Der Erste Weltkrieg – ein Verteidigungskrieg? [1 ed.] 9783428588916, 9783428188918

Der Erste Weltkrieg war der bislang umfangreichste Krieg der Geschichte. Was waren die Ursachen für diesen Krieg? Sind d

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Der Erste Weltkrieg – ein Verteidigungskrieg? [1 ed.]
 9783428588916, 9783428188918

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Zeitgeschichtliche Forschungen 66

Der Erste Weltkrieg – ein Verteidigungskrieg? Von Bernhard Sauer

Duncker & Humblot · Berlin

BERNHARD SAUER

Der Erste Weltkrieg – ein Verteidigungskrieg?

Zeitgeschichtliche Forschungen Band 66

Der Erste Weltkrieg – ein Verteidigungskrieg?

Von

Bernhard Sauer

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlag: Deutsche Maschinengewehrstellung an der Weichsel, 1916 (© agk-images) Alle Rechte vorbehalten

© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 1438-2326 ISBN 978-3-428-18891-8 (Print) ISBN 978-3-428-58891-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

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Für meinen Sohn Daniel

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Julikrise und Kriegsausbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 III. Kriegsziele des Deutschen Kaiserreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1. Das „Septemberprogramm“ der Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Die Kriegsziele der Alldeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 IV. Der Kriegsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 1. Die Marne-Schlacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2. Erfolge an der Ostfront . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3. Die Schlacht von Verdun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4. Die Tragödie an der Somme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 5. Dritte Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff . . . . . . . . . . . . . 55 6. Die Friedensinitiative vom Dezember 1916 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 7. Der U-Boot-Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 8. Die Kreuznacher Konferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 9. Die Entlassung Bethmann Hollwegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 V. Die SPD und der Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 VI. Kriegsende und Zusammenbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 2. Die Offensive im Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3. Das Waffenstillstandsangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4. Das Ende des Kaiserreiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 5. Die Dolchstoßlegende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 VII. Adolf Hitler und der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 VIII. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

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Inhaltsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Archivquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Literatur bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Literatur nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Zeitungen und Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

I. Einleitung Am 28. Juni 1914 wurden der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin in Sarajevo von dem bosnisch-serbischen Gymnasiasten Gavrilo Princip erschossen. Dieses Attentat war der Auslöser einer internationalen Krise, die Anfang August 1914 mit einem Krieg zwischen den Großmächten endete. Der Erste Weltkrieg war der bislang umfassendste Krieg der Geschichte. 40 Staaten beteiligten sich an ihm. Auf Seiten des Deutschen Kaiserreiches kämpften Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und Bulgarien gegen Frankreich, Großbritannien, Russland, Serbien, Belgien, Italien, Rumänien, Japan und die USA. 20 Millionen Menschen verloren durch ihn ihr Leben. 21 Millionen wurden verwundet. Der Tod eines Mannes und einer Frau in Sarajevo haben zum Tod von Millionen geführt. Wie konnte das geschehen? Was waren die Ursachen für diesen Krieg? In der Vorkriegszeit hat es mehrere Krisen und auch wiederholt Attentate gegeben. Doch alle ernsthaften Konfliktsituationen konnten immer so weit befriedet werden, dass ein großer europäischer Krieg vermieden werden konnte. Warum führte dann aber das Attentat von Sarajevo zu diesem Flächenbrand? Wer war schuld an dieser Entwicklung? Sind die Großmächte in den Krieg hineingeschlittert? War er ein Unfall, ein Versehen? Oder gab es Kräfte, die diesen Krieg gewollt haben? In der offiziellen Darstellung der deutschen Regierung befand sich Deutschland in einem Verteidigungskrieg gegen den „russischen Despotismus“. In ihr wurde der Eindruck erweckt, Deutschland tue nichts anderes, als auf Russland zu reagieren, welches die Kriegshandlungen eröffnet habe. Befand sich das deutsche Kaiserreich tatsächlich in einem Verteidigungskrieg? Der Erste Weltkrieg war prägend für die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Antisemitismus entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Massenerscheinung. Gab es einen Zusammenhang zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem enormen Anwachsen des Antisemitismus? Haben Verlauf und Ergebnis des Ersten Weltkrieges den Antisemitismus in Deutschland entscheidend gefördert? Der Erste Weltkrieg führte zu einem zweiten, noch katastrophaleren Krieg. Gab es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Kriegen, und wenn ja, welchen? Ergaben sich aus dem Ersten Weltkrieg alle folgenden Katastrophen? War auch der Nationalsozialismus ein Ergebnis des Ersten Weltkrieges? Angesichts des ungeheuren Leids, das dieser Krieg verursacht hat, ist eine Frage von besonderer Bedeutung: Hätte der Krieg verhindert werden können? Die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Europas haben auf ihren Konferenzen

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I. Einleitung

wiederholt beschlossen, sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen den drohenden Krieg zu stellen. Waren derartige Bestrebungen von vornherein zum Scheitern verurteilt oder gab es doch Chancen, den Krieg zu verhindern?

II. Julikrise und Kriegsausbruch Der Besuch von Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in der bosnischen Hauptstadt war ein schlecht gewählter Termin. An diesem Tag, dem Veitstag, hatten im Jahr 1389 osmanische Verbände ein serbisches Heer auf dem Amselfeld vernichtend geschlagen und damit die Ära des serbischen Reiches auf dem Balkan beendet. Der St. Veitstag war der wichtigste Gedenktag der Serben, an dem sie traditionell dem Kampf gegen die osmanische Fremdherrschaft gedachten. Der Besuch des österreichischen Thronnachfolgers, ausgerechnet an diesem Tag, wurde von den serbischen Nationalisten als Affront angesehen. Nach dem Russisch-Osmanischen Krieg 1877/78 wurden Bosnien und Herzegowina unter österreich-ungarische Verwaltung gestellt. Formell standen sie aber noch unter osmanischer Herrschaft. Die Doppelmonarchie annektierte die Gebiete aber im Jahr 1908. Diese Annexion löste eine politische Krise auf dem Balkan aus. Die Annexion wurde von den Serben, die ebenfalls Anspruch auf diese Gebiete erhoben, nie verwunden. Das neu geschaffene Königreich Serbien sah seine Pläne gefährdet, ein großserbisches Reich zu errichten, das alle Serben einschloss. Ungefähr 2 Millionen Serben lebten aber in ÖsterreichUngarn und etwa 850 000 davon in Bosnien-Herzegowina.1 Bevor Franz Ferdinand die Provinzhauptstadt Bosnien-Herzegowina besuchte, hatte er zwei Tage lang ein Truppenmanöver der österreichisch-ungarischen Streitkräfte in Bosnien inspiziert. Diese Machtdemonstration wurde von den Serben innerhalb und außerhalb Bosniens als Provokation angesehen. Gavrilo Princip und seine Mitverschwörer sowie die in Bosnien ansässigen Helfer wurden gleich nach der Tat von den österreichischen Behörden verhaftet. Der österreichische Untersuchungsrichter Leo Pfeffer nahm die Ermittlungen auf. Eine entscheidende Frage war dabei auch, in welchem Ausmaß die offiziellen Stellen Serbiens in das Attentat verstrickt waren. Wusste die serbische Regierung von dem geplanten Attentat? War gar das Attentat eine von Belgrad gesteuerte Operation zur Destabilisierung der von Österreich regierten südslawischen Gebiete? Princip behauptete, dass die Idee und die Initiative für das Attentat von ihm kamen. Die Attentäter leugneten nicht ihre Beziehung zu Militär- und Freischärlerkreisen in Belgrad. Sie hätten sich an Major Vojislav Tankosic´ gewandt, dem charismatischen Freischärlerkommandeur aus der Zeit der Balkankriege 1912/13, um Waffen für den geplanten Anschlag zu erlangen. Tankosic´ war der Vertraute des serbischen Militärgeheimdienstchefs Dragutin Dimitrijevic´ (genannt: Apis). Alle Angeklagten verneinten aber ausdrücklich jede Verbindung mit der serbischen Regierung. Die 1 Vgl. Annika Mombauer, Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg, München 2014, S. 8.

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II. Julikrise und Kriegsausbruch

serbischen Behörden hätten sie verhaftet, wenn sie von ihrem Plan erfahren hätten. Die Ermittlungsergebnisse Pfeffers haben keinen Beweis für eine direkte Beteiligung der serbischen Regierung an dem Attentat ergeben. Am 10. Juli 1914 reiste der hochrangige habsburgische Beamte Friedrich von Wiesner nach Sarajevo, um die Hintergründe des Attentats sowie eine mögliche Mittäterschaft Belgrads zu untersuchen. Drei Tage später schickte er seinen Abschlussbericht an den österreichisch-ungarischen Außenminister Graf Leopold Berchtold. In dem hieß es: „Mitwisserschaft serbischer Regierung an der Leitung des Attentats oder dessen Vorbereitung und Beistellung der Waffen [ist] durch nichts erwiesen oder auch nur zu vermuten. Es bestehen vielmehr Anhaltspunkte, dies als ausgeschlossen anzusehen.“ Allerdings stellte er auch fest, dass die großserbische Propaganda von Serbien aus auch durch Vereine und sonstige Organisationen betrieben wurde. Dies geschehe unter Förderung sowie mit Wissen und Duldung der serbischen Regierung. Das Attentat sei unter Mitwirkung der serbischen Staatsbahnbeamten Ciganovic´ und Major Tankosic´ vorbereitet worden, die Bomben, Brownings, Munition und Zyankali bereitgestellt hätten. Der Ursprung der Bomben aus dem serbischen Armeemagazin Kragujevac sei erwiesen, doch gebe es keine Anhaltspunkte dafür, dass sie erst jetzt dem Magazin entnommen worden sind.2 Der Bericht war lediglich als kurze Vorinformation an das Ministerium gedacht. In den folgenden Besprechungen, die vom 4. 7. bis 7. 7. 1914 in der Kommission des k. u. k. Ministerium des Äußeren stattfanden, rief Wiesner zur Mäßigung und zur gewissenhaften Untersuchung der Tatbestände auf. Aus dem vorliegenden Material könnten keine eindeutigen Schlüsse auf die Mitschuld Serbiens gezogen werden. Wiesner wollte verhindern, dass man sich unüberlegt in einen Krieg stürzt, doch die Maschinerie des Krieges war schon längst im Gange. Schon bevor Wiesner nach Serbien fuhr, stand bei den anderen Mitgliedern der Kommission im k. u. k. Ministerium des Äußeren fest, dass sie eine „juristische Auffassung des Materials“ ablehnten und „die Bestrafung Serbiens und somit den Krieg“ wollten.3 Als am 12. Oktober 1914 der Strafprozess gegen Princip und 24 Mitangeklagten begann, war der Krieg bereits voll im Gang. Die Staatsanwaltschaft warf den Angeklagten nicht nur Mord, sondern auch Hochverrat vor. Mit ihrer Tat hätten sie nämlich auf die Abtrennung eines zur Doppelmonarchie gehörigen Landesteils abgezielt. Die Angeklagten leugneten nicht, dass sie Bosnien und Herzegowina von der österreichisch-ungarischen Fremdherrschaft befreien wollten, weigerten sich aber anzuerkennen, damit den Tatbestand des Hochverrats erfüllt zu haben. In ihren 2 Die Österreich-Ungarischen Dokumente zum Kriegsausbruch, https://wwi.lib.byu.edu/in dex.php/Die_%C3%96sterreichisch-Ungarischen_Dokumente_zum_Kriegsausbruch I, (aufgerufen 14. Mai 2021). 17. Sektionsrat von Wiesner an das k. u. k. Ministerium des Äußeren, 13. Juli 1914. 3 Brigitte Schagerl, Im Dienste eines Staates, den es nicht mehr geben sollte, nicht mehr gab, nicht mehr geben durfte. Friedrich Ritter von Wiesner. Diplomat, Legitimist, NS-Verfolgter, Wien 2012, S. 58.

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Augen war die Herrschaft Österreich-Ungarns über Bosnien und Herzegowina illegitim. Franz Ferdinand betrachteten sie als Repräsentanten einer Besatzungsmacht. Das Urteil vom 29. Oktober 1914 sah die Anklage des Hochverrats und des vorsätzlichen Mordes in den meisten Fällen als erwiesen an. Drei Angeklagte, die schon volljährig waren, wurden zum Tod am Strang verurteilt. Princip, der zum Tatzeitpunkt noch nicht volljährig war, sowie zwei weitere Angeklagte wurden zu jeweils 20 Jahren Festungshaft verurteilt. Die Verurteilten wurden zur Verbüßung ihrer Haftstrafen in das Militärgefängnis von Theresienstadt gebracht. Die Haftbedingungen waren dort unmenschlich. Mehr als ein Jahr waren Princip und die beiden anderen Verurteilten in ihrer eiskalten Zelle angekettet. Die Kälte im Winter und die mangelhafte Ernährung schwächten ihre ohnehin schon angegriffene Gesundheit. Princip und die beiden anderen starben zwischen 1916 und 1918 in Theresienstadt an Tuberkulose. Auch zwei weitere Verurteilte überlebten die Haft nicht.4 Serbien seinerseits bestritt jede Verwicklung in das Attentat und bedauerte den Vorfall. Es besteht weitgehend Konsens, dass die serbische Regierung das Attentat nicht organisiert hat. Aber die Frage, ob die serbische Regierung unter Nikola Pasˇic´ von dem Attentat wusste, ist unter Historikern bis heute höchst umstritten. Die Palette der Meinungen reicht von: Er wusste nichts, er wusste etwas, er wusste es, hatte aber Angst vor dem militärischen Geheimdienst, persönlich etwas dagegen zu unternehmen. Pasˇic´ selber dementierte ausdrücklich, dass er und seine Minister im Voraus von den Attentatsplänen wussten.5 Clark gehört zu den Historikern, die der Meinung sind, dass Pasˇic´ doch von dem geplanten Attentat wusste. Allerdings sind die Belege, auf die Clark sich bezieht, äußerst vage und die Schlussfolgerungen, die er aus ihnen zieht, nicht frei von Spekulationen. Er stützt sich dabei im Wesentlichen auf eine Aussage von Ljuba Javanovic´, dem früheren Bildungsminister in der Regierung Pasˇic´. Demnach soll Pasˇic´ dem serbischen Kabinett Ende Mai oder Anfang Juni mitgeteilt haben, dass einige Verschwörer „Vorbereitungen trafen“, um nach Sarajevo zu gehen und dort Franz Ferdinand umzubringen. Das gesamte Kabinett sei sich einig gewesen, „dass der Regierungschef den Grenzbehörden entlang der Drina entsprechende Instruktionen erteilen solle, um den Grenzübertritt zu verhindern“.6 Am 10. Juni erging dann auch ein diesbezüglicher Befehl der Regierung an die Behörden der Grenzgebiete. Wenn Javanovic´ tatsächlich diese Aussage so gemacht hat – was nicht sicher ist – und er in ihr das wiedergibt, was Pasˇic´ gesagt haben soll, dann heißt das lediglich, dass der serbische Ministerpräsident von Aktivitäten ultranationalistischer Kreise Wind bekommen hat. Dies ist auch nicht sonderlich verwunderlich, denn es war ein offenes Geheimnis, dass in diesen Kreisen der Besuch des Thronerben als Provokation betrachtet wurde, die nicht unbeantwortet 4 Vgl. Gregor Mayer, Der Prozess gegen Gavrilo Princip, Serbien 1914 – 1915. In: Lexikon der politischen Strafprozesse. https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/ princip-gavrilo-u-a/ (aufgerufen 12. Januar 2021). 5 Vgl. Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, S. 598. 6 Ebd., S. 89.

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bleiben könne. Es gab wiederholt Warnungen, dass serbische Ultranationalisten diesen Besuch als eine sich besonders anbietende Gelegenheit für einen Schlag gegen die Fremdherrschaft nutzen könnten. Mit Javanovic´s Aussage ist aber nicht belegt, dass Pasˇic´ von den konkreten Vorbereitungen des Princip-Kreises etwas gewusst hat. Gleichwohl blieben ihm die Aktivitäten an der Grenze zu Bosnien nicht verborgen. Am 24. Juni ordnete er eine umfassende Untersuchung der Grenzwachen an. Er habe über verschiedene Quellen erfahren, dass einige „Offiziere“ an der Grenze einer Tätigkeit nachgingen, die nicht nur gefährlich, sondern sogar verräterisch sei, „weil sie die Heraufbeschwörung eines Konflikts zwischen Serbien und Österreich-Ungarn zum Ziel habe.“ Am 24. Juni 1914 schrieb er an Stepanovic´ : „Die Lebensinteressen Serbiens machen es ihnen zur Verpflichtung, sich vor allem zu hüten, das einen bewaffneten Konflikt mit Österreich-Ungarn zu einer Zeit provozieren könnte, in der wir einen Frieden brauchen, um uns zu erholen und auf die uns bevorstehenden Ereignisse vorzubereiten.“7 Gemeint waren insbesondere die Aktivitäten von Major Tankosic´. Dessen Arbeit ging in zwei Richtungen: Erweiterung seines Netzwerks in Bosnien und Herzegowina, Nutzung der Unzufriedenheit der lokalen Bevölkerung mit der österreichisch-ungarischen Verwaltung und Rekrutierung und Ausbildung von Freiwilligen für den bevorstehenden Konflikt. Tankosic´ bildete die Freiwilligen im Cuprija-Lager aus. Dies widersprach völlig der offiziellen serbischen Politik, die eine weitere Verschärfung der Beziehungen zu Österreich-Ungarn befürchtete. Auf dieser Linie lag auch, dass die österreichische Regierung gewarnt wurde. Nach Angaben des serbischen Gesandten in Paris, Milenko Vesnic´, hat die serbische Regierung „die österreichische Regierung gewarnt, dass sie von einer Verschwörung Wind bekommen habe“.8 Am 21. Juni 1914 traf sich Jovan Jovanovic´, der serbische Gesandte, in Wien mit Leon Bilin´ski, dem österreichisch-ungarischen Finanzminister, um die österreichische Regierung vor möglichen Konsequenzen zu warnen, falls der Erzherzog tatsächlich nach Bosnien reisen sollte. Ein Besuch des Thronerbens zum Jahrestag der Niederlage auf dem Amselfeld werde mit Sicherheit als eine Provokation betrachtet werden. Unter den jungen Serben, die in den österreichisch-ungarischen Streitkräften dienten, „könnte auch einer sein, der anstelle einer Platzpatrone eine scharfe Kugel in sein Gewehr oder seinen Revolver geladen habe (…)“.9 Die Warnungen waren allgemein und vage, aber nicht – wie Clark dies konstruiert –, weil Pasˇic´ sich in einem politischen Dilemma befand, sondern weil er offenbar keine Einzelheiten kannte. Die Warnungen wurden auch nicht sehr ernst genommen; der Besuch wurde nicht verschoben und die Sicherheitsvorkehrungen nicht erhöht. Es ist sicher, dass die serbische Regierung nicht hinter dem Attentat stand und sehr unwahrscheinlich, dass sie im Voraus über Einzelheiten der geplanten Aktion informiert war. Es kann davon ausgegangen werden, dass das Attentat in Sarajevo der serbischen Regierung ungelegen kam. Aber eine gewisse Ungewissheit in der Beurteilung der serbischen Haltung bleibt allerdings bestehen. Doch muss 7

Zit. nach: ebd., S. 92. Zit. nach: ebd., S. 94. 9 Zit. nach: ebd., S. 95. 8

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auch mit aller Deutlichkeit gesagt werden: Selbst wenn die serbische Regierung hinter dem Attentat gestanden hätte und die Regierung in Wien in der Lage gewesen wäre, dies einwandfrei nachzuweisen, wäre dies kein Kriegsgrund gewesen, hätte dies keinen Krieg gegen Serbien gerechtfertigt. Die österreich-ungarische Regierung hätte sich an die anderen Großmächte und das Internationale Gericht in Den Haag wenden können, um Serbien zu verurteilen und Sanktionen einzufordern. Obwohl eine Mitwirkung Serbiens an dem Attentat nicht nachgewiesen werden konnte, machte Österreich-Ungarn das Königreich Serbien für das Attentat verantwortlich.10 Armeechef Franz Conrad von Hötzendorf, der bereits seit Jahren auf ein militärisches Vorgehen gegen Serbien gedrängt hatte, forderte einen sofortigen Angriff gegen Serbien. Außenminister Leopold Graf Berchtold, der ebenfalls wie Ministerpräsident Karl Stürgkh ein militärisches Vorgehen gegen Serbien befürwortete, meinte aber, ein solcher Schritt müsse gut vorbereitet sein. Am 1. Juli teilte er dem ungarischen Ministerpräsidenten István Tisza mit, man habe sich im Auswärtigen Amt auf eine Abrechnung mit Serbien verständigt. Tisza hielt jedoch den Augenblick für ungünstig und protestierte mit einem Schreiben an Kaiser Franz Josef. Ich hatte – so hieß es da – von der Absicht des Grafen Berchtold erfahren, „die Greueltat in Sarajevo zum Anlass der Abrechnung mit Serbien zu machen (…) Ich habe Grafen Berchtold gegenüber keinen Hehl daraus gemacht, daß ich dies für einen verhängnisvollen Fehler halten und die Verantwortung keineswegs teilen würde. Erstens haben wir bisher keine genügenden Anhaltspunkte, um Serbien verantwortlich machen zu können und trotz etwaiger befriedigender Erklärungen der serbischen Regierung einen Krieg mit diesem Staat zu provozieren. Wir würden den denkbar schlechtesten locus standi haben, würden vor der ganzen Welt als die 10 Später haben verschiedene Studien aus der Nachkriegszeit Details des Komplotts herausgearbeitet und dabei nachgewiesen, dass der Chef des serbischen Geheimdienstes, Dragutin Dimitrijevic´, hinter dem Attentat stand. Über diese Erkenntnisse verfügte die Regierung in Wien aber 1914 nicht; sie hat ihre Entscheidung, einen Krieg gegen Serbien zu eröffnen, nicht von den Untersuchungsergebnissen abhängig gemacht. Auch ist es falsch, wenn Annika Mombauer schreibt, dass man damit „der serbischen Regierung direkte Komplizenschaft hätte nachweisen können“. Vgl. A. Mombauer, Die Julikrise, S. 54. Apis und Tankosic´ waren politische Widersacher von Pasˇic´ ; zwischen ihnen und der serbischen Regierung gab es wiederholt gravierende Konflikte. Auch ist nicht klar, welche Rolle Apis bei dem Attentat genau gespielt hat. Die Darstellungen reichen von: Er hat das Attentat genehmigt, er gab die logistische Unterstützung des Attentats durch Kader der von ihm geleiteten Geheimorganisation „Schwarze Hand“ bis hin zu der Behauptung, dass er die Attentäter selber ausgewählt hat. Er sagte später aus, Tankosic´ habe ihn gefragt, ob er einige junge Männer aus Bosnien die Drina überqueren lassen würde, und dass er es ohne viel nachzudenken zugelassen habe. Erst später habe Tankosic´ ihm gesagt, dass diese jungen Männer im Einvernehmen mit ihren Kameraden aus Bosnien, „etwas gegen Ferdinand versuchen wollen“. Es ist wahrscheinlich, dass Tankosic´ Apis nicht rechtzeitig über alles informiert hat. Nach dem heutigen Stand der Erkenntnisse hat Princip sich nicht mit Apis getroffen. Bereits 1903 war Apis am Sturz und der Ermordung des damaligen serbischen Königs Aleksandar Obrenovic´ beteiligt. Nach dem Attentat von Sarajevo wurde Apis zusammen mit einigen anderen Offizieren verhaftet und angeklagt, die Ermordung des Prinzregenten Aleksander Karadjevic´ geplant zu haben. Er sowie weitere acht Offiziere wurden 1917 wegen Hochverrats zum Tode verurteilt.

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Friedensstörer dastehen und einen großen Krieg unter den ungünstigsten Umständen entfachen.“11 Tisza lehnte einen überfallartigen Angriff auf Serbien ab und wollte ein rechtsstaatliches Vorgehen. Er trat daher für ein Abwarten der Untersuchungsergebnisse zu dem Attentat ein.12 In der Ministerratssitzung am 2. Juli 1914 konnte keine Einigung mit Tisza erzielt werden, doch war sich die Mehrheit bewusst, dass ein Vorgehen gegen Serbien ohne Abstimmung und Rückendeckung mit dem Deutschen Reich nicht machbar wäre. Für ein Vorgehen gegen Serbien suchte Österreich die Rückendeckung des Deutschen Kaiserreichs, da mit einem Eingreifen Russlands, das sich als Schutzmacht Serbiens verstand, gerechnet werden musste. Am 2. Juli 1914 fuhr der Legationsrat Alexander Hoyos, Kabinettschef und engster Berater des österreichischen Außenmisters Leopold Graf Berchtold, als Gesandter nach Berlin, um zu eruieren, ob es eine deutsche Rückendeckung für ein militärisches Vorgehen gegen Serbien gäbe. Daraufhin stellte Kaiser Wilhelm II. den berühmten „Blankoscheck“13 aus, den Reichskanzler Bethmann Hollweg am 6. Juli ausdrücklich bestätigte.14 In einem Telegramm sicherte er Österreich-Ungarn bei einem Vorgehen gegen Serbien die volle und bedingungslose Unterstützung des Reiches zu. Am 7. Juli tagte der Ministerrat in Wien unter Vorsitz des Grafen Berchtold, um das weitere Vorgehen gegen Serbien nach der erfolgreichen Hoyos-Mission zu erörtern. Der Vorsitzende eröffnete die Sitzung mit den Worten, dass man sich jetzt klar 11 Die Österreich-Ungarischen Dokumente zum Kriegsausbruch, I, 2. Vortrag des ungarischen Ministerpräsidenten Grafen Tisza, 1. Juli 1914. 12 Vgl. Imanuel Geiss (Hrsg.), Julikrise und Kriegsausbruch 1914. Eine Dokumentensammlung, Bd. I, Hannover 1963, S. 56. 13 Graf Ladislaus von Szögyény-Marich, der österreichisch-ungarische Botschafter in Berlin, übergab Kaiser Wilhelm II. zwei Schriftstücke von Kaiser Franz Josef, die ihm Graf Hoyos überbracht hatte. In der anschließenden Unterredung versicherte Wilhelm II., dass er eine sehr ernste Aktion unsererseits gegenüber Serbien erwartet habe, doch könne er wegen der möglichen europäischen Komplikation eine definitive Antwort erst nach einer Beratung mit dem Reichskanzler erteilen. In jedem Falle könne Österreich-Ungarn „auf die volle Unterstützung Deutschlands rechnen“. Er müsse zwar noch – wie gesagt – die Meinung des Reichskanzlers anhören, doch zweifle er nicht im Geringsten daran, dass Herr von Bethmann Hollweg vollkommen seiner Meinung zustimmen werde. „Insbesondere gelte dies betreffend eine Aktion unsererseits gegenüber Serbien. Nach seiner (Kaiser Wilhelms) Meinung muss aber mit dieser Aktion nicht zugewartet werden (…), und sollte es sogar zu einem Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Rußland kommen, so könnten wir davon überzeugt sein, daß Deutschland in gewohnter Bundestreue an unserer Seite stehen werde“, Die Österreich-Ungarischen Dokumente zum Kriegsausbruch. I, 6. Graf Szögyény an Grafen Berchtold, 5. Juli 1914. Auch: I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914, Band I, S. 83 f. 14 Einen Tag später fand eine Unterredung mit Reichskanzler Bethmann Hollweg statt. Darin betonte der Reichskanzler, wie auch immer unsere Entscheidung ausfallen möge, wir könnten mit Sicherheit darauf rechnen, dass Deutschland als Bundesgenosse und Freund der Monarchie hinter ihr stehe. Der Reichskanzler habe ebenso wie der Kaiser „ein sofortiges Einschreiten unsererseits gegen Serbien als radikalste und beste Lösung unserer Schwierigkeiten am Balkan“ angesehen. „Vom internationalen Standpunkt hält er den jetzigen Augenblick für günstiger als einen späteren (…)“. Die Österreich-Ungarischen Dokumente zum Kriegsausbruch I, 7. Graf Szögyény an Grafen Berchtold, 6. Juli 1914. Auch: I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914, Band I, S. 92 f.

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werden sollte, „ob der Moment nicht gekommen sei, um Serbien durch eine Kraftäußerung für immer unschädlich zu machen (…). Die Besprechungen in Berlin hatten zu einem sehr befriedigenden Resultat geführt, in dem sowohl Kaiser Wilhelm als Herr von Bethmann Hollweg uns für den Fall einer kriegerischen Komplikation mit Serbien die unbedingte Unterstützung Deutschlands mit allem Nachdrucke zugesichert hatten (…). Er sei sich klar darüber, daß ein Waffengang mit Serbien den Krieg mit Rußland zur Folge haben könnte“. Der ungarische Ministerpräsident Tisza widersprach: „Er würde aber einem überraschenden Angriff auf Serbien ohne vorhergehende diplomatische Aktionen, wie dies beabsichtigt zu sein scheine, und bedauerlicherweise auch in Berlin durch den Grafen Hoyos besprochen wurde, niemals zustimmen, weil wir in diesem Falle, seiner Ansicht nach, in den Augen Europas einen sehr schlechten Stand hätten (…).“ Es sei nicht Sache Deutschlands, zu beurteilen, ob wir jetzt gegen Serbien losschlagen sollten oder nicht. „Wir müßten unbedingt Forderungen gegen Serbien formulieren und erst ein Ultimatum stellen.“ Graf Berchtold entgegnete: „Er stimme mit dem königlich ungarischen Ministerpräsidenten zwar darin überein, daß wir und nicht die deutsche Regierung beurteilen müssten, ob ein Krieg notwendig sei oder nicht.“ Er müsse aber doch bemerken, dss es auf unsere Entschließung einen sehr großen Einfluss ausüben sollte, dass uns „rückhaltlose Bündnistreue zugesagt und überdies nahegelegt werde, sofort zu handeln (…). Graf Tisza sollte diesem Umstand doch Bedeutung beimessen und in Erwägung ziehen, daß wir durch eine Politik des Zauderns und der Schwäche Gefahr laufen, dieser rückhaltlosen Unterstützung des Deutschen Reiches zu einem späteren Zeitpunkte nicht mehr so sicher zu sein (…). Wie der Konflikt begonnen werden solle, sei eine Detailfrage, und wenn die ungarische Regierung der Ansicht sei, daß ein überraschender Angriff (…) nicht gangbar sei, so müsse man eben einen anderen Weg finden“. Die Anwesenden einigten sich darauf, Serbien zunächst ein Ultimatum zu stellen. Zugleich wurde auch betont: „Wenn da der Weg einer vorhergehenden Aktion gegen Serbien aus internationalen Gründen betreten werde, so müßte dies mit der festen Absicht geschehen, daß diese Aktion nur mit einem Krieg enden dürfe.“ Alle Anwesenden mit Ausnahme des ungarischen Ministerpräsidenten waren der Ansicht, „daß ein rein diplomatischer Erfolg, wenn er auch mit einer eklatanten Demütigung Serbiens enden würde, wertlos wäre, und daß daher solche weitgehenden Forderungen an Serbien gestellt werden müßten, die eine Ablehnung voraussehen ließen, damit eine radikale Lösung im Wege militärischen Eingreifens angewandt würde“. Graf Tisza machte einen Kompromissvorschlag: Die an Serbien zu richtenden Forderungen sollten sehr hart sein, doch nicht solcher Art, „daß man unsere Absicht, unannehmbare Forderungen zu stellen, klar erkennen könne“.15 15 Ebd., I, 8. Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten, 7. Juli 1914. Am 8. Juli 1914 richtete Graf Berchtold ein Schreiben an den Grafen Tisza, mit dem noch einmal sein Standpunkt bekräftigt werden sollte, dass das Deutsche Reich eine Aktion gegen Serbien wünsche: „Tschirschky (der deutsche Botschafter in Österreich, B. S.), habe ihm soeben mitgeteilt, ein Telegramm aus Berlin erhalten zu haben, wonach sein kaiserlicher Herr ihn beauftragt, hier mit allem Nachdruck zu erklären, daß man in Berlin eine Aktion der Monarchie gegen Serbien erwarte, und daß es in Deutschland nicht verstanden würde, wenn wir die gegebene Gele-

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Seit dem 14. Juli beschäftigte sich die Regierung in Wien intensiv mit der Ausarbeitung eines konkreten Ultimatums an Serbien. Das Ultimatum ist dann in einer Sitzung am 19. Juli 1914 vom österreichischen Ministerrat verabschiedet worden. Der Inhalt war bewusst in einer sehr harten und kränkenden Weise verfasst worden, in dem Bewusstsein, dass deren Annahme so gut wie ausgeschlossen ist. Der Inhalt bestand aus zehn Punkten. Am bedeutendsten erwies sich der sechste Punkt, in dem die serbische Regierung eine Untersuchung über das Attentat von Sarajevo, die Attentäter sowie deren Hintermänner einzuleiten habe, bei deren Aufklärung österreichisch-ungarische Beamte auf dem Territorium Serbiens zugelassen werden mussten. Die Antwort hatte binnen 48 Stunden zu erfolgen. Sollte innerhalb dieser Frist keine oder nur eine unzureichende Antwort eingehen, sollten sofort alle diplomatischen Beziehungen zu Belgrad abgebrochen werden. Eine explizite Kriegsandrohung wurde nicht ausgesprochen, war aber der unausgesprochene nächste Schritt. Vom 20. bis 23. Juli besuchten Frankreichs Staatspräsident Raymond Poincaré und Ministerpräsident René Viviani die russische Hauptstadt Petersburg. Dort bekräftigten sie gegenüber der russischen Regierung die französische Bündnistreue gemäß dem französisch-russischen Vertrag von 1894. Am 23. Juli wurde das Ultimatum an Serbien übergeben. Der 23. Juli wurde deshalb gewählt, um die Abreise von Poincaré und Viviani abzuwarten, damit die Russen und Franzosen nicht in der Lage seien, sofort gemeinsame Gegenbeschlüsse zu fassen. Das Ultimatum wurde von den Mächten der Triple Entente als Angriff auf die Souveränität Serbiens angesehen. Der britische Außenminister Edward Grey erklärte, das Ultimatum überträfe alles, was er bisher in dieser Art jemals gesehen habe. In einem Gespräch am 24. Juli mit dem deutschen Botschafter in London, Karl Max von Lichnowsky, beurteilte Grey die Aussicht auf eine Lokalisierung des Konfliktes zwischen Österreich und Serbien äußerst pessimistisch. Er sah bereits das Eingreifen Russlands voraus. Er bezweifelte sehr, dass es der russischen Regierung möglich sein werde, der serbischen Regierung die bedingungslose Annahme der österreichischen Forderungen zu empfehlen. „Ein Staat, der so etwas annehme, hörte doch eigentlich auf, als selbstständiger Staat zu zählen.“16 Er regte an, dass Deutschland und England sich in Wien zusammen für eine Verlängerung der Frist einsetzen sollten. Außerdem schlug er vor, dass die vier nicht unmittelbar beteiligten Mächte, England, Deutschland, Frankreich und Italien, die Vermittlung übernehmen sollten, falls es zu gefährlichen Spannungen zwischen Österreich-Ungarn und Russland kommen sollte.17 Lichnowsky riet, den „Vorschlag Sir E. Greys betreffend Fristverlängerung nicht abzuweisen, da uns sonst Vorwurf hier treffen wird, nicht alles zur Erhaltung (des) Friedens unversucht gelassen zu haben“. Kurz darauf folgte sein Rat, auf Greys genheit vorübergehen ließen, ohne einen Anschlag zu führen.“ Ebd., I, 10. Schreiben des Grafen Berchtold an den Grafen Tisza, 8. Juli 1914. 16 Zit. nach: Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1961 und 2013, S. 66. 17 Vgl. ebd., S. 66 f.

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Vorschlag „der Vermittlungen zu vieren“ einzugehen, denn es sei „die einzige Möglichkeit, einen Weltkrieg zu vermeiden, bei dem für uns alles auf dem Spiele steht und nichts zu gewinnen ist“.18 Staatssekretär Gottlieb von Jagow gab aber diesen Vorschlag so spät nach Wien weiter, dass er erst nach Ablauf des Ultimatums eintreffen konnte.19 Auch Belgrad versuchte, eine Fristverlängerung zu erreichen. Der serbische Prinz-Regent wandte sich in einem Telegramm an den italienischen König, in der Hoffnung, dass dieser „auf Wien zwecks Verlängerung der im Ultimatum festgesetzten Frist und Milderung der gestellten Forderung“ einwirken möge.20 Russland und Frankreich schätzten die Lage nach der Übergabe des Ultimatums als sehr ernst ein und forderten von England, von einer Politik der Neutralität abzurücken. Der russische Außenminister Sasonow reagierte betroffen: „Ich weiß, was das ist. Sie wollen Serbien den Krieg machen!“21 Am 24. und 25. Juli tagte der russische Ministerrat in Sankt Petersburg, um die neue Situation zu erörtern. Sasonow gab eine Einschätzung der Lage: Deutschland betreibe schon seit Langem systematische Vorbereitungen, um seine Macht in Mitteleuropa zu vergrößern. Russland habe in den letzten zehn Jahren stets mit Mäßigung und Nachsicht reagiert, doch „diese Zugeständnisse hätten die Deutschen lediglich ,angespornt‘, ,aggressive Methoden‘ anzuwenden. Nunmehr sei die Zeit gekommen, standhaft zu bleiben. Das österreichische Ultimatum sei ,mit dem deutschen, stillschweigenden Einverständnis‘ verfasst worden; die Annahme durch Belgrad würde Serbien de facto zu einem Protektorat der Mittelmächte degradieren“.22 Er empfahl, diesmal eine feste Haltung zu zeigen und keine weiteren Zugeständnisse zu machen. Festigkeit werde mit einer größeren Wahrscheinlichkeit den Frieden sichern.23 Es wurde eine Teilmobilmachung als vorbeugende Maßnahme beschlossen. Dies wurde als eine Maßnahme unterhalb der Schwelle einer Generalmobilmachung angesehen, die sich allein gegen Österreich-Ungarn richten sollte. Das Deutsche Reich sollte nicht brüskiert werden, obwohl dieses als der eigentliche Urheber der Krise angesehen wurde. Sasonow war sich darüber im Klaren, dass eine harte Haltung das Risiko eines Krieges gegen Österreich und Deutschland in sich berge, eine Aussicht, die umso bedrohlicher sei, als man noch nicht sagen könne, welche Haltung Großbritannien einnehmen werde. Landwirtschaftsminister Alexander Kriwoschein warnte dann auch, es sei fraglich, ob die russischen Streitkräfte jeweils im Stande wären, mit denen Deutschlands und Österreich-Ungarns hinsichtlich der technischen Effizienz zu konkurrieren. Aber auch er vertrat den Standpunkt, dass unter diesen Umständen eine feste Haltung die „beste Politik“ sei.24 Nach Christopher Clark haben Sasonow und seine Kollegen die Krise mit den von ihnen veranlassten Maßnahmen verschärft und die Wahrschein18

Zit. nach: A. Mombauer, Die Julikrise, S. 67. Vgl. F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 67. 20 Zit. nach: A. Mombauer, Die Julikrise, S. 67. 21 Zit. nach: Ch. Clark, Die Schlafwandler, S. 604. 22 Ebd. 23 Vgl. ebd., S. 608. 24 Vgl. ebd., S. 607. 19

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lichkeit eines allgemeinen europäischen Krieges drastisch erhöht. Sasonow habe niemals anerkannt, dass Österreich-Ungarn angesichts des serbischen Irredentismus ein Recht auf Abwehrmaßnahmen habe. Er habe den Österreichern das Recht abgesprochen, nach den Attentaten in irgendeiner Form gegen Serbien aktiv zu werden.25 Die Vorbereitungen zu einer Mobilmachung haben die Hoffnung zunichte gemacht, dass Belgrad noch in letzter Minute einlenken würde. Die Russen hätten bereits den Kriegspfad betreten.26 Sicherlich hat die Teilmobilmachung die Lage weiter verschärft. Aber Clark vertauscht hier Ursache und Wirkung. Die Teilmobilmachung selber war nicht Ursache einer Verschärfung der europäischen Krise, sondern Folge eines Ultimatums, das ganz bewusst so formuliert wurde, dass es für die Gegenseite nicht annehmbar war. Die Teilmobilmachung war eine vorbeugende Maßnahme und ein Warnsignal gegenüber Österreich-Ungarn, nicht militärisch gegen Serbien vorzugehen. Damit war klar, dass jeder weitere Schritt zu einer Eskalation mit fatalen Folgen führen könnte. Natürlich kann man die Frage stellen, ob diese Maßnahme geeignet war, um Österreich-Ungarn von einem Krieg gegen Serbien abzuhalten, doch stellt Clark die Realität auf den Kopf, wenn er schreibt, dass die von Russland und Frankreich betriebene Politik der „Standhaftigkeit“ nur „die Aggressivität der russischen und französischen Politik verschleiern“ sollte.27 Zweifelsohne war das zaristische Russland keine „Friedensmacht“, sondern hat wie die anderen am Ersten Weltkrieg beteiligten Mächte eine imperialistische Politik um Einflusssphären betrieben. Aber 1914 wollte Russland keinen Krieg mit ÖsterreichUngarn und Deutschland riskieren, weil es davon ausging, dass die russischen Streitkräfte denen Deutschlands und Österreich-Ungarns unterlegen seien. Außerdem fürchtete die zaristische Führung die starke sozialistische Opposition im Lande. Nach dem verlorenen russisch-japanischen Krieg war es zur Revolution 1905 gekommen, und die zaristische Führung befürchtete, dass es infolge eines Weltkrieges in Russland zu einer sozialen Revolution kommen könnte. 1914 hat Russland weder Österreich-Ungarn noch Deutschland bedroht.28 Es war umgekehrt: ÖsterreichUngarn war die treibende Kraft in diesem Konflikt, das mit Rückendeckung des Deutschen Reiches die kriegerische Auseinandersetzung mit Serbien gesucht hat, auch auf die Gefahr hin, dass sich daraus ein europäischer Krieg entwickeln könnte. Russland hat nicht generell Österreich-Ungarn das Recht abgesprochen, auf die Attentate zu reagieren, sondern sich gegen einzelne unakzeptable Punkte des Ultimatums gewendet und Österreich-Ungarn das Recht abgesprochen, mit kriegerischen Mitteln gegen Serbien vorzugehen. Es hat wiederholt Vorschläge gemacht, wie 25

Vgl. ebd., S. 615 f. Ebd., S. 622. 27 Vgl. ebd., S. 623. 28 „Konkrete Absichten, einen Angriffskrieg gegen Deutschland zu führen“, so auch Heinrich August Winkler, „lagen im Sommer 1914 bei keiner Großmacht vor. Dem am Ende ausschlaggebenden Faktor in Deutschland, der militärischen Führung, ging es nicht nur um die Sicherung des Erreichten, sondern um mehr: Die Vorherrschaft in Europa“. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806 – 1933, Bonn 2002, S. 333. 26

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der Konflikt auf dem Wege der Diplomatie gelöst werden kann. So hat der Ministerrat neben der Teilmobilmachung Serbien in einem Memorandum die Zusage erteilt, dass sich Russland bei den europäischen Großmächten für einen Aufschub des Ultimatums einsetzen werde, um ihnen die Gelegenheit für eine eingehende Untersuchung des Attentats von Sarajevo zu bieten. Noch am 26. Juli hat Sasonow gegenüber dem französischen Botschafter erklärt: „Bis zum letzten Augenblick werde er sich bereit zeigen zu verhandeln“, und gegenüber dem österreichischen Botschafter erklärte er kurz darauf: „Nehmen Sie Ihr Ultimatum zurück, ändern Sie die Form, und ich garantiere Ihnen, wir werden zu einem Ergebnis kommen.“29 Am 24. Juli gab Russland Belgrad den Rat, die Antwort an Wien so gemäßigt wie möglich zu formulieren30, und noch am 29. Juli machte der Zar den Vorschlag, den österreichischserbischen Streitfall vor dem Haager Schiedsgerichtshof zu bringen.31 Sasonow hat sogar die Serben gedrängt, „den Österreichern nicht an der Grenze Widerstand zu leisten, sondern die Streitkräfte ins Landesinnere zurückzuziehen, vor der internationalen Gemeinschaft zu protestieren, dass Truppen in ihr Land einmarschiert wären, und an die Mächte zu appellieren, die Aktion zu verurteilen“.32 Russland war um eine Verhandlungslösung bemüht. Um den Frieden zu erhalten, wäre es dennoch besser gewesen – so kann man im Nachhinein sagen –, Petersburg hätte Belgrad den Rat gegeben, das Ultimatum im Ganzen zu akzeptieren. Belgrad hätte diesen Rat befolgt, denn auf sich allein gestellt wäre Serbien im Sommer 1914 nicht in der Lage gewesen, einen Krieg gegen Österreich-Ungarn zu führen. Hätte Serbien alle Bedingungen akzeptiert, hätte Österreich-Ungarn einen großen diplomatischen Erfolg erzielt, aber sein eigentliches Ziel – einen Vorwand für die Herbeiführung eines Krieges – verfehlt. Am 25. Juli traf fristgerecht die Antwort Serbiens ein. Der serbische Ministerpräsident Nikola Pasˇic´ übergab fünf Minuten vor Ablauf der gesetzten Frist um 17.55 Uhr die Note mit den Worten: „Einen Teil ihrer Forderungen haben wir angenommen (…) für den Rest hoffen wir auf die Loyalität und Ritterlichkeit des österreichischen Generals.“33 Von den Entente-Mächten wurde die Note als weit-

29 Zit. nach: Ch. Clark, Die Schlafwandler, S. 618 f. Im Interesse der Erhaltung des Friedens machte Sasonow am 26. Juli den Vorschlag, „dass der österreichisch-ungarische Botschafter bevollmächtigt werde, mit mir in einen privaten Gedankenaustausch einzutreten zwecks gemeinsamer Umarbeitung einiger Artikel der österreichischen Note vom 23. Juli. Auf diese Weise werde es vielleicht gelingen, eine Formel zu finden, die für Serbien annehmbar sei und zugleich die Befriedigung der Forderungen Österreichs im Prinzip ergeben würde“. Sasonow an Schebeko v. 26. Juli 1914. In: I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914, Band II, S. 56. 30 Vgl. A. Mombauer, Die Julikrise, S. 63. 31 Zit. nach: Eberhard von Vietsch, Bethmann Hollweg. Staatsmann zwischen Macht und Ethos, Boppard am Rhein 1969, S. 192. 32 Ch. Clark, Die Schlafwandler, S. 638. 33 Zit. nach: ebd., S. 599.

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gehendes Entgegenkommen gewertet.34 Grey meinte in einer Unterredung mit Lichnowsky am 27. Juli, Belgrad sei Wien weit mehr entgegengekommen, „als man hätte erwarten können“. Dieses Entgegenkommen war seiner Meinung nach auf den beschwichtigenden Einfluss Russlands zurückzuführen.35 Serbien akzeptierte den Großteil der Forderungen bedingungslos, der Punkt betreffend die Ermittlungen österreichischer Beamter auf serbischem Hoheitsgebiet wurde aber abgelehnt. Dieser Eingriff in die staatliche Souveränität sei für Serbien nicht akzeptabel. Die königliche Regierung Serbiens werde selbstverständlich „gegen alle jene Personen eine Untersuchung einleiten, die an dem Komplotte vom 15./28. Juni beteiligt waren oder beteiligt gewesen sein sollen“ und werde den „österreich-ungarischen Organen in einzelnen Fällen Mitteilung von den Ergebnissen der Untersuchung“ machen.36 Außerdem verpflichtete sich die königlich serbische Regierung, antiösterreichische Propaganda aus den Bildungsmaterialien zu beseitigen, Offiziere und Beamte zu entlassen, „die sich Handlungen gegen die territoriale Integrität der Monarchie haben zuschulden kommen lassen“. Zum Schluss versicherte die Regierung, dass es wichtig sei, „die Lösung dieser Angelegenheit nicht zu überstürzen“. Sollte die österreichungarische Regierung die serbische Antwort als unbefriedigend empfinden, so ist Belgrad „wie immer bereit, eine friedliche Lösung anzunehmen, sei es durch Übertragung dieser Frage an das Internationale Gericht in Den Haag, sei es durch

34 Im Gegensatz zu den meisten Historikern sieht Christopher Clark in der Antwort Serbiens kein weitreichendes Entgegenkommen, sondern „eine hübsch verpackte Ablehnung der meisten Forderungen“. „Die häufig zu hörende Behauptung, diese Antwort sei einer fast vollständigen Kapitulation vor den österreichischen Forderungen gleichgekommen, ist von Grund auf falsch. Es handelt sich hier um ein Dokument, das für Serbiens Freunde geschrieben wurde, nicht für seine Gegner. Es bietet den Österreichern erstaunlich wenig. Vor allen Dingen schiebt es Wien den schwarzen Peter zu, die Ermittlungen zum serbischen Hintergrund der Verschwörung voranzutreiben, ohne umgekehrt jene Form der Zusammenarbeit zu bewilligen, die eine effektive Verfolgung der relevanten Spuren ermöglicht hätte. So gesehen, entspricht sie einer Fortsetzung der Linie, welche die serbischen Behörden seit dem 28. Juli verfolgt hatten: Jedwede Beteiligung grundweg abstreiten und jeden Schritt vermeiden, der als Eingeständnis einer Beteiligung gewertet werde könnte.“ Ch. Clark, Die Schlafwandler, S. 598 und 597. 35 Zit. nach: A. Mombauer, Die Julikrise, S. 74. 36 In dem Ultimatum an Serbien hatte auch eine Forderung gelautet, „Major Voya Tankosic´ unverzüglich festzunehmen“. Unmittelbar nach Erhalt des Ultimatums erhielt Kriegsminister Dusˇan Stefanovic´ am 23. Juli den Befehl, Major Tankosic´ festzunehmen. In der serbischen Antwort auf das Ultimatum hieß es, dass Major Tankosic´ am 23. Juli festgenommen wurde und die Ergebnisse der in Sarajevo durchgeführten Untersuchung „für weitere Verfahren“ eingeholt wurden. In Sympathiekundgebungen forderten Anhänger von Tankosic´ dessen Freilassung. Als Österreich in Serbien einfiel, beschloss der Ministerrat am 26. Juli, Tankosic´ freizulassen. Am 28. Juli begann die Bombardierung Belgrads. Tankosic´ wurde Kommandeur der Freiwilligenabteilung in Belgrad. Die ersten Angriffe wurden von Chetniks (Freiwilligen) aus Tankosic´s Abteilung abgewehrt. Während des Ersten Weltkrieges wurde er als Führer einer Abteilung Freiwilliger schwer verletzt. Er starb am 2. November 1915 im Alter von 35 Jahren. https://military.wikia.org/wiki/Vojislav_Tankosi%C4%87 (aufgerufen 20. Januar 2021).

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Überlassung der Entscheidung an die Großmächte (…)“37. Das weitreichende Entgegenkommen vonseiten Serbiens kam für Wien unerwartet. Dennoch lehnte der österreichische Außenminister weitere Verhandlungen ab; Wien war an einer diplomatischen Lösung nicht interessiert. Über den österreichischen Botschafter in London ließ Außenminister Berchtold Sir Edward Grey mitteilen, „dass die österreichische Note kein förmliches Ultimatum gewesen sei, sondern ,eine befristete demarche‘, deren Ablauf ohne zufriedenstellendes Resultat den Abbruch der diplomatischen Beziehungen und den Beginn der notwendigen militärischen Vorbereitungen nach sich ziehen werde“. Aber selbst zu diesem Zeitpunkt sei ein Krieg noch nicht unvermeidlich, falls die serbische Regierung „unter dem Drucke unserer militärischen Vorkehrungen“ nachgeben werde.38 Als von russischer Seite offiziell um eine Verlängerung der Frist ersucht wurde, antwortete Berchtold, „dass die Frist unmöglich verlängert werden könne, fügte aber hinzu, dass Serbien selbst nach Ablauf der Frist einen Krieg verhindern könne, indem es Österreichs Forderungen nachkomme“.39 Als der russische Außenminister Sasonow von der österreichischen Antwort hörte, war er außer sich. Gegenüber dem österreichischen Botschafter erklärte er: „Sie setzen Europa in Brand. Sie übernehmen eine schwere Verantwortung.“ – „Sie sind diejenigen, die den Krieg wollen, und Sie haben alle Brücken abgebrochen.“ – „Man sieht jetzt, wie friedliebend Sie sind, wo Sie Europa in Brand setzen.“40 Dagegen setzte auf internationaler Ebene noch einmal eine rege Aktivität ein, den Konflikt auf diplomatischem Weg zu lösen. Derartige Bestrebungen waren durchaus nicht aussichtslos, ist es doch in der Vorkriegszeit den Großmächten mehrfach gelungen, einen großen Krieg auf dem Verhandlungsweg zu umgehen, so in den beiden Marokko-Krisen 1905/06 und 1911 und in den Balkan-Kriegen 1912/13. Der russische Außenminister schlug dem österreichischen Botschafter vor, die Könige von Italien und England als Vermittler einzusetzen. Gleichzeitig sicherte Russland Serbien Unterstützung zu. Am 25. Juli unternahm Grey einen weiteren Anlauf zur Vermittlung. Berlin solle sich in Wien dafür verwenden, dass es sich mit der serbischen Antwortnote zufriedengebe. Und am 26. Juli machte der britische Außenminister den Vermittlungsvorschlag, eine Botschafterkonferenz der vier nicht am Konflikt unmittelbar beteiligten Mächte in London zur Lösung des drohenden Konflikts abzuhalten. Wieder war es Lichnowsky, der dringend riet, den englischen Vorschlag anzunehmen. Nach einer Unterredung mit Unterstaatssekretär Nicolson und Greys Privatsekretär Tyrrell meldete er in einem Telegramm: „Beide Herren erblicken im Vorschlag Sir E. Greys, hier Konferenz zu vier abzuhalten, einzige Möglichkeit, allgemeinen Krieg zu vermeiden, und hoffen, dass Serbien eher geneigt 37

Zit. nach: Serbische Antwort auf das Ultimatum, https://www.nachrichten.at/storage/ med/download/263482_Serbische_Antwort_auf_das_Ultimatum.pdf (aufgerufen 4. Februar 2021). 38 Ch. Clark, Die Schlafwandler, S. 600. 39 Ebd. 40 Zit. nach: ebd., S. 605.

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sein würde, dem Druck der Mächte zu weichen und sich deren vereinten Willen zu fügen, als den Drohungen Österreichs. Unbedingte Voraussetzung sei aber für Gelingen der Konferenz und für Einhaltung (des) Friedens, daß alle militärischen Bewegungen unterblieben. Sei erst serbische Grenze überschritten, so wäre alles verloren, denn keine russische Regierung würde dies dulden können und zum Angriff gegen Österreich zu schreiten gezwungen zu sein (…) Die in Berlin erhoffte Lokalisierung des Konflikts sei vollkommen unmöglich und müsse aus der praktischen Politik ausscheiden. Gelänge uns beiden, S. r. M. dem Kaiser bzw. dessen Regierung und Vertretern im Verein mit Sir E. Grey, den europäischen Frieden zu retten, so seien die deutsch-englischen Beziehungen für immerwährende Zeiten auf eine sichere Grundlage gestellt. Gelänge dies nicht, so stehe alles in Frage.“ Das Telegramm endete mit dem dringenden Appell: „Ich möchte dringend davor warnen, an die Möglichkeit der Lokalisierung auch fernerhin zu glauben und die gehorsamste Bitte auszusprechen, unsere Haltung einzig und allein von der Notwendigkeit leiten zu lassen, dem deutschen Volk einen Kampf zu ersparen, bei dem es nichts zu gewinnen und alles zu verlieren hat.“41 Bethmann Hollweg wies den Vermittlungsvorschlag zurück: Der Konflikt gehe lediglich Österreich-Ungarn und Serbien etwas an.42 „An einer solchen Konferenz könnten wir uns nicht beteiligen, da wir Österreich in seinem Serbenhandel nicht vor ein europäisches Gericht ziehen können“, schrieb Bethmann Hollweg an Lichnowsky am 27. Juli 1914.43 Um österreichischen Empfindlichkeiten entgegenzukommen, wurde von britischer Seite vorgeschlagen, das Wort „Konferenz“ zu vermeiden und stattdessen nur von einem „Gedankenaustausch“ der Botschafter zu sprechen.44 Ferner richtete Grey am 27. Juli den dringenden Appell an Berlin, „auf die Wiener Regierung einzuwirken“, dass sie die serbische Antwortnote als befriedigend anerkenne, weil er nur dann seinerseits auf Petersburg mäßigend einwirken könne. Lichnowsky berichtete, in Großbritannien sei man der Auffassung: „Der Schlüssel der Lage liegt in Berlin.“ Falls man dort den Frieden ernstlich will, so könne man Österreich davon abhalten, „tollkühne Politik zu betreiben“45. Auch Russland signalisierte Kompromissbereitschaft. Der russische Außenminister Sergei Sasonow griff eine Anregung des deutschen Botschafters in Petersburg, Graf Friedrich Pourtalés, auf: Österreich mildere einige Punkte seines

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Der Botschafter in London an das Auswärtige Amt, 27. Juli 1914. Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch von 1914. Herausgegeben von der Deutschen Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin 1921 (online) Karl Max von Lichnowsky. http://wwi. lib.byu.edu/index.php/Nr._236._Der_Botschafter_in_London_an_das_Ausw%C3%A4rtige_ Amt,_27._Juli_1914 (aufgerufen 20. Februar 2021). https://wwi.lib.byu.edu/index.php/Nr._2 66._Der_Botschafter_in_London_an_das_Auswärtige_Amt,_27._Juli_1914 (aufgerufen 20. Januar 2021). 42 F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 69. 43 Bethmann Hollweg an Lichnowsky am 27. Juli 1914. In: I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914, Band II, S. 103. 44 Vgl. ebd., S. 168. 45 F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 69.

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Ultimatums und gäbe damit Serbien die Möglichkeit, die so revidierten Bedingungen anzunehmen.46 Alles hing in dieser Situation von der Haltung der deutschen Regierung ab. Hätte die deutsche Regierung gegenüber den österreichischen Verbündeten unmissverständlich erklärt, dass sie eine Politik der weiteren Eskalation nicht mittragen würde und Österreich zur Kompromissbereitschaft aufgefordert, hätte ein europäischer Krieg vermieden werden können. Die deutsche Regierung hat den erneuten Vorschlag aus London, eine Konferenz der vier nicht unmittelbar am Konflikt beteiligten Mächte abzuhalten, nicht schlichtweg abgelehnt. Bethmann Hollweg gab aber erst kurz vor Mitternacht das am Nachmittag des 27. Juli aus London eingetroffene Telegramm nach Wien weiter. Dem deutschen Botschafter in Wien, Tschirschky, begründete er seine Haltung wie folgt: „Nachdem wir bereits einen englischen Konferenzvorschlag abgelehnt haben, ist es uns unmöglich, auch diese englische Anregung a limine abzuweisen. Durch eine Ablehnung jeder Vermittlungsaktion würden wir von der ganzen Welt für die Konflagration verantwortlich gemacht und als die eigentlichen Treiber zum Kriege hingestellt werden. Das würde auch unsere eigene Stellung im Lande unmöglich machen, wo wir als die zum Krieg Gezwungenen dastehen müssen. Unsere Situation ist umso schwieriger, als Serbien scheinbar sehr weit nachgegeben hat.“ Damit hatte Bethmann Hollweg einen Eckpfeiler seiner Politik angesprochen: Nur ein angegriffenes Deutschland könne mit der Neutralität Englands rechnen und innenpolitisch die Sozialdemokratie für den Kriegsfall gewinnen. Weiter führte er in seinem Telegramm an Tschirschky dazu aus: Würde die kaiserliche Regierung weiterhin an ihrer bisherigen Zurückhaltung solcher Vorschläge festhalten, so würde das Odium, einen Weltkrieg verschuldet zu haben, schließlich auch in den Augen des deutschen Volkes auf sie zurückfallen. „Auf einer solchen Basis aber läßt sich ein erfolgreicher Krieg nach drei Fronten nicht einleiten und führen. Es ist eine gebieterische Notwendigkeit, daß die Verantwortung für das eventuelle Übergreifen des Konflikts auf die nicht unmittelbar Beteiligten unter allen Umständen Rußland trifft.“47 Zugleich erklärte Staatssekretär Jagow in einer Besprechung am Mittag dem österreich-ungarischen Botschafter Szögyény „in streng vertraulicher Form sehr entschieden“: „Die deutsche Regierung versichere auf das Bündigste, dass sie sich in keiner Weise mit den Vorschlägen identifiziere, sogar entschieden gegen deren Berücksichtigung sei und dieselbe nur um der englischen Bitte Rechnung zu tragen weitergebe. Sie gehe dabei von dem Gesichtspunkt aus, dass es von der größten Bedeutung sei, dass England im jetzigen Momente nicht 46

Vgl. I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914, Band II, S. 15. „Sasonow flehte den deutschen Botschafter förmlich an, ihm mit irgendeinem Vorschlag bei der Sicherung des Friedens durch eine vermittelnde Formel behilflich zu sein. Aus dem Handgelenk entwarf Pourtalés daraufhin eine vermittelnde Formel (…). Pourtalés musste allerdings betonen, dass er ohne Auftrag seiner Regierung spreche, eine Vorsichtsmaßnahme, die nur zu begründet war, da sich die deutsche Regierung der Vergleichsinitiative ihres Botschafters in Petersburg nicht anschloss.“ Ebd. 47 Telegramm Bethmann Hollwegs an Tschirschky vom 28. Juli 1914. In: F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 71 und 74.

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gemeinsame Sache mit Russland und Frankreich mache. Da müsse alles vermieden werden, dass der bisher gut funktionierende Draht zwischen Deutschland und England abgebrochen werde. Würde nun Deutschland Sir E. Grey glatt erklären, dass es seine Wünsche an Österreich-Ungarn, von denen England glaubt, dass sie durch Vermittlung Deutschlands eher Berücksichtigung bei uns finden, nicht weitergeben will, so würde eben dieser vorerwähnte unbedingt zu vermeidende Zustand eintreten (…). Zum Schlusse wiederholte mir Staatssekretär seine Stellungnahme und bat mich, um jedwedem Missverständnisse vorzubeugen, Eurer Exzellenz zu versichern, dass er auch in diesem eben angeführten Fall, dadurch, dass er als Vermittler aufgetreten sei, absolut nicht für eine Berücksichtigung des englischen Wunsches sei.“48 Staatssekretär Jagow gab demnach Wien deutlich zu verstehen, dass die kaiserliche Regierung, „um sich die Gunst Englands und die Aussicht auf die lebenswichtige Neutralität Englands nicht zu verscherzen, zum Schein die Rolle des Vermittlers zwischen London und Wien einnehmen müsse, ohne sich aber mit den britischen Vorschlägen selbst zu identifizieren“.49 Nach England ging aber folgendes Telegramm: „In dem von Sir Edward Grey gewünschten Sinne haben wir Vermittlungsaktionen in Wien sofort eingeleitet.“50 Ähnlich doppelzüngig verhielt sich der Kanzler auch gegenüber einer Initiative des Kaisers. Kaiser Wilhelm II. war am 27. Juli von seiner Nordseefahrt zurückgekehrt. Am nächsten Morgen wurde ihm die volle Antwortnote Belgrads vorgelegt. Er bezeichnete das Dokument als „brillante Leistung“: „Das ist mehr, als man erwarten konnte! Ein großer moralischer Erfolg für Wien; aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort (…).“ Noch am selben Morgen des 28. Juli schickte er einen Brief an Jagow. Die Antwort Serbiens, so hieß es da, habe „im Großen und Ganzen die Wünsche der Donaumonarchie erfüllt“ und „beinhaltete die Kapitulation demüthigster Art“. Damit „entfällt jeder Grund zum Kriege“. Doch sei den Serben nicht zu trauen; denn sie „sind Orientalen, daher verlogen“. Als „Faustpfand“ empfahl er Österreich-Ungarn, Belgrad und einen Teil des Landes zu besetzen, um notfalls die Versprechungen erzwingen zu können. „Die paar Reserven, die Serbien zu einzelnen Punkten macht, können meines Erachtens nach durch Verhandlungen wohl geklärt werden“, betonte der Kaiser. Er selber sei bereit, „den Frieden in Österreich zu vermitteln“.51 Nach Angaben von Kriegsminister Erich von Falkenhayn hielt der Kaiser im Laufe des Tages „wirre Reden, aus denen nur klar hervorgeht, dass er den Krieg jetzt nicht mehr will und entschlossen ist, um diesen Preis selbst Österreich sitzen zu lassen“.52 In den Augen des Auswärtigen Amtes und der Militärs war dies 48 Szögyény an Berchtold vom 27. Juli 1914. In: I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914, Band II, S. 93 ff. 49 I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914, Band II, S. 80. 50 Zit. nach: F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 72. 51 Wilhelm II. an Jagow vom 28. Juli 1914. In: I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914, Band II, S. 184 f. 52 Zit. nach: Holger Afflerbach, Falkenhayn. Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich. Zweite Auflage, München 1994, S. 154.

