltungsgerichtshof (VGH), in: Verwaltungsrechtsprechung 4 (1952), S. 138 ff. (140). 2

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Staat seine Existenz, wenn er eines seiner Staatlichkeitsmerkmale Staatsgebiet, Staatsvolk oder Staatsgewalt endgültig verliert. Da der Wegfall des Staatsgebiets heute allein auf Naturkatastrophen zurückgeführt werden kann, ist diese Möglichkeit eines Staatsunterganges eher theoretischer Natur. Die bloße Größenänderung des Staatsgebiets hat keinen Einfluss auf das Fortbestehen oder den Untergang eines Staates. Der Wegfall des Staatsvolkes mag zwar theoretisch ebenfalls durch eine Naturkatastrophe möglich sein, aber auch dieser Fall ist eher unwahrscheinlich. Er kann aber durch die Aufhebung oder Beseitigung der Staatsangehörigkeit erfolgen.5 Die zahlenmäßige Veränderung oder ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung durch Zuwanderung hat keinen Einfluss auf das Fortbestehen oder den Untergang eines Staates. Weitaus praxisrelevanter sind die Fälle, in denen der Untergang der Staatlichkeit durch das Verschwinden der Staatsgewalt hervorgerufen wird. Dieser Untergangsgrund ist in den meisten Fällen auch mit Gebietsveränderungen verbunden. Jedoch sind diese nicht allein für den Untergang ausschlaggebend, sondern in der Regel nur Begleiterscheinungen des Verschwindens der Staatsgewalt. Beim Wegfall der Staatsgewalt ist an die zum Effektivitätsprinzip entwickelten Grundsätze anzuknüpfen. Die bloß vorübergehende Ausschaltung der Staatsgewalt lässt den Staat nicht erlöschen, diese muss vielmehr bis in die unterste Ebene in all ihren Funktionen und dauerhaft beendet sein.6 Durch die Anknüpfung an die drei konstitutiven Staatselemente Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt sind territoriale, demographische sowie soziale, gesellschaftliche und politische Veränderungen innerhalb des Staatsgefüges für die Frage des Fortbestehens des Staates in der Regel bedeutungslos.7 Damit wird dem Rechtswissenschaftler eine klare Entscheidung der Frage, ob der Staat als Rechtssubjekt fortexistiert oder nicht, erleichtert.

5 So hätte der Wegfall der deutschen Staatsangehörigkeit – wie der gescheiterte Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine es forderte – vor der Wende 1990 den Untergang des deutschen Gesamtstaates in den Grenzen von 31. 12. 1937 bewirkt und die Wiedervereinigung zumindest erschwert. 6 Der Deutsche Staat ist also nach 1945 nicht untergegangen, da auf mittlerer und unterer Ebene noch deutsche Staatsgewalt ausgeübt wurde. Vgl. D. Blumenwitz, Was ist Deutschland?, 3. Aufl. 1989, S. 33; G. Teyssen (Anm. 3), S. 80; G. Gornig, Territoriale Entwicklung und Untergang Preußens, 2000, S. 25. Wie bei der Bestimmung der Effektivität existieren für die Endgültigkeit keine konkreten Regeln. Es gilt auch hier die Einzelfallentscheidung, wobei es darauf ankommt, ob Umstände darauf schließen lassen, dass sich die neue Ordnung nicht durchsetzen werde. Als am 6. August 1806 der deutsche Kaiser sein Amt niederlegte, wusste man noch nicht, ob das Heilige Römische Reich deutscher Nation untergegangen ist. Das war erst entschieden, als man 1815 beim Wiener Kongress auf die Restauration des Reiches verzichtete. Dort schlossen sich die deutschen Einzelstaaten zum Deutschen Bund, einem Staatenbund, zusammen. Auch das sog. Interregnum, der Zeitabschnitt zwischen der Absetzung Kaiser Friedrichs II. durch Papst Innozenz IV. im Jahre 1245 und der Wahl Rudolfs I. im Jahre 1273, führte nicht zum Untergang des Reiches. 7 Vgl. W. Fiedler, Das Kontinuitätsproblem im Völkerrecht, 1978, S. 40 ff.

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b) Im Staatsrecht Der Untergang eines Staates ist im Staatsrecht anders zu beurteilen als im Völkerrecht. Da die jeweilige Staatsordnung das zeitliche Ende ihrer Geltungskraft in der Regel nicht in Betracht zieht, wird das Kontinuitätsproblem im Verfassungsrecht fast durchweg ausgeklammert. Es rückt nur bei extremsten Formen der Verfassungsänderung wieder ins Blickfeld.8 So entwickelte sich die Auffassung, dass die Kontinuität vom Willen der nachfolgenden Staatsordnung zur Anknüpfung an die vorherige abhänge. Der Staat könne bewusst Akte der Staatserhaltung setzen.9 So könne bereits in einer fortdauernden aktiven Gestaltung des Staatslebens die Entscheidung für den Fortbestand des Staates zu sehen sein.10 Dies ist in der Zeit zwischen 1945 und 1949 in Deutschland geschehen, da in dieser Zeit bereits erste Entscheidungen über die spätere Gestaltung des deutschen Staates und seiner Verfassung fielen. Darüber hinaus bewirkten auch verbleibende staatliche Institutionen, wie z. B. die Länder, die sich nicht als souveräne Staaten begriffen, sondern als deutsche Länder, sowie der Beamtenstatus, die Kontinuität des Staates.11 2. Grundsatz der größtmöglichen Kontinuität Da der Untergang eines Staates ein Vorgang ist, der die Staatengemeinschaft erheblich berührt und die Völkerrechtsordnung auf Verlässlichkeit und Rechtssicherheit angewiesen ist,12 versucht man, so lange wie möglich von der Kontinuität eines Staates auszugehen.13 Die Vermutung spricht also für die Kontinuität.14 Damit ist auch Kontinuität bei der Frage des völkerrechtlich Verpflichteten gegeben. Bei einem Staatsuntergang hingegen treten an die Stelle des überkommenen Völkerrechtssubjekts in der Regel mehrere Neustaaten. Völkervertragsrechtlich nicht geregelte Nachfolgeprobleme könnten dann zu zwischenstaatlichen Spannungen führen.15 Der Untergang Ungarns als Teil der k. und k. Monarchie16 muss daher eindeutig 8

W. Fiedler, Staatskontinuität und Verfassungsrechtsprechung. Zum Begriff der Kontinuität des deutschen Staatswesens, unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1970, S. 103. 9 W. Fiedler (Anm. 8), Staatskontinuität, S. 113. 10 W. Fiedler (Anm. 8), Staatskontinuität, S. 114. 11 W. Fiedler (Anm. 8), Staatskontinuität, S. 115. 12 W. Fiedler, Das völkerrechtliche Kontinuitätsproblem und die besonderen Fragen der Rechtslage Deutschlands, in: B. Meissner/G. Zieger (Hrsg.), Staatliche Kontinuität unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage Deutschlands, 1983, S. 9 ff. (15). 13 Es ist daher nicht erforderlich, dass der – existenzgefährdete – Staat stets seine Kontinuität beweist und erklärt. Vgl. G. Teyssen (Anm. 3), S. 88. Vielmehr muss umgekehrt der Staat aktiv werden, wenn er von der Kontinuität abrücken will. 14 Vgl. W. Fiedler (Anm. 7), Kontinuitätsproblem, S. 110. 15 Ist ein Staat unter Verletzung des Völkerrechts ausgelöscht worden, so kann der später wiedererrichtete Staat, bei dem es sich rechtlich gesehen um einen neuen handelt, nachträglich im Wege juristischer Fiktion mit dem früheren Staat identifiziert und so angesehen werden, als

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unter Heranziehung der Drei-Elemente-Lehre bewiesen werden, da ansonsten die Vermutung für eine Kontinuität spricht. 3. Kriterien für die Fortexistenz bzw. den Untergang eines Staates a) Objektive Kriterien Für die Frage des Fortbestehens oder des Staatsuntergangs Ungarns kann vor allem das Staatsgebiet und die Staatsgewalt eine Rolle spielen. Vorher ist aber zu klären, ob Ungarn als Bestandteil der Donaumonarchie überhaupt ein Staat war. aa) Staatsgebiet (1) Veränderungen des Staatsgebietes, die zum Untergang führen Am deutlichsten sichtbar wird die Frage nach dem Fortbestand oder dem Untergang eines Staates bei Gebietsveränderungen. Hierbei ist denkbar, dass sich zwei oder mehrere Staaten zu einem neuen Staat zusammenschließen. Es handelt sich dann um eine Fusion. Es kann sich ferner ein Staat einem anderen Staat anschließen. habe er ohne Unterbrechung weiter bestanden (St. Oeter, Die Entwicklung der Westsahara, in: ZaöRV, Bd. 46 [1986], S. 48 ff. [66]; O. Dörr, Die Inkorporation als Tatbestand der Staatensukzession, 1995, S. 164). Nach Mareks Konzept von Identität und Kontinuität ist dies völlig unmöglich, da der Untergang eines Staates auch hier die Möglichkeit der Kontinuität ausschließe, vgl. K. Marek, Identity and Continuity of States in Public International Law, 1954, S. 9). So sind jedenfalls nach der Staatenpraxis Abessinien, Österreich, Polen und die Tschechoslowakei nicht durch die Annexion Italiens bzw. des Deutschen Reiches nach 1938 untergegangen. Sie galten vielmehr während dieser Zeit als „scheintot“ (vgl. A. Verdross/ B. Simma [Anm. 3], S. 231 § 391; J. L. Kunz, Identity of States under International Law, in: AJIL, Bd. 49 [1955], S. 68 ff.). Weitere Beispiele sind Albanien und Syrien. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Identität ohne Kontinuität. Ein wichtiges Indiz für das Vorliegen eines „wiedererstandenen“ Staates ist dessen unzweifelhaft zum Ausdruck kommende Wille, an die Rechtsverhältnisse vor seiner Annexion anzuknüpfen. So leben etwa völkerrechtliche Verträge wieder auf oder werden rückwirkend ratifiziert, während gleichzeitig eine Nachfolge in Verträge des Staates, welcher bislang die Herrschaftsgewalt ausgeübt hat, strikt abgelehnt wird. Wird die These der Identity without Continuity abgelehnt, kann im Ergebnis gleichwohl die Kontinuität von Staaten bejaht werden, beruft man sich etwa auf den Grundsatz ex in iniuria ius non oritur und begründet die Kontinuität damit, dass die Staatsgewalt in Folge eines illegalen Aktes beseitigt wurde, der Staat also de iure fortbesteht. 16 Die Bezeichnung kaiserlich und königlich (kurz k. u. k.) wurde in der 1867 aus dem Kaisertum Österreich entstandenen Österreichisch-Ungarischen Monarchie für die gemeinsamen Einrichtungen beider Reichshälften, also der Doppelmonarchie, eingeführt. Sie ist von der Bezeichnung kaiserlich-königlich (abgekürzt k. k.) zu unterscheiden. Die Bezeichnung kaiserlich-königlich stand im Kaisertum Österreich bis zum Österreichisch-Ungarischen Ausgleich im Jahr 1867 für die Behörden und staatlichen Einrichtungen des gesamten Reiches. Danach in der Doppelmonarchie bezog sich die Abkürzung k. k. nur auf die westliche Reichshälfte (Cisleithanien). Das erste k. (kaiserlich) stand für den Titel Kaiser von Österreich, das zweite k. (königlich) stand vor 1867 für den Titel König von Ungarn, ab 1867 hingegen für den Titel König von Böhmen, die der Kaiser jeweils in Personalunion führte.

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In diesem Fall ist eine Inkorporation gegeben, bei der der sich anschließende Staat untergeht, während der inkorporierende Staat fortbesteht. Schließlich kann das gesamte Gebiet eines Staates in mehrere Staaten zerfallen. Es liegt dann eine Dismembration vor, bei der der auseinanderfallende Staat untergeht und die auf seinem ursprünglichen Staatsgebiet entstandenen Staaten als Neustaaten nicht identisch mit dem Vorgängerstaat und damit Rechtsnachfolger sind. Eine solche Dismembration könnte im Falle der k. und k. Monarchie vorliegen, vorausgesetzt diese Verbindung würde als Staat, der vorher eventuell durch Fusion entstanden ist, qualifiziert. (2) Veränderungen des Staatsgebietes, die nicht zum Untergang führen Ein Prinzip ist die Irrelevanz territorialer Veränderungen für die Identität und Kontinuität des Staates, sofern sich die territorialen Veränderungen nicht auf das gesamte Staatsgebiet beziehen. Das Prinzip der Irrelevanz stimmt mit dem „Prinzip der beweglichen Vertragsgrenzen“ überein, wonach sich im Fall der territorialen Veränderung eben nur der Anwendungsbereich der Rechte und Pflichten verschiebt, der Bestand als solcher jedoch unangetastet bleibt.17 Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieser Regel ist die Existenz von Staatsgebiet, also eines Raumes, in dem die staatliche Rechtsordnung gilt. Vertreten wird darüber hinaus, dass die Identität eines Staates nur so lange gewahrt bleibt, als es zu keinem absoluten oder äußerst beträchtlichen Gebietsverlust kommt.18 Allerdings ist unklar, wann ein Gebietsverlust als „äußerst beträchtlich“ zu qualifizieren ist. Es bedürfte dann zusätzlicher ergänzender Kriterien, die im konkreten Einzelfall eine Aussage ermöglichen.19 Bloße Veränderungen des territorialen Bestandes – auch größerer Art – lassen also in der Regel die rechtliche Identität des Staates unberührt.20 Eine Zession21, aber auch Separation 22oder Sezession23 eines Gebietes führen also nicht zum Untergang der sich

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K. Marek (Anm. 15), S. 15. K. Marek (Anm. 15), S. 23; J. Crawford, The Creation of States in International Law, 1979, S. 404; J. L. Kunz (Anm. 15), in: AJIL, Bd. 49 (1955), S. 72. 19 W. Fiedler (Anm. 7), Kontinuitätsproblem, S. 110 ff., stellt allerdings die Frage, wie groß die territoriale Veränderung sein darf, um noch von Identität sprechen zu können. Feste Regeln ließen sich hier nicht bilden. Es komme auf die Gesamtwürdigung an. 20 Vgl. J. Delbrück, in: G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/1. Die Grundlagen. Die Völkerrechtssubjekte, 1989, S. 137; W. Fiedler (Anm. 12), in: B. Meissner/ G. Zieger, S. 14. 21 Unter Zession versteht man die durch den bisherigen Gebietsherrn in völkerrechtlich bindender Form erfolgende Verfügung, durch die ein Teil seines Gebiets einem anderen Staat rechtswirksam übertragen wird. Üblicherweise liegt einer Zession eine vertragliche Vereinbarung zwischen dem Zedenten, der das Gebiet überträgt, und dem Zessionar, der das Gebiet erhalten soll, zugrunde. 22 Bei einer Separation spaltet sich ein Gebiet im Einvernehmen mit dem Mutterland von diesem ab. 23 Bei einer Sezession spaltet sich ein Gebiet von einem Staat ab, um entweder einen Neustaat zu gründen oder sich einem anderen Staat anzuschließen. 18

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territorial verändernden Staaten.24 Sie haben lediglich Auswirkungen auf die territoriale Souveränität eines Staates. Eine Abspaltung Ungarns von der Donaumonarchie würde also letztlich nicht den Untergang der Donaumonarchie bedeuten, qualifizierte man diese als Staat. Die Abtrennung zahlreicher Gebiete von Ungarn als staatlicher Teil der Donaumonarchie in Folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg würde somit auch nicht zum Untergang Ungarns als eigenständiges Rechtssubjekt führen, wenn es ein solches war. bb) Staatsgewalt (1) Veränderungen der Staatsgewalt, die zum Untergang des Staates führen Das Erlöschen des Staates setzt das wirkliche und endgültige Verschwinden der Staatsgewalt bis zur untersten Ebene25 und ihrer Funktionen voraus. Der Untergang eines Staates durch Wegfall der Staatsgewalt tritt somit erst dann ein, wenn nach einer ex post-Betrachtung mit einer Wiederherstellung einer Staatsgewalt nicht mehr gerechnet werden kann und die Staatengemeinschaft den Untergang akzeptiert.26 So stand erst im Jahre 1815 anlässlich des Wiener Kongresses fest, dass das Heilige Römische Reich deutscher Nation im Jahre 1806 untergegangen war. Die Drei-Elemente-Lehre spricht also, ohne die Verhältnisse Ungarns näher analysiert zu haben, eher für ein Fortbestehen Ungarns. (2) Veränderungen der Staatsgewalt, die nicht zum Untergang des Staates führen Die Tatsache, dass sich in einem Land eine neue Staatsgewalt konstituiert hat, gibt noch keine Auskunft darüber, ob ein Neustaat entstanden ist oder ein bereits existierender Staat fortgesetzt wird. Veränderungen der Regierung haben keinen Einfluss auf die Identität und Kontinuität von Staaten. Diese Regel basiert auf dem Rechtsgedanken, dass der Staat nicht mit seiner Verfassung, Staats- oder Regierungsform identisch ist, und dass Wandlungen innerhalb der Staatsstruktur, also rein innerstaatliche Vorgänge, das Völkerrecht nicht berühren. Sogar eine revolutionäre Umgestaltung der Staatsgewalt sowie ein Staatsstreich bedeuten grundsätzlich keinen Staats-

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Vgl. auch G. Teyssen (Anm. 3), S. 73, 74. Vgl. D. Blumenwitz (Anm. 6), S. 77; K.-M. Wilke, Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik, 1976, S. 26; G. Teyssen (Anm. 3), S. 80. 26 Wird ein Staat, der durch Annexion einem anderen Staat einverleibt wurde, neu errichtet, so wird er häufig im Wege juristischer Fiktion mit dem früheren Staat identifiziert. Es wird so getan, als habe er ohne Unterbrechung fortbestanden; vgl. G. Dahm, Völkerrecht, Bd. 1, 1958, S. 91. Auf diese Weise wird Österreich heute mit dem Österreich der Zeit vor 1938 als identisch angesehen; vgl. G. Dahm, Bd. 1, S. 91; A. Verdross, Völkerrecht, 5. Aufl. 1964, S. 250 f.; K. Marek (Anm. 15), S. 8 ff., 366 ff.; a. A.: H. Kelsen, Principles of International Law, 1952, S. 262; ders., The International Legal Status of Germany to be Established Immediately upon Termination of the War, in: AJIL, Bd. 38 (1944), S. 689 ff. Vgl. auch Anm. 15. 25

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untergang.27 Ein aufgrund revolutionärer Wirren vorübergehendes Fehlen einer Staatsgewalt führt nicht ipso iure zum Staatsuntergang, solange der Wunsch vorhanden ist, eine neue Staatsgewalt zu installieren.28 Erst recht hat eine Verfassungsänderung keinen Staatsuntergang zur Folge.29 Ein vorübergehender Wegfall der Staatsgewalt im Falle einer Okkupation durch einen Drittstaat ist ebenfalls für die Existenz des Staates bedeutungslos.30 Die Änderungen in der Staatsgewalt Ungarns und die Unabhängigkeit von Österreich-Ungarn werden daher an der Identität Ungarns als Rechtssubjekt eher nichts ändern. b) Subjektive Kriterien aa) Gestaltungsfreiheit des Staates Das endgültige Erlöschen hängt in erster Linie von der Haltung des betroffenen Staates ab. Dies ist das Ergebnis der unbeschränkten Gestaltungsfreiheit eines Staates hinsichtlich seines völkerrechtlichen Status sowie Ausdruck seiner Souveränität und seiner völkerrechtlichen Handlungsfreiheit. Es kann also trotz äußerer und innerer Veränderungen die Kontinuität des Staates angenommen werden, wenn der Wille der maßgeblichen Organe des Staates vom Festhalten an der Kontinuität ausgeht. Die Haltung hinsichtlich Identität und Nachfolge kann in völkerrechtlich verbindlichen Dokumenten, in einseitigen Erklärungen gegenüber der Staatengemeinschaft, in der Verfassung, aber auch durch stillschweigende Hinnahme einer von dritter Seite abgegebenen ausdrücklichen oder impliziten Erklärung zum Ausdruck kommen. Aber nicht nur Akte der staatlichen Organe kommen als Anhaltspunkte in Betracht, sondern auch Verlautbarungen des Staatsvolkes infolge des ihm zustehenden Selbstbestimmungsrechts.31

27 Vgl. W. Fiedler (Anm. 8), Staatskontinuität, S. 39 f.; O. Kimminich, Deutschland als Rechtsbegriff und die Anerkennung der DDR, in: Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 1970, S. 437 ff., 438; G. Gornig, Völkerrechtliche Konsequenzen einer Revolution, in: The European Law Students’ Association (Hrsg.), Osteuropa im Umbruch, 1992, S. 5 ff. 28 Ein lang andauernder Bürgerkrieg, in dem die Gegner um die Macht, also um die Staatsgewalt im Lande streiten, führt ebenfalls nicht zum Untergang des Staates (abwegig daher M. Geistlinger, Revolution und Völkerrecht, 1991, S. 126 ff., der von einem Untergang des Staates Libanon ausgeht). Nach Wilke (Anm. 25), S. 27, ist erst das Chaos der Beweis für den Untergang der Staatsgewalt, sofern dieser Zustand länger andauert. Bei einem kumulativen Wegfall von Staatsgebiet und Staatsgewalt sei dagegen die Feststellung des Wegfalls der Staatsgewalt ohne Zeitfaktor in der Regel ausreichend. 29 Vgl. W. Fiedler (Anm. 8), Staatskontinuität, S. 40; D. Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 1929, S. 132. 30 Vgl. G. Dahm (Anm. 26), Bd. 1, S. 88 f.; W. Fiedler (Anm. 8), Staatskontinuität, S. 150; G. Teyssen (Anm. 3), S. 74. 31 Vgl. St. Baer, Der Zerfall Jugoslawiens im Lichte des Völkerrechts, 1995, S. 82.

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bb) Stellungnahme der Staatengemeinschaft Der Wille des betroffenen Staates ist aber nicht allein entscheidend, vielmehr hängt die Frage der Identität und Kontinuität auch von der Haltung und Akzeptanz der Staatengemeinschaft ab.32 Würde ein Staat allein über seine Kontinuität oder Diskontinuität entscheiden können, bedeutete dies, dass ein Regime den Untergang nach Belieben herbeiführen und sich dadurch eventuell völkerrechtlichen Verpflichtungen entziehen könnte. Es kann also nicht die bloße Verkündung des Staatsuntergangs genügen. Vielmehr müssen sich der Staatsuntergang und die Staatsneugründung, also der Wegfall der Identität, in der Staatenpraxis durchsetzen. Wegen der weitreichenden Folgen für völkerrechtliche Vereinbarungen der betroffenen Staaten ergibt sich also, dass letztlich nicht nur der Wille der unmittelbar beteiligten Staaten entscheidend ist, sondern auch die allgemeine Anerkennung des gewollten Zustands durch die Staatenpraxis. Die Staatengemeinschaft muss ihren Willen eindeutig zum Ausdruck bringen, allerdings muss hinsichtlich der Auswertung dieser Akte berücksichtigt werden, dass diese oft von politischen Motivationen geleitet werden und rechtliche Grundlagen eine weniger große Bedeutung haben.33 Je weniger eindeutig die ablehnende Haltung der Staatengemeinschaft sich aktualisiert und je politischer die der Haltung zugrunde liegenden Motive sind, desto mehr Bedeutung muss der Kontinuität beigemessen werden. Drittstaaten könnten geneigt sein, den Staatsuntergang zu akzeptieren, wenn neben der völligen Umgestaltung der inneren Ordnung des Staates und der aufgrund von der Regierung vertretenen These vom Wegfall der alten Staatsgewalt auch das Staatsgebiet und das Staatsvolk erheblichen Änderungen unterworfen worden sind. Bei völliger Identität von Staatsgebiet und Staatsvolk werden hingegen Drittstaaten nicht ohne weiteres bereit sein, von einem endgültigen Wegfall der alten Staatsgewalt auszugehen und damit den Untergang des Staates hinzunehmen. Dies wird schon deshalb nicht der Fall sein, weil eine neue Identität erhebliche Konsequenzen mit sich brächte. Die Folge wäre nämlich eine Staatensukzession, die Auswirkungen auf die Fortgeltung völkerrechtlicher Verträge, auf das Staatsvermögen und vor allem die Staatsschulden haben könnte, die auf den Neustaat grundsätzlich nicht übergehen. Sollte hingegen die neue Regierung, die den Staatsuntergang durch Wegfall der alten Staatsgewalt propagiert, sich vertraglich bereit erklärt haben, Verpflichtungen des Vorgängerstaates zu übernehmen, könnte das Wegfallen der Identität für Drittstaaten eher hinzunehmen sein. Durch die Anerkennung der nahezu gesamten Staatengemeinschaft erfolgt eine fast unwiderlegliche Vermutung für die Eigenschaft eines bestimmten Staates als Nachfolge- bzw. Vorgängerstaat. Der Wille von Drittstaaten kann durch völkerrechtliche Anerkennung des neu entstandenen Staates oder durch Anerkennung des Iden32

Vgl. U. Fastenrath, Das Recht der Staatensukzession, in: BDGVR, Bd. 35 (1996), S. 9 ff. (20 f.); St. Baer (Anm. 31), S. 72. 33 Vgl. C. Th. Ebenroth, Staatensukzession und Internationales Privatrecht, in: BDGVR, Bd. 35 (1996), S. 263; St. Baer (Anm. 31), S. 74.

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titätsanspruchs erfolgen. Mit einer solchen Anerkennung des Identitätsanspruchs kann die Rechtsbehauptung eines Staates, er sei mit einem anderen Staat subjektsidentisch, als zutreffend akzeptiert werden. Eine solche Anerkennung kann ausdrücklich oder auch stillschweigend erfolgen, hat aber in keinem Fall eine erga omnes-Wirkung, sondern bindet nur den anerkennenden Staat gegenüber dem anerkannten Staat.34 Zwar hat die Anerkennung grundsätzlich keine konstitutive Wirkung, demnach keinen Einfluss auf die Staatlichkeit, und es besteht auch keine Rechtspflicht zur Anerkennung, jedoch ist sie ein wichtiges Mittel, um auf Umwälzungen im Bereich bestehender Staaten zu reagieren und entsprechende Ansichten zu manifestieren.35 Die Wirkung der Anerkennung ist jedoch dahingehend beschränkt, als sie einen Staat weder zur Entstehung bringen, noch einen einmal begonnenen Dismembrations- oder Sezessionsprozess beenden kann. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, ob sich die Anerkennung der Drittstaaten auf die bloße politische Veränderung und damit lediglich die neue Regierung bezieht, oder ob Gegenstand der Anerkennung tatsächlich ein neuer Staat sein soll. Grundsätzlich können auch internationale Organisationen mit universellem Charakter keine verbindlichen und konstitutiven Feststellungen darüber treffen, ob ein Staat entstanden ist. Auch der Beschluss zur Aufnahme eines Neustaates als Mitglied internationaler Organisationen hat lediglich deklaratorischen Charakter. Behält ein Staat die Mitgliedschaftsrechte des Altstaates in einer internationalen Organisation, weil er von seiner Identität ausgeht und demnach seinen Identitätsanspruch geltend macht, so handelt es sich nicht nur um einen Anerkennungsvorgang durch die internationale Organisation, sondern durch die Staaten der Gemeinschaft. Als Stellungnahmen der Staatengemeinschaft sind die Ungarn betreffenden Verträge nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere der Vertrag von Trianon, heranzuziehen und zu würdigen. II. Rechtsstatus Ungarns seit dem 16. Jahrhundert 1. Eroberungen durch das Osmanische Reich Das Ende der Unabhängigkeit Ungarns kam um die Mitte des 16. Jahrhunderts mit den Eroberungen durch das Osmanische Reich. Am 29. August 1526 besiegte Sultan Süleyman I. König Ludwig II. von Böhmen und Ungarn bei Mohács.36 Der größte Teil Ungarns geriet unter osmanische Herrschaft37, wobei die nicht eroberten 34

Vgl. A. Zimmermann, Staatennachfolge in völkerrechtlichen Verträgen, 2000, S. 77 f. Vgl. St. Baer (Anm. 31), S. 75; R. Bindschedler, Die Anerkennung im Völkerrecht, in: BDGVR, Bd. 4 (1961), S. 10 ff. 36 I. Lázár, Kleine Geschichte Ungarns, 1990, S. 100 ff. Vgl. ferner G. Hegedüs, Ungarische Jahrhunderte. Ein kulturhistorischer Streifzug, 1999, S. 230 ff. 37 In der Schlacht bei Mohács in Südungarn am 29.8.1526 erlitt das Heer des Königreiches Ungarn unter König Ludwig II. von Böhmen und Ungarn und Pál Tomoriam gegen Truppen 35

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Abb. 1: Die Große Enzyklopädie der Erde, Novaria Verlag, München, Verlag Kister AG, Basel, Band 4. Europa, 1971, S. 162

Teile entweder in Kontinuität des ungarischen Königtums als Königliches Ungarn unter habsburgische Herrschaft kamen (darunter der Westen Oberungarns) oder von Ungarn getrennt und als Fürstentum Siebenbürgen unter osmanische Oberhoheit gestellt wurden.38 Im Jahre 1541 besetzten die Türken Buda39 und beherrschten somit auch Mittelungarn.40 Ungarn zerfiel nun in drei Teile, in das habsburgische Westgebiet, in die türkisch besetzte Mitte und das unter türkischer Oberhoheit stehende Siebenbürgen, das als Fürstentum eine gewisse Selbständigkeit behaupten konnte und keine Besatzungstruppen erdulden musste.41 des Osmanischen Reichs unter Süleyman I. eine vernichtende Niederlage. Die Osmanen konnten wenig später große Teile Ungarns und Kroatiens erobern. 38 Dazu J. Hauszmann, Ungarn. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2004; P. Lendvai, Die Ungarn. Eine tausendjährige Geschichte, 2001. 39 Hauptstadt des als Königliches Ungarn bezeichneten Restterritoriums war von 1536 bis ins 19. Jahrhundert Pressburg. Im Jahr 1783 wurde bereits die Verwaltung nach Ofen (heute ein Teil von Budapest) verlegt. Pressburg war lange Zeit eine mehrheitlich von Deutschen bewohnte Stadt, vgl. Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl. Band 16 1908, S. 281 ff.; https://de. wikipedia.org/wiki/Bratislava#16._Jahrhundert_bis_zum_Ersten_Weltkrieg (hier und im Folgenden zuletzt abgerufen am 18. 2. 2018). Ferner: E. Portisch, Geschichte der Stadt PressburgBratislava, 2 Bde., 1932/1933. 40 R. Geyer/E. von Vietsch, Die Große Enzyklopädie der Erde. Alles über Staaten, Völker und Kulturen von den ersten Spuren bis zur Gegenwart, Bd. 4: Europa, 1971, S. 138 ff. (162). 41 R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 40), Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 4, S. 162.