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der gefürchtete Moment, in dem der nervenschwache Monarch auch diesmal wieder – wie 1905 und 1911 – „umfallen“ werde, indem er im letzten Augenblick vor dem Krieg zurückschrecken würde. Dabei hatte der Kaiser noch am 6. Juli dem Industriellen Gustav Krupp bei einer Besprechung in Kiel versichert: „Diesmal falle ich nicht um.“53 Die Risiken schienen aber am 28. Juli sehr hoch zu sein. In Telegrammen meldete Lichnowsky aus London, Sir Edward Grey habe erklärt, dass „Serbien den österreichischen Forderungen in einem Umfang entgegengekommen sei, wie er es niemals für möglich gehalten habe“. Überdies warnte der britische Außenminister, dass ein Flächenbrand bevorstehe, falls Österreich sich nicht mäßige und seine Position abmildere. Diese Warnungen haben nach Ansicht von Christopher Clark den „Ausschlag für seine Interpretation der serbischen Antwort gegeben (…), die überhaupt nicht mit der Sichtweise des Kanzlers und des Auswärtigen Amtes übereinstimmte“.54 Bethmann Hollweg informierte die Österreicher jedoch nicht rechtzeitig über Kaiser Wilhelms Sichtweise, um sie davon abzuhalten, Serbien am 28. Juli den Krieg zu erklären. Kanzler Bethmann Hollweg hat Wilhelms Anweisung, in Wien einen „Halt in Belgrad“ zu empfehlen, mit Verzögerung und nicht in vollem Wortlaut nach Wien weitergeleitet. Die Passage, dass mit der Note Serbiens jeder Kriegsgrund entfallen sei, war darin nicht einmal enthalten. Bethmann Hollweg wies Tschirschky an, er möge den Eindruck vermeiden, „als wünschten wir Österreich zurückzuhalten“. Zugleich versicherte er dem Kaiser, er habe „die befohlene Demarche“ an Wien weitergeleitet.55 Diese traf am 29. Juli in Wien ein – zu spät, um den Gang der Dinge beeinflussen zu können. Noch während der laufenden Vermittlungsbemühungen hatte Österreich am 28. Juli Serbien den Krieg erklärt. Außenminister Berchthold hatte seinen Kaiser auf eine baldige Kriegserklärung gedrängt, denn es sei nicht ausgeschlossen, „dass die Tripleententemächte noch einen Versuch machen könnten, eine friedliche Beilegung des Konfliktes zu erreichen, wenn nicht durch die Kriegserklärung eine klare Situation geschaffen wird“.56 Auf Plakaten ließ Kaiser Franz Joseph I. noch am 28. Juli in allen Teilen Österreich-Ungarns sein Manifest „An meine Völker!“ publizieren, das die Aufnahme von Kriegshandlungen an Serbien ankündigte.57 Am nächsten Tag wurde Belgrad von Österreich beschossen. Bethmann Hollweg gelang es, in zwei Besprechungen mit Erich von Falkenhayn und Helmuth von Moltke am 29. Juli die von dem preußischen Kriegsminister verlangte Erklärung des drohenden Kriegszustandes aufzuschieben mit dem Hinweis, dass Deutschland abwarten müsse, bis Russland die Gesamtmobilmachung einleite. Es sollte alles vermieden werden, was 53

Zit. nach: Ch. Clark, Die Schlafwandler, S. 667. Ebd., S. 668. 55 Zit. nach: A. Mombauer, Die Julikrise, S. 81 f. 56 Berchthold an Franz-Josef vom 27. Juli 1914. In: I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914, Band II, S. 96. 57 Der Text dieser Erklärung wurde, abgesehen von zwei kleinen Änderungen durch den Kaiser, zeitgleich mit dem Ultimatum an Serbien formuliert, also noch bevor Serbien auf das Ultimatum geantwortet hat. 54

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nach einer deutschen Aggression aussah oder bei den anderen Großmächten den Verdacht aufkommen ließ, man bereite sich auf einen Krieg vor. Die Hoffnungen Berlins richteten sich vor allem auf die Frage, ob es gelingen könne, England neutral zu halten. Die Erklärung eines drohenden Kriegszustandes hätte diese Hoffnung zunichte gemacht oder zumindest sehr erschwert. In der Nacht vom 29. auf den 30. Juli versuchte der Reichskanzler in einer Unterredung mit dem britischen Botschafter Edward Goschen, England auf ein Neutralitätsabkommen festzulegen, indem er versprach: „Wir können dem englischen Kabinett – voraussätzlich dessen neutraler Haltung – versichern, daß wir selbst im Falle eines siegreichen Krieges keine territoriale Bereicherung auf Kosten Frankreichs anstreben.“ Das war eine Zusage, die er aber nicht auf die französischen Kolonien auszudehnen gewillt war. Außerdem erklärte der Reichskanzler, Deutschland werde die Neutralität der Niederlande so lange wahren, wie andere dies täten, und die Integrität – wenn auch nicht die Souveränität – Belgiens nach Beendigung des Krieges nicht antasten, „vorausgesetzt, daß Belgien nicht gegen uns Partei nimmt“.58 Auf dieser Basis erhoffte der Kanzler eine Zusicherung der britischen Neutralität. In London wurde aber der Bericht des Botschafters mit Entsetzen aufgenommen. Der britische Diplomat Sir Eyre Crowe, einer der führenden Experten für Deutschland im britischen Außenministerium, bemerkte, dass diese „erstaunlichen Vorschläge (…) ein schlechtes Licht auf den Staatsmann werfen, der sie macht“.59 Mit diesem Vorschlag hatte Bethmann Hollweg nicht nur preisgegeben, dass Deutschland vorhatte, im Kriegsfall Belgiens Neutralität zu verletzen, sondern auch, dass Deutschland zum Krieg „so gut wie entschlossen war“. Außerdem mutete er England der Treulosigkeit gegenüber seinen Bundesgenossen zu. Der britische Premierminister Herbert Asquith war der Meinung, dies sei ein „ziemlich schamloser Versuch vonseiten Deutschlands, unsere Neutralität zu kaufen“.60 Als diese Unterredung mit Goschen stattfand, war bereits eine Depesche Lichnowskys über seine letzte Aussprache mit Grey unterwegs. Lichnowsky berichtete, Grey habe mit großem Nachdruck noch einmal seinen Vorschlag der Vier-Mächte-Vermittlung vertreten und unterstrichen, dass England zwischen Österreich-Ungarn und Serbien sowie Russland mit Deutschlands Hilfe zu vermitteln bereit sei, dass aber in dem Augenblick, in dem Frankreich in den Krieg hineingezogen würde, England nicht abseitsstehen könne. Dem Kanzler war mit dieser unmissverständlichen Nachricht bewusst geworden, dass der bevorstehende Krieg von Deutschland aus gegen Frankreich, Russland und Großbritannien zu führen sein werde. Nachdem der Kanzler Kaiser Wilhelms Bemühungen am 28. Juli unterlaufen hatte, machte er sich am 30. Juli nun überraschend Greys Verhandlungsvorschläge zu eigen und versuchte im letzten Augenblick, den österreichischen Verbündeten zu einem Einlenken zu bewegen. Bethmann Hollweg teilte noch am 30. Juli dem Botschafter in Wien mit, dass, falls Österreich jede Vermittlung ablehne, England gegen Deutschland stehen werde. Als Österreich Widerstand gegen Ver58

Zit. nach: F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 77. Zit. nach: E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, S. 189. 60 Zit. nach: A. Mombauer, Die Julikrise, S. 88 f. 59

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handlungen mit Russland zeigte, tat der Kanzler endlich das, was er schon zu Beginn der Julikrise hätte machen sollen: In einem scharfen Erlass versuchte er, Österreich zu bremsen: „Wir sind zwar bereit, unsere Bündnispflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Wien leichtfertig und ohne Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen.“61 Mischte sich da ein Element Panik in die deutsche Diplomatie, wie dies Christopher Clark vermutet62, oder zog der Kanzler die „Notbremse“, wie Annika Mombauer schreibt63, weil er nun sah, dass seine Hoffnungen auf eine britische Neutralität jeder realen Grundlage entbehrte? Fest steht aber eines: Wenn Bethmann Hollweg tatsächlich einen großen Krieg hätte verhindern wollen, so hatte er dazu in der Vergangenheit reichlich Gelegenheit gehabt. In jedem Fall kam die Kehrtwende viel zu spät und war nicht konsequent genug, um noch den Kriegsausbruch verhindern zu können. „Die deutsche Regierung wurde jetzt selbst zum Gefangenen ihrer bisherigen Politik, in Wien auf beschleunigtes Handeln zu drängen. Der Zeitverlust war unwiederbringlich dahin.“64 In Wien löste dieser plötzliche Umschwung Bestürzung und große Befürchtungen aus, Wien war aber nicht bereit, seine Pläne noch einmal zu ändern, nachdem es Serbien am 28. Juli den Krieg erklärt hatte. Wie ist das Verhalten von Bethmann Hollweg einzuschätzen? Bethmann Hollweg hätte schon zu Beginn der Julikrise gegenüber Wien einen anderen Weg einschlagen können. Statt die Österreicher zu bremsen, hat er ihnen aber am 6. Juli ein sofortiges Einschreiten gegen Serbien „als radikalste und beste Lösung“ empfohlen. Am 12. Juli wusste das Auswärtige Amt endgültig, dass Österreich-Ungarn beabsichtigte, das Ultimatum an Serbien unannehmbar zu machen. Als das Ultimatum an Serbien in Wien beschlossen wurde, das ganz wesentlich zur Eskalation des Konfliktes beitrug, ist er den Bundesgenossen nicht in den Arm gefallen. Später haben die deutschen Staatsmänner behauptet, den „Wortlaut“ des österreichischen Ultimatums nicht gekannt zu haben. Dies ist oft angezweifelt worden, hat doch Staatssekretär Jagow am 23. Juli gegenüber dem österreichischen Botschafter Szögyény beteuert, dass die deutsche Regierung mit der Note an Belgrad „selbstverständlich ganz einverstanden“ sei.65 Doch selbst wenn die Behauptung stimmen sollte und Jagow sich nicht mit dem Kanzler abgestimmt hat, so hätte Bethmann Hollweg sich doch, nachdem Serbien den Forderungen des Ultimatums weit entgegengekommen war, für eine Fristverlängerung einsetzen können, um so mehr Zeit für eine diplomatische Lösung des Konfliktes zu haben. Er tat dies aber nicht. Stattdessen hat er den britischen Verhandlungsvorschlag, eine Botschafterkonferenz der vier nicht am Konflikt unmittelbar beteiligten Mächte abzuhalten, schlichtweg abgelehnt, obwohl Lischnowsky ihm dazu dringend geraten hatte. Er wolle Österreich nicht vor ein 61 Bethmann Hollweg an Tschirschky vom 30. Juli 1914. In: I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914, Bd. II, S. 290. 62 C. Clark, Die Schlafwandler, S. 671. 63 Vgl. A. Mombauer, Die Julikrise, S. 92. 64 I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914, Band II, S. 239. 65 Vgl. E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, S. 185.

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„europäisches Gericht“ ziehen. Er machte aber auch keine Alternativvorschläge. Die Übermittlung des britischen Verhandlungsvorschlages wurde verschleppt und zugleich betont, dass die deutsche Regierung sich nicht mit dem Vorschlag identifiziere. Auch die Anregung des Zaren vom 29. Juli, den österreichisch-serbischen Streitfall vor das Haager Schiedsgericht zu bringen, hat er abgelehnt.66 Bethmann Hollweg hat ferner Wien nicht rechtzeitig und energisch genug über Kaiser Wilhelms Sichtweise informiert, wonach mit der serbischen Antwort „jeder Grund zum Kriege“ entfallen sei, um so die Österreicher von der Kriegserklärung gegen Serbien abzuhalten. Welche Absicht stand dahinter? Bethmann Hollweg wollte den Krieg nicht verhindern, er wollte ihn begrenzen. Dies war aber eine fatale Illusion. Lischnowsky hat mehrmals eindringlich vor dieser Illusion gewarnt. Jean Baptiste Bienvenu-Martin, der René Viviani als französischen Premierminister während dessen Reise nach Sankt Petersburg vertrat, hat präzise den zentralen Punkt der ganzen Julikrise formuliert: „Das beste Mittel zur Vermeidung eines allgemeinen Krieges sei die Verhinderung eines lokalen.“67 Dafür hat Bethmann Hollweg sich aber nicht eingesetzt. Dass Bethmann Hollweg sich durchaus der Gefahr bewusst war, dass aus einem lokalisierten Krieg sehr schnell ein Weltkrieg werden könne, geht aus den Riezler-Tagebüchern hervor. „Eine Aktion gegen Serbien kann zum Weltkrieg führen“, hat laut Riezler Bethmann Hollweg am 7. Juli gesagt. Erst als absehbar war, dass England sich nicht aus dem Krieg heraushalten werde, machte Bethmann Hollweg eine Kehrtwende. Es war aber zu spät. Als er von der englischen Kriegserklärung hörte, soll er ausgerufen haben: „Nun gnade uns Gott!“68 Es ist bekannt, dass Bethmann Hollweg sich nach dem Kriege heftige Selbstvorwürfe gemacht hat. „Was an der Seele nagt, bleibt, daß man diese Weltkatastrophe nicht abzuwenden verstand.“69 Er habe sich oft gefragt, ob er nicht 1914 hätte anders handeln können: „Dieser Krieg wühlt in mir. Ich frage mich immer wieder, ob er sich hätte vermeiden lassen, was ich hätte anders machen können. Alle Völker haben schuld, auch Deutschland hat eine große Mitschuld.“70 Walther Rathenau hat Ende August 1917 Bethmann Hollweg gefragt: „Warum haben Sie die (österreichische) Kriegserklärung an Serbien nicht verboten nach diesem unverdienten Triumph des Habsburger Ultimatums“ – Bethmann Hollweg schwieg, er wusste keine Antwort. Hat Bethmann Hollweg die Berechtigung dieser Kritik still anerkannt? „Die Wahrscheinlichkeit, daß eine aktivere, wendigere und zupackendere deutsche Politik im Juli 1914 den Frieden hätte erhalten können, läßt sich nicht fortdisputieren (!).“71 Eberhard von Vietsch macht für das „Versagen“ des Kanzlers dessen „Naivität“ und „Passivität“ verantwortlich, ein „Kriegswille“ habe aber nicht dessen Handeln bestimmt. „Immer und gerade in den letzten Friedenstagen tritt hervor, daß Bethmann 66

Vgl. ebd., S. 192 und 196. Zit. nach: I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914, Band II, S. 168. 68 E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, S. 194. 69 Zit. nach: ebd., S. 195. 70 Zit. nach: ebd. 71 Ebd., S. 199. 67

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Hollweg keine aktiv-positiven Ziele verfolgte, daß er ,die Dinge‘ gewähren läßt, ja, daß ihn im Grund eine Art von seelischer Erstarrung befällt, wenn ihm aktives politisches Handeln auf der diplomatischen Bühne zugemutet wird.“72 Dem Kanzler seien die Zügel entglitten. Admiral Tirpitz hatte ja auch mit ätzendem Hohne das Verhalten Bethmann Hollwegs kurz vor Ausbruch des Krieges als das eines „Ertrinkenden“ geschildert.73 Zweifelsohne war das Verhalten von Bethmann Hollweg in den letzten Friedenstagen nicht frei von Widersprüchen und wirkte nicht sehr zielgerichtet. Dieses Verhalten – aber auch das von anderen Politikern der damaligen Zeit – veranlasste Christopher Clark dazu, von den „Schlafwandlern“ zu sprechen, die in den Krieg hineingeschlittert seien. Er berücksichtigt dabei aber nicht – oder zumindest nicht im genügenden Maße –, dass es neben der Diplomatie, neben Bethmann Hollweg, Kräfte gab, die sehr wohl wussten, was sie wollten, deren Handeln zielgerichtet war: Es waren dies große Teile des Militärs, die Alldeutschen mit ihren Gliederungen und die hinter den Alldeutschen stehende Schwerindustrie. Auch Sir Edward Grey hat in seinen Nachkriegserinnerungen Bethmann Hollweg als nicht unaufrichtig bezeichnet und darauf hingewiesen, dass „noch so viele Mächte neben ihm in Deutschland regierten“.74 Bethmann Hollweg selbst hielt die „alle Welt beherrschenden Machtideen“, in deren Banne auch Deutschland gestanden habe, für eine wesentliche Ursache der sich steigernden Kriegsatmosphäre von 1914. „Im Zusammenhang mit diesem Machtdenken sah er die Mächte des Nationalismus und Imperialismus am Werk (…).“75 Am 27. November 1918 hat Bethmann Hollweg in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ noch einmal Stellung zu dem Weltkrieg genommen. „Es sei zutreffend“, so führte er dabei aus, „daß man im Juli 1914 auch ,weitere kriegerische Komplikationen‘ in Kauf genommen habe, um das Bündnis mit Österreich-Ungarn, dem einzigen Helfer Deutschlands, zu retten. Auch sei sicherlich das Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien zu scharf gewesen. Aber niemals habe die deutsche Regierung geplant, einen Weltkrieg zu entfesseln.“76 Letztere Behauptung ist durchaus glaubwürdig. Bethmann Hollweg wollte eine Erweiterung des Konflikts zwischen Österreich-Ungarn und Serbien nach Möglichkeit vermeiden, er hat aber das Risiko eines Weltkrieges dabei durchaus in Kauf genommen. „Das deutsche Kalkül war schlicht unverantwortlich. Dennoch – von einem zielbewussten Steuern in Richtung auf einen europäischen Krieg oder gar einen Weltkrieg kann nicht die Rede sein. Dafür waren die Aktionen und Reaktionen der deutschen Politiker in dem (…) entscheidenden Stadium der Julikrise zu unentschlossen, zu widersprüchlich, ja teilweise regelrecht ,panisch‘“.77

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Ebd., S. 198. Ebd., S. 191. 74 Zit. nach: ebd., S. 200. 75 Vgl. ebd., S. 196. 76 Zit. nach: G. Krumeich, Die unbewältigte Niederlage, S. 158. 77 Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main 2013, S. 39. 73

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Am 30. Juli ordnete Zar Nikolaus II. die Generalmobilmachung der russischen Armee an.78 Sie war unmittelbare Folge der österreichischen Kriegserklärung an Serbien, aber auch ein Warnsignal an das Deutsche Reich, das für die Unnachgiebigkeit Österreichs verantwortlich gemacht wurde. In dieser Situation machte in den Augen der Russen eine Teilmobilmachung, die sich ausschließlich gegen Österreich richtet, keinen Sinn, wenn in Wirklichkeit Deutschland die treibende Kraft der österreichischen Politik war. Sasonow legte aber besonderen Wert darauf, gegenüber Berlin „das Fehlen irgendwelcher Angriffsabsichten Rußlands gegen Deutschland“ zu versichern.79 Das Deutsche Reich forderte Russland auf, die Mobilmachung seiner Armee innerhalb von zwölf Stunden zu stoppen. Zugleich verlangte die deutsche Regierung von Frankreich ultimativ, sich für neutral zu erklären. Da Russland das Ultimatum, die Mobilmachung rückgängig zu machen, verstreichen ließ, erklärte Deutschland dem Zarenreich am 1. August den Krieg. Damit war die Ausweitung des Konfliktes vorprogrammiert, denn Frankreich hatte zu erkennen gegeben, dass es seine Bündnispflicht gegenüber Russland erfüllen werde. Am 2. August erfuhr die deutsche Bevölkerung aus der Presse von ersten russischen Angriffen in Ostpreußen, nicht jedoch, dass die eigene Regierung Russland bereits am Tag zuvor den Krieg erklärt hatte. Ebenfalls am 2. August wurden Gerüchte über französische Grenzverletzungen wie Bombenabwürfe bei Nürnberg verbreitet, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt bereits als Falschmeldungen identifiziert worden waren80. In Deutschland 78 Diesem Beschluss ging eine längere Kontroverse voraus. Kaum war die erste Entscheidung zur Generalmobilmachung gefallen und vom Zaren akzeptiert, wurde sie wieder zugunsten einer Teilmobilmachung gegen Österreich abgeändert. Der Grund für diese Kehrtwende war, dass der Zar am 29. Juli gegen 21:20 Uhr ein Telegramm von Kaiser Wilhelm II. erhalten hatte, in dem dieser betonte, dass seine Regierung „eine direkte Verständigung“ zwischen Wien und St. Petersburg immer noch für möglich halte, und schloss mit den Worten: „Natürlich würden militärische Maßnahmen vonseiten Russlands, die Österreich als Drohung ansehen würde, ein Unheil beschleunigen, das wir beide zu vermeiden wünschen, und meine Stellung als Vermittler gefährden, die ich auf Deinen Appell und meine Freundschaft und meinen Beistand bereitwillig übernommen habe.“ Der eigentliche Grund für die Kehrtwende des Zaren war die Angst vor einem Krieg. Mit den Worten „Ich werde nicht die Verantwortung für ein monströses Blutbad übernehmen“, befahl er, den Befehl zur Generalmobilmachung zu widerrufen. Zit. nach: Ch. Clark, Die Schlafwandler, S. 654 f. Erst als Sasonow in einem 50 Minuten langen Gespräch dem Zaren erklärte, dass die Deutschen „alle unsere Vermittlungsvorschläge“ abgelehnt hätten, „die die Grenzen der Nachgiebigkeit weit überschritten, die man von einer in ihrer Kraft unerschütterten Großmacht erwarten konnte“, gab der Zar die endgültige Entscheidung: „Sie haben Recht. Uns bleibt nichts anderes zu tun übrig, als den Angriff abzuwarten. Übermitteln Sie dem Generalstabchef meinen Befehl zur Mobilmachung.“ Zit. nach: Ch. Clark, Die Schlafwandler, S. 650. 79 Zit. nach: Ch. Clark, Die Schlafwandler, S. 652. 80 Am 2. August wurde unter Berufung auf militärische Quellen in mehreren Extrablättern gemeldet, dass französische Flugzeuge in der Nähe von Nürnberg Bomben abgeworfen haben sollen. Obwohl sich diese Meldung als falsch herausgestellt hatte, erklärte Reichskanzler Bethmann Hollweg am 4. August unter anderem unter Verweis auf den vermeintlichen Angriff: „Meine Herren, wir sind jetzt in Notwehr; Not kennt kein Gebot.“ Zit. nach Florian Altenhöner, Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeiten in Berlin und London 1914/1918. Oldenbourg, München 2008, S. 173. Wilhelm II. vermerkte am

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war aber der Glaube weit verbreitet, sowohl von Russland als auch von Frankreich heimtückisch überfallen worden zu sein, während die deutsche Regierung angeblich unermüdlich um den Frieden bemüht sei. Eine entscheidende Frage war aber, wie Großbritannien sich in dem Konflikt verhalten werde. Dort hatten die Interventionsgegner im Kabinett vor dem Krieg lange Zeit eine Mehrheit. England solle sich nicht in einen europäischen Streit hineinziehen lassen, war eine verbreitete Mehrheitsmeinung. Eyre Crowe vertrat dagegen den Standpunkt, dass es in diesem Kampf nicht um den Besitz Serbiens gehe, sondern um das Ziel Deutschlands, seine politische Vorherrschaft in Europa zu errichten. In diesem Kampf seien die britischen Interessen mit denen Frankreichs und Russlands verknüpft.81 Ähnlich wie Crowe dachte auch Grey.82 Am 27. Juli erkundigte er sich, ob das Kabinett eine Intervention unterstützen würde, wenn Frankreich von Deutschland angegriffen werden sollte. Die Mehrheit war dagegen. Die Kehrtwende brachte erst die Frage der belgischen Neutralität. Alle relevanten politischen Richtungen waren sich einig, dass eine Verletzung der belgischen Neutralität nicht hinnehmbar sei. So wurde auf der Kabinettsitzung am 2. August beschlossen, dass eine „substanzielle Verletzung“ der belgischen Neutralität „uns zum Handeln zwingen würde“.83 2. August 1914 in Bezug auf den angeblichen Vorfall: „(…) durch ihre Bomben schmeißenden Flieger (haben) die Franzosen den Krieg und den Völkerrechtsbruch begonnen“. Zit. nach Imanuel Geiss (Hrsg.), Juli 1914. Die europäische Krise und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges. München 1986, S. 355. Zugleich gab es Gerüchte über Flugzeugangriffe auf Bahnen bei Wesel und Karlsruhe, die sich aber ebenfalls alle als falsch erwiesen. 81 Vgl. Ch. Clark, Die Schlafwandler, S. 635. 82 Nach Christopher Clark hat Grey „die russische Linie“ verfolgt: „Er unternahm keine Prüfung oder Abwägung der österreichischen Anklagen gegen Serbien“ und Großbritannien habe „die Legitimität eines russischen Angriffs gegen Österreich, um einen Streit zwischen Österreich und Serbien zu lösen“, akzeptiert. Ch. Clark, Die Schlafwandler, S. 636. Die Behauptungen sind beide falsch. Grey hat sehr wohl die österreichischen Anklagepunkte im Einzelnen geprüft und sich auch kritisch mit der Politik Serbiens auseinandergesetzt. Er kam aber – wie die meisten Politiker in der damaligen Zeit – zu dem Ergebnis, dass die österreichische Note in der Form nicht akzeptabel sei. Der britische Premierminister Herbert Henry Asquith nannte die österreichische Note an Serbien gar ein „schikanierendes und demütigendes Ultimatum“. Ebd., S. 627. Clark argumentiert so, als wenn Österreich-Ungarn um eine friedliche Verhandlungslösung bemüht gewesen sei und in dem Ultimatum eine Reihe berechtigter Forderungen aufgestellt habe. Clark ignoriert dabei völlig die Tatsache, dass Österreich-Ungarn von Anfang an den Krieg gegen Serbien gewollt hat, und dass das Ultimatum aus taktischen Gründen aufgestellt worden war, um vor der europäischen Öffentlichkeit nicht als Aggressor dazustehen. Wie in dieser Arbeit ausführlich dargestellt, war das Ultimatum nur ein Vorwand. So stellte der Ministerrat in Wien am 7. Juli fest: „Wenn da der Weg einer vorhergehenden Aktion gegen Serbien aus internationalen Gründen betreten werde, so müsste dies mit der festen Absicht geschehen, daß diese Aktion nur mit einem Krieg enden dürfte.“ Russland hat auch keinen Angriff gegen Österreich-Ungarn geplant oder in Erwägung gezogen, die Mobilmachungsmaßnahmen dienten lediglich dem Zweck, Österreich-Ungarn von einem Angriff auf Serbien abzuhalten. 83 Zit. nach: ebd., S. 694.

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Am 2. August stellte die Reichsregierung des Deutschen Kaiserreiches an die Regierung des Königsreichs Belgien ein Ultimatum, das den Durchzug deutscher Truppen durch belgische Lande forderte. Die belgische Antwort wurde binnen zwölf Stunden erwartet. Sollte Belgien dieses ablehnen, werde das Deutsche Reich das Nachbarland als Feind betrachten, die „Regelung des Verhältnisses beider Staaten zueinander müsste dann die Entscheidung der Waffen überlassen“ sein.84 Als Begründung wurde ausgeführt, dass der kaiserlichen Regierung „zuverlässige Nachrichten“ über den „beabsichtigten Aufmarsch“ französischer Streitkräfte auf belgischem Gebiet vorlägen.85 Die belgische Regierung war fassungslos, das als brutal empfundene Ultimatum wurde einstimmig abgelehnt. Am 3. August erklärte sie, sie werde sich jeder „Schändung der Neutralität“ widersetzen. Am gleichen Tag erklärte das Deutsche Kaiserreich Frankreich den Krieg, und in der Nacht vom 3. auf den 4. August rückten deutsche Truppen in Belgien ein, nachdem bereits in der Nacht vom 1. auf den 2. August Luxemburg von deutschen Truppen besetzt worden war. Der Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien war von Anfang an von Ausschreitungen begleitet, von Geiselnahmen und -erschießungen, Niederbrennen von Häusern und Deportationen. Die deutschen Truppen vermuteten – oft ohne konkreten Anlass – belgische Guerilla in den Ortschaften, brannten Häuser nieder und exekutierten Zivilisten86. Unter den Opfern waren auch Frauen und Kinder. Insgesamt wurden 6 000 Belgier getötet, 25 000 Gebäude zerstört, 1 500 000 Belgier flohen vor den deutschen Invasionstruppen. Als die deutschen Truppen völkerrechtswidrig die 84

Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914, Band II, 1921, S. 99. Ebd., S. 98. Bereits am 26. Juni übermittelte der Generalstabchef im Auswärtigen Amt den Entwurf einer Note an Belgien. Darin hieß es: „Der k[aiserlichen] Regierung liegen zuverlässige Nachrichten vor über den beabsichtigten Aufmarsch französischer Streitkräfte an der Maasstrecke Givet–Namur. Sie lassen keine Zweifel über die Absicht Frankreichs, durch belgisches Gebiet gegen Deutschland vorzugehen. Die k[aiserliche] Regierung kann sich der Besorgnis nicht erwehren, dass Belgien trotz besten Willens nicht imstande sein wird, ohne Hilfe einen französischen Vormarsch mit so großer Aussicht auf Erfolg abzuwehren, dass darin eine ausreichende Sicherheit gegen die Bedrohung Deutschlands gefunden werden kann. Es ist ein Gebot der Selbsterhaltung für Deutschland, dem feindlichen Angriff zuvorzukommen. Mit dem größten Bedauern würde es daher die deutsche Regierung erfüllen, wenn Belgien einen Akt der Feindseligkeit gegen sich darin erblicken würde, dass die Maßnahmen seiner Gegner Deutschland zwingen, zur Gegenwehr auch seinerseits belgisches Gebiet zu betreten.“ Jagow an Below vom 29. Juli 1914. In: I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914, S. 45. Aus dem Dokument geht deutlich hervor, dass die deutsche Regierung spätestens seit dem 26. Juli mit der Eventualität eines Krieges mit Russland und Frankreich gerechnet hat und sich nur noch Gedanken machte, wie der Krieg gegen Frankreich am besten zu eröffnen sei, „u. a. durch völlig aus der Luft gegriffene Behauptungen über die angeblich von Frankreich bedrohte Neutralität Belgiens“, I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914, Band II, S. 12. 86 Von zügelloser Gewaltbereitschaft berichtete beispielsweise die Regimentschronik des Hauptmanns Pfeffer von Salomon: „Der Kampf wurde mit besonderer Erbitterung geführt. Gefangene nicht gemacht.“ Als angenommen wurde, dass eine Einheit in der Nähe des belgischen Namur von Zivilisten beschossen wurde, soll er den Befehl gegeben haben, das Dorf niederzubrennen. Zit. nach: Mark A. Fraschka, Franz Pfeffer von Salomon, Hitlers vergessener Oberster SA-Führer, Göttingen 2016, S. 68. Franz Pfeffer von Salomon wurde am 1. November 1926 zum Obersten SA-Führer ernannt. 85

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Grenzen des neutralen Belgiens überschritten, stellte Großbritannien Deutschland ein Ultimatum; Deutschland solle bis Mitternacht eine Erklärung abgeben, die belgische Neutralität zu achten. Das Deutsche Reich ließ das Ultimatum verstreichen, am 4. August erklärte Großbritannien dem Deutschen Kaiserreich den Krieg.87 Der Kontinentalkrieg wurde zum Weltkrieg. Der Weltkrieg war keine Naturkatastrophe, er wäre vermeidbar gewesen. Die Ermordung des Erzherzogs musste nicht zwangsläufig einen Krieg mit Serbien und dessen Beschützer Russland nach sich ziehen. Wenn Österreich gewollt hätte, wäre der Konflikt mit Serbien friedlich, auf diplomatischem Wege zu lösen gewesen. Aber die österreichische Regierung ist auf keines der diversen Vermittlungsangebote eingegangen. Das Habsburgerreich wollte den Krieg und war sich darüber im Klaren, „daß ein Waffengang mit Serbien den Krieg mit Rußland zur Folge haben könnte“. Deshalb suchte die österreichische Regierung die Unterstützung des deutschen Verbündeten. Ohne die deutsche Unterstützung hätte Österreich-Ungarn keinen Krieg führen können. In dieser Situation hätte die deutsche Regierung eine kriegerische Auseinandersetzung verhindern können, indem sie die Unterstützung verweigert und den Bundesgenossen zur Mäßigung aufgefordert hätte. Stattdessen hat sie dem Verbündeten mit dem „Blankoscheck“ geradezu zu einem Krieg gegen Serbien ermuntert. Mit der Aktion dürfe nicht gewartet werden, meinte Kaiser Wilhelm II, und Reichskanzler Bethmann Hollweg hielt ein sofortiges Einschreiten für die „beste Lösung“. Der jetzige Augenblick sei günstiger als ein späterer. Die deutsche Führung nahm mit dem „Blankoscheck“ für Österreich bewusst das Risiko in Kauf, dass sich aus dem Konflikt zwischen Wien und Belgrad ein Weltkrieg entwickeln konnte.88 Der „Blankoscheck“ ermöglichte erst das österreichische Ul87 Die Kriegserklärung wurde in den nationalistischen Kreisen Deutschlands mit Empörung aufgenommen. Was mische sich Großbritannien in die kontinentalen Auseinandersetzungen ein! „Gott strafe England!“ Ein Gedicht des Dichters Ernst Lissauer wurde populär: Der „Haßgesang gegen England“. „Wir wollen nicht lassen von unserem Haß/Wir haben alle nur einen Haß – Wir lieben vereint, wir hassen vereint – Wir alle haben nur einen Feind: ENGLAND!“ Zit. nach: https://www.dw.com/de/gott-strafe-england/a-17589054 (aufgerufen 27. März 2021). 88 Dass Bethmann Hollweg tatsächlich mit der Möglichkeit eines Weltkrieges gerechnet hat, geht auch aus den Riezler-Tagebüchern hervor. „Eine Aktion gegen Serbien kann zum Weltkrieg führen“, hat laut Kurt Riezler Bethmann Hollweg am 7. Juli gesagt. Zit. nach: Karl Dietrich Erdmann, Die Tagebücher Riezlers sind echt, Die Zeit vom 8. Juli 1983. https://www. zeit.de/1983/28/die-tagebuecher-riezlers-sind-echt (aufgerufen 24. Februar 2021). Kurt Riezler war der persönliche Referent und Berater von Reichskanzler Bethmann Hollweg, der in den Tagebüchern die Gedanken seines Chefs niederschrieb. Er erwog, diese nach dem Ersten Weltkrieg zu veröffentlichen; aus Sorge, den Siegermächten neues Material gegen Deutschland zu liefern, tat er es dann aber doch nicht. Auch nach 1945 wurden die Riezler-Tagebücher auf Anraten des Historikers Hans Rothfels nicht veröffentlicht. Rothfels hielt es nicht für zweckmäßig, „Beweismittel für die Kriegswilligkeit Bethmann Hollwegs im Juli 1914 zu veröffentlichen“. Bevor Riezler 1955 verstarb, gab er die Tagebücher seinem Bruder weiter mit dem Auftrag, sie zu vernichten. Walter Riezler hat dem Wunsch des Bruders nicht entsprochen, soll aber – und dies ist die Unsicherheit in der Bewertung der Riezler-Tagebücher – einige Passagen verändert haben. Die Tagebücher wurden schließlich von Karl Dietrich Erd-

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timatum an Serbien, das die entscheidende Eskalation brachte. Aber auch nach der Generalmobilmachung der russischen Armee wäre eine friedliche Lösung noch möglich gewesen. Mit der russischen Mobilmachung vom 30. Juli 1914 war der Krieg keineswegs unausweichlich geworden. Sie bedeutete nicht notgedrungen den Kriegsentschluss, sondern hätte auch als Drohszenario oder als Vorsichtsmaßnahme wahrgenommen werden können. Der russische Außenminister Sasonow hat jedenfalls ausdrücklich betont, dass Russland keine Angriffsabsichten gegen Deutschland habe. In jedem Fall hätte das Deutsche Reich nicht mit einem zwölfstündigen Ultimatum reagieren müssen, sondern mit einem Verhandlungsangebot, die strittigen Fragen auf dem Verhandlungswege zu lösen. Stattdessen erklärte es Russland den Krieg. Mit dieser Entscheidung wurde die Schwelle zu einem großen europäischen Konflikt überschritten, da Russland mit Frankreich durch ein Militärbündnis verbunden war. Aber auch jetzt hätte die Katastrophe noch abgewendet werden können, wenn das Deutsche Kaiserreich friedensbereit gewesen wäre und Verhandlungsangebote gemacht hätte. Das Kaiserreich ließ es aber bewusst zu einem Konflikt mit Russland und Frankreich ankommen. Der völkerrechtswidrige Überfall auf das neutrale Belgien provozierte schließlich das Eingreifen Englands in den Krieg. Das Deutsche Kaiserreich war nicht der Angegriffene, sondern hat selber eine aktive, kriegstreibende Politik betrieben und dabei das Risiko eines Weltkrieges bewusst in Kauf genommen.

mann veröffentlicht. Aus den Notizen geht hervor, so Erdmann, dass Bethmann Hollweg „vom ersten Augenblick an, und zwar vom 6. Juli, also in dem Augenblick, wo er den berühmten Blankoscheck an die Österreicher gab, ohne den der ganze Krieg gar nicht ins Rollen gekommen wäre … mit der Möglichkeit gerechnet hat, dass sich daran ein Weltkrieg entfesseln könnte“. Der Spiegel, Erster Weltkrieg. Dreimal geschwiegen, vom 21. 10. 1964. https://www. spiegel.de/spiegel/print/d-46175765.html (aufgerufen 17. April 2021).

III. Kriegsziele des Deutschen Kaiserreichs Als Kaiser Wilhelm in seiner Thronrede am 4. August 1914 in der feierlichen Sitzung des deutschen Reichstages die berühmten Worte aussprach: „Uns treibt nicht Eroberungslust“, sollte damit der defensive Charakter des Krieges bekundet werden.1 Die Mehrheit des deutschen Volkes glaubte ohnehin, Opfer einer „Einkreisung“ und eines wohlgeplanten Überfalls missgünstiger Feinde geworden zu sein. Die Parole vom Verteidigungskrieg hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Dem stand allerdings gegenüber, dass gleich zu Beginn des Krieges annexionistische Kriegsziele aufgestellt wurden. Der Alldeutsche Verband und relevante Teile der Schwerindustrie hatten sogar schon vor Ausbruch des Krieges weitreichende Eroberungen gefordert, die notfalls auch mit den Mitteln des Krieges verwirklicht werden sollten.

1. Das „Septemberprogramm“ der Regierung Am 9. September 1914 legte Reichskanzler Bethmann Hollweg ein geheimes Kriegszielprogramm vor. Es wurde unmittelbar nach Kriegsbeginn entwickelt und erhielt seine endgültige Form am 9. September. Das „Septemberprogramm“ war kein durchdachtes Konzept, die Regierung hat Forderungen von unterschiedlichen Seiten aufgenommen.2 Dennoch spiegelten sich in ihm Ziele führender Kreise des Deutschen Kaiserreiches in Politik, Wirtschaft und Militär wider. Es griff Überlegungen der Industrie- und Bankenwelt der Vorkriegsjahre auf.3 Im „Septemberprogramm“ skizzierte die Regierung, welche Ziele dieser Krieg aus deutscher Sicht haben und wie Europa nach einem Sieg des Deutschen Reiches aussehen sollte. Ziel war es, die Vorherrschaft des Deutschen Reiches in Mitteleuropa auf erdenkliche Zeit zu sichern. „Zu diesem Zweck muss Frankreich so geschwächt werden, dass es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Russland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nicht russischen Vasallenvölker gebrochen werden.“ In dem „Septemberprogramm“ wurde die Annexion der 1

Zit. nach: F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 93. Verschiedene Großindustrielle hatten ihre Vorstellungen der Regierung unterbreitet. Der Centralverband Deutscher Industrieller – also vornehmlich die rheinische Schwerindustrie – hatte sich an die Regierung mit der Forderung gewandt, für die Verbreiterung der deutschen Rohstoffbasis einzutreten. Der führende Saar-Industrielle Röchling wünschte die möglichst weitgehende Annexion des Erzbeckens von Longwy-Briey in das Programm aufzunehmen. Vgl. F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 104. 3 Vgl. Peter Graf von Kielmansegg, Deutschland und der Erste Weltkrieg, Frankfurt am Main 1968, S. 224. 2

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III. Kriegsziele des Deutschen Kaiserreichs

französischen Bergbauregion Longwy-Briey, die Umwandlung Belgiens in einen deutschen Vasallenstaat4 und die Schaffung eines deutschen Kolonialreichs in Mittelafrika gefordert. Luxemburg sollte als Bundesstaat dem Deutschen Reich eingegliedert werden. Österreich-Ungarn, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Dänemark, Polen, eventuell auch Italien, Schweden und Norwegen sollten einem mitteleuropäischen Wirtschaftsverband unter deutscher Führung angegliedert werden.5 Weitere Fragen wurden zunächst ausgeklammert. Das Konzept eines mittelafrikanischen Kolonialreiches wurde nicht weiter konkretisiert, die „russische Frage“ wurde vertagt. So hieß es in dem „Septemberprogramm“: „Die Frage der kolonialen Erwerbungen, unter denen in erster Linie die Schaffung eines zusammenhängenden mittelafrikanischen Kolonialreiches anzustreben ist, desgleichen die Russland gegenüber zu erreichenden Ziele werden später geprüft.“6 Das Kriegs4 Kaiser Wilhelm äußerte den „Gedanken“, die von Belgien und Frankreich zu annektierenden Gebiete eventuell zu evakuieren, um dort „verdiente Unteroffiziere und Mannschaften“ anzusiedeln. Bethmann Hollweg schrieb dazu: „Ich verkenne nicht, dass dieser Gedanke viel Bestechendes hat, in der Ausführung aber wohl großen Schwierigkeiten begegnen wird. Immerhin würde zu überlegen sein, ob sich nicht eine Formel finden lässt, in der eine solche Expropriierung in dem Präliminarfrieden dem besiegten Staate in gewissem Umfang aufgegeben werden kann.“ Weiter gab der Kanzler den Auftrag, eine „Form vorzubereiten“, unter der die französische Regierung bei der Abtrennung von Longwy-Briey an Deutschland die dortigen Eisenwerke in deutschen Besitz überzuleiten hätte. Zit. nach: F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 105. 5 Ritter kommt zu folgender bemerkenswerten Beurteilung des Septemberprogramms: War das „Herabdrücken Frankreichs zu einer deutschen Wirtschaftsprovinz und einer Macht zweiten Ranges, war vollends die Umwandlung Belgiens zu einem deutschen ,Vasallenstaat‘“ und schließlich ein mit Waffengewalt erzwungener, durch ein ,Friedensdiktat‘ geschaffener, von Deutschland beherrschter kontinentaler ,Wirtschaftsbund‘ ein Kriegsziel, das Dauer versprach und allen als tragbar erscheinen konnte? Man wird doch kaum anders urteilen können, als daß Bethmann Hollweg, unter dem Druck militärpolitischer Sorgen und wirtschaftlicher Wünsche stehend, zu wenig vom sicheren politischen Instinkt und der souveränen Willenskraft des großen Staatsmanns besaß, um über alle an ihn herandrängenden Wünsche, Befürchtungen und Hoffnungen hinweg ein klar erkanntes, von der Staatsvernunft gesetztes also auch erreichbares Fernziel anzusteuern“. Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland, Dritter Band: Die Tragödie der Staatskunst. Bethmann Hollweg als Kriegskanzler (1914 – 1917), München 1964, S. 51. 6 Zit. nach: Ulrich Cartarius (Hsrg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg. Texte und Dokumente 1914 bis 1918, München 1982, S. 182 (Dok. Nr. 126). Der Staatssekretär des Kolonialamtes, Wilhelm Solf, hat das Konzept eines mittelafrikanischen Kolonialreiches noch im August und September 1914 näher konkretisiert, wobei er auf die vorbereiteten Vorkriegspläne zurückgreifen konnte. Das zu schaffende mittelafrikanische Kolonialreich Deutschlands sollte folgende Gebiete umfassen: Angola, die Nordhälfte von Mosambik, Belgisch-Kongo mit den wertvollen Kupfergruben Katangas, Französisch-Äquatorialafrika bis zur Höhe des Tschadsees, Dahomé und das Gebiet südlich des Niger-Bogens bis Timbuktu. Dieses Projekt der Schaffung eines zusammenhängenden mittelafrikanischen Kolonialreiches, das im Verlauf des Krieges in manchen Bereichen noch stark erweitert wurde, blieb grundsätzlich Bestandteil der deutschen Kriegszielpolitik. Die Ziele der deutschen Annexions- und Siedlungspolitik im Osten hat vor allem der Regierungspräsident von Frankfurt/Oder, Friedrich von Schwerin, näher konkretisiert. In zwei Denkschriften an den Kanzler vom 25. März 1915 und vom 31. Dezember 1915 hat er die Annexion des polnischen Grenzstreifens sowie der Provinzen

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zielprogramm sollte geheim bleiben, damit dem Ausland keine Angriffsflächen geboten werden.7 Außerdem wollte Bethmann Hollweg die Arbeiterschaft für den Krieg gewinnen.8 Eine allzu offene annexionistische Kriegszielpolitik hätte dieses Vorhaben gefährdet. „Die Herrschenden des wilhelminischen Reichs verheimlichten ihre Ziele, weil sie mit Widerstand rechnen mussten. Für Militär und Politik war der gefährlichste Gegner die SPD.“9

2. Die Kriegsziele der Alldeutschen Das „Septemberprogramm“ hat weitgesteckte Kriegsziele anvisiert, die in einem deutlichen Gegensatz zu den amtlichen Verlautbarungen eines Verteidigungskrieges standen. Doch bezeichnend für die Situation im Kaiserreich war, dass selbst diese weitgesteckten Eroberungspläne einflussreichen Kreisen des Kaiserreiches zu wenig waren. Sie forderten mehr. Große Teile der Militärs, der Alldeutsche Verband mit seinen Gliederungen sowie die großen Industrieverbände hatten viel weiter gehende Litauen und Kurland gefordert. Dort seien nach seiner Vorstellung deutsche Siedler aus dem Reich und aus Russland anzusiedeln. Dem deutschen Volk sollte ein erweiterter agrarischer Siedlungsraum geschaffen werden. „Das deutsche Volk, das größte Kolonisationsvolk der Erde, muß wieder zu einem großen kolonisatorischen Werk aufgerufen werden, es müssen ihm erweiterte Grenzen gegeben werden, in denen es sich ausleben kann. Die mit deutschen Menschen besiedelbaren überseeischen Gebiete sind aufgeteilt und auch als Siegespreis dieses Krieges nicht erreichbar, so muss der Versuch gemacht werden, im Anschluß an das heutige deutsche Gebiet neues Siedlungsland zu gewinnen.“ Zit. nach: F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 142. 7 „Doch ohne Wissen breiterer Bevölkerungskreise führten Armee, Regierung, Spitzenvertreter der Wirtschaft, nationalistische Verbände und einzelne Abgeordnete eine nicht-öffentliche Debatte darüber, was Deutschland nach einem Sieg von seinen Gegnern erhalten müsse.“ Auch der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger beteiligte sich an dieser Debatte. Er unterbreitete im September 1914 der politischen und militärischen Führung eine Denkschrift, in der er seine expansionistischen Kriegsziele darlegte. Als Minimalziel gab er an, dass Belgien ebenso unter deutscher militärischer Oberhoheit bleiben solle wie Teile von Nordfrankreich und die englischen Inseln vor Cherbourg. Im Osten forderte Erzberger die Zerschlagung des Zarenreiches. Teile der russischen Ostseeprovinzen sollten Preußen zugeschlagen werden, Litauen und Polen sollten deutsche Vasallenstaaten werden. An Österreich sollten die Ukraine und Bessarabien fallen. In Afrika forderte Erzberger die Schaffung eines großen deutschen zentralafrikanischen Kolonialreiches. Außerdem forderte er riesige Reparationszahlungen, die nicht nur die deutschen Kriegsschäden und Kriegsausgaben, sondern auch die gesamten Reichsschulden refinanzieren sollten. Christopher Dowe, Matthias Erzberger. Ein Leben für die Demokratie, Stuttgart 2011, S. 68. Noch weiter ging die Denkschrift des Herzogs Johann Albrecht von Mecklenburg, Präsident der deutschen Kolonialgesellschaft, der auch die Wallonen aus Belgien herauswerfen und ganz Afrika außer Kapland und den ehemaligen Burenstaaten zwischen Deutschland, der Türkei und Spanien aufteilen wollte. Vgl. G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Band 3, S. 38. 8 Vgl. E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, S. 214 ff. 9 Rainer Traub, Die große Irreführung. https://www.spiegel.de/spiegel/spiegelgeschichte/ d-113813058.html (aufgerufen 10. April 2021).

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III. Kriegsziele des Deutschen Kaiserreichs

Kriegsziele. Für sie war das „Septemberprogramm“ nur so etwas wie ein Minimalprogramm, das durch weitere Forderungen ergänzt werden müsse. Sprachrohr dieser Kreise war vor allem der Alldeutsche Verband.10 Dieser hatte schon vor Beginn des Krieges erklärt, „man müsse die unabwendbare Entscheidung herbeiführen, ehe die Rüstung des Feindes vollendet und die Hoffnung auf einen günstigen Ausgang des Kampfes für die eigene Nation gesunken sei.“11 Bereits im Januar 1912 wurde vom Alldeutschen Verband der Deutsche Wehrverein gegründet, der sich für die Stärkung der deutschen Wehrkraft einsetzen sollte. Ein führender Vertreter dieses Wehrvereins, General Hans von Wrochem, erklärte zu den Aufgaben des Vereins: „Ein vorwärts strebendes Volk wie wir, das sich so entwickelt, braucht Neuland für seine Kräfte, und wenn der Friede das nicht bringt, so bleibt schließlich nur der Krieg. Dieses Erkennen zu wecken, sei der Wehrverein berufen.“12 Als der Krieg dann endlich da war, gab der Alldeutsche Verband den auf10

Der Alldeutsche Verband (bis 1894 Allgemeiner Deutscher Verband) wurde 1891 mit Unterstützung von Carl Peters gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten neben Alfred Hugenberg u. a. Emil Kirdorf, Emil Possehl und Friedrich Ratzel. In der Zeit des Kaiserreiches zählte er zu den größten und einflussreichsten Agitationsverbänden. Seine rund 40 000 Mitglieder kamen größtenteils aus dem Adel und dem gehobenen Besitz- und Bildungsbürgertum. Der Einfluss des Alldeutschen Verbandes ging aber über die Zahl der Mitglieder weit hinaus. Er hatte gute Verbindungen zur Großindustrie, und deren Mitglieder waren oft in führenden Positionen anderer Vereine und Verbände tätig, so u. a. im Deutschen Flottenverein, dem Deutschen Wehrverein, der Deutschen Kolonialgesellschaft, dem Reichsverband gegen die Sozialdemokratie, der Deutschen Vaterlandspartei, dem Deutschbund. 1908 übernahm Heinrich Claß den Vorsitz. Unter seiner Führung wurden die kolonialpolitischen Bestrebungen weitgehend ersetzt durch das Ziel der Schaffung eines starken von Deutschland dominierten „Mitteleuropas“. „Es erfolgte ein Wechsel von der Welt- zur Kontinentalpolitik.“ Rainer Hering, Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939, Hamburg 2003 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 40), S. 128. Zwar sollte nach wie vor der Kolonialbesitz vor allem in Afrika vergrößert werden, Schwerpunkt war aber nun die „Ausdehnung in Europa“. Daniel Freymann, (Heinrich Claß), Wenn ich der Kaiser wär – Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, Leipzig 1912, S. 140. Durch die Annektierung von Lothringen und Flandern im Westen und des Baltikums im Osten sollte das anvisierte „Mitteleuropa“ konsolidiert werden. Der Erwerb neuen Lebensraums im Osten stand weiterhin im Mittelpunkt des Programms. So hatte der Alldeutsche Verband bereits 1894 verkündet: „Der alte Drang nach Osten soll wieder lebendig werden. Nach Osten und Südosten hin müssen wir Ellenbogenraum gewinnen, um der germanischen Rasse diejenigen Lebensbedingungen zu sichern, deren sie zur vollen Entfaltung ihrer Kräfte bedarf, selbst wenn darüber solch minderwertige Völklein wie Tschechen, Slowenen und Slowaken, die das Nationalitätsprinzip anrufen, ihr für die Zivilisation nutzloses Dasein einbüßen sollten.“ Alldeutsche Blätter vom 7. Januar 1894, zit. nach: R. Hering, Konstruierte Nation. S. 121. Das Ziel war, ein „Großdeutschland“ zu errichten. 11 Zit. nach: Alfred Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, 1890 – 1939, Wiesbaden 1954, S. 68. 12 Ebd., S. 69. Ähnlich äußerte sich auch Claß bereits im Frühjahr 1913: „Unser rasch wachsendes Volk muß sein Daseinsrecht geltend machen. Es muß für Neuland sorgen“. Ebd., S. 68. Anfang 1912 erschien ein Buch des alldeutschen Militärschriftstellers, des ehemaligen Generals Friedrich von Bernhardi, mit dem Titel „Deutschland und der nächste Krieg“. Das Buch erregte große Aufmerksamkeit und erlebte hintereinander mehrere Auflagen. Darin

2. Die Kriegsziele der Alldeutschen

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brechenden Truppen den „Waffensegen“ mit auf den Weg. Darin hieß es: „Gewaltiges bereitet sich vor, ein Riesenkampf, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht gesehen hat, gegen den alles, was sie bisher an Völkerringen aufzuweisen hat, sich ausnehmen wird, wie das Geplänkel gegen die Schlacht – derartiges mitzuerleben, lohnt das Leben. Aber dieser Lebensinhalt soll noch reicher werden durch das Ergebnis des blutigen Kampfes, den unser Volk in Waffen jetzt zu bestehen hat – reicher durch seine Taten, seinen Sieg!“13 Die Kernforderung der Alldeutschen lautete: „Erweiterung der Grenzen des deutschen Reichsgebietes ist zur Sicherung der Zukunft des deutschen Volkes unbedingt notwendig.“14 Mit Beginn des Krieges führte General von Gebsattel, der Stellvertretende Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, in einem Brief an den Reichskanzler aus, es gebe allzu viele Anzeichen dafür, „daß die Reichsregierung das politische Kriegsziel zu eng gesteckt hat und daß gerade jene treuesten und politisch zuverlässigsten Kreise hierin einen Verzicht auf die Ausnutzung unseres sicheren Sieges erblicken müssen. Mein Gewissen gebietet mir, vor solch einem Verzicht zu warnen – es wäre der verhängnisvollste politische Fehler, der gemacht werden könnte, und seine forderte der Autor einen „Kampf ums Dasein“ als „Grundlage aller gesunden Entwicklung“. Im ersten Kapitel „Das Recht zum Kriege“ stellte er den Krieg als Notwendigkeit zur Weiterentwicklung der deutschen Rasse dar. Den Krieg beschrieb er „als Mittel der Auslese, durch das minderwertige oder verkommene Rassen daran gehindert werden, die Gesunden zu überwuchern“. H. A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, S. 314. In seinen Schriften stellte Bernhardi fest, dass die Stellung des Deutschtums auf der Welt in keiner Weise dem Kulturwert des deutschen Volkes und der wirtschaftlichen Bedeutung des Deutschtums entspräche. Bei der Verteilung der Erde sei Deutschland zu kurz gekommen – nicht ohne eigene schwere Schuld, wie Bernhardi hinzufügt. „Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, betonte er. Es sei sogar eine notwendige Voraussetzung in der Politik. „Es gibt zwischen Staaten, die einen friedlichen Ausgleich entgegengesetzter Interessen nicht zuwege bringen, überhaupt keinen anderen Kraftmesser als den Krieg (…).“ Der Krieg sei der mächtigste Kulturförderer und kann nicht als Barbarei, sondern muss als der höchste Ausdruck wahrer Kultur bezeichnet werden, als „eine politische Notwendigkeit im Interesse des biologischen, sozialen und sittlichen Fortschritts“. Weiter erklärte er: „Ohne den Krieg (…) würden nur all zu leicht minderwertige und verkommene Rassen durch Masse und Kapitalmacht die gesunden, keimkräftigen Elemente überwuchern, und ein allgemeiner Rückgang müsste die Folge sein. In die Auslese besteht die Schöpferkraft des Krieges.“ Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern. Band 5, Das Wilhelminische Kaiserreich und der Erste Weltkrieg 1890 – 1918. Die Unvermeidbarkeit des Krieges: General Friedrich von Bernhardi (1912). https ://ghdi.ghi-dc.org/pdf/deu/522_Unvermeidbarkeit%20Krieges_103. pdf (aufgerufen 20. Juni 2021). Deutschland müsse, so führte er weiter aus, auf eine harte Entscheidung vorbereitet werden, und zwar „ob wir uns auch zu einer Weltmacht entwickeln, als solche behaupten und deutschem Geist und deutscher Lebensauffassung die Beachtung auf der weiten Erde verschaffen wollen, die ihnen heute noch versagt sind.“ Aufgabe einer volkstümlichen Presse sei es: „Immer wieder muss sie auf die Bedeutung und Notwendigkeit des Krieges hinweisen als eines unentbehrlichen Mittels der Politik und der Kultur und auf die Pflicht des Opfermutes und der persönlichen Hingabe an Staat und Vaterland“. Zit. nach H. A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, S. 315. 13 Zit. nach: A. Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, S. 70. 14 Ebd., S. 86.

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III. Kriegsziele des Deutschen Kaiserreichs

nächste Folge wäre die Revolution“.15 Das Bestreben des Alldeutschen Verbandes war es, so früh wie möglich eine „Kriegszielbewegung“ zu entfachen. Der Geschäftsführende Ausschuss beschloss daher bereits am 28. August 1914, eine detaillierte Denkschrift über die deutschen Kriegsziele auszuarbeiten. Anfang September 1914 lag die „Denkschrift zum deutschen Kriegsziel“ vor. Herr Krupp von Bohlen und Halbach, der zuvor seine volle Übereinstimmung mit den Plänen des Alldeutschen Verbandes bekundet hat, war allerdings wieder auf die Seite von Bethmann Hollweg getreten. Mit ihm verlor der Verband die einzige Hoffnung, durch persönliche Vorstellungen bei Wilhelm II. etwas gegen Bethmann Hollweg zu erreichen. „Umso beifälliger äußerte sich Hugo Stinnes zu den Kriegszielen. Er ging sogar noch über die alldeutschen Forderungen hinaus, indem er nicht nur die Annexion der nordfranzösischen Küste bis zur Sommemündung, sondern auch der Normandie für wünschenswert hielt, da er der deutschen Industrie die dort festgestellten Erzlager sichern wollte.“16 Neben Stinnes für den Zentralverband der deutschen Industrie unterstützte Friedrichs für den Bund der Industriellen, Wangenheim für den Bund der Landwirte sowie Kirdorf, Beuckenberg, Reusch und von Borsig die Forderungen des Alldeutschen Verbandes.17 Spezifisch alldeutsch – so Klaus Schwabe in einer detaillierten Analyse des alldeutschen Annexionismus – war das Gewicht, das einer deutschen Ausdehnung auf dem europäischen Kontinent beigelegt wurde – unter ausdrücklicher Zurücksetzung aller kolonialen Pläne in Übersee. Zielte die „Weltpolitik“ in der Vorkriegszeit auf eine von einer starken Flotte gedeckte außereuropäisch-koloniale Expansion ab, so betonte das alldeutsche Kriegszielprogramm die Notwendigkeit einer deutschen Machtausweitung in Westeuropa (Belgien, Nordfrankreich bis Abbéville) und an der Ostgrenze des Reiches (Westrussland, vor allem Polen und die Ostseeprovinzen). Spezifisch alldeutsch waren nach Schwabe aber vor allem auch die Methoden, die bei einer deutschen „Landnahme“ angewandt werden sollten: „Noch stärker aber kommt das Neuartige und Spezifische des alldeutschen Annexionsprogrammes (…) zum Vorschein, wenn man die Methoden betrachtet, die es bei einer deutschen ,Landnahme‘ angewandt wissen wollte: In der Forderung nach weitgehender politischer Entrechtung der annektierten ,zuchtlosen‘ nicht-deutschen Bevölkerungen – kein Reichstagswahlrecht – und darüber hinaus in dem Verlangen nach einer ,wohlgeordneten Ausräumung‘ weiter zu annektierender Gebietsteile (…). Zugleich erwiesen sich die Alldeutschen als Rechtsradikale, in dem sie ein ausgesprochen autoritäres Vorgehen – Diktatur, Beamtenregiment – in den Deutschland anzugliedernden Gebieten befürworteten, das nur ja nicht durch ,falsch verstandene‘ humanitäre Rücksichten gemildert werden dürfte. Claß’ Fernziel bestand in einer ,für Menschengedenken‘ gesicherten deutschen Vorherrschaft auf dem

15

Zit. nach: ebd., S. 75. Vgl. ebd., S. 72. 17 Vgl. ebd., S. 76.

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2. Die Kriegsziele der Alldeutschen

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europäischen Kontinent, die dennoch die nationale oder, wie er sagte, ,völkische‘ Homogenität des Herrscherstaates nicht in Frage stellen sollte.“18 Es gelang dem alldeutschen Verbandsvorsitzenden Heinrich Claß im Jahre 1915, die Freikonservativen unter von Zedlitz für die alldeutschen Kriegsziele zu gewinnen. Die Nationalliberalen hatten von vornherein diese Ziele unterstützt, und die Deutschkonservativen hatten sich an der gemeinsamen Arbeit des Alldeutschen Verbandes beteiligt. „Im Reichstag war vor allem von Graefe-Goldebee, der für die Sache des Verbandes stritt. Während hier, in der Deutschkonservativen Partei und in der Reichspartei, die stärksten Impulse unzweifelhaft von den Alldeutschen ausgingen, trug der Annexionismus der Nationalliberalen ein mehr eigenwüchsiges Gepräge. Wichtig sei hier die innige personelle Verzahnung mit dem Bund Deutscher Industrieller und anderer Wirtschaftsverbände, aus deren Reihen heraus der Regierung schon Annexionswünsche vorgetragen wurden, als sich das Alldeutsche Kriegszielprogramm noch im Stadium der Vorbereitung befand.“19 Im Sommer 1915 stellte sich auch eine Mehrheit innerhalb der deutschen Hochschullehrerschaft hinter die annexionistischen Kriegsziele des Alldeutschen Verbandes.20 In den schließlich am 5. Mai 1915 vom Alldeutschen Verband verabschiedeten Leitsätzen zum Kriegsziel werden die polnischen Grenzgebiete, die russisch-litauischen Gouvernements und die Ostseeprovinzen als zukünftige Siedlungsgebiete genannt. Im Westen soll neben Belgien die nordfranzösische Küste am Kanal bis etwa zur Mündung der Somme gewonnen werden. „Wie im Osten, so dürfe auch im Westen der nichtdeutschen Bevölkerung kein politischer Einfluss gewährt werden; industrielle Unternehmungen sowie größerer und mittlerer Landbesitz seien deutschen Staatsbürgern zu übereignen.“21 Die Bewohner der zu annektierenden französischen Gebiete sollen nach Rest-Frankreich überführt werden, und in den wichtigsten Teilen des Neulandes im Osten soll eine „völkische Feldbereinigung“ vorgenommen werden durch den Austausch der Russen gegen die Wolga- und Schwarzmeerdeutschen. Darüber hinaus wurde von Frankreich die Abtretung Toulons mit angemessenem Hinterland als festen Mittelmeerstützpunkt gefordert. „Marokko, Senegambien und der Französische Kongo müssten an Deutschland fallen, ebenso der belgische Kongostaat. Als Stützpunkte werden neben Toulon auch Tanger, Bizerta und Damiette, Djibouti, ferner Goa, Ceylon und Saban empfohlen.“22 18 Klaus Schwabe, Ursprung und Verbreitung des alldeutschen Annexionismus in der deutschen Professorenschaft im Ersten Weltkrieg. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 14 (1966), Heft 2, S. 107 f. So hieß es in der von Heinrich Claß im September 1914 vorlegten Kriegszieldenkschrift: „Deutsche Unternehmer sollten durch Übernahme der durch das Reich enteigneten belgischen Industriebetriebe die Möglichkeit weiterer Betätigung erhalten.“ Russischer Grundbesitz sollte in den annektierten Gebieten enteignet werden, um so Platz für deutsche Rückwanderer aus dem inneren Russland zu schaffen. Zit. nach: ebd. 19 A. Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, S. 78. 20 Vgl. K. Schwabe, Ursprung und Verbreitung des alldeutschen Annexionismus, S. 106. 21 A. Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, S. 86. 22 Vgl. ebd., S. 86 f.

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III. Kriegsziele des Deutschen Kaiserreichs

Erhebliche Rückschläge an der Front und das Anwachsen der Feindmächte führten keineswegs zu einer Herabsetzung der Forderungen. Im Gegenteil! Je länger der Krieg andauerte und je größer die Zahl der Opfer wurde, umso energischer vertraten die Alldeutschen die Auffassung, dass eine Wiederherstellung des quo ante in keinem Fall zu akzeptieren sei. „So war es denn nicht erstaunlich, dass in den durch Hunger und Überanstrengung zermürbten Bevölkerungskreisen nach und nach die Überzeugung Boden gewann, der Friede sei bisher lediglich an den Annexionisten gescheitert.“23 Große Teile der tragenden Kräfte des Kaiserreiches hatten die annexionistischen Kriegsziele des Alldeutschen Verbandes übernommen oder selber solche oder ähnliche Ziele entwickelt.24 In einer Denkschrift der fünf (später sechs) großen deutschen Wirtschaftsverbände wurden ebenfalls weitreichende annexionistische Kriegsziele verfochten. Es waren dies der Centralverband deutscher Industrieller, der Bund der Industriellen, der Bund der Landwirte, der Deutsche Bauernbund, der Reichsdeutsche Mittelstandsverband sowie später noch die Christlichen Deutschen Bauernvereine. Diese Verbände forderten in Anlehnung an das Programm der Alldeutschen „ein Kriegszielprogramm von ,wahrlich imperialistischer Größenordnung‘ (Wolfgang J. Mommsen)“25: Annexion der belgischen und französischen Kanalküste mit Hinterland von der Somme, ferner die Aneignung die Erzfördergebiete von Longwy-Briey, der nordfranzösischen Kohlereviere sowie die Übertragung französischer und belgischer Bergwerke und Hüttenbetriebe in deutsches Eigentum. Das unterworfene Belgien sollte in das Deutsche Reich eingegliedert werden. Im Westen standen industrielle Forderungen der Wirtschaftsverbände im Vordergrund, im Osten galt das Interesse insbesondere den riesigen Landwirtschaftsgebieten Polens und Russlands.26

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Ebd., S. 84. Ein Beispiel ist die Denkschrift des Industriellen August Thyssen. Darin wurde gefordert: Die Einverleibung Belgiens und der französischen Départements Du-Nord und Pas-deCalais mit Dunkirchen, Calais und Boulogne, ferner das Département Meurthe-et-Moselle mit dem französischen Festungsgürtel und der Maas sowie im Süden die Départements Vosges und Haute-Saone mit Belfort. Im Osten forderte die Denkschrift die baltischen Provinzen, eventuell das Don-Gebiet mit Odessa, die Krim sowie das Gebiet um Asow und den Kaukasus. Thyssen begründete seine Forderung mit der Notwendigkeit, die deutsche Rohstoffversorgung für die Zukunft sicherzustellen. „Die weitausgreifende Konzeption Thyssens gipfelte in der Vorstellung, mit der Gewinnung einer Landbrücke über Süd-Rußland, Kleinasien und Persien das britische Weltreich, den eigentlichen Gegner dieses Krieges, in Indien und Ägypten entscheidend zu treffen. Nur so sah Thyssen das Aufrücken Deutschlands in eine Stellung als Weltmacht gesichert (…)“. Zit. nach: F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 103. 25 Zit. nach: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main 2013, S. 220. Zur gleichen Zeit veröffentlichten auch nationalistische Hochschullehrer im Juli 1915 eine „intellektuelle Eingabe“, die von 1 347 Personen aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens unterzeichnet war. Die darin formulierten Kriegsziele standen denen des Alldeutschen Verbandes nicht nach. 26 Vgl. ebd. 24

2. Die Kriegsziele der Alldeutschen

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Von Regierungsseite wurde aber gewarnt, das Fell des Bären zu verteilen, ehe er erlegt sei. In einem Brief vom 27. Dezember 1914 hat Bethmann Hollweg Claß geraten, er möge die Propaganda für die Kriegsziele bis zu einem Zeitpunkt aufschieben, an dem sich das Erreichbare übersehen lasse.27 In einem weiteren Brief vom 13. Mai 1915 würdigte Bethmann Hollweg die Verdienste, die der Alldeutsche Verband „durch die Hebung des nationalen Machtwillens und die Bekämpfung der Völkerverbrüderungsideologie“ sich erworben hat und gab Claß die Zusicherung, dass „die vom Alldeutschen Verband aufgestellten Forderungen zum Kriegsziel nach der völligen Niederwerfung aller unserer Gegner zu würdigen sein“ würden. Im Augenblick verböten jedoch die Interessen der Außenpolitik und der Landesverteidigung, auf ihren sachlichen Inhalt einzugehen.28 Bethmann Hollweg hat aber sicherlich auch deshalb eine öffentlich geführte Debatte über die Kriegsziele abgelehnt, weil solch eine Debatte die Propaganda von der russischen Bedrohung und vom Verteidigungskrieg entlarvt hätte.

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A. Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, S. 73. Ebd., S. 75.

IV. Der Kriegsverlauf 1. Die Marne-Schlacht Die weitgesteckten Kriegsziele standen in einem deutlichen Gegensatz zu dem konkreten Kriegsverlauf. Der „Schlieffen-Plan“, den Alfred von Schlieffen 1906 als „Testament“ seinem Nachfolger Helmuth von Moltke vermacht hatte, sah vor, Frankreich in einem Überraschungsangriff entscheidend zu schlagen, um dann die siegreichen Truppen gen Osten schicken zu können. Schlieffen und Moltke sahen, dass die deutschen Armeen nicht stark genug waren, um gleichzeitig einen Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland führen zu können. So wurde der Plan entwickelt, den bevorstehenden Krieg an zwei Fronten gewinnbar zu machen, indem man sich zunächst auf einen der beiden Feinde, Frankreich im Westen, konzentrieren würde. Das Gelingen dieses Planes hing aber entscheidend von einem Überraschungseffekt ab, bei dem auch die Neutralität Luxemburgs und Belgiens verletzt werden würde. So schrieb Moltke im Dezember 1912 in einer Denkschrift: „Um aber gegen Frankreich offensiv zu werden, wird es nötig sein, die Belgische Neutralität zu verletzen. Nur bei einem Vorgehen gegen belgisches Gebiet kann man hoffen, das Französische Heer im freien Felde angreifen und schlagen zu können.“1 Deutsche Truppen sollten demnach noch vor der offiziellen Kriegserklärung in das neutrale Luxemburg und Belgien einmarschieren und die strategisch wichtigen belgischen Festungen und Eisenbahnstrecken für den deutschen Aufmarsch sichern. Von besonderer Bedeutung war das stark befestigte Lüttich, das es galt, im Handstreich zu nehmen. Der Plan schien zunächst auch aufzugehen. 600 000 Mann der 1. und 2. Deutschen Armee plus Pferde, Ausrüstung und Verpflegung marschierten in Luxemburg und Belgien ein und konnten trotz des nicht erwarteten heftigen Widerstands der Belgier bis nach Nordfrankreich vorrücken. Doch nach anfänglichen Erfolgen erlitten deutsche Truppen im September 1914 kurz vor Paris in der Marneschlacht eine verheerende Niederlage.2 Der Plan der deutschen Heeresleitung 1

Zit. nach: A. Mombauer, Die Julikrise, S. 104. Bedingt war diese Niederlage auch dadurch, dass die russische Mobilisierung sich wesentlich schneller vollzog als gedacht. Als starke russische Truppen Mitte August nach Ostpreußen marschierten, sah sich Moltke veranlasst, zwei Armeekorps zur Sicherung Ostpreußens von der Westfront abzuziehen. Dadurch wurde eine „empfindliche Lücke in die Umfassungsbewegung der voranmarschierenden deutschen Truppen gerissen, weshalb der Plan zur großräumigen Umfassung von Paris fallengelassen wurde und die Spitze des deutschen Vormarsches nun von Norden aus direkt auf Paris marschierte (…). Hatte der schnelle deutsche Vormarsch anfangs nicht zuletzt auf dem gut ausgebauten Eisenbahnnetz basiert, so kam 2

2. Erfolge an der Ostfront

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unter Generaloberst Helmuth von Moltke, Frankreich mit seinen geballten Hauptkräften in kurzer Zeit zu besiegen, war nach dieser Schlacht gescheitert. Am 9. September schrieb Moltke: „Es geht schlecht (…) Der so hoffnungsvoll begonnene Anfang des Krieges wird in das Gegenteil umschlagen (…) Ich fürchte, unser Volk in seinem Siegestaumel wird das Unglück kaum ertragen können.“3 Generalstabchef Moltke erlitt einen Nervenzusammenbruch und wurde am 14. September 1914 durch Erich von Falkenhayn ersetzt. Falkenhayn forderte, die Öffentlichkeit über die ungünstige Situation nach der Marneschlacht aufzuklären. Reichskanzler Bethmann Hollweg lehnte dies ab. „Die unbedingte Siegessicherheit des Volkes sei, trotz aller Selbsttäuschung, ,ein moralischer Faktor von ungeheurer Bedeutung‘“, erklärte er.4 Die Reichsregierung verschwieg der Nation die Bedeutung der Niederlagen und täuschte so die Bevölkerung über die tatsächliche Kriegssituation. Die Diskrepanz zwischen der militärischen Lage und den weitgesteckten Kriegszielforderungen der tragenden Kräfte des Kaiserreiches vergrößerte sich.5

2. Erfolge an der Ostfront Nach dem Scheitern der Westoffensive drängten Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff von dem Armee-Oberkommando Ost (Ober Ost) darauf, die Entscheidung des Krieges an der Ostfront zu suchen. Falkenhayn lehnte dies ab. Er beharrte weiterhin darauf, den Schwerpunkt der Kriegsführung an der Westfront zu belassen. Falkenhayn hatte frühzeitig erkannt, dass ein militärischer Totalsieg nicht zu erreichen sei. Stattdessen suchte Falkenhayn einen politischen Ausweg aus der militärischen Krise. Im November 1914 informierte er Reichskanzler Bethmann Hollweg über die ungünstige militärische Situation und forderte einen Sonderfrieden mit einem oder mehreren Kriegsgegnern.6 „Er eröffnete dem Kanzler groß und bündig, daß an einem deutschen Sieg, der uns zu einem ,anständigen Frieden‘ verhelfen könnte, nicht mehr zu denken sei, falls es nicht gelänge, entweder Frankreich oder Rußland aus dem Ring unserer Feinde herauszusprengen. Er selbst sei zu sehr billigen Friedensbedingungen sowohl im Westen wie im Osten bereit und verlange ,vom militärischen Standpunkt‘ keinerlei Landerwerb, sondern nur Kriegsentschädigundieser Vorteil in der Nähe von Paris nun den Verteidigern zugute“. W. Kruse, Der Erste Weltkrieg, S. 23 f. 3 Zit. nach: F. Fischer, Krieg der Illusionen. Die Deutsche Politik von 1911 bis 1914. 2. Auflage, Düsseldorf 1970, S. 776. 4 E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, S. 211. Der Reichskanzler verbot bei der sich verschlechternden Gesamtlage und angesichts der wachsenden annexionistischen Tendenzen einige Zeit danach aber jede öffentliche Erörterung der Kriegsziele, vgl. ebd. S. 210. 5 Vgl. dazu auch ebd., S. 212. 6 Vgl. H. Afflerbach, Falkenhayn, S. 204 ff. Die deutschen Chancen für einen Separatfrieden waren aber sehr schlecht. England, Frankreich und Russland hatten sich am 4. 9. 1914 im „Londoner Abkommen“ verpflichtet, keinen Separatfrieden zu schließen. Vgl. ebd., S. 203.

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IV. Der Kriegsverlauf

gen.“7 Der Zweifrontenkrieg sei für Deutschland nicht gewinnbar. Reichskanzler Bethmann Hollweg lehnte einen Frieden ohne Annexionen jedoch ab.8 Den Verbänden von Ober Ost war es allerdings in der Sommeroffensive 1915 auch gelungen, bedeutende Eroberungen zu machen, die für das Zarenreich den Verlust von Galizien, Polen, Litauen und Kurland bedeuteten.9 Von den eroberten Gebieten wurde das Generalgouvernement Warschau abgetrennt und direkt der Verwaltung der Obersten Heeresleitung (OHL) unterstellt.10 Das unter Verwaltung von Ober Ost verbliebene Besatzungsgebiet hatte aber immer noch eine Größe von etwa zwei Fünftel des Deutschen Reiches.11 In diesem Gebiet betrieb Ludendorff eine aktive Germanisierungspolitik. „Hier gewinnen wir die Zuchtstätten für Menschen, die für weitere Kämpfe nach Osten nötig sind. Diese werden kommen, unausbleiblich“, schrieb Ludendorff 1915.12 Um einen Teil seiner Offiziere und Soldaten in den eroberten Teilen des Baltikums ansiedeln zu können, verwehrten die deutschen Behörden mit ausdrücklicher Billigung Ludendorffs den einst vor den Deutschen Geflüchteten die Rückkehr in die Heimat. „Der Ankauf der verwaisten und vielfach überschuldeten Güter durch den preußischen Staat erfolgte zu Spottpreisen und sicherte künftigen deutschen Kolonisten günstige Pachtzinsen. Bei der arbeitsintensiven Kultivierung des waldreichen Territoriums kam der ortsansässigen nichtdeutschen Bevölkerung kaum mehr als die Rolle von Arbeitssklaven zu. Wie deren Schicksal aussehen sollte, belegen die in litauischen Archiven überlieferten Aktensplitter der deutschen Militärverwaltung: Die arbeitsfähigen Männer zwischen 16 und 60 Jahren wurden seit November 1916 zur Zwangsarbeit herangezogen und in Arbeitslagern untergebracht; die allgemeine Schulpflicht sollte abgeschafft und allenfalls den Jungen eine vier- bis sechsjährige Elementarbildung zuteil werden. Zudem war die Nutzung medizinischer Versorgungseinrichtungen sowie die Inanspruchnahme von Renten und Sozialleistungen ausschließlich deutschen Staatsbürgern vorbehalten.“13 Ludendorff als der strategische Kopf des Feldherrn-Duos war überzeugt, dass mit einem weiteren deutschen Vorstoß noch zusätzliche Gebiete erobert werden könnten. Mit einer großen Zangenoperation sollte die russische Armee „ins Wanken gebracht“ und gegenüber dem Zarenreich ein „Siegfrieden“ erkämpft werden.14 Falkenhayn lehnte dies ab. Trotz der Erfolge in der „Schlacht bei Tannenberg“15 Ende August 7

G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd. 3, S. 59. Vgl. H. Afflerbach, Falkenhayn, S. 206. 9 Manfred Nebelin, Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg, München 2010, S. 162. 10 Vgl. ebd., S. 189. 11 Vgl. ebd., S. 190. 12 Ebd., S. 194. 13 Ebd., S. 194 f. 14 Vgl. ebd., S. 185. 15 Unter Führung von General a. D. Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff war es deutschen Truppen gelungen, den Vormarsch der zahlenmäßig überlegenen russischen Truppen in Ostpreußen zu stoppen und Ende August vernichtend zu schlagen. Vgl. dazu: Jesko von Hoegen, Der Held von Tannenberg. Genese und Funktion des Hindenburg-Mythos (1914 – 8

3. Die Schlacht von Verdun

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1914 hielt es Falkenhayn für unmöglich, Russland vollständig zu besiegen und gleichzeitig im Westen stark genug zu sein, um dort eine erfolgreiche Defensive gegen die immer stärker werdende Entente aufrechtzuerhalten. Er verwies darauf, dass die russischen Truppen zwar einen niedrigeren Kampfwert hätten, aber dafür unbegrenzten Raum zum Ausweichen. Dies brachte ihn in Konflikt zu dem Feldherrn-Duo Ludendorff und von Hindenburg, die das russische Heer von Norden und Süden umfassen und einkreisen wollten. Viele hohe Offiziere aus dem Umfeld von Ober Ost, so Ludendorffs rechte Hand Max Hoffmann, nannten Falkenhayn schlichtweg nur noch „den Verbrecher“16, weil er die Umklammerungsstrategie im Osten ablehnte. Kaiser Wilhelm II. als oberster Kriegsherr entschied sich aber für die Konzeption Falkenhayns. „Damit war meines Erachtens“, so Ludendorff, „die letzte Möglichkeit, eine vernichtende Operation gegen das russische Heer zu führen, vorbei.“17

3. Die Schlacht von Verdun Im Westen war die Front erstarrt. Im Patt des Stellungskrieges drohte dem Deutschen Reich auf lange Sicht eine Niederlage gegen die Entente, die über viel mehr Ressourcen verfügte. Generalstabschef von Falkenhayn hoffte, mit einem erfolgreichen Angriff der 5. Armee auf Verdun den Krieg an der Westfront wieder in Bewegung zu bringen. Anfang Dezember informierte er den Kaiser über seinen Angriffsplan im Westen.18 Danach sollte Verdun zunächst gar nicht erobert werden, sondern der Plan sah vor, die Höhen am Ostufer der Maas einzunehmen, sodass die Stadt nach Eroberung der Höhenlinie im Feuer der deutschen Artillerie lag. Die Franzosen hätten dann auf Dauer nur zwei Möglichkeiten gehabt: Entweder sie räumten die Stadt Verdun, weil sie die durch das Artilleriefeuer entstandenen hohen Verluste nicht mehr ertragen konnten, und das deutsche Heer erzielte einen großen Prestigeerfolg. Oder aber – was Falkenhayn eher annahm – die Franzosen würden sich mit aller Macht dagegen wehren, die Festung zu verlieren, und deshalb ohne Rücksicht auf Verluste zur Wiedergewinnung der Höhen des Ostufers antreten. Ihre Angriffe würden sie dann aber in das beherrschende deutsche Artilleriefeuer hineinführen und das französische Heer müsste gewaltige Verluste erleiden.19 Falkenhayn wollte den Gegner zum verlustreichen Angriff zwingen und selbst als Angreifer

1934), Böhlau, Wien/Köln 2007, S. 35 ff. Der „Sieg bei Tannenberg“ begründete den Hindenburg-Mythos als charismatische Führerfigur. 16 J. v. Hoegen, Der Held von Tannenberg, S. 168. 17 M. Nebelin, Ludendorff, S. 186 f. 18 Vgl. H. Afflerbach, Falkenhayn, S. 365. 19 Vgl. ebd., S. 363.

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IV. Der Kriegsverlauf

die Vorteile der Defensive nutzen. Offen sprach er davon, „Frankreichs Heer solle bei Verdun zum ,Ausbluten‘ gebracht werden.“20 Der Plan schien zunächst auch erfolgreich zu sein. Am 21. Februar 1916 begann die Schlacht um Verdun. Bereits am 25. Februar 1916 war das Fort Douaumont, die größte aller Befestigungen rund um Verdun, erobert. Die nationalistische Presse jubelte: Ein großartiger Sieg!21 Die deutsche Propaganda machte aus der Eroberung des Forts eine Heldenschlacht.22 Doch dann begann der zermürbende Stellungskrieg. Die Schlacht um Verdun entwickelte sich zu einer der grausamsten und verlustreichsten Schlachten des Ersten Weltkrieges. Sie hat über 700 000 Opfer gefordert: etwa 305 000 Tote und Vermisste und 400 000 Verwundete. Ganze Armeen fielen im Kampf um wenige hundert Meter Boden. Hunderttausende starben, danach sah die Frontlinie fast so aus wie zuvor. Bald war die Front durchzogen von einem einzigen Schützengrabensystem. Während die deutschen Befehlshaber aus sicherem Abstand das Frontgeschehen durch ihre Scherenfernrohre beobachteten, war für die einfachen Soldaten der Kampf an der Front in den Schützengräben die reine Hölle. Die Soldaten mussten häufig stundenlang ihre Gasmasken tragen und mehrere Tage ohne Nahrung auskommen. Der Durst trieb viele von ihnen dazu, verseuchtes Regenwasser aus Granattrichtern zu trinken. Oft lagen einzelne Frontabschnitte tagelang ununterbrochen unter Trommelfeuer. Schlecht oder gar nicht geschützt war der Frontsoldat der Kälte und Nässe und dem Schlamm des Ödlands ausgesetzt. Die Soldaten hatten das Gefühl, in der „Hölle von Verdun“ verheizt zu werden. Am 20. Dezember 1918 endete die Schlacht um Verdun.23 Sie brachte keiner Seite nennenswerte Geländegewinne. Es war eine Entscheidungsschlacht ohne Entscheidung, die zweite Nie20 Vgl. ebd. In seinen 1920 erschienenen Memoiren behauptete Falkenhayn, dass er eine Strategie der Zermürbung, eine „Ermattungsstrategie“, in der Schlacht um Verdun verfolgt habe. Vgl. Erich von Falkenhayn, Die Oberste Heeresleitung 1914 – 1916 in ihren wichtigsten Entscheidungen. Berlin 1920, S. 176 ff. Ziel sei nicht die Einnahme Verduns, der räumliche Geländegewinn, gewesen, sondern die Verwicklung der französischen Armee in eine langwierige Abnutzungsschlacht. Auf diese Weise sollte die französische Armee zum „Ausbluten“ gebracht werden. Falkenhayn soll mit 250 000 Toten auf deutscher Seite, aber mit 525 000 Toten auf französischer Seite gerechnet haben, sodass Frankreich in diesem „Abnutzungskrieg“ ins Hintertreffen geraten würde. Vgl. Sven Felix Kellerhoff, Was bei Verdun tatsächlich geplant war. https://www.welt.de/geschichtearticle124990702/was-bei-verdun-tatsaechlichgeplant-war.html (aufgerufen 10. April 2021). Die meisten Historiker gehen aber entgegen dieser Darstellung davon aus, dass Falkenhayn diese Strategie nicht von Anfang an verfolgt, sondern erst im Laufe der Schlacht als Rechtfertigung für die erfolglosen Vorstöße und die hohen Verluste entwickelt habe. 21 Der Schriftsteller und Kriegsgegner Erich Mühsam schilderte die vorherrschende Stimmung auf Münchens Straßen: „Sieg bei Verdun! 3 000 Gefangene, 10 Kilometer breit! 3 Kilometer tief durchgestoßen! Hurra! Die deutsche Offensive im Westen ist da! Nun kann’s nimmer fehlen! Jetzt kriegen wir Verdun, Calais, Paris, Frankreich, England und den Endsieg – spätestens im Frühjahr!“ Zit. nach https://www.welt.de/geschichtearticle152623082/ nach-vier-tagen-war-die-schlacht-um-verdun-verloren.html (aufgerufen 10. Januar 2021). 22 Später stellte sich allerdings heraus, dass die Franzosen diesen Stützpunkt vorzeitig aufgegeben hatten. 23 Vgl. S. F. Kellerhoff, Was bei Verdun tatsächlich geplant war.

4. Die Tragödie an der Somme

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derlage nach dem Marne-Desaster. Die „Hölle von Verdun“ wurde zum Symbol für die Unmenschlichkeit des Krieges.24 Verdun stand aber auch für den Zynismus und die Menschenverachtung der Armeeführer, die mit dem Leben Hunderttausender Menschen kalkulierten, die für sie nur „Materialwert“ hatten. So starben viele Arbeiter an der Front, sie starben – wie Eugen Prager sarkastisch erwähnt – „den ,Heldentod für das Vaterland‘, das sie bisher als Aussätzige behandelt hatte“.25

4. Die Tragödie an der Somme Eine menschliche Tragödie ungeheuren Ausmaßes ereignete sich auch in der Schlacht an der Somme, die am 1. Juli 1916 im Rahmen einer britisch-französischen Großoffensive gegen die deutschen Stellungen begann. Ursprünglich war die Großoffensive entlang des Flüsschens Somme in Nordfrankreich bereits für das Frühjahr geplant. Durch den Angriff der Deutschen bei Verdun verschob sich jedoch der Angriffsplan auf den Sommer 1916. Mit der Offensive wollten die Briten den französischen Bündnispartner entlasten, der bei Verdun die deutschen Angriffe abwehrte. Die Offensive begann am 24. Juni 1916 mit einem siebentägigen Dauerbeschuss auf die deutschen Stellungen. Über anderthalb Millionen Granaten schoss die britische Artillerie auf die deutschen Stellungen ab. Die Deutschen hatten in dem zweijährigen Stellungskrieg an der Somme ihr Verteidigungssystem zu unterirdischen Festungen ausgebaut. Dort waren sie verhältnismäßig sicher gegen den massiven Artilleriebeschuss. Es gab zahlreiche Verluste, wenn die deutschen Stellungen Volltreffer erhielten, doch eine völlige Zerstörung der deutschen Stellungsanlagen bewirkte das Trommelfeuer nicht. Am 1. Juli 1916 gingen 20 britische und 11 französische Divisionen zum Angriff über. Nach dem tagelangen Beschuss sollten sie die als zerstört oder verlassen geltenden deutschen Stellungen im Handstreich nehmen. Doch die Annahme, nur auf 24

Eindrucksvolle Einblicke in das Grauen des Kriegsgeschehens geben die Zeitzeugenberichte. So schrieb der französische Soldat Henri Nicolle: „Es ist ein Rennen auf Leben und Tod. Überall knallt es, von vorne, von hinten. Kameraden fallen. Schneller, schneller! Über Tote und Verwundete hinwegrennen. Im Wald steht kein einziger heiler Baum mehr: Hier und dort ragen noch Stümpfe empor; auf dem Boden ein Durcheinander von Steinen, von Granaten, Gewehrkugeln, Waffen, Umhängen, leblose Körper, vor Furcht und Schrecken zuckende Körper“. Ein anderer Kriegsteilnehmer erinnerte sich: „Der Krieg ist die grausamste Gewaltanwendung, und zwar nicht nur gegenüber dem Partner, sondern gegenüber den eigenen Soldaten. Es ist die rücksichtsloseste Despotie gegen wehrlos gemachte Massen, denen die Verfügung über ihr eigenes Leben entzogen ist. Hunderttausende werden auf Wunsch eines Einzigen geopfert. Und diese Massen wissen nicht, ob sie für ihr Recht oder Unrecht kämpfen. Sie haben keinen Einblick in die geheimen Machenschaften der Diplomatie und können nicht kontrollierend auftreten. So stirbt jemand, ohne zu wissen, warum und für wen.“ Karl Rosner, Tagebucheintrag vom 11. Juni 1916. Zit. nach: https://www.spiegel.de/geschichte/verdun-au genzeugen-berichte-erschiess-mich-kamerad-a-1075468.html (aufgerufen 18. Februar 2021). 25 Eugen Prager, Das Gebot der Stunde. Geschichte der USPD, Berlin/Bonn 1980, S. 33.

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IV. Der Kriegsverlauf

wenig Widerstand zu stoßen, erwies sich als falsch. Stattdessen gerieten die heranstürmenden britischen Soldaten unter massiven Maschinengewehr-Beschuss. Die Angreifer fielen scharenweise den deutschen Maschinengewehrstellungen zum Opfer. „Männer fielen wie Kegel“, schrieb ein Überlebender in einem Brief, und ein anderer notierte: „Ich sah mich um und war allein.“ Wie „geschnittene Maiskolben zur Erntezeit“ hätten die Toten gelegen.26 An diesem „dunkelsten Tag der britischen Militärgeschichte“ fielen 19 240 Mann, weitere 40 000 wurden verwundet oder vermisst. Angesichts der hohen Verluste änderte die britische Militärführung ihre Taktik. Anstelle von Frontalangriffen sollten an bestimmten Frontabschnitten Überraschungsangriffe durchgeführt werden. Dadurch stiegen jetzt auch die Verluste der Deutschen, da Falkenhayn die Aufgabe von Frontabschnitten, unabhängig von ihrer strategischen Bedeutung, untersagte. Außerdem sollten die deutschen Truppen nach der Abwehr eines Angriffs sofort zu einem Gegenangriff übergehen, wodurch sich auch die deutschen Verluste deutlich erhöhten. Im August und September versuchten die Briten mit Unterstützung der Franzosen die Offensive weiterzuführen, wodurch erstmals auch Panzer eingesetzt wurden. Doch auch der Einsatz dieser neuen Waffen brachte nicht den gewünschten Erfolg. Es entwickelte sich eine groß angelegte Materialschlacht, bei der auch massiv Giftgas eingesetzt wurde. Der „totale“ Krieg verwandelte die Gegend in eine Mondlandschaft. Ende August schrieb der nationalistische Schriftsteller Ernst Jünger, der die Schlacht an der Somme mitgemacht hatte, in sein Tagebuch: „Buchstäblich kein Grashalm. Jeder Millimeter umgewühlt, die Bäume ausgerissen, zerfetzt, zu Mulm zermahlen. Die Häuser niedergeschossen, die Steine zu Pulver zerstaubt (…). Und alles voller Toter, die hundertmal wieder umgedreht und von neuem zerrissen wurden“27. Die letzten Angriffe Ende Oktober bis Anfang November brachten nur geringe Geländegewinne für die Briten, aber große Verluste an Menschenleben auf beiden Seiten. Am 18. November befahl der britische General Douglas Haig den Abbruch der Offensive. Es gab keinen Sieger, nur Verlierer. Verloren hatten die meist jungen Soldaten auf beiden Seiten, die zu Zehntausenden ihr Leben in diesem mörderischen Krieg ließen oder verstümmelt wurden. Die deutsche Front hatte sich in der fast fünf Monate anhaltenden Schlacht auf einer Breite von 35 Kilometern lediglich um knapp 10 Kilometer verschoben. Aber über 450 000 britische und etwa 200 000 französische Soldaten wurden in der Schlacht an der Somme getötet oder verwundet. Die Verluste auf deutscher Seite lagen zwischen 420 000 bis 465 000 Mann. Das waren insgesamt mehr Tote und Verwundete als in der „Hölle von Verdun“. *

Während im Westen in erbitterten Stellungskämpfen um jeden Meter Boden gerungen wurde, ereignete sich im Osten, im Osmanischen Reich, eines der tra26

https://www.spiegel.de/geschichte/1-weltkrieg-die-schlacht-an-der-somme-ein-inferno-infrankreich-a-1120628.html (aufgerufen 10. Juli 2021). 27 Zit. nach: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/die-schlacht-an-der-somme-1916/ (aufgerufen 20. Juni 2021).

4. Die Tragödie an der Somme

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gischsten und furchtbarsten Menschheitsverbrechen – der Völkermord an den Armeniern. Als im August 1914 der Krieg ausbrach, blieb das Osmanische Reich zunächst neutral. Am 14. November 1914 trat es aber an der Seite der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg gegen die Entente ein. Das Osmanische Reich, das sich Ende des 19. Jahrhunderts vom Balkan über Anatolien und Mesopotamien bis nach Palästina und Ägypten erstreckte, war für das Deutsche Kaiserreich ein wichtiger strategischer Partner. Vom Osmanischen Reich aus wollte das Kaiserreich die Briten in Ägypten und in Persien angreifen, und der russischen Marine die Durchfahrt durch das Mittelmeer erschweren. Mit dem Bau der Bagdad-Bahn sollte außerdem eine durchgehende Bahnlinie von Berlin bis zum Persischen Golf geschaffen werden, um vor allem Rohstoffe in das Kaiserreich zu transportieren. Eine wachsende Zahl deutscher Militärberater übernahmen aktive Posten im osmanischen Heer.28 Im November 1914 befahl die osmanische Regierung eine groß angelegte Offensive im Kaukasus, um in früheren Kriegen an Russland verloren gegangene Gebiete zurückzuerobern. Unter dem jungen Oberbefehlshaber und Kriegsminister Enver Pascha begann eine überhastet geplante Winteroffensive gegen russische Stellungen im Kaukasus. Mit seiner fast 100 000 Mann starken Armee marschierte er Richtung Erzurum und weiter nach Osten, in eine unwegsame Hochgebirgsregion. Die Soldaten verfügten aber über keine adäquate Winterausrüstung in dieser im Winter kaum passierbaren Gegend. Bei Sarikamis¸ erlitt Envers Armee eine vernichtende Niederlage. Zehntausende Soldaten starben an Kälte, Hunger und Seuchen. Die Verluste beliefen sich schätzungsweise auf 90 000 Mann. Enver Pascha musste damit rechnen, für das von ihm verschuldete Desaster zur Rechenschaft gezogen zu werden. Um die Verantwortung für die leichtfertige Aktion zu verwischen, wurde eine Dolchstoßlegende konstruiert. Schuld an der militärischen Niederlage sei ein „innerer Feind“ – die Armenier.29 Teile der Armenier hatten die russische Armee in der Hoffnung auf Unabhängigkeit unterstützt, und auch armenische Freiwilligenbataillone hatten auf russischer Seite gekämpft. Doch die übergroße Mehrheit der Armenier – Zivilisten wie Soldaten – standen loyal zum Osmanischen Reich, viele Armenier hatten auch in Sarikamis¸ an der Seite des Osmanischen Reiches gekämpft. Die Armenier wurden aber kollektiv des Verrats und des Paktierens mit Russland beschuldigt. Deshalb sollten sie in Gebiete deportiert werden, wo sie nicht mehr mit den Russen paktieren könnten. Die Deportation der armenischen Bevölkerung begann dann auch in den umkämpften Gebieten des Ostens. Die „Umsiedlungsaktionen“ der armenischen Zivilbevölkerung – also die Vertreibung aus ihren Häusern, Dörfern und von ihrem Land, auf dem sie seit Generationen lebten – begann im April 1915. Die Armenier wurden in Massendeportationen aus ihren angestammten Wohneinheiten in die syrische Wüste und die mesopotamische Wüste verbannt. Armenisches Eigentum, wie 28 Vgl. Jürgen Gottschlich, Die Deutschen und der Völkermord. Osmanisch deutsche Allianzen. https://www.bpb.de/Geschichte/Zeitgeschichte/Genozid-an-den-Armeniern/218106/ deutschlands-rolle (aufgerufen 20. Januar 2021). 29 Elke Hartmann, Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich. Erinnerungskulturen 2020 https://erinnerung.hypotheses.org/8344 (aufgerufen 15. März 2021).

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IV. Der Kriegsverlauf

Grund und Boden, Häuser, Wohnungen sowie persönliches Hab und Gut, wurde entschädigungslos enteignet. Grundstücke von Deportierten wurden per Gesetz zwangsübertragen, Barmittel und zurückgelassene Gegenstände vereinnahmt. In Häusern verbliebene Möbel und Gegenstände wurden geplündert, Geld und Schmuck unterwegs geraubt. Max Erwin von Scheubner-Richter30, der „Vizekonsul“ von Erzurum, berichtete von katastrophalen Zuständen auf dem Marsch der Vertriebenen. „Hungernde Frauen und Kinder hätten sich vor seinen Wagen geworfen und um Brot gebettelt. Die Vertriebenen konnten zumeist nur wenig mitnehmen und wurden darüber hinaus oft auch noch ausgeraubt. In Berichten aus Konsulaten im Süden hieß es, Leichen von Armeniern würden den Euphrat und Tigris hinab angeschwemmt, offenbar fanden während der Deportationszüge Massaker an den Armeniern statt.“31 In den schließlich erreichten Lagern im heutigen Syrien starben die Armenier infolge mangelnder Ernährung an Auszehrung und Seuchen. In den Todesmärschen und Massakern in den Jahren 1915 und 1916 starben – die Schätzungen gehen da auseinander – zwischen 300 000 und 1,5 Millionen Armenier. In einer Erklärung der Entente-Mächte vom 24. Mai 1915 wurde der „Ausrottungsfeldzug gegen die Armenier“ als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt.32 Scheubner-Richter schrieb Ende Juli 1915 an den deutschen Botschafter in Kon30 Scheubner-Richter (1884 – 1923) kämpfte im Krieg mit dem 7. Bayrischen Regiment zunächst an der Westfront, wurde dann aber an die russische Front versetzt. Von leitenden Beamten des Auswärtigen Amtes in Berlin wurde der Plan entwickelt, die russischen Erdölfördergebiete hinter den russisch-türkischen Linien durch eine Sabotageaktion zu sprengen, um so den Eisenbahntransport und die Rohölzufuhr im Land zum Erliegen zu bringen. Als Kommandeur wurde Paul Schwarz ausgewählt, ihm zur Seite Scheubner-Richter gestellt, der am 19. Dezember in Erzurum eintraf. Zur Tarnung wurde Schwarz als Leiter und ScheubnerRichter als Stellvertreter des deutschen Konsulats in Erzurum ausgegeben. Die geplante Sabotageaktion schlug fehl, Schwarz war niedergeschlagen nach Deutschland zurückgekehrt. Scheubner-Richter hatte sich aber inzwischen im Konsulat als „Konsulatsverweser“ eingerichtet und gab sich gegenüber Besuchern sogar zeitweise als Attaché aus. In dieser Zeit wurde er auch Zeuge an den Verbrechen wehrloser Menschen in den Armeniergebieten. Nach dem Krieg beteiligte er sich am Kapp-Putsch. „Reichskanzler“ Wolfgang Kapp hatte ihn als Chef des Nachrichtendienstes vorgesehen. Im Oktober 1920 traf er Adolf Hitler und wurde in der Folgezeit dessen außenpolitischer Berater und zugleich einer der entscheidenden finanziellen Förderer der jungen NSDAP, da er gute Verbindungen zu Industriellen und preußischen Junkern und Aristokraten hatte. Scheubner-Richter vermittelte Hitler auch den Kontakt zu Fritz Thyssen, der dann zum finanziellen Förderer der NSDAP wurde, zu einem Zeitpunkt, als sich noch die übrigen Großindustriellen weitgehend zurückhielten. Am Hitlerputsch beteiligte sich Scheubner-Richter an führender Stelle. Er war es, der Erich Ludendorff mit dem Auto abholte und zu den Aufständischen in den Münchener Bürgerbräukeller brachte. Neben Hitler, Ludendorff und Hermann Göring marschierte er an der Spitze des Demonstrationszuges zur Münchener Feldherrenhalle und wurde am Odeonsplatz bei einem Schusswechsel tödlich getroffen. 31 J. Gottschlich, Die Deutschen und der Völkermord (wie Anm. 28 auf S. 53). 32 Vgl. Annette Schaefgen, Von der treuen millet zum Sündenbock oder Die Legende vom armenischen Dolchstoß. Der Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Vorurteil und Genozid. Ideologische Prämissen des Völkermords. Böhlau, Wien 2010, S. 53.

5. Dritte Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff

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stantinopel (dem heutigen Istanbul), Hans Freiherr von Wangenheim, dass von Anhängern der radikaleren Richtung der Türken unumwunden zugegeben wurde, dass das Endziel des Vorgehens gegen die Armenier die gänzliche Ausrottung derselben in der Türkei sei. Nach dem Kriege werden wir „keine Armenier mehr in der Türkei haben“, soll eine maßgebliche türkische Führungsperson gesagt haben.33 Aufgrund dieser Berichte schrieb Wangenheim an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg: „Die Umstände und die Art wie die Umsiedlung durchgeführt wird“, zeigten, „dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten.“34 Aber weder Wangenheim noch die deutsche Regierung haben gegen den Völkermord protestiert und Konsequenzen angedroht, wenn das Morden nicht gestoppt werde.35 Auch hohe deutsche Militärs wie Generalstabschef Fritz Bronsart von Schellendorf, Admiral Wilhelm Souchon und Marineattaché Hans Humann unterstützten die türkischen Machthaber in ihrer Politik der Vernichtung der Armenier. Botschafter Hans Freiherr von Wangenheim verstarb überraschend im Oktober 1915 an einem Schlaganfall. Nachfolger wurde Paul Graf Wolff Metternich. Im Gegensatz zu Wangenheim war ihm das Schicksal der Armenier nicht gleichgültig. Metternich forderte im Dezember 1915 in einem Bericht nach Berlin: Die deutsche Öffentlichkeit müsse endlich erfahren, was mit den Armeniern im Osmanischen Reich passiert, und die deutsche Regierung müsse endlich ernsthaft mit Sanktionen drohen. Doch Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg wollte davon nichts wissen. „Unser einziges Ziel ist es“, so entschied er, „die Türken bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Krieg werden wir die Türken noch gebrauchen.“36 Die deutsche Regierung wusste also von den Massakern, von dem barbarischen Verbrechen. Sie unterließ es aber, den Bundesgenossen von seinem Tun abzuhalten, ihn auch nur zu kritisieren – aus Angst, einen Verbündeten im Kriege zu verlieren. Die Regierung des deutschen Kaiserreiches trägt eine Mitschuld am Völkermord an den Armeniern.

5. Dritte Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff Mit dem Scheitern des deutschen Angriffs auf Verdun, den verlustreichen Kämpfen an der Somme, aber auch mit dem Kriegseintritt Rumäniens aufseiten der Alliierten im August 1916 hat sich der Dauerkonflikt zwischen Ober Ost und Falkenhayn weiter zugespitzt. Ludendorff hatte bereits am 2. Januar 1915 in einem Brief 33 Vgl. Wolfgang Gust, (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes, Springer 2005, S. 219. 34 Zit. nach: J. Gottschlich, Die Deutschen und der Völkermord (wie Anm. 28 auf S. 53). 35 Ebd. 36 Zit. nach: ebd.

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IV. Der Kriegsverlauf

an Moltke Falkenhayn einen „Spieler“ genannt. „Herr v. Falkenhayn ist ein Unglück für uns, er ist ein Spieler sein Leben lang gewesen und kennt nur seinen Ehrgeiz, nicht das Vaterland.“37 Falkenhayn seinerseits bezeichnete Ludendorff als „nicht normal“. „Er sei heute fester wie je überzeugt, daß General Ludendorff geistig nicht normal sei.“ Dies habe er schon vor dem Kriege vermutet, im Kriege sei ihm aber diese Vermutung zur Gewissheit geworden. Es wäre ein großes Unglück für unser Vaterland, „wenn General Ludendorff an die Spitze der Heeresleitung treten würde“.38 Im Juli 1916 hatten sich die Spannungen zwischen Falkenhayn und dem Gespann Hindenburg-Ludendorff noch einmal verschärft. Industrielle wie Carl Duisberg, Emil Kirdorf und Ernst Poensgen sowie Paul Rohrbach und Walter Rathenau sprachen sich dafür aus, die militärische Leitung an Hindenburg und Ludendorff zu übertragen und den beiden Offizieren diktatorische Vollmachten, auch im Zivilbereich, zu geben. Auch Bethmann Hollweg setzte sich für einen Wechsel an der Spitze der Heeresleitung ein und schlug dem Kaiser Ludendorff als Chef des Generalstabs vor – nicht ahnend, dass er nur wenige Monate später selber Opfer dieser Kräfteverschiebung werden sollte.39 Wilhelm II. lehnte jedoch ab. Ludendorff sei ihm unsympathisch. „Ludendorff würde er niemals zum Chef nehmen, er sei ein zweifelhafter von persönlichem Ehrgeiz zerfressener Charakter.“40 Schließlich gab aber Wilhelm II. dem Druck nach. Hindenburg hatte mehrfach unverblümt Falkenhayns Entlassung gefordert, und zwar in Form von Ultimaten, d. h. unter Drohung mit seinem Abschiedsgesuch.41 Falkenhayn wurde am 28. August 1916 entlassen, und bereits einen Tag später ernannte Wilhelm II. Paul von Hindenburg zum Chef des Generalstabs des Feldheeres. Ludendorff stieg zum General der Infanterie und Stellvertreter Hindenburgs auf, zum eigentlichen Kopf der deutschen Kriegsführung. Der große Generalstab wurde ersetzt durch die Oberste Heeresleitung (OHL); eine nochmals stärkere Konzentration von Macht in der Hand von Ludendorff war die Folge. Während Hindenburg für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig war, zog eigentlich Ludendorff nunmehr die Fäden. Beide hatten in der bereits verfahrenen Situation des Kriegsverlaufs eine nahezu unangreifbare Machtstellung, neben der die Rolle Kaiser Wilhelms II. und die des Reichskanzlers Bethmann Hollwegs zunehmend verblasste. Das „Marne-Debakel“ hatte offenbart, dass ein kurzer Krieg eine Illusion war. Damit brach nicht nur eine militärische Strategie in sich zusammen, es häuften sich auch die wirtschaftlichen Probleme. Denn das Kaiserreich war auf einen längerfristigen Krieg wirtschaftlich nicht vorbereitet. In Erwartung eines schnellen Sieges über die Entente-Staaten hatte die Führung des Kaiserreiches keinerlei Vorkehrungen für die Rohstoffversorgung und die Versorgung des Heeres mit Munition und Ma37

M. Nebelin, Ludendorff, S. 176. H. Afflerbach, Falkenhayn, S. 248. 39 Vgl. M. Nebelin, Ludendorff, S. 178. 40 G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Band 3, S. 65. 41 Vgl. ebd., S. 68. 38

5. Dritte Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff

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terial über einen längeren Zeitraum getroffen. Zwar wurden mit dem am 4. August 1914 verabschiedeten „Ermächtigungsgesetz“ gesetzliche Voraussetzungen für die Organisation der Kriegswirtschaft geschaffen,42 die Kriegswirtschaftspolitik blieb aber dennoch in zentralen Punkten eher ziellos. Mit der Einrichtung einer Kriegsrohstoffabteilung (KRA) am 13. August 1914 wurde die Organisation der Rüstungsproduktion in Angriff genommen.43 Aber auch diese Maßnahmen änderten nichts daran, dass das deutsche Kaiserreich kriegswirtschaftlich den Entente-Staaten unterlegen war. Als Ende August 1916 Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff die Dritte Oberste Heeresleitung übernahmen, war die militärische Lage für das Kaiserreich äußerst angespannt. Der erstarrte Stellungskrieg an den Fronten wurde zu einem „Abnutzungskrieg“, der immer mehr Menschen und Material verschlang. Daraus ergab sich die Notwendigkeit eines stetigen Nachschubs von Soldaten und Ausrüstungsgütern. Die Schlachten von Verdun und an der Somme hatten die materielle Überlegenheit der Entente offensichtlich gemacht. Unter dem Druck der 42

Mit dem Gesetz wurde der Bundesrat zu wirtschaftlichen Maßnahmen ermächtigt. Seit Beginn des Krieges hatten die Kriegsgegner Deutschlands durch Blockademaßnahmen die Einfuhr von Rohstoffen behindert. Walther Rathenau, damals Vorstandsvorsitzender AEG, und der Wirtschaftspolitiker Wichard von Moellendorff, hatten schon früh auf die zu erwartenden Folgen für die Industrie hingewiesen und eine staatliche Rohstoffbewirtschaftung angeregt. Am 13. August 1914 verfügte daraufhin der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn die Errichtung einer seinem Ministerium angegliederten Rohstoffabteilung (KRA) und ernannte Walther Rathenau zu deren Leiter. Die Aufgabe der KRA war die Beschaffung, Verwaltung und Verteilung der für die Industrie wichtigen Rohstoffe. Eine erste Erhebung aller vorhandenen Rohstoffe durch die KRA hatte ergeben, dass die Vorräte an kriegswichtigen Rohstoffen nur etwa ein halbes Jahr reichen würden. Daraufhin wurden bei rund 5 000 Firmen die Metallvorräte beschlagnahmt und der Rüstungsindustrie zugeführt. Als absehbar war, dass der Krieg einen langen Verlauf annehmen werde, erfasste die KRA zwischen Frühjahr 1915 und Sommer 1916 alle in Deutschland vorhandenen Rohstoffe und überwachte deren Verwaltung. Um die Produktion der Rüstungsindustrie trotz des immer größer werdenden Rohstoffmangels zu sichern, unterstützte die KRA die wissenschaftliche Entwicklung und Produktion von Ersatzstoffen, etwa durch das „Haber-Bosch-Verfahren“ und andere rohstoffsparende Produktionsverfahren. „Während Rathenau zur Sicherung der Rohstoffversorgung mehr Gewicht auf die - völkerrechtswidrige - Requisition von Rohstoffen in den okkupierten Gebieten legte, entwickelte Moellendorff ein Konzept zur staatlich gelenkten Mangelbewirtschaftung, auf dessen Grundlage in einer Mischung aus staatlichem Dirigismus und industrieller Selbstverwaltung für rund 200 Wirtschaftsbereiche eigene Kriegsrohstoffgesellschaften gebildet wurden.“ Diese Kriegsrohstoffgesellschaften organisierten in einem Zusammenspiel von wirtschaftlicher Selbstverwaltung und militärstaatlicher Aufsicht die Erfassung kriegswichtiger Rohstoffe und ihre Verteilung, insbesondere an die großen Industrieunternehmen. Diese Organisationsform brachte vor allem den großen Rüstungskonzernen enorme Aufträge und Kriegsgewinne. Da in den staatlichen Kontrollinstanzen vor allem Fachleute aus der Industrie saßen, konnten insbesondere die schwerindustriellen Großkonzerne ihr Interesse in hohem Maße durchsetzen. Vgl. Wolfgang Kruse, Der Erste Weltkrieg, 2. Auflage, Darmstadt 2014, S. 40. „Auf Dauer aber konnte die bis 1918 auf 2 500 Mitarbeiter angewachsene KRA die deutsche Kriegsfähigkeit nicht sichern, auch eine noch so gut organisierte Verwaltung des Mangels konnte den überlegenen Ressourcen der Alliierten nichts Gleichwertiges entgegensetzen.“ Zit. nach Burkhard Asmuss, Die Kriegsrohstoffabteilung. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/erster-weltkrieg/industrie-und-wirtschaft/kriegsrohstoffabtei lung.html (aufgerufen 4. Januar 2021). 43

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IV. Der Kriegsverlauf

Materialschlachten drohte in Deutschland eine neue Versorgungskrise. An allen Frontabschnitten wurde der Ruf nach zusätzlicher Munition immer lauter. Hinzu kamen die Materialanforderungen, die nach dem Kriegseintritt Rumäniens für den bevorstehenden Krieg im Südosten Europas zu erwarten waren. Die neue OHLFührung reagierte auf diese neue Situation umgehend: Mit dem „Hindenburg-Programm“ sollte eine weitere außerordentliche Steigerung der Rüstungsproduktion erzwungen werden. Ziel des Programms war es, bis zum Frühjahr 1917 die Munitionsproduktion zu verdoppeln, ebenso die Produktion von Minenwerfern. Die Geschütz- und Maschinengewehrproduktion sollte gar verdreifacht werden. Zu diesem Zweck sollte die Rüstungsproduktion effizienter und eine umfassende Mobilisierung der knappen Arbeitskraft organisiert werden. Im Großen Generalstab hatte der für Bewaffnung und Munition zuständige Abteilungsleiter, Oberstleutnant Max Bauer, frühzeitig auf die bestehenden Probleme hingewiesen und Ludendorff hierüber berichtet. Bauer stand in Verbindung mit einflussreichen Industriellen wie Carl Duisberg und Gustav Krupp, die Bauer in seinem Drängen auf eine Steigerung der Munitions- und Kriegsgeräteproduktion unterstützten. Zusammen mit Ludendorff entwickelte er ein Konzept zur Steigerung der Rüstungsproduktion sowie zur Schaffung von Arbeitsplätzen. In einem von Bauer entworfenen mit Ludendorff abgestimmten Schreiben vom 31. August 1916 schilderte Hindenburg dem Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn die prekäre Lage und regte an, „sofort die Hauptvertreter der in Betracht kommenden Industriezweige zu einer Besprechung einzuladen, wo ihnen der Ernst der Lage entwickelt und sie aufgefordert werden, umgehend bestimmte Vorschläge für die Steigerung der Fertigung und die dazu nötigen Maßnahmen zu machen“. Nur durch „unbedingtes Ausnutzen aller unserer Kräfte und vor allem unserer hoch entwickelten Industrie im Dienste des Krieges“ kann ein Sieg erreicht werden, hieß es.44 Wild von Hohenborn lud daraufhin die führenden Industriellen des Reiches für den 16. September 2016 zu einer Besprechung in das Kriegsministerium in Berlin ein. In der Besprechung schilderte Duisberg die Situation in der chemischen Industrie und sicherte Ludendorff zu, dass die Pulverproduktion in kürzester Zeit um fünfzehn bis zwanzig Prozent gesteigert werden könne und versprach ihm, „was die chemische Industrie anbetrifft, alles zu tun, was möglich ist, um Eurer Exzellenz weiter zu helfen“.45 In der Folgezeit wurde auf Duisbergs Initiative hin in den Bayer-Labors im Leverkusener Stammwerk die Giftgasforschung intensiviert. Eng kooperierte er dabei mit dem Chemiker-Kollegen Fritz Haber. Es gelang, ein Gas zu entwickeln, welches sich gegenüber dem Chlorgas als fünfzigmal giftiger erwies. Es wurde am 12./13. Juli 1917 von Ludendorff während der Flandern-Schlacht bei Ypern eingesetzt.46 Verschiedene Konferenzteilnehmer waren von der Besprechung im Kriegsministerium sehr angetan. So erklärte Gustav Stresemann, der Syndikus des Bundes 44

Zit. nach: M. Nebelin, Ludendorff, S. 247. Zit. nach: ebd., S. 249. 46 Vgl. ebd., S. 251. 45

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der Industriellen und Reichstagsabgeordneter der Nationalliberalen Partei, in einer Rede vor der Hauptversammlung des Verbandes am 24. Oktober 1916, er stimme völlig mit der Ansicht der Dritten Obersten Heeresleitung überein, dass im Laufe des Winters ganz Deutschland eine einzige Munitionsfabrik werden müsse. In einer vielbeachteten Rede im Düsseldorfer Industrie-Club forderte Carl Duisberg die Unternehmer zu größten Anstrengungen auf: „Wenn es uns gelingt, das HindenburgProgramm rechtzeitig fertigzustellen, dann können, dann müssen, dann werden wir siegen.“47 Die Beseitigung des Arbeitskräftemangels war die entscheidende Voraussetzung für die im „Hindenburg-Programm“ angestrebte Produktionssteigerung. In einem Schreiben vom 13. September 1916 an den Reichskanzler konkretisierte Hindenburg seine diesbezüglichen Lösungsvorschläge. Der Entwurf war wiederum von Oberstleutnant Bauer verfasst worden. Darin wurde von Bethmann Hollweg eine Erweiterung des aus dem Jahre 1873 stammenden Kriegsleistungsgesetzes gefordert. Es gehe darum, „die Arbeitskraft jedes einzelnen voll auszunutzen“. In dem Schreiben wurde betont, dass die Steigerung der Kriegsindustrie für den Ausgang des Krieges von entscheidender Bedeutung sei. Dabei sei es ausgeschlossen, dass diese Frage ohne einschneidende gesetzliche Maßnahmen erledigt werden könne. Im Einzelnen wurde gefordert: die Einstellung aller zurzeit Untauglichen, die an heilbaren Krankheiten leiden; die Erhöhung der Lebensaltersgrenze für die Wehr- bzw. Landsturmpflicht sowie eine energische staatliche Ausbildung der männlichen Jugend vom 16. Lebensjahre an für den Militärdienst. Um den enormen Personalbedarf der Rüstungsindustrie zu decken, seien Arbeiter aus fast stillstehenden Industriezweigen – wie die Textilbranche – zu verpflanzen und das Personal der gesamten Nichtindustrie – wie die Warenhäuser – einzuschränken und anders zu verwenden. Außerdem wird die Ausdehnung des Kriegsleistungsgesetzes auch auf die „abkömmlichen Frauen“ gefordert. „Es gibt ungezählte Tausende von kinderlosen Kriegerfrauen, die nur dem Staat Geld kosten. Ebenso laufen Tausende Frauen und Mädchen herum, die nichts tun oder höchst unnützen Berufen nachgehen. Der Grundsatz ,Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘ ist in unserer jetzigen Lage mehr denn je berechtigt, auch den Frauen gegenüber.“ Universitäten und Hochschulen sollten für die Dauer des Krieges geschlossen werden. Dies war in den Augen der Militärs auch lediglich ein „Gerechtigkeitsakt“, weil dadurch verhindert werde, dass „jetzt nicht wehrfähige Männer und Frauen den im Felde stehenden kämpfenden Studenten usw. den Rang ablaufen und in Zukunft die Stellen wegnehmen“. Es sei eine schreiende Ungerechtigkeit – so wurde weiter ausgeführt –, „dass ein Teil der Männer (und zwar durchschnittlich die kräftigsten und für den Staat wertvollsten) Leib und Leben vor dem Feinde einsetzt und beruflich auf das schwerste geschädigt wird, während die anderen in Sicherheit daheim sitzen und leider vielfach nur für ihren Gewinn arbeiten“. Arbeit für das Allgemeinwohl sei jetzt Pflicht für alle und es gäbe keinen Anspruch auf besondere Rechte. Zum Schluss wurde in dem Brief die 47

Zit. nach: ebd.

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IV. Der Kriegsverlauf

Erwartung geäußert, „dass unser Volk, wenn ihm der Ernst der Lage klargemacht wird – und das muß geschehen –, sich willig fügt. Täte es dies nicht, so wäre Deutschland nicht des Sieges wert“. Außerdem sei es höchste Zeit, dass den „unberufenen Schreiern und Hetzern, ebenso wie der stellenweise herrschenden unwürdigen Gewinn- und Vergnügungssucht endlich das Handwerk gelegt wird (…)“. „Das ganze deutsche Volk darf nur im Dienste des Vaterlandes leben (…).“48 Eine Abschrift des Briefes wurde an den Kriegsminister gesandt, und es kann davon ausgegangen werden, dass der Inhalt des Briefes auch in der Besprechung Wild von Hohenborns mit den Industriellen am 16. September 1916 zur Sprache kam. Besprochen wurde auch noch ein anderer Aspekt: die Frage, wie weitere Arbeitskräfte zur Steigerung der Rüstungsgüterproduktion herangezogen werden können. Es war wiederum Duisberg, der eine Idee Ludendorffs aufgreifend den Vorschlag machte, Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten zu deportieren.49 In Belgien gäbe es allein annähernd 700 000 Arbeitslose, darunter viele Facharbeiter. Wild von Hohenborn reagierte zurückhaltend. Er bezweifelte, dass durch Zwang qualifizierte Facharbeiter für die deutsche Wirtschaft gewonnen werden könnten. Auch der deutsche Generalgouverneur in Belgien, Moritz Ferdinand von Bissing50, der ansonsten das besetzte Belgien mit harter Hand regierte, war skeptisch: Eine lückenlose Erfassung der etwa 700 000 belgischen Arbeitslosen sei undurchführbar 48 Zit. nach: Wolfgang Kruse, Ökonomie des Krieges. In: Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/ersterweltkrieg/177509/oekono mie-des-krieges (aufgerufen 29. Januar 2021); vgl. auch E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, S. 243. 49 Am 25. Februar 1917 erklärte Duisberg auf der Adlon-Konferenz zu den 60 000 bis 80 000 Arbeitern in Flandern: „Man würde sich freuen, wenn diese Leute, die den ganzen Tag faulenzten, und als solche schon eine Gefahr bedeuteten, sobald als möglich abgeschoben würden.“ Zit. nach: M. Nebelin, Ludendorff, S. 253. 50 Bissing (1844 – 1917) wurde am 24. November 1914 von Kaiser Wilhelm II. zum Generalgouverneur von Belgien ernannt. In einer im Februar 1915 verfassten Denkschrift entwickelte er die Grundsätze seiner Okupationsverwaltung. Wichtigste Aufgabe sei es dabei, die Angliederung Belgiens an das deutsche Reich vorzubereiten. Dabei sei er von der Absicht bestimmt, „mit möglichster Rücksichtslosigkeit und ohne unwürdige Nachgiebigkeit gegen des dreiste Ausland Deutschlands Interessen allein zur Geltung zu bringen“. Die Belgier sollten an den Gedanken gewöhnt werden, dass ihr Land „in irgendeiner Form zur Machterweiterung Deutschlands benutzt wird“. Er wollte „die Bevölkerung zur Ordnung erziehen, sie dem Deutschtum näher bringen und zur Anerkennung der Vorteile eines strafferen Regiments zwingen“, weil nur so Belgien „zu einer brauchbaren Vorpostenstellung für Deutschlands Kraft und Macht werden könne“. Zit. nach: G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Band 3, S. 434. Er regierte das besetzte Belgien ziemlich rigoros und zum Teil auch brutal. So hat er das am 11. Oktober 1915 in Brüssel ergangene Todesurteil gegen die britische Krankenschwester Edith Cavell für angemessen gehalten und bestätigt. Cavell hatte nach der Besetzung Belgiens, bei der die deutschen Militärs zahlreiche Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung begangen hatten, vor der Verhaftung untergetauchte, verwundete alliierte Soldaten heimlich in ihrem Krankenhaus gesund gepflegt und ihnen anschließend zur Flucht in die Niederlande und nach Großbritannien verholfen. Außerdem hat er die Hinrichtung Gabrielle Petits am 1. April 1916 genehmigt, die militärische Geheimnisse an die Alliierten verraten haben soll.

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und ihre massenhafte Zwangsabführung nach Deutschland völkerrechtswidrig. Dies könnten die schwersten Folgen haben: Es könnten Unruhen, ja sogar Aufstände ausbrechen, denen die deutschen Besatzungstruppen nicht gewachsen wären.51 Eine erneute deutsche Völkerrechtsverletzung hätte außerdem fatale politische Auswirkungen auf die neutralen Staaten und die USA, zumal auch in den Augen Bissings eine Zwangsdeportation volkswirtschaftlich völlig sinnlos sei: Widerwillig gezwungene Arbeiter würden keine Qualitätsarbeiter sein, sondern nur unnötige Esser, die keinen Ersatz für die einberufenen Wehrpflichtigen darstellten.52 Bissing musste schließlich seinen Widerstand aufgeben. Ab Ende Oktober 1916 liefen die zum Teil mit äußerster Brutalität durchgeführten Deportationen an.53 „Das Ganze wirkte wie ein regelrechter Sklavenmarkt und Sklaventransport (…) Den schauderhaften Eindruck auf die Bevölkerung, die Verzweiflung der Zurückbleibenden, vielfach ohne Abschied verlassenen Familien brauchen wir nicht erst zu schildern, ebensowenig die Leiden der Abtransportierten, die oft ohne warme Kleidung und Unterkleidung und ohne alles Gepäck abgeführt wurden, auf endlosen Pfaden, in Güter- oder Viehwagen während eines besonders naßkalten Winters und bei dürftiger Verpflegung massenhaft erkrankten und ihre Lagerbaracken in körperlich und seelisch vielfach trostlosem Zustand erreichten.“54 Der Nutzen blieb allerdings gering, dagegen war der außenpolitische Schaden umso größer. Der deutsche Name „geriet nun vollends in Verruf, und die Welt fand das Schreckenbild des preußisch-deutschen Militarismus aufs neue bestätigt. Es hagelte diplomatische Proteste der Neutralen aus Spanien, der Schweiz, Holland, der päpstlichen Kurie, vor allem aus Amerika, wo man den mündlichen Vorstellungen bald eine Protestnote folgen ließ“.55 Die belgischen Behörden verweigerten jede Zusammenarbeit mit den deutschen Dienststellen, und von den willkürlich Deportierten waren eine beträchtliche Anzahl arbeitsuntauglich und mussten wieder in die Heimat zurückgeschickt werden. Die katastrophalen hygienischen Verhältnisse in den „Unterkunftsstätten“ fanden zudem zahl-

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Vgl. G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Band 3, S. 439. Vgl. M. Nebelin, Ludendorff, S. 254. 53 Zusätzlich wurden in den besetzten östlichen Gebieten Arbeiter angeworben und zum Teil zwangsdeportiert. Betroffen waren davon vor allem polnische Juden. Mit der „Verordnung zur Bekämpfung der Arbeitsscheu“ wurde die juristische Grundlage für die verstärkte Zwangsarbeit geschaffen. In Warschau und Lodz wurden Sammelplätze für Zwangsarbeiter eingerichtet. Allein aus der Gegend von Lodz wurden etwa 5 000 Personen zwangsverpflichtet und überwiegend in Arbeitsbataillone gesteckt und beim Eisenbahnbau in Ostpreußen eingesetzt. Die meisten der in Lodz zwangsverpflichteten Menschen waren Juden. Unter ihnen waren auch Alte, Kranke und Jugendliche. Ähnlich wie die Kriegsgefangenen waren sie in Barackenlagern untergebracht. Als gegen die Zwangsarbeit im In- und Ausland – darunter auch von vielen jüdischen Organisationen – die Prostete immer lauter wurden, kehrte das deutsche Kaiserreich gegen Ende des Krieges zur Anwerbepolitik zurück und die Arbeitsbedingungen der angeworbenen Arbeiter wurden gelockert. Gegen Kriegsende lebten zwischen 500 000 und 600 000 polnische Arbeitskräfte in Deutschland. 54 G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Band 3, S. 446. 55 Ebd., S. 447 f. 52

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IV. Der Kriegsverlauf

reiche Todesopfer.56 Insgesamt wurden 120 000 belgische Bürger zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt, 3 600 von ihnen starben in Deutschland.57 Die Deportation kam erst Anfang Februar 1917 zum Stillstand, nachdem auch Ludendorff den Misserfolg eingesehen hatte. Ludendorff hatte darauf bestanden, dass zur Durchführung des geplanten Kriegsleistungsgesetzes ein zentrales Kriegsamt gebildet werde. Die Leitung sollte seiner Ansicht nach beim Militär liegen. Sein Favorit für die Position des Leiters war von Beginn an Generalmajor Wilhelm Groener. Kaiser Wilhelm II. und schließlich auch Bethmann Hollweg konnten für die Gründung eines Kriegsamtes gewonnen werden. Allerdings bestanden sie darauf, dass das Kriegsamt formal dem Kriegsministerium unterstellt blieb. Ludendorff lenkte schließlich ein, forderte aber im Gegenzug einen Wechsel an der Spitze des Kriegsministeriums. Der neue Kriegsminister müsse sich auf das neue Programm einschwören, lautete sein Argument. Kritisiert wurde der Kriegsminister sowohl von der Dritten Obersten Heeresleitung wie auch von der Industrie wegen seiner „Zögerlichkeit“. Bethmann Hollweg pflichtete dem bei, und so wurde am 28. Oktober 1916 Wild von Hohenborn entlassen.58 Nachfolger wurde General Hermann von Stein – ein Vertrauter von Ludendorff und Hindenburg. Bereits am 1. November 1916 unterbreitete er zwei wichtige kaiserliche Beschlüsse: Es wurde ein Kriegsamt mit Wilhelm Groener ins Leben gerufen, „zur Leitung aller mit der Gesamtkriegsführung zusammenhängenden Angelegenheiten der Beschaffung, Verwendung und Ernährung der Arbeiter sowie der Beschaffung von Rohstoffen, Waffen und Munition“.59 Außerdem wurden die örtlichen Generalkommandos dem Kriegsamt unterstellt. Formal war das Kriegsamt dem Kriegsminister untergeordnet, doch in der Praxis erhielt Groener seine Weisungen direkt von Ludendorff. Das Kriegsministerium verlor zunehmend an politischem Einfluss. Die Pläne aus dem Großen Hauptquartier zur Steigerung der Rüstungsgüterproduktion lösten vielfach Empörung und Entsetzen aus. Sie stießen auch auf den Widerstand von Bethmann Hollweg. Er wandte sich insbesondere gegen die Zwangsverpflichtung der Arbeiter und gegen die allgemeine Dienstpflicht für Frauen. „Die Annahme, es könnten für die Waffen- und Munitionsfabriken neue männliche Arbeitskräfte in beträchtlichem Umfang im Wege des Zwanges durch die 56

Für diese Unterkunftsstätten wurde auch zeitweise der Terminus „Konzentrationslager“ verwendet. Vgl. M. Nebelin, Ludendorff, S. 621. Vor allem das Auswärtige Amt hatte darauf gedrängt, die Bezeichnung „Konzentrationslager“ nicht mehr offiziell zu verwenden. 57 Laurence van Ypersele, Belgien. In: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz, (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2005, S. 45 ff. 58 In sein Tagebuch schrieb er: „Es setzte (…) ein Hereinreden, Kritisieren und Besserwissenwollen, fast Befehlen seitens Hindenburg und Ludendorffs ein, daß man von einem Kriegsminister des Königs von Preußen kaum mehr sprechen konnte“. Er sei verantwortlicher Kriegsminister und könne keine Detailbefehle hinsichtlich der Führung der Geschäfte von Ludendorff entgegennehmen, erklärte er. Zit. nach: M. Nebelin, Ludendorff, S. 259. 59 Zit. nach: M. Nebeling, Ludendorff., S. 260.

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Überführung aus anderen Industriezweigen oder durch die Einführung einer Arbeitspflicht für arbeitsfähige, aber jetzt nicht arbeitende Männer gewonnen werden, erscheint mir nicht begründet.“60 Ferner wandte er sich gegen die Schließung der Universitäten, da alle irgendwie körperlich brauchbaren Studierenden bereits zum Heeresdienst eingezogen seien. Allerschwerste Bedenken hegte Bethmann Hollweg gegen die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für die Frauen. „Es kann der deutschen Industrie und Bevölkerung die Anerkennung nicht versagt werden, daß sie es in geradezu bewunderungswürdiger Weise verstanden habe, sich den Bedürfnissen der Kriegswirtschaft anzupassen und ihre Betriebe in überraschend kurzer Zeit und mit vollem Erfolg aus freiem Antrieb in den Dienst der Vaterlandsverteidigung zu stellen. Ich besorge, daß durch zwangsweise in ihrem praktischen Ergebnis von vornherein auf ganz geringfügige Wirkungen beschränkte Eingriffe von außen her diese gesunde Anpassung stört und der ganze Aufbau unserer Wirtschaft ins Wanken gebracht werden könnte.“ Die von der Obersten Heeresleitung ausgewiesenen Pläne hielt er aus innenpolitischen Erwägungen für problematisch. Er befürchtete, dass die Zustimmung der Bevölkerung zum Krieg schwinden, und dass der „ganze Aufbau unserer Wirtschaft ins Wanken“ geraten könnte. „Wir würden in unserem wirtschaftlichen Körper, dessen Atmen und Arbeiten nicht restlos durch obrigkeitliche Anordnungen ersetzt werden kann, eine geradezu lebensgefährliche Störung hervorrufen; wir würden – was auch nicht übersehen werden darf – die Zuversicht der Bevölkerung, die wir zum Siegen brauchen, einer kaum tragbaren Belastung unterwerfen.“61 Zu den Plänen der Zwangsdeportation ausländischer Arbeiter aus Belgien und Polen leistete Bethmann Hollweg keinen nennenswerten Widerstand. Er machte lediglich den Einwand, dass er „einer verstärkten Anwerbung auf freiwilliger Grundlage den Vorzug gab“.62 Insgesamt ist es jedoch gelungen, das „HindenburgProgramm“ in entscheidenden Punkten zu entschärfen. Dies lag nicht nur an den Vorbehalten Bethmann Hollwegs, sondern vor allem auch an den Einwänden, die von liberaler und sozialdemokratischer Seite sowie von den Gewerkschaften erhoben wurden. Da die OHL in der Schlacht an der Somme einen Durchbruch des Gegners befürchtete und den Versorgungsproblemen im Hinterland Rechnung tragen musste, war sie gezwungen, Zugeständnisse zu machen und bestimmte Änderungsvorschläge zum Gesetz zu akzeptieren. Ludendorff hatte mit Nachdruck darauf gedrängt, dass das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst noch vor der Weihnachtspause verabschiedet werde. An den Präsidenten des Reichstags schrieb er am 23. November 1916: „Die Nachricht über die bevorstehende Einbringung des Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst hat bei unseren Gegnern einen tiefen Eindruck gemacht. Wir werden ihn noch stark vergrößern, wenn die Annahme des Gesetzes durch den Reichstag sich zu einer gewaltigen Kundgebung des einmütigen Willens des gesamten Volkes, alles an den 60

Zit. nach: ebd., S. 256. Zit. nach: ebd., S. 257. 62 E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, S. 244. 61

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IV. Der Kriegsverlauf

Sieg zu setzen, gestaltet (…) Das nächste Jahr wird die Entscheidung bringen, zu der wir uns und unsere Gegner sich wappnen. Derjenige, der am schnellsten und rücksichtslosesten die Volkskraft in den Dienst des Krieges stellt, wird siegen. Jeder Tag, um den wir das Gesetz hinausschieben, bringt die Gefahr, dass wir zu spät kommen (…).“63 Das schließlich am 5. Dezember 1916 in Kraft getretene „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst“ – auch Hilfsdienstgesetz genannt – entsprach nur zum Teil den von der OHL entwickelten Vorstellungen. Es war deutlich gemäßigter formuliert als das „Hindenburg-Programm“. Frauen wurden vom Arbeitszwang ausgenommen. Dagegen ermöglichte das Gesetz die Zwangsarbeit für Kriegsgefangene und deportierte belgische und polnische Arbeiter. Das Gesetz sah vor, dass alle nicht an der Front kämpfenden Männer zwischen dem 17. und dem 60. Lebensjahr zum vaterländischen Hilfsdienst verpflichtet waren, das heißt, sie mussten in kriegswichtigen Einrichtungen, wie der Rüstungsindustrie, arbeiten. Das Mindest-Alter der Hilfsdienstpflichtigen war von 15 auf 17 Jahre angehoben worden. Die Organisation des vaterländischen Hilfsdienstes wurde dem Kriegsamt übertragen. Dieses hatte die Aufgabe, festzulegen, welche Betriebe und Berufe als kriegswichtig zu gelten hatten. Außerdem oblag es der Behörde, die Zahl der Arbeiter, die in einem Betrieb beschäftigt wurden, zu bestimmen. Das Amt entschied, in welchem Betrieb ein Hilfsdienstpflichtiger eingesetzt werden sollte. Den Hilfsdienstpflichtigen wurde ihre Arbeitsstelle vom Kriegsamt zugewiesen, doch hatten sie das Recht, aus „wichtigem Grund“ den Arbeitsplatz zu wechseln. Dazu war allerdings die Zustimmung des Arbeitgebers erforderlich, der seinem früheren Mitarbeiter einen „Abkehrschein“ ausstellen musste. So sollte die Arbeitskraftfluktuation eingedämmt werden. Die Gewerkschaften bekamen – als eine Art Belohnung für ihr Entgegenkommen – ein Mitspracherecht. In Unternehmen mit mindestens 50 Mitarbeitern wurden ständige Arbeiter- und paritätisch besetzte Schlichtungsausschüsse gebildet. Die Gewerkschaften erhielten damit mehr Macht, rückten aber auch – wie Heinrich August Winkler dies formuliert – „derart gefährlich nah an den Staat, das Militär und die Unternehmerschaft heran, dass sie in den Augen vieler Arbeiter aufhörten, eine proletarische Interessensvertretung zu sein.“64 Vor allem wurde damit aber auch ein verheerender Krieg unterstützt, der in seinem weiteren Verlauf noch Hunderttausenden das Leben kosten sollte. Das „Hindenburg-Programm“ und das „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst“ haben die in sie von der OHL gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Schon zwei Monate nach seinem Amtsantritt kam Groener zu dem Ergebnis, dass die im „Hindenburg-Programm“ für 1917 gesteckten Ziele – Verdoppelung bzw. Verdreifachung der Produktion von Munition und Kriegsgerät – allenfalls zu 60 Prozent erfüllt werden könnten. Als Gründe für die Verzögerung führte er die unzureichende Versorgung der Unternehmen mit Rohstoffen, die begrenzten Transportkapazitäten und den Mangel an Facharbeitern an. Ludendorff vermutete allerdings, dass es neben 63 64

Zit. nach: M. Nebelin, Ludendorff, S. 265. H. A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1, S. 346.