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Nach 145 Jahren türkischer Besetzung eroberten im Jahr 1686 die Habsburger ganz Ungarn.42 Die endgültige Befreiung Ungarns43 erfolgte allerdings erst 1697 durch den Sieg des Reichsfeldherrn Prinz Eugen von Savoyen bei Zenta und im Frieden von Karlowitz vom 26. Januar 169944. Nach dem Frieden von Karlowitz musste das Osmanische Reich ganz Ungarn einschließlich Siebenbürgen (aber ohne das Banat von Temesvar) sowie den Großteil Kroatiens (etwa das heutige Slawonien) an Österreich abtreten.45 Somit bedeutet der Frieden von Karlowitz den Beginn der Großmacht Österreich-Ungarn.46 Kaiser Leopold I.47 behandelte Ungarn danach als erobertes Gebiet. 2. Die Pragmatische Sanktion Die Pragmatische Sanktion vom 19. April 171348 und ihre Anerkennung durch die Länder gilt als eigentlicher Gründungsakt der Habsburgermonarchie. In ihr bekundeten nämlich die Länder ihren Willen zum Aufbau eines gemeinsamen Staatswesens.49 Bis zur Pragmatischen Sanktion gab es keine Verfassungsurkunde, die die Zugehörigkeit der Kronländer zu einem gemeinsamen Staat festgelegt hätte. Bislang war die Monarchie ein heterogenes Konglomerat verschiedener Territorien, König-

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I. Lázár (Anm. 36), S. 116 ff. Zu den Habsburgern vgl. P. M. Judson, Habsburg. Geschichte eines Imperiums, 2017. 43 R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 40), Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 4, S. 163. 44 Mit dem Frieden von Karlowitz endete der Große Türkenkrieg zwischen dem Osmanischen Reich auf der einen Seite und dem Heiligen Römischen Reich, Polen, der Republik Venedig, dem Kirchenstaat sowie Russland auf der anderen Seite; https://de.wikipedia.org/ wiki/Friede_von_Karlowitz. 45 Vgl. M. Molnár, Der Friede von Karlowitz und das Osmanische Reich, in: A. Strohmeyer/N. Spannenberger (Hrsg.), Frieden und Konfliktmanagement in interkulturellen Räumen. Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, 2013, S. 197 ff.; M. R. Popovic´, Der Friede von Karlowitz, 1699, Diss. Leipzig 1893. 46 M. Bernath (Hrsg.), Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, 1979, Band 3, S. 349. 47 Leopold I., Erzherzog zu Österreich, war von 1658 bis 1705 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches sowie König in Germanien (ab 1654), Ungarn (ab 1655), Böhmen (ab 1656), Kroatien und Slawonien (ab 1657). 48 Es handelt sich dabei um eine Urkunde, die die Unteilbarkeit und Untrennbarkeit aller habsburgischen Erbkönigreiche und Länder festlegte und zu diesem Zweck eine einheitliche Erbfolgeordnung vorsah, die auch Töchter berücksichtigte. So konnte nach dem Tode Karls VI. im Jahre 1740, dessen erstgeborene Tochter Maria Theresia unter Berufung auf die Pragmatische Sanktion die Nachfolge in den habsburgischen Ländern antreten. W. Brauneder, Die Pragmatische Sanktion als Grundgesetz der Monarchia Austriaca von 1713 bis 1918, in: W. Brauneder (Hrsg.), Studien I: Entwicklung des Öffentlichen Rechts, 1994, S. 85 ff. 49 Dazu: W. Brauneder (Anm. 48), in: W. Brauneder, S. 85 ff.; H. Lentze, Die Pragmatische Sanktion und das Werden des österreichischen Staates, in: Der Donauraum, Bd. 9 (1964), S. 3 ff.

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reiche und Länder50, das nur durch den gemeinsamen Monarchen an der Spitze zusammengehalten wurde. In den Ländern waren zudem die Erbfolgeregelungen unterschiedlich. 3. Oktoberdiplom und Februarpatent Da die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem ungarischen Adel und dem Kaiser in Wien nicht beseitigt werden konnten, entluden sie sich in der Revolution von 1848/49, die mit Hilfe von Russland (unter Berufung auf die „Heilige Allianz“51) niedergeschlagen wurde. Die Beschränkung der inneren Autonomie in den Ländern der ungarischen Krone konnte aber wegen des passiven Widerstandes der führenden magyarischen Schichten gegen den Einheitsstaat nicht mehr aufrechterhalten werden. Mit dem Oktoberdiplom52 des Monarchen am 20. Oktober 1860 wurde die alte Verfassung Ungarns vor 1848 im Wesentlichen wiederhergestellt. Ungarn wurde der gleiche Status wie anderen Kronländern zugebilligt.53 Ungarisch wurde als Amtssprache anerkannt. Der Landtag wurde zur Beratung eines neuen Wahlgesetzes berufen. Die österreichischen Beamten wurden entlassen und die von Wien vorgegebenen Gesetze wurden für aufgehoben erklärt. Das zentralistische Februarpatent vom 26. Februar 186154 sah für den Reichsrat 85 ungarische Abgeordnete von 343 Abgeordneten insgesamt vor.55

50 M. Mutschlechner, Karl VI. und die Pragmatische Sanktion, in: Die Welt der Habsburger, http://www.habsburger.net/de/kapitel/karl-vi-und-die-pragmatische-sanktion. 51 Die Heilige Allianz ist das Bündnis der drei Monarchen von Russland, Österreich und Preußen, das nach dem endgültigen Sieg über Napoléon am 26. 9. 1815 in Paris abgeschlossen wurde. Frankreich trat der Allianz im Jahre 1818 bei, nach und nach schlossen sich viele weitere europäische Mächte an. Die Bündnispartner bekannten sich zum Gottesgnadentum der Herrscher und sahen die christliche Religion als Grundlage der herrschenden politischen Ordnung. Sie verpflichteten sich zu gegenseitigem Beistand und zum Schutz dieser Ordnung gegen Umwälzungen („sie werden sich bei jeder Gelegenheit und an jedem Orte Beistand und Hilfe gewähren“). Text: http://www.documentarchiv.de/nzjh/1815/heilige-allianz.html. Dazu Ph. Menger, Die Heilige Allianz – ,La garantie religieuse du nouveau système Européen‘?, in: W. Pyta (Hrsg.), Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongreß 1815 bis zum Krimkrieg 1853, 2009, S. 209 ff. 52 Kaiserliches Diplom vom 20. October 1860, zur Regelung der inneren staatsrechtlichen Verhältnisse der Monarchie, Text: österr. RGBl. Nr. 226/1860, S. 336 ff.; darunter versteht man in der österreichischen Geschichtsschreibung das föderalistisch geprägte österreichische Verfassungsgesetz vom 20.10.1860. Dazu W. Goldinger, Von Solferino bis zum Oktoberdiplom, in: Festschrift für Leo Santifaller anlässlich seines sechzigsten Geburtstages (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Bd. 3), 1950, S. 106 ff. 53 R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 40), Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 4, S. 166. 54 Text: österr. RGBl. Nr. 20/1861 S. 69 ff. 55 Als Februarpatent bezeichnet man in der österreichischen Geschichtsschreibung die Verfassung der österreichischen Monarchie (so der Kaiser in seinem Patent).

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4. Österreichisch-ungarischer Ausgleich Nach anhaltenden Unruhen im Land wurde Ungarn dann durch den österreichischungarischen Ausgleich von 1867 gleichberechtigter Teil der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn.56 Jeder der beiden Staaten, nämlich Transleithanien („Länder der heiligen Stephanskrone“, also Ungarn mit seinen Nebenländern) und Cisleithanien („im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“, also die österreichischen Kronländer) erhielt eine Verfassung und der österreichische Kaiser war zugleich König von Ungarn. Der Österreichisch-Ungarische Ausgleich von 1867 berief sich ausdrücklich auf die Pragmatische Sanktion als Grundlage der Verbindung zwischen den Ländern der ungarischen Krone (Transleithanien) und den übrigen Königreichen und Ländern Seiner Majestät (Cisleithanien).57 Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich gehörte aber das autonome Kroatien-Slawonien zu den Ländern der ungarischen Krone, Dalmatien zu den im Wiener Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern.58 Am 17. Februar 1867 ernannte Franz Joseph I. die neue ungarische Regierung unter dem Grafen Andrássy. Am 27. Februar 1867 wurde der ungarische Reichstag wiederhergestellt. Am 15. März 1867 leistete in Buda Graf Andrássy mit seiner Regierung König Franz Joseph I. den Treueid. Zugleich wurden die Regelungen des österreichisch-ungarischen Ausgleichs de facto wirksam. Dieser Tag gilt als Geburtstag der Doppelmonarchie, wenn auch die Ausgleichsgesetze erst am 22. Dezember 1867 in Kraft traten.59 Franz Joseph I. selbst wurde am 8. Juni 1867 in Buda zum König von Ungarn gekrönt. Er war somit formal das gemeinsame konstitutionelle Staatsoberhaupt (Personalunion), unter dessen Leitung sowohl die Außenpolitik, das gemeinsame Heer und die Kriegsmarine als auch die dazu nötigen Finanzen in den entsprechenden drei Reichs-, später k. u. k.-Ministerien mit Sitz in Wien gemeinsam verwaltet wurden.60 Alle anderen Angelegenheiten konnten Österreich und Ungarn von nun an getrennt regeln (es kam jedoch freiwillig zu einem gemeinsamen Währungs-, Wirtschafts- und Zollgebiet).

56 G. C. Craig, Geschichte Europas 1815 – 1980. Vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart, 1995, S. 174 ff.; R. Rickett, Österreich. Sein Weg durch die Geschichte, 5. Aufl. 1991, S. 123; ferner: Graf J. Andrassy, Ungarns Ausgleich mit Österreich vom Jahre 1867, 1897. Ferner G. Hegedüs (Anm. 36), S. 293 ff. 57 Cisleithanien und Transleithanien wurde nach dem Fluss Leitha benannt, der eine kurze Strecke die Grenze bildete. 58 Slawonien und Dalmatien waren seit 1809 als Illyrische Provinzen (Gebiete an der Ostküste der Adria und im Ostalpenraum) Teil des französischen Kaiserreichs. Nach dem Sturz Napoleons fielen die Länder wieder an die ungarische Krone. 59 In Ungarn wurden die Gesetze am 12. 6. 1867 nach der Krönung von Franz Joseph I. am 8. 6. 1867 beschlossen, im österreichischen Reichsrat wurden sie erst am 21. 12. 1867 („Gesetz über die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten und die Art ihrer Behandlung“ [„Delegationsgesetz“]) verabschiedet. 60 I. Lázár (Anm. 36), S. 159.

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Der Ausgleich brachte Ungarn eine weit reichende staatliche Autonomie. Diese hatte allerdings den Protest der anderen im Reiche lebenden Nationalitäten zur Folge. Konkrete Forderungen nach einem ähnlichen Ausgleich wurden vor allem von den Tschechen für die Länder der böhmischen Krone (Böhmen, Mähren, Österreichisch-Schlesien) erhoben.61 Die Österreichisch-Ungarische Monarchie war in der letzten Phase des Habsburgerreiches zwischen 1867 und 1918 eine Realunion. Eine Realunion ist eine völkerrechtliche Verbindung selbständiger Staaten durch ein gemeinsames Staatsoberhaupt (wie bei der Personalunion, in der Staatspraxis stets ein Monarch), darüber hinaus aber auch durch weitere gemeinsame Institutionen, also Staatsorgane oder Verwaltungseinrichtungen. Die Verbindung ist intensiver und stärker verrechtlicht als bei der bloßen Personalunion. Es wird aber in der Regel kein den verbundenen Staaten übergeordnetes Rechtssubjekt geschaffen.62 Die Realunion bestand nach dem Umbau des Kaisertums Österreich zu einem Staatenverband auf der Grundlage des österreichisch-ungarischen Ausgleiches vom 8. Juni 1867 bis zum 31. Oktober 1918, also bis Ungarn aus der Realunion austrat. Da die Doppelmonarchie kein Staat war, war streng genommen das Ausscheiden keine Sezession, man verließ lediglich das gemeinsame Dach der Realunion, ohne dabei seine Staatsqualität zu verlieren, also unterzugehen. Ungarn blieb als Rechtssubjekt identisch mit dem königlichen Ungarn in der Realunion. 5. Unabhängigkeit Ungarns Nach der Niederlage 1918 wurde Ungarn wieder als unabhängiger Staat neu konstituiert. Im Jahre 1919 wurde unter der Führung von Béla Kun eine Räterepublik installiert,63 die aber nach der Niederlage im Krieg gegen Rumänien scheiterte.64 Auch Änderungen der Verfassung haben keinen Einfluss auf die Identität Ungarns als Rechtssubjekt.

61 Vgl. auch St. Löwenstein, Keine Selbstverständlichkeit. Am 28. Oktober 1918 wurde die Tschechoslowakische Republik ausgerufen, in: FAZ vom 26. 10. 2018, S. 8. Kaiser und König Franz Joseph I. war nach dem Ausgleich darauf bedacht, seine beiden Monarchien gleich zu behandeln. Daher nahmen an den Olympischen Spielen 1900 bis 1912 neben den Mannschaften aus Österreich und aus Ungarn auch eine Mannschaft aus Böhmen teil. 62 So B. Schöbener/M. Knauff, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 2013, § 6 Rn. 47 (S. 27). 63 I. Lázár (Anm. 36), S. 187 f. 64 Dazu unten III.1.

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III. Gebietsverluste Ungarns nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Ungarisch-Rumänischen Krieg 1. Ungarisch-rumänische Grenzstreitigkeiten Seit dem 9. Dezember 1917 bestand schon ein Waffenstillstand (Waffenstillstand von Focsani)65 zwischen den Mittelmächten und dem mit Russland verbündeten, aber militärisch weitgehend besiegten Königreich Rumänien. Der Waffenstillstand hatte die Einstellung der Kampfhandlungen an der rumänischen Front zum Inhalt. Am 7. Mai 1918 schloss Rumänien mit den Mittelmächten den Frieden von Bukarest66 mit der Folge, dass es die Dobrudscha67 an Bulgarien abtreten musste.68 Die Niederlage der Mittelmächte ermöglichte es aber alsbald Rumänien, doch noch seine Kriegsziele zu erreichen. Durch die Niederlage Ungarns im Ersten Weltkrieg bot sich für Rumänien die Gelegenheit, die rumänisch besiedelten Gebiete in Österreich-Ungarn zu erobern. Einen Tag vor Ende des Ersten Weltkriegs in Westeuropa erklärte Rumänien am 10. November 1918 seinen Wiedereintritt in den Krieg. Mit dem Waffenstillstand von Compiègne vom 11. November 191869 im Westen musste Deutschland auch auf den Friedensvertrag von Bukarest verzichten. Im Waffenstillstandsabkommen heißt es:70 65 R. von Albertini, Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäische Weltpolitik bis zum ersten Weltkrieg, 1973, S. 607 ff. 66 Text: United States, Department of State, Texts of the Roumanian „Peace“ (Washington, DC: United States Government Printing Office, 1918), S. 5 ff.; https://www.mtholyoke.edu/ acad/intrel/routreat.html; ferner: E. Bornemann, Der Frieden von Bukarest 1918, 1978; V. Valentin, Reader’s Digest Illustrierte Weltgeschichte bis zur Gegenwart, Bd. 2, 1968, S. 1343. 67 Die Dobrudscha ist eine Landschaft in Südosteuropa zwischen dem Unterlauf der Donau und der Küste des Schwarzen Meeres. Die Landschaft bildet heute das Grenzgebiet zwischen Südostrumänien und Nordostbulgarien. Die Dobrudscha ist politisch in die rumänische Norddobrudscha und in die bulgarische Süddobrudscha geteilt. Th. Kahl/J. Sallanz, Die Dobrudscha, in: Th. Kahl/M. Metzeltin/M.-R. Ungureanu (Hrsg.), Rumänien. Raum und Bevölkerung – Geschichte und Geschichtsbilder – Kultur – Gesellschaft und Politik heute – Wirtschaft – Recht – Historische Regionen. 2. Bd., 2. Aufl. 2008, S. 857 ff. 68 Danach erhielt Bulgarien die Süddobrudscha zurück und einen Teil der Norddobrudscha. Somit wurde die alte Grenze zwischen Bulgarien und Rumänien vor dem Zweiten Balkankrieg wieder hergestellt (Art. X). Rumänien verzichtet auf einige Gebirgsregionen und Karpathenpässe zugunsten Österreich-Ungarns (Art. XI). 69 Text: https://en.wikisource.org/wiki/Armistice_between_the_Allied_Governments_and_ Germany. Dazu vgl. E. Marhefka (Hrsg.), Der Waffenstillstand 1918 – 1919. Das Dokumentenmaterial der Waffenstillstandsverhandlungen von Compiègne, Spa, Trier und Brüssel. Notenwechsel, Verhandlungsprotokolle, Verträge, Gesamttätigkeitsbericht. 3 Bände. 1928. Band 1: Der Waffenstillstandsvertrag von Compiègne und seine Verlängerungen nebst den finanziellen Bestimmungen. Band 2: Die Ausführungs-Verhandlungen und -Abkommen zu den Waffenstillstandsverträgen. Band 3: Die Deutsche Waffenstillstands-Kommission. Bericht über ihre Tätigkeit vom Abschluß des Waffenstillstandes bis zum Inkrafttreten des Friedens, dem Deutschen Reiche vorgelegt im Januar 1920. 70 Für das Deutsches Reich unterzeichneten: Staatssekretär Matthias Erzberger, Reichsregierung Graf Alfred von Oberndorff, Auswärtiges Amt, General Detlof von Winterfeldt,

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„Fifteen – Renunciation of the treaties of Bucharest and Brest-Litovsk and of the supplementary treaties.“

Daraufhin drangen rumänische Truppen in die Bukowina und in Siebenbürgen ein.71 Das östliche Oberkommando der Entente setzte eine Demarkationslinie in den bisherigen ungarischen Ostgebieten fest: Rumänien sollte demnach Siebenbürgen nur bis zum Fluss Mieresch besetzen. Serbien, das Banat, Nordsiebenbürgen, das Kreischgebiet und die Maramuresch sollten bei Ungarn verbleiben.72 Ab 12. November 1918 rückten die rumänischen Truppen in Südsiebenbürgen vor. Das einst österreichische Kronland Bukowina73 wurde von rumänischen Einheiten besetzt.74 Dort stimmte man am 28. November 1918 für die Vereinigung der Bukowina mit dem Königreich Rumänien. Während der Friedensverhandlungen in Paris 1919/20 verzichteten dann das republikanische Österreich und das Königreich Ungarn offiziell zugunsten Rumäniens auf die Bukowina.75 Am 1. Dezember 1918 stimmten Siebenbürgen, das Banat76, das Kreischgebiet77 und die Maramuresch78 für die politische Union mit Rumänien. Am 20. März 1919 teilte die Entente der ungarischen Regierung mit, dass auch die Gebiete einschließlich der Linie Satu-Mare-Oradea-Arad Rumänien zugebilligt werden sollen.79

Deutsches Reichsheer, Kapitän zur See Ernst Vanselow, Kaiserliche Marine. Vgl. dazu auch kritisch V. Valentin (Anm. 66), Reader’s Digest Illustrierte Weltgeschichte, Bd. 2, S. 1346. 71 R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 40), Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 4, S. 230. 72 Vgl. dazu G. Juhász, Hungarian Foreign Policy 1919 – 1945, 1979, S. 14 ff. 73 Nach dem Frieden von Küçük Kaynarca (er beendete am 10. Julijul./21. Juli 1774greg.das Ende des Russisch-Türkischen Krieges 1768 – 1774) gelang es den Habsburgern 1775 bei der Regierung des Osmanischen Reichs (der Hohen Pforte) die Abtretung des 10.000 km2 großen Gebietes zu erreichen, um eine bessere Verbindung von Siebenbürgen zum gerade erworbenen Galizien zu erreichen. In dem Vertrag wurde das Gebiet zum ersten Mal als Bukowina – Buchenland – bezeichnet. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bukowina. 74 R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 40), Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 4, S. 230. 75 Vgl. Art. 45 i.V.m. Art. 27 Vertrag von Trianon; vgl. ferner M. Hausleitner, Die Rumänisierung der Bukowina, 2001; H. Weczerka, Die Deutschen im Buchenland, in: Der Göttinger Arbeitskreis. Schriftenreihe Heft 51, 1954. 76 Das Banat liegt am Südostrand der ungarischen Tiefebene und ist von den Flüssen Marosch im Norden, Theiß im Westen und Donau im Süden sowie von den Südkarpaten im Osten begrenzt. 77 Das Kreischgebiet liegt im Osten von Ungarn und Nordwesten von Rumänien. Es grenzt im Westen an die Theiß, im Osten an das Apuseni-Gebirge und im Süden an den Fluss Mieresch. Die Region war ursprünglich Teil des Königreichs Ungarn, fiel dann nach der Schlacht bei Mohács (1526) als Teil des Partiums an das Fürstentum Siebenbürgen. Vgl. https://de.wi kipedia.org/wiki/Kreischgebiet. 78 Maramuresch liegt im Norden Rumäniens mit der Kreishauptstadt Baia Mare. Der Kreis Maramuresch grenzt heute im Norden sowie im Nordosten an die Ukraine. 79 G. Juhász (Anm. 72), Hungarian Foreign Policy, S. 14 ff.

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Abb. 2: Die Regionen Banat, Crisana und Maramures werden gelegentlich zu Transilvanien gezählt. DietG – Eigenes Werk, based on NASA Visible Earth The Carpathian Mountains. Credit: Jeff Schmaltz, MODIS Rapid Response Team, NASA/GSFC (https://de.wikipedia.org/wiki/Siebenb%C3 %BCrgen)

Nach erfolglosen Verhandlungen mit der Entente über die zukünftigen Grenzen Ungarns brach am 15./16. April 1919 der Ungarisch-Rumänische Krieg80 aus. In diesem Krieg standen sich die Räterepublik Ungarn und das Königreich Rumänien gegenüber. Beide Staaten beanspruchten die von ihren Volksgruppen bewohnten Gebiete des einstigen Kaiserreichs Österreich-Ungarn. Die Armeen Ungarns und Rumäniens trafen im westlichen Siebenbürgen aufeinander. Die Rumänen brachen am 19. April 1919 durch die ungarischen Linien, woraufhin sie in den folgenden Tagen die Crisana unter ihre Kontrolle brachten. Sie machten jedoch nicht an der von der Entente festgelegten Demarkationslinie halt, sondern drangen weiter nach Westen auf mehrheitlich von Ungarn besiedeltes Gebiet vor. Bis zum 1. Mai 1919 eroberten die Rumänen alle ungarischen Territorien östlich des Flusses Theiß.81 80

Vgl. zum Ungarisch-Rumänischen Krieg, G. Juhász (Anm. 72), Hungarian Foreign Policy, S. 14 ff.; G. Dan, The Romanian Military Occupation of Hungary, in: Romanian Postal History Bulletin, Nr. 17, August 1995. 81 Rumäniens Annektierung Bessarabiens wurde vom bolschewistischen Russland nicht anerkannt. Nach dem rumänischen Vormarsch an die Theiß intensivierte Russland seine Angriffe auf Rumänien in Bessarabien.

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2. Ausweitung des Krieges auf die Slowakei und Bessarabien Als sich der Krieg ausweitete, die sich neu bildende Tschechoslowakei Teile der Karpatenukraine eroberte und ins nördliche (heutige) Ungarn einmarschierte, intensivierte Russland seine Angriffe auf Rumänien in Bessarabien,82 da das bolschewistische Russland Rumäniens Annexion von Bessarabien nicht anerkannte. Ungarn und Rumänien schlossen schließlich einen Waffenstillstand. Die Kommunisten benötigten Zeit, um ihr Heer zu reorganisieren, während die Rumänen Truppen von der Theiß an den Dnister verlegten, um Russland zurückschlagen zu können.83 Am 17. Juli 1919 griffen ungarische Truppen die Theiß-Front an und überquerten am 20. Juli 1919 den Fluss.84 Der Gegenangriff der Rumänen veranlasste bis zum 26. Juli alle ungarischen Verbände zum Rückzug über die Theiß. Als die Rumänen nach diesem Sieg an der Theiß Truppen aus Bessarabien nach Westen verlegten, mussten die ungarischen Truppen kapitulieren85. Die rumänische Armee marschierte anschließend, am 4. August 1919, in Budapest86 und in Gyo˝ r ein, wo sie ihren Vormarsch beendete. Diese Erfolge brachten in der Folgezeit bis auf den Südwesten des Landes ganz Ungarn unter rumänische Kontrolle. Erst im März 1920 zogen die letzten rumänischen Truppen aus Ungarn ab. Das Verhältnis zwischen Ungarn und Rumänien war seitdem gespannt, insbesondere wegen der ungarischen Ansprüche auf Siebenbürgen. IV. Vertrag von Trianon 1. Allgemein Der Vertrag von Trianon war einer der fünf Pariser Vorortverträge, die den Ersten Weltkrieg formal beendeten. Ungarn unterzeichnete am 4. Juni 1920 den Friedensvertrag. Der Ort der Vertragsunterzeichnung war die Galerie des Cotelles im Schloss Grand Trianon. Der Vertrag bestätigte zumeist nur die faktisch bereits bestehende Situation. Zu den Signatarmächten des Vertrags von Trianon gehören das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien (die so genannte Triple-Entente), sie waren die eigent82

G. Juhász (Anm. 72), Hungarian Foreign Policy, S. 14 ff. M. Ormos, The Hungarian Soviet Republic and Intervention by the Entente, in: B. Kiraly/P. Pastor/I. Sanders (Hrsg.), War and Society in East Central Europe, Essays on World War I. Total War and Peacemaking, A Case Study on Trianon, Bd. 6, 1982. 84 G. Dan (Anm. 80), in: Romanian Postal History Bulletin, Nr. 17, August 1995. 85 Am 1. 8. 1919 kapitulierte die südliche Heeresgruppe Ungarns nach Kämpfen bei Szolnok. Bis zum 3. 8. 1919 wurden auch die nördlichen Truppen von den Rumänen eingekreist und mussten kapitulieren. 86 Damit stürzten sie die ungarische Räterepublik. Dies führte letztlich zum Sieg des Horthy-Regimes; R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 40), Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 4, S. 231. 83

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lichen Kriegsgegner der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn, ferner Belgien, Griechenland, Japan, Nicaragua, Panama, das im Herbst 1918 wiedererstandene Polen, Portugal, Rumänien, das neu gebildete serbisch-kroatisch-slowenische Königreich (mit Serbien als erstem von Österreich-Ungarn im August 1914 angegriffenen Staat), Siam und die neue Tschecho-Slowakei (die Exiltschechen in den USA hatten dort bereits während des Krieges für ihren gemeinsamen Staat mit den Slowaken geworben). Die Vereinigten Staaten unterzeichneten den Vertrag nicht; Ungarn und die USA beschlossen den Frieden in Washington, D.C. mit einem separaten Vertrag auf Grundlage des Vertrags von Trianon, jedoch ohne die Artikel zum Völker bund, bei dem die USA nur Beobachterstatus hatten. Der Vertrag von Saint Germain87 (von Österreich am 10. September 1919 unterschrieben) hatte überdies bereits die Entscheidung getroffen, dass Deutsch-Westungarn (Burgenland) an Österreich fällt. Ungarn forderte erfolglos eine Revision und eine Volksabstimmung über die abzutretenden Gebiete. Wie Deutschland und Österreich wurde Ungarn von der Entente als Kriegsverlierer und nicht als gleichwertiger Verhandlungspartner betrachtet. Ungarn musste damit völkerrechtlich verbindlich zur Kenntnis nehmen, dass zwei Drittel des Territoriums des historischen Königreichs Nachbar- und Nachfolgestaaten zufielen. 2. Sezessionen Der Vertrag von Trianon bestätigte im Jahre 1920 die bereits 1918/19 erfolgten Sezessionen vom Königreich Ungarn. - Tschechen und Slowaken riefen am 28. Oktober 1918 die Tschechoslowakische Republik aus. - Kroatien und Slawonien88 erklärten sich am 30. Oktober 1918 zum Teil des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat)89.

87 Text: österr. Staatsgesetzblatt Nr. 303/1920; http://www.versailler-vertrag.de/svsg/svsg-i. htm. Vgl. F. Prinz, 70 Jahre Saint Germain, in: Sudetenland. Vierteljahresschrift für Kunst, Literatur, Volkstum und Wissenschaft, Böhmen. Mähren. Schlesien, 1990, Heft 4, S. 290 ff. 88 Die Region liegt zwischen der Drau (Nordgrenze zu Ungarn) und der Save (südliche Grenze zu Bosnien-Herzegowina) und reicht im Osten bis zur Donau, der Grenze zu Serbien. Die Westgrenze Slawoniens ist geografisch nicht eindeutig festgelegt. Im Jahre 1849 wurde das Königreich Kroatien und Slawonien gebildet, das nach 1867 als autonomes Land Teil der ungarischen Reichshälfte wurde, während Dalmatien zu Cisleithanien kam. Vgl. https:// de.wikipedia.org/wiki/Slawonien. 89 SHS-Staat ist die Bezeichnung für das 1918 proklamierte „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ (,Kraljevina Srba, Hrvata i Slovenaca‘), 1929 in Königreich Jugoslawien umbenannt.