5. Dritte Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff

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den genannten Gründen auch noch „andere Gründe“ geben müsse. Er bezog sich dabei offenbar auf bestimmte Lageberichte, die ihm vonseiten verschiedener Industrieller zugeleitet wurden. In ihnen hatten neben Duisberg und Rathenau vor allem Emil Kirdorf und Hugo Stinnes die Überzeugung geäußert, dass im Kriegsamt „sehr viel beraten, aber zu wenig entschieden und befohlen“ würde.65 Mit dem Gesetz des vaterländischen Hilfsdienstes waren Ludendorff und Bauer grundsätzlich unzufrieden.66 Es entsprach nicht ihren Vorstellungen, dass die Dienstpflicht für Frauen entfallen war und das Alter der Hilfsdienstpflichtigen von 15 auf 17 Jahre angehoben wurde. Außerdem hatten sie Zweifel an der Überzeugung Groeners, dass der Erfolg des vaterländischen Hilfsdienstes vor allem auf der Bereitschaft der freiwilligen Meldung beruhe.67 Bis März hatten sich dann auch nur 65

Zit. nach: M. Nebelin, Ludendorff, S. 261. Unzufrieden war auch die Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände: „Die Kritik, die heute von unserer Seite geübt werden soll, richtet sich (…) in keiner Weise gegen die Anregung zum Erlass eines solchen Gesetzes an sich, wie sie ursprünglich von der Obersten Heeresleitung ausgegangen sein soll, sondern lediglich gegen die Umgestaltung des ursprünglichen Gesetzentwurfes, für welche allein die für die Verabschiedung des Gesetzes zuständigen Stellen verantwortlich zu machen sind. Die Schädigungen, welche durch das Gesetz der Durchführung des ,Hindenburg-Programms‘ erwachsen, sind zurückzuführen auf die Änderungen, welche der Gesetzentwurf durch die Verhandlung im Reichstag erfahren hat. Hierdurch ist der Grundgedanke des Gesetzes verlassen und sind die segensreichen Wirkungen, die man sich allgemein von ihm versprach, zumindest in Frage gestellt worden.“ Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände an General Groener zum Kriegshilfsdienstgesetz, 23. März 1917. In: Ulrich Cartarius (Hrsg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg, München 1982, S. 101. Ähnlich hatten sich auch Hugenberg und Stinnes geäußert: „Das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst hat im Reichstage eine Gestalt erhalten, die den ursprünglichen Entwurf von Grund aus verändert hat. Die kurze seit dem Inkrafttreten verflossene Zeit hat bereits erkennen lassen, daß es eine zersetzende Wirkung auf die Arbeitsverhältnisse ausübt (…) Das Kriegshilfsdienstgesetz in seiner nunmehrigen Fassung hat die Verantwortung für die Behandlung der Arbeiterfragen, die bisher von den Arbeitgebern getragen wurde, in die Hände zahlreicher neuer sachunkundiger und im Grunde verantwortungsloser Stellen (Schlichtungsausschüsse) gelegt.“ Hugenberg und Stinnes an Hindenburg vom 23. Februar 1917. In: ebd., S. 98 f. 67 Nach dem Sturz Bethmann Hollwegs im Sommer 1917 wurde von der OHL nicht nur die bisherige Gesetzespraxis scharf angeprangert, sondern auch vehement eine „Verbesserung des Hilfsdienstgesetzes“ gefordert. In einem von Hindenburg unterzeichneten Schreiben an den damaligen Reichskanzler Michaelis vom 10. September 1917 wurde ein Sieben-Punkte-Katalog als Grundlage einer Neufassung präsentiert. Die freiwillige Meldung zum vaterländischen Hilfsdienst wurde darin abgelehnt und die Zwangsrekrutierung favorisiert nach dem Motto: „Männer, Frauen, alles muss an die Arbeit.“ Weiter wurde ein generelles Verbot für den Arbeitsplatzwechsel von Beschäftigten in kriegswichtigen Betrieben, eine Bestrafung bei der Umgehung der Dienstpflicht, eine Kontrolle der Hilfsdienstpflichtigen am Arbeitsplatz sowie die Ausdehnung der Hilfsdienstpflicht auf Jugendliche ab dem 15. Lebensjahr gefordert. In einem weiteren Schreiben forderte Hindenburg am 18. Juni 1918, dass die Arbeiter durch Befehl an ihre Arbeitsplätze gebunden und die Arbeitspflicht für Frauen unverzüglich eingeführt werden sollte. Vgl. M. Nebeling, S. 272 und 279. Diese „Verbesserungsvorschläge“ stießen allerdings auf Skepsis der Regierung. Der von der Obersten Heeresleitung vorgesehene Maßnahmenkatalog verheiße nur Nachteile und drohe, den Zusammenbruch der Industrieproduktion herbeizuführen, hieß es. Sie wagte es allerdings nicht, die Vorschläge katego66

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IV. Der Kriegsverlauf

6 000 statt der erwarteten 200 000 freiwillig gemeldet, was den Unmut von Ludendorff und Bauer gegen den Leiter des Kriegsamtes noch weiter steigerte. In einer Unterredung hatte Groener zudem gefordert, sich unter den gegebenen Umständen „nicht allein auf den Sieg einzustellen, sondern auch damit zu rechnen, daß der Sieg ausbleiben könne. Man müsse daher dem Volk den Gedanken an den Frieden ohne Sieg nahebringen“.68 Ludendorff war tief betroffen, dass der von ihm protegierte Kriegsamtsleiter nicht mehr an einen „unbedingten Sieg“ glaubte. Bei ihm setzte sich immer mehr die Ansicht durch, „der General Groener mache schlapp, es werde daher gut sein, ihn an die Front zu setzen“.69 Letzter Anstoß für die Trennung von Groener waren Meinungsverschiedenheiten über den zukünftigen wirtschaftspolitischen Kurs. Groener trat für massive Eingriffe in die Autonomie der Unternehmen und der Gewerkschaften ein, um den Defiziten bei der Erfüllung des „Hindenburg-Programms“ entgegenzutreten. Er wollte nicht nur Arbeitslöhne mit staatlichen Eingriffen regulieren, sondern auch die Unternehmensgewinne, die durch die staatlichen Rüstungsaufträge exorbitant angestiegen waren. Das stieß auf den massiven Widerstand der Industrie. Die Industriellen Hugo Stinnes, Peter Klöckner, Alfred Hugenberg und Carl Duisberg hatten sich an Ludendorff gewandt und vor einem drohenden wirtschaftspolitischen Kurswechsel in Richtung eines Kriegssozialismus gewarnt. Am 16. April 1917 wurde Groener entlassen und durch Generalleutnant Heinrich Scheüch ersetzt. Seine Entlassung erfuhr er aus der Presse. Anschließend wurde er als Kommandeur der 33. Division zu einem Frontkommando versetzt. Das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst hielt nicht das, was von ihm erwartet wurde. Die geplanten Steigerungsraten wurden nicht erreicht. Die überhastet durchgeführte Umstrukturierung der gesamten Wirtschaft zugunsten einer Rüstungsmaximierung verursachten zunächst sogar einen deutlichen Produktionseinbruch. „Die Maßnahme, mit der das Reich die Kriegsmaschinerie optimieren wollte, würgte sie sogar ab – weil die volkswirtschaftlichen Auswirkungen nicht durchdacht oder verdrängt wurden.“70 Die gesamte Wirtschaft wurde auf Kriegsproduktion umgestellt, Zivilwirtschaft, Transportsystem und Lebensmittelversorgung kamen dagegen weitgehend zum Erliegen. Vor allem die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung verschlechterte sich dramatisch und erreichte im Winter 2016/2017, dem „Kohlrübenwinter“, einen katastrophalen Höhepunkt. Bereits Anfang 1915 wurden im Rahmen der Kriegszwangswirtschaft die Rationierung und Zwangsbewirtschaftung von Nahrungsmitteln eingeführt. Im Winter 1916/1917 fiel aufgrund schlechter Ernte selbst die Kartoffel als Grundnahrungsmittel zur Versorgung der Bevölkerung aus und musste durch rationierte Kohl- bzw. Steckrüben risch abzulehnen, sondern versicherte den Militärs, „daß ihre Pläne mit Rücksicht auf die angespannte innere Lage zunächst vertagt werden müssten.“ Ebd., S. 280. 68 Zit. nach: M. Nebelin, Ludendorff, S. 269. 69 Zit. nach: ebd. 70 Ralf Hartmann, Kriegswirtschaft 1916: Wie ein Verzweiflungsakt das Kaiserreich lahmlegte. https://www.gevestor.de/details/kriegswirtschaft-1916-wie-ein-verzweiflungsaktdas-kaiserreich-lahmlegte-767542.html (aufgerufen 21. Juni 2021).

6. Die Friedensinitiative vom Dezember 1916

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ersetzt werden. Morgens, mittags, abends Steckrüben – so sah der Alltag für einen Großteil der Bevölkerung aus. Not und Hunger nahmen zu und zermürbten die physische Widerstandskraft der Bevölkerung. Die Allgemeinsterblichkeit stieg stark an. „Während der Kriegsjahre stieg die Kindersterblichkeit um 50 %, doppelt so viele Mütter starben an den Folgen einer Geburt wie vor dem Krieg. Die Zahl der Geborenen lag in Berlin 1917 weniger als halb so hoch wie 1913. Grippe, Tuberkulose und andere Krankheiten nahmen infolge des geschwächten Immunsystems zu. Das Wachstum der Kinder fiel weit geringer aus als in der Generation zuvor. Insbesondere in Berlin, aber auch in Hamburg und den Großstädten des Ruhrgebietes waren bis auf die Rippen abgemagerte Menschen sämtlicher Altersstufen in solchem Maße zu sehen, wie es Deutschland seit der Hungerkrise 1846/47 nicht mehr erlebt hatte.“71 Staatliche Aufträge an die Rüstungsindustrie bewirkten eine starke Kriegskonjunktur. Die umfassende Erhöhung der Produktion von Waffen und Munition begünstigte vor allem die schwerindustriellen Großbetriebe und Konzerne, während kleinere und nicht kriegswichtige Betriebe benachteiligt wurden. Die enorme Rüstungsproduktion musste finanziert werden. Die Kriegsfinanzierung erfolgte fast ausschließlich über Kredite und Anleihen, was eine enorme Verschuldung des Reiches zur Folge hatte. Für Deutschland endete der Krieg in einer gigantischen Inflation. Die Verschuldung des deutschen Reiches wuchs auf über 150 Milliarden Reichsmark bis Ende 1918 an, was insgesamt etwa der Hälfte des gesamten Volksvermögens entsprach. „Die Kriegsfinanzierung auf dem Schuldenwege hatte gravierende wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen. Die Forschung ist heute übereinstimmend der Auffassung, dass der sich 1923 zur Hyperinflation steigende Prozess der Geldentwertung mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges seinen Anfang genommen hat, und spricht von einem ,Inflationsjahrzehnt‘ der Jahre 1914 bis 1923/ 24.“72 Die Mittelschicht wurde 1923 während der Inflation praktisch enteignet – auch eine Folge des Ersten Weltkrieges.

6. Die Friedensinitiative vom Dezember 1916 Am 12. Dezember 1916 trat Reichskanzler Bethmann Hollweg vor das Parlament und unterbreitete der Entente ein Friedensangebot der Mittelmächte, Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei. In der Note an die Entente hieß es: „Der furchtbarste Krieg, den die Geschichte je gesehen hat, wütet seit zwei und einem halben Jahr in einem großen Teil der Welt“. Die vier verbündeten Mächte seien zur Verteidigung ihres Daseins und ihrer nationalen Entwicklungsfreiheit gezwungen gewesen, zu den Waffen zu greifen. „Stets haben sie an der Überzeugung 71

Der „Kohlrübenwinter 1916/17“. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/erster-weltkrieg/all tag/steckrue/ (aufgerufen 28. März 2021). 72 W. Kruse, Ökonomie des Krieges. In: https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-ge schichte/ersterweltkrieg/177509/oekonomie-des-krieges (aufgerufen 10. Januar 2021).

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IV. Der Kriegsverlauf

festgehalten, daß ihre eigenen Rechte und begründeten Ansprüche in keinem Widerspruch zu den Rechten der anderen Nationen stehen.“ Im Krieg hätten dann Deutschland und seine Verbündeten „ihre unüberwindliche Kraft“ bewiesen und „gewaltige Erfolge“ errungen. Zu eventuellen Friedensverhandlungen würden Deutschland und seine Verbündeten Vorschläge mitbringen, „die darauf gerichtet sind, Dasein, Ehre und Entwicklungsfreiheit ihrer Völker zu sichern“. Sie bildeten eine „geeignete Grundlage für die Herstellung eines dauerhaften Friedens“.73 Damit erhob Deutschland faktisch den Anspruch, die Friedensbedingungen zu diktieren. Konkrete Bedingungen für den Frieden – insbesondere wie weit das Deutsche Kaiserreich bereit gewesen wäre, auf die weitgesteckten Kriegsziele zu verzichten – fehlten jedoch in der Note. In der Friedensnote fand sich kein Hinweis auf ein Entgegenkommen, etwa auf den Rückzug der deutschen Truppen aus dem besetzten Belgien. Bethmann Hollweg hatte für den Fall, dass die Entente auf das Friedensangebot der Mittelmächte eingehen würde, vom Generalstab, Admiralstab und Kolonialamt die Erstellung einer Kriegszielliste angefordert. Die Antworten waren bezeichnend für die geistige Haltung der politischen Eliten im Kaiserreich. Solf, der Staatssekretär des Kolonialamtes, setzte sich für einen „Kompromissfrieden“ ein. Der zukünftige Frieden sollte nicht durch Annexionen in Europa belastet werden. In Abgrenzung zu den Alldeutschen, die, wie die Schwerindustrie und die Banken, auf eine Expansion in Mitteleuropa drängten, machte Solf den Vorschlag, auf Annexionen in Mitteleuropa zu verzichten, und verlangte stattdessen, neben der Rückgabe sämtlicher deutscher Kolonien, die Schaffung eines zusammenhängenden deutschen Kolonialreiches in Zentralafrika, das durch den Erwerb französischer, belgischer, portugiesischer und eventuell auch englischer Kolonien gebildet werden sollte. Auf diese Weise sollte ein Deutsch-Mittelafrika deutscher Kolonien geschaffen werden, das mehr als ein Drittel des afrikanischen Kontinents umfassen würde. Weitreichend waren auch die Kriegsziele, die Admiralstabschef Henning von Holtzendorff am 24. Dezember aufstellte. Er forderte Stützpunkte in der Nord- und Ostsee und auf den Azoren, um Englands meerbeherrschende Stellung anzugreifen. Dakar und notfalls auch die Kapverden sollten als Schutz des deutschen Kolonialreiches erworben werden, ferner die ostafrikanischen Häfen Sansibar und Madagaskar. Mit diesen weitreichenden Kriegszielen blieb die Friedensinitiative chancenlos. „Die einzige Chance auf einen Frieden zur Jahreswende 1916/1917 wäre wohl gewesen, wenn die Reichsregierung umgehend einen Rückzug aus allen besetzten Gebieten vorgeschlagen hätte, zusammen mit einer Einigung auf eine Rückkehr zum Status quo

73 Herbert Michaelis/Ernst Schraepler (Hrsg.), Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, Band 2, Berlin 1958/59, Seite 68 f. (Nr. 40).

7. Der U-Boot-Krieg

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ante, zum Stand von Juli 1914.“74 Doch von solch einer Position war das kaiserliche Deutschland weit entfernt. Am 5. Januar 1917 ging dann auch die offizielle Antwort der Entente auf das Friedensangebot der Mittelmächte ein. Wie nicht anders zu erwarten war, lehnten sie dieses ab. Sie bezeichneten das Friedensangebot als reine Propaganda. Der anmaßende Ton, der wenig konkrete Inhalt und die fehlende Bereitschaft zum Entgegenkommen hatten von vornherein die Erfolgsaussichten des Friedensangebotes auf ein Minimum beschränkt. Auch war der „Kompromissvorschlag“ von Staatssekretär Solf für die Entente-Mächte keine Verhandlungsgrundlage.

7. Der U-Boot-Krieg Holtzendorff hat nicht nur weitreichende Kriegsziele formuliert, sondern hat auch noch im Dezember Wilhelm II. ein Memorandum vorgelegt, das ebenfalls gegen alle Friedensbemühungen gerichtet war. In diesem Memorandum forderte er den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Diese Art von Kriegsführung sollte Großbritannien innerhalb von fünf Monaten in die Defensive zwingen und innerhalb von acht Monaten demobilisieren. Dies würde zwar möglicherweise einen Kriegseintritt der USA provozieren, aber Holtzendorff glaubte, dass mit einem uneingeschränkten U-Boot-Krieg der Zusammenbruch Großbritanniens herbeigeführt werden könne, bevor die USA entscheidend in Europa eingreifen könnten. Die Oberste Heeresleitung hat die Ziele Holtzendorffs begutachtet und gutgeheißen. Der Reichskanzler vertrat dagegen die Meinung, dass die Chancen für eine Friedensinitiative und die Suche nach einem Verständigungsfrieden damit völlig zunichtegemacht werden würden. Außerdem befürchtete Bethmann Hollweg, dass mit einem uneingeschränkten U-Boot-Krieg auch amerikanische Schiffe davon betroffen sein würden und die USA dadurch in einen Krieg eintreten könnten.75 Die auf einem Siegfrieden beharrenden militärischen Spitzen waren dagegen der Ansicht, „dass ohne rücksichtslosem U-Boot-Einsatz wir den Krieg verlieren würden“. Andernfalls drohe der Zustand „gegenseitiger Erschöpfung“.76 Die Gefahr eines Krieges mit den USA schätzten die Militärs als gering ein. „Ich pfeife auf Amerika“, erklärte Ludendorff.77 Mit dem Auftreten der amerikanischen Truppen in Europa sei nicht zu rechnen. Die USA hätten gar nicht den benötigten Schiffsraum. Außerdem sei mit einem U-Boot-Krieg die Niederlage Großbritanniens in spätestens fünf 74 Sven Felix Kellerhoff, Als das Deutsche Reich der Welt den Frieden anbot. https://www. welt.de/geschichte/article160151081/Als-das-Deutsche-Reich-der-Welt-den-Frieden-anbot. html (aufgerufen 10. Mai 2021). 75 Vgl. Joachim Schröder, Die U-Boote des Kaisers. Die Geschichte des deutschen U-Boot-Krieges gegen Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Bonn 2003, S. 211 ff. 76 M. Nebelin, Ludendorff, S. 297. 77 Ebd., S. 300.

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IV. Der Kriegsverlauf

Monaten besiegelt, und die USA müssten dann einem von Deutschland diktierten Frieden zustimmen.78 Reichskanzler Bethmann Hollweg vertrat den Standpunkt, dass die Eröffnung des rücksichtslosen U-Boot-Krieges einen Akt auswärtiger Politik darstelle, für die er als Kanzler die alleinige Verantwortung trage. Unter Hinweis auf ihre militärische Gesamtverantwortung sprachen Hindenburg und Ludendorff allerdings Bethmann Hollweg in der U-Boot-Frage schlechterdings die Entscheidungskompetenz ab.79 Sollte der Reichskanzler sich weiterhin der als notwendig angesehenen Entscheidung widersetzen, werden sie sich für dessen Sturz einsetzen. Der Kaiser entschied schließlich, dass der Unterwasserkrieg eine rein militärische Sache sei, die den Kanzler gar nichts anginge.80 Angesichts seiner Niederlage dachte Bethmann Hollweg an Rücktritt. Er tat es dann aber nicht, aus „Furcht vor einem ,Säbelregiment‘ der Alldeutschen (…), das Deutschland binnen drei Wochen in den Abgrund reißen würde, wenn er ginge. Offensichtlich wollte er der ,Kanaille‘, wie er Ludendorff im vertrauten Kreise nannte, nicht das Feld räumen und den Vertretern extremer Kriegsziele nicht den Weg ebnen (…)“.81 Die innenpolitische Position Bethmann Hollwegs war aber durch das Scheitern seiner Friedensinitiative entscheidend geschwächt und gab Ludendorff und den anderen Militärs die Möglichkeit, die Initiative zu ergreifen und mit aller Entschiedenheit die Eröffnung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges zu fordern. Der Kanzler resignierte: „Wenn (…) die militärischen Stellen den U-Boot-Krieg für notwendig halten, so bin ich nicht in der Lage, zu widersprechen.“82 „Ich hatte das Gefühl“, so Bethmann Hollweg in seinen nach dem Krieg erschienenen Memoiren, „Männern gegenüberzustehen, welche nicht mehr gewillt waren, sich in ihre bereits gefassten Entschließungen irgendwie hereinreden zu lassen.“83 Am 9. Januar 1917 befahl Wilhelm II. die Eröffnung des unbeschränkten Unterwasserkrieges „mit voller Energie“.84

8. Die Kreuznacher Konferenzen Anfangserfolge des unbeschränkten U-Boot-Krieges, die Februarrevolution in Russland und Erfolge an der rumänischen Front nährten die deutsche Siegeszuversicht. Die militärische Führung war entschlossen, den Krieg bis zur Erreichung 78

Vgl. ebd., S. 297. Vgl. ebd., S. 299. 80 Vgl. ebd., S. 302. 81 E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, S. 255. 82 M. Nebelin, Ludendorff, S. 303. 83 Zit. nach: ebd. 84 Ebd., S. 301. 79

8. Die Kreuznacher Konferenzen

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der Kriegsziele mit allen Mitteln durchzukämpfen. Aus der Sicht Ludendorffs war ein Kriegsende im Sommer 1917 wahrscheinlich. Eine solche Entschlossenheit steigerte die seit Monaten bestehenden Spannungen mit Österreich-Ungarn, das Deutschland für einen sofortigen Friedensschritt auf dem Boden des Status quo ante ohne Kriegsentschädigung zu gewinnen suchte. Am 16. März 1917 fand in Wien eine deutsch-österreichische Konferenz statt, auf der der österreichische Außenminister Ottokar Czernin für die österreichische Regierung erklärte, dass ein Fortführen des Krieges für Österreich-Ungarn über den Herbst ausgeschlossen sei.85 Das Hauptquartier war alarmiert. In einem am 5. April von Hindenburg unterzeichneten Schreiben an den Kanzler wurde eine sofortige Verständigung mit dem Bundesgenossen über die von Russland zu stellenden Friedensbedingungen gefordert. Zuvor aber müsste „darüber ein ,Einvernehmen der zahlreichen und leider recht widerstrebenden deutschen Stellen‘ erzielt werden, und zwar sehr rasch und in der Form ,kommissarischer Beratungen‘“.86 Die OHL hatte ihr Mitspracherecht angemeldet und zugleich zu erkennen gegeben, dass sie an ihren Eroberungszielen im Osten, vor allem im Baltikum, festhalten würde. Gegen diese Politik wandte sich Czernin in einer an Kaiser Karl gerichteten, aber zur Weitergabe an Wilhelm II. bestimmten Denkschrift. Außenminister Czernin hatte in seiner Denkschrift vom 12. April 1917 an Kaiser Karl festgestellt, dass die militärische Kraft der Donaumonarchie ihrem Ende entgegengehe. Er befürchtete eine Revolution der Arbeiterschaft und eine Erhebung der Nationalitäten in der Donaumonarchie angesichts der völligen Erschöpfung der Material- und Menschenreserven, des chronischen Hungers, der Verzweiflung der Massen und der Rückwirkungen der russischen Revolution auf die Slawen in Österreich-Ungarn. Auch für Deutschland prophezeite er revolutionäre Umwälzungen im Inneren, falls es den Krieg einen weiteren Winter hindurch fortsetzen werde. Derartige Umwälzungen bewertete Czernin als viel schlimmer als einen von den Monarchen geschlossenen schlechten Frieden, weil dann wenigstens die alte Staats- und Gesellschaftsordnung erhalten bliebe. Czernin warnte: „Wenn die Monarchen der Zentralmächte nicht imstande sind, in den nächsten Monaten Frieden zu schließen, dann werden ihn die Völker über ihre Köpfe hinüber machen und dann werden die Wogen der revolutionären Vorgänge alles das wegschwemmen, wofür unsere Brüder und Söhne noch heute kämpfen und sterben.“87 Auch in Berlin wüssten die „verantwortlichen politischen Faktoren“ sehr gut, „daß Deutschland genau ebenso wie wir am Rande seiner Kraft angelangt ist“, aber es sei zu fürchten, „daß man sich in den militärischen Kreisen gewissen Täuschungen hingibt (…) Nichts ist gefährlicher in der Politik, als jene Dinge zu glauben, die man wünscht“.88 Kaiser Karl teilte die Warnungen seines Außenministers und bat in einem Brief an Kaiser Wilhelm II. diesen „inständig“, sich den Überlegungen Czernins nicht zu verschließen. „Wir kämpfen“, so der Kaiser, „gegen einen neuen Feind, welcher ge85

Vgl. F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 285. Zit. nach: G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Band 3, S. 493. 87 Zit. nach: F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 293. 88 Zit nach: G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Band 3, S. 494 f. 86

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IV. Der Kriegsverlauf

fährlicher ist als die Entente: gegen die internationale Revolution an, die in der allgemeinen Hungersnot den stärksten Verbündeten findet. Ich beschwöre Dich, diese so schicksalsschwere Seite der Frage nicht zu übersehen und zu bedenken, dass uns eine rasche Beendigung des Krieges – eventuell unter schweren Opfern – die Möglichkeit bietet, den sich vorbereiteten Umsturzbewegungen mit Erfolg entgegenzutreten.“89 In der Wilhelmstraße wurde das Memorandum Czernins als „Schwarzmalerei“ bewertet. Graf Czernin habe die Nerven verloren, hieß es in Regierungskreisen. In einem Antwortbrief, den Bethmann Hollweg für Wilhelm II. entworfen hatte, wurde dagegen eine optimistische Lagebeurteilung gezeichnet. Die gedrückte Stimmung, die noch Anfang April in der deutschen Reichsleitung vorherrschte, war einer betont optimistischen Stimmung gewichen. Bethmann Hollweg behauptete nun: „Die Zeit ist unser neuester Bundesgenosse geworden.“ Er ging davon aus, dass England und Frankreich in den gegenwärtigen Offensiven ihre militärischen Kräfte erschöpft hätten, dass Russland in einem Zersetzungsprozess begriffen sei und die USA in absehbarer Zeit nicht in der Lage seien, in Europa helfend eingreifen zu können. Die Gefahr eines Umsturzes nach russischem Vorbild hielt Bethmann Hollweg für völlig ausgeschlossen. Für sehr viel verhängnisvoller bewertete er „den Abschluß eines Friedens um jeden Preis, lediglich zum Zwecke der Beendigung des Krieges (…)“.90 Für ihn kam nur ein Frieden infrage, der Deutschland die Gewinnung einiger seiner Kriegsziele ermöglichte. Zugleich erhöhte die OHL den Druck auf den Kanzler. Mit Vehemenz drängte sie auf eine gemeinsame österreichisch-deutsche Konferenz zur Festlegung der beiderseitigen Kriegsziele. Eine vorausgehende Absprache zwischen den politischen und militärischen Instanzen des deutschen Kaiserreiches über die Kriegsziele sei dazu notwendig. Am 16. April hatte Bethmann Hollweg noch die Forderung der OHL nach einer „kommissarischen Beratung“ über die Kriegsziele abgelehnt. Die Aufstellung „eines unter allen Umständen durchführbaren Programms fest umschriebener Maximal- und Minimalforderungen“ sei jetzt verfehlt. „Es sei aber unser Bestreben“, so betonte der Kanzler, „von den Forderungen, die eine Steigerung unserer militärischen Sicherheit bezweckten, das denkbar größte Maximum zu erreichen“.91 Am 18. und 19. April 1917 fanden Sitzungen des SPD-Vorstandes im Reichstagsgebäude statt. Eine Delegation österreichisch-ungarischer Parteigenossen unter Viktor Adler war ebenfalls anwesend. In der verabschiedeten Resolution hieß es: „Wir begrüßen mit leidenschaftlicher Anteilnahme den Sieg der russischen Revolution und das durch ihn entfachte Wiederaufleben der internationalen Friedensbestrebungen. Wir erklären unser Einverständnis mit dem Kongressbeschluss des russischen Arbeits- und Soldatenrats, einen gemeinsamen Frieden vorzubereiten, 89

Zit. nach: F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 293. Zit. nach: ebd., S. 294. 91 Zit. nach: G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Band 3, S. 495. 90

8. Die Kreuznacher Konferenzen

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ohne Annexion und Kriegsentschädigungen auf der Grundlage einer freien nationalen Entwicklung aller Völker.“ Es sei Pflicht der Sozialisten aller Länder, „die Machtträume eines ehrgeizigen Chauvinismus zu bekämpfen, die Regierung zum klaren Verzicht auf jegliche Eroberungspolitik zu drängen und so rasch wie möglich entscheidende Friedensverhandlungen auf dieser Grundlage herbeizuführen“.92 Das Manifest erschien am 20. April im „Vorwärts“. Hindenburg las es am nächsten Tag dem Kaiser, der krank im Bett lag, vor und verlangte Bethmann Hollwegs sofortige Entlassung, „da er offensichtlich der Sozialdemokraten nicht mehr Herr werde“. Es gelang aber dem Kabinettschef Rudolf von Valentini, den Kaiser zu besänftigen, da der Kaiser den Kanzler auf den 23. ins Hauptquartier nach Kreuznach einbestellt hatte: „zu der von der OHL gewünschten Besprechung der Kriegsziele, aber auch zur Beratung darüber, was sich gegen die empörend ,anmaßliche‘ Erklärung der Sozialdemokratie tun ließe. Bethmann Hollweg vermutete, als er die Einladung erhielt, ganz richtig, daß ihn Ludendorff jetzt zu Fall bringen oder aber auf die Kriegsziele der OHL festlegen wollte.“93 Bethmann Hollweg hatte sich wiederholt gegen die Festlegung auf ein fest fixiertes Kriegszielprogramm gesträubt. Hindenburg und Holtzendorff hatten aber auf den Kaiser dahingehend eingewirkt, dass dieser dem Kanzler am 20. April befahl, im Hinblick auf einen möglichen Friedensschluss mit Russland und im Hinblick auf die baldigen Verhandlungen mit dem Bundesgenossen Österreich-Ungarn ein fest umrissenes deutsches Kriegszielprogramm mit Minimalund Maximalforderungen aufzustellen. Der Kaiser forderte Bethmann Hollweg auf, an einer Kriegszielkonferenz am 23. April 1917 im Hauptquartier der OHL in Bad Kreuznach teilzunehmen. Insgesamt fanden im Kurhaus von Bad Kreuznach während des Jahres drei Kriegszielkonferenzen statt; die erste am 23. April war die wichtigste. An ihr nahmen neben dem Reichskanzler Staatssekretär Zimmermann, Hindenburg, Ludendorff und Holtzendorff teil sowie der Chef der politischen Abteilung des Generalgouvernements in Brüssel, von der Lancken. Verhandlungen im eigentlichen Sinne fanden nicht statt. Ludendorff legte wohlvorbereitete Karten vor, auf denen die zu erobernden Gebiete eingetragen waren, die er „aus militärischen Gründen“ für notwendig hielt. Am Nachmittag wurde ein Kriegszielprogramm festgelegt, das durch seine Maßlosigkeit Entsetzen auslöste. Das „Kreuznacher Programm“ sah weitgehende Annexionen im Osten wie im Westen vor. Im Osten wurde neben Kurland und Litauen auch der Erwerb von Teilen Livlands und Estlands, einschließlich der Inseln vor dem Rigaer Meerbusen angestrebt. „Weiter südlich sollte die östliche Grenze von Ostpreußen bis an den Njemen vorgeschoben werden. Schließlich sollte der von Hindenburg als Jagdrevier besonders geschätzte Urwald von Bjelowjesch als ,Staatsdomäne‘ hinzugewonnen werden.“94 Sollte der erwartete Zerfall Russlands die Möglichkeit zu dem Erwerb dieser Gebiete nicht 92

Zit. nach: Philipp Scheidemann, Frieden der Verständigung. Reichstagsrede in der Sitzung vom 15. Mai 1917, Landesarchiv Baden-Würtemberg, Staatsarchiv Stuttgart, https:///www.landesarchiv-bw.de//plink/?f=1-584486-1 (aufgerufen 20. Oktober 2021). 93 G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Band 3, S. 505. 94 M. Nebelin, Ludendorff, S. 351.

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IV. Der Kriegsverlauf

bieten, müssten sie erst noch militärisch erobert werden. Dies geschah dann auch im September 1917 mit Riga und den Inseln und im Februar 1918 mit Livland und Estland. In der polnischen Frage bekräftigten OHL und Reichsleitung ihre Absichten, Kongresspolen militärisch, politisch und wirtschaftlich völlig zu beherrschen. Wenn dies erreicht sei, werde die OHL bereit sein, teilweise auf den bisherigen Grenzstreifen gegen Polen zu verzichten und sich mit der Narew-Linie und ihrer Fortsetzung über Ostrolenka-Mlawa sowie mit einigen weiteren geringfügigen Annexionen zu begnügen. Im Westen sollte Belgien als deutscher Vasallenstaat besetzt bleiben und auf unbestimmte Zeit in deutsche militärische Kontrolle genommen werden, wobei Belgien die flandrische Küste mit Brügge sowie Lüttich mit großem Vorgelände bis nach Tongeren an Deutschland abzutreten habe. „Aus kriegswirtschaftlichen Gründen“ forderte die OHL weiter die Annexion von Arlon, „in der Annahme, daß dort Erze lagern“.95 Ferner sollten die Erz- und Kohlereviere von Longwy-Briey für Deutschland erworben werden, Luxemburg sollte ein deutscher Bundesstaat werden. Der Chef des Marinekabinetts, Admiral von Müller, fasste die Ergebnisse der Kreuznacher Konferenz wie folgt zusammen: „Mein Eindruck: völlige Maßlosigkeit im Osten wie im Westen.“96 Bethmann Hollweg hatte der OHL nichts entgegenzusetzen und unterzeichnete ebenfalls das Protokoll.97 Für die Akten des Auswärtigen Amtes aber vermerkte Bethmann Hollweg: Er habe in den Verhandlungen wiederholt und ausdrücklich hervorgehoben, dass er diese Friedensbedingungen nur für erreichbar halte, „wenn sie den Frieden diktieren können. Nur unter dieser Voraussetzung habe ich ihnen zugestimmt“. Für die Reichskanzlei schrieb der Kanzler noch eine ausführliche Aktennotiz nieder: „Ich habe das Protokoll mitgezeichnet, weil mein Abgang über Phantastereien lächerlich wäre. Im übrigen lasse ich mich natürlich durch das Protokoll in keiner Weise binden. Wenn sich irgendwie und irgendwo Friedensmöglichkeiten eröffnen, verfolge ich sie. Was ich hiermit aktenmäßig festgestellt haben will.“98 Die Unterschrift unter dem Protokoll war wohl „taktisch“ gemeint. „Aber offensichtlich“, so bemerkt Ritter zutreffend, „hat er damit die praktische Bedeutung des unter kaiserlichem Vorsitz einmal festgelegten Programms doch unterschätzt“.99 Besonders folgenschwer war insbesondere die Wirkung auf das Bündnisverhältnis der beiden Zentralmächte. Druck bekam Bethmann Hollweg nicht nur auf der Kreuznacher Konferenz. Die konservative Fraktion im Reichstag hatte eine Interpellation eingereicht, in der behauptet wurde, dass der Beschluss der SPD nach einem Frieden ohne Annexionen 95

Zit. nach: F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 291. Zit. nach: ebd. 97 Nach dem Biographen Eberhard v. Vietsch soll Bethmann Hollweg zunächst den Verzicht auf alle Annexionen in Erwägung gezogen haben, sei aber von Ludendorff abgewiesen worden. Nach dem Marinekabinettchef von Müller soll Bethmann Hollweg sich gedacht haben: „Es schadet ja nichts, daß wir Maximalforderungen festlegen, es kommt ja doch anders.“ E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, S. 259. 98 Zit. nach: G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Band 3, S. 506 f. 99 Ebd., S. 507. 96

8. Die Kreuznacher Konferenzen

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und Kriegsentschädigungen „mangels einer klaren Stellungnahme des Herrn Reichskanzlers“ in weiten Kreisen des deutschen Volkes schwere Beunruhigung hervorgerufen habe. Der Reichskanzler wurde aufgefordert, zu diesem Beschluss Stellung zu beziehen. Zugleich mobilisierte die Rechte die breite Front der in zahlreichen Verbänden und Vereinen organisierten Kriegszielbewegung zu einem massiven Protest gegen den „Verzichtsfrieden“.100 In einem gemeinsamen Aufruf vom 3. März 1917 hieß es: „Nur ein Friede mit Entschädigungen, mit Machtzuwachs und Landerwerb kann unserem Volke sein nationales Dasein, seine Stellung in der Welt und seine wirtschaftliche Entwicklungsfreiheit dauernd sicherstellen.“101 Daraufhin interpellierte auch die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag: „Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, daß die provisorische Regierung Rußlands und die uns verbündete österreichisch-ungarische Regierung in gleicher Weise erklärt haben, zum Abschluss eines Friedens ohne Annexion bereit zu sein? Was gedenkt der Herr Reichskanzler zu tun, um eine Uebereinstimmung aller beteiligten Regierungen darüber herbeizuführen, daß der kommende Friede auf Grund gegenseitiger Verständigung, ohne Annexion und Kriegsentschädigung geschlossen werden kann?“102 Die nun folgende Reichstagssitzung vom 15. Mai 1917 ist von besonderer Bedeutung, da in ihr die verschiedenen Positionen noch einmal in aller Deutlichkeit zur Sprache kamen. Aus diesem Grunde soll etwas ausführlicher auf sie eingegangen werden. Der Abgeordnete Philipp Scheidemann erklärte in seiner Rede zu der von der SPD eingebrachten Interpellation, es sei die Absicht der SPD, den Herrn Reichskanzler zu einer klaren und eindeutigen Erklärung über die Kriegsabsichten der Reichsregierung zu veranlassen. Der Herr Reichskanzler soll sagen, was er will, die Vergewaltigung fremder Völker lehnen wir ab. Wir sind Gegner jeder Eroberungspolitik, betonte Scheidemann. „Jeder Mann mit Verantwortungsgefühl und Gewissen sollte sich die Frage vorlegen, ob es erträglich wäre, immer neue Hunderttausende auf die Schlachtbank zu schicken für ein Ziel, ein Eroberungsziel, das die erdrückende Mehrheit des Volkes gar nicht will, das überhaupt gar nicht erreicht werden kann (…). Je länger der Krieg dauert, desto größer werden die Opfer sein (…). Das Ziel der Vergewaltigung anderer Völker – geben Sie sich keiner Täuschung hin –, das werden Sie nie erreichen.“ Der konservativen Reichstagsfraktion zugewandt, rief Scheidemann: „Weiter kämpfen! Keinen Verständigungsfrieden! Zerschmetterung des Gegners, damit wir ihm den Frieden diktieren können, das ist ihr Plan. Sieg, Triumph und Beute, Beute! Unsere Eroberungspolitiker schreien: Machtzuwachs, Land, Geld, Rohstoff! Unsere Eroberungspolitiker erklären: Das müssen wir haben, das brauchen wir, wir, und auf die anderen Völker pfeifen wir.“ 100 Neben den sechs großen Wirtschaftsverbänden aus Industrie und Landwirtschaft gehörten zu den Unterzeichnern Verbände wie der Unabhängige Ausschuss für einen deutschen Frieden, der Alldeutsche Verband, der Ostmarken-, Flotten- und Wehrverein. Außerdem haben die Verbände des nationalen und christlichen Flügels der Arbeiterschaft beider Konfessionen diesen Aufruf unterzeichnet. 101 Zit. nach: F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 281. 102 Zit. nach: Ph. Scheidemann, Frieden der Verständigung. Reichstagsrede vom 15. Mai 1917.

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IV. Der Kriegsverlauf

Durch die alldeutsche Politik, so fuhr der Redner fort, sind wir „in den wahrhaft törichten Verdacht gekommen, ein Räubervolk zu sein, sozusagen eine national geführte Räuberbande von 70 Millionen“. Die Alldeutschen höhnen über einen „Verzichtfrieden“, so Scheidemann. Auf was verzichten wir überhaupt? „Wir verzichten auf die Fortsetzung dieses Krieges. Wir verzichten auf Hunderttausende Tote und hunderttausend Krüppel. Wir verzichten auf die weitere Verwüstung Europas (…). Wir verzichten auf die Illusion, daß der Krieg einen Gewinn bringen wird, der uns zusteht. Für den wir weitere furchtbare Opfer bringen müssten, und den wir doch nicht erreichen würden. Wir verzichten darauf, andere Völker zu vergewaltigen und zu unterdrücken.“ Wir fordern deshalb, so fuhr der Redner fort, „die Regierung auf, unzweideutig auf etwas zu verzichten, was wir gar nicht wollen. Was uns nur zum Unheil gereichen könnte, wenn wir es erhielten“. Wenn der Herr Reichskanzler jedoch, so Scheidemann, eine Erklärung abgeben würde, die den Wünschen der Rechten entspricht, so hieße das „daß wir drei Jahre lang getäuscht worden sind, und daß wir Unrecht hatten, den Worten der Thronrede vom 4. August zu glauben, die da lautete: ,Uns treibt nicht Eroberungslust!‘ Wenn wir genötigt wären, eines Tages einzugestehen, daß wir getäuscht worden sind, die Folgen wären verhängnisvoll, darüber seien sie sich klar!“103 103 Zit. nach: ebd. Die Rede Scheidemanns war zweifelsohne mutig. Mit deutlichen Worten hat er sich gegen die Vergewaltigung anderer Völker, gegen eine Eroberungspolitik ausgesprochen, die „die erdrückende Mehrheit des Volkes gar nicht will“. Die Rede kam aber zu spät. Ebenso die Ahnung, dass die Sozialdemokratie womöglich mit der Thronrede vom 4. August 1914 getäuscht worden sei. Fast drei Jahre wütete nun bereits der Krieg. Hunderttausende fielen ihm zum Opfer. Die annexionistischen Kriegsabsichten des deutschen Kaiserreiches waren schon bald erkennbar: Der Überfall auf das neutrale Belgien, das „Septemberprogramm“ der Regierung, die Eroberungspläne der Alldeutschen und der Militärs. Auch enthielt die Rede einige Illusionen. Schützend stellte sich Scheidemann vor den Kaiser, der sich als „aufrichtiger Freund des Völkerfriedens bewährt“ habe. An die Adresse der Alldeutschen und Konservativen gewandt, sagte er: „Meine Herren, scheinbar stellen sich die Welteroberer schützend vor den Kaiser. In Wirklichkeit missbrauchen Sie seinen Namen für reaktionäre Zwecke“. Auch wenn bei diesen Ausführungen taktische Überlegungen eine Rolle mitgespielt haben mögen, so wird doch die Rolle Kaiser Wilhelms gänzlich falsch dargestellt. Dieser hatte ein umfangreiches Kriegszielprogramm aufgestellt, das er am 13. Mai 1917, also nur zwei Tage vor der Reichstagssitzung, an Zimmermann in das Auswärtige Amt schickte. In dem Programm wurde von Frankreich die Abtrennung von Longwy-Briey verlangt mit der Drohung: „Kriegsdauer erhöht Ansprüche.“ Von England wurde die Freiheit der Meere gefordert mit entsprechenden „Garantien“. So wurde die Herausgabe der englischen Mittelmeerbesitzungen verlangt. Malta sollte an Deutschland fallen, Gibraltar an Spanien. Cypern, Ägypten und Mesopotamien sollten an die Türkei, die Azoren, Madeira und die Kapverdischen Inseln an Deutschland fallen, ebenso der französische und belgische Kongo. Außerdem wurde die Rückgabe der deutschen Kolonien gefordert. Belgien sollte nach dem Willen des Kaisers in Wallonien und Flamland aufgeteilt und unter deutsche Herrschaft gestellt werden. Im Osten forderte der Kaiser die direkte oder indirekte Annexion von Polen, Kurland und Litauen. Im Falle eines deutschen Sieges hoffte der Kaiser ferner, von England, den USA, Frankreich und Italien eine gigantische Kriegsentschädigung von je 30 Milliarden Dollar bzw. 40 Milliarden Francs und 10 Milliarden Lire zu bekommen, ferner von China und Brasilien, Bolivien, Kuba und Portugal je 12 Milliarden Mark, die allerdings zunächst nicht in bar,

8. Die Kreuznacher Konferenzen

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Die Antwort Bethmann Hollwegs war bezeichnend.104 Er vermied es, sich in irgendeiner Weise klar festzulegen: „Meine Herren! Die soeben begründeten beiden Interpellationen verlangen von mir eine programmatische Erklärung zur Frage der Kriegsziele. Die Abgabe einer solchen Erklärung im gegenwärtigen Augenblick würde den Interessen des Landes nicht dienen (…). Glaubt denn bei dieser Verfassung unserer westlichen Feinde jemand, daß ein Prozess des Verzichts und der Entsagung diese Feinde zum Frieden bringen zu können (…). Soll ich diesen Feinden sagen: möge es kommen wie es will, wir werden euch kein Haar krümmen? Aber ihr, die ihr uns ans Leben wollt, ihr könnt ohne jedes Risiko euer Glück weiter versuchen.“ Gegenüber der konservativen Opposition führte Bethmann Hollweg weiter aus: „Und, meine Herren, soll ich etwa umgekehrt ein Eroberungsprogramm aufstellen? Auch das lehne ich ab. (…) Nicht um Eroberungen zu machen, sind wir in den Krieg gezogen und stehen wir jetzt im Kampfe fast gegen die ganze Welt, sondern ausschließlich, um unser Dasein zu sichern und die Zukunft der Nation fest zu gründen. Ebenso wenig wie ein Verzichtsprogramm hilft ein Eroberungsprogramm dem Sieg gewinnen und den Krieg beenden. Im Gegenteil, ich würde lediglich das Spiel der feindlichen Machthaber spielen, ich würde es ihnen erleichtern, ihre kriegsmüden Völker weiter zu betören und den Krieg ins Unermessliche zu verlängern.“ Zugleich gab sich Bethmann Hollweg aber betont optimistisch. „Meine Herren, unsere militärische Lage ist so gut, wie sie wohl niemals seit Kriegsbeginn gewesen ist. Die Feinde im Westen drängen trotz ungeheuerlichster Verluste nicht durch. Unsere U-Boote arbeiten mit steigendem Erfolge. Ich will darüber keine starken Worte brauchen. Die Taten unserer U-Bootsleute sprechen für sich selbst (…) Meine Herren, die Zeit läuft für uns. Wir können die volle Zuversicht haben, daß wir uns dem guten Ende nähern. Dann wird die Zeit kommen, wo wir über unsere Kriegsziele, bezüglich deren ich mich in voller Übereinstimmung mit der Obersten Heeresleitung befinde, mit unseren Gegnern verhandeln können.“105 Die Rede Bethmann Hollwegs – es war seine letzte öffentliche Rede als Reichskanzler – war voller Widersprüche und Ungereimtheiten. Er behauptete: „Nicht um Eroberungen zu machen, sind wir in den Krieg gezogen (…).“ Diese Behauptung steht nicht nur im Widerspruch zu den annexionistischen Kriegszielen, die die Regierung gleich zu Beginn des Krieges im „Septemberprogramm“ aufgestellt hat, sondern auch zu den anderen Ausführungen in Bethmann Hollwegs Rede. Warum konnte er sich nicht in klarer und unzweideutiger Weise zu einem Frieden ohne Annexion bekennen, wenn doch Deutschland nicht wegen Eroberungen in den sondern in Naturalien ausgezahlt werden sollten. Vgl. F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 294 f. 104 Nach Eberhard v. Vietsch verstand Bethmann Hollweg es „mit beachtlicher rednerischer Meisterschaft, sich zwischen den Fronten hindurchzulavieren, ohne sich festzulegen, ohne auch die Gegensätze zu verschärfen“. E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, S. 260. 105 Theobald von Bethmann Hollweg, Wir sind nicht aus Eroberungssucht ausgezogen. https://www.faz.net/aktuell/politik/der-erste-weltkrieg/frankfurter-zeitung-15-05-1917-wirsind-nicht-aus-eroberungssucht-ausgezogen-14709191.html (aufgerufen 10. März 2021).

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IV. Der Kriegsverlauf

Krieg gezogen sei? Die Rede Bethmann Hollwegs vom 15. Mai 1917 enthielt aber keine klare Erklärung, dass die deutsche Regierung bereit sei, in Verhandlungen über einen Frieden ohne Annexion und Kriegsentschädigung einzutreten.106 Stattdessen wurden die Ausführungen von Scheidemann in geradezu demagogischer Weise abgetan und auch entstellt. Scheidemann hat sich nicht für einen Prozess des Verzichts und der Entsagung ausgesprochen, sondern hat ausdrücklich betont, dass die große Mehrheit des deutschen Volkes für die territoriale Unversehrtheit des Landes eintreten werde. „Für die Verteidigung unseres Landes, für die Verteidigung von Heim und Herd, wird und muss das Volk eintreten. Von der Führung eines Krieges für irgendwelche Vergewaltigungsziele will unser Volk nichts wissen“, hatte Scheidemann ausgeführt. Scheidemann hat also lediglich von der Regierung gefordert, von Vergewaltigungszielen gegenüber anderen Völkern abzurücken. Dies hat aber Bethmann Hollweg nicht getan. Stattdessen hat er zum Schluss seiner Rede die Konservativen und Alldeutschen geradezu ermuntert. Die militärische Lage sei so gut, „wie sie wohl niemals seit Kriegsbeginn gewesen ist“. Und dann wird die Zeit kommen, „wo wir über unsere Kriegsziele (…) mit unseren Gegnern verhandeln können“. Die Reichsleitung befinde sich hinsichtlich zu erörternder Kriegsziele in voller Übereinstimmung mit der Obersten Heeresleitung.107 Bethmann Hollweg wollte sich nicht öffentlich auf weitreichende Annexionen festlegen, wie dies die Konservativen und Alldeutschen forderten, weil er zu Recht befürchtete, dass solch eine Erklärung nur den feindlichen Ländern in die Hände spielen würde; er hat sich aber auch nicht von den maßlosen Kriegszielen distanziert, und schon gar nicht hatte er sich auf einen Frieden ohne Gebietserweiterung und Kriegsentschädigung festgelegt. Die Rede war vielmehr Ausdruck eines deutschen Machtwillens. Hätte aber die deutsche Regierung in klarer und unzweideutiger Weise erklärt, dass sie auf alle Annexionen und Kriegsentschädigungen verzichtet und die gleiche Haltung auch von den anderen Großmächten gefordert, wäre ein Verständigungsfrieden in greifbare Nähe gerückt. Die anderen Großmächte hatten auch annexionistische Kriegsziele verfolgt; es waren aber vor allem die maßlosen Eroberungsziele, die im deutschen Kaiserreich aufgestellt wurden, die einen allgemeinen Frieden verhinderten. 106 Vgl. Georg Stacher, Österreich-Ungarn, Deutschland und der Friede, Oktober 1916 bis November 1918, Wien 2020, S. 321. 107 Eberhard v. Vietsch behauptet, dass diese beiden letzten Aussagen „eindeutig nicht der eigenen Überzeugung“ Bethmann Hollwegs entsprachen. „Aber der Kanzler wollte, wie schon so oft, beruhigen und auch die Diagonale weiterhin zur Überbrückung der Parteiengegensätze einsetzen.“ E. v. Vietsch, Bethmann-Hollweg, S. 261. Es ist nur schwer überprüfbar, inwieweit tatsächlich diese beiden Aussagen der innersten Überzeugung des Redners widersprachen. Ein Staatsmann, der nicht sagt, was er denkt, und sagt, was er nicht denkt, ist nicht leicht einschätzbar. Entscheidend ist aber die politische Wirkung seiner Reichstagsrede nach außen, und die kann nur so verstanden werden, dass der deutsche Siegeswille bekräftigt wurde. Wenn Bethmann Hollweg tatsächlich „in seinem Innersten“ einen Verständigungsfrieden ohne weitreichende Annexionen befürwortet hat, so hätte er die Konfrontation mit Ludendorff und den anderen Annexionisten nicht scheuen dürfen.

8. Die Kreuznacher Konferenzen

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In der zweiten Kriegszielkonferenz am 17./18. Mai 1917 sollten die Forderungen des Deutschen Reiches mit Österreich abgestimmt werden. Als Czernin Mitte Mai nach Kreuznach fuhr, hatte er die Erwartung, sich mit dem Deutschen Reich über die Grundlagen eines baldigen Friedens mit Russland verständigen zu können. Enttäuscht wurde er aber, dass die österreichischen Friedensvorschläge überhaupt nicht zur Sprache kamen. Stattdessen wurde Österreich-Ungarn zur Fortsetzung des Krieges verpflichtet und musste die deutschen Ansprüche im Osten anerkennen. Die deutsche Seite hatte darauf gedrungen, dass die Gebietserweiterungen der beiden Mächte mit den beiderseitigen Leistungen in Übereinstimmung gebracht werden müssten. Die deutschen Truppen trugen zweifelsohne die Hauptlast des Krieges. So wurden Kurland und Litauen unangefochten dem Deutschen Reich zugesprochen, ebenso räumten die Österreicher dem deutschen Verbündeten den alleinigen Einfluss in Kongresspolen ein. Als deutsche Gegenleistung sollte Rumänien an ÖsterreichUngarn fallen. Rumänien sollte mit Ausnahme der bulgarischen Dobrudscha und eines südlichen Grenzstreifens als besonderer Staat an Österreich-Ungarn fallen, doch beanspruchte Deutschland freie Hand bei der Ausbeutung der Bodenschätze in Bulgarien und Rumänien. Der Balkan wurde zum größten Teil Österreich-Ungarn überlassen. Ein „Groß-Neuserbien“ unter österreichischer Regie sollte die vielen kleinen Staaten verschwinden lassen. Eine erneute Diskussion über die Kriegsziele setzte im Herbst 1917 ein. Der Kaiser war nach Rumänien gereist und war begeistert von dem dortigen Reichtum an Bodenschätzen. Er wünschte, Rumänien anstelle von Polen dem Deutschen Reich anzuschließen. Die OHL war allerdings dagegen. Auf der dritten Kriegszielkonferenz am 7. Oktober 1917 setzte sich die OHL mit ihrem Anspruch auf den größten Teil Polens durch, Rumänien sollte selbstständig bleiben, aber eng an Deutschland angeschlossen werden. Ausdrücklich wurde gefordert: „Die Sicherung der deutschen Ölinteressen in Rumänien muß erreicht werden.“ Der österreichisch-ungarische Außenminister kommentierte diese Forderung mit den Worten, Rumänien werde wohl schon bald einer „ausgepressten Zitrone“ gleichen.108 Die Kreuznacher Beschlüsse machten noch einmal deutlich, worum es den tragenden Kräften im Deutschen Kaiserreich ging: weitreichende Gebietseroberungen und Ausbeutung der dortigen Rohstoffe. Diese Ziele standen in einem diametralen Gegensatz zu allen Friedensbemühungen. Die militärische Führung war auch entschlossen, den Krieg bis zur Erreichung dieser Kriegsziele mit allen Mitteln durchzukämpfen. Die Möglichkeit eines Verständigungsfriedens auf dem Boden des Status quo war damit in weite Ferne gerückt. „Dem engen Zusammenwirken zwischen der Obersten Heeresleitung, den Rechtsparteien, dem Alldeutschen Verband mit seinen Hilfsorganisationen und der Schwerindustrie ist es zuzuschreiben, daß jeder Versuch zur rechtzeitigen Beendigung des Krieges hintertrieben wurde und daß das deutsche Volk noch in aussichtsloser Lage so schwere Opfer an Gut und Blut bringen musste, daß es an den Folgen jahrzehntelang zu tragen hatte.“109 108 109

Zit. nach: M. Nebelin, Ludendorff, S. 352. A. Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, S. 89 f.

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IV. Der Kriegsverlauf

9. Die Entlassung Bethmann Hollwegs Die Nachgiebigkeit und das Entgegenkommen Bethmann Hollwegs auf der Kreuznacher Konferenz gegenüber den Forderungen der OHL haben keineswegs dessen Entlassung verhindert. Im Gegenteil! Es hat den Anschein, als wenn die OHL und ihre politischen Mitstreiter nur noch zusätzlich dadurch ermuntert wurden. Die „Politik der Diagonale“ war damit endgültig gescheitert. Der Rücktritt Bethmann Hollwegs wurde systematisch, über einen längeren Zeitraum, betrieben. Die Erwartungen, die die Militärs mit dem U-Boot-Krieg verbanden, haben sich dann doch nicht erfüllt. Wie von Bethmann Hollweg befürchtet, traten die USA aufseiten der Alliierten in den Krieg ein. Am 6. April 1917 erklärten sie dem Deutschen Reich den Krieg. Die Militärs erklärten nun, dass der Krieg noch „mindestens“ bis zum nächsten Jahr dauern werde.110 Die Stimmung in der ohnehin schon kriegsmüden Bevölkerung war an einem Tiefpunkt angekommen. Der OHL gelang es aber, Bethmann Hollweg sowohl für die pessimistische Stimmung im Inneren als auch für das Ausbleiben des U-Boot-Erfolges verantwortlich zu machen. Im Interesse der „totalen Mobilmachung“ sämtlicher Ressourcen sowie einer Verbesserung der Kooperation von politischer und militärischer Führung forderten sie einen Wechsel der politischen Leitung. Bethmann Hollweg habe „im Rahmen der Diskussion um den U-Boot-Krieg einen solchen Mangel an Entscheidungskraft an den Tag gelegt, daß für die Zukunft an eine fruchtbare Zusammenarbeit mit der Obersten Heeresleitung nicht mehr zu denken sei“.111 Er habe sich als „unmöglicher Flaumacher“ erwiesen.112 Von der Reichsleitung sei zu wenig unternommen worden, den Willen zum Sieg lebendig zu halten. Zugleich meldeten sich bald einflussreiche Parteigänger der OHL zu Wort und forderten ebenfalls die Entlassung Bethmann Hollwegs. Max Bauer, Mitglied der Operationsabteilung der OHL, forderte die Errichtung einer „absoluten Militärdiktatur“ mit Ludendorff an der Spitze, und der Generallandschaftsdirektor von Ostpreußen Wolfgang Kapp ließ im Stab von Ober Ost anfragen, ob Ludendorff gegebenenfalls als Nachfolger von Bethmann Hollweg zur Verfügung stünde.113 Carl Duisberg, der Generaldirektor der Bayer-Werke, der in den Wochen zuvor vehement für den U-Boot-Krieg eingetreten war, erklärte unter Hinweis auf seine Gespräche mit Ludendorff und Hindenburg, „es sei zu wünschen, daß bald der ,starke Mann‘ komme, der allein Deutschland vor dem Sturz in den Abgrund retten könne“.114 Duisburg hatte Anfang Februar 1917 zusammen mit Emil Kirdorf von der Gelsenkirchener Bergwerks AG ein Treffen einflussreicher Industrieller vorbereitet, auf dem die Wirtschaftsführer Bethmann Hollweg das Misstrauen aussprechen sollten. 110

Vgl. M. Nebelin, Ludendorff, S. 320. Ebd., S. 305. 112 Ebd., S. 329. 113 Vgl. ebd., S. 306. 114 Ebd., S. 307. 111

9. Die Entlassung Bethmann Hollwegs

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Duisburg sprach sich für Hindenburg als Reichskanzler aus. „Wollen wir siegen und bald siegen, so haben unsere ganze Politik und Diplomatie aufzugehen in der Kriegsführung.“115 Am 25. Februar 1917 fand eine Versammlung von 30 Industriellen im Hotel „Adlon“ statt, auf der ebenfalls Hindenburg als Reichskanzler vorgeschlagen wurde. „Wir sind ganz auf Krieg und Gewalt [ein]gestellt, und das Beste wäre, wenn die Sachlage auch äußerlich zum Ausdruck käme“, hieß es.116 Die Alldeutschen hatten schon seit längerem die „politische Unfähigkeit“ des Reichskanzlers angeprangert und lautstark dessen Absetzung gefordert. „Ein solcher Mann in einer solchen Situation an der Spitze des Reiches sei eine Gefahr (…).“117 Die Alldeutschen befanden sich hierbei „insofern in einer besonders günstigen Lage, als sie über sehr wirkungsvolle Verbindungen zur Schwerindustrie verfügten“.118 Nach Kruck kann es als sicher gelten, „daß dem Verband reiche Mittel der Schwerindustrie für den Kampf gegen Bethmann Hollweg und den angeblichen Verzichtsfrieden zugeflossen sind“.119 Im Kampf gegen den Kanzler suchte Claß den Kontakt zur OHL. Hindenburg und Ludendorff „haben der alldeutschen Gedankenwelt innerlich nahegestanden (…). Auch sie waren davon überzeugt, dass der Krieg nicht durch einen Verständigungsfrieden, sondern nur durch den Sieg beendet werden konnte“.120 Bei seiner ersten Begegnung mit Ludendorff, die aber erst am 5. Oktober 1917 stattfand, erklärte der Alldeutsche Verbandsvorsitzende dem General: „Der Krieg sei jetzt nur noch zu gewinnen, wenn das Reich rechtzeitig die Militärdiktatur bekomme (…).“121 Wilhelm II. hatte noch am 11. Juli 1917 es kategorisch abgelehnt, Bethmann Hollweg zu entlassen, obwohl dieser mittlerweile auch die Unterstützung der Mehrheitsparteien im Parlament verloren hatte. Da griff Ludendorff zu einem bewährten Mittel: Er drohte mit Abschied, falls der Kanzler im Amt bliebe. In dem Abschiedsgesuch stellte er den Kaiser ultimativ vor die Alternative: Ludendorff oder Bethmann Hollweg. „Euer Majestät haben sich in der schwersten Krise, die über Deutschland und Preußen hereingebrochen ist, für den Verbleib des Leiters dieser Politik, des Herrn Reichskanzlers, in seinem Amt entschieden. Euer Majestät wissen, dass es für mich als verantwortliches Mitglied der Obersten Heeresleitung unmöglich ist, zu dem Herrn Reichskanzler das Vertrauen zu haben, das als Grundlage für eine nützliche Zusammenarbeit zwischen dem Reichskanzler und der Obersten Heeresleitung zur glücklichen Beendigung des Krieges unerlässlich ist (…). Das Vaterland muss an diesem Mangel an vertrauensvoller Zusammenarbeit leiden (…). Euer Majestät kann ich in meiner Stellung nicht mehr dienen, und Euer Majestät bitte ich 115

Ebd., S. 308. Ebd., S. 308 f. 117 A. Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, S. 92. 118 Ebd., S. 98. 119 Ebd., S. 99. 120 Ebd., S. 102. 121 Ebd., S. 103.

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IV. Der Kriegsverlauf

alluntertänigst, mir den Abschied zu bewilligen.“122 Hindenburg drohte, gleichfalls zu demissionieren. Um dem Kaiser die Peinlichkeit einer Entlassung zu ersparen, reichte Bethmann Hollweg seinen Rücktritt ein.123 Am 13. Juli 1917 trat Bethmann Hollweg von seinem Amt zurück. Ludendorff begrüßte das Scheiden Bethmann Hollwegs aus dem Amt „als eine Befreiung“.124 Die Macht Ludendorffs, des wahren Chefs der OHL, war seit Ende 1916 immer mehr gestiegen.125 Sie war auch durch die Schwäche des Kaisers bedingt, der in den letzten beiden Kriegsjahren immer hilfloser agierte, und wurde mit dem Rücktritt von Bethmann Hollweg noch weiter erhöht. Die Nachfolger von Bethmann Hollweg, Georg Michaelis und Georg von Hertling, waren Verlegenheitslösungen, „betrachteten sich ganz bewusst nur als Ludendorffs politische Gehilfen an der Heimatfront“.126 Ludendorff war zum faktischen „Diktator“ aufgestiegen. Der Rücktritt Bethmann Hollwegs war zugleich auch ein Rückschritt für alle Bemühungen, den Krieg zu beenden. Bethmann Hollweg hatte sich zwar nie für einen Frieden ohne Annexion und Kriegsentschädigung ausgesprochen, er hat sich aber doch – wenn auch oft widersprüchlich und halbherzig – gegen die ausschweifenden Kriegsziele der OHL, der Alldeutschen und der Rechtsparteien gewandt und versucht, diese abzuschwächen und eine etwas realistischere Politik einzufordern.127 Mit dem Rücktritt von Bethmann Hollweg war aber den Vertretern extremer Kriegsziele der Weg geebnet. Der Krieg wurde fortgesetzt mit dem Ziel weitgesteckter Eroberungen. Neben dem direkten Gebietserwerb, wie er im „Kreuznacher Programm“ beschlossen wurde, strebte Ludendorff im Spätsommer 1917 ein deutsch beherrschtes Staatengefüge „Mitteleuropa“ an, in dem die Staaten Belgien, Nie122

Zit. nach: M. Nebelin, Ludendorff, S. 336. E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, S. 275. 124 Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Das Problem des „Militarismus“, Vierter Band: Die Herrschaft des Militarismus und die Katastrophe von 1918, München 1968, S. 153 f. Bethmann habe – so Ludendorff – „immer der Linken nachgegeben“ – und eben davor habe der General stets gewarnt. „Ich halte“, so schrieb er, „eine Politik des Nachgebens gegenüber dem ,Zeitgeist‘ für außerordentlich gefährlich. Sie muss in ihren Konsequenzen zum Niedergang führen.“ 125 Vgl. G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, 3. Band, S. 253. Ritter bezeichnet den neuen Generalstabschef Hindenburg als „Fassadenfigur“, die widerspruchslos alles deckte, was Ludendorff für richtig hielt. Hindenburg selber verglich sein Verhältnis zu Ludendorff mit einer „glücklichen Ehe“, bei der eine enge geistige Gemeinschaft existiert habe. Doch habe Ludendorff – so der Hindenburg-Biograf Edouard Buat – innerhalb dieser „glücklichen Ehe“ die Rolle eines herrischen Ehemanns gespielt. Vgl. J. v. Hoegen, Der Held von Tannenberg, S. 220. 126 Sebastian Haffner, Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches. Grundfehler deutscher Politik nach Bismarck damals und auch heute, Hamburg 1965, S. 106. 127 Nach Kruck begann das Unheil damit, „daß Bethmann Hollweg es versäumte, in der Kriegszielfrage eine klare und feste Stellung einzunehmen. So wurde die führungslose Bevölkerung dem Einfluss der alldeutschen Propagandisten preisgegeben und in ihren überspannten Erwartungen noch durch gelegentlich sehr anspruchsvolle Äußerungen des Kanzlers bestärkt“. A. Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, S. 89. 123

9. Die Entlassung Bethmann Hollwegs

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derlande, Dänemark und Russland wirtschaftlich von Deutschland beherrscht und auch die Rohstoffvorkommen in Schweden und Rumänien für Deutschland gesichert werden sollten.128 Die territorialen Vorstellungen der Militärs waren aber keineswegs auf Europa beschränkt. Zur Sicherung des angestrebten mittelafrikanischen Kolonialreichs sollten zusätzliche Flottenstützpunkte erworben werden: im Atlantischen Ozean die Azoren und Dakar, im Indischen Ozean Timor und Réunion, im Stillen Ozean Yap und Tahiti und in China Tsingtau und Wuhu.129 Außerdem bekräftigte Ludendorff die Auffassung, dass Deutschland für seine Rohstoffversorgung bestimmter Kolonien bedürfe. Ihm schwebten da Gebiete in Südamerika und Asien vor, wo die Deutschen das „Erbe“ der Belgier und Holländer antreten sollten: neben Niederländisch-Guayana insbesondere das rohstoffreiche Niederländisch-Indien, also die Inseln Sumatra, Borneo, Java und Neu-Guinea. Auf diese Weise, so Ludendorff, erhalten wir eine Stellung gegenüber England, „die es uns ermöglicht, unseren Handel im nächsten Krieg aufrechtzuerhalten“.130 Es hatte sich aber auch Widerstand gegen die OHL-Politik entwickelt. Er kam aus dem Parlament. Abgeordnete von SPD, Linksliberalen und des katholischen Zentrums glaubten nicht mehr daran, dass Deutschland den Krieg noch gewinnen kann. Nach Ansicht der Militärs sollte der uneingeschränkte U-Boot-Krieg den Sieg bringen. Stattdessen wurden die USA dazu gebracht, den Gegnern Deutschlands zur Hilfe zu kommen. Der Krieg wurde so auf unbestimmte Zeit ausgeweitet. Der U-Boot-Krieg verfehlte ganz offensichtlich seinen Zweck. Die Bevölkerung war aber schon zu diesem Zeitpunkt kriegsmüde. Sie war verzweifelt und ausgehungert. In fast jeder Familie war ein Vater, ein Bruder oder ein Sohn gefallen. Hunderttausende kehrten von der Front verkrüppelt oder traumatisiert zurück. In seiner Reichstagsrede vom 4. Juli 1917 griff der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger den Admiralsstab an und bezeichnete den U-Boot-Krieg als gescheitert. Den Militärs warf er vor, falsche Angaben über die Effektivität des U-Boot-Krieges gemacht zu haben.131 Das deutsche Volk sei über die wahre Lage, in der es sich befinde, gröblich getäuscht worden. In der ersten Juliwoche 1917 trat der Hauptausschuss des Reichstages zu dem Zweck zusammen, die Abstimmung über die Kriegskredite vorzubereiten. Am 6. Juli regte dort Erzberger die Einstellung des unbeschränkten U-Boot-Krieges an und rief den Reichstag auf, als Einleitung zu einem „Verständigungsfrieden“, eine Resolution gegen Annexionen anzunehmen.132 Es sei preiswerter, 25 000 Alldeut128

Vgl. M. Nebelin, Ludendorff, S. 356. Vgl. ebd., S. 353. 130 Ebd., S. 356. 131 Karl Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, BerlinFrankfurt/Main 1962, S. 208. 132 Erzberger hatte noch zu Beginn des Krieges weitreichende Annexionen gefordert. Er entwarf ein „Kriegszielprogramm“, das dem der Alldeutschen kaum nachstand. Außerdem vertrat er eine rücksichtslose Kriegsführung. Noch 1916 setzte er sich für einen „Siegfrieden“ ein. Von diesen extremen Forderungen setzte sich Erzberger allmählich ab. Ausschlaggebend für diesen Sinneswandel war vor allem der Kriegseintritt der USA im April 1917. Aber auch 129

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IV. Der Kriegsverlauf

sche und andere Annexionsbefürworter „verrückt“ werden zu lassen und für sie Sanatorien zu errichten, als den Krieg fortzusetzen.133 Sowohl Vizekanzler Karl Helfferich als auch Bethmann Hollweg sprachen sich dagegen aus; sie nannten einen solchen Schritt als unangemessen, da er im Ausland als Zeichen der Schwäche ausgelegt werden könne. Es wurde aber ein Interfraktioneller Ausschuss aus Abgeordneten der Nationalliberalen Partei, des Zentrums, der Fortschrittspartei und der Mehrheitssozialisten gebildet, der noch am Nachmittag des 6. Juli zusammentrat, um eine Resolution nach Erzbergers Vorschlag zu entwerfen. Mit dieser Politik sollte zugleich die Zustimmung der Sozialdemokraten zu den zu bewilligenden Kriegskrediten sichergestellt werden. Für die Mehrheitssozialdemokraten war es immer schwieriger geworden, die Unterstützung des Krieges vor ihren Anhängern zu rechtfertigen. Ihre Zustimmung zur neuerlichen Bewilligung der Kriegskredite war damit gefährdet. „Diese Lage wurde dadurch noch problematischer, daß Bethmann sich in der Frage der Kriegsziele auch jetzt nicht festlegte. Die unabhängigen Sozialisten agitierten, der Krieg werde durch den Annexionsehrgeiz der herrschenden Schicht unnötig in die Länge gezogen. Hugo Haase machte bei seinen im allgemeinen eindrucksvollen Philippiken gegen Bethmanns Politik geltend, daß ein ,Verständigungsfriede‘ jederzeit möglich wäre, wenn Deutschland nur auf seine Annexionswünsche verzichte. (…) Die Mehrheitssozialisten, von den Unabhängigen bedrängt, glaubten im Juli 1917, als neue Kriegskredite im Reichstag bewilligt werden sollten, dagegen stimmen zu müssen, solange sie dem Volk nicht versichern konnten, Deutschland führe einen reinen Verteidigungskrieg. Um den politischen Bedürfnissen der Sozialdemokraten entgegenzukommen, teils auch um Eberts Position gegenüber Haase zu stärken, faßte Erzberger den Plan zu einer Friedensresolution.“134 Der von dem Koordinationsgremium entworfene Resolutionsentwurf wurde von den Abgeordneten Erzberger, David, Ebert und Scheidemann im Reichstag einbracht und von Constantin Fehrenbach vom katholisch-konservativen Zentrum am 19. Juli im Reichstag vorgetragen. „Der Reichstag erstrebt einen Frieden der Verständigung und der dauernden Versöhnung der Völker. Mit einem solchen Frieden sind erzwungene Gebietserwerbungen und politische, wirtschaftliche oder finanzielle Vergewaltigungen unvereinbar“, hieß es in der Resolution. Zugleich wurde aber auch unterstrichen: „Solange jedoch die feindlichen Regierungen auf einen solchen Frieden nicht eingehen, solange sie Deutschland und seine das Memorandum vom 12. April 1917 des österreichisch-ungarischen Außenministers Graf Czernin, das Kaiser Karl I. Erzberger zukommen ließ, trug zu dem Sinneswandel bei. In diesem Memorandum hatte Graf Czernin den Zusammenbruch Österreich-Ungarns oder eine Revolution für den Fall vorausgesagt, dass der Krieg noch einen weiteren Winter anhalten sollte. Außerdem wollte Erzberger mit der Friedensresolution eine günstige Atmosphäre für die päpstliche Friedensnote schaffen, die, wie er erfahren hatte, Anfang August veröffentlicht werden sollte. Die Friedensvermittlung des Papstes sollte durch eine Kundgebung des Reichstages für einen annexionslosen Frieden unterstützt werden. Vgl. K. Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, S. 210. 133 Vgl. ebd., S. 212. 134 K. Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, S. 205 f.

9. Die Entlassung Bethmann Hollwegs

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Verbündeten mit Eroberung und Vergewaltigung bedrohen, wird das deutsche Volk wie ein Mann zusammenstehen, unerschütterlich ausharren und kämpfen, bis sein und seiner Verbündeten Recht auf Leben und Entwicklung gesichert ist. In seiner Einigkeit ist das deutsche Volk unüberwindlich. Der Reichstag weiß sich darin eins mit den Männern, die in heldenhaftem Kampfe das Vaterland schützen. Der unvergängliche Dank des ganzen Volkes ist ihnen sicher.“135 Die Resolution war insgesamt recht allgemein gehalten. Wie schon die Friedensresolution von Bethmann Hollweg vom 12. Dezember 1916 enthielt sie keinen Hinweis auf ein Entgegenkommen, etwa auf den Rückzug der deutschen Truppen aus dem besetzten Belgien. Alle Kriegsparteien sollten die Gebiete behalten, die sie erobert hatten. Es sollten keine Sieger und keine Verlierer geben.136 Die Friedensresolution enthielt keine Forderung nach einem Frieden ohne Annexion und Kriegsentschädigung. Die Resolution wurde mehrheitlich im Reichstag mit den Stimmen von SPD, Zentrum und Fortschrittlicher Volkspartei angenommen, Konservative und Unabhängige Sozialdemokraten stimmten dagegen. Die Konservativen beschimpften die Resolution als feigen Verrat auf Eroberungen, die Unabhängigen Sozialdemokraten bezeichneten sie als heuchlerisch, „weil sie Annexion zu verurteilen scheine, ihnen dabei aber die Türen offenhalte“.137 Welche Aussichten hatte die Friedensresolution gehabt, einen Verständigungsfrieden im Sommer 1917 zu erreichen? Sie hätte nur dann zum Tragen kommen können, wenn Regierung, die OHL und der Kaiser ihr zugestimmt hätten. Die volle Übereinstimmung zwischen der Reichstagsmehrheit und der Regierung in der Frage der Kriegsziele wäre die Voraussetzung gewesen. Dies war aber nicht der Fall. Die Resolution wurde fünf Tage nach der Ernennung von Georg Michaelis zum Reichskanzler verabschiedet. In seiner Antrittsrede betonte der Kanzler, dass die Sicherung der deutschen Grenzen „für alle Zeit“ sichergestellt sein müsse, auch innerhalb der Friedensresolution, „wie ich sie auffasse“.138 Damit hatte Michaelis eine zentrale Schwachstelle der Resolution berührt: Sie war so allgemein formuliert, dass sie Interpretationen in unterschiedliche Richtungen zuließ. Die Resolution konnte verschieden ausgelegt werden. Im Ausland wurde die Bedeutung 135

Zit. nach: Herbert Michaelis, Ernst Schraepler (Hrsg.), Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte. Bd. 2: Der militärische Zusammenbruch und das Ende des Kaiserreiches. Berlin 1958/1959, S. 37 f. 136 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 19. Juli 2017, Wie der Reichstag den Ersten Weltkrieg beenden wollte. https://www.sueddeutsche.de/politik/ein-bild-und-seine-geschichte-als-derreichstag-den-ersten-weltkrieg-beenden-wollte-1.3591306 (aufgerufen 10. April 2021). 137 K. Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, S. 225. 138 Georg Michaelis, Für Staat und Volk. Eine Lebensgeschichte. Berlin 1922, S. 328 f. Mit diesem Zusatz hatte sich Michaelis keineswegs versprochen, „sondern die Bemerkung sollte die Tür für das ganze Annexionsprogramm der Obersten Heeresleitung offenhalten (…) Am 25. Juli schrieb er an den Kronprinzen: ,Die berüchtigte Resolution ist mit 212 gegen 126 Stimmen bei 17 Stimmenthaltungen angenommen. Durch meine Interpretation derselben habe ich ihr die größte Gefährlichkeit geraubt. Man kann schließlich mit der Resolution jeden Frieden machen, den man will‘“. K. Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, S. 228.

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IV. Der Kriegsverlauf

der Worte des Reichskanzlers Michaelis „wie ich sie auffasse“ auch sofort erfasst. „Man vermutete zutreffend, daß er für eine mächtige annexionistische Gruppe spreche, die, falls es zu einer Auseinandersetzung kommen sollte, die Unterstützung der Obersten Heeresleitung genießen würde.“139 Die Ententemächte gingen zudem davon aus, dass die Stimme des Reichstages in Deutschland nicht entscheidend sei und keinen unmittelbaren Einschluss auf die Außenpolitik ausübe. Verhandlungen auf der Basis der Friedensresolution wurden nicht aufgenommen.140 Für die Ententemächte wäre die Resolution ohnehin inakzeptabel gewesen, denn diesem Vorschlag zufolge würden die von Deutschland überfallenen Staaten Belgien und Luxemburg sowie die besetzten Teile Frankreichs an das Deutsche Reich fallen.141 Innenpolitisch hatte die Resolution aber ihren Hauptzweck, die Sozialdemokraten zu einer weiteren Unterstützung der Kriegsanstrengungen zu bewegen, erreicht. Die SPD bewilligte abermals die Kriegskredite. Die Resolution war aber keine klare Absage auf Annexion. Erzberger selber wollte mit der Resolution nicht auf alle Annexionen verzichten, wenn sich die Gesamtkriegslage Deutschlands bessern sollte. Erzberger drängte Michaelis am 18. Juli, dem Tag vor der Annahme der Resolution, darauf, „so rasch wie möglich einen unabhängigen litauischen Staat zu schaffen. Dies könne nicht eigentlich als Verletzung der Resolution aufgefasst werden, da es sich um keinen ,erzwungene Gebietserweiterung‘ handele. Eine ähnlich freie Auslegung sollte Erzberger im nächsten Jahr dazu veranlassen, die Bestimmungen des Vertrages von Brest-Litowsk als mit der Friedensresolution vereinbar zu bezeichnen“.142 Für Erzberger bedeutete die Friedensresolution kein Verzicht auf Kriegsziele, deutsche Interessen in Belgien und im Osten seien davon nicht betroffen. Auch das Zentrum, „die Fortschrittspartei und sogar einige Sozialdemokraten kamen wieder auf ihre annexionistischen Wünsche zurück, sobald sich die militärische Lage verbesserte“.143 Zugleich mobilisierte die Resolution auch die 139

K. Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, S. 231 f. Auf dieser Linie lag es, dass auch die Friedensinitiativen des Vatikans von deutscher Seite nicht aufgegriffen wurden. Der Vatikan hatte schon im Dezember 1916 eine Garantie über die Wiederherstellung Belgiens angeregt. Der päpstliche Nuntius in München, Pacelli, unterbreitete dann im Juli 1917 Kanzler Michaelis einen Friedensvorschlag, der die Rückgabe der deutschen Kolonien, die Räumung Belgiens und der besetzten Gebiete Frankreichs vorsah. Bevor eine deutsche Antwort einging, erfolgte am 1. August die Friedensnote von Papst Benedikt XV. Diese sah die gegenseitige Rückgabe aller besetzten Gebiete, insbesondere die vollständige Räumung Belgiens unter Sicherung seiner vollen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit gegenüber jeder Macht sowie die Rückgabe der deutschen Kolonien vor. Obwohl Österreich-Ungarn dazu gedrängt hatte, lehnte das deutsche Kaiserreich die Vermittlung des Papstes ab. Die offizielle deutsche Antwort vom 13. September 1917 enthielt neben allgemeinen Friedensbeteuerungen keine konkreten Vorschläge oder Zugeständnisse. General Ludendorff nannte Papst Benedikt den „Franzosenpapst“, weil er angeblich einseitig die Interessen Frankreichs vertreten würde. 141 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 19. Juli 2017, Wie der Reichstag den Ersten Weltkrieg beenden wollte. 142 K. Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, S. 226. 143 Ebd., S. 233. 140

9. Die Entlassung Bethmann Hollwegs

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Gegner eines jedweden Verständigungsfriedens. „Diese Kreise erhoben den Vorwurf gegen Erzberger, er habe den deutschen Siegeswillen untergraben und sei der glorreichen Armee in den Rücken gefallen.“144 Die OHL lehnte die Resolution entschieden ab. Unter direkter Beteiligung von Ludendorff wurde als Gegenreaktion die annexionistische Deutsche Vaterlandspartei am 2. September 1917 gegründet, die „sich zum Ziel gesetzt hatte, alle Annexionisten in Deutschland zum Kampf gegen die Friedensresolution zusammenzufassen“.145 An der Parteigründung war auch der Alldeutsche Verband beteiligt. Erster Vorsitzender wurde Alfred von Tirpitz, Zweiter Vorsitzender Wolfgang Kapp, der im März 1920 maßgeblich den nach ihm benannten Putsch organisierte. Führende Industrielle, Großgrundbesitzer und Wirtschaftsverbandsfunktionäre gehörten der Partei an wie Max Roetger, Wilhelm von Siemens, Carl Duisberg, Carl Ziese, Ernst von Borsig, Hugo Stinnes, Emil Kirdorf, Jakob Wilhelm Reichert, Alfred Hugenberg, Ernst Schwenkendick, Conrad Freiherr von Wangenheim, Johann Christian Eberle und Hermann Röchling. „Ihren geographischen Schwerpunkt hatte die mit kräftigen Finanzspritzen der Schwerindustrie ausgestattete nationalistische Sammlungsbewegung, die von Regierung und OHL unverblümt unterstützt wurde, im Norden und Osten (Ostelbien) sowie in Thüringen und Sachsen. Bereits nach vier Monaten zählte die Partei rund 450 000 Einzelmitglieder, die in circa 2 500 Ortsvereinen organisiert waren. Das Führungspersonal bestand zumeist aus konservativen Bildungsbürgern und deutschnationalen örtlichen Honorationen.“146 Außenpolitisch vertrat die Partei die siegreiche Beendigung des Krieges und die Sicherstellung eines „deutschen Friedens“. Unter „deutschem Frieden“ wurde die Annexion Belgiens, des Erzbeckens von Briey und Longwy, der französischen Kanalküste unter Einschluss der Normandie und Luxemburgs sowie die Unterordnung der Niederlande unter die deutsche Politik verstanden. Ferner war das Ziel ein geschlossenes Kolonialreich Afrika unter Einschluss Belgisch-Kongos sowie die Schaffung eines von Deutschland abhängigen polnischen Staates und die Annexion der russischen Ostseegouvernements und Litauens und Teilen des westlichen Westrusslands und der westlichen Ukraine. Weiter wurden gewaltige Entschädigungssummen von den Feindmächten gefordert.

144 Ebd., S. 229. „In diesen Tagen wurde die Saat gelegt für seine spätere Ermordung durch junge irregeleitete Männer, ihr Denken hatte eine Hetze vergiftet, die von jenen Schichten geschürt wurde, die sich in ihrer überkommenen Herrschaft über Deutschland bedroht fühlten.“ Ebd., S. 236. 145 Ebd., S. 245. 146 G. Hirschfeld/G. Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, S. 235 f.

V. Die SPD und der Krieg Grundlegendes Ziel der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Europas war die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, wozu auch der Kampf für demokratische Rechte – wie das allgemeine gleiche und geheime Wahlrecht – gehörte. Angesichts der krisenhaften Entwicklung in Europa und in der Welt rückte aber eine weitere Frage zunehmend in den Mittelpunkt der Überlegungen: der Kampf gegen die drohende Kriegsgefahr. Kein Ereignis bedroht die soziale Lage der arbeitenden Menschen mehr als der Krieg – sind sie es doch, die die Lasten des Krieges oft mit dem Leben bezahlen müssen. Deshalb sahen es die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien als ihre Pflicht an, die arbeitenden Menschen vor diesem Schicksal zu bewahren. Die Frage, wie der Ausbruch eines Krieges verhütet werden kann, spielte schon auf dem Gründungskongress der II. oder Sozialistischen Internationale 1889 in Paris eine zentrale Rolle. Festgestellt wurde, dass Kriege das Produkt der gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnisse sind und erst verschwinden werden, wenn die kapitalistische Produktionsweise überwunden ist. Auch der Brüsseler Kongress – zwei Jahre später – befasste sich eingehend mit der Frage des Krieges und stellte in seiner Resolution ebenfalls fest, dass die Wurzeln des Krieges in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung liegen und Frieden erst mit der Überwindung des Kapitalismus geschaffen werden kann. Die Delegierten waren sich aber auch im Klaren, dass die kapitalistischen Verhältnisse nicht in absehbarer Zeit überwunden werden können, und so stellte sich gleichsam für sie die Frage, ob die Arbeiterbewegung unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen in der Lage sei, Kriege durch Massenaktionen zu verhindern. Kriegserklärungen – so wurde gefordert – sollten mit einem Aufruf der Völker zur allgemeinen Arbeitseinstellung beantwortet werden. Auch der Londoner Kongress von 1896 beschäftigte sich eingehend mit der Kriegsfrage und formulierte eine Reihe konkreter Forderungen, um der Kriegsgefahr entgegenzuwirken. Er forderte, wie schon der Pariser Kongress von 1889, die Abschaffung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch eine Volksmiliz sowie die Einsetzung eines internationalen Schiedsgerichts für die friedliche Beilegung von Konflikten zwischen den Nationen. Gleich nach dem Londoner Kongress hatten sich die Kriegsspannungen in der Welt verschärft. 1898 unternahmen die Franzosen von Westafrika aus einen Vorstoß nach Faschoda im Sudan – England und Frankreich standen am Rande eines Krieges. Ein Jahr später folgte der Burenkrieg in Transvaal, und im Jahre 1900 begann der Kreuzzug der Großmächte gegen China. Die europäischen Großmächte hatten gemeinsam die Zerstückelung und Aufteilung Chinas geplant. Russland besetzte die

V. Die SPD und der Krieg

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Mandschurei, Dairen und Port Arthur. Deutschland erpresste die Pachtung der Bucht von Kiautschou und unterwarf die Chantung-Provinz seiner Kontrolle. England bemächtigte sich des Hafens von Weihaiwei und erklärte das Yangtsetal als englische Einflusssphäre. Frankreich erzwang die Pachtung der Bucht von Kwantung und Vorrechte in der Yunnan-Provinz. Die Fremdherrscher beuteten das Land brutal aus, die Bevölkerung war arm und musste hungern. So kam es zum Aufstand – dem „Boxer-Aufstand“ – gegen die Fremdherrschaft der Europäer. Bei der Verabschiedung einer internationalen Strafexpedition zur Niederschlagung des „Boxeraufstandes“ in China gab Kaiser Wilhelm II. den deutschen Soldaten die Ermahnung mit auf dem Weg: „Es wird kein Pardon gegeben, Gefangene nicht gemacht! Wer Euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!“1 Die SPD hatte 1900 auf ihrem Parteitag in Mainz sich ausgiebig mit dem Zusammenhang von Kolonialpolitik und Krieg beschäftigt. In der verabschiedeten Resolution hieß es: Die Kolonialpolitik entspringe „in erster Linie dem habgierigen Verlangen der Bourgeoisie nach neuen Gelegenheiten zur Unterbringung des stets anschwellenden Kapitals, sowie dem Drang nach neuen Absatzmärkten“. Diese Politik beruhe „auf der gewaltsamen Aneignung fremder Ländergebiete und der rücksichtslosen Unterjochung und Ausbeutung der in denselben wohnenden Völkerschaften.“ Sie verrohe und demoralisiere die „ausbeutenden Elemente“ selbst, „die ihre Raubsucht durch die verwerflichsten ja selbst unmenschlichsten Mittel zu befriedigen streben“. Gegen diese „Raub- und Eroberungspolitik“ erhebe die Sozialdemokratie „als Feindin jeder Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen durch Menschen entschiedenen Widerspruch“. Sie verlangt, so die Resolution, „daß die wünschenswerten und erforderlichen Kultur- und Verkehrsbeziehungen zu allen Völkern der Erde dadurch verwirklicht werden, dass die Rechte, die Freiheiten sowie die Unabhängigkeit dieser Völkerschaften geachtet und gewahrt werden und sie nur durch Lehre und Beispiel für die Aufgaben moderner Kultur und Zivilisation gewonnen werden“.2 Auch der Pariser Kongress der Sozialistischen Internationale vom September 1900 debattierte eingehend die Kolonialpolitik der Großmächte als ein Wesenselement des Krieges. Militarismus und Kolonialismus wurden als zwei Seiten einer neuen Entwicklung der Weltpolitik bezeichnet. Kriege seien keine nationalen Kriege mehr, sondern imperialistische Kriege, Kriege der herrschenden Klassen um Kolonialbesitz, um Märkte und Einflusssphären in Asien und Afrika. Die Kolonialpolitik der Bourgeoisie habe als alleinigen Zweck, so wurde in der verabschiedeten Resolution erklärt, „den Profit der Kapitalistenklasse zu steigern und das kapitalistische System aufrechtzuerhalten“; sie vergeude dabei „Gut und Blut des alle Werte schaffenden Proletariats“ und verübe „Verbrechen und Grausamkeiten ohne 1

Zit. nach: G. Hirschfeld/G. Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, S. 13 f. Zit. nach: Julius Braunthal, Geschichte der Internationale, Band 1, Berlin/Bonn 1978, S. 313. 2

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Zahl an den Eingeborenen der mit Waffengewalt eroberten Kolonien“. Die Resolution forderte die Arbeiterklasse aller Länder auf, mit allen Mitteln „die kapitalistische Kolonialexpansion zu bekämpfen, die Kolonialpolitik der Bourgeoisie zu verdammen und die Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten an den Eingeborenen, die der Raubgier eines ehrlosen Kapitalismus ausgeliefert sind, zu geißeln.“3 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Welt in Einflusssphären der europäischen Großmächte aufgeteilt. Das Deutsche Kaiserreich war mit seiner Kolonialpolitik zu spät gekommen und musste sich im Gegensatz zu Großbritannien und Frankreich mit kleinen und unbedeutenden Gebieten in Afrika und im Fernen Osten abfinden. Seit der Reichsgründung 1871 setzte in Deutschland eine rasante Industrialisierung ein. Deutschland schickte sich an, England wirtschaftlich zu überrunden. Vor allem im Bereich der neuen Industrien, vornehmlich der Elektroindustrie, machte sich Deutschland daran, „eine den Weltmarkt beherrschende Stellung einzunehmen“.4 Gestützt auf die gewachsene Wirtschaftsmacht forderte das Deutsche Kaiserreich eine Vergrößerung des eigenen Einflusses und weitere Gebietsgewinne. Das Problem war, dass die Kolonialgebiete zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend verteilt waren. Die deutsche Expansions- und Kompensationspolitik führte zwangsläufig zu Konflikten mit den etablierten Großmächten. Frankreich und Großbritannien hatten sich 1904 in der „Entente Cordiale“ über die Verteilung der afrikanischen Kolonialgebiete verständigt: Marokko fiel der französischen Einflusssphäre zu, Ägypten hingegen der britischen. Deutschland fühlte sich übergangen und provoziert und befürchtete, durch die Verständigung der beiden Großmächte in eine gefährliche politische Isolation zu geraten. Es trat mehrmals an Russland heran zur Errichtung eines Kontinentalbündnisses, allerdings ohne Erfolg. Russland war bereits mit dem 1892 abgeschlossenen Zweibund ein Bündnis mit Frankreich eingegangen. Als in dem russisch-japanischen Krieg Russland eine schwere Niederlage hinnehmen musste, hielt das Auswärtige Amt die Stunde für gekommen, Druck auf Frankreich auszuüben, um es von der Seite Großbritanniens zu lösen. Das Kaiserreich forderte die Marokko-Frage auf einer einzuberufenden internationalen Konferenz zu regeln. Um diese Forderung zu unterstreichen, stattete Kaiser Wilhelm II. Ende März 1905 dem Sultan von Marokko einen Staatsbesuch ab. Der triumphale Empfang Kaiser Wilhelms in Tanger erregte bei der französischen Regierung und in der Öffentlichkeit großes Aufsehen. Frankreich war brüskiert und bot im Mai 1905 dem deutschen Kaiserreich eine Beilegung der kolonialen Streitigkeiten nach dem Muster der „Entente Cordiale“ an.5 Deutschland beharrte aber auf seiner Forderung nach Einberufung einer internationalen Konferenz zur Marokko-Frage, die dann auch im Januar 1906 im spanischen Algeciras stattfand. Auf der Konferenz musste die deutsche Delegation eine schwere diplomatische Niederlage hinnehmen. Nicht 3

Zit. nach: ebd., S. 315. G. Hirschfeld/G. Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, S. 12. 5 Bezeichnend für die unzulängliche Zusammenarbeit zwischen Kaiser und deutscher Reichsregierung war, dass der Kaiser das geheime Verhandlungsangebot des französischen Ministerpräsidenten nie zu Gesicht bekam. 4

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Frankreich, das die Unterstützung aller anderen Staaten erhielt, war politisch isoliert, sondern das Deutsche Reich, das sich lediglich auf Österreich-Ungarn als Verbündeten stützen konnte. In der schließlich am 7. April 1906 unterzeichneten „Algeciras-Akte“ wurde zwar die Handelsfreiheit garantiert, zugleich aber auch die Schaffung internationaler Institutionen zur Kontrolle Marokkos vorgesehen, in denen Frankreich besonders stark vertreten war. Die britisch-französische „Entente Cordiale“ ging gestärkt aus der Konferenz hervor. Die kurzsichtige Drohpolitik, Frankreich in die Enge zu treiben, war gescheitert und führte nur zu einer Festigung der Bande zwischen den Entente-Partnern. Das deutsche Kaiserreich hatte die Marokko-Krise provoziert, nicht weil es elementare wirtschaftliche Interessen in Marokko hatte, sondern um seinen machtpolitischen Anspruch in der Welt zu unterstreichen. Dabei gerieten die europäischen Mächte an den Rand eines Krieges. In Kreisen höherer Heeresoffiziere war ein Angriffskrieg gegen Frankreich erwogen worden, und fest steht auch, dass in der deutschen Reichsleitung die Frage des Krieges zur Debatte stand. Mit dem Abschluss der „Algeciras-Akte“ war die Lage in Europa keineswegs sicherer geworden. Das Deutsche Reich reagierte auf die Niederlage mit einer Verstärkung seines Flottenbaus und provozierte England so aufs Neue. London antwortete mit dem Abschluss eines Abkommens mit St. Petersburg, in dem beide Mächte sich über ihre jeweiligen Einflusssphären in Vorder- und Mittelasien einigten. Deutschland hatte alles getan, um die anderen Großmächte einander näherzubringen. Die in Deutschland oft empfundene „Einkreisung“ war selber ein Ergebnis der deutschen Außenpolitik. Als England sich um eine Verständigung mit Deutschland über eine Beschränkung der Flottenrüstungen bemühte, wurde es von Kaiser Wilhelm schroff zurückgewiesen. Auch die Haager Friedenskonferenz scheiterte letztlich an der Haltung des Deutschen Kaiserreiches. Die Haager Friedenskonferenzen waren aufgrund einer Anregung des russischen Zaren Nikolaus II. einberufen worden. Sie sollten der Abrüstung und der Entwicklung von Grundsätzen für die friedliche Regelung von internationalen Konflikten dienen. Sie waren auch ein Erfolg der Antikriegsbewegung in Europa. Die erste Konferenz fand 1899 statt und die zweite vom 15. Juni bis zum 18. Oktober 1907 in Den Haag. An ihr nahmen Vertreter aus insgesamt 44 Staaten teil. Es sollte eine internationale Rechtsordnung ausgearbeitet werden sowie Normen für friedliche Lösungen bei internationalen Streitfällen. Sie konnte sich aber auf keine Abrüstungsschritte einigen. Auch die Einführung einer obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit scheiterte an der ablehnenden Haltung des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns, der Türkei und einiger kleiner Staaten. Kaiser Wilhelm II. hatte sich geweigert, „die Frage einer allgemeinen Rüstungsbeschränkung auch nur in den Bereich von Beratungen ziehen zu lassen oder ein Abkommen zu akzeptieren, Konflikte einem Schiedsgericht zur Schlichtung zu unterbreiten“.6 Lediglich die Errichtung eines Schiedsgerichtshofes in Den Haag konnte durchgesetzt werden. Das anhaltende forcierte Wettrüsten der 6

J. Braunthal, Geschichte der Internationale, Band 1, S. 345.

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Mächte hatte aber in Europa eine Atmosphäre des Misstrauens, der Feindschaft und der Angst erzeugt. Die Spannungen konnten sich jeden Augenblick in einen europäischen Krieg entladen. Der Stuttgarter Kongress war der siebente und zugleich größte Kongress der Zweiten Internationale. 886 Delegierte hatten sich in Vertretung von 25 Nationen versammelt. Ein Schwerpunkt war wiederum die Kriegsverhinderung. „Militarismus und internationale Konflikte“ stand als erster Punkt auf der Tagesordnung. Der Kongress analysierte eingehend die mit dem Wettrüsten neu entstandene Lage in Europa und diskutierte ausführlich, wie mit welchen Kampfformen ein Krieg verhindert werden kann. Die von der französischen Delegation eingebrachte Resolution von Jean Jaurès und Edouard Vaillant sah im Kapitalismus den Urgrund des Krieges. „Wie die Wolke das Gewitter, so trägt der Kapitalismus den Krieg in sich“, hieß es da. „Aber Kriege entladen sich nicht wie Gewitter aus Spannungen elementarer Kräfte; sie entspringen einem menschlichen Willensakt und sind daher nicht unabwendbar. Sie können verhütet werden, wenn dem Willensakt der herrschenden Klasse ein Willensakt der Arbeiterklasse entgegengesetzt wird. Die Arbeiterklasse besitze die Kraft, die Katastrophe von Kriegen selbst in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung abzuwenden.“ Zum Schluss der Resolution wurden konkrete Schritte zur Kriegsverhinderung genannt. „Die Verhütung und Verhinderung des Krieges ist durch nationale und internationale Aktionen der Arbeiterklasse mit allen Mitteln, von der parlamentarischen Intervention, der öffentlichen Agitation bis zum Massenstreik und zum Aufstand zu bewirken.“ Gegen diesen Passus wandte sich die von August Bebel geführte deutsche Delegation. Die Propagierung der von der Resolution Jaurès-Vaillant geforderten Kampfmittel – Massenstreik und Aufstand – sei für Deutschland unmöglich und würde die Partei in die größten Schwierigkeiten und Gefahren stürzen. Stattdessen schlug er vor, dass die Arbeiter und ihre parlamentarischen Vertreter verpflichtet seien, „alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Kriegs zu verhindern, oder, falls ein solcher dennoch ausbrechen sollte, für seine rasche Beendigung einzustehen“.7 Jaurès argumentierte dagegen. Die Internationale dürfe sich nicht mit vagen Formeln über die Kriegsverhütung begnügen. Die Kampfmethoden gegen den Krieg müssten mit aller Klarheit festgelegt werden. Es dürfe nicht erlaubt sein, „daß das französische und deutsche Proletariat sich im Auftrage und zum Nutzen der Kapitalisten morden, ohne daß die Sozialdemokratie eine äußerte Kraftanstrengung versucht hätte“. Bebel erwiderte, „dass es an einer solchen Kraftanstrengung gewiss nicht fehlen werde, seine Resolution schließe kein zweckmäßiges Mittel der Kriegsverhinderung aus“.8 Der Kongress war bemüht, eine Einigung der französischen und deutschen Delegation herbeizuführen. Die Entscheidung über Krieg und Frieden in Europa liege in Berlin und Paris. Nur wenn sich die deutschen und französischen Sozialdemokraten über gemeinsame Aktionen 7 8

Zit. nach: ebd., S. 340 f. J. Braunthal, Geschichte der Internationale, Band I, S. 342.

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gegen die Kriegsgefahr verständigten und so die Regierung Deutschlands und Frankreichs unter unwiderstehlichen Druck setzten, könne gehofft werden, die Kriegsgefahr abzuwenden. Der Kongress einigte sich auf eine umfangreiche Resolution. Das Phänomen des Krieges wurde als wesentliche Erscheinungsform des Kapitalismus bezeichnet. „Kriege zwischen kapitalistischen Staaten sind in der Regel Folgen ihres Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkt, denn jeder Staat ist bestrebt, sein Absatzgebiet nicht nur zu sichern, sondern auch neue zu erobern, wobei Unterjochung fremder Völker und Länder eine Hauptrolle spielt. Diese Kriege ergeben sich weiter aus den unaufhörlichen Wettrüstungen des Militarismus (…) Kriege liegen also im Wesen des Kapitalismus; sie werden erst aufhören, wenn die kapitalistische Wirtschaftsordnung beseitigt ist (…) Daher ist die Arbeiterklasse, die vorzugsweise die Soldaten zu stellen und hauptsächlich die materiellen Opfer zu bringen hat, eine natürliche Gegnerin des Krieges (…).“ Der Kongress verpflichtete die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien mit allen Kräften gegen die Rüstungen zu Wasser und zu Lande zu kämpfen und die Jugend der Arbeiterklasse im Geiste der Völkerverbrüderung und des Sozialismus zu erziehen. Die Internationale sei jedoch außerstande, „die in den verschiedenen Ländern naturgemäß verschiedenen, der Zeit und dem Ort entsprechenden Aktionen der Arbeiterklasse gegen den Militarismus in starre Formen zu bannen“.9 Seit dem Brüsseler Kongress habe die Arbeiterklasse Aktionen in den verschiedenartigsten Formen unternommen, um den Ausbruch von Kriegen zu verhüten oder ihnen ein Ende zu bereiten, so die Verständigung der englischen und französischen Gewerkschaften nach der Faschoda-Krise zur Sicherung des Friedens, die Aktionen der sozialdemokratischen Parteien im deutschen und französischen Parlament und in den Massenversammlungen während der Marokko-Krise, das Eingreifen der sozialistischen Arbeiterschaft Schwedens zur Verhinderung eines Angriffs auf Norwegen sowie der Kampf der sozialistischen Arbeiter und Bauern Russlands und Polens, um sich dem vom Zarismus entfesselten Krieg gegen Japan zu widersetzen. All diese Bestrebungen, so betonte die Resolution, „legen Zeugnis ab von der wachsenden Macht des Proletariats und seiner wachsenden Kraft, die Aufrechterhaltung des Friedens durch entschlossenes Eingreifen zu sichern“. Die Resolution schloss mit einer von Lenin, Luxemburg und Martow gemeinsam beantragten Erklärung: „Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Bureaus, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern (…). Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes 9

Zit. nach: ebd., S. 343.

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auszunützen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“10 Die Resolution wurde mit stürmischem, langanhaltendem Beifall einstimmig beschlossen. Auch der 8. Kopenhagener Kongress, der vom 28. August bis 3. September 1910 tagte, hatte als zentrales Thema die drohende Kriegsgefahr der Großmächte. 896 Delegierte vertraten 24 Länder. Der Kongress stand unter dem Eindruck des verschärften Wettrüstens zur See, des Wettrüstens zwischen England und dem deutschen Kaiserreich. Ein neues Element der Kriegsgefahr sei entstanden: die Gefahr eines Seekrieges zwischen diesen beiden Großmächten um die Vorherrschaft über die Meere. Der Kongress verpflichtete die sozialdemokratischen und sozialistischen Parlamentsabgeordneten, eine weitere Aufrüstung mit allen Mitteln zu verhindern. Im Parlament sollten die dazu nötigen Gelder verweigert werden. Dagegen wurden die Abgeordneten aufgefordert, durch „immer erneuerte Anträge“ die Abrüstung zu fordern. Neben einer allgemeinen Abrüstung wurde vom Kongress die Abschaffung der Geheimdiplomatie und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen gefordert. Die Resolution bestätigte schließlich die Stuttgarter Beschlüsse – die zwei Schlussabsätze der Resolution wurden im Wortlaut übernommen – und erteilte dem Internationalen Sozialistischen Büro die Weisung, „bei drohender Kriegsgefahr sofort die nötigen Schritte einzuleiten, um zwischen den Arbeiterparteien der betroffenen Länder das Einvernehmen über ein einheitliches Vorgehen zur Verhütung des Krieges herbeizuführen“.11 Eine lebhafte Diskussion entwickelte sich abermals zur Frage des Generalstreiks. Die französische Delegation hatte gefordert, dass der Generalstreik als das zweckmäßigste Mittel zur Verhütung des Krieges anerkannt werde. Die Delegierten konnten sich jedoch nicht zu dieser Frage einigen und überwiesen den Antrag dem Internationalen Sozialistischen Büro zur Behandlung, um ihn auf dem folgenden Kongress erneut in Beratung zu ziehen. Im Sommer 1911 stand Europa abermals am Rande eines Krieges. Wieder war Marokko Ausgangspunkt der internationalen Krise. Frankreich hatte Unruhen in dem nordafrikanischen Sultanat zum Anlass genommen, erst Rabat und dann Fes zu besetzen. Mit seinen Truppen drang es bis tief ins Landesinnere vor. Das Deutsche Reich sah seine ökonomischen und politischen Belange im Lande bedroht. Der für die Außenpolitik zuständige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Alfred von Kiderlen-Wächter, war bereit, Frankreich die Vorherrschaft über Marokko zu überlassen, wollte sich aber dieses Zugeständnis durch umfangreiche Gebietsabtretungen im französischen Kongogebiet bezahlen lassen. Um der deutschen Forderung Nachdruck zu verleihen, landete auf Kiderlens Betreiben am 1. Juli 1911 das Kanonenboot „Panther“ im Hafen von Agadir. Zwei Wochen später trug die deutsche Regierung die Forderung nach Abtrennung von Französisch-Kongo offiziell gegenüber Frankreich vor, publizistisch unterstützt vor allem durch den Alldeutschen Verband. Kiderlen hatte sich persönlich bei dem Vorsitzenden des Alldeutschen 10 11

Zit. nach: ebd., S. 344. Zit. nach: ebd., S. 346 f.

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Verbandes, Heinrich Claß, um eine Unterstützung bemüht. Die deutsche Führung unter Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler Bethmann Hollweg gedachte, Frankreich durch Drohgebärden an den Verhandlungstisch und zu den gewünschten Gebietsabtretungen zwingen zu können. Frankreich, der Unterstützung Großbritanniens gewiss, war jedoch zu keinen substanziellen Zugeständnissen bereit. Die Verhandlungen gerieten ins Stocken. In Deutschland mehrten sich die Stimmen, die einen Präventivkrieg als einzigen Ausweg sahen. Auch außerhalb des Alldeutschen Verbandes war die Auffassung sehr verbreitet, dass der Krieg unvermeidlich sei. Die Alldeutschen waren eh seit Längerem der Auffassung, „daß der Widerstreit der deutschen Interessen mit denen der Nachbarnationen eines Tages durch die Waffe gelöst werden müsse“.12 Den Krieg sehnten sie herbei als den Erwecker aller guten und gesunden Kräfte im Volk. „Der Krieg ist uns Alldeutschen nun einmal nicht der große und blindwütige Zerstörer, sondern der sorgsame Erneuerer und Erhalter, der große Arzt und Gärtner, der die Menschheit auf ihrem Wege zur Höherentwicklung begleitet (…) Wehe dem Volke, das längere Zeit hindurch seiner heilenden und hegenden Hand entraten muß!“13 Aber auch die Entente-Mächte arbeiteten Pläne für den Ernstfall aus. Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler Bethmann Hollweg wollten es aber nicht wegen Marokko zum Krieg kommen lassen, und so konnte im letzten Augenblick der Ernstfall auf diplomatischem Wege abgewendet werden. In dem am 4. November 1911 in Berlin unterzeichneten Abkommen verzichtete Deutschland auf jede Art von politischer Einflussnahme in Marokko, erhielt aber die Zusicherung einer ungehinderten wirtschaftlichen Betätigung deutscher Unternehmen. Frankreich musste einen Teil des Kongos an Deutschland abtreten, erhielt dafür aber Gebiete aus deutschem Kolonialbesitz in Togo und Kamerun. Nicht nur die Alldeutschen und die Rechtsparteien warfen der Reichsleitung „Kleinmut“ vor. Als Bethmann Hollweg am 9. und 10. November 1911 im Reichstag die deutsche Haltung verteidigte und den Gedanken an einen Präventivkrieg zurückwies, wurde er von verschiedenen Seiten scharf angegriffen. Der Fraktionsvorsitzendes des Zentrums, Graf Georg von Hertling, meinte, dass die Aufrechterhaltung des Friedens ein hohes Gut sei, „dass es aber zu teuer erkauft sei, wenn es nur auf Kosten unserer Weltgeltung geschehen kann“. Der Vorsitzende der Nationalliberalen, Ernst Bassermann, sprach von einer „Niederlage“, die Deutschland in der Marokko-Krise erlitten habe und warnte das Ausland zugleich, „es möge sich darüber im klaren sein, daß wir unserer nationalen Ehre nicht zu nahe treten lassen, und daß, wenn es darauf ankommt, mit den Waffen Deutschland zu verteidigen, das Ausland ein einiges Deutschland finden wird“. Der Vorsitzende der Deutschkonservativen, Ernst von Heydebrand und der Lasa, meinte, dass mit Nachgiebigkeit kein besserer Platz in der Welt für Deutschland erkämpft werden könne. „Das, was uns der Frieden sichert, das sind nicht die Nachgiebigkeiten, sind nicht die Einigungen, nicht die Verständigungen, sondern das ist unser gutes deutsches Schwert 12 13

A. Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, S. 66. Zit. nach: ebd., S. 69.

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und zugleich das Gefühl, das die Franzosen wohl mit Recht haben werden, daß wir auch auf eine Regierung zu sehen hoffen, die gewillt ist, dieses Schwert zu gegebener Zeit nicht rosten zu lassen.“ An die Adresse Englands gerichtet, fuhr der Redner fort: Das deutsche Volk wisse nun, „wo sein Feind sitzt. Das deutsche Volk weiß jetzt, wenn es sich ausbreiten will auf dieser Welt, wenn es seinen Platz an der Sonne suchen will, den ihm sein Recht und seine Bestimmung zugewiesen hat, – dann weiß es jetzt, wo derjenige steht, der darüber zu gebieten haben will, ob er das erlauben will oder nicht“. 14 Die Reichstagsrede August Bebels stand in einem diametralen Gegensatz zu dieser Kriegsrhetorik. Er warnte die Herrschenden vor weiteren Aufrüstungen und deren möglichen Folgen: Von allen Seiten werde weitergerüstet, „bis zu dem Punkte, daß der eine oder andere Teil eines Tages sagt: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende (…) dann kommt die Katastrophe. Alsdann wird in Europa der große Generalmarsch geschlagen, auf den hin 16 bis 18 Millionen Männer, die Männerblüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen, gegeneinander als Feinde ins Feld rücken. Aber nach meiner Überzeugung steht hinter dem großen Generalmarsch der große Kladderadatsch (…) Er kommt nicht durch uns, er kommt durch sich selber. Sie treiben die Dinge auf die Spitze, sie führen es zu einer Katastrophe (…) Die Götterdämmerung der bürgerlichen Welt ist im Anzuge. Seien Sie sicher: sie ist im Anzug! Sie stehen heute auf dem Punkte, ihre eigene Staats- und Gesellschaftsordnung zu untergraben, ihrer eigenen Staats- und Gesellschaftsordnung das Totenglöcklein zu läuten“. Das Protokoll verzeichnete „Lachen“ und große „Heiterkeit“ sowie den Zuruf von rechts: „Nach jedem Krieg wird es besser!“15 In Kopenhagen war beschlossen worden, den nächsten Kongress der Internationale im Sommer 1913 in Wien abzuhalten; dazu sollte es aber nicht mehr kommen. Am 16. Oktober 1912 schrieb Bebel an Victor Adler, dem Führer der österreichischen Sozialdemokratie: „Ich bin schon seit längerer Zeit bei Betrachtung der europäischen Situation zu der Ansicht gekommen, daß das nächste Jahr uns wahrscheinlich den europäischen Krieg auf den Hals bringt, hauptsächlich verschuldet durch unsere blödsinnige England-Politik, die eine Gruppierung der Mächte geschaffen hat, die vor wenigen Jahren kein Mensch für möglich gehalten hätte und innerlich so unnatürlich wie möglich ist. Mich dünkt, die Engländer halten die Situation auf die Dauer nicht länger aus und drängen nach einer Auseinandersetzung (…) Kommt es in der Türkei zum Zusammenstoß, so glaube ich nicht an eine Isolierung des Krieges.“16 Eine Woche später, am 13. Oktober, erklärten tatsächlich die Balkanstaaten der Türkei den Krieg, und nach wenigen Wochen waren sie bis vor Konstantinopel vorgedrungen. Die türkische Herrschaft auf dem Balkan war zu Ende. Gleichwohl bestand die Gefahr, dass der Balkankrieg in einen europäischen Krieg umschlagen könne. Der Sieg der Balkanstaaten unter Serbiens Führung wurde 14

Zit. nach: H. A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, S. 312. Zit. nach: ebd., S. 313. 16 Zit. nach: J. Braunthal, Geschichte der Internationale, Bd. 1, S. 347 f. 15

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von der österreichischen Regierung als Bedrohung empfunden. Sie sahen in Serbien mit seinen kaum drei Millionen Einwohnern einen gefährlichen Gegner – den Fürsprecher der sieben Millionen Südslawen, die der Habsburgischen Herrschaft unterworfen waren. Bereits 1908, als Österreich-Ungarn die türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina mit ihrer überwiegend slawischen Bevölkerung annektierte, war es zur Konfrontation mit Serbien gekommen, das die nationale Vereinigung mit den Slawen in den annektierten Provinzen anstrebte. Russland unterstützte die Ansprüche Serbiens, Deutschlands die Ansprüche Österreichs. Die Balkankrise drohte schon damals in einen europäischen Krieg umzuschlagen. Nach der Niederlage im russischjapanischen Krieg wollte Russland aber keine Konfrontation mit Österreich riskieren. 1912 war die Balkankrise wieder aufgeflammt. Serbien war im Krieg gegen die Türkei als Sieger hervorgegangen und erstrebte nun einen Hafen am Adriatischen Meer. Österreich war jedoch entschlossen, eine Gebietserweiterung Serbiens nicht hinzunehmen. Österreich mobilisierte seine Armee und drohte mit einer militärischen Intervention. Wieder trat Russland an die Seite Serbiens, und es erschien, als wäre ein Zusammenstoß zwischen Österreich und Russland unvermeidlich. Der Weltfriede war in Gefahr, da sowohl Österreich im Dreibund mit Deutschland und Italien verbunden war und Russland in der russisch-französischen Allianz mit Frankreich. Angesichts der angespannten Lage in Europa trat am 28. Oktober das Büro der Sozialistischen Internationale in Brüssel zusammen und beschloss, einen außerordentlichen Kongress nach Basel für den 24./25. November einzuberufen und gleichzeitig den für 1913 vorgesehenen Kongress in Wien auf 1914 zu vertagen. Vor dem Hintergrund der Balkankriege wollten die Sozialdemokraten und Sozialisten Europas noch einmal ihren Friedenswillen bekunden und ihre Bereitschaft, mit allen Mitteln einen drohenden Krieg zu verhindern. In einem Flugblatt der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz hieß es zum Kongress: „Nächsten Sonntag tritt in Basel der sozialdemokratische Weltkongress gegen den Krieg zusammen. Er wird sich den gewissenlosen Kriegshetzern, den Diplomaten, Offizieren und Fürsten, den profitlüsternden Armeelieferanten und ihren Zeitungssöldnern entgegenstemmen den geeinten Willen des Proletariats der ganzen Erde. Er wird sein der Stimmenchor aller Völker des Erdballs, und diese Völker wollen den Frieden, wollen Frieden um jeden Preis, sind entschlossen, eine Ausweitung des Balkankrieges zum Weltbrande mit allen Mitteln zu wehren.“17 Der Baseler Kongress war vor allem eine eindrucksvolle Friedensmanifestation. Während der Eröffnungssitzung in Gegenwart von 555 Delegierten aus 23 Nationen im Saale der Burgvogtei waren Sonderzüge aus Baden, dem Elsass und allen Teilen der Schweiz in Basel eingetroffen. Tausende Menschen versammelten sich in der Riesenhalle des Münsters und dem weiten Platz, der ihn umgibt. Um zwei Uhr setzte 17 Laura Polexe, Netzwerke und Freundschaft. Sozialdemokraten in Rumänien, Russland und der Schweiz an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, Göttingen 2011, S. 83.

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sich der Zug der Delegierten durch die Innenstadt Basels in Bewegung. Am Friedensmarsch beteiligten sich 10 000 bis 15 000 Menschen, angeführt von einer Schar weißgekleideter Kinder mit Birkenzweigen, gefolgt von einem unüberschaubaren Wald roter Fahnen. Als die Friedensdemonstration sich dem Dom näherte, begannen die Kirchenglocken zu läuten. Die Vorsteher der Kirchengemeinde hatten beschlossen, dem Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongress die Tore der Kathedrale zu öffnen. Es sei eine vom christlichen Geist getragene Versammlung, die am Nachmittag hier tagen werde. „Aber weil bei diesem Kongress christliche Grundsätze und Ideen proklamiert werden sollen, darum begrüßen wir auch mit wahrer Sympathie die Männer, die zum Teil aus weiter Ferne zu uns gereist sind“, hieß es vom Kirchenvorstand.18 Auf der öffentlichen Versammlung im Münster sprachen führende Sozialdemokraten. Alle Redebeiträge waren von der Sorge durchzogen: Wie kann die drohende Katastrophe, wie kann ein europäischer Krieg verhindert werden. Hatte die Arbeiterklasse die Macht dazu? Der britische Labour-Führer Keir Hardie meinte: „Der Kongreß, der 15 Millionen sozialdemokratischer Wähler vertritt, ist eine gewaltige Macht zum Schutze des europäischen Friedens.“ Victor Adler warnte allerdings: „Von uns Sozialdemokraten hängt es leider nicht ab, ob Krieg wird oder nicht.“ Er nannte einen Krieg ein Verbrechen und warnte die Herrschenden, „daß sich aus diesem Verbrechen, wenn es begonnen werden sollte, automatisch schließen wird der Anfang vom Ende der Herrschaft der Verbrecher“. Jean Jaurès warnte ebenfalls die Regierenden mit den Konsequenzen eines Krieges: „Die Regierungen sollten daran denken, wenn sie die Kriegsgefahr heraufbeschwören, wie leicht die Völker die einfache Rechnung aufstellen könnten, daß ihre eigene Revolution sie weniger Opfer kosten würde als der Krieg der anderen!“19 Am folgenden Tag begann die eigentliche Beratung. Die Delegierten verabschiedeten ein umfassendes Manifest. Der Kongress bekräftigte die leitenden Grundsätze, die die Internationale auf ihren Kongressen in Stuttgart und Kopenhagen in ihren Schlusserklärungen aufgestellt hat. Er stellte mit großer Genugtuung die vollständige Einmütigkeit der sozialistischen Parteien und Gewerkschaften aller Länder im „Kriege gegen den Krieg“ fest. Indem die Arbeiter aller Länder sich gleichzeitig zum Kampfe gegen den Imperialismus erhoben, jede Sektion der Internationale der Regierung ihres Landes den Widerstand der Arbeiterschaft entgegenstellte und die öffentliche Meinung der Nation gegen alle kriegerischen Gelüste mobilisierte, haben sie bisher schon sehr viel dazu beigetragen, den Weltfrieden zu retten. „Die Furcht der herrschenden Klassen vor einer proletarischen Revolution im

18 19

Zit. nach: J. Braunthal, Geschichte der Internationale, Band 1, S. 351. Zit. nach: ebd., S. 351.

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Gefolge eines Weltkrieges hat sich als eine wesentliche Bürgschaft des Friedens erwiesen.“20 Darüber hinaus wurde ein konkretes Programm einer internationalen Außenpolitik entwickelt, mit dessen Hilfe der Krieg verhindert werden sollte. Das Manifest unterstützte die Forderung der sozialdemokratischen Balkanparteien in den Balkanstaaten nach einer demokratischen Föderation der Balkanstaaten. Es forderte die Sozialisten am Balkan auf, sich jeder Erneuerung der alten Feindschaften zwischen den einzelnen Nationen zu widersetzen. Jede Entrechtung einzelner Völker müsse bekämpft und dem entfesselten nationalen Chauvinismus die Verbrüderung aller Balkanvölker entgegengesetzt werden. Das Manifest brandmarkte die Intrigen des Zarismus, der sich nunmehr wieder anschicke, sich als Befreier der Nation des Balkans zu gebärden, um sich unter diesem Vorwand die Vorherrschaft am Balkan zu sichern. Zuvor hatte er die Balkanvölker selbst unzählige Male verraten. „Ist doch der Zarismus auch die Hoffnung aller reaktionären Mächte Europas, der grimmigste Feind der Demokratie der von ihm beherrschten Völker selbst, dessen Untergang herbeizuführen die gesamte Internationale als eine ihrer vornehmsten Aufgaben ansehen muss.“ Das Manifest wandte sich weiter an die sozialdemokratischen Parteien Österreich-Ungarns, Kroatiens und Sloweniens, Bosniens und Herzegowinas. Diese Parteien sollten ihre Aktionen gegen einen Angriff der Donau-Monarchie auf Serbien mit aller Kraft fortsetzen und sich dem Plan widersetzen, dass Serbien in eine Kolonie Österreichs verwandelt werde. Die wichtigste Aufgabe, so erklärte das Manifest weiter, falle jedoch den sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Frankreichs, Deutschlands und Englands zu. Sie sollen von ihren Regierungen verlangen, dass sie sowohl Österreich-Ungarn als auch Russland jede Unterstützung ihrer Bestrebung auf dem Balkan verweigern. Sie sollten fordern, dass diese Staaten eine unbedingte Neutralität bewahrten. „Ein Krieg der drei großen führenden Kulturvölker wegen des serbisch-österreichischen Hafenstreits wäre verbrecherischer Wahnsinn.“21 Als größte Gefahr für den Frieden Europas wurde in dem Manifest die künstlich genährte Gegnerschaft zwischen Großbritannien und dem deutschen Reich bezeichnet. Der Kongress forderte die „Abschließung eines Übereinkommens zwischen Deutschland und England über die Einstellung der Flottenrüstungen und über die Abschaffung des Seebeuterechtes“. Das Manifest endete mit einem leidenschaftlichen Appell. Der Kongress „fordert die Arbeiter aller Länder auf, dem kapitalistischen Imperialismus die Kraft der internationalen Solidarität des Proletariats entgegenzustellen. Er warnt die herrschenden Klassen aller Staaten, das Massenelend, das die kapitalistische Produktionsweise herbeiführt, durch kriegerische Aktionen noch zu verschärfen. Er fordert nachdrücklich den Frieden. Die Regierungen mögen nicht vergessen, dass sie bei 20

Außerordentlicher Internationaler Sozialisten-Kongress in Basel 1912, „Krieg dem Kriege“ – Manifest des Baseler Friedenskongresses im Jahr 1912, www.hohenlohe-ungefil tert.de (aufgerufen 12. November 2022). 21 Zit. nach: ebd.

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dem gegenwärtigen Zustand Europas und der Stimmung der Arbeiterklasse nicht ohne Gefahr für sich selbst den Krieg entfesseln können (…). Es wäre Wahnwitz, wenn die Regierungen nicht begreifen würden, dass schon der bloße Gedanke der Ungeheuerlichkeit eines Weltkrieges die Entrüstung und Empörung der Arbeiterklasse hervorrufen muss. Die Proletarier empfinden es als ein Verbrechen, aufeinander zu schießen, zum Vorteile des Profits der Kapitalisten (…). Das Proletariat ist sich bewusst, in diesem Augenblick der Träger der ganzen Zukunft der Menschheit zu sein. (…) So wendet sich der Kongress an Euch, Proletarier und Sozialisten aller Länder, dass Ihr in dieser entscheidenden Stunde Eure Stimme vernehmen lasset! Verkündet Euren Willen in allen Formen und in allen Orten, erhebt Euren Protest mit voller Wucht in den Parlamenten, vereinigt Euch in Massen zu großen Kundgebungen, nützt alle Mittel aus, die Euch die Organisation und die Stärke des Proletariats in die Hand geben! Sorgt dafür, dass die Regierung beständig den wachsamen und leidenschaftlichen Friedenswillen des Proletariats vor Augen haben! Stellt so der kapitalistischen Welt der Ausbeutung und des Massenmordes die proletarische Welt des Friedens und der Verbrüderung der Völker entgegen!“22 Die Beschlüsse der Sozialistischen Internationale auf ihren Kongressen waren in ihrer Antikriegshaltung eindeutig. Die wilhelminische Führung musste also bei Ausbruch eines Krieges mit heftigem Widerstand seitens der SPD rechnen. Die SPD war in der Sozialistischen Internationale die stärkste und einflussreichste Partei. Sie hatte eine Art Vorbildfunktion. In Deutschland selber war sie bei Ausbruch des Krieges mit über einer Million Mitgliedern die größte deutsche Partei und stellte mit 110 Abgeordneten die stärkste Reichstagsfraktion.23 Die Herrschenden wussten, dass die Sozialdemokratie ihnen bei der Entfesselung eines Krieges erhebliche Schwierigkeiten hätten bereiten können. Aus diesem Grunde wurde wiederholt die Forderung erhoben: Erst die Sozialisten ausschalten, dann den Krieg! Bereits während der ersten „Marokko-Krise“ hatte Kaiser Wilhelm II. in einem Neujahrsbrief an den damaligen Reichskanzler Fürst von Bülow erklärt: „Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen, wenn nötig, per Blutbad, und dann Krieg nach außen. Aber nicht vorher und nicht à tempo.“24 Ähnlich dachten auch führende Militärs. Sie hatten die Absicht, bei Kriegsbeginn den SPD-Vorstand zu verhaften und die Partei aufzulösen.25 Bethmann Hollweg verfolgte eine andere Strategie.26 Er wollte die Arbeiterschaft langfristig für den Krieg gewinnen. Seiner Überzeugung nach konnte Deutschland einen Krieg nicht ohne das Mitgehen der organisierten 22

Zit. nach: ebd. Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt a. M. 1973, S. 733. 24 Zit. nach: F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 30. 25 E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, S. 214 f. 26 Bethmann Hollweg schrieb an Staatssekretär Delbrück: „Wir würden es vor dem deutschen Vaterlande nicht verantworten können, wenn wir nicht den Versuch machten, als Preis des Krieges eine Reform der Sozialdemokratie nach der nationalen und monarchischen Seite anzubahnen.“ Zit. nach: G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Band 3, S. 43. 23

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Arbeiterschaft führen. Deshalb wollte er auf die Sozialdemokratie zugehen, um sie mit einem „sozialen Kaisertum“ zu versöhnen. „Die Mitwirkung der Arbeiterschaft im Falle eines großen Krieges mußte gerade ein überparteilicher Kanzler am heftigsten ersehnen. Bethmann Hollweg hatte denn auch schon am 29.7. den als gemäßigt bekannten sozialdemokratischen Abgeordneten Südekum zu sich gebeten, um ihn über die Haltung seiner Partei im Kriegsfalle zu befragen. Zu seiner Genugtuung erhielt er befriedigende Zusicherungen, so daß im Falle eines Verteidigungskrieges weder Generalstreik noch Sabotage der Linken zu erwarten standen.“27 In der systematisch aufgebauten Propaganda der deutschen Regierung befand sich Deutschland in einem Verteidigungskrieg gegen den russischen „Despotismus“. Am 1. August erklärte Wilhelm II. in einer Rede vom Berliner Schlossbalkon: „Neider überall zwingen uns zur gerechten Verteidigung. Man drückt uns das Schwert in die Hand.“ „Stimmung glänzend“, schrieb Admiral Georg Alexander von Müller am 1. August in sein Tagebuch. „Die Regierung hat eine glückliche Hand gehabt, uns als die Angegriffenen hinzustellen.“ 28 Die wahren Kriegsziele wurden verschleiert. „Die Unterstützung einer breiten Öffentlichkeit unter Einfluss der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung war freilich nur zu gewinnen, wenn es gelang, die offensive Absicht defensiv zu verkleiden.“29 Das „September-Programm“ sollte geheim gehalten werden – standen doch die in ihm fixierten annexionistischen Kriegsziele in einem deutlichen Gegensatz zu der Propaganda eines Verteidigungskrieges. „Das Vertrauen, das die Sozialdemokratie zu überwiegendem Teil in die Persönlichkeit Bethmann Hollwegs setzte, beruhte vornehmlich darauf, daß sie in ihm einen Gegner von Eroberungszielen sah.“30 Bethmann Hollweg war aber kein Gegner von Eroberungszielen. Er war gemäßigter als weite Teile der Militärs und die „Alldeutschen“, aber auch er hat annexionistische Kriegsziele verfolgt. Doch das Kalkül Bethmann Hollwegs, Deutschland als Angegriffenen erscheinen zu lassen, um die eigene Bevölkerung von Deutschlands Unschuld am Krieg zu überzeugen, ging auf. Die systematisch aufgebaute Propaganda verfehlte ihre Wirkung nicht. In großen Teilen der Bevölkerung war die Vorstellung verbreitet, Deutschland sei der Angegriffene und verteidige lediglich seine Werte, seine Kultur gegen einen barbarischen Feind. Diese Geisteshaltung hatte auch Teile der SPD erfasst. So schrieb Gustav Noske in der „Chemnitzer Volksstimme“: „Aber was man immer uns angelastet hat, in diesem Augenblick empfinden wir alle die Pflicht, vor allem anderen gegen die russische Knutenherrschaft zu kämpfen. Deutschlands Frauen und Kinder sollen nicht das Opfer russischer Bestialitäten werden, das deutsche Land nicht die Beute der Kosaken (…). Deshalb verteidigen wir in diesem Augenblick alles, was es an deutscher Kultur und deutscher Freiheit gibt, gegen einen schonungslosen und

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E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, S. 215. Zit. nach: A. Mombauer, Die Julikrise, S. 96. 29 H. A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, S. 333. 30 E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, S. 217. 28

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barbarischen Feind.“31 Konrad Haenisch von der rechten SPD-Reichstagsfraktion schrieb: „Es geht gegen Russland! Nieder mit dem Zarismus!“32 Die Taktik Bethmann Hollwegs, die Arbeiterbewegung in den Krieg einzubinden, hatte Erfolg.33 Als am 4. August 1914 im Reichstag über die Kriegskredite abgestimmt wurde, gab die SPD-Reichstagsfraktion geschlossen ihre Zustimmung.34 Die einstimmige Zustimmung der SPD-Fraktion täuschte aber eine Einigkeit innerhalb der SPD vor, die es so gar nicht gab. In der parteiinternen Sitzung der SPDReichstagsfraktion am 3. August 1914 entschieden sich 78 Abgeordnete für die Bewilligung der Kriegskredite, 14 stimmten allerdings dagegen, darunter Karl Liebknecht, Georg Ledebour und der Fraktionsvorsitzende Hugo Haase. Die Fraktionsmehrheit begründete ihre Zustimmung mit Argumenten: „Der Volksstimmung dürfen und können wir uns nicht entgegenwerfen“, „unsere Organisationen werden vernichtet, zertrümmert, wenn wir die Kredite verweigern“, „durch diesen Krieg wird Deutschland Frankreich vom Bündnis mit Rußland befreien“, „die russische Niederlage bedeutet den Sturz des Zarismus“.35 Haase beantragte, die gemeinsame Erklärung der Fraktion durch Philipp Scheidemann im Reichstag verlesen zu lassen. Andere Fraktionskollegen widersprachen und forderten die Verlesung durch Haase, der nicht nur wie Scheidemann Vorsitzender der Fraktion, sondern auch des Parteivorstandes war. Haase weigerte sich nachdrücklich, ließ sich aber, von zahlreichen Fraktionsmitgliedern bestürmt, schließlich dazu bewegen, die Erklärung im Namen der Fraktion abzugeben.36 Diese Erklärung war ein Kompromiss einer fünfköpfigen Kommission, die sich bemühte, zwei an sich unvereinbare Positionen zu vereinen – die der Kriegsbefürworter und die der Kriegsgegner. In ihr wurde gesagt, dass der Krieg die Folge der imperialistischen Politik sei, die eine Ära des Wettrüstens herbeigeführt und die Gegensätze unter den Völkern verschärft habe. Doch nun stehe man „vor der ehernen Tatsache des Krieges“. Es gelte, die Gefahr des „russischen Despotismus“ abzuwehren und die Kultur und die Unabhängigkeit des eigenen Landes sicherzustellen. „Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei 31

Zit. nach: Wolfgang Wette, Gustav Noske, Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987, S. 139. 32 Konrad Hänisch, Die deutsche Sozialdemokratie in und nach dem Weltkriege, zit. nach: E. Prager, Geschichte der USPD, S. 30. 33 Zur Kritik von einzelnen Militärs an Bethmann Hollweg schrieb Kurt Riezler in sein Tagebuch: „Der Kanzler ist doch sehr guter Kopf – und die Leute müssen doch wenigstens zugeben, dass die Inszenierung sehr gut war“. Kurt Riezler – so die Süddeutsche Zeitung – lobt seinen Chef also dafür, „die deutsche Öffentlichkeit getäuscht und von einer Bedrohung durch Russland überzeugt zu haben“. Süddeutsche Zeitung vom 15. 02. 2017 „Durcheinander im großen Hauptquartier“. https://www.sueddeutsche.de/kultur/erster-weltkrieg-durcheinanderim-grossen-hauptquartier (aufgerufen 20. Mai 2021). 34 Staatssekretär Clemens von Dellbrück bezeugte später, „dass es die Folge der Bethmannschen Politik gewesen sei, wenn die Sozialdemokratie geschlossen den Kriegskrediten zugestimmt habe“. E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, S. 216. 35 Vgl. E. Prager, Geschichte der USPD, S. 21. 36 Vgl. ebd., S. 21 f.