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- Die Rumänen Siebenbürgens90 sprachen sich am 1. Dezember 1918 in den Karlsburger Beschlüssen91 (Alba Iulia) für die Vereinigung mit dem Königreich Rumänien aus. - Die Volksversammlungen der Siebenbürger Sachsen und der Banater Schwaben entschieden sich im Jahr 1919 für die Vereinigung ihrer Gebiete mit Rumänien. - Deutsch-Westungarn, seit 1919 von den Österreichern Burgenland92 genannt, wurde im Herbst 1921 ohne Volksabstimmung an Österreich angegliedert. Damit erfolgten im Ergebnis folgende Gebietsabtretungen: - die heutige Slowakei und die Karpato-Ukraine93 gingen an die Tschechoslowakei, - Kroatien, Slawonien, Prekmurje94, die Regionen Batschka95 und Süd-Baranya96 (Drávaköz) und Teile des Banats gingen an das Königreich der Serben, Kroaten 90

Siebenbürgen gehörte ab dem Jahr 1001 jahrhundertelang zum Königreich Ungarn (H. Roth, Kleine Geschichte Siebenbürgens, 3. Aufl. 2007, S. 27 ff.). Im 12. Jahrhundert wurde die ungarischsprachige Volksgruppe der Szekler in die bis dahin unbesiedelte Grenzregion im äußersten Osten umgesiedelt (Szeklerland) (Roth, a.a.O., S. 29 f.). Stattdessen wurden für die Besiedelung des zentralen Gebiets von Siebenbürgen deutschsprachige Kolonisten aus dem Mittelrhein- und Moselgebiet sowie Flandern angeworben. Ihre Bezeichnung als „Sachsen“ geht wahrscheinlich auf ein Missverständnis oder einen Übersetzungsfehler zurück. Die deutschen Kolonisten wurden im Jahr 1224 vom ungarischen König in einem „Goldenen Freibrief“ mit umfassenden Privilegien ausgestattet und gründeten die sieben Städte Bistritz, Broos, Hermannstadt, Klausenburg, Kronstadt, Mühlbach und Schäßburg (Roth, a.a.O., S. 33 ff.). Eine bis zum Ende des 13. Jahrhunderts nicht in Erscheinung tretende Gruppe waren die Rumänen, die bis ins 19. Jahrhundert Walachen genannt wurden (Roth, a.a.O., S. 35). Ab 1711 war Siebenbürgen dann Teil des von den Habsburgern beherrschten Königreichs Ungarn, genoss aber dennoch Autonomie. Diese Herrschaft endete 1867, als Siebenbürgen mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich Teil der zentralistisch verwalteten ungarischen Reichshälfte wurde (Roth, a.a.O., S. 79 ff.). 91 Dazu auch: I. und W. Sedler, Zied (Veseud) – Ein Dorf im Ersten Weltkrieg 1914 – 1918. Fakten und Erinnerungen, in: H. Heppner (Hrsg.), Umbruch mit Schlachtenlärm: Siebenbürgen und der Erste Weltkrieg, 2017, S. 222 ff. (241). Text: http://doku.zenm-gegen-vertreibung. de/archiv/rumaenien/kapitel-3 – 6 – 1.htm. 92 Nach heftigen Protesten Ungarns wurde für die Stadt Ödenburg (Sopron), das als Hauptstadt des neuen österreichischen Bundeslandes Burgenland vorgesehen war, und seine Umgebung eine Volksabstimmung durchgeführt. Bei der Volksabstimmung ergab sich im Gesamtergebnis eine eindeutige Zwei-Drittel-Mehrheit für Ungarn. Die Bevölkerungsmehrheit in der Stadt Ödenburg stimmte für einen Verbleib bei Ungarn, die Gemeinden um Ödenburg hingegen stimmten für Österreich (blieben aber dennoch bei Ungarn, da das Abstimmungsgebiet nur insgesamt gewertet wurde). Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Burgen land (zuletzt abgerufen am 18. 2. 2018). 93 Die Karpatenukraine, heute auch Transkarpatien genannt, liegt im äußersten Westen der heutigen Ukraine. Das Gebiet grenzt an Rumänien, Ungarn, die Slowakei und Polen. Im 9. Jahrhundert war das Gebiet Teil von Großmähren, vom 10. Jahrhundert bis 1920 gehörte es zum Königreich Ungarn. 94 Prekmurje oder auf Deutsch das Übermurgebiet ist eine Region im äußersten Nordosten Sloweniens. Das Gebiet ist nach dem Fluss Mur benannt, der einst die in Ungarn lebenden Slowenen von den cisleithanischen Slowenen in der Untersteiermark trennte (die Untersteier-

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und Slowenen. Von der Batschka wurde der größte Teil Serbien zugeschlagen. Der nördliche kleinere Teil verblieb noch bei Ungarn. Das Gebiet der Baranya zwischen Donau und Draumündung gehörte vor 1921 noch zu Ungarn und wurde dem SHS-Staat zugesprochen. Das Banat wurde infolge des Vertrags von Trianon zwischen Rumänien, Serbien und Ungarn aufgeteilt. Rumänien erhielt zwei Drittel, Serbien knapp ein Drittel und Ungarn einen kleinen Zipfel im Nordwesten. - Siebenbürgen mit dem Rest des Banats und mit Partium97 fiel an Rumänien (Art. 45 – 47), - ein kleines Gebiet mit 14 Dörfern im äußersten Norden wurde Polen zugewiesen, - die Freie Stadt Fiume98 (St. Veit am Flaum bzw. Fiume bzw. Rijeka) fiel an Italien (Art. 53), - das heutige Burgenland kam zu Österreich. mark ist jener Teil des ehemaligen Herzogtums Steiermark, der zwischen der unteren Mur und der oberen Save liegt. Sie gehört seit dem Vertrag von St. Germain zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen und seit 1991 zu Slowenien). Nach dem Zerfall der Donaumonarchie im Jahre 1918 bildete sich in der dann Ungarn gehörenden Prekmurje 1919 die Murrepublik (Republik Prekmurje) der slowenischen Volksgruppe, die aber nur sechs Tage bestand. Nach dem Scheitern der Sezession verlangte die slowenische Volksgruppe des Gebietes eine Vereinigung mit der slowenisch dominierten Untersteiermark, die seit 1918 dem neuen SHS-Staat (Königreich Jugoslawien) angehörte. Mit dem Vertrag von Trianon wurde die Prekmurje 1920 dann aus Ungarn herausgelöst und dem SHS-Staat unterstellt; heute gehört das Prekmurje zu Slowenien; vgl. dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Prekmurje, ferner: https://de.wikipedia.org/ wiki/Untersteiermark (zuletzt abgerufen am 18. 2. 2018). 95 Die Batschka ist heute zwischen den Staaten Serbien und Ungarn aufgeteilt, wobei der südliche und größte Teil zu Serbien gehört. Drei Bezirke der autonomen serbischen Provinz Vojvodina gehören zur Batschka. Der nördliche Teil dagegen gehört zu Ungarn und bildet den südlichen Teil des Komitats (Verwaltungsbezirk) Bács-Kiskun. 96 Baranya (deutsch Branau) ist das südlichste Komitat (Verwaltungsbezirk) in Ungarn. Es grenzt an Kroatien sowie an die Komitate Somogy, Tolna und Bács-Kiskun. Der Komitatssitz ist Pécs (Fünfkirchen). Ein kleines Gebiet zwischen Donau und Draumündung gehörte vor 1921 noch zum Komitat und gehört jetzt zu Kroatien (Gespanschaft Osijek-Baranj). 97 Das Partium, abgeleitet vom lateinischen „partium regni Hungariae“ (deutsch: „von Teilen des Königreichs Ungarn“), ist eine geografische Sammelbezeichnung für die mittelostungarischen Komitate jenseits der Theiß, die im 16. Jahrhundert unter die Hoheit der siebenbürgischen Fürsten kamen. Als geografischer Begriff wurde Partium benutzt, um diesen Landesteil vom historischen Siebenbürgen abzugrenzen, das 1867 formell wieder Teil des Königreichs Ungarn wurde. Heute zählt man zum Partium ungefähr das Territorium der rumänischen Kreise Maramures¸, Satu Mare, Sa˘ laj, Bihor und Arad sowie die ungarischen Gebieten östlich der Theiß. Das Partium ist nicht Bestandteil des historischen Siebenbürgens, wird aber heute im rumänischen Sprachgebrauch oft zu Transsilvanien gezählt. Vgl. https://de. wikipedia.org/wiki/Partium. 98 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Frage des Status von Fiume (heute Rijeka) zu einem internationalen Problem. Es gab einen Streit zwischen dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen und dem Königreich Italien um die Zugehörigkeit der Stadt. Die Siegermächte sprachen sich für die Schaffung eines unabhängigen Pufferstaates aus. Der USamerikanische Präsident Woodrow Wilson schlug vor, dass Fiume unabhängig und eventuell ein zukünftiger Sitz des Völkerbundes werden sollte. Schließlich landeten dort britische und

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3. Folge des Friedens von Trianon Ungarn verlor durch den Vertrag von Trianon zwei Drittel seines Staatsgebietes: das Burgenland, Kroatien und Slawonien, die Slowakei, Siebenbürgen, die Karpatenukraine, das Banat, die Vojvodina sowie Fiume. Somit schrumpfte Ungarn von 279.090 km2 um 186.060 km2 auf 93.030 km2. 63 Prozent der einstigen Länder der heiligen Stephanskrone befanden sich nach diesem Vertrag außerhalb der neuen Grenzen. Wenn heute in Ungarn von Großungarn (ungarisch: Nagy-Magyarország) die Rede ist, ist das Gebiet des Reichs der vereinigten Länder der Stephanskrone, also das Königreich Ungarn mit seinen Nebenländern (Slowakei, Karpatenukraine, Banat, Vojvodina, Burgenland, Siebenbürgen und kleine Grenzgebiete im heutigen Polen, seltener auch die ehemals autonomen Länder Kroatien-Slawonien und Fiume) gemeint oder ein „Ungarn“, das zumindest alle Siedlungsgebiete der Magyaren (ethnische Ungarn) umfasst. Weil die Grenzen oft nach strategischen Aspekten oder willkürlich gezogen wurden, ohne auf die dort lebende Bevölkerung Rücksicht zu nehmen, gerieten durch den Friedensvertrag von Trianon etwa drei Millionen Magyaren unter fremde Oberhoheit.99 Die meisten Magyaren außerhalb Ungarns lebten in Grenzgebieten – in der südlichen Slowakei, in der Karpatenukraine (1.072.000), in der Vojvodina (Nordserbien), in Partium und in Prekmurje (Slowenien, 571.000) sowie in Rumänien (1.664.000)100. In Rumänien und in der heutigen Slowakei gab es Inseln mit überwiegend ungarischer Bevölkerung, heute sind die Ungarn dort teilweise die Minderheit. Durch die Zerschlagung der Habsburger Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg wurde aus dem Vielvölkerstaat Ungarn ein Nationalstaat.101 Nach der Volkszählung von 1920 hatten infolge der Gebietsabtretungen nur noch 10,4 % der Gesamtbevölkerung des verkleinerten Ungarns (833.475) eine andere Muttersprache als Unga-

französische Truppen, um die Kontrolle in der Stadt zu übernehmen. Am 12. 11. 1920 unterzeichneten das Königreich Italien und das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen den Grenzvertrag von Rapallo, in dem beide Parteien die Anerkennung eines freien und unabhängigen Freistaates Fiume vereinbarten und sich verpflichteten, dessen Unabhängigkeit in Ewigkeit zu respektieren. Damit wurde der „Freistaat Fiume“ geschaffen, der als unabhängiger Staat vier Jahre existierte. Am 27. 1. 1924 stimmte das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen im Vertrag von Rom (League of Nations Treaty Series, vol. 24, S. 32 ff.) der Einver leibung der Stadt durch Italien zu, die am 16. 3. 1924 vollzogen wurde. Vgl. https://de.wikipe dia.org/wiki/Freistaat_Fiume#cite_note-4; http://www.mein-italien.info/geschichte/fiume.htm (zuletzt abgerufen am 18. 2. 2018). 99 P. Lendvai (Anm. 37), Die Ungarn, S. 418. 100 Angaben auf Grundlage der Volkszählung von 1910, vgl. A. Kovács-Bertrand, Der ungarische Revisionismus nach dem Ersten Weltkrieg. Der publizistische Kampf gegen den Friedensvertrag von Trianon (1918 – 1931), 1997, S. 91 und 213. 101 G. Brunner, Der Minderheitenschutz in Ungarn, in: G. Brunner/G. H. Tontsch (Hrsg.), Der Minderheitenschutz in Ungarn und in Rumänien. Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, 1995, S. 20.

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Abb. 3: AlphaCentauri, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%C3%96sterreich-Ungarns_ Ende.png#/media/File:%C3%96sterreich-Ungarns_Ende.png

risch, darunter 551.211 Deutsche (6,9 %) und 141.882 Slowaken (1,8 %), 59.875 Kroaten, 23.760 Rumänen, 17.131 Serben, 6078 Slowenen und 6989 Zigeuner102. Damit leben nun Millionen Ungarn außerhalb der Landesgrenzen. Sie wohnen in fremden Staaten und dort in Gebieten, die völlig oder nahezu völlig von Ungarn besiedelt sind, aber auch vermischt mit anderen Nationalitäten. Die neuen Grenzen zerteilen historisch gewachsene Gebiete. Viele bei Ungarn verbliebene Städte verloren ihr Hinterland, das anderen Staaten zugesprochen wurde, und damit ihre ökonomische Basis. Kritisiert wird auch, dass mehrere Eisenbahnstrecken unweit der ungarischen Grenze verliefen, aber für die Ungarn nun schwer erreichbar wurden.103 Verständlich ist daher die bis heute existierende Kritik am Vertrag von Trianon: „Nem, nem, soha!“ („nein, nein, niemals!“) bringt die Ablehnung bis heute zum Ausdruck.104 Miklós Horthy105, der am 20. März 1920 vom Budapester Parlament zum Reichsverweser gewählt wurde, bemühte sich von Anfang an um die Revision der Gren102 G. Brunner (Anm. 98), in: G. Brunner/G. H. Tontsch, S. 20. Vgl. auch R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 40), Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 4, S. 167. 103 I. Lázár (Anm. 36), S. 190 f. 104 Dazu: https://hu.wikipedia.org/wiki/Nem,_nem,_soha! 105 Zu seiner nicht unumstrittenen Person: I. Reinert-Tárnoky, Horthy von Nagybánya, Miklós, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Bd. 2, 1976, S. 183 ff.; M. D. Fenyo, Hitler, Horthy, and Hungary, 1972; P. Gosztony, Miklós von Horthy, Admiral und Reichsverweser. Biographie, 1973.

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zen.106 Den einzigen Erfolg erzielte er im Westen. Ödenburg (ungarisch: Sopron)107 und Umgebung war nämlich dem neu gebildeten österreichischen Bundesland Burgenland zugesprochen worden. Ödenburg sollte sogar Hauptstadt dieses neu gebildeten Bundeslandes werden. Durch einen Überfall wurde aber die schwache österreichische Besatzung in die Flucht geschlagen. In einer von den Siegern akzeptierten Volksabstimmung108 sprachen sich die Menschen dann für einen Verbleib bei Ungarn aus.109 Ungarn wurde wie das Deutsche Reich und Österreich zu Reparationszahlungen verpflichtet, die 33 Jahre lang abbezahlt werden sollten. Die Stärke des Heeres wurde auf 32.000 Mann beschränkt. Nominell war Ungarn immer noch ein Königreich, regiert wurde es aber von Miklós Horthy als Reichsverweser. Wegen der willkürlichen und widersinnigen Grenzziehung fühlt sich die ungarische Nation verständlicherweise bis heute ungerecht behandelt. V. Fortbestehen Ungarns Der Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie wirft rechtsdogmatisch mehrere Fragen auf: (1) Ist Österreich als Rechtssubjekt identisch mit ÖsterreichUngarn, der Habsburger Monarchie, dann müsste die Habsburger Monarchie ein Staat gewesen sein. Ungarn hätte sich dann davon abspalten können und wäre in Bezug auf den vorhergehenden Gesamtstaat Rechtsnachfolger. Es läge eine Sezession Ungarns vor. (2) Es könnte aber auch sein, dass die k. und k. Monarchie durch Dismembration in die Staaten Österreich und Ungarn zerfallen ist; aber auch dann müsste die Donaumonarchie ein Staat gewesen sein. (3) Oder ist Österreich subjektsidentisch mit Österreich als Teil der k. und k. Monarchie und Ungarn subjektsiden106

Vgl. G. Schlag, Die Grenzziehung Österreich-Ungarns 1922/23, in: Amt der Burgenlandischen Landesregierung, Landesarchiv-Landesbibliothek (Hrsg.), Burgenland in seiner pannonischen Umwelt. Festgabe für August Ernst, 1984, S. 333 ff. Zu Horthys Politik vgl. R. Geyer/E. von Vietsch (Anm. 40), Die Große Enzyklopädie der Erde, Bd. 4, S. 167. 107 Von 1459 bis 1462 war Ödenburg habsburgisch geworden, wurde aber mit dem Frieden von Ödenburg wieder Ungarn zugesprochen. Im Jahr 1526 fiel mit Ungarn auch Ödenburg durch Erbschaft an Habsburg. Ödenburg verblieb aber im ungarischen Reichsteil der Habsburger Monarchie. 108 Österreichische Autoren beschrieben den Ablauf der Volksabstimmung als Betrug und Fälschung. Vgl. K. Koch/W. Rauscher/A. Suppan (Hrsg.), Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich. Bd. 4: Zwischen Staatsbankrott und Genfer Sanierung. 11. Juni 1921 bis 6. November 1922, 1998, Dokument 625: Memorandum an Regierung, 19. Dezember 1921, S. 205. Ferner: J. D. Berlin, The Burgenland Question 1918 – 1920: From the Collapse of Austria-Hungary to the Treaty of Trianon, phil. Diss. Madison 1974, S. 352. Die Ungarn sahen es anders: L. Fogarassy, Die Volksabstimmung in Ödenburg (Sopron) und die Festsetzung der österreichisch-ungarischen Grenze im Lichte der ungarischen Quellen und Literatur, in: Südostforschungen. Internationale Zeitschrift für Geschichte, Kultur und Landeskunde Südosteuropas, 35 (1976), S. 150 ff. 109 I. Lázár (Anm. 36), S. 192.

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tisch mit Ungarn als Teil der k. und k. Monarchie? (4) Österreich und Ungarn könnten auch als Teile der k. und k. Monarchie untergegangen sein, so dass die Republik Österreich und die Republik Ungarn Rechtsnachfolger wären. H. W. V. Temperley bemerkte zur Problematik: „No political community has ever presented more complex legal problems than Austria-Hungary, and even its death agonies caused infinite difficulties to lawyers and diplomats“.110 Die Bestimmungen des Friedensvertrages selbst geben keinen Aufschluss über die Frage, ob das heutige Österreich oder das heutige Ungarn subjektsidentisch, allerdings territorial verkleinert, mit den beiden Reichshälften fortexistieren oder Nichtidentität, also Rechtsnachfolge, vorliegt. An einigen Stellen wird lediglich auf die ehemalige österreichische Regierung Bezug genommen, ohne dass daraus die These der Kontinuität mit der österreichischen Reichshälfte herausgelesen werden könnte. Ein wichtiges Indiz, wonach die Republik Österreich gemäß Friedensvertrag kein neuer Staat sein könnte, ist allerdings die Streichung eines in der Endfassung des Friedensvertrags nicht mehr auftauchenden Absatzes der Präambel. In den Entwürfen vom 2. Juni und 20. Juli 1919 sahen die Alliierten und assoziierten Hauptmächte nämlich noch ausdrücklich vor, dass unter dem Namen Österreich ein neuer unabhängiger Staat anerkannt würde.111 In der Endfassung findet sich aber ein solcher Passus nicht mehr. Auch wurde der Vorschlag für die Präambel, wonach alle Nachfolgestaaten einschließlich Österreich als Erben des alten Kaiserstaates angesehen werden sollten, nicht berücksichtigt. Die Nichtberücksichtigung dieser Passagen könnte auf Kontinuität deuten oder darauf, dass sich die Siegermächte selbst nicht im Klaren oder einig waren. Jedenfalls ist in Bezug auf die Frage der Identität der Wortlaut der Friedensverträge nicht eindeutig. Es gehen nämlich die finanziellen Bestimmungen in der Hauptsache von der Diskontinuität aus, während dem Rest des Vertrages, namentlich den politischen, territorialen und wirtschaftlichen Klauseln, Kontinuität zugrundeliegt. Die Fragen der Kontinuität oder Diskontinuität werden in der Literatur unterschiedlich beantwortet. Einmal wird Österreich-Ungarn implizit als Vorgängerstaat im Sinne einer Identität von Österreich bezeichnet, ein andermal nur die österreichische Reichshälfte. Nach Fiedler seien die Siegermächte von der Identität der Republik Österreich mit dem Völkerrechtssubjekt Österreich-Ungarn ausgegangen112. Manche Autoren schließen die österreichisch-ungarische Monarchie als identischen Vorgängerstaat aus, weil sie ihr als Staatenverbindung völkerrechtliche Persönlichkeit, nicht aber Staatscharakter zuerkennen. Aus diesem Grund sei die österreichischungarische Staatenverbindung als Realunion untergegangen, ohne die Voraussetzun110

H. W. V. Temperley, A History of the Peace Conference of Paris, vol. IV, 1921, S. 400. H. Haas, Österreich-Ungarn als Friedensproblem. Aspekte der Friedensregelung auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie in den Jahren 1918 – 1919, phil. Diss. Salzburg, 1968, S. 93, 95 m. w. N.; Y. Huguenin-Bergenat, Kulturgüter bei Staatensukzession. Die internationalen Verträge Österreichs nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie im Spiegel des aktuellen Völkerrechts, 2010, S. 69. 112 W. Fiedler (Anm. 8), Staatskontinuität, 1970, S. 30 Fn. 155. 111

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gen einer Staatensukzession erfüllen zu können.113 Oftmals wird die österreichische Reichshälfte als Vorgängerstaat bezeichnet. Für Silagi änderte die (Rechts-)Behauptung Österreichs in den Jahren 1918/19, ein „Neustaat“ zu sein, nichts an der völkerrechtlichen Kontinuität zum Kaisertum, wie sie sich im Vertrag von Saint Germain manifestiert habe.114 Die, vor allem österreichische, Literatur geht mehrheitlich davon aus, dass keine Identität zwischen der österreichisch-ungarischen Monarchie beziehungsweise der österreichischen Reichshälfte und der Republik Österreich bestand. Damit lehnt sie die These von der Identität und Kontinuität der Republik Österreich mit Österreich-Ungarn beziehungsweise mit der österreichischen Reichshälfte ab.115 Mit der Bildung der Republik Österreich nach dem Ersten Weltkrieg sei vielmehr ein neuer Staat gegründet worden, während die österreichisch-ungarische Monarchie beziehungsweise die österreichische Reichshälfte untergegangen seien und zwar durch Dismembration. Innerhalb Österreichs fand die Auffassung von der Rechtsnachfolge sowie der fehlenden Identität und damit der Diskontinuität Ausdruck in diversen Verfassungsbestimmungen, die nach dem Jahre 1918 erlassen wurden. So übernahm im Jahr 1918 Deutschösterreich gemäß dem Gesetz über die Staats- und Regierungsform vom 12. November 1918116 die Aufträge und Vollmachten der k. und k. Ministerien und der k.k. Ministerien unter ausdrücklicher Ablehnung jeder Rechtsnachfolge. Allerdings würde die Ablehnung jeder Rechtsnachfolge streng genommen Identität bedeuten, aber es ist von einem falschen Verständnis des Begriffs Rechtsnachfolge auszugehen, der nur bei einem Untergang des Vorgängerstaates greift. Ferner unterwarf sich Österreich dem Friedensvertrag nur soweit es dazu verpflichtet war. Art. 1 des Gesetzes vom 21. Oktober 1919 über die Staatsform117 lautet darum: „Die Republik Österreich übernimmt jedoch – unbeschadet der im Staatsvertrag von St. Germain auferlegten Verpflichtungen – keinerlei Rechtsnachfolge nach dem ehemalige Staate Österreich (…).“ Auch hier wird der Begriff der Rechtsnach113 M. Silagi, Staatsuntergang und Staatennachfolge, 1996, S. 30 ff.; K. Marek (Anm. 15), S. 207. 114 Vgl. hierzu M. Silagi (Anm. 110), S. 30 ff., 36 ff. 115 H. Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, S. 79 ff.; O. Lehner, The Identity of Austria 1918/19 as a Problem of State Succession, in: Austrian Journal of Public International Law 44 (1992), S. 63 ff. (81 ff.); ders., Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 2007, S. 261; K. Marek (Anm. 15), S. 203, 235 f.; W. Hummer, Die völkerrechtliche Stellung und der internationale Status Österreichs seit dem Ersten Weltkrieg, in: H.-P. Neuhold/ W. Hummer/C. Schreuer (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, S. 563 f. Rn. 3030; ferner: D. P. O’Connell, The Law of State Succession, vol. II: International Relations, 1967, S. 88, 164, 178 f. 116 Text: Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich, StGBl. Nr. 5/ 1918, in: Staatsgesetzblatt für den Staat Deutschösterreich, 1918, S. 4 f., http://alex.onb.ac.at/ cgi-content/alex?apm=0&aid=sgb&datum=19180000&page=26. 117 Text: Gesetz über die Staatsform, StGBl. Nr. 484/1919, in: Staatsgesetzblatt für den Staat Deutschösterreich, 1919, S. 1153; http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid=sgb&da tum=19190000&page=1229.

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folge missverstanden. Wenn nämlich, und das wollte man ja zum Ausdruck bringen, Österreich nicht für Österreich-Ungarn oder die österreichische Reichshälfte haften möchte, verneint man die Identität. Damit ist man aber Rechtsnachfolger und deswegen nach Völkerrecht nicht mehr verantwortlich. Mit diesem Wortlaut verdeutlichte Österreich, dass aus seiner Sicht der Vertrag von Saint Germain ein Staatsvertrag war.118 Auch im Verhältnis zu Drittstaaten, die nicht Partei des Friedensvertrags von Saint Germain waren, hält Österreich an der These der Diskontinuität fest.119 Der Wiener Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Österreich vom 24. August 1921120 scheint ebenfalls von einem neuen Staat Österreich auszugehen.121 Wäre Österreich mit der österreichisch-ungarischen Monarchie subjektsidentisch, würden die Verträge, die mit der österreichisch-ungarischen Monarchie vereinbart wurden, für Österreich fortgelten. Ungarn allerdings wäre insoweit Rechtsnachfolger. Die Donaumonarchie war aber – wie oben bereits geklärt – kein Staat, sondern eine Realunion, die vielleicht – ausnahmsweise – Rechtspersönlichkeit besaß.122 Man hätte also mit dieser Rechtspersönlichkeit durchaus einen Vertrag schließen können. Da dies aber nicht geschah, ist zu unterstellen, dass entweder die Alliierten diese Rechtspersönlichkeit anzweifelten oder aber die Realunion bereits untergegangen war, so dass sie als Vertragspartner nicht mehr zur Verfügung stehen konnte. Das letztere ist wahrscheinlicher. Man wird also vom Untergang der k. und k. Monarchie auszugehen haben, da die Siegermächte mit dieser keinen Friedensvertrag geschlossen haben.123 Allerdings bedeutet der Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie als Realunion nicht automatisch auch den Untergang der beiden Reichshälften. Österreich und Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg könnten somit mit den beiden Reichs118 Vgl. auch G. Stourzh, Um Einheit und Freiheit: Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945 – 1955, 4. Aufl. 1998; dort ist nur von einem Staatsvertrag die Rede. 119 K. Marek (Anm. 15), S. 231 ff.; Y. Huguenin-Bergenat (Anm. 108), S. 73. 120 Text: BGBl. Nr. 643/1921; http://www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Bundes normen&Dokumentnummer=NOR11000059. Dort wird der Friedensvertrag als „Staatsvertrag“ bezeichnet. Dazu F. F. G. Kleinwächter, Von Schönbrunn nach St. Germain. Die Entstehung der Republik Österreich, 1964, S. 300 f. 121 Marek (Anm. 15), S. 232; Y. Huguenin-Bergenat (Anm. 108), S. 73. 122 Ein Indiz wäre gegeben, wenn die Donaumonarchie Verträge abgeschlossen hätte. In der Zeit des klassischen Völkerrechts unterzeichneten in der Regel die Monarchen die Verträge in ihrem Namen, ohne dass stets hinreichend deutlich wäre, für welche ihrer Länder. Anders im Vertrag über die Neutralität Belgiens: Der Vertrag beginnt folgendermaßen: „Treaty between Great Britain, Austria, France, Prussia and Russia, on the one part, and the Netherlands, on the other. In the Name of the Most Holy and Indivisible Trinity. Her Majesty the Queen of the United Kingdom of Great Britain and Ireland, His Majesty the Emperor of Austria, King of Hungary and Bohemia, (…)“. (Text: https://wwi.lib.byu.edu/index.php/Trea ties_and_Documents_Relative_to_the_Neutrality_of_the_Netherlands_and_Belgium). 123 Vgl. dazu auch Y. Huguenin-Bergenat (Anm. 108), S. 69.

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hälften Österreich und Ungarn innerhalb der Realunion identisch sein. Dafür spricht, dass die Siegermächte sowohl mit Österreich als auch mit Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg Friedensverträge geschlossen haben. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn beide Gebilde entweder keine Staatsqualität innerhalb der Realunion gehabt hätten oder ebenfalls untergegangen wären. Diese Tatsache der Friedensvertragsschlüsse spricht dafür, dass nach dem Verschwinden der Realunion Österreich und Ungarn in Kontinuität als subjektsidentisch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs weiterexistieren. Die Sezessionen und damit die Verkleinerungen des Staatsgebiets sind irrelevant. Wäre aber Österreich als Teil der Realunion untergegangen, wäre der Kriegsgegner untergegangen und man würde mit ihm keinen (Friedens)vertrag mehr schließen können.124 Im Zweifelsfalle spricht im Übrigen die Vermutung für Kontinuität, die hier nicht widerlegt werden kann. Ungarn ist damit als Rechtssubjekt identisch mit dem in die Realunion eingebundenen königlichen Ungarn, aber territorial erheblich verkleinert, was aber für die Rechtskontinuität keine Rolle spielt. VI. Resümee Nach 145 Jahren türkischer Besetzung eroberten im Jahr 1686 die Habsburger ganz Ungarn. Die Pragmatische Sanktion vom 19. April 1713 und ihre Anerkennung durch die Länder gelten als eigentlicher Gründungsakt der Habsburgermonarchie. In ihr bekundeten nämlich die Länder ihren Willen zum Aufbau eines gemeinsamen Staatswesens. Bis zur Pragmatischen Sanktion gab es keine Verfassungsurkunde, die die Zugehörigkeit der Kronländer zu einem gemeinsamen Staat festgelegt hätte. Bislang war die Monarchie ein heterogenes Konglomerat verschiedener Territorien, Königreiche und Länder, das nur durch den gemeinsamen Monarchen an der Spitze zusammengehalten wurde. In den Ländern waren zudem die Erbfolgeregelungen unterschiedlich. Da die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem ungarischen Adel und dem Kaiser in Wien nicht beseitigt werden konnten, entluden sie sich in der Revolution von 1848/49. Die Beschränkung der inneren Autonomie in den Ländern der ungarischen Krone konnte wegen des passiven Widerstandes der führenden magyanischen Schichten gegen den Einheitsstaat nicht mehr aufrechterhalten werden. Mit dem Oktoberdiplom des Monarchen vom 20. Oktober 1860 wurde die alte Verfassung Ungarns vor 1848 im Wesentlichen wiederhergestellt. Ungarisch wurde als Amtssprache anerkannt. Nach anhaltenden Unruhen im Land wurde Ungarn dann durch den Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867 gleichberechtigter Teil der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Der Österreichisch-Ungarische Ausgleich von 1867 berief sich ausdrücklich auf die Pragmatische Sanktion als Grundlage der Verbindung zwischen den Ländern der ungarischen Krone (Transleithanien) und den übrigen Königreichen und Ländern Seiner Majestät (Cisleithanien). Am 17. Februar 124

So richtig auch Y. Huguenin-Bergenat (Anm. 108), S. 71.