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einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blute der Besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, diese Gefahr abzuwehren (…).“ Dann folgte der entscheidende Satz: „Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.“37 In der Reichstagssitzung vom 4. August 1919 unterwarfen sich bis auf Fritz Kunert, der sich an der Abstimmung nicht beteiligte, alle Abgeordneten der Sozialdemokratie dem bisher üblichen Fraktionszwang, auch Karl Liebknecht und Georg Ledebour. So entstand der Eindruck einer einstimmigen Zustimmung der sozialdemokratischen Fraktion zu den Kriegskrediten. Hugo Haase erklärte dazu später: „Die wenigen unter ihnen (den Führern), die den alten Grundsätzen die Treue bewahrten, trennten sich aus Solidaritätsgefühl nicht von den Kampfgenossen. So entstand das Bild einer einzigen burgfriedlichen Sozialdemokratie. In Wahrheit offenbarten sich schon beim Ausbruch des Krieges starke Gegensätze innerhalb der Sozialdemokratie, die bis dahin latent geblieben waren. Mit 13 Fraktionsgenossen forderte ich am 4. August 1914 in der Fraktion die Ablehnung der Kriegskredite als Konsequenz unserer prinzipiellen Gegnerschaft gegen das herrschende System, dem die Verantwortung für den imperialistischen Krieg zuzuschreiben sei. Die Mehrheit der Fraktion bestritt, daß die deutsche Regierung auf Eroberung ausgehe, und stimmte für die Bewilligung der Kriegskredite, bekundete aber den Entschluss, daß ,falls der Krieg den Charakter eines Eroberungskrieges annehmen sollte‘ der entschiedenste Widerstand geleistet werden müsse. Da nach einer festen Tradition die Fraktion im Reichstage stets geschlossen auftrat, die Minderheit sich der Mehrheit fügte, so wurde in der Reichstagssitzung vom 4. August für die gesamte Fraktion eine einheitliche Erklärung abgegeben.“38 Obwohl es auf die Stimmen der SPD im Reichstag nicht ankam – die geforderten Milliarden wären in jedem Fall bewilligt worden –, war der Beschluss der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion eine der folgenschwersten Entscheidungen in der deutschen Geschichte. Auf den 4. August geht letztlich die Spaltung der Arbeiterbewegung zurück. Der Beschluss der SPD-Reichstagsfraktion kam auch für die meisten Zeitgenossen völlig überraschend, stand er doch im Gegensatz zu all dem, was die Partei jahrelang zuvor proklamiert hatte. Noch am 25. Juli 1914 hatte der „Vorwärts“ eindringlich vor der Kriegsgefahr gewarnt: „Gefahr ist im Verzuge. Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die Euch im Frieden knechten, verachten, ausnutzen, wollen Euch als Kanonenfutter mißbrauchen. Überall muß den Machthabern in den Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Es lebe die internationale Völkerverbrüderung!“39 Am 28. Juli 1914, an dem 37

Zit. nach: ebd., S. 19 f. Zit. nach: ebd., S. 20. 39 Aufruf des Parteivorstandes vom 25. Juli 1914 im „Vorwärts“. Zit. nach: Susanne Miller, Die SPD vor und nach Godesberg. In: Susanne Miller/Heinrich Potthoff, Kleine Geschichte der SPD, Darstellung und Dokumentation 1848 bis 1983, Bonn 1983, I, S. 73. 38

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Tag, an dem Österreich den Krieg an Serbien erklärte, demonstrierten in den Städten Deutschlands Hunderttausende gegen die drohende Kriegsgefahr. Allein in Berlin gab es 27 Massenveranstaltungen.40 Insgesamt fanden zwischen dem 26. und 31. Juli 1914 mindestens 288 Antikriegsversammlungen in 163 Städten und Gemeinden statt, wahrscheinlich noch wesentlich mehr. „Allein bei den 183 Versammlungen, für die Zahlenangaben vorliegen, waren fast 500 000 Menschen beteiligt.“41 Die sozialdemokratische Antikriegsbewegung in der letzten Juliwoche zeichnete sich durch eine „breite Massenbeteiligung, eine intensive Ablehnung und nicht zuletzt auch durch eine hohe Bereitschaft von Teilen der Basis zur entschiedenen Protestaktion aus.“42 Und nun sollten all die Erklärungen und Proklamationen nicht mehr gültig sein? „Unglaublich“, titelte das Organ der niederländischen Sozialdemokratie. Lenin hielt die Nachricht von der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten erst für eine gezielte Falschmeldung43 und Konrad Haenisch von der rechten SPD-Fraktion sprach von einem „beispiellosen Frontwechsel“.44 Die Arbeiter im Lande – so Eugen Prager45 in seiner Darstellung der Geschichte der USPD – „wußten in der Tat zuerst 40 Vgl. J. Brauntal, Geschichte der Internationale, Band I, S. 358. Kaiser Wilhelm bemerkte über die Friedenskundgebung: „Die Sozen machen antimilitaristische Umtriebe in den Straßen; das darf nicht geduldet werden, jetzt auf keinen Fall; im Wiederholungsfall werde ich Belagerungszustand proklamieren und die Führer samt und sonders, tutti quanti einsperren lassen.“ Zit. nach: ebd. 41 Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1994, S. 31 „Der absurde Schwindel, daß das Volk in seiner Mehrheit von Kriegsbegeisterung befallen sei“, stellte der „Vorwärts“ am 29. 07. 1914 fest, „wurde am Dienstag von der Arbeiterschaft gründlichst zuschanden gemacht.“ Zit. nach: ebd., S. 38. 42 Zit. nach: ebd., S. 30 f. In seinem später erschienenen Buch „Der Erste Weltkrieg“ nennt Kruse die Zahl von 750 000 Menschen, die sich an Kundgebungen gegen den Krieg beteiligt haben. Vgl. W. Kruse, Der Erste Weltkrieg, S. 13. Auch Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich sprechen davon, dass sich mehr als eine Dreiviertelmillion Menschen an den Antikriegsdemonstrationen beteiligt hätten. Vgl. G. Hirschfeld/G. Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, S. 54. 43 Vgl. Florian Wilde, Ernst Meyer (1887 bis 1930) – vergessene Führungsfigur des deutschen Kommunismus. Eine politische Biographie, Hamburg 2012, S. 51. 44 E. Prager, Geschichte der USPD, S. 18. 45 Eugen Prager (1876 – 1942) wuchs in Breslau mit zwei Brüdern und drei Schwestern in einem „jüdisch-liberal“ eingestellten Elternhaus auf. Früh, wahrscheinlich kurz nach der Jahrhundertwende, schloss er sich der SPD an und wurde Anhänger des von ihm sehr verehrten sozialistischen Theoretikers Karl Kautsky. Nach Tätigkeit in verschiedenen sozialdemokratischen Zeitungen wechselte er im April 1914 als zweiter politischer Redakteur und stellvertretender Chefredakteur zur „Leipziger Volkszeitung“. Das Blatt war klar gegen den drohenden Krieg positioniert. „Der kommende Krieg – so das Blatt – sei kein Verteidigungskrieg, sondern ein gewollter Angriffskrieg. Auch die These von einer russischen Bedrohung ließ das Blatt nicht gelten. Russland stehe vor einer Revolution; die Bedrohung der Errungenschaften der deutschen Arbeiter durch den Zarismus sei eine Fiktion.“ Ilse Fischer/Rüdiger Zimmermann, „Unsere Sehnsucht in Worte kleiden“, Eugen Prager (1876 – 1942). Der Le-

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nicht, was sie mit diesem Ereignis beginnen sollten“.46 Hatte die Parteiführung besondere Informationen – so werden sich manche Parteigenossen gefragt haben –, die eine Kehrtwendung von den bisherigen Positionen rechtfertigen würde? Als die Mehrheitsfraktion der SPD im August 1914 im Reichstag die Kriegskredite bewilligte, war dies für die meisten von ihnen ein erhabenes Erlebnis. Die Parteipresse schrieb: „Der ganze Reichstag war einig. Wer hätte das so vor wenigen Wochen für möglich gehalten. Alle politischen Gegensätze, alle prinzipiellen Bedenken, alles was die Parteien trennte, ist wie weggeflogen.“47 Sozialdemokratische Führungspersönlichkeiten wie Friedrich Ebert, Wilhelm Keil, Hermann Molkenbuhr und Philipp Scheidemann äußerten sich tief beeindruckt über die „große Reichstagssitzung“, die von „überwältigender Wirkung gewesen sei“. Eduard David stellte tief bewegt fest: „Der ungeheure Jubel der gegnerischen Parteien, der Regierung, der Tribünen, als wir uns zur Zustimmung erheben, wird mir unvergessen sein. Es war im Grunde eine uns dargebrachte Ovation.“48 Das Faszinierende war für die rechten Sozialdemokraten „der Eindruck, nach Jahrzehnten der Ausgrenzung, Entrechtung und Verfolgung nun endlich einmal zu der Nation dazugehören zu dürfen“.49 Mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten wurde dies von ihnen mit der Hoffnung auf Integration in die Gesellschaft verbunden, die sie bislang als „vaterlandslose Gesellen“ ausgegrenzt hatte. Noch vor wenigen Tagen hatten auf Initiative der SPD 500 000 bis 750 000 Menschen sich an Antikriegsdemonstrationen beteiligt. Und nun feierte die SPDbensweg eines sozialdemokratischen Journalisten, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2005, S. 71 f. Die Redaktion um Hans Block und Eugen Prager ging fest davon aus, dass die sozialdemokratische Reichstagsfraktion die geforderten Kriegskredite im Parlament ablehnen werde. Die Bewilligung der Kriegskredite traf die Redaktion wie ein Schlag. „Am 4. August legte die deutsche Regierung dem Reichstag ein Weißbuch vor, aus dem für jeden, der sehen wollte, die Kriegsschuld der deutschen Regierung klar vor Augen trat“, schrieb Eugen Prager. „Aber die Mehrheit der Fraktion wollte nicht sehen, sie glaubte an das Märchen von dem ruchlos überfallenen Deutschland.“ Ebd., S. 73. Als zu Ostern 1917 die USPD gegründet wurde, trat fast der gesamte ehemalige sozialdemokratische Parteibezirk in Leipzig der neuen Partei bei, so auch Prager. Ebd., S. 76. In seinem Buch „Das Gebot der Stunde. Geschichte der USPD“ schilderte Prager detailliert anhand zahlreicher Dokumente die Kontroversen innerhalb der SPD, die zur Herausbildung der innerparteilichen Opposition und schließlich zur Gründung der USPD führten. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurde Pragers Wohnung gleich nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar von einem SA-Trupp heimgesucht. Ebd., S. 128. Diese haben alles „kurz und klein geschlagen“ und zahlreiche Einrichtungsgegenstände beschlagnahmt. Im Januar 1942 wurde Eugen Prager mit seiner Ehefrau vom Bahnhof Berlin-Grunewald in einem offenen und unbeheizten Viehwaggon nach Riga transportiert, wo sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in einem Wald bei Riga ermordet wurden. Ebd., S. 169 ff. 46 E. Prager, Geschichte der USPD, S. 18. 47 Zit. nach: W. Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 98. 48 Zit. nach: ebd., S. 105. 49 W. Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 104.

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Mehrheitsfraktion im Reichstag den Krieg als nationales Einheitserlebnis. Eine erstaunliche Entwicklung! Wie ist es zu dieser Kehrtwendung gekommen? Der Aufruf des SPD-Parteivorstandes zu Massenversammlungen gegen den Krieg in der Extraausgabe des „Vorwärts“ vom 25. Juli 1914 war der Höhepunkt der Antikriegsbewegung. Dieser Aufruf war weitgehend von Hugo Haase formuliert. Am 28. Juli 1914 fuhr Haase nach Brüssel zur Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros (ISB), um dort zusammen mit anderen europäischen Vertretern sozialdemokratischer und sozialistischer Parteien Maßnahmen gegen den drohenden Krieg zu erörtern.50 In Abwesenheit des entschieden gegen den Krieg eingestellten Parteivorsitzenden Haase „kehrte die nunmehr von rechten Zentristen Ebert, Molkenbuhr und Scheidemann dominierte Parteiführung in Berlin dieser Ausrichtung bereits den Rücken und ordnete sich bald vollständig den Vorgaben der Regierungspolitik unter“.51 Innerhalb der Parteiführung gab es eine Machtverschiebung nach rechts und damit verbunden die Aufgabe der sozialdemokratischen Antikriegspolitik. Schon am 25. Juli hatte der auf dem äußersten rechten Parteiflügel stehende Reichstagsabgeordnete Albert Südekum dem Staatssekretär Clemens Delbrück in einer privaten Besprechung zugesagt, dass die Sozialdemokraten im Kriegsfall ihre „vaterländischen Pflichten“ erfüllen würden, und am 29. Juli räumte er – wie bereits erwähnt – alle Unsicherheiten der Regierung über mögliche Widerstandsmaßnahmen der Arbeiterbewegung aus dem Weg, indem er Bethmann Hollweg mitteilte, die „in Berlin anwesenden Mitglieder des Parteivorstandes hätten ihm bestätigt, daß keinerlei wie immer geartete Aktion (General- oder partieller Streik, Sabotage oder dgl.) geplant oder auch nur zu befürchten sei“.52 Die rechte 50 Die Sitzung des ISB fand unmittelbar nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien statt. Es wurde ein Beschluss gefasst, in dem die Arbeiter aller in Betracht kommenden Nationen zu verstärkten Demonstrationen gegen den Krieg, für den Frieden, für eine schiedsgerichtliche Lösung des österreichisch-serbischen Konflikts aufgefordert wurden. 51 W. Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 49. 52 Zit. nach: ebd., S. 51. Zwischen den Führern des rechten Flügels der bisherigen Oppositionspartei und dem Reichskanzler entwickelte sich ein politisches Bündnis. Eduard David, ebenfalls dem rechten Flügel der SPD angehörig, hatte Ende August mit Delbrück eine ausführliche Unterredung über die neue Stellung der SPD zum Staat. Dabei erhob David als Sprecher seiner Fraktionskollegen die Forderung nach einer innenpolitischen Neuorientierung. Er wies aber darauf hin, dass er sich mit seinen Gesinnungsfreunden in der SPD für ein neues Programm nur durchsetzen könne, wenn die Regierung den Revisionisten mit einer Geste entgegenkomme. Bethmann Hollweg nahm das Angebot sofort an und betonte „daß wir mit allen Mitteln versuchen müssen, diese nie wiederkehrende Gelegenheit zu ergreifen, um die Sozialdemokratie auf eine nationale und monarchistische Grundlage zu stellen.“ Er stellte aber eine grundsätzliche Bedingung: „Indessen müssen die Führer der Sozialdemokratie sich darüber klar sein, daß das Deutsche Reich und der preußische Staat im Besonderen sich niemals den festen Boden, auf dem sie gewachsen sind, die feste Staatsgesinnung und das System, das die Sozialdemokratie bisher als Militarismus gebrandmarkt hat, lockern lassen kann.“ Der Kanzler lehnte für den Augenblick jegliche Konzession, wie etwa die Aufhebung der Ausnahmegesetze, ab und stellte lediglich für die Zeit nach dem Krieg Konzessionen in Aussicht: „Wenn derartige Conzessionen gemacht werden sollen und können, so müssen sie nach getaner Arbeit als Lohn und nicht im Voraus als Prämie gegeben werden.“ Zit. nach: F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 272 f.

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Parteiführung hat bereitwillig die Beteuerungen der Reichsleitung übernommen, sie verfolge keine Eroberungsabsichten und wolle sich für eine Lokalisierung des Krieges auf dem Balkan einsetzen und stellte alle Widerstandsmaßnahmen gegen den Krieg ein. In dieser entscheidenden Situation wäre es aber sehr hilfreich gewesen, wenn die SPD mit Massenmobilisierung und Aufklärungsarbeit Druck auf die Reichsleitung ausgeübt hätte, um mäßigend auf den österreichischen Bundesgenossen einzuwirken.53 Diesen Zusammenhang haben auch – im Gegensatz zu der rechten Parteiführung – zahlreiche sozialdemokratische Zeitungen klar erkannt. So schrieb die „Volksstimme“ aus Lüdenscheid am 24. Juli: „Was da unten in Österreich geschieht, ist nichts anderes als die Vorbereitung zum Krieg (…). Es wird von der deutschen Regierung abhängen, ob der Krieg ausbricht oder nicht“, und der traditionell überwiegend kriegsgegnerisch eingestellte „Vorwärts“ drohte: „Die Deutsche Sozialdemokratie macht die deutsche Regierung mitverantwortlich für alle künftigen Schritte Österreichs.“ Die „Volkszeitung“ aus Leipzig schrieb am 27. Juli: „Die deutsche Regierung braucht nur zu wollen und sie verhindert den Weltbrand.“54 Das Deutsche Reich verfolgte aber eine Politik, die die Kriegsgefahr grundlegend erhöhte. Sie ist nicht dem den Weltfrieden gefährdenden Verbündeten in den Arm gefallen, sondern hat ihn geradezu ermuntert, gegen Serbien vorzugehen. Die deutsche Regierung gab den Österreichern freie Hand zu einem Krieg gegen Serbien, auf die Gefahr hin, damit einen Krieg mit Russland hervorzurufen. In diesem entscheidenden Augenblick reagierten die führenden Sozialdemokraten nicht mit einer Intensivierung ihrer Antikriegspolitik, sondern gaben im Gegenteil „ihre Bemühungen um den Erhalt des Friedens nunmehr bereits fast vollständig auf“.55 Haben die führenden rechten Sozialdemokraten den kriegstreibenden Charakter der deutschen Politik nicht erkannt oder hatte die Aufgabe der Antikriegspolitik andere Gründe? War es schlicht die Angst vor den erwarteten staatlichen Repressionsmaßnahmen? Ein entscheidendes Argument der Kriegsbefürworter in der SPD lautete, dass die SPD-Führung sich von der Basis isoliert hätte, wenn sie den Kriegskrediten nicht zugestimmt hätte. Die Entscheidung für die Bewilligung der Kriegskredite wurde auf die nationalistische Kriegsbegeisterung zurückgeführt, die zwischen dem 31. Juli und dem 3. August auch die SPD-Basis ergriffen hatte. Diese These wurde von der 53 Nach Einschätzung von Karl Kautsky wären einem entsprechenden Aufruf gegen die drohende Kriegsgefahr nicht nur erhebliche Teile der Arbeiterschaft gefolgt, sondern auch große Massen der nicht proletarisch arbeitenden Schichten des deutschen Volkes hätten sich ihm angeschlossen. „Bei einer solchen Stimmung hätte die deutsche Regierung unmöglich einen großen Krieg entfesseln können. Die deutsche Sozialdemokratie konnte den Weltfrieden retten, ihr Ansehen und damit das des deutschen Volkes in der Welt wäre unendlich gewachsen durch die Niederlage, die sie der kriegerischen deutschen Regierung bereitete.“ Karl Kautsky, Wie der Weltkrieg entstand. Dargestellt nach dem Aktenmaterial des Deutschen Auswärtigen Amts (1919). https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1919/krieg/index.html (aufgerufen 12. Februar 2021). 54 Zit. nach: W. Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 46 f. 55 Ebd., S. 48.

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bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung weitgehend übernommen und jahrzehntelang geradezu wie ein Dogma vertreten. Diese These war aber – wie Wolfgang Kruse in seiner umfangreichen Analyse zur Frage der Kriegsbegeisterung nachwies – mit dem ihm zugrunde liegenden Quellenmaterial nur sehr unzureichend abgesichert. „Die weitgehenden Thesen über die vermeintliche nationalistische Kriegsbegeisterung der sozialdemokratischen Basis und ihre ursächliche Bedeutung für das Verhalten der Partei sind in der Tat empirisch nur höchst unzureichend abgesichert und erweisen sich bei einer kritischen Betrachtung als ausgesprochen spekulativ.“56 In den 80er-Jahren wurden aber eine Reihe von Lokal- und Regionalstudien vorgelegt, die die Einschätzung bestärkte, „daß das Bild einer allgemeinen Kriegsbegeisterung, wie es in der Literatur gerne gezeichnet wurde, der Wirklichkeit nicht entspricht“.57 Es gäbe deutliche Hinweise darauf, „daß die sozialdemokratisch orientierte Arbeiterschaft (…) dem Krieg weiterhin eher distanziert bis ablehnend als zustimmend oder gar begeistert gegenüberstand“.58 Wenn die SPD – so Kruse – wirklich der Stimmung ihrer Basis gefolgt wäre, hätte sie eine andere Politik einschlagen müssen. Auch Friedhelm Boll kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass die SPD durchaus eine dem kriegsführenden Staat kritisch gegenüberstehende Politik hätte einschlagen können, ohne die Verbindung zu ihrer Anhängerschaft zu verlieren.59 Von dem nationalistischen Taumel, von der Kriegsbegeisterung waren nur Teile der Arbeiterschaft erfasst, während erhebliche Teile „dem nationalistischen Treiben auch nach dem Kriegsausbruch nichts abgewinnen konnten und vielfach nur gezwungen in den Krieg zogen“.60 Es gibt keine umfassende wissenschaftliche Analyse über die Einstellung der SPD-Basis zu Beginn des Krieges. Es gibt aber eine Reihe von Äußerungen führender Sozialdemokraten, die deutlich machen, dass die „Politik des 4. August“ keineswegs auf die ungeteilte Zustimmung der Mitglieder basierte. So erklärte der baden-württembergische SPD-Politiker Wilhelm Keil, der selber vehement für die Gewährung der Kriegskredite eingetreten war, am 27. September 1914 im Parteiausschuss, dass nur etwa ein Drittel der Parteimitglieder hinter der Reichstagsfraktion standen.61 August Erdmann, ebenfalls ein Kriegsbefürworter, befürchtete: „Zunächst werden wir Mühe haben, vor unseren Genossen im Lande die Haltung der Fraktion in Sachen der Kriegskredite zu rechtfertigen (…) Wir dürfen auch aus unserer beträchtlichen Mehrheit in der Fraktion nicht auf eine entsprechende Stimmung unter den Genossen im Lande schließen. Eher könnte die bedenkliche Haltung eines Teils der Parteipresse und der Verlauf des Krieges bei zahlreichen unserer Leute die Stimmung vom 4. August erheblich geschwächt und die Abneigung gegen den Militarismus und alles, was 56

Ebd., S. 54. Ebd., S. 55. 58 Ebd., S. 60. 59 Vgl. Friedhelm Boll, Frieden ohne Revolution? Friedensstrategien der deutschen Sozialdemokratie vom Erfurter Programm 1891 bis zur Revolution 1918, Bonn 1980, S. 116. 60 Ebd., S. 112. 61 Vgl. W. Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 56. 57

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damit zusammenhängt, gesteigert haben. Wir werden Mühe haben, in dieser Frage dem Verständnis für das Notwendige Geltung zu verschaffen.“62 Rudolf Hilferding äußerte in Bezug auf Berlin die Einschätzung, dass die Massenstimmung bereits eindeutig gegen den Krieg sei und Heinrich Stubbe aus Hamburg erklärte: „Es ist falsch, daß die Genossen einmütig hinter der Fraktion stehen. Diese Verhältnisse werden sich in wenigen Wochen noch mehr verschieben (…). Es ist denkbar, daß der Parteitag anders beschließt als die Fraktion.“63 Bei der Betrachtung der Gesamtbevölkerung ergibt sich ebenfalls ein differenziertes Bild. Eine alle Bevölkerungsschichten umfassende Kriegsbegeisterung hat es nicht gegeben. Sven Oliver Müller bezweifelt sogar, dass sie eine Mehrheit erfasste.64 Während in bürgerlichen Kreisen der Krieg in Erwartung eines schnellen Sieges teilweise begeistert aufgenommen wurde, herrschte – wie dies sozialdemokratische Tageszeitungen berichteten – in den Arbeitervierteln der großen Industriestädte bei Kriegsausbruch vielfach Beklommenheit und eine „große Niedergeschlagenheit“.65 Die letzten Meldungen über die drohende Kriegsgefahr, so berichtete etwa die „Fränkische Tagespost“, hätten einen erschütternden Eindruck gemacht. „Man muß nur die abgehärmten Gesichter der Frauen in den Nachmittagsstunden gesehen haben, als die Erklärung des Kriegszustandes bekannt wurde. Das helle Entsetzen sprach aus den geröteten Augen.“66 Auch die anderen Tageszeitungen berichteten von einer „ernsten Stimmung“ in den Arbeitervierteln; sie sei „gedrückt“, „niedergeschlagen“ gewesen, nichts von Fröhlichkeit. „In der Tat reagierten große Teile der Bevölkerung des Deutschen Reiches, insbesondere in der Arbeiterschaft, auf den Kriegsbeginn nicht mit der vielfach beschworenen Begeisterung, sondern mit einer ernsten, vielfach verzweifelten Stimmung.“67 Zwar gab es auch in Teilen der Arbeiterschaft nach dem 4. August Formen nationalistischer Kriegsbegeisterung, „doch hatten diese nicht nur enge quantitative und qualitative Grenzen, sondern sie basierten auch in hohem Maße auf der positiven Stellung zum Krieg, die die führenden Gremien der SPD und viele ihrer Presseorgane bezogen“.68 So kommt Kruse in seiner gründlichen, mit zahlreichen Quellen belegten Analyse zu dem Ergebnis: „Es waren nicht die sozialdemokratischen Massen, die die Parteiführung zur Integration in die nationale Einheitsfront drängten, sondern das Verhalten der Parteiführung hat in umgekehrter Weise erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß der Krieg in weiten Teilen der Arbeiterschaft akzeptiert werden konnte.“69 62

Zit. nach: ebd., S. 179 f. Zit. nach: ebd., S. 179. 64 Vgl. Sven Oliver Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg. Göttingen 2011, S. 66. 65 Vgl. W. Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 57. 66 Zit. nach: ebd., S. 58. 67 Ebd., S. 58. 68 Ebd., S. 57. 69 Ebd., S. 60. 63

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Die SPD-Führung hätte also sehr wohl die Möglichkeit gehabt, gestützt auf große Teile ihrer Anhängerschaft, eine aktive, gegen die drohende Kriegsgefahr gerichtete Politik zu betreiben und so das Deutsche Reich von den innen- wie außenpolitischen Risiken eines Krieges abzuhalten. Stattdessen bejahte sie den Krieg in der Hoffnung, die Unterstützung der nationalen Kriegspolitik werde die innenpolitische Position der Sozialdemokratie dauerhaft verbessern, wobei die Berichterstattung der mehrheitlichen, die Kriegspolitik unterstützenden SPD-Presseorgane sich kaum noch von dem Chauvinismus der bürgerlichen Zeitungen unterschied. In den düstersten Farben wurde die Gefahr einer russischen Invasion an die Wand gemalt. So meinte Otto Braun: „Sollen die halbasiatischen, schnapsgefüllten russischen Kosakenhorden die deutschen Fluren zerstampfen, deutsche Frauen und Kinder martern, die deutsche Kultur zertreten? Das ist jetzt die Frage.“ Die „Arbeiter-Zeitung“ aus Essen schrieb am 3. August: „Niemand in deutschen Landen will eine Niederlage im Kampf, niemand will halbbarbarische Horden, aus denen zum Großteil Rußlands Heer besteht, in unserem Lande wissen.“70. Neben der fortgesetzten Hetze gegen die „russische Unkultur“ vollzogen nun auch die sozialdemokratischen Zeitungen die bald nach Kriegsbeginn einsetzende Wendung der bürgerlichen Öffentlichkeit gegen den Westen, vor allem gegen England. „Es ist ein über alle Maßen widerliches und verächtliches Schauspiel, das Frankreich und England der Welt bieten“, schrieb das „Volksblatt“ aus Kassel. „Im Bunde mit den Asiaten. Pfui England!“, meinte eine andere Zeitung. In einem Kommentar der „Rheinischen Zeitung“ aus Köln hieß es: „Schon der bloße Gedanke macht uns schaudern, daß der tierischen Mordlust solcher Barbaren unsere im Felde stehenden Freunde ausgeliefert sind, daß unsere braven Arbeiter da draußen tagtäglich Gefahr laufen, von einem Halbwilden bestialisch abgeschlachtet zu werden.“71 „Gegen diesen Zarismus kämpfen wir. Mit seinen Bärentatzen will er die Kultur ganz Westeuropas zerstampfen und seine barbarischen Völkerscharen auf unsere Frauen und Kinder hetzen“, proklamierte ein Parteiblatt und ein anderes ergänzte: „Das ganze westliche Europa hat das Lebensinteresse, den scheußlichen mordbübischen Zarismus auszurotten. Dieses Menschheitsinteresse wird aber erdrückt von der Gier der kapitalistischen Klassen Englands und Frankreichs.“72 Als die Reichsregierung auf den Widerstand der belgischen Zivilbevölkerung gegen die deutschen Invasionstruppen mit der Ankündigung blutiger Vergeltungsmaßnahmen reagierte, schrieb ein Parteiblatt gar: „Beteiligt sich die Bevölkerung am Kampf, dann hat sie auch die Folgen zu tragen; dann muß sie als kriegsführende irreguläre Macht behandelt und niedergeknallt werden. Wo immer sie zu fassen ist. Not kennt kein Gebot. (…) Vielmehr wird die Ausrottung der ganzen Bevölkerung jener Bereiche und die Niederbrennung aller Dörfer und Städte die notwendige Folge der deutschen Selbsterhaltung sein. Und neben den Männern

70

Zit. nach: W. Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 72 und 73. Die Zitate aus: ebd., S. 92 f. 72 Zit. nach: ebd., S. 126.

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werden die Leichen von Frauen und Kindern die Walstatt des Guerillakrieges bedecken.“73 Die Parteiführung der SPD trat nachdrücklich dafür ein, dass in der Parteipresse der „Wille zum Sieg“ deutlich zum Ausdruck kommt. Der eher links stehende „Vorwärts“ wurde kritisiert, weil seiner Berichterstattung das „Erhabene“ fehle und der „Wille zum Sieg“ nicht genügend in Erscheinung trete.74 Ludwig Frank, ein entschiedener Kriegsbefürworter, wurde als besonderes Vorbild herausgestellt. Er hatte sich bei Kriegsbeginn freiwillig an die Front gemeldet. Voller Stolz erklärte er: „Statt eines Generalstreiks führen wir nun für das preußische Wahlrecht einen Krieg.“75 Frank fiel bereits am 3. September 1914. Die Parteipresse äußerte sich „stolz auf unseren Führer, dessen Heldentod der Welt beweist, daß Sozialdemokraten sich an Opferwilligkeit und Vaterlandsliebe von niemandem übertreffen lassen“, und schlussfolgert: „Nie wieder wird der Vorwurf der Vaterlandslosigkeit mehr fallen können.“76 „Der Krieg revolutioniert alles“, äußerte wenige Tage nach Kriegsbeginn eine SPD-Zeitung.77 „Man hat uns vor dem Krieg als Umstürzler, Vaterlandsverräter denunziert, weil wir den Sozialismus und die Völkerverbrüderung propagierten. Wir wurden deshalb als Staatsbürger zweiter Klasse behandelt und mit dem Stigma ,vaterlandsloser Gesellen‘ gebrandmarkt“, stellte eine SPD-Zeitung am Jahresende rückblickend fest: „Da kam der Krieg und wie mit einem Zauberstock haben sich die Auffassungen geändert.“78 Mit Beginn des Krieges hieß es dagegen in den Aufrufen, „daß wir alle eine große ,Gemeinschaft‘ sind, daß es in den Pflichten gegenüber dem Ganzen keinen Unterschied geben dürfe, zwischen arm und reich. Was jetzt allenthalben gepredigt wird im Interesse der nationalen Verteidigung, muß fürderhin auch gelten, wo es sich darum handelt, im Frieden die Wohlfahrt der Gesamtheit zu fördern, Not und Elend zu bannen, Ungerechtigkeit zu vermeiden.“79 So stellten gleich zwei sozialdemokratische Tageszeitungen fest: „Wir dürfen also darauf vertrauen, daß der größte Krieg, den die Welt gesehen hat, auch die tiefstgreifenden Veränderungen im Inneren nach sich ziehen wird. Und diese Veränderungen können sich nicht zum Schaden eines Volkes vollziehen, das für die Aufrechterhaltung seiner Existenz eben erst das Leben in die Schanze schlug.“80 Die SPD-Führung hatte die Hoffnung, dass die bedingungslose Unterstützung des Krieges auch innenpolitisch zu Veränderungen führen werde, „daß die Opfer dieses Krieges nicht umsonst ge-

73

Zit. nach: ebd., S. 92 f. Vgl. ebd., S. 147. 75 Zit. nach: W. Kruse, Der Erste Weltkrieg, S. 15. 76 Zit. nach: W. Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 113. 77 Zit. nach: ebd., S. 107. 78 Zit. nach: ebd., S. 109. 79 Zit. nach: ebd., S. 111. 80 Zit. nach: ebd., S. 113. 74

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bracht sein werden.“81 Sie hoffte, „angesichts gleicher Pflichterfüllung auch als ein gleichberechtigter Bestandteil anerkannt zu werden“.82 Ein erster Schritt dazu sollte die Reform des Preußischen Wahlrechts sein. „Denn es gibt jetzt und in Zukunft, in Krieg und Frieden, nur ein einiges Volk, das keine russischen Zustände auf deutschem Boden dulden will. Dieses Volk kämpft heute gegen den Zaren um seine Freiheit. Alle tun in der Stunde der Gefahr willig die gleiche Pflicht, und keine Macht der Erde wird darum imstande sein, ihm nach dem Kriege das gleiche Recht zu verweigern.“83 Aus dieser Überlegung heraus zog eine SPD-Zeitung den Schluss: „So soll der Weltkrieg ein wahrer Befreiungskrieg werden, der uns aus stumpfer Gleichgültigkeit befreit und von entsagender Schwäche. Mit scharfer Pflugschar reißt er tiefe Furchen ins Land, aber der Sämann der Zukunft geht hinterher und streut Saaten der Freiheit aus.“84 Der Krieg wurde als Förderer einer Demokratisierung und des sozialen Fortschritts angesehen. Angesichts dieser Perspektive schrieb voller Begeisterung eine SPD-Zeitung, es schien, „daß dieser Krieg die Menschheit nicht zurückwirft, sondern vorwärts bringt auf dem Wege, dessen Ziel die Befreiung ist von jedweder Knechtschaft und jeder Bedrückung.“85 Sogar den Sozialismus sahen mehrere SPD-Zeitungen auf dem Vormarsch. „Deutschland ist auf dem Wege zum Sozialismus“, hieß es in einer Reihe sozialdemokratischer Blätter.86 „Sozialismus, wohin wir blicken“, jubelte im November 1914 die Metallarbeiter-Zeitung. „Eine neue Zeit ist angebrochen, andere Menschen hat der Krieg in kurzer Zeit aus uns allen gemacht. Das gilt unterschiedslos für Hoch und Niedrig, Arm und Reich, für Privatpersonen und Staatsdiener. Solidarität und Hilfeleistung (…) ist über Nacht Gemeingut eines großen und leistungsfähigen Volkes geworden.“87 Der Krieg sei deshalb „wie kaum ein anderes Ereignis geeignet, sozialistisch zu wirken.“88 Fürsorgemaßnahmen des Staates, die Einführung einer staatlich organisierten Kriegswirtschaft wurden als „Sozialismus“ interpretiert. „Je sozialistischer ein Land organisiert ist, um so besser ist es auch für den Krieg gerüstet“, schlussfolgerte ein SPD-Blatt.89 Die gesellschaftliche Wirklichkeit sah allerdings völlig anders aus. Die von Wunschdenken bestimmten Fortschrittshoffnungen erwiesen sich allesamt als Illusion, sie waren eine – wie dies sehr treffend der Nationalökonom Emil Lederer formulierte – „völlige Instinktlosigkeit der Wirklichkeit gegenüber“.90 Der Krieg 81

Zit. nach: ebd., S. 114. Zit. nach: ebd., S. 107. 83 Zit. nach: ebd., S. 114. 84 Zit. nach: ebd., S. 115. 85 Zit. nach: ebd., S. 129. 86 Zit. nach: ebd., S. 120. 87 Zit. nach: ebd., S. 118 f. 88 Zit. nach: ebd., S. 118. 89 Zit. nach: ebd., S. 120. 90 Zit. nach: ebd., S. 164. 82

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brachte keine Demokratisierung und keinen sozialen Fortschritt. Im Gegenteil! Die Regierung war „nicht bereit, der Sozialdemokratie in substanziellen Fragen, vor allem in der Preußischen Wahlrechtsfrage entgegen zu kommen“. Die SPD geriet in einen „Teufelskreis“ der Einflusslosigkeit.91 Das kriegführende Deutsche Kaiserreich entwickelte sich immer mehr zu einer reaktionären Militärdiktatur. Die soziale Not verschärfte sich mit dem Krieg. Die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung verschlechterte sich drastisch. Infolge von Hamsterkäufen kam es in manchen Orten zu einer Verdoppelung der Lebensmittelpreise. Die durchschnittlichen Arbeitszeiten wurden verlängert, die Folge war eine gesteigerte Arbeitshetze. Der Anteil der Arbeitslosen, die keinerlei staatliche Unterstützung erhielten, stieg infolge der Kriegssituation stark an. Hinzu kam das Leid der Soldaten an der Front. Die Feldpostbriefe sozialdemokratischer oder der Sozialdemokratie nahestehender Soldaten sind eindrucksvolle Zeugnisse von diesem Elend: „Ihr daheim habt keine Ahnung, welch namenloser Jammer, welch grenzenloses Elend und welch furchtbare Verwüstungen das einzige kleine Wort, der nüchterne Begriff ,Krieg‘ in sich schließt (…).“ (Dezember 1914) „Diese entsetzlichen Nachtkämpfe kann sich niemand vorstellen, sie fordern Opfer über Opfer. Die Leute, die draußen unsere Siege feiern, ahnen nicht, wie diese Siege erkauft sind.“ (September 2014) „Mein Urteil über den Krieg ist das gleiche geblieben, es ist ein Morden und Schlachten, und es ist für mich heute noch unbegreiflich, daß sich die Menschheit im 20. Jahrhundert in eine solche Schlachterei begeben konnte.“ (September 1914) „Wenn ich überhaupt an alles denke, dann packt mich eine grenzenlose Wut, und wenn ich die Anstifter zu diesen Morden vor mir hätte, könnte ich sie kaltblütig erwürgen.“ (Oktober 2014) „Es ist eine Schande, daß die Menschen hier morden müssen, und verflucht sei der, der dieses Morden angestiftet hat.“ (November 1914)92 In allen Feldpostbriefen wurden die Schrecken des Krieges, aber auch die Kriegsunlust und die Verbitterung der Soldaten zum Ausdruck gebracht. Neben der Ablehnung des Krieges wurde zunehmend auch eine Kritik an der sozialdemokratischen Kriegspolitik laut. So forderte der sozialdemokratische Soldat M. André im März 1915, rechte Sozialdemokraten wie Wolfgang Heine, die den Krieg befürworteten, sollten doch einmal an die Front geschickt werden: „Wenn er dann tagelang im Schmutz wie das liebe Vieh im Schützengraben, oder in einem primitiven Unterstand mit mehreren Kameraden zusammengekauert liegen würde, wo in einer Stunde hunderte von Granaten über einen hinwegsausen, wo infolge des Luftdrucks das ganze Nervensystem erfaßt und erschüttert wird und noch das Jammern und Wehklagen der Verwundeten, ihre Bitte um Hilfe in ihrer Todesangst das allerhärteste Gemüt erregen und man darf und kann ihnen nicht helfen, und nicht zuletzt das 91 92

Ebd., S. 139. Die Zitate aus: ebd., S. 185 ff.

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eigene marternde Gefühl an Frau und Kinder, welche nicht versorgt sind, wenn der Ernährer nicht wiederkommt, dann würde auch Heine sagen, was wir alle sagen: ,So’n Blödsinn, – so’n Wahnsinn, so eine Verrücktheit‘ (…)“.93 Die „Berner Tagwacht“ veröffentliche im September 1914 einen von vier sozialdemokratischen Soldaten veröffentlichten Brief, in dem es hieß: „Uns im Felde stehenden Sozialdemokraten, die wir täglich das Blut unserer Freunde und so manches braven Genossens haben fließen sehen, die wir an uns selbst beobachten, wie langsam, aber sicher unsere Nerven durch den Krieg zermürbt werden, uns drängt sich immer entschiedener der Gedanke auf: Die denkbar größten Opfer, die gebracht worden wären, um diesen unseligen Krieg zu verhindern, sie wären verschwunden gegenüber den Strömen von Blut, dem unermeßlichen Jammer dieses Krieges.“94 Das Elend des Krieges äußerte sich auch in einer massenhaften psychischen Erkrankung. In der deutschen Armee kamen mehr als 300 000 Soldaten in psychiatrische Behandlung. Die betroffenen Soldaten erhielten aber in der Regel keine eingehende medizinische Versorgung oder gar Heilung, sondern die überwiegend unerfahrenen Ärzte gingen meist davon aus, dass es sich bei ihnen um ängstliche Versager, haltlose Affektmenschen, reizbare Querulierer und Entartete handelte und sahen ihre Aufgabe darin, „ihre minderwertig erscheinenden Patienten wieder kriegsverwendungsfähig zu machen, indem sie ihnen so viel Schmerz und Angst zufügten, dass die Fortsetzung des Militärdienstes schließlich als das kleinere Übel erschien. Die üblichen Behandlungsmethoden bestanden deshalb in ,Hungerkuren, Isolation, Zwangsexerzieren, Elektroschocks oder der Einführung von Kehlkopfsonden, die Erstickungsanfälle und Angstzustände auslösten‘“.95 Je länger der Krieg andauerte, je mehr Tote und Verwundete er forderte, je schlechter die Versorgungslage wurde, desto stärker wurde die Antikriegsbewegung. Bereits im November 1914 forderte Heinrich Ströbel auf einer Sitzung der Berliner Parteifunktionäre, die Regierung mit aller Kraft zu einem Verständigungsfrieden zu drängen, den man jetzt noch haben könne, später vielleicht nicht mehr.96 „Von entscheidender Bedeutung für die Ausbildung der sozialdemokratischen Opposition war vor allem auch die Erkenntnis, daß der Krieg einen offensiven, imperialistischen Charakter hatte.“97 Die Skepsis vieler Sozialdemokraten gegenüber den offiziellen Verlautbarungen der Regierung, wonach das Deutsche Reich sich in einem Verteidigungskrieg befinde, war schon zu Kriegsbeginn verbreitet, wuchs aber mit dem Verlauf des Krieges stetig an. Die völkerrechtswidrige Invasion deutscher Truppen in Belgien und Luxemburg sowie die Tatsache, dass deutsche Truppen sich auf fremden Territorien befanden und dort Gräueltaten verübten, verstärkten diese Zweifel. Führende Sozialdemokraten beschäftigten sich mit der Kriegsschuldfrage und 93

Zit. nach: ebd., S. 185. Zit. nach: ebd., S. 188. 95 W. Kruse, Der Erste Weltkrieg, S. 62. 96 Vgl. E. Prager, Geschichte der USPD, S. 40. 97 W. Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 208. 94

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kamen zu dem Ergebnis: „Von Wien und Berlin wurde der Krieg entfesselt.“ Anfang September 1914 erklärte Eduard Bernstein nach eingehenden Studien der von den verschiedenen am Krieg beteiligten Ländern veröffentlichten Dokumente zum Kriegsausbruch: „Die deutsche Regierung ist der Hauptschuldige am Kriege.“ Wir sind „eingeseift worden; die Bewilligung der Kredite war ein Fehler.“ Edmund Fischer sah durch diese Dokumente seine Auffassung bestätigt, „dass Österreich und Deutschland diesen Krieg gewollt und herbeigeführt haben“. Kurt Eisner kam zu dem gleichen Ergebnis: Es sei nach der Aktenlage unbezweifelbar, „daß es sich um einen deutschen Weltkrieg handelt“.98 Einschätzungen dieser Art waren an der SPDBasis weit verbreitet. Aber auch in der Reichstagsfraktion wuchs die Opposition gegen den Krieg. Gegen die erneute Bewilligung der Kriegskredite argumentierte Georg Ledebour Ende November 1914 in der SPD-Reichstagsfraktion: „Wir, d. h. die deutsche Regierung führen keinen Kampf zur Abwehr des Feindes und zur Befreiung des deutschen Volkes, sondern einen Kampf um die Macht, um die Weltherrschaft für den deutschen Kapitalismus.“99 Als dann am 2. Dezember 1914 im Reichstag über den zweiten 5-Milliarden-Kredit abgestimmt wurde, stimmte Karl Liebknecht als einziger SPD-Mann mit Nein. Damit wurde ein Zeichen gesetzt. Die Bevölkerung erfuhr so erstmals, dass es Widerstand gegen die Kriegspolitik innerhalb der SPD gab. Auf der Sitzung der SPD-Reichstagsfraktion vom 29. November zur Vorbereitung der Reichstagssitzung hatten aber bereits 18 Abgeordnete für Nein votiert. Zur Begründung erklärte ihr Sprecher Ferdinand Geyer: „(…) eine Politik, die in ihrer gesamten Betätigung in schreiendem Gegensatz zu den Interessen der breiten Massen der werktätigen Bevölkerung steht, durch unser parlamentarisches Verhalten zu unterstützen, ist uns unmöglich.“100 Wie aber die Mehrheit der SPD-Führung dachte, veranschaulichte Philipp Scheidemann in einem Neujahrswunsch an seine Wähler: „Die besten Wünsche zum neuen Jahr! (…) Hut ab vor den Helden, die für unser Vaterland gefallen sind! Größer als die Sorgen und Schmerzen müssen unser unbeugsamer Wille, unsere unerschütterliche Entschlossenheit sein. Wir wollen die furchtbare Zeit nicht nur in klarem Bewußtsein mit offenen Augen durchleben, wir wollen auch die Absichten unserer Feinde zuschanden machen: wir wollen siegen! Und so wünsche ich zum Jahreswechsel allen die Kraft, um Schmerzen niederkämpfen zu können. Ich wünsche allen den unerschütterlichen Willen zum Durchhalten bis zum Siege! Unseren verwundeten und kranken Soldaten wünsche ich baldige und vollkommene Genesung. Ihnen und ihren Kameraden, die in den Schützengräben hausen, zur See oder auf der Wacht dem Vaterland dienen – ihnen drücke ich herzhaft die Hand! Ihnen ganz besonders rufe ich zu: Haltet aus! Von Euch hängt es ab, was aus unserem Lande und was aus der deutschen Arbeiterschaft wird.“101 Das war die Stimmung in den 98

Zit. nach: ebd., S. 209. Zit. nach: ebd., S. 208 f. 100 Zit. nach: ebd., S. 184. 101 Zit. nach: E. Prager, Geschichte der USPD, S. 46.

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rechten SPD-Kreisen: Durchhalten bis zum Sieg, Niederwerfung der äußeren Feinde. Niederwerfung aber auch der Gegner im Inneren, nämlich desjenigen Teiles der deutschen Arbeiterschaft, der sich in Opposition gegen die sozialdemokratische Kriegspolitik befand. Die Opposition wurde aber immer stärker, trotz der drakonischen Zwangsmaßnahmen seitens der Regierung, aber auch des SPD-Parteivorstandes, der versuchte, die Opposition mundtot zu machen. Im Februar 1915 legte Georg Ledebour sein Amt als Mitglied des SPD-Fraktionsvorstandes im Reichstag aus Protest gegen die Kriegspolitik der SPD nieder.102 In einem Protestschreiben vom 9. Juni 1915, an dessen Herstellung Heinrich Ströbel und Karl Liebknecht mitgewirkt hatten, an den Vorstand der SPD und den Vorstand der SPD-Reichstagsfraktion erklärten bereits tausend Funktionäre der SPD ihren Unwillen mit der SPD-Politik. In dem Schreiben hieß es, „mit dem 4. August 1914 hat die parlamentarische und außerparlamentarische Leitung der deutschen Sozialdemokratie eine Politik begonnen, die nicht nur das Versagen der Partei in einem unvergleichlichen geschichtlichen Augenblick, sondern eine immer schroffere Abkehr von den bisherigen Grundsätzen bedeutet“. Weiter wurde ausgeführt: „Immer klarer war zu Tage getreten, daß der Krieg nicht der Verteidigung der nationalen Unversehrtheit dient. (…) Die übergroße Masse der Parteigenossen daheim wie im Felde erwartete, daß die Reichstagsfraktion wenigstens jetzt endlich im Mai, nach langen 10 Monaten eines furchtbaren, in Dauer und Ausgang unübersehbaren Krieges, in einer nachdrücklichen unzweideutigen Kundgebung schleunige Beendigung des Krieges fordern und dem entschlossenen Friedenswillen der Sozialdemokratie Ausdruck verleihen würde. (…)“ Doch die Fraktionsmehrheit hat noch nicht einmal ein Wort des Protestes gegen den Bruch der belgischen Neutralität gefunden. „Die volle Bedeutung dieser Haltung der Fraktionsmehrheit ergibt sich aus der Tatsache, daß ihr das Kriegsziel der Regierung ganz autoritativ bekannt war. Unverblümt hatte der Reichskanzler in der Reichstagssitzung vom 28. Mai den Eroberungskrieg proklamiert, für dessen Programm, wie die Fraktion wußte, die offene Annexion russischer und französischer Gebietsanteile und unter dem Etikett der zwangsweisen wirtschaftlichen Angliederung die versteckte Annexion Belgiens gehört.“ Zum Schluss hieß es: „Treibt die Leitung der deutschen Sozialdemokratie jetzt weiter im Kielwasser der Eroberungspolitik, rettet sie sich nicht jetzt endlich auf den Boden des internationalen proletarischen Kampfes gegen den Krieg und die imperialistischen Raubgelüste zurück, so versäumt sie die letzte Gelegenheit, sich von der vollen Mitschuld daran zu entlasten, daß dieser Krieg als erbarmungsloser Vernichtungskrieg bis zum Weißbluten der Völker fortgesetzt und der auf ihn folgende Friede nur die Vorbereitung eines neuen Weltkrieges sein wird. (…) Wir warnen vor der Fortsetzung der Politik des 4. August und des 29. Mai. Wir wissen, daß wir die Auffassung eines großen Teils der Parteigenossen und breiter Bevölkerungsschichten ausdrücken, wenn wir fordern, daß Fraktion und Parteivorstand endlich ohne Zaudern dem Parteiverderben Einhalt tun, den Burgfrieden 102

Vgl. ebd., S. 49 f.

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aufsagen und auf der ganzen Linie den Klassenkampf nach den Grundsätzen des Programms und der Parteibeschlüsse, den sozialistischen Kampf für den Frieden eröffnen.“103 Nur zehn Tage später veröffentlichten Hugo Haase, Karl Kautsky und Eduard Bernstein in der „Leipziger Volkszeitung“ eine Erklärung mit dem Titel „Das Gebot der Stunde“. Dies war eine sehr bedeutsame Erklärung, die sich an die große Masse der Arbeiter richtete. „Die Stunde der Entscheidung“, so wurde in der Erklärung betont, „ist gekommen. Die deutsche Sozialdemokratie ist vor eine Frage gestellt, die für die Geschicke des deutschen Volkes, für die Zukunft der Kulturwelt von der größten Tragweite ist.“ Ungeheuer seien die Opfer, die dieser Krieg bereits verursacht hat, zugleich trete aber der Eroberungscharakter des Krieges immer deutlicher zutage. Es ist bekannt geworden, „daß sechs große Wirtschaftsvereinigungen, voran der großkapitalistische Zentralverband deutscher Industrieller und die Kampforganisation der Agrarier, der Bund der Landwirte, die der Politik des Deutschen Reiches so oft schon die Richtung gewiesen haben, unter dem 20. Mai 1915 eine Eingabe an den Reichskanzler gerichtet haben, worin sie forderten: Gewinnung eines großen Kolonialreiches, ausreichende Kriegsentschädigung und Annexionen in Europa, die allein im Westen über 10 Millionen Menschen – mehr als 7 Millionen Belgier und über 3 Millionen Franzosen – zwangsweise unter deutsche Herrschaft stellen würden. Wie diese Zwangsherrschaft gedacht ist, kennzeichnet der Satz der Eingabe, wonach Regierung und Verwaltung in den annektierten Ländern so geführt werden müssen, daß die Bewohner keinen Einfluss auf die Geschicke des Deutschen Reiches erlangen‘. Das heißt mit anderen Worten, diese gewaltsam annektierte Bevölkerung soll politisch rechtlos gemacht und gehalten werden. Und weiter wird gefordert, „aller Besitz (…) müsse in deutsche Hände übergehen‘, im Westen besonders der industrielle Besitz aller großen Unternehmungen, im Osten besonders der landwirtschaftliche große und Mittelbesitz“. Angesichts solcher Ziele „muß sich die deutsche Sozialdemokratie die Frage vorlegen, ob sie mit ihren Grundsätzen und den Pflichten, die ihr als Hüterin der materiellen und moralischen Interessen der arbeitenden Klassen Deutschlands obliegen, vereinbaren kann, in der Frage der Fortführung des Krieges an der Seite derjenigen zu stehen, deren Absichten in schroffstem Widerstand sind zu den Sätzen der Erklärung unserer Reichstagsfraktion vom 4. August 1914, in denen diese aussprach, daß sie im Einklang mit der Internationale jeden Eroberungskrieg verurteilt“.104 Anfang 1916 entzog die Mehrheit der SPD-Abgeordneten im Reichstag Liebknecht die Rechte eines Fraktionsmitgliedes. Sie wollten ihn isolieren, erreichten aber das Gegenteil: 18 Abgeordnete wurden ebenfalls aus der SPD-Fraktion verbannt.105 Sie bildeten die „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ (SAG), die Keimzelle der späteren USPD. Am 1. Mai 1916 wurde zum ersten Mal in mehreren 103

Zit. nach: ebd., S. 65 ff. Zit. nach: ebd., S. 68 ff. 105 R. Traub, Die große Irreführung (wie Anm. 9 auf S. 39). 104

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V. Die SPD und der Krieg

Großstädten demonstriert. Auf dem Potsdamer Platz in Berlin rief Karl Liebknecht an der Spitze der Demonstranten: „Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!“ – und wurde auf der Stelle verhaftet. Als Liebknecht Ende Juni wegen Hochverrats vor Gericht stand, traten allein in Berlin 50 000 Rüstungsarbeiter in den Proteststreik. In Stuttgart, Bremen und Braunschweig folgten weitere. „Liebknecht ist heute der populärste Mann in den Schützengräben“, schrieb Karl Kautsky. „Die unzufriedenen Massen sehen in ihm den Mann, der für das Ende des Krieges wirkt, und das ist ihnen jetzt die Hauptsache.“106 Die innerparteilichen Auseinandersetzungen in der SPD nahmen zu. Der Parteivorstand behauptete, dass mit dem „Gebot der Stunde“ die Parteispaltung herbeigeführt worden sei, und veröffentlichte eine Erklärung unter der Überschrift „Gegen die Parteizerrüttung“. Ganze Organisationen wurden aus der Partei ausgeschlossen, weil sie die Kriegspolitik der SPD-Führung nicht unterstützen wollten.107 Vor diesem Hintergrund rief der SAG-Vorstand am 5. Januar 1917 die erste Reichskonferenz der sozialdemokratischen Opposition in Berlin zusammen. An ihr nahmen 138 Delegierte und 19 Reichstagsabgeordnete teil. Der SPD-Vorstand schloss am 18. Januar die SAG-Abgeordneten aus der Partei aus und forderte die lokalen Parteigliederungen auf, mit deren Anhängern vor Ort ebenso zu verfahren. Darauf richtete die SAG vom 6. bis 8. April in Gotha eine zweite Reichskonferenz aus, in deren Verlauf die USPD gegründet wurde. Wenige Monate nach der Gründung hatte die USPD bereits 120 000 Mitglieder (SPD: 243 000).108 Hugo Haase und Georg Ledebour wurden als Vorsitzende gewählt. Aber auch in der Gesellschaft spitzten sich die Auseinandersetzungen zu. Eine größere Streikwelle begann im April 1917. Sie war vor allem ein Protest gegen die unzureichende Lebensmittelversorgung, ein Ausdruck der um sich greifenden Verzweiflung großer Teile der Bevölkerung über die rasanten Teuerungen und die drastische Verknappung der Grundlebensmittel. „Denn der Bevölkerung waren täglich die ungeheuerliche Ungleichmäßigkeit in der Verteilung der knappen Ressourcen und das dramatische Auseinanderdriften des Wohlstands von wenigen ,Kriegsgewinnlern‘ und der großen Masse der arbeitenden Bevölkerung und des Mittelstandes sichtbar.“ 109 Das Kriegsamt wurde von Hindenburg aufgefordert, gegen die Streikenden vorzugehen, weil „jede noch so unbedeutend erscheinende Arbeitseinstellung eine unverantwortliche Schwächung unserer Verteidigungskraft bedeutet und sich mir als unsühnbare Schuld am Heer und besonders am Mann im Schützengraben, der dafür bluten müsste, darstellt“. 110 Der Chef des Kriegsamtes, Generalleutnant Groener, ließ ein „Hundsfott“-Plakat drucken, das an allen Rüs106

Zit. nach: ebd. Vgl. E. Prager, Geschichte der USPD, S. 73. 108 Vgl. Dieter Engelmann/Horst Naumann, Zwischen Spaltung und Vereinigung: Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands in den Jahren 1917–1923, 1993, S. 32. 109 Gerd Krumeich, Die unbewältigte Niederlage, Freiburg 2021, S. 49. 110 Zit. nach: ebd., S. 51. 107

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tungsfabriken aufgehängt und verteilt wurde: „Eine unsühnbare Schuld nimmt derjenige auf sich, der in der Heimat feiert, statt zu arbeiten. Für eure Schuld müssen unsere Feldgrauen bluten (…). Ein Hundsfott, der streikt, solange unsere Heere vor dem Feinde stehen!“ Groener forderte die Arbeiter auf, „rücksichtslos gegen all diejenigen vorzugehen, die hetzen und aufreizen, um dem Heere die Waffen und die Munition zu entziehen.“ Die schlimmsten Feinde stünden nicht an der Aisne oder in der Champagne. Es seien diejenigen, „die zum Streik hetzen. Sie müssen gebrandmarkt werden vor dem ganzen Volke, diese Verräter am Vaterland und dem ganzen Heere. Ein Feigling, der auf ihre Worte hört“.111 Groener betonte, dass Streikende in Munitionsfabriken wegen Landesverrats im Kriege gemäß § 89 des Preußischen Strafgesetzbuches belangt werden könnten. Ludendorff hatte schon Anfang März 1917 eine solche Forderung an das Kriegsministerium geschickt. Da er aber nur eine beschwichtigende Antwort erhalten habe, forderte er im Dezember 1917 noch einmal energisch gegen Streikende in Rüstungsbetrieben vorzugehen, da auch ein Urteil des Reichsgerichts vorliege, welches Aufrufe zum Streik und Streiks in Rüstungsfabriken während des Krieges als Landesverrat klassifiziert habe.112 Im Januar 1918 kam es zu einem großen Streik. Über eine Million Rüstungsarbeiter und -innen legten in den Industriestädten des Kaiserreiches die Arbeit nieder. Dies war ein zentrales Ereignis des Ersten Weltkrieges – der Auftakt zur Novemberrevolution. Die Ziele des Streiks waren politisch: Beendigung des Krieges und Sturz der herrschenden, mit dem Krieg verbundenen Ordnung. Gefordert wurden Frieden ohne Annexionen, ohne Kriegsentschädigungen und auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker. „Schluss mit der imperialistischen Eroberungspolitik“, lautete die Parole. „Auslöser waren insbesondere das Stocken der Verhandlungen der deutschen Militärs mit der Sowjetregierung in Brest-Litowsk, die unmäßigen Annexionsforderungen und der ganz offensichtliche Unwille der deutschen Regierung, zu einem Verständigungsfrieden mit den Sowjets zu gelangen.“113 Am 29. Januar entschlossen sich auch die Führer der MSPD, Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Otto Braun, in die Streikleitung einzutreten, um, wie es hieß, die Streikbewegung „in geordneten Bahnen zu halten“.114 Die Streikbewegung wurde aber immer breiter. Die Regierung erkannte den Ernst der Lage. Die Zivilregierung wurde beiseitegeschoben, Ludendorff nahm die Streikbekämpfung selbst in die Hand. Am 30. Januar forderte er den Reichskanzler zur „Verhaftung der Berliner Streikrädelsführer und der hetzenden Abgeordneten“, insbesondere des USPDVorsitzenden Hugo Haase, auf.115 Der verantwortliche Oberbefehlshaber in den Marken und Militärgouverneur von Berlin, Generaloberst Gustav von Kessel, verhängte den verschärften Belagerungszustand über Berlin und die bestreikten Be111

Zit. nach: ebd., S. 52. Vgl. ebd., S. 52 f. 113 Ebd., S. 63. 114 Zit. nach: ebd., S. 64. 115 Zit. nach: M. Nebeling, Ludendorff, S. 274. 112

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V. Die SPD und der Krieg

triebe. Dennoch versammelten sich am 31. Januar in Berlin mehr als eine halbe Million Menschen zu Protestgebungen. Die größte davon fand auf der „Luftwiese“ in Treptow statt. Auch Friedrich Ebert ergriff hier das Wort. Nach einer Reihe von Berichten soll er den Streikenden zugerufen haben, dass sie im Recht seien, aber doch Ruhe und Ordnung bewahren sollten.116 Polizei und Militär griffen mit aller Härte ein. Es kam zu Schießereien mit mehreren Toten und Verwundeten. Viele „Rädelsführer“ wurden verhaftet, darunter auch der USPD-Abgeordnete Wilhelm Dittmann und der Führer der Münchener USPD, Kurt Eisner, der nach Berlin gereist war, um den Streik zu unterstützen. Ab dem 2. Februar wurden außerordentliche Kriegsgerichte eingerichtet. Massenverhaftungen und Zwangseinweisungen zum Kriegsdienst waren die Folge. Sieben Berliner Großbetriebe wurden unter Militäraufsicht gestellt. Hindenburg verlangte, Streik als Landesverrat zu ahnden. Am 3. Februar beschloss die Streikleitung in Berlin, den Streik abzubrechen. Die Regierung reagierte mit Tausenden Verurteilungen zu Gefängnis-, Zuchthaus- oder Festungshaft sowie Strafeinberufungen an die Kriegsfront. So wurden am 4. Februar der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Dittmann und mit ihm weitere 84 Mitglieder der USPD verhaftet und wegen Landesverrats angeklagt. Dittmann wurde zu fünf Jahren Festungshaft plus zwei Monaten Gefängnis verurteilt.117 Kurt Eisner wurde wegen versuchten Landesverrats angeklagt und blieb bis zum 14. Oktober 1918 in Untersuchungshaft.118 Wohl insgesamt 50 000 Streikende wurden an die Front abgezogen. Am 25. und 26. Februar 1918 diskutierte der Reichstag über die Streiks und ihre politischen Implikationen. Abgeordnete des linksliberalen „Fortschritts“ und des Zentrums kritisierten die Teilnahme von MSPD-Führern an den Streiks. Was da vonseiten der Sozialdemokraten gesagt worden sei, sei eindeutig Landesverrat. Scheidemann erwiderte, dass die Arbeiter nur gestreikt hätten, weil sie wussten, dass die Landesverteidigung dadurch nicht gefährdet sei. Allein die USPD bekannte sich eindeutig zum Streik: Ihr Sprecher, Hugo Haase, erklärte, dass es inzwischen ein-

116 Im Dezember 1924 fand der „Ebert-Prozess“ vor dem Magdeburger Schöffengericht statt. Der Vorwurf lautete, Ebert, der damalige Parteiführer und jetzige Reichspräsident, habe sich durch seine Beteiligung am Streik der Rüstungsarbeiter im Januar 1918 der Sabotage und des Hochverrats schuldig gemacht. Ebert argumentierte dagegen, dass es ihm und der MSPD lediglich darum gegangen sei, durch ihren Beitritt in die Streikleitung die Streiks unter ihre Kontrolle zu bekommen, um sie sobald wie möglich beenden zu können. Auch Generaloberst von Kessel wurde vernommen. Er behauptete, dass erst durch die Beteiligung Eberts und der MSPD die Streikaktivitäten zu einer echten Massenbewegung geworden seien. Die Anzahl der Streikenden habe sich um ca. eine halbe Million vergrößert. Belege für diese Behauptungen legte er aber nicht vor. – Das Urteil war skandalös und ein erneuter Beleg für die Rechtslastigkeit der Justiz in der Weimarer Republik. Im Urteil wurde betont, dass sich Ebert „objektiv“ des Hochverrats schuldig gemacht habe. Gegen alles Recht habe er die Legitimität der Forderung der Arbeiter nach Beendigung des Krieges betont und sie sogar aufgefordert, den Streik fortzusetzen. Vgl. G. Krumeich, Die unbewältigte Niederlage, S. 205 ff. 117 Vgl. E. Prager, Geschichte der USPD, S. 163. 118 Vgl. G. Krumeich, Die unbewältigte Niederlage, S. 65.

V. Die SPD und der Krieg

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deutig sei, dass dieser Krieg kein Verteidigungskrieg mehr sei. „Und gegen einen imperialistischen Eroberungskrieg zu protestieren, hätten die Arbeiter alles Recht.“119

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Ebd., S. 66.