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1867 ernannte Franz Joseph I. die neue ungarische Regierung unter dem Grafen Andrássy. Am 27. Februar 1867 wurde der ungarische Reichstag wiederhergestellt. Am 15. März 1867 leistete in Buda Graf Andrássy mit seiner Regierung König Franz Joseph I. den Treueid. Damit traten die Regelungen des Österreichisch-Ungarischen Ausgleichs faktisch in Kraft. Dieser Tag gilt als Geburtstag der Doppelmonarchie, wenn auch die Ausgleichsgesetze erst am 22. Dezember 1867 rechtlich in Kraft traten. Franz Joseph I. wurde am 8. Juni 1867 in Buda zum König von Ungarn gekrönt. Er war somit formal das gemeinsame konstitutionelle Staatsoberhaupt (Personalunion), unter dessen Leitung sowohl die Außenpolitik, das gemeinsame Heer und die Kriegsmarine als auch die dazu nötigen Finanzen in den entsprechenden drei Reichs-, später k. u. k. Ministerien mit Sitz in Wien gemeinsam verwaltet wurden. Alle anderen Angelegenheiten konnten Österreich und Ungarn von nun an getrennt regeln (es kam jedoch freiwillig zu einem gemeinsamen Währungs-, Wirtschafts- und Zollgebiet). Der Ausgleich brachte Ungarn eine weit reichende staatliche Autonomie. Diese hatte allerdings den Protest der anderen im Reiche lebenden Nationalitäten zur Folge. Konkrete Forderungen nach einem ähnlichen Ausgleich wurden vor allem von den Tschechen für die Länder der böhmischen Krone (Böhmen, Mähren, ÖsterreichischSchlesien) erhoben. Die Österreichisch-Ungarische Monarchie war in der letzten Phase des Habsburgerreiches zwischen 1867 und 1918 eine Realunion, also eine völkerrechtliche Verbindung selbständiger Staaten durch ein gemeinsames Staats oberhaupt (wie bei der Personalunion, in der Staatspraxis stets ein Monarch), hatte darüber hinaus aber auch weitere gemeinsame Institutionen, also Staatsorgane oder Verwaltungseinrichtungen. Die Verbindung ist mithin intensiver und stärker verrechtlicht als bei der bloßen Personalunion. Nach der Niederlage 1918 wurde Ungarn wieder als unabhängiger Staat neu konstituiert. Im Jahre 1919 wurde unter der Führung von Béla Kun eine Räterepublik installiert, die aber nach der Niederlage im Krieg gegen Rumänien unterging. Diese Verfassungsänderung hatte keine Auswirkung auf die Identität des Landes. Der Vertrag von Trianon bestätigte im Jahre 1920 die bereits 1918/19 erfolgten Sezessionen vom Königreich Ungarn. Damit erfolgten im Ergebnis folgende Gebietsabtretungen: die heutige Slowakei und die Karpato-Ukraine gingen an die Tschechoslowakei, das heutige Burgenland wurde Österreich zugesprochen, Kroatien, Slawonien, Prekmurje, die Regionen Batschka und Süd-Baranya (Drávaköz) sowie Teile des Banats fielen an das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Von der Batschka wurde der größte Teil Serbien zugeschlagen. Der nördliche kleinere Teil verblieb noch bei Ungarn. Das Gebiet der Baranya zwischen Donau und Draumündung gehörte vor 1921 noch zu Ungarn und wurde Teil des SHS-Staats. Das Banat wurde infolge des Vertrags von Trianon zwischen Rumänien, Serbien und Ungarn aufgeteilt. Rumänien erhielt zwei Drittel, Serbien knapp ein Drittel und Ungarn einen kleinen Zipfel im Nordwesten. Siebenbürgen mit dem Rest des Banats und mit dem Partium fiel an Rumänien (Art. 45 – 47), ein kleines Gebiet mit 14 Dörfern im äußersten Norden wurde Polen zuerkannt, die Freie Stadt Fiume (St. Veit am Flaum bzw. Fiume bzw. Rijeka) kam zu Italien (Art. 53).

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Ungarn verlor durch den Vertrag von Trianon zwei Drittel seines Staatsgebietes: das Burgenland, Kroatien und Slawonien, die Slowakei, Siebenbürgen, die Karpatenukraine, das Banat und die Vojvodina. Somit schrumpfte Ungarn von 279.090 km2 um 186.060 km2 auf 93.030 km2. 63 % der einstigen Länder der heiligen Stephanskrone befanden sich nach diesem Vertrag außerhalb der neuen Grenzen. Weil die Grenzen oft nach strategischen Aspekten oder willkürlich gezogen wurden, ohne auf die dort lebende Bevölkerung Rücksicht zu nehmen, gerieten durch den Friedensvertrag von Trianon etwa drei Millionen Magyaren unter fremde Oberhoheit. Die Donaumonarchie war kein Staat, sondern eine Realunion, der Rechtspersönlichkeit zugebilligt werden konnte. Man hätte also mit dieser Rechtspersönlichkeit durchaus auch Verträge schließen können. Da dies aber nicht geschah, ist zu unterstellen, dass entweder die Alliierten diese Rechtspersönlichkeit anzweifelten oder aber die Realunion bereits untergegangen war, so dass sie als Vertragspartner nicht mehr zur Verfügung stand. Man wird also vom Zerfall der k. und k. Monarchie auszugehen haben. Allerdings bedeutet das Verschwinden der österreichisch-ungarischen Monarchie als Realunion nicht automatisch auch den Untergang der beiden Reichshälften. Österreich und Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg könnten somit mit den beiden Reichshälften Österreich und Ungarn innerhalb der Realunion identisch sein. Dafür spricht, dass die Siegermächte sowohl mit Österreich als auch mit Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg Friedensverträge geschlossen haben. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn beide Gebilde entweder keine Staatsqualität innerhalb der Realunion gehabt hätten oder ebenfalls untergegangen wären. Diese Tatsache der Friedensvertragsschlüsse spricht dafür, dass nach dem Verschwinden der Realunion Österreich und Ungarn in Kontinuität als subjektsidentisch weiterexistieren. Die Sezessionen und damit die Verkleinerung des Staatsgebiets sind irrelevant. Dass Österreich in seinen Gesetzen von einem Neustaat ausging und jede Identität mit der Doppelmonarchie oder dem Kaiserlichen Österreich in der Realunion ausschließt, vermag die im Völkerrecht gefundenen Aspekte, die für eine Kontinuität sprechen, nicht zu verdrängen. Wäre aber Österreich als Teil der Realunion untergegangen, wäre der Kriegsgegner untergegangen und man könnte mit ihm keinen (Friedens)vertrag mehr schließen. Schließlich spricht auch im Zweifelsfalle die Vermutung für Kontinuität. Ungarn ist rechtssubjektsidentisch mit dem königlichen Ungarn innerhalb der Realunion der k. und k. Monarchie, aber territorial erheblich verkleinert. Diese Gebietsverluste sind aber für die Fortexistenz Ungarns, dessen Identität und Kontinuität mit dem königlichen Ungarn, irrelevant. * Abstract Gilbert H. Gornig: Hungary and the Peace of Trianon. Also a Contribution to the Continuance or Demise of States (Ungarn und der Frieden von Trianon. Auch ein Beitrag zum Fortbe-

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stand oder Untergang von Staaten), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 2 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 2), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 191 – 222. After 145 years of Turkish occupation, the Habsburgs conquered Hungary in 1686. The Pragmatic Sanction of 19 April 1713, and its recognition by the states, was regarded as the actual founding act of the Habsburg monarchy. For in them, the countries expressed their desire to build a common state. Until the Pragmatic Sanction, there was no constitutional document that would have determined the membership of the crown lands to a common state. So far, the monarchy has been a heterogeneous conglomerate of territories, kingdoms, and lands, held together only by the common monarch at the head. In addition, succession regulations differed between countries. Since the disagreements between the Hungarian nobility and the emperor in Vienna could not be eliminated, the revolution of 1848 – 49 followed. The restriction of internal autonomy in the countries of the Hungarian crown could no longer be maintained because of the passive resistance of the leading Magyar strata against the unitary state. With the October Diploma of the Monarch of October 20, 1860, the old constitution of Hungary was essentially restored before 1848. Hungarian was recognized as an official language. After continuing unrest in the country Hungary was then by the Austro-Hungarian Settlement of 1867 equal part of the double monarchy Austria-Hungary. The Austro-Hungarian Settlement of 1867 explicitly referred to the Pragmatic Sanction as the basis for the connection between the lands of the Hungarian Crown (Transleithania) and the other kingdoms and lands of His Majesty (Cisleithania). On February 17, 1867, Franz Joseph I. appointed the new Hungarian government under Count Andrássy. On February 27, 1867, the Hungarian Reichstag was restored. On March 15, 1867, in Budapest, Count Andrássy and his reign, King Franz Joseph I took the oath of allegiance. In fact, the regulations of the Austro-Hungarian Settlement entered into force. This day is considered the birthday of the double monarchy, although the equalization laws came into force on December 22, 1867. Franz Joseph I was crowned King of Hungary on June 8, 1867 in Buda. He was thus formally the common constitutional head of state (personal union), under whose leadership both the foreign policy, the common army and the navy as well as the necessary finances in the corresponding three imperial, later “k. und k.” Ministries based in Vienna were jointly managed. All other matters could now be regulated separately for Austria and Hungary (however, there was a voluntary monetary, economic and customs area). The compensation gave Hungary a farreaching state autonomy. However, this resulted in the protests of the other nationalities living in the Reich. Concrete demands for a similar compensation were raised above all by the Czechs for the lands of the Bohemian crown (Bohemia, Moravia, Austrian Silesia). The Austro-Hungarian Monarchy was in the last phase of the Habsburg Empire between 1867 and 1918 a Real Union, i. e. an international law connection of independent states by a common head of state (as in the Personal Union, in the state practice always a monarch), but also had other common Institutions, i. e. state organs or administrative institutions. The connection is therefore more intense and more legally than the mere Personal Union. After the defeat in 1918, Hungary was reconstituted as an independent state. In 1919, under the leadership of Béla Kun a soviet republic was installed, which was eliminated after the defeat in the war against Romania. This constitutional amendment did not affect the identity of the country. The Treaty of Trianon confirmed in 1920 the already 1918/19 secession of the Kingdom of Hungary. As a result, the following territorial assignments took place: the present-day Slovakia

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and the Carpatho-Ukraine went to Czechoslovakia, today’s Burgenland was awarded to Austria, Croatia, Slavonia, Prekmurje, the Batschka regions and South Baranya (Drávaköz) as well as parts of the Banat fell to the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes. From the Batschka the largest part was assignated to Serbia. The northern smaller part remained with Hungary. The area of the Baranya between the Danube and mouth of the river Drava belonged before 1921 still to Hungary and became part of the SHS state. The Banat was divided as a result of the Treaty of Trianon between Romania, Serbia and Hungary. Romania received two thirds, Serbia just under a third and Hungary a small corner in the northwest. Transylvania with the rest of the Banat and with the Partium fell to Romania (Articles 45 – 47), a small area with 14 villages in the far north was awarded to Poland, the Free City of Fiume (St. Veit am Flaum or Fiume or Rijeka) came to Italy (Article 53). Hungary lost two-thirds of its territory through the Treaty of Trianon: Burgenland, Croatia and Slavonia, Slovakia, Transylvania, the Carpathian Mountains, the Banat and Vojvodina. Thus, Hungary shrank by 186,060 km2 from 279,090 km2 to 93,030 km2. 63 % of the former lands of St. Stephen’s Crown were outside the new borders under this treaty. Because the borders were often drawn for strategic or arbitrary reasons, without taking into account the people living there, about three million Magyars came under foreign sovereignty through the Trianon Peace Treaty. The Danube monarchy was not a state, but a Real Union, perhaps with legal personality. It would therefore also be possible to conclude contracts with this legal personality. Since this did not happen, it can be assumed that either the Allies doubted this legal personality or the Real Union had already perished, so that it was no longer available as a contracting party. So it is to assume the disintegration of the “k. und k.” Monarchy. However, the disappearance of the Austro-Hungarian monarchy as a Real Union does not automatically mean the downfall of the two halves of the empire. Austria and Hungary after the First World War could thus be identical with the two empires Austria and Hungary within the Real Union. This is supported by the fact that the victorious powers concluded peace treaties with both Austria and Hungary after the First World War. That would not have been possible if both structures either had no state quality within the Real Union or had also perished. This fact of the peace treaty concludes that after the disappearance of the Real Union Austria and Hungary continue to exist in continuity as subjectidentical. The secessions and thus the reduction of the national territory are irrelevant. The fact that Austria bases its laws on a new state and excludes any identity with the Dual Monarchy or Imperial Austria in the Real Union cannot suppress the aspects found in international law that speaks for continuity. But if Austria had perished as part of the Real Union, the opponent of war would have perished and one could no longer conclude a (peace) treaty with him. Finally, in case of doubt continuity is assumed. Hungary is a legal entity identical to Royal Hungary within the Real Union of the “k. und k.” Monarchy, but territorially considerably reduced. These territorial losses, however, are insignificant for the continued existence of Hungary.

Vertreibung und Bevölkerungsaustausch nach dem Ersten Weltkrieg Von Holger Kremser I. Vertreibung der Armenier aus dem Osmanischen Reich 1. Allgemeines Die Armenier waren im Osmanischen Reich nach den Griechen die zweitgrößte Minderheit.1 Die Siedlungsgebiete der Armenier erstrecken sich über das Osmanische Reich hinaus auf den Iran und auf Russland.2 Aufgrund ihrer grenzüberschreitenden Siedlungsgebiete gerieten die Armenier während des Zerfalls des Osmanischen Reichs unter den Verdacht der gespaltenen Loyalität.3 Das Osmanische Reich trat im November 1914 in den Ersten Weltkrieg ein. Es kämpfte mit den Mittelmächten gegen die Entente. Schon kurz nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs scheiterte eine türkische Offensive gegen Russland. Für die verheerende Niederlage des Osmanischen Reichs wurden die osmanischen Armenier verantwortlich gemacht, die mit ihren Landsleuten in Russisch-Armenien sympathisiert und folglich mit Russland kollaboriert hätten.4 2. „Lösung“ der Armenierfrage Die Politik des Osmanischen Reichs zielte darauf ab, das Problem der als unzuverlässig angesehenen osmanischen Armenier einer „Lösung“ zuzuführen. Zur Erreichung dieses Ziels wurden in einem ersten Schritt alle armenischen Männer in den osmanischen Armeen bis April 1915 entwaffnet.5 Sie wurden anschließend in Arbeitsbataillonen zusammengefasst und getötet.6 Nachdem bereits erste Deportationen von osmanischen Armeniern begonnen hatten, wurde am 27. Mai 1915 ein

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G. Heinsohn, Lexikon der Völkermorde, 1999, S. 77. Ebenda. 3 Ebenda. 4 Ebenda, S. 78. 5 Ebenda, S. 79. 6 T. Akçam, Armenien und der Völkermord, 2004, S. 63; G. Heinsohn (Anm. 1), Völkermorde, S. 79. 2

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Deportationsgesetz7 erlassen. Die vor dem Erlass des Deportationsgesetzes durchgeführten Deportationen der osmanischen Armenier erfolgten auf der Grundlage mündlicher Entscheidungen.8 Am 24./25. April 1915 wurde die politische und kulturelle Elite der Armenier (2.345 Männer) verhaftet und umgebracht.9 Danach begannen Massendeportationen, die im Osmanischen Reich offiziell als „Verschickungen“ bezeichnet wurden.10 Die Männer wurden abgesondert und außerhalb der Städte umgebracht.11 Die Frauen und Kinder wurden in Richtung Aleppo geschickt, und zwar mit dem ausdrücklichen Befehl möglichst wenige ankommen zu lassen.12 Die Märsche führten meist in den Tod, verursacht durch Massaker, Hunger, Durst und Krankheiten.13 Angebote anderer Staaten, den Deportierten humanitäre Hilfe zu leisten, wurden unter Verweis auf strikte Anweisungen aus Istanbul abgelehnt.14 An der Logistik der Deportationen der osmanischen Armenier war teilweise mittelbar auch das deutsche Militär beteiligt. Denn es gab einen Deportationsbefehl, den Oberleutnant Böttrich als Chef des Verkehrswesens (Eisenbahnabteilung) im osmanischen Großen Hauptquartier im Oktober 1915 unterschrieb. Der Befehl betraf armenische Arbeiter der Bagdad-Bahn.15 Eine direkte deutsche Beteiligung an Massakern oder gar eine deutsche Initiierung der Massaker gegenüber den Armeniern ist geschichtswissenschaftlich nicht stichhaltig belegt.16 Es gibt allerdings Belege dafür, dass sich deutsche Diplomaten für die Belange der Armenier einsetzten.17 Die deutschen Offiziere hatten grundsätzlich eine negative Einstellung zu den Massakern hinsichtlich der Armenier.18 Soweit die deutsch-osmanische Waffenbruderschaft es zuließ, wurden zahlreiche Armenier durch die Intervention deutscher Offiziere gerettet.19 Die direkte Unterstützung von 7 In französischer Sprache abgedruckt in: La Turquie, 2. 6. 1915, abgedruckt in: A. Beylerian, Les Grandes Puissances, 1983, S. 40 f. 8 T. Akçam, Völkermord (Anm. 6), S. 61. 9 G. Heinsohn (Anm. 1), Völkermorde, S. 79. 10 H.-L. Kieser/D. J. Schaller, Völkermord im historischen Raum 1885 – 1945, in: H.-L. Kieser/D. J. Schaller (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern und die Schoah, 2002, S. 24 ff. 11 Ebenda, S. 25 12 G. Heinsohn (Anm. 1), Völkermorde, S. 79. 13 T. Akçam (Anm. 6), Völkermord, S. 72. 14 Ebenda. 15 W. Gust (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, Dokumente aus dem politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, 2005, S. 369 ff. 16 S. Ihrig, Als der Genozid diskutiert wurde, in: R. Hosfeld/C. Pschichholz (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Völkermord an den Armeniern, 2017, S. 296 unter Hinweis auf C. Dinkel, The American Review 1 (1991), S. 77 ff. 17 S. Stangeland, Die Rolle Deutschlands im Völkermord an den Armeniern 1915 – 1916, 2013, S. 333 ff. 18 Ebenda, S. 342. 19 Ebenda, S. 340 f.

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Massakern gegenüber Armeniern durch Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg ist eine Ausnahmeerscheinung eines infantil und sadistisch Veranlagten.20 Die deutsche Reichsregierung musste hinsichtlich ihrer Haltung zum Geschehen im Osmanischen Reich berücksichtigen, dass dieses ein wichtiger Bündnispartner war. Mit anderen Worten war der deutsche außenpolitische Handlungsspielraum gegenüber der osmanischen Regierung stark eingeschränkt. Aus diesem Grunde lehnte Reichskanzler Bethmann Hollweg den Vorschlag des deutschen Botschafters in Konstantinopel, Paul Graf Wolff Metternich, die Deportationen und Ausschreitungen hinsichtlich der Armenier, öffentlich zu machen, mit folgender Begründung ab: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türken noch sehr brauchen.“21 Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die osmanische Regierung gegenüber dem Deutschen Reich nicht mit offenen Karten spielte. Das belegt das Verhalten des osmanischen Innenministers Talât Pascha. Dieser erteilte die konkreten Deportationsbefehle, die offiziell als kriegsbedingte Umsiedlung einer unzuverlässigen Minderheit begründet wurden. Talât Pascha erklärte Ende August 1915 in der Deutschen Botschaft Konstantinopel, die Maßnahmen gegen die Armenier seien eingestellt worden. Er erklärte wörtlich: „Die armenische Frage existiert nicht mehr.“22 3. Todesopfer Es ist umstritten, wie viele Armenier den Deportationen und Massakern während des Ersten Weltkriegs zum Opfer fielen. Eine Kommission des osmanischen Innenministers aus dem Jahr 1919 gibt die Zahl 800.000 an.23 Das armenische Patriarchat geht von 1,5 Millionen Opfern aus.24 4. Überlebende Knapp 100.000 armenische Frauen und Kinder überlebten die Deportationszeit durch Zwangstürkisierungen.25 Etwa 500.000 türkische Armenier überlebten durch Flucht nach Russisch-Armenien oder in die Großstädte Aleppo, Konstantinopel und Smyrna sowie in die Levante.26 20

Ebenda, S. 341. W. Gust (Anm. 15), Völkermord an den Armeniern, S. 395. 22 Aufzeichnung des Legationsrats in der Botschaft Konstantinopel Göppert, abrufbar unter http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915 - 08 - 31-DE-011 (zuletzt abgerufen 18. 2. 2018). 23 T. Akçam, A Shameful Act, 2007, S. 199. 24 G. Heinsohn (Anm. 1), Völkermorde, S. 79. 25 Ebenda. 26 Ebenda. 21

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5. Enteignungen Das Vermögen der osmanischen Armenier war ein nicht zu unterschätzender Anreiz für ihre Vertreibung.27 In einem der Pariser Friedenskonferenz 1919/20 zugeleiteten armenischen Bericht wurden die Vermögenswerte der osmanischen Armenier auf 7,84 Milliarden französische Francs veranschlagt.28 Diese Summe entspricht dem zweieinhalbfachen Jahreshaushaltsbetrag der osmanischen Zentralregierung zu Friedenszeiten.29 Das Eigentum der osmanischen Armenier wurde 1915 im Wesentlichen entschädigungslos enteignet. Auf der Grundlage der osmanischen Enteignungsregelungen sollten die armenischen Besitztümer oder die daraus erzielten Erlöse dem Finanzministerium und dem Ministerium für religiöse Stiftungen zugeschlagen werden.30 Faktisch gab es allerdings Verteilungskämpfe über die Kontrolle der enteigneten Güter und Gelder zwischen der osmanischen Zentralregierung, den örtlichen Eliten und dem einfachen Volk.31 Durch die Enteignungen der Armenier konnte die osmanische Herrscherkaste, die aus dem wegbrechenden Osmanischen Reich in das anatolische Kerngebiet strömte, rasch ruhig gestellt werden.32 6. Die „Unionistenprozesse“ Die Regierungen Frankreichs, Russlands und des Vereinigten Königreichs kündigten in einer gemeinsamen Erklärung vom 24. Mai 1915 an, dass die Alliierten alle Mitglieder der osmanischen Regierung und die von ihr Beauftragten für die Verbrechen gegenüber den Armeniern verantwortlich machen werden.33 Im Jahr 1919 legte eine Konferenz in London die Grundsätze für das Vorgehen gegen die Verantwortlichen für die Vertreibung der Armenier fest.34 Die Gerichtsprozesse gegen die verantwortlichen osmanischen Kriegsverbrecher fanden in der Türkei statt. Sowohl Frankreich als auch die osmanische Regierung lehnten den Wunsch der Briten auf die Aburteilung durch ein internationales Gericht ab.35 Die osmanische Regierung war mit der Anklage der verantwortlichen Kriegsverbrecher vor nationalen Gerichten einverstanden, weil sie sich davon bessere Friedensbedingungen erhoffte.36 Insge27

C. Gerlach, Nationsbildung: Wirtschaftliche Faktoren bei der Vernichtung der Armenier und beim Mord an den ungarischen Juden, in: H.-L. Kieser/D. J. Schaller (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern und die Schoah, 2002, S. 367. 28 Ebenda, S. 368. 29 Ebenda. 30 Ebenda. 31 Ebenda, S. 368 f. 32 G. Heinsohn (Anm. 1), Völkermorde, S. 79. 33 B. Barth, Genozid, Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte – Theorien – Kontroversen, 2006, S. 73. 34 T. Akçam (Anm. 6), Völkermord, S. 98; B. Barth (Anm. 33), Genozid, S. 74. 35 T. Akçam (Anm. 6), Völkermord (Anm. 6), S. 99. 36 B. Barth (Anm. 33), Genozid, S. 74.

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samt sprachen die osmanischen Kriegsgerichte 17 Todesurteile aus, von denen drei vollstreckt wurden.37, 38 Angeklagt wurden unter anderem der ehemalige Innenminister Talât Pascha, der ehemalige Kriegsminister Enver Pascha und der ehemalige Marineminister Cemal Pascha. Sie konnten sich allerdings den Gerichtsverfahren in der Türkei durch Flucht nach Deutschland entziehen. Gleichwohl wurden sie in Abwesenheit zum Tode verurteilt.39 Talât Pascha wurde 1921 in Berlin auf offener Straße von einem jungen Armenier erschossen. Cemal Pascha wurde 1922 bei einem Spaziergang in Tiflis erschossen. Die Erschießung wird der armenischen Terrororganisation Operation Nemesis zugerechnet.40, 41 7. Bewertungen der Deportationen und Massaker gegenüber den Armeniern Wie die Deportationen der Armenier aus dem Osmanischen Reich und die damit verbundenen Begleiterscheinungen zu bewerten sind, ist sehr umstritten. Der Streit dreht sich im Wesentlichen um die Frage, ob 1915 gegenüber den Armeniern ein Völkermord begangen wurde. a) Bewertung der Republik Türkei Die Türkei lehnt die Völkermord-These der Armenier bis zur heutigen Zeit ab. Kritiker der offiziellen türkischen Sichtweise müssen mit einer Bestrafung nach Art. 301 Strafgesetzbuch der Türkei42 rechnen. Danach ist die Beleidigung der türkischen Nation eine Straftat, die mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft wird. Im Jahr 2014 übermittelte der jetzige Staatspräsident Erdog˘ an den Enkeln der getöteten Armenier erstmalig offiziell sein Beileid, bezeichnete die Taten aber nicht als Völkermord.43

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Ebenda, S. 75. Ausführlich hierzu: T. Akçam (Anm. 6), Völkermord, S. 98; B. Barth (Anm. 33), Genozid, S. 77 ff. 39 Das Urteil ist in deutscher Übersetzung abgedruckt in: T. Akçam (Anm. 6), Völkermord, S. 98; B. Barth (Anm. 33), Genozid, S. 353 ff. 40 R. Hosfeld, Operation Nemesis, 2005, S. 300 ff. 41 Eine Liste der von der Terrororganisation Operation Nemesis ermordeten türkischen Politiker findet sich in: Operation Nemesis – List of assassinations, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 42 Eine deutsche Übersetzung findet sich in: http://de.academic.ru/dic.nsf/dewiki/ 102894#cite_note-7 (zuletzt aufgerufen am 18. 2. 2018). 43 http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-erdogan-spricht-armeniern-erstmals-bei leid-aus-a-965828.html (zuletzt aufgerufen am 18. 2. 2018). 38

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b) Geschichtswissenschaftliche Bewertungen Die Geschichtswissenschaft gelangt überwiegend zu dem Urteil, dass die offiziell als „Umsiedlung“ titulierten Maßnahmen des Osmanischen Reichs gegenüber den Armeniern den Tatbestand des Völkermordes erfüllten.44 Eine Mindermeinung in der Geschichtswissenschaft bestreitet allerdings die Völkermord-These der Armenier. Der US-amerikanische Historiker McCarthy45 weist darauf hin, dass die Gewalttaten nicht einseitig gewesen seien, weshalb 1915 in der Türkei ein Bürgerkrieg stattgefunden habe. Der deutsche Wissenschaftler Münkler46 typisiert die Ereignisse im Osmanischen Reich im Jahr 1915 als Konflikte, bei denen sich „Elemente des Staatskriegs mit solchen des Bürgerkriegs“ vermengten. c) VN-Menschenrechtskommission Im Jahr 1985 bezeichnete der Unterausschuss für die Verhütung von Diskriminierung und den Schutz von Minderheiten der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen nach kontroverser Diskussion die „osmanischen Massaker an Armeniern“ als Genozid.47 In einem Zusatz wurde notifiziert, dass einige Mitglieder des Unterausschusses die Massaker an den Armeniern als nicht hinreichend dokumentiert ansehen und dass einige Beweismittel Fälschungen seien. d) Nationale Parlamente außerhalb Armeniens und der Republik Türkei Seit 1965 haben nationale Parlamente zahlreicher Staaten die Deportationen der Armenier aus der Türkei als Völkermord im Sinne der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen von 194848 anerkannt, und zwar u. a. Argentinien, Frankreich, Russland und die Schweiz. Allerdings gibt es auch andere parlamentarische Entscheidungen. Im dänischen Parlament (Folketing) einigte man sich darauf, keinen Beschluss über die Ereignisse hinsichtlich der Armenier in der Türkei zu fassen, weil das Thema von Historikern und nicht von Politikern erörtert werden müsse.49

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Statt vieler: W. Benz, Ausgrenzung, Vertreibung, Völkermord, 2006, S. 54 ff. J. A. McCarthy, Muslims and Minorities, 1983, S. 136. 46 H. Münkler, Der Große Krieg, 3. Aufl. 2013, S. 320. 47 E/CN.4/Sub.2/1985/SR57. 48 Siehe hierzu: H.-H. Jescheck, Genocidium, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 2 Aufl. 1960, S. 658 f. 49 Dänemark und Frankreich bleiben dabei: Historiker sollen debattieren, in: https://turkish press.de/tr/node/1232 (zuletzt aufgerufen am 18. 2. 2018). 45

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e) Armenien-Resolution des Deutschen Bundestags vom Juni 2016 Im Juni 2016 beschloss der Deutsche Bundestag mit einer Gegenstimme und einer Enthaltung50 eine Resolution, in der das Verhalten des jungtürkischen Regimes gegenüber den Armeniern erstmalig in der Geschichte des Bundestags als Völkermord bezeichnet wird. Zugleich bedauert der Deutsche Bundestag das Verhalten des Deutschen Reichs, das während des Jahres 1915 nicht versucht habe, die Vertreibung der Armenier zu stoppen.51 Die Resolution sorgte in der Türkei für eine massive diplomatische Verstimmung. Die türkische Regierung machte für die Armenien-Resolution des Deutschen Bundestags das Wirken einer „rassistischen armenischen Lobby“ verantwortlich.52 In der Folgezeit erklärte die deutsche Bundesregierung, dass sie sich den Inhalt der Armenien-Resolution nicht zu eigen mache und dass das Wort Völkermord ein Rechtsbegriff sei, der nebst dem Sachverhalt nur von Gerichten festgestellt werden könne.53 Daraufhin erklärte die türkische Botschaft in Berlin, man begrüße die Stellungnahme der deutschen Bundesregierung und stimme mit ihr darin überein, dass „die Bundesregierung nicht immer die gleiche Meinung haben muss wie der Bundestag“.54 f) Gerichtsentscheidungen Es gibt aktuelle Gerichtsentscheidungen, die zu der Frage Stellung nehmen, ob die Leugnung des Völkermords der Armenier bestraft werden darf. Das französische Völkermord-Gesetz, das die Leugnung des Armenier-Völkermords unter Strafe stellte, wurde vom französischen Verfassungsrat wegen der Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit für verfassungswidrig erklärt.55 Im Oktober 2015 entschied die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte56, dass ein türkischer Politiker unter dem Aspekt der menschenrechtlichen Verbürgung der Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 10 EMRK) zu Unrecht 50 http://www.faz.net/aktuell/politik/bundestag-voelkermord-resolution-fast-einstimmig-ver abschiedet-14265705.html (zuletzt aufgerufen am 18. 2. 2018). 51 BT-Drs. 18/8613 vom 31. 5. 2016, S. 1. 52 https://www.srf.ch/news/international/diplomatische-krise-nach-armenien-resolution-imbundestag (zuletzt aufgerufen am 18. 2. 2018). 53 http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016 - 09/angela-merkel-armenien-resolution-bun destag-tuerkei (aufgerufen am 12. 9. 2017). 54 http://www.spiegel.de/politik/ausland/voelkermord-resolution-tuerkischer-botschaftsspre cher-begruesst-stellungnahme-der-bundesregierung-a-1110762.html (aufgerufen am 12. 9. 2017). 55 http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/frankreich-umstrittenes-voelkermord-gesetzverfassungswidrig-11665646.html (zuletzt aufgerufen am 18. 2. 2018). 56 EGMR – Große Kammer, NLMR 5/2015, 1 ff. – Perinçek gegen die Schweiz.

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in der Schweiz wegen der Leugnung des Armenier-Völkermordes zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Der Politiker hatte in der Schweiz den Armenier-Völkermord als eine „internationale Lüge“ bezeichnet. Die Spitze dieser Äußerung richtete sich nach der Ansicht des Gerichts nicht gegen die Menschenwürde der Nachkommen der Armenier, sondern gegen die „Imperialisten“, die der türkische Politiker für die begangenen Gräueltaten verantwortlich machte.57 Die „Imperialisten“ seien England, Frankreich, das zaristische Russland, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Europäische Union.58 II. Griechenverfolgungen im Osmanischen Reich und in der Türkei sowie der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch 1. Todesopfer Im Osmanischen Reich wurden im Zusammenhang mit einer Konsolidierung des Staates zwischen 1915 und 1918 etwa 84.000 Griechen getötet59. Im Jahr 1919 hatte Griechenland einen Angriffskrieg gegen die Türkei begonnen, der zu einem osmanischen Gegenangriff führte.60 Erst im Oktober 1922 wurde ein Waffenstillstand vereinbart und der endgültige Friedensvertrag wurde 1923 in Lausanne unterzeichnet.61 Zwischen 1919 und 1923 wurden in der Türkei 264.000 Griechen liquidiert.62 Die griechische Armee tötete zwischen 1919 und 1923 mindestens 15.000 Türken.63 Beide Seiten verübten ein gegenseitiges Massaker.64 Nach anderer Schätzung sollen während der Zeit des Ersten Weltkriegs und seines Nachwirkens ungefähr 715.370 anatolische Griechen zu Tode gekommen sein.65 Der britische Außenminister Lord Curzon sagte während der Konferenz von Lausanne, dass „eine Million Griechen deportiert, getötet oder gestorben sind“.66

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EGMR – Große Kammer, NLMR 5/2015, 1 (5) – Perinçek gegen die Schweiz. EGMR – Große Kammer, NLMR 5/2015, 1 (4) – Perinçek gegen die Schweiz. 59 G. Heinsohn (Anm. 1), Völkermorde, S. 152. 60 W. Höxter, Bevölkerungsaustausch als Institut des Völkerrechts, 1932, S. 32. 61 H. Scheuba-Lischka, Lausanner Friede, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, 2 Aufl. 1961, S. 406. 62 G. Heinsohn (Anm. 1), Völkermorde, S. 152. 63 Ebenda. 64 Griechenverfolgungen im Osmanischen Reich 1914 – 1923 – Ereignisse, in: WikipediaEnzyklopädie. 65 C. G. Hatzidimitriou, American Accounts Documenting the Destruction of Smyrna by the Kemalist Turkish Forces: September 1922, 2005, S. 1. 66 http://www.greek-genocide.net/index.php/bibliography/newspapers/220 - 1-dec-1922turks-proclaim-banishment-edict-to-1 - 000 - 000-greeks-new-york-times – „a million Greeks have been killed, deported or have died“ (zuletzt aufgerufen am 18. 2. 2018). 58

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2. Bewertung der Tötung der osmanischen bzw. türkischen Griechen Die Tötung der osmanischen bzw. türkischen Griechen in der Zeit von 1915 bis 1923 wird unterschiedlich bewertet. Vor der Entstehung des wissenschaftlich fundierten Begriffs „Völkermord“ sprachen die Griechen von einem „Massaker“ und einer „großen Katastrophe“ oder von einer „großen Tragödie“.67 1994 und 1998 entschied das griechische Parlament, dass hinsichtlich der osmanischen Griechen ein Völkermord begangen wurde.68 Die türkische Regierung erklärte daraufhin, dass die Bewertung der Ereignisse als Völkermord jeglicher historischen Grundlage entbehre.69 3. Griechisch-türkischer Bevölkerungsaustausch a) Allgemeines Der Lausanner Friedensvertrag vom 24. Juli 1923 revidierte den Friedensvertrag zu Sèvres vom 10. August 1920. Denn der Friedensvertrag zu Sèvres wurde von der Neuen Türkei nicht ratifiziert.70 Der Vertrag von Lausanne ist ein Friedensvertrag71 mit 16 Nebenabkommen.72 Ein Nebenabkommen ist die „Griechisch-Türkische Convention nebst Protokoll betreffend den Austausch griechischer und türkischer Bevölkerungsteile“.73, 74 Das Völkerrecht versteht unter einem Bevölkerungsaustausch die Umsiedlung von Minderheiten aus dem Wohnsitzstaat in ihren Mutterstaat auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrags, der den Personenkreis und den Staatsangehörigkeitswechsel festlegt, die Durchführung der Transporte regelt und für die Liquidation und die Überführung des Vermögens sorgt.75 Das Austauschverfahren soll Nationalitätenprobleme aus der Welt schaffen, indem nationale Minderheiten 67 C. G. Hatzidimitriou (Anm. 65), American Accounts Documenting the Destruction of Smyrna, S. 1. 68 Griechenverfolgungen im Osmanischen Reich 1914 – 1923 – Politische Folgen, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 69 Ebenda. 70 H. Scheuba-Lischka (Anm. 61), Lausanner Friede, S. 406. 71 Text: League of Nations Treaty Series, Bd. 28, S. 12 ff. 72 H. Scheuba-Lischka (Anm. 61), Lausanner Friede, S. 407; ausführlich hierzu: R. Banken, Die Verträge von Sèvres und Lausanne 1923, 2014, S. 377 ff. 73 Abgedruckt in: H. Kraus, Das Recht der Minderheiten. Materialien zur Einführung in das Verständnis des modernen Minoritätenproblems, 1927, S. 165 ff. 74 Ausführlich hierzu: H. Bülk, Bevölkerungsaustausch, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1960, S. 201 ff.; W. Höxter, Bevölkerungsaustausch (Anm. 60); G. Hecker, Der völkerrechtliche Wohnsitzbegriff, Untersuchung in Anknüpfung an den griechisch-türkischen Streit über den Bevölkerungsaustausch, 1931; L. Leontiades, Der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch, in: ZaöRV, Bd. 5 (1935), 546 ff.; G. Streit, Der Lausanner Vertrag und der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch, 1929. 75 H. Bülk (Anm. 74), Bevölkerungsaustausch, S. 201.

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umgesiedelt werden.76 Dieses Verfahren ist kein Schutzprogramm für die Ansässigkeit nationaler Minderheiten, weil es darauf abzielt, die Angehörigen von nationalen Minderheiten von ihrem Wohnsitzstaat in den jeweiligen Mutterstaat zu verbringen. b) Inhalt des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschvertrags Nach dem griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschvertrag von 1923 mussten etwa 350.000 Türken von Griechenland in die Türkei übersiedeln und 1.200.000 Griechen waren gehalten, von der Türkei nach Griechenland überzusiedeln.77 Der Austausch war nicht freiwillig, sondern er war obligatorisch und wurde zwangsweise durchgeführt.78 Der Bevölkerungsaustauschvertrag nahm lediglich die Griechen mit Wohnsitz in Konstantinopel und die Türken mit Wohnsitz in Westthrazien vom Bevölkerungsaustausch aus.79 Jeder Ausreisepflichtige verlor mit dem Verlassen des Wohnsitzstaates dessen Staatsangehörigkeit und erwarb mit dem Augenblick der Ankunft in dem Mutterstaat dessen Staatsangehörigkeit.80 Diejenigen, die sich schon vor Abschluss des Austauschvertrags in dem jeweils anderen Staat aufhielten, erwarben die neue Staatsangehörigkeit spätestens mit der Unterzeichnung des Bevölkerungsaustauschvertrags.81 Die Ausreisepflichtigen durften ihr bewegliches Vermögen mitnehmen.82 Selbiges galt auch für Moscheen, Klöster, Kirchen, Schulen, Krankenhäuser, Gesellschaften, Genossenschaften und juristische Personen.83 Zurückgelassenes bewegliches Vermögen und zurückgelassenes unbewegliches Vermögen wurde durch eine Kommission liquidiert.84 Jeder vom Bevölkerungsaustausch Betroffene sollte von dem neuen Niederlassungsstaat – also dem Mutterstaat – Geld oder gleichwertige Gegenstände erhalten.85 Die praktische Durchführung der Vermögensliquidation war schwierig und zog sich lange hin. Erst ein im Jahr 1933 abgeschlossenes griechisch-türkisches Liquidationsabkommen, das 1934 in Kraft trat, regelte abschließend Entschädigungsfragen.86

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Ebenda, S. 202. G. Hecker, Der völkerrechtliche Wohnsitzbegriff (Anm. 74), S. 2. 78 Art. 1 Abs. 1 griechisch-türkischer Bevölkerungsaustauschvertrag von 1923. 79 Art. 2 griechisch-türkischer Bevölkerungsaustauschvertrag von 1923. 80 Art. 7 Abs. 1 griechisch-türkischer Bevölkerungsaustauschvertrag von 1923. 81 Art. 7 Abs. 2 griechisch-türkischer Bevölkerungsaustauschvertrag von 1923. 82 Art. 8 Abs. 1 griechisch-türkischer Bevölkerungsaustauschvertrag von 1923. 83 Art. 8 Abs. 2 griechisch-türkischer Bevölkerungsaustauschvertrag von 1923; W. Höxter (Anm. 60), Bevölkerungsaustausch, S. 39. 84 Art. 8 Abs. 4 – Art. 11 griechisch-türkischer Bevölkerungsaustauschvertrag von 1923. 85 Art. 14 Abs. 2 griechisch-türkischer Bevölkerungsaustauschvertrag von 1923; G. Hecker (Anm. 74), Der völkerrechtliche Wohnsitzbegriff, S. 5. 86 L. Leontiades (Anm. 74), in: ZaöRV, Bd. 5 (1935), S. 569 f. 77

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c) Völkerrechtliche Zulässigkeit eines obligatorischen Bevölkerungsaustauschvertrags Bei der völkerrechtlichen Bewertung der Zulässigkeit eines Bevölkerungsaustauschvertrags ist zwischen Verträgen mit einem freiwilligen und einem obligatorischen Austauschverfahren zu unterscheiden. Ein freiwilliger Bevölkerungsaustausch ist rechtlich ohne weiteres zulässig, solange die nicht am Austauschverfahren beteiligten Personen keine rechtlichen Nachteile hinnehmen müssen. Der griechisch-türkische Bevölkerungsaustauschvertrag von 1923 hat allerdings nach dem Art. 1 Abs. 1 einen obligatorischen Austausch („l’échange obligatoire“) zum Gegenstand. Der frühere griechische Außenminister und Völkerrechtler Georg Streit87 bezeichnete den griechisch-türkischen Austauschvertag als eine außerhalb des Rechts stehende politisch zu beurteilende Maßregel. Dem ist entgegenzuhalten, dass sehr wohl ein verbindlicher völkerrechtlicher Vertrag mit gegenseitigen Rechten und Pflichten abgeschlossen wurde88, dem Griechenland – wenn auch nur widerwillig – zustimmte.89 Es handelte sich hierbei freilich um ein völkerrechtliches Novum.90 Die Zulässigkeit eines völkerrechtlichen Vertrags mit einem verpflichtenden Bevölkerungsaustausch zur Lösung nationaler Minderheitenkonflikte war 1923 unter den Völkerrechtlern äußerst umstritten. Gegen einen obligatorischen Bevölkerungsaustauschvertrag könnte man einwenden, dass Menschen wie eine Handelsware behandelt werden.91 Dagegen ist zu sagen, dass das Individuum nach dem ganz herrschenden Völkerrechtsverständnis im Jahre 1923 nur Objekt und kein Subjekt des Völkerrechts war.92 Nur eine Mindermeinung93 im Völkerrecht sah im Jahr 1923 in einem obligatorischen Bevölkerungsaustausch einen Verstoß gegen die Menschen- und Freiheitsrechte. Nach herrschender Meinung94 müssen Nichtigkeitsgründe wie Irrtum oder Zwang bestehen, die der Wirksamkeit des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschvertrags von 1923 entgegenstehen könnten. Solche Nichtigkeitsgründe sind indes nicht ersichtlich. Die Türkei hatte einen obligatorischen Bevölkerungsaustausch ausdrücklich gewünscht.95 Die Vertragspartner verhandelten über das Problem des Bevölkerungsaustausches und Griechenland wurde nicht gezwungen, den Vertrag zu 87

So G. Streit, Der Lausanner Vertrag (Anm. 74), S. 61. So zu recht: W. Höxter, Bevölkerungsaustausch (Anm. 60), S. 52. 89 L. Leontiades (Anm. 74), in: ZaöRV, Bd. 5 (1935), S. 552. 90 W. Höxter (Anm. 60), Bevölkerungsaustausch, S. 51. 91 So L. Leontiades (Anm. 74), in: ZaöRV, Bd. 5 (1935), S. 553, der allerdings keinen Verstoß gegen das Völkerrecht annimmt. 92 W. Höxter (Anm. 60), Bevölkerungsaustausch, S. 53 m. w. N. 93 J. Duparc (Anm. 74), La Protection de Minorités de race, de longue et de religion, 1922, S. 218 ff. 94 G. Hecker (Anm. 74), Der völkerrechtliche Wohnsitzbegriff, S. 12. 95 L. Leontiades (Anm. 74), in: ZaöRV, Bd. 5 (1935), S. 552. 88

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unterzeichnen.96 Zwar stand die griechische Delegation bei Vertragsabschluss unter einem kollektiven psychologischen Druck97; jedoch ist das kein verbotener Zwang im völkerrechtlichen Sinn.98 Gleichwohl wurde gegen die völkerrechtliche Wirksamkeit des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschvertrags von 1923 in der Völkerrechtswissenschaft – etwa von Herbert Kraus99 – vorgetragen, dass ein Verstoß gegen die internationalen Sitten vorliege. Selbst wenn das zutreffen würde, ist darin kein völkerrechtliches Delikt zu sehen, weil es an einer Pflichtverletzung gegenüber einem anderen Staat fehlt.100 Denn Griechenland und die Türkei waren sich einig, den vereinbarten Bevölkerungsaustausch durchzuführen. Im Übrigen sprechen die Beweggründe für den Abschluss des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschvertrags dagegen, dass sein Regelungszweck den guten Sitten zuwiderläuft.101 Denn der Bevölkerungsaustauschvertrag bezweckte die Beendigung einer jahrhundertelangen Feindschaft und die Beseitigung eines gegenseitigen erbitterten Hasses.102 Aus heutiger Sicht ist eine Vereinbarung über einen obligatorischen Bevölkerungsaustausch nicht mit dem Völkerrecht zu vereinbaren. Eine Zwangsumsiedlung zur Schaffung homogener Bevölkerungsstrukturen würde gegen das ungeschriebene Recht auf die Heimat verstoßen.103 Das Recht auf die Heimat leitet sich vor allem aus den Art. 13 und 15 AEMR und aus dem Deportationsverbot in Art. 49 des IV. Genfer Abkommens zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten sowie aus dem Selbstbestimmungsrecht ab. Internationale Zwangsumsiedlungsverträge sind mit anderen Worten nach dem modernen Völkerrecht menschenrechtswidrig; sie sind auch nicht rechtfertigungsfähig.104

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G. Hecker (Anm. 74), Der völkerrechtliche Wohnsitzbegriff, S. 12. G. Streit (Anm. 74), Der Lausanner Vertrag, S. 26 f. 98 G. Hecker (Anm. 74), Der völkerrechtliche Wohnsitzbegriff, S. 12. 99 H. Kraus, Referat über den völkerrechtlichen Minderheitenschutz auf der 8. Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 1927, Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 8, 1927, S. 7; ähnlich argumentierend H. Wintgens, Der völkerrechtliche Schutz der nationalen, sprachlichen und religiösen Minderheiten, Handbuch des Völkerrechts, 1930, S. 286. 100 So G. Hecker (Anm. 74), Der völkerrechtliche Wohnsitzbegriff, S. 13. 101 W. Höxter (Anm. 60), Bevölkerungsaustausch, S. 55. 102 G. Hecker (Anm. 74), Der völkerrechtliche Wohnsitzbegriff, S. 5. 103 G. Gornig, Das Recht auf Heimat und das Recht auf die Heimat, in: K. Wiegand (Hrsg.), Heimat. Konstanten und Wandel im 19./20. Jahrhundert, 1997, S. 40 ff.; D. Murswiek, Die völkerrechtliche Geltung eines „Rechts auf die Heimat“, in: G. Gornig/D. Murswiek, Das Recht auf die Heimat, 2006, S. 23 ff.; R. Banken (Anm. 72), Die Verträge von Sèvres und Lausanne, S. 562 ff. 104 D. Murswiek (Anm. 103), Die völkerrechtliche Geltung eines „Rechts auf die Heimat“, S. 31 f. 97

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III. Abwanderung der deutschen Minderheit aus den an Polen abgetretenen Gebieten 1. Allgemeines Es gibt keine genauen Zahlen hinsichtlich der Deutschen, die im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg aus den Gebieten abwanderten, die nach dem Versailler Vertrag an Polen abgetreten werden mussten.105 Bei den an Polen abgetretenen Gebieten handelt es sich um Posen, weite Teile Westpreußens und um Ostoberschlesien106, das 1922 aufgrund einer 1921 vorangegangenen Volksabstimmung an Polen abgetreten wurde.107 Schätzungsweise verließen von 1918/19 bis 1939 etwa 1,5 Millionen Deutsche die polnisch gewordenen Mischgebiete.108 Die deutschen Behörden riefen allerdings ausdrücklich zum Verbleiben der Deutschen in den an Polen abgetretenen Gebieten auf.109 Die Abwanderung der Deutschen aus Polen wurde im Deutschen Reich als eine große Gefahr für die Fernziele der Außenpolitik angesehen. Denn ein wichtiges Ziel der deutschen Außenpolitik war zu dieser Zeit die Revision der im Versailler Vertrag festgelegten Grenzen.110 Man hoffte auf deutscher Seite, eine Verbindungsbrücke zwischen der Exklave Ostpreußen und dem Hauptterritorium des Deutschen Reichs erhalten zu können.111 Diesem Ziel war aus der Sicht der deutschen Politik die Abwanderung der Deutschen aus dem so genannten polnischen Korridor abträglich. 2. Gründe für die Abwanderung der Deutschen aus den an Polen abgetretenen Gebieten Schon vor dem Inkrafttreten des Versailler Vertrags setzte im Frühjahr 1919 eine verstärkte Abwanderung der Deutschen aus Westpreußen und Posen ein.112 Hierbei handelte es sich mangels der noch nicht erfolgten Gebietsabtretungen an Polen um eine reine Binnenwanderung. Nach der Abtretung der deutschen Ostgebiete an Polen führten mehrere planmäßige polnische Maßnahmen zu einer Verdrängung des

105 J. Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, 2005, S. 99 ff.; Deutsche Minderheiten in der Zwischenkriegszeit, Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, N. N., WD1 – 3000 – 093/09, S. 8 f. 106 Siehe hierzu: A. Michel, Die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg, in: G. Gornig/A. Michel, Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Teil 1, 2017, S. 60 f. 107 Siehe hierzu: A. Michel (Anm. 106), Die Friedensverträge, S. 61 f. 108 http://www.wikiwand.com/de/Vertreibung, S. 5 (aufgerufen am 26. 10. 2017). 109 J. Oltmer (Anm. 105), Migration und Politik, S. 104 f. 110 Ebenda, S. 105. 111 Ebenda. 112 Ebenda, S. 100.

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Deutschtums in den Abtretungsgebieten.113 Auch psychologische Faktoren waren für den Exodus der deutschen Minderheit in den Abtretungsgebieten von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung. So gehörte die deutsche Minderheit in Polen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nicht mehr der staatlich privilegierten Mehrheitsnation an. Vielmehr waren sie nunmehr eine nationale Minderheit in einem fremden Staat, dessen Landessprache sie oft nicht beherrschten.114 Zudem ließ der neue Staat keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Deutschen unerwünscht waren.115 Ferner gab es bei der deutschen Minderheit nur ein geringes Interesse, den polnischen Militärdienst abzuleisten.116 Die umfangreichsten Abwanderungen der deutschen Minderheit aus allen an Polen abgetretenen Gebieten fanden während der Zeit von 1919 bis 1923 statt; in Posen begann eine starke Abwanderung bereits vor der Jahreswende 1918/19.117 3. Verhalten des polnischen Staates gegenüber der deutschen Minderheit a) Allgemeines Schon sehr früh nach der Übergabe der deutschen Ostgebiete betrieb der polnische Staat eine systematische Assimilationspolitik gegenüber der deutschen Minderheit. Die Nationalitätenpolitik des wieder erstandenen polnischen Staates war bestrebt, den Umfang der deutschen Minderheit und deren Eigentum und Besitz möglichst zu reduzieren.118 Kennzeichnend für diese Politik ist eine Äußerung des späteren Kultusministers Stanisław Grabski aus dem Jahr 1919: „Das fremde Element wird sich umsehen müssen, ob es nicht anderswo besser aufgehoben ist.“119 Die Durchsetzung einer „planmäßigen Entdeutschung“120 geschah im Wesentlichen durch folgende Instrumente: einer rigiden Praxis der Vergabe der polnischen Staatsangehörigkeit, einer Zurückdrängung des deutschsprachigen Schulwesens und einer Zurückdrängung deutscher Agrarbetriebe im Zusammenhang mit der Handhabung des Agrarreformgesetzes aus dem Jahr 1925.121 Ferner wurden An113 Ebenda, S. 102, unter Hinweis auf H. Rauschning, Die Entdeutschung Westpreußens und Posens, 1930, S. 10. 114 Deutsche Minderheiten in der Zwischenkriegszeit (Anm. 105), S. 9 f.; J. Oltmer (Anm. 105), Migration und Politik, S. 103 f. 115 Deutsche Minderheiten in der Zwischenkriegszeit (Anm. 105), S. 9. 116 J. Oltmer (Anm. 105), Migration und Politik, S. 104. 117 Ebenda, S. 100. 118 Deutsche Minderheiten in der Zwischenkriegszeit (Anm. 105), S. 11. 119 Zitiert nach C. Jansen/A. Weckbecker, Der „Volksdeutsche Selbstschutz“ in Polen 1939/ 40, 1992, S. 18. 120 Zitiert nach A. Kotowski, Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1919 – 1939, 1998, S. 190. 121 Deutsche Minderheiten in der Zwischenkriegszeit (Anm. 105), S. 11 m.w.N.

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gehörige der deutschen Minderheit und auch anderer Minderheiten in polnischen Internierungslagern grundlos interniert.122 b) Staatsangehörigkeitsfrage Art. 91 Versailler Vertrag regelt, dass die deutschen Reichsangehörigen in den an Polen abgetretenen Gebieten von Rechts wegen die polnische Staatsangehörigkeit erwerben. Voraussetzung dafür ist, dass sie vor dem 1. Januar 1908 in den Abtretungsgebieten ansässig waren. Reichsdeutsche, die sich später in den Abtretungsgebieten niedergelassen hatten, konnten innerhalb einer zweijährigen Ausschlussfrist für die polnische Staatsangehörigkeit optieren. In der polnischen Verwaltungspraxis führten kurze Wohnsitzwechsel, z. B. für Ausbildungszwecke oder für den Militärdienst dazu, dass die polnische Staatsangehörigkeit verweigert wurde.123 Zudem mussten sowohl die Eltern als auch der die polnische Staatsangehörigkeit Beanspruchende zum Zeitpunkt der Geburt einen Wohnsitz im Abtretungsgebiet haben.124 Aus den zuvor genannten Gründen verkleinerte sich der deutsche Personenkreis erheblich, der die polnische Staatsangehörigkeit beanspruchen konnte125. Deutsche aus Kongresspolen, die zwischen 1908 und 1920 die deutsche Reichsangehörigkeit durch Übersiedlung nach Posen oder Westpreußen erhielten, sollten ebenfalls keine polnische Staatsangehörigkeit erhalten, was für viele Ansiedler zutraf.126 Von dem durch den Versailler Vertrag eingeräumten Optionsrecht für die deutsche Staatsangehörigkeit machten gut 150.000 Geburtsdeutsche Gebrauch. Die polnische Regierung interpretierte dies als Loyalitätsbruch und behandelte die Optanten wie Ausländer und forcierte deren Übersiedlung nach Deutschland. Schließlich vereinbarten Deutschland und Polen nach langwierigen Verhandlungen in dem Wiener Abkommen von 1924127, dass die verbliebenen 20.000 Optanten bis Mitte 1926 in das Deutsche Reich übersiedeln sollten.128 Auch dieses Abkommen beendete nicht alle Streitfragen über die Auslegung des Art. 91 Versailler Vertrag und des Minderheitenschutzvertrags129 von 1919.130

122 R. Gradmann, Polens verschwiegene Lager. Die neue Ordnung, 2016, Nr. 2, S. 1 ff. m.w.N. 123 M. Scheuermann, Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung?, 2000, S. 104; Deutsche Minderheiten in der Zwischenkriegszeit (Anm. 105), S. 12. 124 M. Scheuermann (Anm. 123), Minderheitenschutz, S. 104. 125 Ebenda. 126 Ebenda. 127 RGBl. 1925, Teil II, S. 33 ff. 128 C. Jansen/A. Weckbecker (Anm. 119), Der „Volksdeutsche Selbstschutz“, S. 19. 129 Abgedruckt in: H. Kraus (Anm. 73), Das Recht der Minderheiten, S. 50 ff. 130 Siehe hierzu: H. Mosler, Zur Auslegung von Art. 7 § 3 des deutsch-polnischen Wiener Abkommens über Staatsangehörigkeits- und Optionsfragen vom 30. August 1924, in: ZaöRV, Bd. 7 (1937), S. 832 ff.

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c) Landfrage Mit der Staatsangehörigkeitsfrage ist die Landfrage eng verbunden. Denn die Entscheidung über die Vergabe der polnischen Staatsangehörigkeit war für diejenigen Deutschen von besonderer Bedeutung, die Grundeigentum in den an Polen abgetretenen Gebieten hatten. Nach dem Versailler Vertrag konnten Reichsdeutsche in den Abtretungsgebieten gegen eine angemessene Entschädigung enteignet werden. Anfang 1920 liquidierte der polnische Staat 200.000 Hektar deutschen Grundbesitzes.131 Die Entschädigungen waren ungerecht und entsprachen teilweise nur 10 % des wahren Werts.132 Im Jahr 1923 bereitete man in Polen eine Landreform vor, die offiziell Enteignungen und Landverteilungen vorsah.133 In der Praxis diente das 1925 verabschiedete Bodenreformgesetz dazu, beinahe ausschließlich Minderheiten im polnischen Staat zu enteignen.134 Namhafte Völkerrechtler führten in Gutachten zu Eingaben beim Völkerbundsrat aus, dass das polnische Agrarreformgesetz nicht mit dem Minderheitenschutzvertrag vereinbar war.135 All dies konnte nicht verhindern, dass den Deutschen ihr bestes Land, den Polen hingegen ihr schlechtestes Land weggenommen wurde.136 Bis zum Jahr 1926 war der deutsche Grundeigentumsbesitz in Polen bereits um 35 % zurückgegangen.137 Von 1919 bis 1926 wechselten rund 500.000 Hektar in den an Polen abgetretenen Gebieten den Eigentümer.138 Ferner strebte der polnische Staat auch nach der Übernahme sämtlicher deutscher Industrieunternehmen in Ostoberschlesien.139 d) Schulfrage Art. 9 des Minderheitenschutzvertrags140 verpflichtete Polen, „angemessene Erleichterungen“ zu schaffen, um sicherzustellen, dass „polnischen Staatsangehörigen deutscher Zunge“ in den Volkschulen der Unterricht in deutscher Sprache erteilt

131 Deutsche Minderheiten in der Zwischenkriegszeit (Anm. 105), S. 13 Fn. 20 unter Hinweis auf R. Blanke, Orphans of Versailles, The Germans in Western Poland 1918 – 1939, 1993, S. 69. 132 R. Blanke (Anm. 131), Orphans of Versailles, S. 69. 133 M. Scheuermann (Anm. 123), Minderheitenschutz, S. 107. 134 Ebenda; Deutsche Minderheiten in der Zwischenkriegszeit (Anm. 105), S. 13 ff. 135 Es handelt sich um die Völkerrechtler Brunet, Asquith, Lord Haldane Viscount of Cloan, Baron Stael von Holstein und Georg Bruns, siehe hierzu: M. Scheuermann (Anm. 123), Minderheitenschutz, S. 107 f. Fn. 96. 136 M. Scheuermann (Anm. 123), Minderheitenschutz, S. 110. 137 Deutsche Minderheiten in der Zwischenkriegszeit (Anm. 105), S. 14. 138 Ebenda. 139 Ebenda unter Hinweis auf A. Kotowski (Anm. 120), Polens Politik, S. 139 f. 140 Abgedruckt in: H. Kraus (Anm. 73), Das Recht der Minderheiten, S. 69 f.