VI. Kriegsende und Zusammenbruch 1. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk Mit dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk, der am 3. März 1918 unterzeichnet wurde, schied Sowjetrussland als Kriegsteilnehmer aus. Der Friedensvertrag offenbarte noch einmal den Eroberungscharakter des Krieges auf deutscher Seite. Während der Staatssekretär im Auswärtigen Amt (entspricht im heutigen Sprachgebrauch dem Außenminister) Richard von Kühlmann einer uferlosen Annexionspolitik eine Absage erteilte1, weil nach seiner Meinung die Westmächte ein um das Potential Russland verstärktes Deutschland niemals hinnehmen würden, war es Ziel der OHL – und hier besonders von Ludendorff – durch eine Politik der Expansion und Annexion die deutsche Herrschaft in Osteuropa zu errichten. Die OHL setzte sich mit ihren Vorstellungen hinsichtlich einer territorialen Neugliederung der ehemals russischen Gebiete durch. Der Widerstand der Mehrheitsparteien im Reichstag, die noch im Juli 1917 eine Resolution für einen Verständigungsfrieden eingebracht hatten, wurde schwächer, „als nach dem militärischen Zusammenbruch Rußlands die Möglichkeit riesiger Eroberungen im Osten winkte.“2 Innerhalb der Arbeiterbewegung wurde der Friedensvertrag als Zeichen gewertet, dass die Mittelmächte keinen Verteidigungskrieg, sondern einen Eroberungskrieg führen würden. Vom Baltikum bis zur Ukraine sollte es zur Bildung deutschkontrollierter Satellitenstaaten kommen. In dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk, der zuweilen auch als „LudendorffFrieden“ bezeichnet wurde3, wurden Polen, Litauen und Kurland aus dem russischen Staatsverband herausgelöst. Ferner war der Abzug der russischen Truppen aus Estland und Livland vorgesehen, beide Territorien sowie fast das gesamte Gebiet Weißrusslands blieben von deutschen Truppen besetzt. Russland verpflichtete sich zum Abzug aus der Ukraine und zum Friedensschluss mit der Führung in Kiew sowie zur Räumung Finnlands. Die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit und die territoriale Unversehrtheit von Persien und Afghanistan wurden anerkannt. Es war ein Diktatfriede. Die russischen „Randvölker“ von den baltischen Ländern bis zum Schwarzen Meer wurden unter deutsche Hegemonie gestellt. Russland verlor „eine Million Quadratkilometer Boden mit einer Bevölkerung von rund fünfzig Millionen Menschen. In den abgetrennten Gebieten befanden sich neunzig Prozent aller russischen Kohlegruben, die Hälfte sämtlicher Eisen- und Stahl1

Vgl. M. Nebelin, Ludendorff, S. 362. K. Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, S. 260. 3 Vgl. M. Nebelin, Ludendorff, S. 378.

2

2. Die Offensive im Westen

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werke sowie ein Drittel des Eisenbahnnetzes. Faktisch wurde das Russische Reich durch die Abtrennung von Finnland, des Baltikums, Polens und der Ukraine auf die Grenzen vor der Zeit Peter des Großen zurückgeworfen. Aus der Anfang des 18. Jahrhunderts entstandenen Großmacht war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein deutscher Vasallenstaat geworden“.4 Kaiser Wilhelm II. bezeichnete den „Friedensvertrag von Brest-Litowsk“ als einen der größten „Erfolge der Weltgeschichte“. Der Reichstag stimmte am 22. März 1918 mehrheitlich den von der OHL der Sowjetregierung diktierten Annexionsbestimmungen zu. Die SPD enthielt sich der Stimme, nur die USPD lehnte den Vertrag ab.5 Am 7. Mai 1918 unterzeichneten die Mittelmächte dann auch den Friedensvertrag mit Rumänien und besiegelten das Ende des Zweifrontenkrieges.6 Das gleichzeitig in Kraft tretende Deutsch-Rumänische Wirtschaftsabkommen machte das Land nach dem Urteil Kühlmanns zu einer „Kolonie der Mittelmächte“. Deutschland sicherte sich für dreißig Jahre das Rohölmonopol und bis 1925 sämtliche Agrarüberschüsse, und es erwarb das alleinige Recht „zur Aufsuchung, Gewinnung und Verarbeitung von Erdöl, Erdgas, Erdwachs, Asphalt und allen anderen Litummina“7.

2. Die Offensive im Westen Mit den im Osten gewonnenen Erfahrungen sollte nun auch im Westen eine ähnliche Entwicklung eingeleitet werden. Der Kaiser war voller Euphorie. „Der Sieg der Deutschen über Rußland war Vorbedingung für die Revolution (…) Dasselbe ist für den Westen maßgebend! Erst Sieg im Westen mit Zusammenbruch der Entente, dann machen wir die Bedingungen, die sie annehmen muß! Und die werden rein nach unserem Interesse zugeschnitten.“8 Da der versprochene Sieg zur See ausblieb, rückte die Landkriegsführung wieder ins Zentrum der strategischen Planung. Mit einer Entscheidungsschlacht gegen die französische Armee und den auf dem Kontinent stationierten britischen Verbänden sollte der Entente ein vernichtender Schlag beigebracht werden. Der „Michael“-Angriff begann am 21. März 1918, er leitete die Frühjahrsoffensive des deutschen Heeres an der Westfront ein. „Das ist die allerletzte große Offensive. Damit schaffen wir’s und dann wird Friede“, äußerte Oberst Albrecht von Thaer, ein langjähriger Bekannter von Ludendorff.9 Die Hoffnung, den Krieg durch die „Michael“-Offensive endlich zu beenden, beflügelte Armeeführung und Soldaten. Anfangserfolge unterstützten die optimistische Stimmung. Nach dem Sieg im Osten sei nun auch der Sieg im Westen zum Greifen nahe. Die Rede war vom 4

Ebd., S. 379. Vgl. G. Hirschfeld/G. Krumeich, Deutscher Weltkrieg, S. 229. 6 Vgl. M. Nebelin, Ludendorff, S. 380. 7 Zit. nach: ebd., S. 380. 8 Zit. nach: ebd., S. 401. 9 Zit. nach: ebd., S. 407. 5

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VI. Kriegsende und Zusammenbruch

„Endsieg“.10 Alfred Hugenberg, der Vorsitzende des Direktoriums der Firma Krupp schrieb an Hindenburg und Ludendorff: „(…) Wer am deutschen Siege kleinmütig verzweifelte und auch wer nie an ihn geglaubt hat, sieht ihn nun als greifbare Möglichkeit vor sich und muß sich dem Gedanken des Sieges beugen.“11 Doch die euphorischen Hoffnungen erwiesen sich wieder als Illusionen. Der von Ludendorff mit der Operation „Michael“ angestrebte militärische Zusammenbruch der Alliierten blieb aus. Im Gegenteil! Das Ergebnis der Frühjahrsoffensive fiel klar zuungunsten des Deutschen Reiches aus: Beliefen sich die Gesamtverluste des Gegners auf 212 000 Mann, verlor das deutsche Heer insgesamt 239 000 Soldaten.12 Die OHL weigerte sich aber, das Scheitern der „Michael“-Offensive vor sich selbst und vor der Öffentlichkeit einzugestehen. Es liege in der notwendigen Ökonomie der Kräfte, so hieß es, dass diese Kämpfe zeitweise abflauen, bevor zum nächsten Schlag ausgeholt werde. Der gesamte Kampf mit Englands und Frankreichs Wehrmacht erstrecke sich über eine weite Zeitspanne, die Höhepunkte und Ruhepausen einschließe. „Michael“ war damit nicht mehr die große kriegsentscheidende Offensive, sondern nur die erste von mehreren Phasen in einer Schlacht, die noch lange nicht zu Ende war.13 Bereits am 30. März 1918 hatte der General Weisungen für ein zweites Angriffsunternehmen erteilt. Am 9. April begann die Operation „Georgette“. Es wurde der Eindruck erweckt, „mit ,Georgette‘ schlösse sich eine von langer Hand geplante zweite Offensive an, mit der dem angeschlagenen Feind der Todesstoß versetzt werden sollte“.14 Wie wenig dieser Eindruck der Realität entsprach, sollte sich bald zeigen. „Georgette“ brachte nicht den ersehnten Sieg über die Engländer und wurde bereits am 29. April wieder abgebrochen. Begründet wurde dieser Stopp mit der unvorhersehbar großen Unterstützung des Gegners durch Truppen der USA. Mittlerweile waren 400 000 amerikanische Soldaten in Europa stationiert. Herrschte noch nach dem Kriegseintritt der USA unter den deutschen Militärs die Ansicht vor, dass die USA nicht in der Lage sein würden, nennenswerte Kräfte nach Europa zu entsenden, so sah man sich nunmehr eines Besseren belehrt. Die Hauptschuld für das Ausbleiben des „Endsieges“ sah allerdings Ludendorff in dem schlechten Zustand der eigenen Truppe. Disziplinschwierigkeiten häuften sich. Schuld seien die Kommandostellen vorn, „die nicht zufassen. Wie wäre es sonst möglich, daß ganze Divisionen sich festgefressen und festgesoffen haben mit erbeuteten feindlichen Magazinen und nicht den so nötigen Angriff weiter vorwärts trugen“.15 Es mehrten sich die Stimmen, die an einen militärischen Endsieg nicht mehr glauben mochten. Diese Stimmung griff Staatssekretär Kühlmann in einer Rede im Reichstag am 24. Juni 1918 auf, in der er den Gegnern die Hand zu einem Ver10

Vgl. ebd., S. 415. Zit. nach: ebd. 12 Vgl. ebd., S. 420. 13 Vgl. ebd., S. 422. 14 Ebd., S. 421. 15 Zit. nach.: ebd., S. 423. 11

2. Die Offensive im Westen

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gleichsfrieden anbot. Hindenburg nannte die Rede „niederschmetternd“ für das Heer und Ludendorff sah in der Kühlmann-Rede eine „schwere Gefährdung der Stimmung“.16 Beide erklärten, dass sie nicht länger mit dem Staatssekretär, der schon in den Verhandlungen von Brest-Litowsk eine äußerst schwache Vorstellung abgegeben habe, zusammenarbeiten könnten und verlangten ultimativ dessen Rücktritt. Am 8. Juli 1918 wurde der Diplomat vom Kaiser in den einstweiligen Ruhestand versetzt.17 Aber auch bei Ludendorff haben die Misserfolge von „Michael“ und „Georgette“ zu einem gewissen Umdenken geführt. Für den Fall, dass keiner der beiden Hauptwidersacher Großbritannien und Deutschland in der Lage sein würde, den anderen auf dem Schlachtfeld zu besiegen, rechnete Ludendorff nun damit, dass in absehbarer Zeit ein Frieden auf der Basis des Status quo geschlossen werden würde.18 Der Kampf um die Vormachtstellung in der Welt müsse dann in einem künftigen Krieg ausgetragen werden. „Die Kampfpause gedächten beide Mächte zu nutzen, um ihr wehrwirtschaftliches Potential auf den nächsten Waffengang vorzubereiten.“ Ein erbarmungsloser Wirtschaftskrieg würde einsetzen, „bei dem es darum gehe, sich die benötigten Rohstoffvorkommen und Absatzmärkte zu sichern“.19 Um die deutsche Position in diesem Konkurrenzkampf zu stärken, rückte erneut Russland in das Zentrum seines außenpolitischen Kalküls, besaß doch der Osten Europas reichlich Bodenschätze und Agrarerzeugnisse. Ludendorff entwickelte Forderungen, die weit über den Brester Friedensvertrag hinausgingen.20 Im Süden Russlands wollte er eine deutsche Kolonie schaffen. Umsiedlungswillige Deutschstämmige sollten in der besonders von Ludendorff wegen des milden Klimas geschätzten Halbinsel Krim eine neue Heimat finden. Voraussetzung für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft und der Übertragung von Siedlungsland war allein die Bereitschaft zum Waffendienst. „Um die Krim gegenüber dem Ausland nicht als Kolonie erscheinen zu lassen, sollte diese, ähnlich wie die Ukraine, offiziell den Status eines unabhängigen Staates erhalten (…).“21 Von besonderem Interesse war für Ludendorff die Ukraine. „Ich brauche Menschen für Heer und Heimat und Entlastung unserer Kriegswirtschaft (…) Ich denke dabei auch an die besetzten Gebiete, vornehmlich an die Ukraine. (…) Die Ukraine (muss uns) Arbeitskräfte geben, und wir müssen in der ukrainischen Industrie eine ausschlaggebende Unterstützung finden (…). Ein weiteres Ziel muss sein, aus der Ukraine so viel Getreide herauszubekommen, daß wir die Verpflegung neutraler Staaten übernehmen können, um ihnen dann die Auslieferung ihrer Tonnage an die Entente untersagen zu können.“22 16

Ebd., S. 432. Vgl. ebd., S. 433. 18 Vgl. ebd., S. 385. 19 Ebd., S. 385. 20 Vgl. dazu auch: Andreas Hillgruber, Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte der beiden Weltkriege, Göttingen 1979, S. 66. 21 M. Nebelin, Ludendorff, S. 384. 22 Ebd. 17

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VI. Kriegsende und Zusammenbruch

Neben Finnland und der Ukraine fiel sein Augenmerk besonders auf den Kaukasus wegen des in dieser Region vorhandenen Rohstoffreichtums. Mit der Ausbeutung der dortigen Ölvorkommen sollte die Position Deutschlands gestärkt werden. Ferner hat der General den Anspruch auf die Ausbeutung der Erdölfelder der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku, dem einstigen Zentrum der russischen Petroleumindustrie, angemeldet. Die deutsche Herrschaft sollte über das Kaspische Meer errichtet werden.23 Bei den Gebietseroberungen ging es Ludendorff um die Bestimmung der künftigen Stellung Deutschlands in der Welt. Nach seiner Überzeugung würde nach Kriegsende ein von Deutschland geführter euro-asiatischer Block sich dem britischen Weltreich und einem panamerikanischen Block gegenüberstehen. Um den beiden westlichen Megastaaten Paroli bieten zu können, müsse das Deutsche Reich im Osten in Russland einen zuverlässigen Verbündeten finden, der „in möglichst politischer, militärischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit von Deutschland eine wirtschaftliche Kraftquelle Deutschlands wird“. Konkret stellte er sich das folgendermaßen vor: „Finnland, das Baltikum, Litauen und Polen, Georgien scheiden endgültig aus dem russischen Staatsverbande aus, während Deutschland der Schaffung eines föderativen Staatenbundes der übrigen Teile Rußlands wohlwollend gegenübersteht, unter der Voraussetzung der festen wirtschaftlichen Anbindung Russlands an Deutschland.“24 Aber noch Anfang Mai 1918 ließ Ludendorff keine Zweifel aufkommen, dass er an der Strategie festhalte, „den Feind friedensmüde“ zu machen.25 Das Ziel war ein Siegfrieden auch im Westen, um den Alliierten dann die Bedingungen des Deutschen Reiches diktieren zu können. Die Operation „Hagen“ sollte die Entscheidung bringen. Doch einen im Vorfeld von „Hagen“ unternommenen Angriff auf Reims am 15. Juli hatten die Franzosen abgewehrt und waren am 18. Juli ihrerseits zum Angriff übergegangen. Die bisherigen Angreifer waren in die Defensive geraten. Die Großoffensive der Alliierten leitete die Kriegswende ein. Französische und amerikanische Infanterie trat zum Sturm auf die deutschen Stellungen an. Unter den deutschen Soldaten breitete sich Panik aus. Vielfach kam es zu überstürzter Flucht. An den Haupteinbruchstellen des Gegners hatten sich ganze Verbände kampflos ergeben. „Gleichzeitig meldeten die Armeeoberkommandos einen sprunghaften Anstieg der Selbstverstümmelungen und der Desertionen. Nach amtlichen Schätzungen stieg allein die Zahl der ,Versprengten‘, die sich vermeintlich auf der Suche nach ihren Truppenteilen befanden, bis Kriegsende auf eine Million an.“26 Am 8. August 1918 hatten 23 alliierte Divisionen, unterstützt von 1 900 Flugzeugen und 546 Panzern, die 2. Armee unter Oberst von Tschischwitz angegriffen. Die in der Gegend von Amiens und Montdidir kämpfenden vierzehn deutschen Divisionen 23

Vgl. ebd., S. 398. Zit. nach: ebd., S. 389. 25 Ebd., S. 424. 26 Ebd., S. 437 f. 24

3. Das Waffenstillstandsangebot

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wurden gleich am ersten Kampftag zehn Kilometer zurückgeworfen. „Zudem erlitten sie mit fast 30 000 Toten und Gefangenen ,die größte Niederlage, die eine deutsche Armee im Weltkrieg erlebt hat‘.“27 Ludendorff sprach von einem „schwarzen Tag“ in Deutschlands Geschichte. Er gab sich aber dennoch kämpferisch und forderte „keinen Fußbreit Boden ohne zähen Kampf aufzugeben“. Dem Feind dürfe kein leichter müheloser und trophäenreicher Triumphzug über erhebliche Raumgebiete gestattet werden.28 Die Niederlage vom 8. August erklärte er mit individuellen Fehlern des Chefs des Stabes der 8. Armee, dem „es nicht gelungen sei, in der Truppe für Widerstandskraft und Disziplin zu sorgen“.29 Als aber am 2. September 1918 erneut ein tiefer Einbruch englischer Panzerverbände in die Reihen der deutschen Armee erfolgte, gestand Ludendorff gegenüber Hindenburg ein: „Wir haben keine Aussicht mehr, den Krieg noch zu gewinnen.“ Um dem Gegner das Nachsetzen zu erschweren, befahl er die vollständige Zerstörung sämtlicher Brücken und Straßen in den geräumten Gebieten.30

3. Das Waffenstillstandsangebot Nach dem Scheitern der Frühjahrsoffensive sprach sich Ludendorff am 29. September 1918 für ein sofortiges Waffenstillstandsangebot an US-Präsident Wilson und für eine Parlamentarisierung der Regierung aus. Bereits am 25. September hatte auch schon der Bündnispartner Bulgarien die Alliierten um einen Waffenstillstand ersucht.31 Die Lage sei furchtbar ernst, ließ Ludendorff verlauten. Täglich könne die Westfront durchbrochen und somit unsere Armee vernichtend geschlagen werden. Im Einvernehmen mit dem Generalfeldmarschall erklärte er: „Die O.H. L. und das deutsche Heer seien am Ende; der Krieg sei nicht nur nicht mehr zu gewinnen, vielmehr stehe die endgültige Niederlage wohl unvermeidbar bevor. Bulgarien sei abgefallen. Österreich und die Türkei, am Ende ihrer Kräfte, würden wohl bald folgen. Unsere eigene Armee sei leider schon schwer verseucht, durch das Gift spartakistisch-sozialistischer Ideen. Auf die Truppen sei kein Verlaß mehr. Seit dem 8. 8. sei es rapide abwärts gegangen. Fortgesetzt erwiesen Truppenteile sich so unzuverlässig, daß sie schleunigst aus der Front gezogen werden müssten. (…) So sei vorauszusehen, daß dem Feinde schon in nächster Zeit mit Hilfe der kampffreudigen Amerikaner ein ganz großer Sieg, ein Durchbruch im ganz großen Stile gelingen werde; dann werde dieses Westheer den letzten Halt verlieren und in voller Auflösung zurückfluten über den Rhein und werde die Revolution nach Deutschland

27

Ebd., S. 444. Vgl. ebd. 29 Ebd., S. 445. 30 Ebd., S. 452. 31 Vgl. ebd., S. 461. 28

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VI. Kriegsende und Zusammenbruch

tragen. Diese Katastrophe müsse unbedingt vermieden werden.“32 Graf Hertling erklärte, er müsse sofort sein Amt niederlegen. Für solche Aufgaben stehe er in seinem hohen Alter nicht zur Verfügung. Der Kaiser nahm das Abschiedsgesuch an. Darauf bat Ludendorff den Kaiser, „jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, daß wir so weit gekommen sind. Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muß. Die sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben“.33 Die zivile Politik sollte die Verantwortung für die Beendigung des Krieges übernehmen. Am 3. Oktober wird Prinz Max von Baden neuer Reichskanzler. Prinz Max widersetzte sich zunächst Ludendorffs Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstandsersuchen. Er hielt es für einen schweren Fehler, „den ersten Friedensschritt der neuen Regierung durch ein so überraschendes Eingeständnis deutscher Schwäche zu begleiten“.34 Solch ein Ersuchen würde seiner Auffassung nach Deutschlands völlige Erschöpfung für die Feinde sichtbar machen und zugleich einen psychologischen Zusammenbruch in der Heimat hervorrufen. Das deutsche Volk sei von seinen bisherigen Führern über die wahre militärische Lage vollständig im Dunkeln gehalten worden. „Trotz wachsender Erschöpfung war die Nation weiterhin durch Siegeshoffnung aufgepeitscht worden. Ein plötzliches Waffenstillstandsgesuch, ohne vorhergehende allmähliche Vorbereitung der Öffentlichkeit, musste einen so starken Schock auslösen, daß eine letzte Anstrengung des Volkes praktisch ausgeschlossen war, sofern sich die Ententemächte weigerten, vernünftige Friedensbedingungen zu gewähren.“35 Prinz Max von Baden schickte noch am 3. Oktober 1918 ein Telegramm an die OHL, in dem er die OHL um Stellungnahme zu folgenden Fragen bat: „1. Wie lange kann die Armee den Feind noch jenseits der deutschen Grenzen halten? 2. Muß die OHL einen militärischen Zusammenbruch erwarten und bejahendenfalls in welcher Zeit? Würde der Zusammenbruch das Ende unserer militärischen Widerstandskraft bedeuten? 3. Ist die militärische Lage so kritisch, daß sofort eine Aktion mit dem Ziel Waffenstillstand und Friede eingeleitet werden muß? (…)“36 In der Antwort Hindenburgs an den Reichskanzler hieß es, dass die OHL bei der am 28. September gestellten Forderung auf der sofortigen Herausgabe des Friedensangebots an unsere Feinde bestehe. Nach menschlichem Ermessen bestehe keine Aussicht mehr, dem Feinde den Frieden aufzuzwingen. „Der Gegner seinerseits führt ständig neue, frische Reserven in die Schlacht (…). Die Lage verschärft sich aber täglich und kann die Oberste Heeresleitung zu schwerwiegenden 32

Ebd., S. 465 f. Ebd., S. 466. 34 Darstellung des Reichskanzlers Prinz Max von Baden, Anfang Oktober 1918. In: Erich Kuttner (Hrsg.), „Der Sieg war zum Greifen nahe!“– Authentische Zeugnisse zum Frontzusammenbruch, 4., verbesserte Auflage, Berlin 1921, S. 15. 35 K. Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, S. 293. 36 Telegramm des Reichskanzlers Prinz Max von Baden an die OHL vom 3. Oktober 1918. In: E. Kuttner, „Der Sieg war zum Greifen nahe!“, S. 11. 33

3. Das Waffenstillstandsangebot

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Entschlüssen zwingen. Unter diesen Umständen ist es geboten, den Kampf abzubrechen, um dem deutschen Volke und seinen Verbündeten nutzlose Opfer zu ersparen. Jeder versäumte Tag kostet Tausenden von Soldaten das Leben.“37 Bereits am 1. Oktober 1918 ließ Ludendorff alle paar Stunden telegrafieren, das Friedensangebot müsse sofort herausgegeben werden, ohne auf die Bildung der neuen Regierung zu warten.38 Die Lage an der Front erfordere binnen 24 Stunden den Waffenstillstand. Wenn Max von Baden diesen nicht abgäbe, so müsse es die alte Regierung herausbringen. „Darauf entschloß ich mich“, so Max von Baden, „die neue Regierung zu bilden und das nunmehr unvermeidlich gewordene Waffenstillstandsangebot mit dem Namen der neuen, unbelasteten Regierung zu unterstützen.“39 In einer Note an US-Präsident Wilson, die noch in der Nacht vom 3. zum 4. Oktober herausgegeben wurde, bittet er um Vermittlung von Waffenstillstandsverhandlungen. Als Grundlage für die Verhandlungen akzeptierte er Wilsons 14 Punkte vom 18. Januar. Am 10. Oktober 1918 wurde die Fähre RMS „Leinster“, ein Passagierschiff, durch das deutsche U-Boot, UB 123, versenkt. Nach dem ersten Tornadotreffer, der das Schiff bereits schwer beschädigte, gab der Kommandant des U-Boots, Kapitänleutnant Ramm, der kaum noch Fahrt machenden Fähre den „Fangschuss“: Der abgefeuerte Tornado schlug inmitten des Schiffes ein und traf auch ein gerade zu Wasser gelassenes, voll besetztes Rettungsboot. Von den 773 Passagieren und Besatzungsmitgliedern der Fähre starben 531, darunter auch viele Amerikaner. Die Versenkung einer Fähre in der Irischen See war eine Herausforderung der USA und musste zu ernsten Konsequenzen bezüglich der Waffenstillstandsverhandlungen führen. Der amerikanische Präsident glaubte nun nicht mehr an die Ernsthaftigkeit des deutschen Verhandlungswillens. In der Zeit, wo die deutsche Regierung an die Regierung der USA mit Friedensvorschlägen herantritt, sind deutsche U-Boote damit beschäftigt, Passagierschiffe auf der See zu versenken, und nicht nur die Schiffe, sondern auch die Boote, in denen ihre Passagiere und Besatzungen versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. So lange Passagierschiffe versenkt werden, könne es keinen Frieden geben. In seiner zweiten Note vom 14. Oktober 1918, die in Berlin am 16. Oktober 1918 eintraf, forderte Wilson nicht nur die Räumung der besetzten Gebiete, sondern verlangte als Voraussetzung für einen Waffenstillstand die Einstellung des U-Boot-Krieges und das Unterlassen der „unmenschlichen Handlungen, Plünderungen und Verwüstungen“, die sich die deutschen Heere auf ihrem Rückzuge in Flandern und Frankreich zuschulden kommen ließen.40 Mit der willkürlichen, den 37 Antwort Hindenburgs an den Reichskanzler Max von Baden vom 3. Oktober 1918. In: ebd., S. 12. 38 Vgl. G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Band 4, S. 421 f. 39 Darstellung des Reichskanzlers Prinz Max von Baden. In: E. Kuttner, „Der Sieg war zum Greifen nahe!“, S. 16. Zugleich erwähnte Max von Baden auch: „Nach einer Woche eröffneten mir die militärischen Autoritäten, daß sie sich in der Einschätzung der Lage an der Front am 1. Oktober getäuscht hätten.“ Ebd. 40 Zit. nach: Karl Theodor Helfferich, Der Weltkrieg. Band III: Vom Eingreifen Amerikas bis zum Zusammenbruch, Berlin 1919. In: https://www.projekt-gutenberg.org/helfferi/wk1-03/ chap034.html (aufgerufen 20. Juni 2021).

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VI. Kriegsende und Zusammenbruch

Frieden der Welt bedrohenden „militärischen Macht“, die „bis jetzt das Schicksal der deutschen Nation bestimmt hat“, müsse ein Ende gemacht werden. „Die deutsche Nation hat die Wahl, dies zu ändern.“ Sie werde aber nie einen Frieden erhalten, ehe diese Änderung in bestimmter und befriedigender Weise durchgeführt ist.41 Die Wilson-Note stieß auf die einhellige Ablehnung der OHL. Die OHL sei der Ansicht gewesen, dass ein „ehrenvoller Friede“ geschlossen werden könne, doch der Ton in der Note sei „anmaßend“. Ludendorff lehnte die von dem amerikanischen Präsidenten geforderte Räumung der besetzten Gebiete ab. Die militärische Lage bewertete er nun – ganz anders als noch vor einem Monat – sehr viel positiver: Deutschland könne die Entente noch auf feindlichem Boden zum Stehen bringen und den Krieg im nächsten Jahr unter besseren Bedingungen beenden. Unterstützung fand Ludendorff besonders von dem Chef der Seekriegsleitung Reinhard Scheer, der entschieden gegen die geforderte Einstellung des U-Boot-Krieges votierte.42 Eine Preisgabe des U-Boot-Krieges ohne jede Gegenleistung käme für ihn nicht infrage. Prinz Max von Baden – wie auch die übrigen Kabinettsmitglieder – war aber für die Preisgabe des U-Boot-Krieges und drohte mit Rücktritt, falls der Kaiser sich weigere, den Militärs die Einstellung des U-Boot-Krieges zu befehlen. Der Kaiser befahl dann auch – wenn auch widerwillig – die Beendigung des U-Boot-Krieges und informierte die Seekriegsleitung und die OHL über seine Entscheidung.43 Eine entsprechende Note wurde an Wilson nach Washington abgesandt. In der Antwortnote vom 24. Oktober 1918 forderte der amerikanische Präsident einen Waffenstillstand, „welcher eine Wiederaufnahme der Feindseligkeiten vonseiten Deutschlands ausschloß“. Außerdem legte er dringend die Abdankung des Kaisers nahe. Sollten die „militärischen Beherrscher und monarchistischen Autokraten“ aber weiter am Ruder bleiben und den Krieg fortsetzen, bliebe dem Reich nur noch die bedingungslose Kapitulation: „Dann kann Deutschland über keine Friedensbedingungen verhandeln, sondern muß sich ergeben.“44 Im großen Hauptquartier war die Empörung groß. Ludendorff sprach von einer „unerträglichen Demütigung“: „Eine Abdankung des Kaisers könne überhaupt nicht in Frage kommen; es gäbe nur eine Lösung: Abbruch der Verhandlungen mit Wilson und Kampf bis zum äußersten.“45 Noch am späten Abend des 24. Oktober 1918 wurde ein von Ludendorff und Hindenburg unterzeichneter Aufruf der OHL „zur Bekanntgabe an alle Truppen“ veröffentlicht. Darin wurde die Politik Wilsons als Täuschungsmanöver bezeichnet und der „Kampf bis aufs Messer“ gefordert: „Die Bedingungen seien für uns Soldaten unannehmbar“. Wilsons Antwort kann daher „für uns Soldaten nur die Aufforderung sein, den Widerstand mit äußersten Kräften fortzusetzen“.46 41

Zit. nach: G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd. 4, S. 433. N. Nebelin, Ludendorff, S. 480. 43 Vgl. ebd., S. 485. 44 Zit. nach: ebd., S. 487. 45 Zit. nach: ebd., S. 487. 46 Zit. nach: ebd., S. 490.

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3. Das Waffenstillstandsangebot

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Der Kanzler war dagegen überzeugt, dass es keine Alternativen zu den Friedensverhandlungen gäbe. Besonders empört war Max von Baden über die Kompetenzüberschreitung der OHL, mit der die Autorität der Regierung untergraben werde und verlangte kategorisch die Entlassung Ludendorffs, andernfalls würde er selber gehen. Der eigenmächtige Heeresbefehl vom 24. Oktober hatte auch den Kaiser erzürnt: „Unerhört, mich einfach auszuschalten.“ Am Morgen des 26. Oktober erklärte er: „Ludendorff muß gehen, der Mann bringt mich noch um meine Krone. (…) Was für Schwierigkeiten hat mir Ludendorff schon gemacht; wie hat er mich oft behandelt! Erst stürzt er mir den Bethmann (…), mischt sich in alle politischen Dinge ein, von denen er gar nichts versteht. Jetzt rächt sich alles. Er kann bei seinem heftigen Temperament nicht diskutieren; wie oft ist er mir beim Kronrat schon grob geworden; sogar die Karten hat er mir vor die Füße geworfen, und ich mußte mir alles gefallen lassen! Aber jetzt ist es zu Ende, jetzt muß er gehen. Hindenburg muß bleiben; er sagt zwar immer, wenn Ludendorff ginge, müße er auch gehen, aber wenn sein Kaiser befiehlt, wird er gehorchen.“47 Noch am gleichen Tage fand eine Audienz von Hindenburg und Ludendorff beim Kaiser statt: Wilhelm II. erhob sogleich scharfe Vorwürfe. Er habe das Vertrauen zum Generalstab verloren. Dieser habe ihn „in eine furchtbare Lage gebracht, da er vor knapp vier Wochen Waffenstillstand verlangt habe, nun wieder weiterkämpfen und Wilson ablehnen wolle (…)“.48 Weiter verwahrte sich der Kaiser gegen solche Eigenmächtigkeiten wie dem Heeresbefehl vom 24. Oktober. Ludendorff ging sofort zum Gegenangriff über. Er verwies auf die großen militärischen Erfolge, die der Kaiser dem Generalstab zu verdanken habe und verlangte in „sehr schroffen Ton“ seine Entlassung. Nach Hindenburgs Darstellung wurde der Ton so schroff, dass der Kaiser sagte: „Sie vergessen wohl, daß Sie mit dem König reden.“ In heftiger Erregung erklärte Wilhelm II., wann und ob Ludendorff entlassen würde, habe er allein als „Oberster Kriegsherr“ zu bestimmen. Als Ludendorff daraufhin abermals um seine Entlassung ersuchte, genehmigte der Monarch schließlich diese. Hindenburg, der sich während der gesamten Aussprache schweigend verhalten hatte, statt Ludendorff beizustehen, hat zum Schluss seinerseits auch um seine Verabschiedung ersucht, erhielt aber vom Kaiser nur die barsche Antwort: „Sie bleiben!“, die er auch sofort annahm. Nach der Aussprache kam es vor dem Schloss zu einem heftigen Wortwechsel, „indem Ludendorff den Feldmarschall des ,Verrats‘ bezichtigte. Beide fuhren getrennt zum Generalstab zurück, und der Generalquartiermeister hat seinem Chef und langjährigen Kampfgenossen diesen ,Verrat‘ nie wieder verziehen (…)“.49 Nachfolger von Ludendorff wurde Wilhelm Groener.

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Zit. nach: ebd., S. 494. Zit. nach: ebd., S. 497 f. 49 Zit. nach: G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Band 4, S. 449.

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VI. Kriegsende und Zusammenbruch

4. Das Ende des Kaiserreiches Das Ende des Kaiserreiches war aber nicht mehr aufzuhalten. Die Novemberrevolution führte zum Sturz der Monarchie im Deutschen Reich. Unmittelbarer Auslöser der Novemberrevolution war der Flottenbefehl der Seekriegsleitung (SKL) unter ihrem Chef, Reinhard Scheer, vom 24. Oktober 1918. Admiral Scheer war seit dem Sommer 1918 Oberster Führer der deutschen Kriegsmarine. Ende August 1918 gründete er eine eigene Seekriegsleitung, die eine zentrale Marineleitung schaffen und ihr eine ebensolche Machtstellung und Eigenständigkeit gegenüber dem Kaiser verschaffen sollte, wie sie die OHL schon längst besaß. Ihm zur Seite standen der Stabschef Konteradmiral Magnus von Levetzow und der Stabschef der Hochseeflotte Admiral Adolf von Trotha.50 Die von der neuen Regierung des Prinzen Max von Baden eingeleiteten Waffenstillstandsverhandlungen waren auf die Ablehnung der Seekriegsleitung gestoßen. Sie befürchtete, dass eine der Waffenstillstandsbedingungen die Auslieferung der Flotte an die Briten sein würde und dass das Kabinett den unbeschränkten U-Boot-Krieg beenden würde. Scheer hatte sich aber entschieden gegen die von Wilson geforderte Einstellung des U-Boot-Krieges ausgesprochen. Er lehnte die Preisgabe des U-Boot-Krieges ohne jede Gegenleistung ab. Der U-Boot-Krieg dürfe nur dann eingestellt werden, wenn dafür der Waffenstillstand erlangt werden könne. In einem Telegramm an General Ludendorff bekräftigte Admiral Scheer noch einmal seinen Standpunkt und suchte zugleich den Schulterschluss mit der OHL: „Während ich auf dem Standpunkte stehe, daß der U-Bootkrieg nur für die Gegenleistung der Waffenstillstandsruhe, die die Armee gebraucht, eingestellt werden sollte, ist die politische Leitung der Ansicht, daß bei Stellung dieser Bedingungen der Faden der Verhandlungen mit Amerika abreiße. Es müsse daher von vornherein entsprechend dem Verlangen von Wilson angeordnet werden, daß wir sämtlichen U-Bootkommandanten die Torpedierung von Passagierschiffen versagen. Damit hört der U-Bootkrieg de facto auf (…).“51 In der Antwort verwahrte sich die OHL „in bestimmtester Form“ ausdrücklich gegen die Preisgabe des U-Boot-Krieges. „Die Armee brauche den U-Bootkrieg zur Entlastung des auf ihr ruhenden Druckes“.52 Das Kabinett beschloss aber die Einstellung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges. Der Kanzler hatte die Lage als äußerst ernst dargestellt und behauptet, dass das Deutsche Reich nicht in der Lage sei, Bedingungen zu stellen. „Er beschwor Admiral Scheer, dafür Sorge zu tragen, daß U-Bootzwischenfälle, die die Friedensaktion stören könnten, vermieden würden.“53

50 Vgl. G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Band 4, S. 462. Nach Meinung von Ritter waren diese drei Männer die Hauptverantwortlichen für das „Unglück“ des Novembers 1918. 51 Magnus von Levetzow, Der letzte Akt. In: Süddeutsche Monatshefte. Jg. 21 (1924), Heft 7, Der Dolchstoß, S. 65. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 66.

4. Das Ende des Kaiserreiches

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Der uneingeschränkte U-Boot-Krieg war damit zu Ende. „Aber die Hochseeflotte“, so der Chef des Stabes der Seekriegsleitung, Konteradmiral Magnus von Levetzow54, „war nunmehr ihrer Fessel ledig. Sie hatte ihre Freizügigkeit wiedererlangt“.55 Die Flotte war während des U-Boot-Krieges zum Minenräumen und zur Deckung von U-Booten gebraucht worden. Jetzt sei sie von dieser Aufgabe freigestellt und für eine Schlacht verfügbar. In dieser Situation wurden Pläne eines Flottenvorstoßes aufgegriffen und vertieft, die bereits vorher in Umrissen angefertigt worden waren. Admiral Scheer und sein Stab hatten von vornherein eine Alternative für den Fall, dass der U-Boot-Krieg eingestellt werden müsse, einbezogen. Die Alternative sah den vollen Einsatz der Hochseeflotte vor.56 Bereits in seinen „Überlegungen in ernster Stunde“ hatte der Konteradmiral Adolf von Trotha57, Chef des Stabes beim Kommando der Hochseestreitkräfte am 6. Oktober 1918 davon gesprochen, dass der Flotte ein „Schlußkampf als höchstes Ziel vor Augen“ stehe. Aus einem ehrenvollen Kampf der Flotte, „auch wenn er ein Todeskampf wird in diesem Kriege“, könne eine neue deutsche Zukunfts-Flotte hervorwachsen.58 Am 10. Oktober 1918 legte Trotha einen Plan zu einem Vorstoß der Flotte in der Straße 54 Magnus von Levetzow (1871 – 1939) wurde im August 1918 zum Chef des Stabes der Seekriegsleitung unter Reinhard Scheer im Großen Hauptquartier ernannt. Im März 1920 unterstützte er den Kapp-Putsch. Bundesarchiv (BArch), R3001/5041 „Kapp-Putsch. – Vorbereitung zum Hochverrat“. Am 1. März 1932 trat Levetzow der NSDAP bei (Mitgliedsnummer – 1225071), BArch R9361 - IX Kartei/25680983. Bei der Reichstagswahl im Juli 1932 zog er auf Reichswahlvorschlag der NSDAP in den Reichstag ein, dem er bis November 1933 angehörte. Am 15. Februar 1933 wurde er von den Nationalsozialisten zum Polizeipräsidenten von Berlin ernannt und nach dem Kurfürstendamm-Krawall im Juli 1935 von dem Posten des Polizeipräsidenten durch den Führer der Berliner SA-Truppe Wolf-Heinrich von Helldorf ersetzt. 55 M. v. Levetzow, Der letzte Akt, S. 66. 56 Vgl. Wilhelm Deist, Die Politik der Seekriegsleitung und die Rebellion der Flotte Ende Oktober 1918. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 14. Jahrgang 1966, Heft 4, S. 351. 57 Adolf von Trotha (1868 – 1940) trat 1886 in die Marine ein und durchlief dort die übliche Ausbildung. Er begleitete Kaiser Wilhelm II. mehrfach auf dessen Reisen. Als Angehöriger des Ostasiengeschwaders war er auch an der Niederschlagung des „Boxer“-Aufstandes beteiligt. 1901 wurde er in die Zentralabteilung des Reichsmarineamtes kommandiert und wurde ein enger Vertrauter von Admiral Alfred von Tirpitz. Nach Kriegsausbruch beteiligte sich Trotha an Operationen gegen die britische Ostküste. Als Chef des Stabes der Hochseeflotte nahm er an der Skagerrakschlacht teil. Am 17. Dezember 1916 wurde er zum Konteradmiral befördert und ab 1918 zum Chef des Personalamts im Reichsmarineamt benannt. Als Chef des Stabes beim Kommando der Hochseeflotte verantwortete er maßgeblich den Flottenbefehl vom 24. Oktober 1918, der das Ende der Monarchie einleitete. Am 26. März 1919 wurde Trotha Chef der neuen Admiralität der Reichsmarine, die an die Stelle des Reichsmarineamtes getreten war. Am 31. Oktober 1919 wurde er zum Vizeadmiral befördert. Er unterstützte den Kapp-Putsch, indem er erklärte, dass die Marine den Putschisten zur Verfügung stehe. Nach der Niederschlagung des Putsches musste er seinen Abschied nehmen. Er hielt Kontakt zum gestürzten Kaiser in Doorn und war Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 5501061). BArch R 9361-VIII KARTEI/232401066. 1935 wurde er Ehrenführer der Marine-Hitler-Jugend und erhielt 1938 das Goldene Parteiabzeichen der NSDAP. Am 19. August 1939 wurde er zum Admiral ernannt. 58 W. Deist, Die Politik der Seekriegsleitung, S. 353.

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VI. Kriegsende und Zusammenbruch

von Dover zur grundsätzlichen Genehmigung vor. Der Nachfolger von Reinhard Scheer, Flottenchef Admiral Franz Ritter von Hipper, billigte den Plan. Mit der Zustimmung Hippers begannen nun die Arbeiten an dem Operationsbefehl Nr. 19 vom 24. Oktober 1918.59 Der Plan sah vor, der englischen Flotte eine Falle zu stellen. Geplant war, die britische Flotte unter günstigen Bedingungen zu stellen und in einer Entscheidungsschlacht vernichtend zu schlagen. Zu diesem Zweck sollte die deutsche Hochseeflotte Küstenbereiche in Flandern und den Verkehr in der Themse beschießen, sodass die britische Flotte veranlasst werden würde, auszulaufen. Eine wichtige Rolle war dabei den aus dem unbeschränkten U-Boot-Krieg zurückgerufenen U-Booten zugedacht. Sie waren dafür vorgesehen, britische Schiffe auf ihrer Fahrt zur Schlacht mit der deutschen Flotte anzugreifen.60 Vor der niederländischen Insel Terschelling sollte dann die vernichtende Entscheidungsschlacht gegen die britische Flotte stattfinden. Wäre der Plan zur Durchführung gekommen, hätte er weitreichende Konsequenzen gehabt. Er hätte aller Wahrscheinlichkeit nach zum Abbruch der Waffenstillstandsverhandlungen und zum Sturz der parlamentarischen Regierung unter Prinz Max von Baden geführt. Nach den heftigen Vorwürfen Wilsons von Gräueltaten und Verwüstungen der deutschen Truppen beim Rückzug aus der Westfront und den vielen Opfern der versenkten Fähre „Leinster“, hätte der amerikanische Präsident unmöglich die Waffenstillstandsverhandlungen weiterführen können, zumal die der Seeschlacht vorausgehende geplante Beschießung der Küsten in Flandern und des Verkehrs in der Themsemündung abermals zu zahlreichen zivilen Opfern geführt hätte.61 Mit dem Abbruch der begonnenen Waffenstillstandsverhandlungen wäre aber auch die Autorität der neuen parlamentarischen Regierung unter Max von Baden untergraben und zum Rücktritt gezwungen worden. Waren dies auch die Absichten der Seekriegsleitung? Vieles spricht dafür. Das Seeoffizierskorps stand der neuen Regierung ablehnend bis feindlich gegenüber. Für den Chef des Kommandos der Hochseeflotte, Hipper, war der Tag, als die neue Regierung ihr Amt antrat, der „Todestag des seinerzeit von Bismarck gegründeten Deutschen Reiches“.62 Und Levetzow nannte Vizekanzler Friedrich von Payer einen „kleinen jämmerlichen Parteigänger ohne Sinn und Verstand für nationale Würde und Ehre“.63 Die überwiegende Mehrheit des Seeoffizierskorps hatte sich mit Kräften verbunden,

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Vgl. ebd., S. 354. Vgl. Leonidas E. Hill, Signal zur Konterrevolution? Der Plan zum letzten Vorstoß der deutschen Hochseeflotte am 30. Oktober 1918. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 36 (1988), Heft 1, S. 118. 61 Vgl. Klaus Kuhl, Der geplante Flottenvorstoß Ende Oktober 1918, Kiel 2021, S. 4 (unveröffentlichtes Manuskript). 62 Franz von Hipper, Privates Kriegstagebuch. Sechster Teil – Das zweite Halbjahr 1918. In: Arbeitskreis Krieg zur See 1914 – 1918 e. V. (Hrsg.: Marine-Nachrichtenblatt, Nr. 28, 2020, S. 18). 63 Zit. nach: W. Deist, Die Politik der Seekriegsleitung, S. 366. 60

4. Das Ende des Kaiserreiches

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die zu den schärfsten und erbittertsten Gegnern der Innenpolitik des Reichskanzlers Max von Baden gehörten. Die SKL hatte weder den Kaiser noch den Reichskanzler von ihren konkreten Absichten und noch weniger von dem Ausmaß der geplanten Operation unterrichtet. Die SKL war sich also über die Regelwidrigkeit ihres Verfahrens durchaus im Klaren. Nach Meinung von Leonidas E. Hill musste die Operation vor der Regierung geheimgehalten werden, weil sie illegal war und einem Hochverrat gleichkam.64 Dagegen war Ludendorff über die Absichten informiert. Scheer hatte sich der Rückendeckung Ludendorffs versichert. Ludendorff war der Einzige, der außerhalb des engen Kreises der Marineoffiziere von der geplanten Operation unterrichtet wurde. Admiral Scheer hatte den General aufgesucht und dabei ausgeführt, „daß die Flotte, ehe sie zu einem ,Handelsobjekt in einem schimpflichen Frieden‘ würde, eingesetzt werden müsse; daß sie nicht untätig bleiben dürfe, während die Nation auf das schwerste kämpfe“.65 Er versprach sich davon einen Aufschwung der Stimmung in der Heimat. Zum Schluss bat er den General, von seinen Mitteilungen keinen Gebrauch zu machen. In der Zwischenzeit waren Hindenburg und Ludendorff zu dem Schluss gekommen, dass die Armee die Kämpfe fortsetzen könne und dass die Verhandlungen beendet werden sollten. Am 24. Oktober gaben sie ihren Befehl an die Streitkräfte heraus, indem es hieß, die Waffenstillstandsverhandlungen würden abgebrochen und das Heer müsse den „Kampf bis aufs Messer“ fortsetzen. Ludendorff behauptete nun, dass er sich hinsichtlich der Kriegslage, wie er sie Ende September abgegeben hat, „getäuscht“ habe und forderte nun die Wiederaufnahme der Kriegshandlungen.66 Standen der geplante Flottenvorstoß der SKL und der Heeresbefehl der OHL im Zusammenhang zueinander? Hatte die SKL versucht, mit dem Flottenvorstoß auch die Absichten der OHL zu unterstützen? Levetzow hatte dies später in seiner Broschüre ausdrücklich bestätigt. „Die Seekriegsleitung suchte ihre vornehmste Aufgabe darin, (…) das Heer in dem sich anbahnenden schweren Endkampf (…) in wirkungsvollster Weise zu unterstützen (…). Mit dem Vorgehen der Flotte durfte da nicht gezögert werden. Die Seekriegsleitung hielt es für unerlässlich, daß die Flotte alsbald zum Endkampf einzusetzen sei. (…) Ein Erfolg zur See würde der Heimat einen mächtigen Impuls geben, ja möglicherweise noch einen Umschwung der Kriegslage herbeiführen können.“67 Die geplante Seeschlacht war ebenso wie der Aufruf der OHL, den Kampf mit allen Mitteln fortzusetzen, gegen die Absichten der Regierung gerichtet. Parallel dazu führten Vaterlandspartei und Alldeutscher Verband überall im Lande Kundgebungen durch, auf denen gegen die neue parlamentarische Regierung unter Max von Baden polemisiert und ein „deutscher Frieden“ 64

Vgl. L. Hill, Signal zur Konterrevolution?, S. 116. W. Deist, Die Politik der Seekriegsleitung, S. 358. 66 Darstellung des Reichskanzlers Prinz Max von Baden. In: E. Kuttner, „Der Sieg war zum Greifen nahe!“, S. 16. 67 M. v. Levetzow, Der letzte Akt, S. 55, S. 67 und S. 66. 65

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VI. Kriegsende und Zusammenbruch

gefordert wurden. Sie sahen in dem Verhalten der Regierung „Vaterlandsverrat“, und es gelte nun mit dem Abbruch der Friedensverhandlungen, alle Kräfte für den „Endkampf“ zu mobilisieren. Waren all diese Aktivitäten Teil einer gemeinsamen Kampagne? Es spricht vieles dafür, dass die Marineführung, die eng mit der von Tirpitz geführten und auf den Alldeutschen Verband gestützten deutschen Vaterlandspartei verbunden war, die Friedensverhandlungen abbrechen wollte. Offenbar bestand die Hoffnung der Marineführung darin, mit der Seeschlacht ein Zeichen zu setzen, die Moral der deutschen Bevölkerung zu heben und mit einer neuen Regierung den Kampf mit erneuerter Energie wieder aufzunehmen. Die Seekriegsführung hoffte, „eine große Seeschlacht werde eine Fortführung der Kampfhandlungen mit wiedererstarkten Kräften stimulieren, Kampfhandlungen, welche die Regierung zu beenden suchte“.68 Hill bezeichnet den geplanten Flottenvorstoß als den ersten Schritt zur Konterrevolution.69 Die Wiederaufnahme des Kampfes, der „Kampf für einen ehrenvollen Frieden“, hätte aber katastrophale Folgen gehabt, hätte letztlich nur bedeutet, bis zur völligen Niederlage weiterkämpfen zu müssen. Die Weiterführung des Kampfes mit einer neuen rechts-konservativen Regierung hätte die Lage Deutschlands keineswegs verbessert, sondern nur weiter verschlechtert. Weitere Opfer und Zerstörungen wären die unmittelbaren Folgen gewesen. Das Deutsche Reich hatte keine Reserven mehr. Die Spaltung der Gesellschaft hätte sich noch weiter vertieft und die niedergedrückte Stimmung in weiten Teilen der Bevölkerung nicht behoben. Die Beschießung der britischen Küsten hätte weitere zahlreiche Todesopfer gefordert und so die Kampfentschlossenheit der Alliierten und amerikanischen Soldaten erhöht. Die Behauptung, dass mit der Weiterführung des Kampfes dem Gegner bessere Friedensbedingungen hätten abgerungen werden können, sind angesichts der materiellen Überlegenheit der Alliierten vollkommen illusorisch. Die vollständige Niederlage war absehbar. Eine Seeschlacht mit der etwa doppelt so starken und durch amerikanische Schlachtschiffe verstärkten Royal Navy hätte nur zu weiteren Tausenden Todesopfern geführt. Doch es kam nicht zu dem geplanten Flottenvorstoß; die große Seeschlacht gegen die Royal Navy fand nicht statt. Die Besatzungen der großen Schiffe verweigerten die Befehle, weil sie das Scheitern der Friedensbemühungen verhindern wollten. Unter den Flottenangehörigen war es eine verbreitete Ansicht, dass der geplante Flottenvorstoß ohne Zustimmung der Regierung erfolgen sollte, dass die mit den Alldeutschen sympathisierenden Offiziere die Friedensverhandlungen scheitern lassen wollten. „Die Mannschaften sprachen von der ,Todesfahrt‘, zu der die gesamte deutsche Hochseeflotte auslaufen sollte. Da die Flotte bis dahin nur sehr zurückhaltend eingesetzt worden war, mußte sich den Mannschaften der Verdacht aufdrängen, daß hier ein heroischer Endkampf in Szene gesetzt werden sollte. (…) Ohnehin unzufrieden wegen der schlechten Lebensbedingungen an Bord, hatten die 68 69

L. Hill, Signal zur Konterrevolution?, S. 116. Ebd., S. 115.

4. Das Ende des Kaiserreiches

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Besatzungen nicht die geringste Neigung, ,als Opfer des Ehrgeizes der Offiziere in den Tod geführt‘ zu werden.“70 Die Kieler Matrosen, „die mit ihrem Aufstand den Startschuß zur deutschen Revolution gaben, fühlten sich politisch im Recht. Sie glaubten, daß die Marineführung mit ihrem abenteuerlichen Plan, eine letzte Todesfahrt zu unternehmen, nicht etwa Regierungsbefehle ausführte, sondern daß sie im Gegenteil auf eigene Faust die Friedensbemühungen der Regierung Max von Baden hatte durchkreuzen wollen. Daher hatten sie diesen Plan durch ihre Meuterei vereitelt. Insofern handelte es sich bei ihrer massenweisen Gehorsamsverweigerung um eine Meuterei, die der ,Admiralsrebellion‘ gegen die Reichsregierung vorausgegangen war“.71 Im Grunde genommen waren die Gehorsamsverweigerungen der Matrosen keine „Meuterei“ im eigentlichen Sinne, sondern eine Aktion, die sich gegen die illegitimen und gefährlichen Bestrebungen der Marineführung richteten. „Militärtechnisch betrachtet war es heller Wahnsinn (…), Zehntausende von Menschenleben in einer Seeschlacht aufs Spiel zu setzen, die der weichenden deutschen Front nicht das geringste mehr nutzen konnte.“72 Die revoltierenden Matrosen hatten berechtigten Anlass zu der Annahme, gegen den Willen der Regierung „verheizt“ zu werden. Die Flottenangehörigen wandten sich deshalb gegen diesen militärisch sinnlosen und den Friedensbemühungen der Regierung zuwiderlaufenden Plan. Heizer unterbanden die Ausfahrt der Hochseeflotte, Matrosen verweigerten den Gehorsam.73 Etwa 600 Matrosen und Heizer wurden verhaftet. Ihnen drohte standrechtliche Erschießung. Die Matrosen suchten Kontakt zu den örtlichen Gewerkschaften und den Politikern von MSPD und USPD. Gemeinsam wurde für den 3. November zu einer Demonstrationsversammlung aufgerufen. 5 000 bis 6 000 Menschen nahmen an ihr teil, zumeist Matrosen. Sie waren einem Aufruf des Matrosen Karl Artelt und des Werftarbeiters Lothar Popp, beide USPD-Mitglieder, gefolgt. Bei dem sich anschließenden Protestmarsch durch die Kieler Innenstadt wurden die Demonstranten beschossen. „Den Schießbefehl gab Reserveleutnant Steinhäuser, der vom Gouverneur, Admiral Souchon, die Weisung erhalten hatte, mit seinem 30 Mann starken Rekrutenzug den Demonstranten entgegenzutreten und rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.“74 Sieben Tote und 70

Holger Afflerbach, „Mit wehender Fahne untergehen“ Kapitulationsverweigerungen in der deutschen Marine. In: Vierteljahrshefte der Zeitgeschichte, 49. Jahrgang 2001, Heft 4, 2001, S. 606. 71 Wolfram Wette, Gustav Noske. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987, S. 204. 72 G. Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Band 4, S. 463. 73 „Die Verweigerung der Mannschaften war berechtigt“, so der Historiker Afflerbach. „Denn auch wenn die Seekriegsleitung keine ,Selbstmordfahrt‘ im Wortsinn plante, wäre es angesichts der Regelungen der Marine für den – nicht auszuschließenden – Fall, daß man auf den weit überlegenen Feind gestoßen wäre, auf eine solche hinausgelaufen. Die Vorstellung vom Untergang mit wehender Fahne hätte dann ein Desaster ohnegleichen heraufbeschworen. Die Meuterei von 1918 zeigt, daß die Besatzungen der Schiffe die Untergangsmentalität ihrer Vorgesetzten nicht teilten und sich, wenn sie eine realistische Alternative sahen, dem Endkampf und der Selbstaufopferung entzogen.“ H. Afflerbach, „Mit wehender Fahne untergehen“, S. 607. 74 W. Wette, Noske, S. 199.

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VI. Kriegsende und Zusammenbruch

29 Verletzte waren die Opfer dieser Gewalttat. Am 4. November kam es daraufhin zu einer allgemeinen Erhebung. Der Gewaltakt rief in ganz Kiel eine ungeheure Empörung hervor und löste eine breite Solidarisierungswelle aus. Neben den Mannschaften der Hochseeflotte rebellierten nun auch die der Landmarineteile, und die Arbeiter der großen Germaniawerft sowie der Tornadowerkstatt legten die Arbeit nieder. Mannschaften der 1. Tornado-Division schlossen sich der Bewegung an. Tausende Matrosen bewaffneten sich aus den Waffenkammern ihrer Kasernen. Die revoltierenden Matrosen Kiels waren im Besitz der Macht. Offiziere wurden entwaffnet, Gefangene, darunter die Inhaftierten des Matrosenaufstandes vom 29. Oktober, wurden befreit. Gefordert wurden die Beendigung des Krieges und die Abdankung des Kaisers. Teile der Arbeiterschaft hatten sich bereits mit den Matrosen solidarisiert. Für den 5. November hatten die Arbeitervertreter Kiels den Generalstreik beschlossen, und am gleichen Tag wurde in der Torpedo-Division ein Soldatenrat gebildet. Es war der erste Soldatenrat in der Geschichte der Novemberrevolution. Am Abend des 4. Novembers war Kiel fest in der Hand der etwa 40 000 revoltierenden Matrosen, Soldaten und Arbeiter. Die Erhebungen griffen schnell auf sämtliche Städte in Deutschland über. Überall übernahmen Arbeiter- und Soldatenräte die örtliche Verwaltung. Am 9. November erreichte die Revolution die Reichshauptstadt. An diesem Tag übertrug Max von Baden dem Vorsitzenden der MSPD, Friedrich Ebert, die Wahrnehmung der Geschäfte des Reichskanzlers. Am 10. November flüchtete Kaiser Wilhelm II nach Holland, Ludendorff floh am 12. November unter falschem Namen mit einem finnischen Diplomatenpass über Kopenhagen nach Schweden.75 Tirpitz floh in die Schweiz. Am 11. November trat der Waffenstillstand mit der Entente in Kraft, dem Friedensverhandlungen in Versailles folgen sollten. Am gleichen Tag konstituierte sich der Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte in Großberlin zur höchsten Körperschaft der Revolution. Die tragenden Schichten des Kaiserreiches, die den mörderischen Krieg unterstützt hatten, waren weitgehend entmachtet. Doch die Chancen eines grundlegenden demokratischen Neubeginns, einer umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft wurden nicht genutzt. Nach wie vor dominierten in Verwaltung, Justiz und Militär die alten Kräfte des Kaiserreiches, die der Republik ablehnend bis feindlich gegenüberstanden.76 Die Verantwortlichen für den geplanten Flottenvorstoß wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil! Während Scheer und Levetzow sich nach der Revolution zunächst zurückzogen, konnte Trotha seine Karriere fast nahtlos 75 Am 13. Dezember 1918 hat der sozialdemokratische „Vorwärts“ Ludendorffs verbrecherischen Größenwahn als das Unglück Deutschlands bezeichnet und die 3. OHL als „von Größenwahn verblendete Gewaltmenschen“ verurteilt. Das Blatt bezog sich dabei auf eine Äußerung des österreichischen Außenministers Czernin, der Ludendorff „verbrecherischen Größenwahn“ vorwarf. Zu Ludendorff schrieb das Blatt: „Der Hauptschuldige ist nach Schweden geflüchtet; er hat sich feige der Verantwortung für seine an Landesverrat grenzende Politik entzogen.“ Zit. nach: J. v. Hoegen, Der Held von Tannenberg, S. 217 f. 76 Vgl. Bernhard Sauer, Der „Spartakusaufstand“. Legende und Wirklichkeit. In: Heiner Karuscheit/Bernhard Sauer/Klaus Wernicke, Vom „Kriegssozialismus“ zur Novemberrevolution, Hamburg 2018, S. 132 ff.

5. Die Dolchstoßlegende

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fortsetzen. Er gelangte an die Spitze der Marine der Weimarer Republik, indem er Georg Alexander von Müller als Chef des Marinekabinetts ersetzte. Wilfried von Loewenfeld gehörte als erster Adjutant von Reinhard Scheer zu dem Admiralstab der Marine. Gleich nach Ausbruch der Revolution organisierte Loewenfeld republikfeindliche Marineoffiziere in einer geheimen Gruppe. Auf Anweisung von Reichswehrminister Gustav Noske stellte er ab dem 18. Februar 1919 die 3. MarineBrigade auf, ein Freikorps aus Marinefreiwilligen. Bereits Anfang März 1919 war die Brigade etwa 1 500 Mann stark. Im März 1920 unterstützte Loewenfeld den Kapp-Putsch, indem er mit seiner Brigade und dem Freikorps Aulock die Stadt Breslau besetzte. Zahlreiche missliebige Bürger wurden dabei verhaftet und in den Kellergewölben des Generalkommandos schwer gefoltert. Sieben Menschen kamen dabei zu Tode.77

5. Die Dolchstoßlegende Die Niederlage des Deutschen Kaiserreiches und seiner Verbündeten war eindeutig. Spätestens seit dem Zeitpunkt, als die USA in den Krieg eintraten, hatte das Kaiserreich keine Chance mehr, den Krieg zu gewinnen. Dies hat auch die militärische Führung so gesehen. Am 2. September 1918 gestand Ludendorff ein: „Wir haben keine Aussicht mehr, den Krieg noch zu gewinnen.“ Die Lage sei furchtbar ernst, ließ Ludendorff wenige Tage später verlauten. „Die OHL und das deutsche Heer seien am Ende; der Krieg sei nicht mehr zu gewinnen, vielmehr steht die endgültige Niederlage wohl unmittelbar bevor.“ Keiner der führenden Militärs bezweifelte im Herbst 1918, dass der Krieg für Deutschland verloren war. Ludendorff schob allerdings die Schuld für die Niederlage der „Heimat“ zu. Nicht die militärische Führung habe die Niederlage zu verantworten, sondern jene „zivile Kreise“, „denen wir es in der Hauptsache zu verdanken haben, daß wir soweit gekommen sind.“ Diese Kreise sollen nun die Suppe essen, „die sie uns eingebrockt haben.“ Damit war der Grundstein für die „Dolchstoß“-Legende gelegt. Bereits im Juni 1918 hatte Oberst Bauer, Abteilungschef beim Chef des Generalstabs und enger Mitarbeiter Ludendorffs, eine Flugschrift veröffentlicht mit dem Titel: „Konnten wir den Krieg vermeiden, gewinnen, abbrechen?“ Darin behauptete Bauer, die Bevölkerung der Entente-Staaten sei bereits kriegsmüde gewesen. Wenn man in Deutschland nicht die Nerven verloren hätte, wäre ein besseres Kriegsergebnis möglich gewesen: „Deutschland ist eine Nasenlänge vor dem Ziel ruhmlos zu Fall gebracht worden.“ Schuld war in den Augen Bauers vor allem die Revolution. „Insbesondere hat die Revolution im schwersten Augenblick Deutschlands Schicksal besiegelt. Ein festes, einiges Deutschland hätte sicher noch so lange standhalten können, bis unsere 77 Bernhard Sauer, „Auf nach Oberschlesien“. Die Kämpfe der deutschen Freikorps 1921 in Oberschlesien und den anderen ehemaligen deutschen Ostprovinzen. In: ZfG 58, Jahrgang 2010, Heft 4, S. 303 ff.