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wird.141 Voraussetzung war allerdings, dass in den Städten und Bezirken deutschsprachige Schüler mit polnischer Staatsangehörigkeit „in beträchtlichem Verhältnis wohnen“. Hinsichtlich weiterführender Schulen enthielt der Minderheitenschutzvertrag keine Regelungen. In der Praxis führten die starke Abwanderung der deutschen Bevölkerung und die restriktive polnische Verwaltungspraxis dazu, dass die Mindestschülerzahlen für einen deutschsprachigen Unterricht oft nicht erreicht wurden.142 Die Zahl der öffentlichen deutschen Schulen ging in Polen während der Zeit von 1926/27 bis 1933/34 von 544 auf 200 zurück.143 Der in Polen die deutschen Interessen vertretene Deutschtumsbund wurde daran gehindert, Privatschulen zu kaufen, weil er aus polnischer Sicht eine „revanchistische Propagandaorganisation“ gewesen sei.144 Diese Bewertung Polens ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die polnische Politik das Schulwesen zunehmend als ein Instrument der Assimilation der nationalen Minderheiten nutzen wollte.145 4. Internierungslager In der offiziellen Geschichtsschreibung wird nur sehr selten thematisiert, dass der 1918 wiedererrichtete polnische Staat Internierungslager errichtete, in denen Angehörige nationaler Minderheiten interniert wurden. Dies trifft auch für die Deutschen in den abgetretenen Provinzen Posen und Westpreußen zu.146 Nach Zeugenangaben hielten die Internierungen bis mindestens Ende 1920 an.147 Oftmals wurden die Internierten bezichtigt, Insurgent zu sein.148 Die Anschuldigungen erwiesen sich jedoch als haltlos.149 Einigen Internierten wurde bis zur Entlassung kein Grund für die Internierung genannt.150 Aufgrund der schlechten Zustände in den primitiven Baracken starben etliche Internierte an Grippe und Lungenentzündung.151 Die Internierungen sollten nach der Ansicht vieler Stimmen dazu dienen, die Abwanderung der Deutschen aus den früheren deutschen Ostgebieten zu forcieren.152 Hierfür spricht, dass die Internierungen auch noch zu einer Zeit erfolgten, als der Versailler Vertrag 141 Ausführlich zum Schulwesen der deutschen Minderheit in Polen: I. Eser, „Volk, Staat, Gott!“ Die deutsche Minderheit in Polen und ihr Schulwesen 1918 – 1939, 2010, S. 249 ff. 142 Deutsche Minderheiten in der Zwischenkriegszeit (Anm. 105), S. 17. 143 Ebenda. 144 M. Scheuermann (Anm. 123), Minderheitenschutz, S. 92. 145 Deutsche Minderheiten in der Zwischenkriegszeit (Anm. 105), S. 16. 146 R. Gradmann (Anm. 122), Polens verschwiegene Lager, S. 2. 147 Ebenda. 148 Ebenda. 149 Ebenda unter Hinweis auf A. Rhode, Geschichte der evangelischen Kirche im Posener Lande, 1956, S. 200. 150 R. Gradmann (Anm. 122), Polens verschwiegene Lager, S. 2 m.w.N. 151 Ebenda, S. 3 m.w.N. 152 Ebenda.

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schon ratifiziert war. In den 1930er Jahren wurden wiederum zahlreiche Deutsche in polnischen Lagern interniert und dort unmenschlich behandelt.153 Aus den zuvor genannten Gründen überzeugt die in der jüngeren Migrationsforschung zum Teil vertretene These nicht, es habe nach dem Ersten Weltkrieg in den von Deutschland an Polen abgetretenen Gebieten keine Fluchtbewegungen oder Vertreibungen hinsichtlich der dort schon länger lebenden deutschen Bevölkerung gegeben.154 5. Politik des Deutschen Reichs gegenüber den Deutschen in den an Polen abgetretenen Gebieten Die Politik des Deutschen Reichs gegenüber der deutschen Minderheit in Polen zielte nach dem Ersten Weltkrieg darauf ab, die Lage der deutschen Minderheit in den Abtretungsgebieten zu stabilisieren. Dies geschah in der Anfangsphase der Nachkriegszeit durch Maßnahmen zur Erschwerung der deutschen Zuwanderung.155 Beispielsweise durften die deutschen Konsulate in Polen nur dann eine Unterstützung für die Ausreise Deutscher gewähren, wenn der Nachweis erbracht wurde, dass der Antragsteller durch polnische Stellen zur Abwanderung genötigt wurde.156 Ohne Anerkennung als Flüchtling konnten deutsche Übersiedler keine Entschädigungsansprüche gegenüber dem Deutschen Reich erfolgreich geltend machen.157 Diejenigen Deutschen, die die Abwanderung in das verkleinerte Deutsche Reich schafften, durften sich nur dann in einer Gemeinde ihrer freien Wahl niederlassen, wenn sie zuvor eine Zuzugsgenehmigung erhalten hatten.158 Seit 1921 ging die Politik des Deutschen Reichs dazu über, private Organisationen finanziell zu unterstützen, die sich für die Belange der deutschen Minderheit in Polen einsetzten.159 Auf diese Weise erhielten Angehörige der deutschen Minderheit zum Beispiel höhere Renten- und Pensionszahlungen.160 6. Bewertung der Politik des Deutschen Reichs gegenüber den Deutschen aus den polnischen Abtretungsgebieten Die Politik des Deutschen Reichs gegenüber den Deutschen, die nach dem Ersten Weltkrieg aus den polnischen Abtretungsgebieten nach Deutschland kamen, bewertet die heutige Migrationsforschung wie folgt: Die Aufnahme- und Integrationspo153

Ebenda., S. 3 f. m.w.N. So allerdings: J. Oltmer (Anm. 105), Migration und Politik, S. 104. 155 J. Oltmer (Anm. 105), Migration und Politik, S. 105. 156 Ebenda, S. 106. 157 Ebenda. 158 Ebenda, S. 107. 159 Ebenda, S. 105 f. 160 Ebenda, S. 105. 154

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litik des Deutschen Reichs hinsichtlich der deutschen Minderheit in Polen sei im Ergebnis als völlig gescheitert anzusehen.161 Denn weder habe das Deutsche Reich die Abwanderung aus den polnischen Abtretungsgebieten effektiv verhindern können, noch sei die später aufgebaute Infrastruktur in der Lage gewesen, die Deutschen zu integrieren, die in das verkleinerte Deutsche Reich übersiedelten.162 Hierzu ist Folgendes zu sagen: Die harten Bedingungen des Versailler Vertrags und die schlechte wirtschaftliche Situation in der Nachkriegszeit erschwerten die Integration der in das verkleinerte Deutsche Reich hineinströmenden Deutschen in besonderer Weise. Wenn man von einem Scheitern der Politik des Deutschen Reichs sprechen möchte, ist dies hinsichtlich der Revisionswünsche gegenüber den Gebietsabtretungen im Gefolge des Versailler Vertrags allerdings zutreffend. IV. Vertreibungen und Abwanderungen Deutscher aus sonstigen Abtretungsgebieten 1. Elsass-Lothringen Ein wenig beachtetes Vertreibungsschicksal wurde vielen Deutschen aus ElsassLothringen zuteil. Dieses ehemalige deutsche Reichsland wurde nach dem Versailler Vertrag wieder ein Teil des französischen Staats.163 Etwa 200.000 Altdeutsche wurden aus Elsass-Lothringen vertrieben.164 Als „Altdeutsche“ klassifizierte der französische Staat Einwohner in Elsass-Lothringen, die selbst oder deren Eltern oder Großeltern aus dem übrigen Deutschen Reich oder aus Österreich-Ungarn stammten.165 Nachdem US-Präsident Woodrow Wilson auf die französische Regierung Druck ausgeübt hatte, durfte die Hälfte der Vertriebenen wieder nach Elsass-Lothringen zurückkehren, so dass im Endergebnis von etwa 100.000 dauerhaften Vertreibungen auszugehen ist.166 Der deutsche Völkerrechtler Walter Schätzel167 hat in seiner umfangreichen Untersuchung zu den elsass-lothringischen Staatsangehörigkeitsregelungen im Gefolge des Versailler Vertrags ausgeführt, dass etwa 300.000 bis 400.000 Deutsche in Elsass-Lothringen keine französische Staatsangehörigkeit beanspruchen konnten und deshalb nach „Altdeutschland“ hätten verdrängt werden können. Dieser Personenkreis reduzierte sich um etwa 100.000 durch französische 161

Ebenda, S. 136. Ebenda. 163 Ausführlich hierzu H. Kremser, Elsass-Lothringen bei den Versailler Friedensverhandlungen, in: G. Gornig/A. Michel (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Teil 1, 2017, S. 99 ff. 164 Reichsland Elsass-Lothringen – Vertreibungen, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 165 Ebenda. 166 Von 100.000 Ausweisungen geht auch aus: Roth, Die Rückkehr Elsass-Lothringens zu Frankreich, in: G. Krumeich (Hrsg.), Versailles 1919, 2001, S. 134. 167 W. Schätzel, Die elsass-lothringische Staatsangehörigkeitsregelung und das Völkerrecht, 1928, S. 14. 162

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Einbürgerungen.168 Einige Deutsche gingen von sich aus, ohne auf die Ausweisung zu warten, was die französische Administration als „freiwillige Ausreise“ bezeichnete.169 Das Privateigentum der Ausgewiesenen wurde beschlagnahmt, zwangsverwaltet oder verkauft.170 Ausgewiesene Altdeutsche durften maximal 30 kg Gepäck, 200 Mark und Lebensmittel für zwei Tage mitnehmen.171 Frankreich verwies die Enteigneten wegen einer Entschädigung an die deutsche Regierung und war deshalb mit der Vergabe der französischen Staatsangehörigkeit in Elsass-Lothringen so sparsam wie möglich.172 Zwischen 1920 und 1923 stieg die Kriegsfolgenwanderung noch einmal an, weshalb insgesamt etwa 150.000 Deutsche aus Elsass-Lothringen in das verkleinerte Deutsche Reich abwanderten.173 Die Massenabwanderung der Deutschen aus Elsass-Lothringen ist vor dem Hintergrund der französischen Politik nach der Maxime „purifier, centraliser, assimiler“174 zu sehen. Die Politik Frankreichs zeigt anhand von Elsass-Lothringen, dass das Phänomen von Massenvertreibungen auch in Staaten mit langen demokratischen Traditionen vorkommt und nicht auf Staaten mit autoritären Regimen beschränkt ist.175 Anders als die Deutschen aus Polen durften die zugewanderten Elsass-Lothringer im Deutschen Reich ihren Zielort frei wählen.176 Die nach Deutschland geflüchteten Elsass-Lothringer waren in großer Zahl im öffentlichen Dienst oder häufig in der Montanindustrie beschäftigt. Sie waren nach ihrer Ankunft in Deutschland rasch wieder beschäftigt und galten damit als integriert.177 2. Memelland Das Memelland musste das Deutsche Reich ohne Volksabstimmung nach Art. 99 des Versailler Vertrags an die alliierten Siegermächte abtreten.178 Am 14. Februar 168

Ebenda. Ebenda, S. 133. 170 Ebenda. 171 Ebenda. 172 Ebenda, S. 12 f. 173 J. Oltmer (Anm. 105), Migration und Politik, S. 92 unter Hinweis auf I. Grünewald, Die Elsass-Lothringer im Reich 1918 – 1933, 1984, S. 57. 174 Zitiert nach H. Thoß, „Purifier – centraliser – assimiler“ – Reannexion und Vertreibung im Elsass und in Lothringen nach 1918, in: F.-L. Kroll/M. Niedobtiek, Vertreibung und Minderheitenschutz in Europa, 2005, S. 282. 175 So Deutsche Minderheiten in der Zwischenkriegszeit (Anm. 105), S. 5 Fußnote 4. 176 J. Oltmer (Anm. 105), Migration und Politik, S. 93. 177 Ebenda, S. 94 ff. 178 Ausführlich hierzu: G. Gornig, Das Schicksal des Memellandes seit dem Versailler Vertrag, in: G. Gornig/A. Michel (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Teil 1, 2017, S. 149 ff.; G. Gornig, Das Memelland, Gestern und heute. Eine historische und rechtliche Betrachtung, 1991, S. 27 ff. 169

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1920 übernahm Frankreich das Memelgebiet als Vertreter der alliierten und assoziierten Mächte.179 Im Januar 1923 eroberten litauische Freischärler das Memelland.180 Schon im Februar 1923 ging die Staatsgewalt im Memelland auf den litauischen Staat über.181 In der Folgezeit setzte eine Litauisierung im Memelland ein. Amtliche Vordrucke wurden in litauischer Sprache herausgegeben, die nur wenige verstanden. Deutsche Straßen- und Ortsnamen wurden litauisiert. Der Gebrauch der deutschen Sprache war in Staatsbetrieben nicht mehr erlaubt. Als die deutsche Bevölkerung mit einem Generalstreik auf die litauischen Willkürmaßnahmen reagierte, schossen litauische Soldaten auf deutsche Demonstranten.182 All dies hatte die Flucht von 16.000 Deutschen aus dem Memelland in das verkleinerte Deutsche Reich zur Folge.183 Zu konstatieren ist, dass unter Billigung der alliierten Siegermächte das Recht auf die Heimat der vertriebenen Deutschen im Memelland missachtet wurde. 3. Nord-Schleswig Der Versailler Vertrag enthält im Abschnitt XII Regelungen betreffend Schleswig.184 Aufgrund einer Volksabstimmung war das Deutsche Reich verpflichtet, Nord-Schleswig an Dänemark abzutreten. Nach Art. 109 Versailler Vertrag mussten „die deutschen Truppen und Behörden (einschließlich der Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten, Landräte, Amtsvorsteher, Oberbürgermeister)“ das schleswigsche Abstimmungsgebiet mit dem Inkrafttreten des Vertrags räumen. Nord-Schleswiger, die in dem an Dänemark abzutretenden Gebiet ansässig waren, erhielten nach Art. 112 Abs. 1 Versailler Vertrag von Rechts wegen das dänische Bürgerrecht. Allerdings durften Deutsche, die von Rechts wegen dänische Staatsbürger geworden waren, für Deutschland optieren.185 Insgesamt wanderten 12.000 Deutsche aus Dänemark in das Deutsche Reich aus.186 Im Hinblick auf die liberale dänische Gesetzgebung und Verwaltungspraxis gegenüber der ansässigen deutschstämmigen Bevölkerung in dem an Dänemark abgetretenen Gebiet Nord-Schleswig ist kein Vertreibungsdruck feststellbar. Die Wanderungsbewegungen sind im Wesentlichen auf freiwillige Entscheidungen der Betroffenen zurückzuführen. 179

S. 18. 180

J. Wallat, Völkerrechtliche Stellung des Memelgebietes, Diss. iur. Göttingen, 1990,

G. Gornig (Anm. 178), Das Memelland, S. 42. Ebd., S. 45 f. 182 Ebenda, S. 47; G. Leisewitz, Die völkerrechtliche Stellung des Memelgebietes, Diss. iur. Würzburg, 1933, S. 47; E.-A. Plieg, Das Memelland 1920 – 1939. Deutsche Autonomiebestrebungen im litauischen Gesamtstaat, 1962, S. 28. 183 http://www.wikiwand.com/de/Vertreibung, Seite 5 (zuletzt aufgerufen am 18. 2. 2018). 184 Ausführlich hierzu: H. Kremser, Nord-Schleswig bei den Versailler Friedensverhandlungen, in: G. Gornig/A. Michel (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Teil 1, 2017, S. 87 ff. 185 Ausführlich zum Wechsel der Staatsangehörigkeit und zum Optionsrecht: K. Alnor, Handbuch zur schleswigschen Frage, Ergänzungsheft, 1934, S. 49 ff. 186 http://www.wikiwand.com/de/Vertreibung, S. 5 (zuletzt aufgerufen am 18. 2. 2018). 181

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4. Deutsche Schutzgebiete Das Deutsche Reich hatte zahlreiche überseeische Schutzgebiete187 erwerben können. Flächenmäßig war das Reich aufgrund seiner Schutzgebiete das drittgrößte Weltreich nach dem Vereinigten Königreich und Frankreich.188 Gemäß Art. 119 ff. Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich auf seine Schutzgebiete verzichten. Etwa 16.000 Deutsche kehrten aus den deutschen Überseegebieten nach Deutschland zurück.189 Fast alle Deutschen wurden aus den abgetretenen deutschen Schutzgebieten ausgewiesen.190 Eine Ausnahme ist das frühere Deutsch-Südwestafrika, in dem die meisten Deutschen bleiben durften.191 Zunächst ausgewiesene Deutsche durften teilweise bereits nach kurzer Zeit wieder nach Südwestafrika zurückkehren192, 193, das bis 1990 von Südafrika verwaltet und sodann unter der Bezeichnung Namibia in die Unabhängigkeit entlassen wurde.194 Das zwischen dem Deutschen Reich und der Südafrikanischen Union am 23. Oktober 1923 abgeschlossene Londoner Abkommen195 legt ausdrücklich fest, dass die Deutschen nach den in Südwestafrika zur Anwendung kommenden Einwanderungsbestimmungen willkommen sind.196 Tatsächlich wurde durch das Londoner Abkommen die Einwanderung von Deutschen nach Südwestafrika erleichtert.197 Ferner erlangte der Gebrauch der deutschen Sprache in Südwestafrika durch das Londoner Abkommen einen gewissen Schutz.198, 199 Deutsch ist als Nationalsprache in Namibia nunmehr durch Art. 3 Abs. 2 und 3 Namibische Verfassung200 geschützt. Amtssprache ist nach Art. 3 Abs. 1 Namibische Verfassung Englisch. 187

Ausführlich hierzu http://www.traditionsverband.de/ (zuletzt aufgerufen am 18. 2. 2018). Deutsche Kolonien, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 189 http://www.themenpool-migration.eu/dmigr1_5.htm, S. 2 (zuletzt aufgerufen am 18. 2. 2018). 190 W. Bertelsmann, Die Minderheitenrechte der deutschsprachigen Bevölkerung in Südwestafrika, Diss. jur. Göttingen 1940, aktualisiert erschienen 1970, S. 1 Fn. 2. 191 Ebenda, S. 1. 192 Ebenda, S. 16 f. 193 Ausführlich zu den aus dem damaligen Deutsch-Südwestafrika ausgewiesenen Deutschen: A. Vogt, Ausgewiesen! Die Liste repatriierter Deutscher aus dem ehemaligen Schutzgebiet Deutsch-Südwestafrika des Jahres 1919, 2015. 194 Siehe hierzu: M. Silagi, Von Deutsch-Südwest zu Namibia, 1977; M. Hinz, Die Verfassung Namibias (1990), Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, Bd. 40, 1991/1992, S. 653 ff. 195 Abgedruckt in: W. Bertelsmann (Anm. 190), Die Minderheitenrechte, S. 159 ff. 196 Ausführlich hierzu W. Bertelsmann (Anm. 190), Die Minderheitenrechte, S. 38 ff. 197 W. Bertelsmann (Anm. 190), Die Minderheitenrechte, S. 83 ff. 198 Ausführlich hierzu W. Bertelsmann (Anm. 190), Die Minderheitenrechte, S. 73 ff. 199 Ausführlich hierzu: W. Bertelsmann, Die deutsche Sprachgruppe Südwestafrikas in Politik und Recht seit 1915, Erscheinungsjahr 1979, 2015 in Windhoek neu herausgegeben von A. Vogt. 200 M. Hinz (Anm. 194), Die Verfassung Namibias, S. 691 ff. 188

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Ab 1924 kehrten auch Deutsche in das frühere Deutsch-Ostafrika zurück, und zwar in das britische Mandatsgebiet Tanganjika, wo sie mit rund 2.150 Einwohnern eine kleine Minderheit bildeten.201 Allerdings wurden die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs aus Tanganjika ausgewiesen202, weshalb sich in dem heutigen Tansania keine nennenswerte deutsche Minderheit befindet. * Abstract Holger Kremser: Expulsion and Population Exchange after the First World War (Vertreibung und Bevölkerungsaustausch nach dem Ersten Weltkrieg), in: World War I and its Consequences for the Coexistence of Peoples in Central and Eastern Central Europe, vol. 2 (Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 2), ed. by Gilbert H. Gornig and Adrianna A. Michel (Berlin 2019), pp. 223 – 246. During the First World War between 800,000 and 1.5 million Ottoman Armenians were killed in connection to deportations. Approximately 600,000 Ottoman Armenians survived the deportations. The German Reich had no influence and was not directly involved in the displacements as it considered the Ottoman Empire an important ally in the war. The Ottoman courts of war condemned to death 17 persons responsible for the massacres of the Armenians, and, of these, three judgments were executed. It is still disputed whether the massacres against the Ottoman Armenians can be regarded as genocide. In 1923, a compulsory Greek-Turkish population exchange was agreed to by an international treaty. As a result of this treaty, 350,000 Turks had to move from Greece to Turkey and 1,200,000 Greeks from Turkey to Greece. While the international legal admissibility of the mandatory population exchange was controversial, it was justified as a way to end the century-long conflict between the two peoples. Today a binding population exchange violates the unwritten right to homeland and the prohibition of deportation in the Convention (IV) Relative to the Protection of Civilian Persons in Time of War. About 1.5 million Germans emigrated from the territories ceded by Germany to Poland in 1920 (Posen, West Prussia, East Upper Silesia). They experienced considerable displacement pressure given the existence of Polish camps with interned Germans even after the ratification of the Versailles Treaty. While Article 91 of the Versailles Treaty stipulates that the native German population could opt for German citizenship, the Polish state treated these German citizens in their homeland as foreigners. The Polish state expropriated land ownership almost exclusively from members of national minorities, taking the best land from Germans and bad land from Polish nationals. German-language instruction at Polish schools in the former German territories also declined massively after the First World War due to the emigration of many German speakers and the strong assimilation pressure of the Polish state. Germany had to cede Alsace-Lorraine to France after the First World War. Immediately thereafter, 200,000 Germans were expelled from there, of which 100,000 were allowed to re201

W. Bertelsmann (Anm. 190), Die Minderheitenrechte, S. 1 Fn. 2 unter Hinweis auf O. Martens/O. Karstedt, Afrika. Ein Handbuch für Wirtschaft und Reise. 2. Aufl., 1931, S. 378. 202 Vgl. K.-U. von Hassel – Familie, in: Wikipedia-Enzyklopädie.

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turn. Between 1920 and 1923, around 150,000 Germans from Alsace-Lorraine migrated to the German Reich to escape French assimilation pressure. According to Article 99 of the Versailles Treaty, Germany had to cede the Memel Territory to the winning nations of the First World War. In 1923 Memel Territory was conquered by Lithuania, which resulted in about 16,000 Germans fleeing to the smaller German Reich. Germany also had to renounce its overseas protected areas under Article 119 ff. of the Versailles Treaty. From these areas, about 16,000 Germans returned to the motherland. Only in Namibia – the former German South West Africa – does a significant German minority still live today.

Die Autoren / The Authors Dr. Jurgita Baur, LL.M. Persönliche Angaben / Personal Data: Jurgita Baur (geb. Ruseckaite) wurde am 20. 11. 1986 in Litauen geboren. An der Vilnius Universität erwarb sie ihren Magister in Rechtswissenschaften. Seit 2010 lebt Jurgita Baur in Deutschland. Sie schloss im Jahr 2011 ihr LL.M.-Studium an der Goethe Universität Frankfurt am Main ab, an der sie zwischen 2012 – 2017 promovierte. Jurgita Baur forscht schwerpunktmäßig in den Bereichen des Europarechts, Völkerrechts, internationalen Wirtschaftsrechts und der Schiedsgerichtsbarkeit. Daneben arbeitete sie in den Jahren 2011 bis 2013 als Juristin für eine international tätige Kanzlei in Frankfurt und 2013 bis 2016 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Philipps Universität Marburg am Institut für Öffentliche Recht. Im Sommer 2016 fungierte sie als Stagiaire bei der Europäischen Kommission in der Generaldirektion Justiz. Im Anschluss begann Frau Jurgita Baur ihre derzeitige Tätigkeit bei einer der weltweit führenden Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Jurgita Baur (born Ruseckaite) was born 20th of November 1986 in Lithuania. At Vilnius University she received her master’s degree in law. Since 2010 Jurgita Baur lives in Germany. In 2011 she completed her LL.M. and in 2017 her doctoral studies at the Goethe University in Frankfurt am Main. Jurgita Baur focuses her research on European Law, international law, international business law and arbitration. In addition she worked as jurist for an international law firm in Frankfurt am Main during the years 2011 to 2013 and during the years 2013 to 2016 as research associate at the Philipps University of Marburg at the Institute for Public Law. In summer 2016 she served as Stagiaire at the European Commission in the Directorate-General of the Legal Service. Following, Mrs. Baur started her current occupation at one of the leading auditing companies.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Die Kompetenz der Europäischen Union für ausländische Direktinvestitionen am Beispiel der Freihandelsabkommen mit Kanada und den USA, 2018; Die Angst der baltischen Staaten vor Russland mit Blick auf die Krim-Krise, in: G. Gornig/A. A. Michel/Chr. Bohle (Hrsg.), Territoriale Souveränität und Gebietshoheit. Selbstbestimmungsrecht und Sezession aus interdisziplinärer Sicht, 2015, S. 43 – 78; Europäisches Flüchtlingsrecht. Bemühungen im Rahmen der europäischen Verträge, die Flüchtlingsproblematik zu bewältigen, in: Gornig, Gilbert/Horn, Hans-Detlef (Hrsg.), Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht. Deutschland und seine Nachbarn in Europa vor neuen Herausforderungen. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Band 31, Duncker & Humblot, Berlin 2017, S. 117 – 138. Weitere Publikationen in Vorbereitung.

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Die Autoren / The Authors

Kontaktadresse / Contact Address: Dr. Jurgita Baur Gießener Str. 29a 61118 Bad Vilbel Deutschland E-Mail: [email protected]

*** Jean-Marie Godard Persönliche Angaben: Jean-Marie Godard wurde im Jahr 1955 in Arlon (Arel), der Hauptstadt der belgischen Provinz Luxemburg, geboren. Seine Jugendzeit verbrachte er an drei Staatsgrenzen (Belgien-Luxemburg-Frankreich) und an einer zunehmend schwindenden Sprachgrenze (das Areler Land war schon weit französisiert). Seine Eltern stammten aus dem romanischen Teil der Provinz und sein Schulunterricht erfolgte allein in französischer Sprache. Diese besondere historisch-geographische Lage seiner Heimat machte ihn empfindlich gegenüber den Minderheitenproblemen. Er studierte Geschichte in Namur (Facultés Notre-Dame de la Paix) und in Löwen (an der UCL: Université Catholique de Louvain). Er vertiefte seine Deutschkenntnisse in Louvain-la-Neuve (Neu-Löwen) im Institut für Fremdsprachen bei Prof. Dr. Rudolf Kern, mit dem er befreundet ist: er begleitete ihn später (1984) auf einer Reise zu den Donauschwaben nach Ungarn und in das rumänische Banat. Godard leistete einen bescheidenen Beitrag zu Kerns Forschung über die moselfränkische Mundart im Areler Land und zur Ausarbeitung seines Geschichtsbuches über Viktor Tedesco, einen belgisch-luxemburgischen Politiker des 19. Jahrhunderts. Nach seinem Studienabschluss war er im Jesuitenkolleg Saint-Stanislas in Mons (südwestlich von Brüssel) als Geschichtslehrer (zeitweise auch als Französischlehrer) tätig. Er veranstaltete einen Schüleraustausch mit dem Kolleg Sankt Blasien (im Schwarzwald) und begleitete Abiturientenreisen nach Prag, Wien und Berlin. Jean-Marie Godard was born in 1955 in Arlon (Arel), the capital of the Belgian province of Luxembourg. He spent his youth at three national borders (Belgium-Luxembourg-France) and at an increasingly disappearing language border (the Arel country was already frenchified). His parents came from the romanesque part of the province and his lessons took place in French only. This particular historical-geographical situation of his homeland made him sensitive to minority problems. He studied history in Namur (Faculté Notre-Dame de la Paix) and in Louvain (at the UCL: Université Catholique de Louvain). He deepened his knowledge of German in Louvain-la-Neuve (Neu-Löwen) in the Department of Foreign Languages with Prof. Dr. Rudolf Kern, with whom he is friends: he accompanied him later (1984) on a trip to the Danube Swabians to Hungary and in the Romanian Banat. Godard made a modest contribution to Kern’s research on the Moselle-Franconian dialect in the Arel Land and to writing his history book on Victor Tedesco, a 19th-century Belgian-Luxembourg politician. After graduating, he worked as a history teacher at the Jesuit College Saint-Stanislas in Mons (southwest of Brussels). At times he also worked as a French teacher. He organized a student exchange with the Kolleg Sankt Blasien (in the Black Forest) and accompanied high school graduation trips to Prague, Vienna and Berlin.

Die Autoren / The Authors

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Forschungsinteresse: Das Früh- und Hochmittelalter, die Zeit der beiden Weltkriege, Minderheitenprobleme. The early and high Middle Ages, the time of the two world wars, minority problems.

Tätigkeiten: Eine Dissertationsarbeit zum Studienabschluss an der Katholischen Universität zu Löwen (1981): Les réactions de la presse belge face au déclin de la République de Weimar, juin-octobre 1930 (Die Reaktionen der belgischen Presse gegenüber dem Verfall der Weimarer Republik, Juni-Oktober 1930). Eine Untersuchung durch elf belgische Zeitungen, die alle damaligen Ideologien und jede Gemeinschaft vertreten: sechs frankophone, vier flämische und die Eupener Zeitung. Hauptthemen: der Young-Plan, das Ende der alliierten Besatzung im Rheinland, die wirtschaftlich-soziale Krise, die Reichstagswahlen vom 14. September und die politische Krise. Ein Vortrag in La Hulpe bei Brüssel (2009) über den Ursprung und die Eigenschaften der katholischen Ordensgemeinschaften: eine historische Übersicht vom Anfang des Mönchtums bis zur Gründung des Jesuiten-Ordens und weiterer Schulkongregationen. Ein zweiter Vortrag in La Hulpe (2010) über den Versailler Vertrag und seine Folgen: die wichtigsten Bestimmungen und deren wirtschaftlichen und diplomatischen Folgen bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Ein Artikel (bald veröffentlicht) in einer Festschrift für Prof. Dr. Kurt Ebert (Innsbruck): Un voyage spatio-temporel d’Eupen à Bozen. Ein historisch-politischer Vergleich zwischen Eupen-Malmedy und Südtirol. A dissertation on graduation from the Catholic University of Leuven (1981): Les réactions de la presse belge face au déclin de la République de Weimar, June-October 1930 (The Reactions of the Belgian Press to the Decline of the Weimar Republic, June-October 1930). An investigation by eleven Belgian newspapers representing all the ideologies and communities of that time: six Francophone, four Flemish and the Eupener Zeitung. Main topics: the Young Plan, the end of the Allied occupation in the Rhineland, the economic-social crisis, the Reichstag elections on 14 September and the political crisis. A lecture in La Hulpe near Brussels (2009) on the origin and characteristics of the Catholic religious communities: a historical overview from the beginning of monasticism to the founding of the Jesuit Order and other congregations. A second lecture in La Hulpe (2010) on the Treaty of Versailles and its consequences: the most important provisions and their economic and diplomatic consequences until the outbreak of the Second World War. An article (soon to be published) in a Festschrift for Prof. Dr. Kurt Ebert (Innsbruck): Un voyage spatio-temporel d’Eupen à Bolzano. A historical-political comparison between Eupen-Malmedy and South Tyrol.

Kontaktadresse: Jean-Marie Godard Collège Saint-Stanislas Rue des dominicains, 13 B-7000 Mons (Belgien) E-Mail : [email protected]

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Die Autoren / The Authors

*** Professor Dr. Dr. h. c. mult. Gilbert H. Gornig Persönliche Angaben / Personal Data: Gilbert H. Gornig (geb. 1950): Studium der Rechtswissenschaften und Politischen Wissenschaften in Regensburg und Würzburg; 1984 Promotion zum doctor iuris utriusque in Würzburg (Prof. Dr. D. Blumenwitz); 1986 Habilitation; Lehrstuhlvertretungen in Mainz, Bayreuth und Göttingen; 1989 Direktor des Instituts für Völkerrecht an der Universität Göttingen und 1994 – 1995 Dekan; seit 1995 Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Philipps-Universität Marburg und Geschäftsführender Direktor des Instituts für öffentliches Recht. Er war Dekan von 2006 bis 2012. Von 1996 bis 2004 war er zudem Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel. Er ist Präsident der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, des Göttinger Arbeitskreises und der Marburger Juristischen Gesellschaft; er lehrt als Gastprofessor an zahlreichen ausländischen Universitäten. Pensionierung Frühjahr 2016. Gilbert Gornig (born 1950): Studies in Law and Political Sciences in Regensburg and Würzburg; became a Doctor of Law (iuris utriusque) in Würzburg in 1984 (Prof. Dr. D. Blumenwitz); habilitation 1986; lecturer in Mainz, Bayreuth and Göttingen; 1989 Director of the Institute of Public International Law at the University of Göttingen, Dean of the Faculty 1994/95; since 1995 Professor for public law, public international and European law at the Philipps University of Marburg, at the same time being the Executive Director of the Institute of Public Law. He was Dean 2006 up to 2012. Between 1996 and 2004 also Judge at the Higher Administrative Court of Hessen in Kassel. He is President of the Danziger Naturforschende Gesellschaft, of the Göttinger Arbeitskreis and the Marburger Juristische Gesellschaft. He teaches as a guest professor in numerous foreign universities. Retirement Spring 2016.

Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht, Verwaltungsrecht. Constitutional Law, International and European Law, Administrative Law.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Die sachbezogenen hoheitliche Maßnahme, 1985; Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988; Der Hitler-Stalin-Pakt, 1990; Das Memelland, 1991; Staatennachfolge und die Einigung Deutschlands, 1992; Das Nördliche Ostpreußen, 2. Aufl. 1996; Hongkong. Von der britischen Kronkolonie zur chinesischen Sonderverwaltungszone. Eine historische und rechtliche Betrachtung unter Mitarbeit von Zhang Zhao-qun, 1998; Das rechtliche Schicksal der Danziger Kulturgüter seit 1939 – 45 am Beispiel der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig, 1999; Territoriale Entwicklung und Untergangs Preußens, 2000; Seeabgrenzungsrecht in der Ostsee, 2002 (zusammen mit Gilles Despeux); Völkerrecht und Völkermord, 2002 (Nachdruck 2003); @aQS_ 6Sa_`Zb[_T_ B_oXQ. 6Sa_`VZb[YV B__RjVbcSQ. @aQS_S_p XQjYcQ S B__RjVbcSQf. ?cSVcbcSV^^_bcm T_bdUQabcS-dhQbc^Y[_S, =_b[SQ, BQ^[c-@VcVaRdaT, þYW^YZ þ_ST_a_U, 3_a_^VW, A_bc_S-^Q-5_^d, 6[QcVaY^RdaT, BQ]QaQ, þ_S_bYRYab[, ;YVS, FQam[_S, =Y^b[ (Recht der Europa¨ischen Union. Europa¨ische Gemeinschaft. Rechtsschutz in der Gemeinschaft. Verantwortung der Mitgliedstaaten), 2005 (zusammen

Die Autoren / The Authors

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mit Oxana Vitvitskaja) (Russisch); Der unabha¨ngige Allfinanz-Vertrieb, 2. Aufl. 2007 (zusammen mit Frank Reinhardt); Fa¨lle zum Polizei- und Ordnungsrecht, 4. Aufl. 2014 (zusammen mit Ralf Jahn); Der vo¨lkerrechtliche Status Deutschlands zwischen 1945 und 1990, 2007; Dreptul Uniunii Europene, 3. Aufl. 2009 (zusammen mit Ioana E. Rusu) (Ruma¨nisch); Eigentum und Enteignung im Vo¨lkerrecht unter besonderer Beru¨cksichtigung von Vertreibungen, 2010; Dreptul polit¸ienesc romaˆn s¸i german, 2012 (zusammen mit Monica Vlad) (Ruma¨nisch); Protect¸ia bunurilor culturale, 2013 (zusammen mit Monica Vlad) (Ruma¨nisch); Relaciones entre el derecho internacional pu´blico y el derecho interno en Europa y Sudame´rica, 2016 (zusammen mit ¨ ffentliches Recht in Hessen, 2018 (zusammen mit Teodoro Ribera Neumann) (Spanisch); O Hans-Detlef Horn und Martin Will); Staat – Wirtschaft – Gemeinde, Festschrift fu¨r Werner Frotscher, 2007 (Mitherausgeber); Iustitia et Pax. Geda¨chtnisschrift fu¨r Dieter Blumenwitz, 2008 (Mitherausgeber); Rechtspolitische Entwicklungen im nationalen und internationalen Kontext. Festschrift fu¨r Friedrich Bohl, 2015 (Hrsg.). Mitherausgabe der Staats- und vo¨lkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe fu¨r Politik und Vo¨lkerrecht seit 1993. Insgesamt u¨ber 500 Publikationen als Autor und Herausgeber.

Kontaktadresse / Contact Address: Professor Dr. iur. utr. Dr. h.c. mult. Gilbert H. Gornig Philipps Universität Marburg D-35043 Marburg / Deutschland Tel.: + 49 (0) 64 21/163566 E-Mail: [email protected] [email protected] Internet: http://www.staff.uni-marburg.de/~gornig/

*** Dr. Michael Kadgien Persönliche Angaben / Personal Data: Geboren 1973 in Cham / Bayern; Abitur in München; Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg, Berlin und Frankfurt / Main 1995 – 2002; Promotion in Marburg bei Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gornig 2005; Wiss. Assistent bei einem Abgeordneten des Deutschen Bundestages 1999 – 2001; Rechtsanwalt bei E.ON Ruhrgas AG in Essen 2005 – 2008; Legal Counsel bei E.ON US in Louisville / Kentucky 2008; Rechtsanwalt und Manager bei E.ON SE mit Aufgabenschwerpunkt Energiehandel 2008 bis Okt. 2018; seit November 2018 Syndikusrechtsanwalt und Geschäftsführer in einem mittelständischen Unternehmen am Niederrhein. Born in 1973 in Cham / Bavaria; High school degree Munich; Legal studies in Heidelberg, Berlin and Frankfurt / Main 1995 – 2002; PhD in Law at the University of Marburg (Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gornig); scientific assistant to a MP of the German Bundestag 1999 – 2001; Legal Counsel at E.ON Ruhrgas AG in Essen 2005 – 2008; Legal Counsel at E.ON US in Louisville / KY 2008; Legal Counsel and Manager at E.ON SE specialized on energy trading 2008 – Oct. 2018. Legal Counsel and Managing Director for a medium-sized company midsize company located in Lower Rhine area, Germany.

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Die Autoren / The Authors

Kontaktadresse / Contact Address: Dr. Michael Kadgien Lilienstr. 44 45133 Essen Email: [email protected]

*** Dr. Holger Kremser Persönliche Angaben/Personal Data: Holger Kremser (geb. 1960), 1980/86 Studium der Rechtswissenschaften in Passau, Lausanne und Göttingen. 1992 Promotion in Göttingen. Er ist am Institut für Völker- und Europarecht der Universität Göttingen tätig und vertritt die Fachgebiete Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie das Europa- und Völkerrecht in Forschung und Lehre. Holger Kremser (born 1960), 1980/86 studies in Jurisprudence at the Universities of Passau, Lausanne and Göttingen; 1992 doctorate in Jurisprudence in Göttingen. He works at the Institute for International Law and European Law at the University of Göttingen and represents the constitutional and administrative law as well as European and international law in research and teaching.

Auswahlbibliographie/Selected Publications: Monographien und Beiträge in Buchpublikationen/Monographs and book publications: Der Rechtsstatus der evangelischen Kirchen in der DDR und die neue Einheit der EKD, 1993 (Dissertation); „Soft Law“ der UNESO und Grundgesetz, 1996; Verfassungsrecht III – Staatsorganisationsrecht, 1999 (zusammen mit A. Leisner-Egensperger); Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Niederlassungsfreiheit in der EU und die Bedeutung für nationale Minderheiten, in: D. Blumenwitz/G. Gornig/D. Murswiek, Fortschritte im Beitrittsprozess der Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas, 1999, S. 51 ff.; Die Sonderstellung von Minderheiten im Wahlrecht zu nationalen Parlamenten, in: D. Blumenwitz/G. Gornig/D. Murswiek, Minderheitenschutz und Demokratie, 2004, S. 59 ff.; Neutralität, Kommerzielle Werbung, Religionsausübungsfreiheit, Sekten, Bearbeitung der zuvor genannten Stichwörter in deutscher, englischer, französischer und spanischer Sprache, in: C. Lageot, Mehrsprachiges Wörterbuch über die Geistesfreiheiten/Multilingual Dictionary of freedoms of Thought, 2008; Tornados nach Alicanto, DocMorris, Staatliche Beihilfe, Bearbeitung der zuvor genannten Fälle in: A. Paulus, Staatsrecht III – Examinatorium Öffentliches Recht, 2010; Elsass-Lothringen bei den Versailler Friedensverhandlungen, in: H. Gornig/A. Michel, Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Teil 1, 2017, S. 99 ff.; Nord-Schleswig bei den Versailler Friedensverhandlungen, in: H. Gornig/ A. Michel, Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittelund Ostmitteleuropa, Teil 1, 2017, S. 87 ff. Aufsätze/Academic essays: Das Äußerungsrecht der Bundesregierung hinsichtlich der sogenannten neuen Jugendsekten und neuen Jugendreligionen im Lichte von Art. 4 I und II GG, ZevKR 1994, S. 160 ff.; Verfassungsrechtliche Zulässigkeit technischer Regelwerke bei der Genehmigung von Atomanlagen, DÖV 1995, S. 275 ff.;

Die Autoren / The Authors

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Das Verhältnis von Art. 7 III 1 GG und Art 141 GG im Gebiet der neuen Bundesländer, JZ 1995, S. 928 ff.; Der Kommunale Rat in Rheinland-Pfalz, DÖV 1997, S. 586 ff.; Der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Mecklenburg-Vorpommern, LKV 1998, S. 300 ff.; Das verfassungsrechtliche Verhältnis von Religions- und Ethikunterricht dargestellt am Beispiel Berlins, DVBl. 2008, S. 607 ff.; Die polizeiliche Wegweisung, NdsVBl. 2009, S. 265 ff.; Die fiktive Tierversuchsgenehmigung, NdsVBl. 2012, S. 250 ff.; Die streikende Beamtin, ZJS 2014, S. 74 ff.; Der bewaffnete Einsatz der Bundeswehr gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ im Lichte des Staats-, Europa- und Völkerrechts, DVBl. 2016, S. 881 ff.

Kontaktadresse/Contact Address: Dr. iur. Holger Kremser Institut für Völkerrecht und Europarecht Universität Göttingen Platz der Göttinger Sieben Nr. 5 37073 Göttingen Deutschland E-Mail: [email protected]

*** Dr. iur. Adrianna A. Michel Persönliche Angaben / Personal Data: Adrianna A. Michel wurde im Jahre 1985 in Pyrzyce/Pyritz (Polen) geboren und ist in Deutschland aufgewachsen. Sie studierte Rechtswissenschaften mit dem Schwerpunktbereich „Völker- und Europarecht“ an der Philipps-Universität Marburg. Seit 2012 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Öffentliches Recht der Philipps-Universität Marburg tätig. Sie promovierte im Jahre 2014 auf dem Gebiet des Völkerrechts (Prof. Dr. Dr. h.c. mult. G. Gornig). Im Jahre 2015 beendete sie ihr Referendariat und habilitiert seitdem am Fachbereich Rechtswissenschaften in Marburg. Adrianna Agata Michel was born in 1985 in Pyrzyce (Poland) and grew up in Germany. She studied law specializing in Public International Law and European Law at the Philipps-University of Marburg. Since 2012 she is a member of the research staff at the Institute of Public Law at the Philipps-University of Marburg. She made her PhD in 2014 in the area of Public International Law (Prof. Dr. Dr. h.c. mult. G. Gornig). In 2015 she finished her practical legal training and habilitates since then at the Faculty of Law in Marburg.

Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Völkerrecht, Europarecht, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht. International Law, European Law, Constitutional Law, Administrative Law.

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Die Autoren / The Authors

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Polens Staatlichkeit in sieben Jahrhunderten. Eine völkerrechtliche Analyse zur Staatensukzession, in: Gornig, Gilbert (Hrsg.), Schriften zum internationalen und zum öffentlichen Recht, 2014; Die Ukraine-Krise aus völkerrechtlicher Perspektive – Die Krim im russisch-ukrainischen Spannungsfeld, in: Gornig, Gilbert/Horn, Hans-Detlef (Hrsg.), Territoriale Souveränität und Gebietshoheit. Grundlagen der Sicherung des gefährdeten Friedens im östlichen Europa und in der Welt. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Band 30, Duncker & Humblot, Berlin, S. 83 – 125; Die Einverleibung der Krim durch Russland. Eine völkerrechtliche Würdigung, in: National Public Law Association of Korea (ed.), National Public Law Review, vol. 11 – 2, 2015, S. 85 – 127; „Chaostage in der Stadt“ (Fallbesprechung), in: Marburg Law Review (MLR), 2015, Heft 2, S. 69 – 74 (zusammen mit Gilbert H. Gornig); Die de facto und de iure Staatenlosigkeit. Ein schweres Schicksal für die Betroffenen, in: Gornig, Gilbert/Horn, Hans-Detlef (Hrsg.), Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht. Deutschland und seine Nachbarn in Europa vor neuen Herausforderungen, Duncker & Humblot, Berlin 2017, S. 67 – 104; „Schweinepest“. Klausur im Europarecht (Fallbesprechung), in: Marburg Law Review, 2017, S. 45 – 52 (zusammen mit Gilbert H. Gornig).

Kontaktadresse / Contact Address: Dr. iur. Adrianna A. Michel [email protected]

*** Dr. Michael Portmann Persönliche Angaben / Personal Data: Michael Portmann (geb. 1975); Studium der Geschichte und Slawistik an der Universität Wien; Promotion zum Dr. phil. mit dem Thema der kommunistischen Revolution in der jugoslawischen Vojvodina, 1944 – 1952 im Jahre 2005. Seit 2015 Leiter des vom FWF geförderten Projektes „Between Sultan and Emperor. Imperial Legacies, Loyalties and Governance in Ottoman-Habsburg Borderlands, 1800 – 1900“. Lehrbeauftragter an den Universitäten Wien und Bern. Michael Portmann (born 1975); studied history and Slavic studies at the University of Vienna; Ph.D. phil. with the theme of communist revolution in the Yugoslav Vojvodina, 1944 – 1952 in 2005. Since 2015 leader of the FWF-funded project „Between Sultan and Emperor. Imperial Legacies, Loyalties and Governance in Ottoman-Habsburg Borderlands, 1800 – 1900”. Lecturer at Vienna and Berne Universities.

Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Internationale Geschichte, Staat und Gesellschaft, Kollektividentitäten, Kommunismusforschung, Nationalitätenpolitik, Jugoslawien, Geschichte der Habsburgermonarchie, Südosteuropa.

Die Autoren / The Authors

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International history, state and society, collective identities, communism studies, nationality policy, Yugoslavia, Habsburg Monarchy, Southeastern Europe.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Die kommunistische Revolution in der Vojvodina 1944 – 1952. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur (= Zentraleuropa-Studien, Bd. 13) (Wien 2008); Herrschaft, Krieg und moderne Staatlichkeit: Das Osmanische Reich und Europa im Vergleich (15. bis 19. Jahrhundert), in: Maximilian Graf/Barbara Haider-Wilson (Hrsg.), Orient und Okzident (Wien 2016), S. 93 – 129; Politische Geschichte Südosteuropas 1918 – 1945, in: Konrad Clewing/Oliver Jens Schmitt (Hrsg.), Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart (München 2011), S. 554 – 596.

Kontaktadresse / Contact Address: Dr. phil. Michael Portmann Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung Hollandstrasse 11 – 13 1020 Wien E-mail: [email protected]

*** Mag. phil. Andreas Raffeiner Persönliche Angaben / Personal Data: Geboren 1979 in Bozen, Südtirol (Italien); 1996 – 2000 Buchbinderlehre; 2000 – 04 im Verwaltungssektor tätig; seit 2002 freier Mitarbeiter für Zeitungen, Zeitschriften, Onlinemedien und den Hörfunk im deutschsprachigen Raum; 2007 Abitur auf zweitem Bildungsweg; 2007 – 15 Studium der Geschichte (Hauptfach), Rechtswissenschaften, Politikwissenschaften, Wirtschaft, Europäische Ethnologie, Germanistik, Philosophie (Nebenfächer) an der Universität Innsbruck; seit 2015 Dissertant aus Geschichte/Völkerrecht an der Universität Innsbruck; Autor, Gastreferent, Rezensent, Übersetzer, Heimatkundler. Born in Bozen, South Tyrol (Italy), in 1979. 1996 – 2000: apprenticeship as a bookbinder. 2000 – 04: job as office clerk. 2002 – present: freelancing as a writer/essayist for newspapers, journals, online media and radio stations all around the German-speaking world. 2007: high school graduation. 2007 – 15: pre-Bologna process 4-year university diploma, University of Innsbruck (Austrian title: Magister), major in History, minors in Law, Political Science, Economics, European Ethnology, German language and literature, Philosophy. 2015-present (in course): 2015 PhD student History and International Law (inter-disciplinary – dissertation writing stage) at the University of Innsbruck; author and co-author of several books, lecturer/invited speaker, reviewer, translator, local historian.

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Die Autoren / The Authors

Forschungsinteressen / Research Interests Tiroler Regionalgeschichte (ab 1800); österreichische Geschichte, Zeitgeschichte, Rechtsgeschichte, Minderheiten- und Völkerrecht. Tyrolean regional history (from 1800); Austrian history, contemporary history, legal history, minority and international law.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Gemeinsam mit Sven Knoll und Martin Sendor, Andreas Hofer – Sein Erbe 200 Jahre später, Wien 2009; gemeinsam mit Franz Matscher und Peter Pernthaler, Ein Leben für Recht und Gerechtigkeit. Festschrift für Hans R. Klecatsky zum 90. Geburtstag, Graz/Wien 2010; Der Goldene Adler in Brixen – ein Gasthof schreibt Geschichte, Vahrn 2014; Stets den Idealen der Rechtsstaatlichkeit treu geblieben. Festschrift für Peter Pernthaler zum 80. Geburtstag, Hamburg 2015; 70 Jahre Pariser Vertrag 1946 – 2016. Vorgeschichte – Vertragswerk – Zukunftsaussichten, Hamburg 2016; Minderheiten im Völkerrecht und das Beispiel Südtirol, Berlin 2016; 25 Jahre Streitbeilegung 1992 – 2017. Ist das „Südtirolproblem“ gelöst?!, Hamburg 2018; Auf der Klaviatur der Rechtsgeschichte. Festschrift für Kurt Ebert zum 75. Geburtstag, Hamburg 2019 (in Bearbeitung / in progress).

Aufsätze / Essays (Auswahl – Selection) Zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges mit besonderer Rücksicht auf die Schweiz und ihres Ausscheidens aus dem Reichsverband, in: FS Klecatsky (2010), S. 557 – 569; Zum 75. Todestag von Otto Bauer – Wider das Vergessen, in: Journal der juristischen Zeitgeschichte 2 (2014), S. 70 – 78; In memoriam Louis C. Morsak, in: Journal on European History of Law 2 (2014), S. 146 – 147; Zum Begriff der Freiheit im Lichte der Presse- und Meinungsfreiheit, in: FS Pernthaler (2015), S. 263 – 280; Die Justizposse von Trient oder Die Reinwaschung der Carabinieri von 1963, in: Journal für Strafrecht 4 (2016), S. 340 – 345; Presseschau zum Pariser Vertrag 1946 – 1976 – 2006 und Bewertung, in: 70 Jahre Pariser Vertrag (2016), S. 157 – 172; Italiens Verfassungsreform: Zurück zum Zentralismus, in: Hamburger Rechtsnotizen 2 (2016), S. 100 – 103; Die Strafjustiz im Dritten Reich, in: Journal für Strafrecht 5 (2016), S. 519 – 523; Zum 30. Todestag von Christian Broda: Lebensskizze und Reform, in: Journal on European History on Law 1 (2017), S. 177 – 179; Über den Grazer Partisanenmordprozess, in: Journal für Strafrecht 6 (2017), 553 – 557; Südtirol – Internationalisierung als Chance, in: 25 Jahre Streitbeilegung (2018), S. 491 – 502; Die Beständigkeit der Rechtsauffassungen im Hinblick auf die Teilung Tirols, in: FS Ebert (2019) (in Bearbeitung/in progress).

Kontaktadresse / Contact Address: Mag. phil. Andreas Raffeiner Dreiheiligengasse 8D/14 I–39100 Bozen E-Mail: [email protected]

Die Autoren / The Authors

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*** Dr. phil. Karlo Ruzicic-Kessler Persönliche Angaben / Personal Data: Karlo Ruzicic-Kessler (geb. 1984); Studium der Geschichte und Politikwissenschaft an den Universitäten Fribourg und Wien; Promotion zum Dr. phil. mit dem Thema Die Italienische Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941 – 1943 an der Universität Wien. Seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Bozen. Karlo Ruzicic-Kessler (born in 1984) studied history and political science in Fribourg and Vienna, and received his doctoral degree on The Italian occupation of Yugoslavia 1941 – 1943 from the University of Vienna.

Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Internationale Beziehungen während des Kalten Krieges in Europa, der Zweite Weltkrieg in Jugoslawien, transnationale Beziehungen kommunistischer Parteien in Europa, italienische, jugoslawische und österreichische Zeitgeschichte, die Geschichte der Alpen-Adria Region im 20. Jahrhundert. International relations during the Cold War in Europe, the Second World War in Yugoslavia, transnational relations of communist parties in Europe, Italian, Yugoslav and Austrian contemporary history, the history of the Alps-Adriatic region in the 20th century.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941 – 1943, München 2017; The Alps-Adriatic Region 1945 – 1955. International and Transnational Perspectives on a Conflicted European Region, gemeinsam mit Wolfgang Mueller und Philipp Greilinger (Hrsg.), Wien 2018; Comunismi di frontiera. I partiti comunisti nell’area Alpe-Adria 1945 – 1955/Communism on the Borders. Communist Parties in the Alps-Adriatic Region 1945 – 1954, gemeinsam mit Patrick Karlsen (Hrsg.), Qualestoria, 1:2017; Avvicinamento e cooperazione interregionale: La Jugoslavia nei rapporti di vicinato con l’Austria e l’Italia (1968 – 1978), in: Acta Histriae, 26.3 2018, S. 787 – 806; Die italienisch-jugoslawischen Beziehungen und der internationale Kontext 1945 – 1954, in: Jahrbuch für Mitteleuropäische Studien 2016/2017 (2018), S. 251 – 281; Regional cooperation in Europe: Austria, Italy, Yugoslavia and the „Alps-Adriatic“ Region 1945 – 1991, in: European Studies/Europske Studije, 1:2/2016, S. 91 – 110.

Kontaktadresse / Contact Address: Dr. phil. Karlo Ruzicic-Kessler Freie Universität Bozen Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte Kreuzgasse 7 I–39042 Brixen/Bressanone

Personenregister / List of Names Alexander I., russ. Zar 90, Alexander, Prinzregent in Serbien 172 Andrássy, Julius, Graf, ung. Politiker 203, 219, 221 Andreotti, Giulio, ital. Politiker 163 Apis, siehe Dimitrijevic´, Dragutin T. 173

Falkenhausen, Ernst Alexander von, General 30 Franz I., österr. Kaiser 90 Franz Ferdinand, Kronprinz 172 Franz Joseph I., österr. Kaiser 203, 219, 221 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 90

Badoglio, Pietro, ital. General 124 Baltia, Hermann, General 24, 25, 26 Bastin, Joseph, katholischer Pfarrer 23 Benesˇ, Edvard, Politiker 109, 11, 116 Bethmann Hollweg, Theobald von, Reichskanzler 225 Bismarck, Otto von, dt. Reichskanzler 22 Bissing, Moritz von, preußischer General 31 Bolle, Paul, dt. General 31 Böttrich, Karl Anton, Oberleutnant 224

Gaulle, Charles de, franz. Staatspräsident 124 Giolitti, Giovanni, ital. Politiker 188 Gorbatschow, Michail, sowj. Staatspräsident 46 Grabski, Stanisław, poln. Kultusminister 236 Grey, Edward, brit. Außenminister 109 Grohé, Josef, Gauleiter 30 Gruber, Karl, österr. Politiker 161 Grybauskaite˙ , Dalia, litauische Präsidentin 49, 50

Cemal Pascha, osmanischer Marineminister 227 Chamberlain, Neville, brit. Premierminister 123 Curzon, George N., Lord, brit. Außenminister 230

Hácha, Emil, tschechosl. Präsident 117 Henlein, Konrad, sudetendt. Politiker 116 Hitler, Adolf, Reichskanzler 27, 44, 45, 116, 124, 157, 190 Horthy, Miklós, ungar. Politiker 213, 214 Hussarek von Heinlein, Max, österr. Politiker 100, 128, 131

Degasperi, Alcide, ital. Politiker 159, 161 Delacroix, Léon, belg. Ministerpräsident 24, 26 Dimitrijevic´, Dragutin T., Leiter des serbischen Militärnachrichtendienstes 173 Dmowski, Roman, poln. Politiker 53, 57, 64, 69, 70 Dollfuß, Engelbert, österr. Bundeskanzler 157 Enver Pascha, osmanischer Kriegsminister 227 Erdog˘ an, Recep Tayyip, türk. Staatspräsident 227

Josef II., österr. Kaiser 20 Jovanovic´-Pizˇ on, Jovan, serbischer Diplomat 179 Karl der Große, Kaiser 19 Karl. I., österr. Kaiser 5, 100, 105, 128, 135 Karl IV., Kaiser, König von Böhmen und Markgraf von Brandenburg 19 Karl V., Kaiser 19 Kiesinger, Kurt-Georg, dt. Bundeskanzler 124 Klotz, Eva, Kämpferin für Selbstbestimmung 164 Korosˇec, Anton, Vorsitzender des Wiener Reichsrates, Stellvertretender Minister-

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Personenregister / List of Names

präsident SHS-Staat 180, 182, 184, 185, 186 Kramárˇ, Karel, tschechosl. Ministerpräsident 116 Kraus, Herbert, Völkerrechtler 234 Kreisky, Bruno, österr. Bundeskanzler 161, 163 Lenin, russ. Revolutionär 53 Leopold von Sachsen-Coburg-Gotha 21 Lloyd George, David, brit. Premierminister 74 Ludwig II., bayerischer König 199 Mackensen, August von, Generalfeldmarschall 176 Magnago, Silvio, SVP-Obmann 161 Masaryk, Tomásˇ Garrigue, tschech. Politiker 108, 109, 110, 111, 112, 116, 129, 132 Maximilian, Kaiser 19 McCarthy, Justin A., Historiker 228 Merkel, Angela, dt. Bundeskanzlerin 49, 50 Mesˇtrovic´, Ivan, Bildhauer 179 Mihalovich, Banus Anton, Landesregierung Kroatiens 182 Mock, Alois, österr. Außenminister 163 Molotov, Wjatscheslaw M., sowj. Politiker 44, 50 Münkler, Herfried, Politikwissenschaftler 228 Mussolini, Benito, ital. Politiker 155, 156, 157, 159 Napoleon, Kaiser der Franzosen 20 Nikola I. Petrovic´-Njegosˇ, König von Montenegro 174 Nitti, Francesco Saverio, ital. Ministerpräsident 188 Nothomb, Pierre, katholischer Politiker 30 Otto I., Kaiser 19 Paasch, Oliver, belgischer Ministerpräsident 32 Paderewski, Ignacy, poln. Ministerpräsident 55, 56, 64 Pasˇic´, Nikola, serbischer Politiker und Staatsmann 173

Pavelic´, Ante, Vizepräsident des Nationalrats 182, 185 Peter I. Karadjodjevic´ 172 Pietkin, Nicolas, katholischer Pfarrer 23 Piłsudski, Józef, poln. Staatsoberhaupt 55, 56, 57, 69, 70, 73, 79 Piotorek, Oskar, Gouverneur von BosnienHerzegowina 175 Pribic´evic´, Svetozar, Präsident, des Nationalrats, Innenminister SHS-Staat 182, 184, 185, 186 Princip, Gavrilo, Attentäter von Sarajewo 172 Protic´, Stojan, Serbische Radikale Partei 186 Radic´, Stjepan, Führer der Kroatischen Bauernpartei 184, 185 Renner, Karl, österr. Staatskanzler 103, 106, 128, 131, 137, 139, 142, 145, 148 Romanow, Nikolai Nikolajewitsch, russ. Großfürst 109 Rothschild, Joseph 171 Schätzel, Walter, Völkerrechtler 241 Schuschnigg, Kurt, österr. Bundeskanzler 157 Sigismund, Kaiser 19 Silagi, Michael, Völkerrechtler 216 Smetona, Antanas, litauischer Präsident 43 Sonnino, Sidney, ital. Außenminister 181 Sophie, Gemahlin von Franz Ferdinand 172 Spaak, Paul-Henri, belg. Politiker 30 Spalajkovic´, Miroslav, serbischer Botschafter in Petersburg 177 Streit, Georg, Völkerrechtler 233 Süleyman I., Sultan 199 Supilo, Frano, dalmatinischer Politiker 179 Talât Pascha, osmanischer Innenminister 225, 227 Temperley, H. W. V., Autor 215 Tiso, Jozef, slowakischer Politiker 116 Tolomei, Ettore, ital. Politiker 156 Trumbic´, Ante, Vorsitzender des Jugoslawischen Komitees, Außenminister SHS-Staat 170, 178, 180, 181, 184, 186 Viktor Emanuel III., ital. König 155

Personenregister / List of Names Wasilewski, Leon, poln. Sozialist 69 Wilhelm von Oranje-Nassau, König der Niederlande 20 Wilson, Woodrow, US-amerik. Präsident 39, 52, 90, 91, 108, 112, 154, 155, 165, 167, 181, 183, 187, 211, 241

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Wolff Metternich, Paul Graf, Botschafter 225 Wolffskeel von Reichenberg, Eberhard Graf, dt. Major 225

Sachregister / Subject Index Abwanderung der Deutschen aus Polen 235 ff. Achse Berlin-Rom 158 Adelsaufhebungsgesetz 141 f. Adelsbezeichnungen 142 Ägypten 97 Albanien 97, 176, 178, 188, 194 Alemannen 17 Allenstein, Regierungsbezirk 65, 66 Altbelgien 22, 31 Altdeutschland 241 Alto Adige 156, 157 Amikejo 21 Anerkennung der baltischen Staaten 39, 45 f. Anerkennung Polens 51 Annaberg 63 Annexion 155, 170, 187 – baltischer Staaten 40, 47, 48 – Bessarabiens 208 – Bosnien-Herzegowinas 170 – der Inseln Cherso/Cres, Lussino/Losˇinj, Lagosta/Lastovo und Pelagosa/Palagruzˇ 189 – Eupen-Malmedys 15 ff. – Montenegros 187 – Südtirols 155, 177 Annexionspläne Belgiens zu Lasten des Reiches 15 ff., 30 Anschlussverbot 106, 129 Arel 15, 17, 21, 22, 29 Areler Land 15, 17, 18, 21 Argentinien 228 Armenien-Resolution des Deutschen Bundestags vom Juni 2016 229 Armenier 229 f. Armenierfrage 224 ff. Aubel 29 Aufstände in Oberschlesien 62 f. Ausgleich, österreichisch-ungarischer 96, 203 f., 204, 218 f. Ausrufung

– der Republik Deutschösterreich 103 – der Republik Tschechoslowakei 112 – Außenpolitik – der baltischen Staaten 37 ff. – Polens 79 f. Aussig 104 Autonomie 96 Autonomie für die Region Trentino-Tiroler Etschland 160 f. Autonomiestatut – für das Memelland 40 – für Südtirol 160, 162, 163, 166 Baden 2 Balkankrieg 172, 176 Baltikum 39, 41, 43, 45, 47, 48, 49, 153 baltische Staaten 5, 6. 35 ff. Banat 186, 210, 206, 210, 211, 212, 219, 220, 222 Banater Schwaben 210 Baranja, Baranya 186, 210, 211, 219, 222 Batschka 210, 211, 219, 222 Bayern 17, 20, 28, 104, 128 Belgien 5, 6, 15 ff., 209 Benin 98 Berlin 19, 34, 35, 47, 50, 116, 126, 131, 133, 158, 173, 227, 229 Berliner Vertrag vom 13. 7. 1878 97 Beschluss des Botschafterrates vom 8. 12. 1919 70 Beschluss des Botschafterrates vom 15. 3. 1923 74 Bessarabien 208 bewegliche Vertragsgrenzen 195 Birma 98 Bocholtzer Land 22, 29 Böhmen 19, 94, 97, 99, 104, 108, 113 ff, 128 ff., 199, 204, 219 Böhmerwaldgau 103, 117, 128, 131 „Bollenien“ 31 Bosnien 171

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Sachregister / Subject Index

Bosnien-Herzegowina 94, 170, 171, 173, 175, 186 Brabant 19 Brandenburg 19 Brasilien 94 Briand-Kellogg-Pakt vom 27. 8. 1928 40, 122 Brünn 104 Brüsseler Region 32 Budapest 173, 208, 213, 221 Bukarest, Frieden vom 7. 5. 1918 205 Bukowina 71, 109, 206 Bulgarien 97, 107, 176, 177, 205 Bundesverfassungsgesetz von 1920, österr. 146 f. Burgenland 209, 210, 212, 214, 219, 220, 222 Burgundischer Kreis 20 Burkina Faso 98 Cetinje 183 Charta der Grundrechte 150 Cherso/Cres 189 Cisleithanien 5, 100, 104, 111, 128, 129, 131, 180, 203 Costa Rica 95 Cris¸ana 207 Curzon-Linie 70 ff. Dahomey 98 Dalmatien 109, 170, 171, 178, 180, 187, 188, 203 Dänen 33 Danzig, Freie Stadt 51, 52, 61, 67 f., 74, 80, 84, 97 DDR 93, 126, 131 Demokratische Partei im Königreich SHS 189 Deportationen – der Armenier 223 ff., 227 ff. – der Polen 75 Deportationsgesetz vom 27. 5. 1915, osmanisches 224 Deportationsverbot 234 Deutsch als Amtssprache in Belgien 31 Deutschbelgien 22 Deutschböhmen 103, 104, 113 f., 128, 129 Deutsch-Böhmen 117 Deutscher Zollverein 24

Deutsches Reich 6, 29, 37, 52, 54, 60, 62, 67, 68, 75, 79, 80, 81, 85, 117, 120, 123, 125, 126, 145, 147, 174, 176, 214, 237, 240, 241, 242, 243, 244 Deutschland 106, 107, 108, 110, 114, 117, 119, 123, 124, 125, 126 ff., 148, 153, 155, 157, 176, 193, 205, 209, 227, 237, 240 ff. Deutschmährer 99, 113 f., 128, 129 deutsch-osmanische Waffenbruderschaft 224 Deutschösterreich 6, 7, 8, 102, 103, 104, 106, 107, 109, 113, 128, 129, 130, 137 f., 139, 140, 142, 143,144, 155, 216 deutsch-österreichische Proklamation vom 5. 11. 1916 52, 53 Deutsch-Polnisches Abkommen über Oberschlesien vom 15. 05. 1922 77 Deutschschweiz 153 Deutsch-Slowakisches Schutzzonenstatut vom 12. 8. 1939 117 deutsch-sowjetischer Grenz- und Freundschaftsvertrag 1939 44 deutschsprachige Gemeinschaft 16, 32, 33 Deutsch-Südmähren 104, 117, 128 Deutsch-Südtirol 104, 156 Deutschtumsbund 239 Deutsch-Westungarn 104, 209, 210 Devolution 96 Dezentralisierung 96 Diskontinuität 198, 215, 216, 217 Dismembration 95, 96, 195, 199, 214, 216 Donauföderation 101 Donaumonarchie 94, 95, 172, 173, 180, 192, 194, 196, 214, 217, 220 Donnerkreuzler 43 Doppelmonarchie 5, 6, 58, 96, 107, 113, 129, 178, 203, 204, 219, 220 Draumündung 211, 219 Dreibundvertrag 1881 174 Drei-Elemente-Lehre 92, 94, 191, 194, 196 Dreierlandtag 165 Dritter Schlesischer Aufstand 62 f.

Ecuador 95 Effektivitätsprinzip 192 Eger 104 Eingliederung der baltischen Staaten in die Sowjetunion 44 f.

Sachregister / Subject Index Eingliederung von Eupen und Malmedy in das Reich 15 ff. Einheitliche Europäische Akte 163 Einschlussgebiete 104 Einverleibung der sog. Niederlande durch Frankreich 20 Elfenbeinküste 98 Elsass 20, 22, 26, 29 Elsass-Lothringen 23, 29, 33, 74, 75, 241 f. Entdeutschung 236 Entente-Mächte 117, 153, 187 Entstehen von Staaten 89 ff. Erklärung über die Wiederherstellung der Unabhängigkeit des litauischen Staates 47 Ermland 53, 62, 66 Erster Schlesischer Aufstand 62 Erstes Autonomiestatut für Südtirol 160 f. Estland 35 ff. Eupen 16, 17, 19, 21, 23, 25, 26, 29, 31, 32 Eupen-Malmedy 15 ff. Europäische Gemeinschaft 163 Europäische Menschenrechtskonvention 149 Europäischer Verbund für territoriale Zusammenarbeit 165 Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino 165 Evidenztheorie 122 Exilregierung 57, 111, 123

Familienversorgungsfonds 147 Februarpatent 202 Feldkircher Manifest 138, 139 Fiume 187, 188, 189, 211, 212, 219, 222 Flamen 31, 32, 33 flämische Gemeinschaft 32 flämische Region 32 Flandern 17, 22, 28, 31, 32 Föderation Wallonien-Brüssel 33 Franken 17 – ripuarische 17 – salische 17 Frankreich 15, 19, 20, 21, 22, 24, 27, 28, 30, 35, 56, 80, 84, 111, 118, 119, 130, 153, 154, 155, 174, 177, 184, 208, 226, 228, 230, 242, 243, 244 französische Gemeinschaft 32 Französisierungspolitik 20 Frieden in Washington, D.C. 209

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Frieden zwischen der Republik Litauen und Sowjetrussland vom 15. 7. 1920 72 Friedensvertrag mit Italien vom 10. 2. 1947 97 Friedensvertrag zwischen Russland und Litauen 38 Friendly Relations Declaration von 1970 91 Funchal 105 Fusion 96, 97, 194, 195 Galizien 51, 63, 71, 74, 82, 99, 128 Gau Köln-Aachen 29 Gdingen 74, 84 Gebietsverluste Ungarns 205 ff. Geheime Zusatzprotokolle 44 Genfer Deklaration vom 9. 11. 1918 184 Gesetz betreffend die Staatsangehörigkeit des polnischen Staates vom 20. 01. 1920 59 Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich 103, 128, 216 Gesetz vom 21. 10. 1919 107 Gleichberechtigung 108, 110, 159, 163, 179 Görz 178 Griechenland 107, 176, 209, 230, 232 ff. Griechenverfolgungen im Osmanischen Reich 230 f. Griechisch-Türkische Convention nebst Protokoll über Griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch 231 Großkolumbien 95 Großserbien 177 Gruber-Degasperi-Abkommen vom 5. 9. 1946 159, 160, 161, 164, 165, 166 Guatemala 95 Gumbinnen, Regierungsbezirk 65 Györ 208 Habsburger 6, 19, 20 Habsburgergesetz vom 3. 4. 1919 105, 106, 135 Habsburg-Lothringen 105, 106, 136, 139, 140, 141, 142, 144 ff. Hácha-Abkommen vom 15. 3. 1939 123 Heilige Allianz 90, 202 Heiliges Römisches Reich 191 Hofärar 143 Hoher Venn 16, 17 Holländisch-Limburg 23

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Sachregister / Subject Index

Homelands 93 Honduras 95 Hultschiner Ländchen 114 Iglau 104 Indonesien 94, 98 Inkorporation 195 Inkorporationismus 70 Innviertel 20 Irland 95, 98 Irrelevanztheorie 122 Island 95 Istrien 109, 177, 178, 187, 188 Italien 97, 98, 107, 109, 119, 130, 153 ff. Italienisierung 156, 157 Juden 72, 76 Jugoslawien 94, 107, 129, 169 ff., 179, 191 Jugoslawischer Klub 180 Jugoslawisches Komitee 179 Kaliningrad 48 Kapitulation der Deutschen 54 Karad¯ord¯evic´-Dynastie 172, 180, 186 Karlsbad 104 Karlsburger Beschlüsse 210 Kärnten 104, 171, 187, 188 Karpatenukraine (Karpatoukraine, KarpatoUkraine) 71, 110, 115, 116, 208, 210, 212, 219 Karpato-Ruthenen 110 Kasachstan 153 Katalonien 164 Kolumbien 94, 95 Kongresspolen 52, 82, 83, 237 Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen 6, 58, 170, 181, 219 Königreich Serbien 171, 172, 173, 177, 179, 184 Kontinuität eines Staates 43, 137, 193 f., 195, 197, 198, 200, 215, 217, 218, 220 Kosovo 94, 171 Krain 171 Krakau 54, 63, 71, 78, 97 Krakau, Freistaat 97 Kreischgebiet 206 Kriegsgeschädigtenfonds 146 Kriegsgeschädigtenfondsgesetz 146

Kriegsverbot 40 Kroaten 112, 128, 129, 171, 172 Kroatien-Slawonien 170, 171, 177, 186, 203, 212 Kroatische Bauernpartei 184, 189 Krongüter 137, 143 Kronländer 99, 171, 201, 202, 203, 218 Krumau 104 Kurland 52

Ladiner 165 Lagosta/Lastovo 189 Landesverweisung 136, 139, 140, 141, 144, 147, 149, 150 Landreform in Polen 238 Landwirtschaft, polnische 81 Lateranvertrag vom 11. 2. 1929 97 Lausanne, Friedensvertrag von, 24. 7. 1923 Lemberg 54, 71, 76, 78, 84 Lettland 43, 44, 45 ff. Liberia 94 Libyen 97 Liechtenstein 153 Limburg, – Herzogtum 19 – Provinz 17 Limburgisch 17 Liquidationsabkommen, griechisch-türkisches, 1923 232 Liquidationskommission 71 Litauen 35 ff. Litauisierung 243 Locarno-Pakt 27 Londoner Abkommen vom 23. 10. 1923 244 Londoner Abkommen vom 26. 4. 1915 170 Losheim 31 Losheimer Gegend 31 Lublin 54, 55, 78 Lubliner Regierung 54, 55 Lussino/Losˇinj 189 Lüttich 17, 18, 19, 20, 21, 26 – Fürstbischofstum 19 – Provinz 26, 27, 33 Luxemburg – Grafschaft 19 – Großherzogtum 20, 21, 23, 29, 33 – Herzogtum 19

Sachregister / Subject Index Magyaren 109, 212, 220 Mähren 94, 97, 104 Mähren-Schlesien 115 Mährisch-Ostrau 120 Mai-Deklaration vom 30. 5. 1917 180 Mai-Umsturz 79 Mainfränkisch 17 Malmedy 16 ff. Manila-Vertrag vom 4. 7. 1946 98 Maramuresch 206 Marburg an der Drau 104 Marienburg, Kreis 65 Marienwerder, Kreis 65, 66 Martiner Deklaration 112, 129 Massenabwanderung aus Elsass-Lothringen 242 Masuren 53, 62, 66 Mauretanien 98 Mazedonien 94, 171 Memelland 242 f. Mieresch 206 Minderheiten 77, 78, 85, 161, 165, 166, 185, 212 Minderheitenschutz 76 f., 108 Minderheitenschutzvertrag vom 28. 6. 1919 76, 172, 238 Mohács 199 Molotov-Ribbentrop-Pakt vom 23. 8. 1939 44 Montenegro 95, 169, 171, 172, 174, 176, 183, 187, 190, 191 Montevideo-Konvention 92 Montzener Land 22, 29 Moresnet 21, 34 Moselfränkisch 17, 18 Moselland 29 Mostar 183 Münchener Abkommen vom 29. 9. 1938 119 ff. Namibia 244, 246 Nationalausschuss, tschechoslowakischer 111, 112 Nationalkomitee, – französisches 124 – polnisches 54, 56 f. Nationalrat der tschechischen Länder 109, 111 NATO 47, 48, 49, 50

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Neu Granada 95 Neubelgien 22 Neutral Moresnet 21 Neutral- und Preußisch-Moresnet 24 Nicaragua 95, 209 Nichtangriffs- und Konsultationspakt zwischen Polen, Finnland, Estland und Lettland 1922 41 Nichtangriffsvertrag zwischen Litauen und Sowjetunion vom 18. 9. 1926 41 Nichtangriffsverträge zwischen Estland und der Sowjetunion vom 4. 5. 1932 41 Nichtangriffsverträge zwischen Lettland und Sowjetunion vom 8. 2. 1932 41 Niederdeutscher Bund 22 Niederfränkisch 17 Niederlande als Teil des Deutschen Reiches 19, 20, 94 Niederländisch 15, 17, 18, 22, 31 Niederösterreich 104, 128, 138 Niger 98 Nisˇ, Deklaration von, 7. 12. 1914 177 Norddeutscher Bund 96 Nord-Mähren 104 Nordost-Böhmen 104 Nord-Schleswig/Nordschleswig 24, 33, 153, 243 Nordsiebenbürgen 206 Notenwechsel vom 19./21. 9. 1938 118, 119, 124 Nürnberger Militärtribunal 122 Oberösterreich 103, 104, 128 Oberschlesien 24, 53, 60, 62 f., 65, 66, 67, 77, 78, 83, 85, 235, 238 Oberungarn 115, 200 Obervolta 98 Ödenburg 214 Okkupation 45, 52, 82, 197 Okkupation, deutsche, im Baltikum 45 Oktoberdiplom vom 20. 10. 1860 202 Oktober-Manifest 36 Oletzko, Kreis 65 Olmütz 104 Olsa 63, 64 Olsagebiet 63, 64 Olsaland 113 Operation „Barbarossa“ 45

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Sachregister / Subject Index

Operationszone Alpenvorland 158 Optionsrecht 60, 237 Osmanisches Reich 199, 201, 223 Ostbelgien 33, 153 Österreich 5, 19, 20, 27, 53, 58, 75, 89 ff., 201, 203 Österreich-Ungarn 36, 52, 54, 71, 85, 96, 99 ff., 170, 173 ff. Österreichisch-Schlesien 94, 97, 104, 113, 204, 219 Österreichisch-ungarischer Ausgleich 203 f. Österreichischer Staatsvertrag vom 15. 5. 1955 160 ff. Ostgalizien 71, 73, 74 Ostkantone Belgiens 16, 17, 19, 20, 22, 24, 26 ff. Ostlothringen 153 Ostoberschlesien 235, 238 Ostpreußen 15, 24, 29, 30, 53, 65, 66, 235 Ourthe-Departement 20 Pakistan 94 Panama 94, 209 Partium 211, 212, 219, 222 Pelagosa/Palagruzˇ a 189 Percival-de Marinis-Linie 63 Personalunion 203, 204, 219 Philippinen 94, 98 Piłsudski-Petljura-Pakt 73 Pittsburgher Abkommen 110, 111, 129 Podlesien 78 Polen 51 ff. – Königreich 51 ff. – Volksrepublik 55, 64, 71 Polnische Mark 82 Polnischer Korridor 235 Polnisches Nationalkomitee 56 f. Polnisch-Litauischer Krieg 72 Polnisch-Sowjetischer Krieg 72 f. Polnisch-Tschechoslowakischer Grenzkrieg 63 f. Polnisch-Ukrainischer Krieg 71 f. Polonisierungspolitik 77 Portugal 94, 209 Posen 22, 51, 53, 54, 78, 235 ff., 239, 245 Posener Aufstand 61 Prager Vertrag vom 11. 12. 1973 124 ff. Pragmatische Sanktion 201 f.

Prekmurje, Prekmurjes 186, 210, 212, 219, 222 Preußen 85, 90, 96, 191 Privateigentum der Vertriebenen 242 Privatfürstenrecht 142 Prodeutschsprachige Gemeinschaft 32 Protektorat Böhmen und Mähren 116 Protokoll betreffend den Austausch griechischer und türkischer Bevölkerungsteile 231 Protokoll über die Bedingungen des Waffenstillstandes zwischen Polen und Sowjetrussland vom 10. 7. 1920 72 Provisorische Nationalversammlung 102 Provisorische Volksregierung der Polnischen Republik 55 Quedlinburger Annalen 36 Rapallo, Vertrag von, 16. 4. 1922 188 Räterepublik 204, 207, 219 Realunion 113, 129, 204 Recht auf die Heimat 234, 243 Rechtsnachfolge 214 ff. Regentschaftsrat des Königreichs Polen 53 ff. Region Trentino-Südtirol 160, 163 Reichenberg 104, 117, 225 Reichsdeutsche 237, 238 Reichsprotektorat 116 Reichsrat 5, 7, 99 f., 102, 104, 128, 129, 132, 173, 180, 182, 202, 203 Reparationszahlungen 214 Republikschutzgesetz 148 Rheinfränkisch 17 Rheinprovinz 21 Rigaer Friedensvertrag vom 18. 3. 1921 60 Rijeka 187, 211, 219, 222 Ripuarisch-Fränkisch 17, 18 Rosenberg, Kreis 65 RSFSR 96 Rückgabe der Ostkantone 27 Rumänien 5, 6, 74, 80, 85, 107, 109, 176, 204 ff., 208 ff. Russland 15, 29, 30, 35, 36 ff., 223, 226, 228, 230 Ruthenen 110, 112, 114, 115, 129

Sachregister / Subject Index Saint Germain, Friedensvertrag von 5 ff., 104, 106 ff., 114 f., 117, 129, 130, 132, 155, 209, 216, 217 Salvador 95 Salzburg 104 Sankt Vith 16, 17, 18, 19, 21, 26, 30, 31, 32 Sarajewo 172, 173, 183 Schengener Abkommen vom 14. 6. 1985 165 Schlesien 51, 53, 60, 219, 235 Schlussstricherklärung vom 21. 1. 1997 127 f. Schottland 94, 164, 191 Schulen 28, 77, 157, 232, 238, 239 Schutzgebiete, deutsche 244 f. Schwarze Hand 173 Schweiz 94, 105, 138, 153, 228, 230 Sejm 55, 57, 58, 59 Selbstbestimmungsrecht der Völker 39, 49, 90, 91, 101, 104, 108, 114, 154, 158, 161, 165, 181, 182, 197, 234 Selbstbestimmungsreferendum 164 Separation 95, 113, 129, 132, 195 Serbien 35, 37, 94, 95, 109, 169, 170, 171, 172 ff., 174 ff., 179, 181, 183, 184, 185, 188, 206, 209, 211, 212, 219 serbisch-kroatisch-slowenischer Staat 107 Serbisch-kroatisch-slowenisches Königreich 209 (vgl. auch SHS-Staat/Königreich) Settlement of Financial Claims Act 123 Sezession 94, 113, 129, 195, 199, 2014, 209 ff., 214, 218, 219, 220 SHS-Staat/Königreich 169, 170, 172, 181, 184, 185, 186, 187, 188, 211, 219, 222 (vgl. auch Serbisch-kroatisch-slowenisches Kö nigreich) Siam 209 Siebenbürgen 5, 109, 153, 200, 201, 206, 207, 208, 210, 211, 212, 219, 220 Siebenbürger Sachsen 210 Slawonien 170, 171, 177, 186, 189, 201, 203, 209, 210, 212, 220 Slowaken 99, 110, 112, 116, 128, 129, 183, 209, 213 Slowenien 94, 171, 177, 188, 212, Somaliland 98 Sombor 183 Sopron 214 Sorben 33

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Souveränität 25, 37, 39, 41, 46, 47, 51, 52, 55, 70, 71, 74, 90, 98, 112, 126, 129, 130, 131, 160, 166, 194, 196, 197 Sowjetrussland 51, 61, 70, 72, 74, 80, 85 Sowjetunion 39, 74, 96, 191 Spanien 94 Sprachinseln 17, 104 St. Veit am Flaum 211, 222 Staatenlosigkeit der russischen Bevölkerung 48 Staatensukzession 198, 216 Staatsangehörigkeitsabkommen vom 30. 8.1924 59, 60 Staatsgebiet 6, 51, 63, 70, 71, 72, 74, 75, 77, 81, 84, 92, 94, 104, 121, 123, 125, 128, 142, 143, 186, 192, 194 ff., 198, 212, 218, 220 Staatsgewalt 54, 55 ff., 92, 93, 94, 96, 98, 137, 192, 194, 196 f., 198, 243 Staatsuntergang 192 ff. Staatsvolk 92, 192, 197, 198 Stablo-Malmedy, Reichsabtei, Fürstentum 19 Steiermark 104, 171, 187 Sterzing 157 Stimson-Doktrin 92, 93 Stolypin-Agrarreformen 42 Stuhm, Kreis 65 Subotica 183 Südafrikanische Union 244 Süd-Baranya (Drávaköz) 210, 219 Südböhmen 104 Sudetendeutsche 114, 116, 117, 118, 119, 120, 127, 130 Sudetenland 6, 8, 103, 104, 106, 116, 117 ff., 131 ff. Südostpreußen 65 Südslawen 170, 173, 177 ff. Südslawisches Komitee 184 Südtirol 6, 33, 104, 106, 109, 153 ff. Südtiroler Volkspartei 158 Südtirol-Frage 6, 153 ff. Südtirol-Paket 161 ff. Südwestafrika 244 Suwałki, Vertrag von, 7. 10. 1920 72 SVP 161, 162, 163, 164 Syrien 97 Tanganjika 245 Tansania 245

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Sachregister / Subject Index

Teilungen Polens 53, 70, 82 Teilungsgebiete 51, 53, 56, 75 Teschen 63, 64 Teschener Schlesien 85 Theiß-Front 207, 208 Tirol 104, 155, 156 Toblach 157 Transkei 93 Transleithanien 203, 218 Transsylvanien 109 Trentino 156, 160, 163, 165 Trianon, Vertrag von 5, 6, 107, 115 ff., 191 ff. Triest 97, 178 Trieste, Territorio libero di 97 Triple-Entente 208 Tschechoslowakei 98 ff. Tschecho-Slowakei 110, 113, 115, 129, 209 tschechoslowakische Antwortnote vom 21. 9. 1938 118, 130 Tschechoslowakische Republik 115, 209 Tschecho-Slowakische Republik 5, 116 Türkei 225 ff. UdSSR 96, 123 Ukraine 49, 50, 51, 60, 61 Unabhängigkeit der baltischen Staaten 39, 47 Unabhängigkeitserklärung Österreichs vom 27. 4. 1945 148 Unabhängigkeitserklärung, tschechoslowakische 111 ff. Ungarisch-rumänische Grenzstreitigkeiten 205 ff. Ungarisch-Rumänischer Krieg 205 ff. Ungarn 58, 94, 95, 96, 107, 110, 112, 113, 115, 124, 129, 130, 170, 191 ff. Unionistenprozesse 226 f. Untersteiermark 104, 187 USA 83, 94, 98, 110, 111, 123 (siehe auch Vereinigte Staaten von Amerika) Usbekistan 153 Vasallenstaat 116 Venezuela 95 Vennbahn 26, 31 Veränderungen des Staatsgebiets 194 ff., 174, 177, 192 Vereinigte Arabische Republik 97

Vereinigte Staaten von Amerika 56, 217, 230, siehe auch USA Vereinigtes Königreich 130, 153 Versailler Vertrag/Versailler Friedensvertrag 15, 21, 24, 25, 27, 39, 40, 51, 58, 59, 61, 62, 64 ff., 67, 68, 74, 76, 106, 117, 129, 235, 237, 238, 239, 241, 242, 243, 244 Vertragsabschließungskompetenz 99 Vertreibung 223 ff. Verzichtserklärung des Kaisers vom 11. 11. 1918 102, 137 Vidovdan-Verfassung vom 28. 6. 1921 186, 189 Vierzehn Punkte von Wilson 53, 90 Vilnius 36, 38, 40, 41, 44, 48, 49, 51 Vojvodina 171, 177, 183, 212, 220, 222 Völkerbund 25, 26, 39, 40, 68, 72, 77, 78, 91, 106, 107, 238 Völkermanifest 5, 100 f., 111, 128, 131, 136, 182 Völkermord 223 ff., 227, 228, 229, 230, 231, 234 – an den Armeniern 223 ff. Völkermord-Gesetz, französisches 229 Völkermordkonvention 228, 234 Völkerrechtssubjektivität 92 Völkerschlacht bei Leipzig 20 Volksabstimmungen 65 f. Volksbefragung – über Eupen-Malmedy 25 – über das Hultschiner Ländchen 114 – über Ostgalizien 71 – über Südtirol 164 Volksbund der Deutschen im Ausland 28 Volkszählung – Österreich 155, 156 – Ungarn 212 Vorarlberg 104, 165 Vorläufiges Verfassungsgesetz vom 30. 10. 1918, österr. 137

Waffenstillstand 35, 54, 63, 72, 112, 183, 205, 208, 230 Wahlen in Belgien 26 ff. Wahlrecht 108 Wallonien 15, 17, 28, 32, 33 wallonische Region 32

Sachregister / Subject Index Washingtoner Deklaration vom 18. 10. 1918 111, 129 Weißrussland 60, 73 Welschtirol 104 Welsh Lothringen 15 Westgalizien 71 Westmark 29 Westpreußen 53, 56, 66, 235, 237, 239 Westthrazien 232 Westukrainische Volksrepublik 71 Wiener Kongress 97, 196 Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23. 5. 1969 122 Wiener Vertrag vom 24. 8.1921 217

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Wilna 51, 72, 73, 74, 78 Wittelsbacher 19 Wohnsitzprinzip 59, 60 Wolhynien 71, 73, 78, 82 Zara (Zador) 188, 189 Zentralamerikanische Föderation 95 Zession 123, 195 Znaim 104 Zugang zum Mittelmeer 172 Zwangsdeportationen 75 Zwangstürkisierungen 225 Zwei-plus-vier-Vertrag vom 12. 9. 1990 126 Zweiter Schlesischer Aufstand 62 f.