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VI. Kriegsende und Zusammenbruch

Gegner friedensbereit gewesen wären. Wir haben den Krieg durch unsere eigene Schuld um eine Nasenlänge verloren.“78 Das Kabinett reagierte auf diese Vorwürfe, indem es die Akten der Vorgeschichte des Waffenstillstandes veröffentlichte. In dem Vorwort wurde betont, dass es die OHL war, die die Regierung auf einen sofortigen Waffenstillstand gedrängt habe. Bei den Debatten in der Nationalversammlung anlässlich der Ratifizierung des Friedensvertrages wurde diese Kontroverse noch einmal aufgegriffen. Abgeordnete der Rechtsparteien behaupteten, erst durch die Revolution sei Deutschland gezwungen gewesen, die Waffenstillstandsbedingungen anzunehmen. Heftig wurde Matthias Erzberger angegriffen, der entgegnete, die Revolution habe nichts mit dem Waffenstillstand zu tun. „Der Zusammenbruch ist erfolgt durch den Mangel an innerer und äußerer Einsicht der Konservativen und der OHL“. Gegen die DNVP gewandt fügte er hinzu: „Wir haben die Verantwortung übernehmen müssen für das, was sie verbrochen haben.“79 Auf der 84. Sitzung der Weimarer Nationalversammlung wurde am 20. August 1919 ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt. Die Arbeit des Ausschusses wurde in vier Unterausschüsse delegiert. Der vierte Unterausschuss befasste sich mit den Ursachen des Zusammenbruchs 1918. Dabei ging es auch um die Frage, ob und wie lange das Heer noch hätte durchhalten können, wenn die Revolution nicht gekommen wäre, und ob Deutschland bessere Friedensbedingungen hätte erhalten können, wenn es nicht hätte kapitulieren müssen. Als Sachverständige wurden General a. D. Hermann von Kuhl, einer der führenden Generalstabsoffiziere während des Ersten Weltkrieges, und Geheimrat Prof. Dr. Hans Delbrück hinzugezogen. General Kuhl erklärte, dass viele Faktoren zur Niederlage Deutschlands beigetragen hätten, vor allem, dass nach dem Fehlschlag der Frühjahrsoffensive 1918 die Truppe den Mut verloren habe. Zugleich ließe sich aber auch beweisen, „dass die von der Heimat ausgehende revolutionäre Unterwühlung des Heeres zu unserem Zusammenbruch beigetragen“ habe. Die Revolution habe dem Heer „den letzten Rest von Widerstandskraft“ geraubt. „Hätte es aber nicht die Wühlarbeit der äußersten Linken und schließlich die Revolution gegeben, so hätte Deutschland den Winter über noch aushalten und einen echten Verhandlungsfrieden erhalten können.“80 Dem widersprach der Militärhistoriker Hans Delbrück entschieden: Die Soldaten seien verbittert gewesen und hätten ihren Kampfelan verloren „weil der extreme Annexionismus der rechten Parteien, der Wirtschaftsverbände und auch der OHL ihnen gezeigt habe, dass es der politischen und militärischen Führung nicht um einen Krieg zur Verteidigung des Vaterlandes, sondern um einen Eroberungskrieg gegangen sei. Und für einen solchen Krieg wollten sie nicht mehr leiden und sterben“.81 Der Untersuchungsausschuss diskutierte zwei Jahre lang über die Ursachen der Niederlage. Die am 26. Mai 1925 verabschiedete dreiseitige Resolu78

Zit. nach: Gerd Krumeich, Die unbewältigte Niederlage, S. 186. Zit. nach: ebd., S. 188 f. 80 Zit. nach: ebd., S. 193. 81 Ebd., S. 194. 79

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tion über die „Allgemeinen Ursachen und Hergänge des inneren Zusammenbruchs“ konstatierte, dass die inneren Gegensätze im deutschen Volk mit Beginn des Krieges nur kurzfristig überbrückt worden seien. „Das ,Kriegsgewinnlertum‘ und die schweren Missstände in der Lebensmittelversorgung hätten den ,Willen zum Klassenkampf‘ neu angefacht und eine Unzufriedenheit geschaffen, die ihren stärksten Ausdruck in der Formel gefunden habe, ,dass der Krieg ohne Not für die Interessen der Besitzenden verlängert wird‘. Es habe darüber hinaus auch ein allgemeines ,Verblassen der Idee des Verteidigungskrieges‘ gegeben.“ Das bereits erschütterte Vertrauen in die bisherige Führung sei zusammengebrochen, als bekannt wurde, dass der Krieg für Deutschland militärisch nicht mehr zu gewinnen sei. Die Frage, ob und wie lange das Heer noch hätte durchhalten können, wenn die Revolution nicht gekommen wäre, und ob Deutschland bessere Friedensbedingungen hätte erhalten können, wenn es nicht hätte kapitulieren müssen, wurde nicht eindeutig beantwortet. So wurde, bezogen auf die Dolchstoßfrage, festgestellt: „Die Frage, ob die Gegner Deutschlands ihre Waffenstillstandsbedingungen ermäßigt hätten, wenn das deutsche Volk sich zu letztem Widerstand bereit gezeigt hätte, ist ungeklärt geblieben.“82 Dagegen erklärte der Generalsekretär des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses Eugen Fischer-Baling: Die Revolution habe einen tatsächlich verlorenen und von der Heeresleitung verloren gegebenen Krieg beendet. Dass man der Revolution und den demokratischen Kräften später die Schuld an der Niederlage gab, war nur der Versuch, im Nachhinein die Verantwortung auf den politischen Gegner abzuschieben.83 82

Zit. nach: ebd., S. 195 f. Eugen Fischer-Baling, Der Untersuchungsausschuss für die Schuldfragen des Ersten Weltkrieges. In: Alfred Herrmann (Hrsg.), Aus Geschichte und Politik. Festschrift für Ludwig Bergsträsser, Düsseldorf 1954, S. 131. Die Frage, ob Deutschland bessere Friedensbedingungen hätte erzielen können, wenn es noch ein paar Monate länger hätte durchhalten können, ist auch heute noch umstritten. Der Historiker Gerd Krumeich stellt die Frage, „ob ohne die Revolution (über deren Notwendigkeit und Berechtigung hier gar nicht diskutiert werden soll!) Deutschland einen besseren Waffenstillstand und dann auch einen besseren Frieden hätte erhalten können“. Ausdrücklich stellt er fest, dass er keineswegs der Auffassung sei, „dass Deutschland wirklich im Felde unbesiegt war, im Gegenteil“. Wie Wilhelm Deist sei er der Auffassung, „dass nicht die ,Heimat‘, sondern die ebenso selbstherrliche wie realitätsferne Oberste Heeresleitung Deutschland die ,Suppe eingebrockt‘ hatte, die die Zivilisten dann auslöffeln sollten (…)“. G. Krumeich, Die unbewältigte Niederlage, S. 15, 14. Dennoch stellt sich für ihn die Frage, „ob und wie lange das Heer noch hätte durchhalten können, wenn nicht die Revolution gekommen wäre. Und ob Deutschland nicht viel bessere Friedensbedingungen hätte erhalten können, wenn man nicht wegen der Revolution fast bedingungslos hätte kapitulieren müssen“. Ebd., S. 187. Letztlich läuft diese Argumentation darauf hinaus, dass die Revolution schuld sei an den schlechten Friedensbedingungen. Ohne Revolution hätten die Deutschen bessere Friedensbedingungen erhalten. Die Revolution ist aber nicht einfach wegzudenken. Sie war zwangsläufige Folge des Kriegsverlaufs. Für viele Menschen waren die Verhältnisse des Krieges immer unerträglicher geworden. Für sie war die Revolution ein legitimes Abwehrrecht gegen die Unmenschlichkeit des Krieges. Und immer mehr Menschen waren zu der Erkenntnis gelangt, dass der Krieg für die Annexionsziele der herrschenden Kreise geführt werde. Für dieses Ziel wollten sie ihr Leben nicht opfern. 83

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VI. Kriegsende und Zusammenbruch

Von besonderer Bedeutung in der Arbeit des Untersuchungsausschusses war zweifelsohne das Auftreten von Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Am 18. November 1919 – ziemlich genau ein Jahr nach Unterzeichnung des Waffenstillstandes – wurde er von dem 4. Unterausschuss des preußischen Untersuchungsausschusses vernommen. Auf Befragung erklärte er: Der Zusammenbruch des Heeres sei wegen der „revolutionären Zermürbung“ gekommen. Forderungen der OHL, solche Bestrebungen mit Gesetzen, Verurteilungen der Rädelsführer und anderen Maßnahmen zu begegnen, seien leider unterblieben. Weiter erklärte er: „Ein englischer General sagte mit Recht: ,Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.‘“84 In den im Spätherbst 1919 veröffentlichten Erinnerungen „Aus meinem Leben“ wurde Hindenburg noch deutlicher: „Wie Siegfried unter dem Sperrwurf des grimmen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front; vergebens hatte sie versucht, aus dem versiegenden Quell der heimatlichen Kraft neues Leben zu trinken.“85 Obwohl Hindenburg um die aussichtslose militärische Lage im Herbst 1918 wusste, hat er vor dem Untersuchungsausschuss und in seinen Erinnerungen die Verantwortung für die Kriegsniederlage auf die Heimat abgewälzt. Das Wort vom „Dolchstoß“ wurde aber sofort von den gesamten nationalistischen Rechten aufgegriffen: der „Dolchstoß“ in den Rücken der kämpfenden Truppen, ausgeführt von „der Heimat“. Es wurde behauptet, dass das deutsche Heer „an der Front unbesiegt“ gewesen sei. „Der Sieg war zum Greifen nahe“ – hieß es.86 Nicht die politische und militärische Führung des Im Übrigen ist es äußerst zweifelhaft, ob die deutschen Truppen überhaupt in der Lage gewesen wären, die Kämpfe über den Winter hinaus fortzusetzen, und wenn sie dazu in der Lage wären, ob sie dann dabei günstigere Kampfpositionen hätten erzielen können. Sehr viel wahrscheinlicher ist es, dass die Weiterführung der Kampfhandlungen bei den Alliierten, die letztlich über mehr Ressourcen verfügten, die Verbitterung, aber auch die Kampfentschlossenheit erhöht hätten. So wäre der Ausgang des Krieges bei Weiterführung der Kampfhandlungen äußerst ungewiss gewesen. Sicher ist nur eines: Die Weiterführung der Kämpfe über den Winter hinaus hätte noch mal Tausenden Menschen das Leben gekostet. 84 Zit. nach: J. v. Hoegen, Der Held von Tannenberg, S. 250. Der von Hindenburg genannte britische General Sir Frederick Maurice verwahrte sich jedoch dagegen, den Begriff „Dolchstoß von hinten“ in diesem Zusammenhang gebraucht zu haben. In Wirklichkeit sei die deutsche Niederlage durch das Scheitern der deutschen Frühjahrsoffensive von 1918 und den Zusammenbruch seiner Verbündeten, Bulgarien und Österreich-Ungarn, erfolgt. Ausdrücklich stellte er fest: „Es steht außer Frage, dass die deutschen Armeen im Feld vollständig und entscheidend besiegt wurden.“ Etwas später stelle er noch einmal klar: „Ich habe niemals die Ansicht vertreten, dass der Ausgang des Krieges darauf zurückzuführen sei, dass das deutsche Volk der Armee einen Dolchstoß in den Rücken versetzt habe.“ Zit. nach: Richard J. Evans, Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien. Wer sie in die Welt gesetzt hat und wem sie nutzten. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020, S. 90 ff. 85 Zit nach: J. v. Hoegen, Der Held von Tannenberg. S. 253. 86 So äußerte Freiherr von Wangenheim: „Der greifbar nahe Sieg ist nur durch die Revolution verhindert worden, deren Träger man mit Recht als vaterlandslose Gesellen bezeichnen kann.“ Zit. nach: E. Kuttner: „Der Sieg war zum Greifen nahe“, S. 7. Der SPD-Abgeordnete im Preußischen Landtag, Erich Kuttner (1887 – 1942), hat 1921 eine Broschüre mit diesem Titel herausgegeben. In ihr hat Kuttner authentische Zeugnisse der führenden Kräfte des Kaiserreiches zusammengestellt, mit denen er die Behauptung von konservativen Kräften, der Sieg sei zum Greifen nahe gewesen, widerlegen wollte. Nach der Machtergreifung der Na-

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Kaiserreiches sei schuld an dem verlorenen Krieg, sondern ein innerer Feind: die streikenden Arbeiter, die immer nachhaltiger für die Beendigung des Krieges eingetreten waren. In den Augen der Rechtskräfte hatte die „Heimat“ die dem Feind zugewandte „Front“ bedingungslos zu unterstützen. Die Aprilstreiks 1917 und der Januarstreik 1918 in den Berliner Rüstungsbetrieben wurden als „Verrat“ der Arbeiterschaft bezeichnet. Die Antikriegsbewegung sei dem deutschen Heer „in den Rücken gefallen“, sodass das deutsche Kaiserreich den Krieg verlieren musste. Edgar von Schmidt-Pauli, einer der bedeutendsten Freikorpschronisten, der sich später dem Nationalsozialismus anschloss, drückte die Befindlichkeit vieler Freikorpskämpfer und anderer Rechtskräfte so aus: Während draußen die deutschen Heere noch für den „Sieg“ kämpften, hatte „hinter ihrem Rücken in den ersten fürchterlichen Tagen des Novembers die verbrecherische Fackel der Revolution das deutsche Haus in Brand gesteckt“.87 In den Darstellungen der Rechtskräfte ging es nicht um die Frage, ob Deutschland bessere Friedensbedingungen hätte erzielen können, wenn die deutschen Truppen in der Lage gewesen wären, über den Winter hinaus weiterzukämpfen, sondern sie behaupteten, die Revolution habe den sicheren Sieg verhindert. Die Wirklichkeit sah allerdings völlig anders aus. Die Antikriegsbewegung war nicht Ursache eines verheerenden Kriegsverlaufs, sondern deren Folge. Die Fortsetzung des Krieges, die Beibehaltung der weitreichenden Annexionsziele trotz immer höherer Kriegsopfer und deutlich geringer werdenden Siegeschancen erzeugten erst eine breite innerdeutsche Opposition gegen den Krieg. Die Streiks waren Notwehrmaßnahmen gegen die immer unzumutbarer werdenden Lebensverhältnisse. Große Teile der Arbeiterschaft glaubten auch nicht mehr, dass der Krieg der Verteidigung deutscher Interessen diente, sondern sahen in ihm ein Mittel zur Durchsetzung annexionistischer Kriegsziele im Interesse der herrschenden Schichten. Bald wurde von den Rechtskräften „der Jude“ als der eigentliche Schuldige am deutschen Niedergang ausfindig gemacht. Der Alldeutsche Verbandsvorsitzende, Heinrich Claß, schrieb, dass die Juden aufgrund ihrer Zersetzungsarbeit während des Krieges eine derartige Schuld auf sich geladen hätten, dass nun mit äußerster Härte gegen sie vorgegangen werden müsse. Überall wirke der Jude seinem Wesen entsprechend zersetzend, verhöhne er alles, was dem Deutschen heilig sei wie Thron und Vaterland; sein besonderer Hass gelte aber „dem Heere, weil es die letzte Stütze der Staatsmacht ist“.88 Die „skrupellose und zielbewußte Hetze“ der Juden gegen alles Deutsche habe den Siegeswillen geschwächt, sodass schließlich das monarchistische Deutschland „trotz seiner Siege“ den Krieg verlieren musste.89 Die tionalsozialisten floh Kuttner 1933 mit seiner Ehefrau aus Deutschland. Im April 1942 wurde er in Amsterdam verhaftet und sechs Monate später im Konzentrationslager Mauthausen ermordet. 87 Edgar von Schmidt-Pauli, Geschichte der Freikorps 1918 – 1924, Stuttgart 1936, S. 22. 88 Daniel Frymann (Heinrich Claß), Wenn ich der Kaiser wär’ – Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, Leipzig 1925, S. 190. 89 Vgl. ebd., S. 179.

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VI. Kriegsende und Zusammenbruch

„deutsche Sittlichkeit und Kultur“ könne nur wiederhergestellt werden, „wenn den Juden endgültig die Gelegenheit zu schädlicher Einwirkung genommen wird“.90 So wurde speziell für die Bekämpfung des Judentums der „Deutschvölkische Schutzund Trutzbund“ (DVSTB) von dem Alldeutschen Verband gegründet. Dieser entwickelte sich rasch zu einer Massenorganisation von 200 000 Mitgliedern.91 Mit zahlreichen Flugblättern und Broschüren wurden die Juden als die „wahren“ Schuldigen und Urheber des Weltkrieges und des deutschen Zusammenbruchs dargestellt. Vom „Judenkrieg“, „vom Dolchstoß durch das Judentum“ und von der „Judenrevolution“ war da die Rede. Im Frühjahr brachte der Bund eine Schrift unter dem Titel „Judas Schuldbuch“ heraus.92 Darin wurde die „Judenrepublik“ als der Endpunkt einer verhängnisvollen Entwicklung dargestellt, als eine gerade Linie der bewussten Zersetzung seitens der Juden. Der besondere Hass der Antisemiten richtete sich gegen die „Erfüllungspolitiker“, die ebenfalls Juden seien, gegen den „Judenapostel“ Philipp Scheidemann, gegen Matthias Erzberger, „der auch aus jüdischem Stamme sei“, sowie Walther Rathenau, der in den Schriften des Bundes gewöhnlich als „Trotzki-Rathenau“ bezeichnet wurde, als ein Mann, der den deutschen Sieg nicht gewollt und ihn bewusst hintertrieben habe und nun die „Aufrichtung der hemmungslosen Judenherrschaft über Deutschland“ anstrebe. Dieser „Kandidat des Auslandes“93 habe unseren Untergang gewollt. Hauptgeschäftsführer des deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes wurde Oberleutnant a. D. Alfred Roth, der zugleich einer der unermüdlichsten Agitatoren war. Nach eigenen Angaben stand Roth allein in der Zeit bis zum 1. Juli 1920 18-mal als Angeklagter vor Gericht.94 In Stettin erklärte er auf einer öffentlichen Versammlung, die Juden „hätten die Stadtverordnetenversammlungen und die Parlamente zu Kaschemmen erniedrigt, es sei daher Pflicht und Forderung der Stunde, sie aus dem deutschen Vaterlande hinauszupeitschen, eher werde es nicht besser“. Und in Kassel führte er aus: „Wenn wir Deutschvölkischen einmal zur Macht gelangen“, dann würden „die Judengenossen“ mitsamt „der Juden nicht nur an den Pranger, sondern an den Galgen gebracht“.95 Neben Roth war eine weitere exponierte Agitatorin Andrea Ellendt. Am 11. Mai 1922 erklärte sie auf einer öffentlichen Versammlung der NSDAP: „Ich appelliere an Euch alle. Zeigt Mut, schließt Euch fester zusammen, die Zeit erfordert es! Wir fordern die Ausschaltung und Beseitigung der Juden. Nicht mit Worten können wir die Juden bekämpfen, wir müssen vielmehr zur Tat schreiten. Dazu seid Ihr aber alle berufen, alle die Ihr Ihr seid. Seid einig, wenn es gilt, Rache an den Juden 90

Ebd., S. 212. Vgl. Uwe Lohalm, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes 1919 – 1923, Hamburg 1970, S. 89 f. Kruck gab dagegen 300 000 Mitglieder an. Vgl. Geschichte des Alldeutschen Verbandes, S. 132. 92 Vgl. U. Lohalm, Völkischer Radikalismus, S. 180. 93 So der Titel einer Schrift, die der Hauptgeschäftsführer des Bundes Alfred Roth herausgab. 94 U. Lohalm, Völkischer Radikalismus, S. 240. 95 Zit. nach ebd., S. 224 f. 91

5. Die Dolchstoßlegende

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zu üben!“96 Das Vorgehen gegen Juden wurde immer wieder als Befreiungstat, als Racheakt und als Notwehr beschworen und als eine Art „Götterdämmerung“ mystisch erklärt. Der Antisemitismus wurde das entscheidende ideologische Bindeglied der verschiedenen, sich oftmals bekämpfenden nationalistischen und völkischen Gruppierungen, die gemeinsame ideologische Plattform für den Kampf gegen die parlamentarisch-demokratische Neuordnung. Die antisemitischen Agitatoren hatten besonders zwei Zielgruppen im Auge, zum einen die akademische Jugend an den Gymnasien, Hochschulen und Universitäten und zum anderen die zahlreichen Freikorpssoldaten. Die akademische Jugend war nach dem Ersten Weltkrieg zu einem großen Teil nationalistisch und konservativ orientiert und daher empfänglich für eine derartige Propaganda. Dies galt im noch stärkeren Maße für die Freikorpssoldaten, die verbittert von den Schlachtfeldern des Krieges zurückgekehrt waren, in eine Heimat, in der sie sich nicht mehr zurechtfanden. Im Antisemitismus fanden sie eine einfache und allumfassende „Erklärung“ für die ganze Misere. Die Freikorps waren zudem ein bedeutender innenpolitischer Machtfaktor und daher für antisemitische Agitatoren von besonderem Interesse. Die Verbindung von soldatischer Militanz mit dem „Erklärungsmodell Antisemitismus“ sollte für die Entwicklung der Weimarer Republik verhängnisvolle Folgen haben.

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Ebd., S. 225.

VII. Adolf Hitler und der Erste Weltkrieg Adolf Hitler hatte den Kriegsausbruch begeistert begrüßt und sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet. „Mir selber“ – so Hitler in „Mein Kampf“ – „kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jugend vor (…).“ Überwältigt von stürmischer Begeisterung sei er in die Knie gesunken und habe dem Himmel aus übervollem Herzen gedankt.1 Der Krieg sei endlich unvermeidlich geworden. „Ein Freiheitskampf“, so Hitler weiter, „war angebrochen, wie die Erde noch keinen gewaltigeren bisher gesehen; denn sowie das Verhängnis seinen Lauf auch nur begonnen hatte, dämmerte auch schon den breitesten Massen die Überzeugung auf, daß es sich dieses Mal nicht um Serbiens oder auch Österreichs Schicksal handelte, sondern um Sein oder Nichtsein der deutschen Nation.“ Viel zu lange habe die deutsche Regierung die günstige Stunde des Losschlagens versäumt. Es sei der Fluch der deutschen, wie auch der österreichischen Diplomatie gewesen, immer versucht zu haben, die unausbleibliche Abrechnung hinauszuschieben. „Die überwältigende Mehrheit der Nation war des ewigen unsicheren Zustandes schon längst überdrüssig; so war es auch nur zu verständlich, daß man an eine friedliche Beilegung des österreichisch-serbischen Konfliktes gar nicht mehr glaubte, die endgültige Auseinandersetzung aber erhoffte. Zu diesen Millionen gehörte auch

1 Adolf Hitler, Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Ausgabe. 58. Auflage, München 1933, S. 177; Hitler hatte sechzehnjährig die Realschule ohne Abschluss 1905 verlassen. In Wien bewarb er sich zweimal erfolglos an der Wiener Kunstakademie. Danach bemühte er sich kaum, einen Beruf oder auch nur eine Berufsausbildung in Angriff zu nehmen. Er wechselte mehrfach seine Unterkünfte und soll auch im Herbst 1909 für einige Monate obdachlos gewesen sein. Anfang 1910 zog er in das Männerwohnheim in der Meldemannstraße und lebte hauptsächlich von den bescheidenen Einkünften, die er aus dem Verkauf seiner selbst gemalten Bilder und Postkarten bezog. Im Mai 1913 zog er vom Männerwohnheim in Wien nach München. „Der Krieg“, so der Historiker Karl-Dietrich Bracher, „erschien als das Ende aller Probleme des Lebens in einer Gesellschaft, in der er sich nicht zurechtgefunden, die er in der bezeichnend egozentrischen Art seines Denkens für das eigene Scheitern verantwortlich gemacht hatte. Hier, und nicht erst in dem pathetisch gestelzten ,Ich aber beschloß, Politiker zu werden‘ von 1918, liegt die entscheidende Wende: der Krieg als Umwerter als Werte, der Kampf als Vater aller Dinge beherrscht das ganze künftige Leben Hitlers. (…) Seit dem erlösenden Ereignis von 1914 war auch das private und ,berufliche‘ Dasein des nun Dreißigjährigen, der wenig gelernt hatte und keine persönlichen Bindungen besaß, mit der Verlängerung des Kriegszustandes eng verknüpft, ja identisch. Hier liegen die Wurzeln für die fanatische Energie, mit der nun Hitler den Krieg in Permanenz zu seinem Leitbild erhob, nur so verstand er die Politik als Beruf: als Mittel zu einer Machtentfaltung, die den erneuerten Krieg, nun aber nach seinem Willen bis zum endgültigen Erfolg, ermöglichen und tragen konnte.“ Karl-Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur, Köln 1969, S. 70 f.

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ich.“2 Der Kampf des Jahres 1914 sei den Massen nicht aufgezwungen worden – das gesamte Volke selbst habe ihn begehrt, so Hitler. Adolf Hitler trat am 16. August 1914 als Kriegsfreiwilliger in die Bayerische Armee ein und wurde am 8. Oktober auf den König von Bayern vereidigt. Am 1. September 1914 wurde er der ersten Kompanie des 16. Reserve-Infanterie-Regiments zugeteilt. Er nahm Ende Oktober 1914 an der Ersten Flandernschlacht teil und wurde am 1. November zum Gefreiten befördert, am 2. Dezember mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet. Ab dem 9. November 1914 diente Hitler als Ordonnanz und Meldegänger zwischen dem Regimentsstab und den Stäben der Bataillone mit 1,5 bis 5 Kilometer Abstand zur Hauptkampflinie. Von März 1915 an wurde er im Sektor Aobors-Fromelles und in der Schlacht von Fromelles eingesetzt. In der Schlacht an der Somme wurde Hitler am 5. Oktober 1916 durch einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet und bis zum 4. Dezember im Vereinslazarett Beelitz bei Potsdam gesund gepflegt. Am 5. März 1917 kehrte er wieder zu seiner alten Einheit zurück. Er nahm an der Schlacht von Arras, an der Dritten Flandernschlacht und ab Ende März 1918 an der deutschen Frühjahrsoffensive an der kriegsentscheidenden zweiten Schlacht an der Marne teil. Am 21. August 1918 verließ Hitler das in schwere Kämpfe verwickelte Regiment zu einem einwöchigen Telefonistenkurs in Nürnberg und trat danach seinen regulären Heimaturlaub in Berlin an. Am 27. September kehrte er an die Westfront zurück, wo auch sein Regiment von den allgemeinen Auflösungserscheinungen betroffen war, die mit dem „schwarzen Tag des Deutschen Heeres“ begonnen hatten. Am 14. Oktober 1918 geriet Hitler bei einem Meldegang in einen Senfgasangriff und wurde am 21. Oktober „als leicht verwundet“ in das Reservelazarett Pasewalk eingeliefert. Dort erfuhr er am 18. November von der Novemberrevolution und den Waffenstillstandsverhandlungen – nach Hitler die größten Schandtaten des Jahrhunderts. Die Aufnahme dieser Ereignisse schilderte Hitler so: „Die nächsten Tage kamen und mit ihnen die entsetzlichste Gewißheit meines Lebens. Immer drückender wurden nun die Gerüchte. Was ich für eine lokale Sache gehalten hatte, sollte eine allgemeine Revolution sein. Dazu kamen die schmachvollen Nachrichten von der Front. Man wollte kapitulieren. Ja, war so etwas überhaupt auch nur möglich? (…) Es war also alles umsonst gewesen. Umsonst all die Opfer und Entbehrungen, umsonst der Hunger und Durst von manchmal endlosen Monaten, vergeblich die Stunden, in denen wir, von Todesangst umkrallt, dennoch unsere Pflicht taten, vergeblich der Tod von zwei Millionen, die dabei starben. (…) Geschah dies alles dafür, daß nun ein Haufen elender Verbrecher die Hand an das Vaterland zu legen vermochte?“3 Schuld an der 2

A. Hitler, Mein Kampf, S. 177. Ebd., S. 222 ff. Weiter führte Hitler aus: „Wer all die Opfer überdenkt, die durch den sträflichen Leichtsinn dieser Verantwortungslosesten der Nation aufgebürdet wurden, (…) und weiß, dass dies alles nur kam, um einen Haufen gewissenloser Streber und Stellenjäger die Bahn zu Ministerstühlen freizumachen, der wird verstehen, daß man diese Kreaturen wirklich nur mit Worten wie Schuft, Schurke, Lump und Verbrecher bezeichnen kann, sonst wären der Sinn und Zweck des Vorhandenseins dieser Ausdrücke im Sprachgebrauch ja unverständlich. 3

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Niederlage Deutschlands waren in den Augen Hitlers die „Novemberverbrecher“. „Meine persönliche Einstellung war von Anfang an fest: Ich haßte das ganze Pack dieser elenden volksbetrügerischen Parteilumpen auf das äußerste. Ich war mir längst darüber im klaren, daß es sich bei diesem Gelichter wahrlich nicht um das Wohl der Nation handelte, sondern um die Füllung leerer Taschen. Und daß sie jetzt selbst bereit waren, dafür das ganze Volk zu opfern und wenn nötig Deutschland zugrunde gehen zu lassen, machte sie in meinen Augen reif für den Strick.“4 Adolf Hitler hatte sich in „Mein Kampf“ ausgiebig mit dem Ersten Weltkrieg auseinandergesetzt – mit den Fehlern und Versäumnissen, die seiner Meinung nach begangen wurden und den Konsequenzen und Lehren, die daraus für den zukünftigen Krieg zu ziehen sind. Einen grundlegenden Fehler sah Hitler in der Handhabung der Kriegspropaganda, deren Wirkung seiner Meinung nach auf deutscher Seite mehr als bescheiden war. Propaganda habe einem Ziel zu dienen. „Das Ziel, für das im Verlaufe des Krieges aber gekämpft wurde, war das erhabenste und gewaltigste, das sich für Menschen denken lässt: es war die Freiheit und Unabhängigkeit unseres Volkes, die Sicherheit der Ernährung für die Zukunft und - die Ehre der Nation (…).“5 Aufgabe der Propaganda wäre es gewesen, das deutsche Volk in seinem Kampf um sein Dasein zu unterstützen, dies sei aber – so Hitler – nur sehr unzureichend geschehen. „Wenn aber Völker um ihre Existenz auf diesem Planeten kämpfen, mithin die Schicksalsfrage von Sein oder Nichtsein an sie herantritt, fallen alle Erwägungen von Humanität oder Ästhetik in ein Nichts zusammen (…).“6 Propaganda sei Mittel zum Zweck; Humanität und Schönheit können nicht Maßstab für die Propaganda sein. „Wenn man aber versucht, in solchen Dingen mit dem Gefasel von Ästhetik usw. anzurücken, dann kann es darauf wirklich nur eine Antwort geben: Schicksalsfragen von der Bedeutung des Existenzkampfes eines Volkes heben jede Verpflichtung zur Schönheit auf (…). Mit den Juden, als den modernen Erfindern dieses Kulturparfüms, braucht man sich aber darüber wahrhaftig nicht zu unterhalten.“7 Propaganda habe sich an die Massen zu richten und an deren Gefühle zu appellieren. „Jede Propaganda hat volkstümlich zu sein und ihr geistiges Niveau einzustellen nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten unter denen, an die sie sich zu richten gedenkt. Damit wird ihre rein geistige Höhe um so tiefer zu stellen sein, je größer die zu erfassende Masse der Menschen sein soll. Handelt es sich aber, wie bei der Propaganda für die Durchhaltung eines Krieges, darum, ein ganzes Volk in ihren Wirkungsbereich zu ziehen, so kann die Vorsicht bei der Vermeidung zu hoher Denn diesen Verrätern an der Nation gegenüber ist jeder Zuhälter noch ein Ehrenmann.“ A. Hitler, Mein Kampf, S. 302. Zugleich kündigte Hitler an, „daß einst ein deutscher Nationalgerichtshof etliche Zehntausend der organisierenden und damit verantwortlichen Verbrecher des Novemberverrats und alles dessen, was dazugehört, abzuurteilen und hinzurichten hat“. Ebd., S. 611. 4 Ebd., S. 218 f. 5 Ebd., S. 194. 6 Ebd., S. 195. 7 Ebd., S. 195 f.

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geistiger Voraussetzungen gar nicht groß genug sein. Je bescheidener dann ihr wissenschaftlicher Ballast ist und je mehr sie ausschließlich auf das Fühlen der Masse Rücksicht nimmt, um so durchschlagender der Erfolg.“8 Grundfalsch sei es, der Propaganda eine Vielseitigkeit geben zu wollen. „Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür jedoch die Vergeßlichkeit groß. Aus diesen Tatsachen heraus hat sich jede wirkungsvolle Propaganda auf nur sehr wenige Punkte zu beschränken und diese schlagwortartig solange zu verwerten, bis auch bestimmt der Letzte unter einem solchen Worte das Gewollte sich vorzustellen vermag.“9 Entschieden wandte sich Hitler gegen den seiner Ansicht nach besonders im deutschen Volke verbreiteten „Objektivitätsfimmel“. Aufgabe der Propaganda sei nicht das Abwägen der verschiedenen Rechte, sondern das ausschließliche Betonen der eigenen. Sie hat nicht objektiv nach der Wahrheit zu forschen, sondern ununterbrochen dem eigenen Standpunkte zu dienen. So sei es auch grundfalsch gewesen, „die Schuld am Kriege von dem Standpunkte aus zu erörtern, daß nicht nur Deutschland allein verantwortlich gemacht werden könnte für den Ausbruch dieser Katastrophe, sondern es wäre richtig gewesen, diese Schuld restlos dem Gegner aufzubürden (…)“.10 „Daß unserer Propaganda der Erfolg nicht beschieden war, durfte einen wirklich nicht wundern. Sie trug den Keim der Unwirksamkeit schon in ihrer inneren Zweideutigkeit. Endlich war es schon infolge ihres Inhalts wenig wahrscheinlich, daß sie bei den Massen den notwendigen Eindruck erwecken würde. Zu hoffen, daß es mit diesem faden Pazifistenspülwasser gelingen könnte, Menschen zum Sterben zu berauschen, brachten nur unsere geistfreien ,Staatsmänner‘ fertig“.11 Aufopferungsfähigkeit und Aufopferungswille sind nach Hitler die entscheidenden staatsbildenden Kräfte. Darin liege auch der Sinn des Dichterwortes: „Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein.“12 Eben mit diesen Tugenden seien alle großen Taten vollbracht worden. „Preußen, des Reiches Keimzelle, entstand durch strahlendes Heldentum und nicht durch Finanzoperationen oder Handelsgeschäfte, und das Reich selber war wieder nur der herrlichste Lohn machtpolitischer Führung und soldatischen To-

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Ebd., S. 197 f. Ebd., S. 198. „Die breite Masse eines Volkes“, so ergänzte Hitler, „besteht weder aus Professoren noch aus Diplomaten. Das geringe abstrakte Wissen, das sie besitzt, weist ihre Empfindungen mehr in die Welt des Gefühls (…). Der Glaube ist schwerer zu erschüttern als das Wissen (…) und die Triebkraft zu den gewaltigsten Umwälzungen auf dieser Erde lag für alle Zeiten weniger in einer die Masse beherrschenden wissenschaftlichen Erkenntnis als in einem sie zu beseelenden Fanatismus und manchmal in einer sie vorwärtsjagenden Hysterie. Wer die breite Masse gewinnen will, muß den Schlüssel kennen, der das Tor zu ihrem Herzen öffnet. Er heißt nicht Objektivität, also Schwäche, sondern Wille und Kraft (…). Die breite Masse ist nur ein Stück der Natur (…). Was sie wünscht, ist der Sieg des Stärkeren und die Vernichtung des Schwachen oder seine bedingungslose Unterwerfung.“, S. 371 f. 10 Ebd., S. 200. 11 Ebd., S. 202. 12 Ebd., S. 166. 9

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desmutes.“13 Im Ringen um die Selbsterhaltung, betonte Hitler, werden diejenigen Völker unterliegen, die im gegenseitigen Kampf das Wenigste an heldischen Tugenden ihr eigen nennen.14 Doch sind nach Meinung Hitlers diese Tugenden in Deutschland immer mehr verschwunden. „Keine blasse Ahnung war mehr vorhanden über das Wesen der Kraft, die Männer aus freiem Willen und Entschluß in den Tod zu führen vermag.“15 Wie aber konnte – so Hitler – gerade das deutsche Volk „zu einer solchen Erkrankung seines politischen Instinkts kommen“?16 „Schlimmster Pazifismus“ sei dem deutschen Volke eingeimpft worden.17 Die Konsequenzen aus den Überlegungen, die Hitler im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg anstellte, wurden im Dritten Reich, und da vor allem während des Zweiten Weltkrieges, gezogen: Die Propaganda war hemmungslos, frei von jedwedem Abwägen, wobei die Bereitschaft zum Sterben ein Schwerpunkt der Propaganda war.18 In der Schule wurden Aufsätze geschrieben, in denen der Tod für das Vaterland als höchste Tugend dargestellt wurde. In einem Abituraufsatz hieß es: „Auch auf unser Leben dürfen wir keinerlei Rücksicht nehmen; so lange Menschen denken, war es höchstes Glück eines jeden, für sein Vaterland freudig zu sterben.“19 Einen weiteren Fehler sah Hitler darin, dass die maßgebenden Stellen während des Ersten Weltkrieges nicht die „Jammerbriefe“ aus der Heimat an die Front unterbanden. „Ebenso übten die Jammerbriefe direkt aus der Heimat längst ihre Wirkung aus. Es war nun gar nicht mehr notwendig, daß der Gegner sie noch besonders durch Flugblätter usw. der Front übermittelte. Auch dagegen geschah, außer einigen psychologisch blitzdummen ,Ermahnungen‘ von ,Regierungsseite‘, nichts. Die Front wurde nach wie vor mit diesem Gift überschwemmt, das gedankenlose Weiber zu Hause zusammenfabrizierten, ohne natürlich zu ahnen, daß dies das Mittel war, dem Gegner die Siegeszuversicht auf das äußerste zu stärken, also mithin die Leiden ihrer Angehörigen an der Kampffront zu verlängern und zu verschärfen. Die sinnlosen Briefe deutscher Frauen kosteten in der Folgezeit Hunderttausenden von Männern das Leben.“20 So zeigten sich nach Ansicht Hitlers schon im Jahre 1916 verschiedene bedenkliche Erscheinungen an der Front. Doch viel schlimmer sah es seiner Meinung nach in der Heimat in den Lazaretten aus. „Die gesinnungslosesten Hetzer führten 13

Ebd., S. 169. Vgl. ebd., S. 166. 15 Ebd., S. 168. 16 Ebd., S. 169. 17 Vgl. ebd., S. 265. 18 Bereits in „Mein Kampf“ hatte Hitler gefordert: Schon der Jugend muss „ein eiserner Grundsatz in die noch bildungsfähigen Köpfe hineingehämmert werden: Wer sein Volk liebt, der beweist es einzig durch die Opfer, die er für dieses zu bringen bereit ist“. Ebd., S. 474. 19 Zit. nach: Bernhard Sauer, „Nie wird das Deutsche Volk seinen Führer im Stiche lassen“. Abituraufsätze im Dritten Reich, Berlin 2012, S. 31. 20 A. Hitler, Mein Kampf, S. 208. 14

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das große Wort und versuchten mit allen Mitteln ihrer jämmerlichen Beredsamkeit, die Begriffe des anständigen Soldaten als lächerlich und die Charakterlosigkeit des Feiglings als vorbildlich hinzustellen. Ein paar elende Burschen vor allem gaben den Ton an. Der eine davon rühmte sich, die Hand selber durch das Drahtverhau gezogen zu haben, um so in das Lazarett zu kommen; er schien nun trotz dieser lächerlichen Verletzung schon endlose Zeit hier zu sein, wie er denn ja überhaupt nur durch einen Schwindel in den Transport nach Deutschland kam. Dieser giftige Kerl aber brachte es schon so weit, die eigene Feigheit mit frecher Stirne als den Ausfluß höherer Tapferkeit als den Heldentod des ehrlichen Soldaten hinzustellen.“21 Völlig falsch war es aus der Sicht Hitlers, dass „man im Kriege aber praktisch die Todesstrafe ausschaltete, die Kriegsartikel also in Wirklichkeit außer Kraft setzte“. Auf diese Weise sei eine ganze Armee von Deserteuren entstanden. Zehntausende Deserteure kehrten ohne jedes Risiko der Front den Rücken zu. „Wenn Männer dauernd mit dem Tode ringen und durch Wochen ruhelos in schlammgefüllten Trichtern, bei manchesmal schlechtester Verpflegung auszuharren haben, kann der unsicher werdende Kantonist nicht durch Drohung mit Gefängnis oder selbst Zuchthaus bei der Stange gehalten werden, sondern allein durch rücksichtslose Anwendung der Todesstrafe. Denn er sieht erfahrungsgemäß in solcher Zeit das Gefängnis als einen immer noch tausendmal angenehmeren Ort an als das Schlachtfeld, sintemalen im Gefängnis doch wenigstens sein unschätzbares Leben nicht bedroht wird.“22 Weiter führte Hitler aus: „Der wirkliche Feigling scheut zu allen Zeiten natürlich nichts mehr als den Tod. Den Tod aber hatte er an der Front Tag für Tag in tausendfältigen Erscheinungen vor Augen. Will man schwache, schwankende oder gar feige Burschen nichtsdestoweniger zu ihrer Pflicht anhalten, dann gibt es von jeher nur eine Möglichkeit: Es muß der Deserteur wissen, daß seine Desertation gerade das mit sich bringt, was er fliehen will. An der Front kann man sterben, als Deserteur muß man sterben.“23 Das NS-Regime etablierte während des Zweiten Weltkrieges eine Militärjustiz – in Deutschland gab es über 1 000 Gerichte und 3 000 Juristen, die in der Wehrmacht abwechselnd als Richter, Ankläger, Untersuchungsführer oder Gutachter amtierten –, mit der versucht wurde, mit allen Mitteln die Schlagkraft der Wehrmacht zu erhalten. „Deserteure“ und andere Personen, die der „Wehrkraftzersetzung“ bezichtigt wurden, wurden zu Zehntausenden zum Tode verurteilt, Hunderttausende kriminalisiert. „In den sechs Jahren des Zweiten Weltkrieges waren bei den Kriegsgerichten rund 3 Millionen Strafverfolgungen anhängig. Mindestens 40 000-, wahrscheinlich sogar 50 000mal sprachen deutsche Militärjuristen die Todesstrafe

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Ebd., S. 210. Ebd., S. 588. 23 Ebd., S. 587. 22

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gegen Soldaten und Wehrmachtsgefolge aus, die Kopf-ab-Verfahren der SS- und Polizeigerichte, über die Unterlagen kaum vorliegen, nicht eingerechnet.“24 Die rücksichtslose Anwendung der Todesstrafe während des Zweiten Weltkrieges war aus der Sicht Hitlers eine Konsequenz aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges. Dass das kaiserliche Deutschland nicht rücksichtslos gegen Drückeberger und Deserteure vorgegangen sei, hat sich nach Meinung Hitlers fürchterlich gerächt: „Eine Armee von Deserteuren ergoß sich, besonders im Jahre 1918, in Etappe und Heimat und half mit, jene große, verbrecherische Organisation zu bilden, die wir dann als die Macherin der Revolution nach dem 7. November 1918 plötzlich vor uns sahen.“25 Ein gravierendes Handicap sah Hitler auch darin, dass das Deutsche Kaiserreich während des Ersten Weltkrieges keine wirklich kriegsentschlossene politische Führung besaß. Bethmann Hollweg nannte er einen „philosophierenden Schwächling“. „Es war ein Verhängnis, daß unser Volk seinen Daseinskampf ausfechten mußte unter der Reichskanzlerschaft eines philosophierenden Schwächlings. Hätten wir anstelle eines Bethmann Hollweg einen robusteren Volksmann als Führer besessen, würde das Heldenblut des gemeinen Grenadiers nicht umsonst geflossen sein.“26 Es habe aber generell den oberen Schichten an der nötigen Willenskraft gefehlt. „Denn diese ist in abgekarteten Intelligenzkreisen immer schwächer, als in der Masse des primitiven Volkes. An wissenschaftlicher Bildung aber hat es uns Deutschen wahrhaftiger Gott nie gefehlt; desto mehr jedoch an Willens- und Entschlußkraft. Je ,geistvoller‘ zum Beispiel unsere Staatsmänner waren, umso schwächlicher war meistens ihre wirkliche Leistung. Die politische Vorbereitung sowohl als die technische Rüstung für den Weltkrieg war nicht deswegen ungenügend, weil etwa zu wenig gebildete Köpfe unser Volk regierten, sondern vielmehr, weil die Regierenden übergebildete Menschen waren, vollgepfropft von Wissen und Geist, aber bar jedes gesunden Instinkts und ledig jeder Energie und Kühnheit.“27 Schwere Fehler hat nach Ansicht Hitlers auch Kaiser Wilhelm II. gemacht. Ihm warf er vor, sich mit den Todfeinden eingelassen zu haben. In „Mein Kampf“ legte er dar, dass es ein schwerer Fehler von Kaiser Wilhelm II. gewesen sei, sich mit den marxistischen Organisationen, deren Führer in Hitlers Augen allesamt Juden waren, 24 Der Spiegel, Nr. 43, 41. Jahrgang vom 19. 10. 1987, „Ein Menschenleben gilt für nix“, S. 112 ff. Aufgrund einer von Hitler und Heinrich Himmler erteilten Weisung gab der Chef der Sicherheitspolizei am 3. September 1939 einen Grunderlass über die „Grundsätze der inneren Staatssicherheit während des Krieges“ heraus. Darin hieß es: „Jeder Versuch, die Geschlossenheit und den Kampfwillen des deutschen Volkes zu zersetzen, ist rücksichtslos zu unterdrücken. Insbesondere ist gegen jede Person sofort durch Festnahme einzuschreiten, die in ihren Äußerungen am Sieg des deutschen Volkes zweifelt oder das Recht des Krieges in Frage stellt…“. Zit. nach: Martin Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933 – 1945. In: Anatomie des SS-Staates, Bd. 2, Freiburg 1965, S. 104. 25 A. Hitler, Mein Kampf, S. 588. 26 Ebd., S. 481. 27 Ebd., S. 480 f.

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zu verständigen. „Kaiser Wilhelm II. hatte als erster deutscher Kaiser den Führern des Marxismus die Hand zur Versöhnung gereicht, ohne zu ahnen, daß Schurken keine Ehre besitzen. Während sie die kaiserliche Hand noch in der ihren hielten, suchte die andere schon nach dem Dolche. Mit den Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder Oder.“28 Die Frage der Zukunft der deutschen Nation sei die Frage der Vernichtung des Marxismus, erklärte Hitler.29 Seiner Meinung nach hätte der Kaiser im August 1914 die Gunst der Stunde nutzen müssen. „Nun wäre aber der Zeitpunkt gekommen gewesen, gegen die ganze betrügerische Genossenschaft dieser jüdischen Volksvergifter vorzugehen. Jetzt mußte ihnen kurzerhand der Prozeß gemacht werden, ohne die geringste Rücksicht auf etwa einsetzendes Geschrei oder Gejammer. Im August des Jahres 1914 war das Gemauschel der internationalen Solidarität mit einem Schlage aus den Köpfen der deutschen Arbeiterschaft verschwunden (…). Es wäre die Pflicht einer besorgten Staatsregierung gewesen, nun, da der deutsche Arbeiter wieder den Weg zum Volkstum gefunden hatte, die Verhetzer dieses Volkstums unbarmherzig auszurotten.“30 Dieses „Ungeziefer“ – so Hitler wörtlich – hätte vertilgt werden müssen. „Stattdessen aber streckte seine Majestät der Kaiser selber den alten Verbrechern die Hand entgegen und gab den hinterlistigen Meuchelmördern der Nation damit Schonung und Möglichkeit der inneren Fassung. Nun konnte also die Schlange wieder weiterarbeiten, vorsichtiger als früher, allein nur desto gefährlicher. Während die Ehrlichen vom Burgfrieden träumten, organisierten die meineidigen Verbrecher die Revolution.“31 Was Kaiser Wilhelm II. in den Augen Hitlers versäumt hatte, wurde 1933, gleich nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, nachgeholt. Das Regime ging mit einem beispiellosen Terror gegen Oppositionelle vor. Zehntausende Intellektuelle, Juden, Pazifisten, Gewerkschaftler, Kommunisten und Sozialdemokraten wurden verhaftet und umgebracht. Die Ausschaltung der anderen Parteien und die Beseitigung des Parlaments waren die nächsten Schritte zur Verwirklichung der weitgesteckten Ziele. Bereits in „Mein Kampf“ hatte Hitler dargelegt, dass die nationalsozialistische „Weltanschauung“ nicht etwa nur wie eine Partei neben anderen existieren könne. „Denn die Weltanschauung ist unduldsam und kann sich mit der Rolle einer ,Partei neben anderen‘ nicht begnügen, sondern fordert gebieterisch ihre eigene, ausschließlich und restlose Anerkennung sowie die vollkommene Umstellung des gesamten öffentlichen Lebens nach ihren Anschauungen. Sie kann also das gleichzeitige Weiterbestehen einer Vertretung des früheren Zustandes nicht dulden.“ Weiter fuhr Hitler fort: „Politische Parteien sind zu Kompromissen geneigt, Weltanschauungen niemals. Politische Parteien rechnen selbst mit Gegenspielern, Weltanschauungen proklamieren ihre Unfehlbarkeit.“32 Hitler nannte das Parlament 28

Ebd., S. 225. Vgl. ebd., S. 171. 30 Ebd., S. 185. 31 Ebd., S. 186. 32 Ebd., S. 506 f. 29

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die „verantwortungsloseste Einrichtung aller Zeit“.33 Sie war in den Augen Hitlers auch mitschuldig am verlorenen Krieg: „Denn daß Deutschland gestürzt wurde, ist nicht dem kleinsten Teile dieser Einrichtung zu verdanken (…).“34 Unmöglich könne solch eine Einrichtung die „Aufgabe der Vorbereitung eines kommenden Waffenganges“ anvertraut werden.35 Die Verfolgung der Opposition, die Ausschaltung der anderen Parteien und die Beseitigung des Parlaments waren für Hitler die Konsequenzen aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und die notwendigen Voraussetzungen für den zukünftigen Krieg. Hitler fand keineswegs alles im Kaiserreich als kritikwürdig, das Heer stellte er stets als vorbildlich dar. Das Heer der Kaiserzeit bezeichnete Hitler als die „gewaltigste Schule der deutschen Nation“. „Was das deutsche Volk dem Heere verdankt, läßt sich kurz zusammen fassen in ein einziges Wort, nämlich: Alles.“36 Das Heer sei die Schule gewesen, „die den einzelnen Deutschen noch lehrte, das Heil der Nation nicht in den verlogenen Phrasen einer internationalen Verbrüderung zwischen Negern, Deutschen, Chinesen, Franzosen, Engländern usw. zu suchen, sondern in der Kraft und Geschlossenheit des eigenen Volkstums“.37 Vor allem im Weltkrieg habe sich das Heer bewährt. „Mögen Jahrtausende vergehen, so wird man nie von Heldentum reden und sagen dürfen, ohne des deutschen Heeres des Weltkrieges zu gedenken.“38 Nicht das Heer sei schuld an der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg. „Es gehört schon“, so Hitler, „eine wahrhaft jüdische Frechheit dazu, nun der militärischen Niederlage die Schuld am Zusammenbruch beizumessen (…).“39 „Die Niederlagen auf dem Schlachtfelde im August 1918“, so fuhr Hitler fort, „wären spielend leicht zu ertragen gewesen. Sie standen in keinem Verhältnis zu den Siegen unseres Volkes. Nicht sie haben uns gestürzt, sondern gestürzt wurden wir von jener Macht, die diese Niederlagen vorbereitete (…)“.40 „Während die Front“, so Hitler weiter, „die letzten Vorbereitungen zur endlichen Beendigung des ewigen Kampfes vornahm (…), brach in Deutschland das größte Gaunerstück des ganzen Krieges aus. 33 „Diese Einrichtung“, so führte Hitler weiter aus, „kann nur den allerverlogensten und zugleich besonders das Tageslicht scheuenden Schliefern lieb und wert sein, während sie jedem ehrlichen, gradlinigen, zur persönlichen Verantwortung bereiten Kerl verhaßt sein muß. Daher ist diese Art von Demokratie auch das Instrument derjenigen Rasse geworden, die ihren inneren Zielen nach die Sonne zu scheuen hat, jetzt und in allen Zeiten der Zukunft. Nur der Jude kann eine Einrichtung preisen, die schmutzig und unwahr ist wie er selber.“ A. Hitler, Mein Kampf, S. 99 Die Parlamente nannte er „Schwätzervereinigungen“. Die Parlamentarier bezeichnete er durchgehend allesamt als „Hohlköpfe“, „Strauchdiebe“, „Tagediebe“, „Dummköpfe“, „Taugenichtse“, „Parlamentswanzen“, „parlamentarische Ratten“, als ein „Büttel blöder Nichtskönner und Schwätzer“. Ebd., S. 88 sowie vor allem S. 113, 125, 294. 34 Ebd., S. 296 f. 35 Ebd., S. 690. 36 Ebd., S. 306. 37 Ebd., S. 306. 38 Ebd., S. 182. 39 Ebd., S. 248. 40 Ebd., S. 359.

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Deutschland sollte nicht siegen: in letzter Stunde, da der Sieg sich schon an die deutschen Fahnen zu heften drohte, griff man zu einem Mittel, das geeignet erschien, mit einem Schlage den deutschen Angriff des Frühjahrs im Keime zu ersticken, den Sieg unmöglich zu machen: Man organisierte den Munitionsstreik.“41 Das deutsche Volk habe jedoch in jenen Schicksalstagen „den inneren Feind“ nicht erkannt. „Ein einziger focht in diesen langen Jahren mit unerschütterlicher Gleichmäßigkeit, und dies war der Jude. Der Davidstern stieg im selben Maße immer höher, in dem der Wille zur Selbsterhaltung unseres Volkes schwand.“42 In den Augen Hitlers hatte „der Jude“ während des Ersten Weltkrieges eine besondere Schuld auf sich geladen. Der verlorene Krieg war „nur die Folge ihres Wirkens“.43 „Hätte man zu Kriegsbeginn einmal zwölf oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverderber so unter Giftgas gehalten, wie Hunderttausende unserer allerbesten deutschen Arbeiter aus allen Schichten und Berufen erdulden mußten, wäre das Millionenopfer der Front nicht vergeblich gewesen. Im Gegenteil: Zwölftausend Schurken zur rechten Zeit beseitigt, hätte vielleicht einer Million ordentlicher, für die Zukunft wertvoller Deutscher das Leben gerettet.“44 Auch der 9. November 1918 sei das Werk der Juden gewesen. Für diesen Tag werde man sich an den Juden rächen.45 Daraus zog Hitler den Schluss: „Nur die Beseitigung der Ursachen unseres Zusammenbruchs sowie die Vernichtung der Nutznießer derselben kann die Voraussetzung zum äußeren Freiheitskampf schaffen.“46 Die Verfolgung der Juden wurde zentraler Bestandteil der NS-Politik. In dem Maße, in dem Hitler den kommenden Krieg vorbereitete, wurden Juden aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens vertrieben. Das Jahr 1918 – so Hitler – dürfe „sich in der Geschichte niemals wiederholen“.47 Da nach seiner Vorstellung das Judentum bei kriegerischen Auseinandersetzungen ein besonderes Gefahrenmoment darstellen würde, wurden Juden zunehmend isoliert und aus den Institutionen eliminiert. Den kommenden Krieg hielt Hitler für unvermeidlich. In „Mein Kampf“ führte er dazu aus: „Daß aber diese Welt dereinst noch schwersten Kämpfen um das Dasein der Menschheit ausgesetzt sein wird, kann niemand bezweifeln. Am Ende siegt ewig nur die Sucht der Selbsterhaltung. Unter ihr schmilzt die sogenannte Humanität als Ausdruck einer Mischung von Dummheit, Feigheit und eingebildetem Besserwissen, wie Schnee in der Märzsonne. Im ewigen Kampfe ist die Menschheit groß gewor41

Ebd., S. 213. Ebd., S. 361, Hervorhebung im Original. 43 Ebd., S. 249. 44 Ebd., S. 772. 45 Vgl. Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 2003, S. 164. 46 A. Hitler, Mein Kampf, S. 680. 47 Zit. nach Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 2003, S. 64. In „Mein Kampf“ führte Hitler dazu weiter aus: „Es ist geschichtlich einfach nicht denkbar, daß das deutsche Volk noch einmal seine frühere Stellung einnehmen könnte, ohne mit denen abzurechnen, die die Ursache und Veranlassung zu dem unerhörten Zusammenbruch gaben, der unseren Staat heimsuchte.“ A. Hitler, „Mein Kampf“, S. 67. 42

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den – im ewigen Frieden geht sie zugrunde.“48 Unmissverständlich fuhr er fort: „Heute werde ich nur von der nüchternen Erkenntnis geleitet, daß man verlorene Gebiete nicht durch die Zungenfertigkeit geschliffener parlamentarischer Mäuler zurückgewinnt, sondern nur durch ein geschliffenes Schwert zu erobern hat, also durch einen blutigen Kampf.“49 Darauf gelte es, das deutsche Volk vorzubereiten. Für Hitler war der Krieg Mittel zum Zweck. In einer Rede im Jahre 1928 erklärte er: „Die Idee des Kampfes ist so alt wie das Leben selbst, denn das Leben wird nur dadurch erhalten, daß anderes Leben im Kampfe zugrunde geht (…). In diesem Kampf gewinnt nur der Stärkere, Fähigere, während der Unfähige, der Schwache verliert. Der Kampf ist der Vater aller Dinge (…). Nicht durch die Prinzipien der Humanität lebt der Mensch oder ist er fähig, sich neben der Tierwelt zu behaupten, sondern einzig und allein durch die Mittel brutalsten Kampfes (…).“50 In „Mein Kampf“ hatte Hitler dargelegt, dass es Aufgabe des „deutschen Volkes“ sein müsse, neue Siedlungsgebiete im Osten zu erlangen. Es könne „nicht Absicht des Himmels sein (…), dem einen Volk fünfzigmal so viel an Grund und Boden auf dieser Welt zu geben, als dem anderen“.51 Solch eine „Bodenpolitik“ wäre nach Hitler schon im Ersten Weltkrieg richtig und notwendig gewesen. Stattdessen habe man sich aber auf die Kolonien konzentriert und habe dann auch noch diese Kolonialpolitik halbherzig betrieben.52 Heute könne aber – so Hitler – zusätzlicher Siedlungsraum nicht mehr mit dem Erwerb von Kolonien gewonnen werden. Wir Nationalsozialisten, so betonte Hitler, ziehen „bewußt einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit (…) Wir schließen endlich ab, die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken. Das Schicksal selbst scheint uns hier einen Fingerzeig geben zu wollen. Indem es Rußland den Bolschewismus überantwortete, raubte er dem russischen Volke jene Intelligenz, die bisher dessen staatlichen Bestand herbeiführte und garantierte. Denn die Organisation eines russischen Staatsgebildes war nicht das Ergebnis der staatspolitischen Fähigkeiten des Slawentums in Rußland, sondern vielmehr nur ein wundervolles Beispiel für die staatenbildende Wirksamkeit des germanischen Elementes in einer minderwertigen Rasse. (…) Seit Jahrhunderten zerrte Rußland von diesem germanischen Kern seiner oberen leitenden Schichten. Es kann heute als fast restlos ausgerottet und ausgelöscht angesehen werden. An seine Stelle ist der Jude getreten. So unmöglich es den Russen an sich ist, aus eigener Kraft das Joch der Juden abzuschütteln, so unmöglich ist es den Juden, das mächtige Reich auf die Dauer zu erhalten. Er selbst ist kein Element der Organisation, sondern ein Fragment der 48

A. Hitler, Mein Kampf, S. 148 f. Ebd., S. 710. 50 Zit. nach: Joachim C. Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches, München 1963, S. 19. 51 A. Hitler, Mein Kampf, S. 152. 52 Vgl. ebd., S. 153. 49

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Dekomposition. Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch. Und das Ende der Judenherrschaft in Rußland wird auch das Ende Rußlands als Staat sein. Wir sind vom Schicksal ausersehen, Zeuge einer Katastrophe zu werden, die die gewaltigste Bestätigung für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird.“53 Ziel der Nationalsozialisten sei es keineswegs, lediglich die Grenzen von 1914 wiederherzustellen, sondern die nationalsozialistische Bewegung wird „stets ihre Außenpolitik von der Notwendigkeit bestimmen lassen, dem Leben unseres Volkes den nötigen Raum zu sichern“.54 Deutlich grenzt sich damit Hitler von den anderen völkischen und nationalkonservativen Gruppierungen ab. „Ich will noch kurz Stellung nehmen zu der Frage, inwiefern die Forderung nach Grund und Boden sittlich und moralisch berechtigt erscheint. Es ist dies notwendig, da leider selbst in den sogenannten völkischen Kreisen alle möglichen salbungsvollen Schwätzer auftreten, die sich bemühen, dem deutschen Volk als Ziel seines außenpolitischen Handelns die Wiedergutmachung des Unrechtes von 1918 vorzuzeichnen, darüber hinaus jedoch die ganze Welt der völkischen Brüderlichkeit und Sympathie zu versichern für nötig halten.“ Entschieden wandte sich Hitler gegen die Forderung, lediglich die Grenze von 1914 wieder herzustellen, wie dies verschiedene völkische und nationalkonservative Gruppierungen taten. „Die Forderung nach Wiederherstellung der Grenzen des Jahres 1914 ist ein politischer Unsinn von Ausmaß und Folgen, die ihn als Verbrechen erscheinen lassen.“55 Nach Hitler waren dies „Augenblicksgrenzen eines in keinerlei Weise abgeschlossenen politischen Ringens“. Genauso gut könne man irgendein anderes Stichjahr herausgreifen, „um in der Wiederherstellung der damaligen Verhältnisse das Ziel einer außenpolitischen Betätigung zu erklären“.56 Nur dem „gedankenlosen Schwachkopf“ erscheint die Gestaltung unserer Erdoberfläche als unveränderlich, in Wahrheit werden Staatsgrenzen „durch Menschen geschaffen und durch Menschen geändert“, so Hitler.57 Der in Aussicht genommene Krieg war von Anfang an als „Beutekrieg“ geplant. Hitler gab die Linie vor: „Man müsse stets davon ausgehen, daß diese Völker uns gegenüber in erster Linie die Aufgabe haben, uns wirtschaftlich zu dienen. Es müsse daher unser Bestreben sein, mit allen Mitteln wirtschaftlich aus den besetzten russischen Gebieten herauszuholen, was sich herausholen lasse.“58 Die Bodenschätze sollten in den eroberten Gebieten ausgebeutet werden und die unterworfenen Völker den Deutschen als billige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. In welcher Weise das 53

Ebd., S. 742 f. Adolf Hitler, Zweites Buch 1928. Hrsg. von Gerhard L. Weinberg, Stuttgart 1961, S. 78. 55 A. Hitler, Mein Kampf, S. 736. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 740. 58 Adolf Hitler am 11. April 1942. In: [Adolf Hitler], Henry Picker. Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Berlin 1997, S. 302. 54

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vor sich gehen sollte, erläuterte Heinrich Himmler später: „Diese Bevölkerung wird als führerloses Arbeitsvolk zur Verfügung stehen und Deutschland jährlich Wanderarbeiter und Arbeiter für besondere Arbeitsvorkommen (Straßen, Steinbrüche, Bauten) stellen (…).“59 Besonderen Wert wurde darauf gelegt, dass die „Unterworfenen“ keine höhere Bildung bekommen sollten. „Für die nicht deutsche Bevölkerung des Ostens“, so Himmler, „darf es keine höheren Schulen geben als die vierklassige Volksschule. Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein: Einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, daß es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein und ehrlich, fleißig und brav zu sein. Lesen halte ich nicht für erforderlich. Außer dieser Schule darf es im Osten überhaupt keine Schule geben (…).“60 Ähnlich äußerte sich auch Hitler: „Kenntnisse der Russen, Ukrainer, Kirgisen usw. im Lesen und Schreiben könnten uns nur schaden. Denn sie ermöglichten es helleren Köpfen, sich ein gewisses Geschichtswissen zu erarbeiten und damit zu politischen Gedankengängen zu kommen, die irgendwie immer die Spitze gegen uns haben müßten.“61 *

Sehr zu Recht schreibt Michael Wildt: „Nichts hat die Weltanschauung der Nationalsozialistischen Führung stärker geprägt als die Erfahrungen und Deutungen des Ersten Weltkrieges.“62 Dies trifft in erster Linie und in besonderem Maße auf Adolf Hitler zu. Wie kein anderer aus dem Führungszirkel der nationalsozialistischen Partei hat er sich mit den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges auseinandergesetzt und daraus die Konsequenzen für die zukünftige Politik gezogen. In seinen Grundanschauungen ist er entscheidend von dem Alldeutschen Verband geprägt worden. Adolf Hitler hatte sich als „treuen Schüler“ von Heinrich Claß bezeichnet. 1920 hatte er den alldeutschen Verbandsvorsitzenden in Berlin aufgesucht. Hitler empfand es als ein „starkes inneres Bedürfnis, diesen Mann, dem er geistig so viel verdankte, endlich einmal persönlich gegenüberzustehen. In der überschwänglichen Art, die ihm in seinen jungen Jahren eigen war, küßte Hitler dem Justizrat die Hände und 59 Denkschrift des Reichsführers SS Heinrich Himmler vom 25. 05. 1940, zit. nach: Weltgeschichte im Aufriss, Band 3, Teil 1. Vom Ersten Weltkrieg bis 1945. Von Werner Ripper in Verbindung mit Eugen Kaiser, Frankfurt am Main/Berlin/München 1976, S. 454. In welcher Weise dies vor sich ging, geht aus Himmlers Posener Rede vom 4. Oktober 1943 hervor: „Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig (…). Ob die anderen Völker im Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10 000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird.“ H. Himmler, Posener Rede vor SS-Gruppenführern am 04. 10. 1943, zit. nach: ebd., S. 457. 60 Denkschrift Himmler vom 25. 05. 1940, zit. nach: ebd., S. 453. 61 Adolf Hitler am 11. April 1942 zur Beherrschung der unterworfenen Völker im Osten. In: H. Picker. Hitlers Tischgespräche, S. 303. 62 Michael Wildt, „… in vier Jahren kriegsfähig“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 26. 08. 2019, Nr. 197, S. 6.

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bekannte sich als seinen treuen Schüler“.63 Auch von alldeutscher Seite wurde mehrfach festgestellt, „der Nationalsozialismus sei ein Kind des Alldeutschen Verbandes. (…)“.64 Bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte der vom Alldeutschen Verband gegründete Deutsche Wehrverein erklärt, Deutschland brauche Neuland, und „wenn der Frieden das nicht bringt, so bleibt schließlich nur der Krieg“. Inspiriert von den annexionistischen Kriegszielen des Alldeutschen Verbandes und der Eroberungspolitik Erich Ludendorffs, entwickelte Hitler seine „Bodenpolitik“ – die gewaltsame Eroberung von neuem Siedlungsland im Osten. Die Eroberung von neuem Siedlungsland im Osten war für Hitler das unverrückbare strategische Ziel. Die nationalsozialistische Bewegung war für ihn Mittel zum Zweck – eben um dieses Ziel zu verwirklichen. Bereits 1928 hatte Hitler erklärt: „An sich hat die nationalsozialistische Bewegung das deutsche Volk dahin zu erziehen, daß es für die Gestaltung seines Lebens den Bluteinsatz nicht scheut.“65 Dabei ging Hitler weit über die Pläne des Alldeutschen Verbandes hinaus. In seinem Schlusswort von „Mein Kampf“ hatte Hitler bekundet: „Ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung sich der Pflege seiner besten rassischen Elemente widmet, muß eines Tages zum Herrn der Erde werden.“66 Und an anderer Stelle in „Mein Kampf“ erklärte er unumwunden: „Deutschland wird entweder Weltmacht sein oder überhaupt nicht sein.“67 Hitler war sich völlig im Klaren, dass solche Ziele nur gewaltsam zu erreichen sind, nur – wie er es in „Mein Kampf“ formulierte – mit der „Gewalt eines siegreichen Schwertes“ erkämpft werden können.68 Der große Krieg war für Hitler unvermeidbar. Dabei ging Hitler allerdings schrittweise vor. Die Eroberung der politischen Macht in Deutschland war der erste Schritt. Nach der Ausschaltung jedweder Opposition wurde der Eroberungskrieg vorbereitet. Die Bevölkerung wurde psychologisch auf den kommenden Krieg eingestellt. In der Schule wurden Aufsätze geschrieben, die ganz im Zeichen des kommenden Krieges standen.69 Außenpolitisch ging Hitler ebenfalls schrittweise vor. Ihm ging es nicht lediglich um die Revision von Versailles, sondern jede außenpolitische Aktion war die Voraussetzung für den nächsten Schritt, war nur Etappe auf dem Weg zum eigentlichen Ziel: dem Lebensraum im Osten. Der Austritt aus dem Völkerbund, die Einführung 63

A. Kruck, Der Alldeutsche Verband, S. 192. Ebd., S. 193. 65 A. Hitler, Zweites Buch 1928, zit. nach: Hildegard von Kotze/Helmut Krausnick (Hrsg.), Es spricht der Führer, Gütersloh 1966, S. 16. 66 A. Hitler, Mein Kampf, S. 782. 67 Ebd., S. 742. 68 A. Hitler, Mein Kampf, S. 741. 69 Schon im Januar 1934 wurden Abituraufsätze geschrieben, in denen vom „Endkampf der Völker“ die Rede war. Entgegen der allgemeinen Friedenspropaganda wurde die Schuljugend bereits zu diesem Zeitpunkt psychologisch auf den kommenden Krieg vorbereitet. „Das Leben bedeutet Kampf“, war ein zentrales Thema der Aufsätze. Deutschlands Aufstieg könne nur „mit dem Schwert in der Hand“ erreicht werden, hieß es in einem Aufsatz. Bernhard Sauer, „Das Leben bedeutet Kampf“, Abituraufsätze im „Dritten Reich“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 62. Jahrgang 2012. Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung. 64

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der allgemeinen Wehrpflicht, die forcierte Aufrüstung sowie die Rheinlandbesetzung waren der Auftakt zu einer Reihe weiterer Schritte. Im August 1936 entwarf Hitler eine Denkschrift zum Vierjahresplan. In ihr hieß es: „Wir sind überbevölkert und können uns auf der eigenen Grundlage nicht ernähren (…). Die endgültige Lösung liegt in einer Erweiterung des Lebensraumes (…). Ich stelle damit folgende Aufgabe: I. Die deutsche Armee muß in 4 Jahren einsatzfähig sein. II. Die deutsche Wirtschaft muß in 4 Jahren kriegsfähig sein.“70 Am 5. November 1937 fand in der Reichskanzlei im engeren Kreis eine Geheimkonferenz statt.71 Hitler hatte dazu einleitend erklärt, dass der Gegenstand der Besprechung von „derartiger Bedeutung“ sei, dass er sie nicht im großen Kreis des Reichskabinetts zum Gegenstand der Besprechung machen wolle. Was Hitler nun vortrug, war nichts anderes als das Konzept, das er in „Mein Kampf“ entwickelt hatte. Die deutsche Zukunft – so legte er dar – könne nur durch die Lösung der Raumnot gesichert werden. „Daß jede Raumerweiterung nur durch Brechen von Widerstand und unter Risiko vor sich gehen könne, habe die Geschichte aller Zeiten (…) bewiesen. (…) Weder früher noch heute habe es herrenlosen Raum gegeben, der Ankäufer stoße stets auf den Besitzer.“72 Daraus zog Hitler die Konsequenz: „Zur Lösung der deutschen Frage könne es nur den Weg der Gewalt geben (…).“73 Wenn man sich aber erst einmal zu der Gewaltlösung entschieden habe, könne es nur noch um die Frage des „Wann“ und „Wie“ gehen. Sein unabänderlicher Entschluss stehe aber fest, dass spätestens 1943/45 die deutsche Raumfrage gelöst sein muss. Neu war an diesen Ausführungen die veränderte Haltung gegenüber England. In „Mein Kampf“ hatte Hitler noch zur „Gewinnung neuen Lebensraums“ ein Bündnis mit England angestrebt. Nun war nicht mehr die Rede davon, England weiter entgegenzukommen und in ein Bündnis zwingen zu wollen. Notfalls müssten die Ziele ohne oder sogar gegen England durchgesetzt werden. Erstmals sprach Hitler von der Möglichkeit eines Krieges mit England und Frankreich. Die Ausführungen Hitlers riefen bei der Mehrheit der Anwesenden Betroffenheit und Bestürzung hervor. Vor allem Konstantin von Neurath, Werner von Blomberg und Werner Freiherr von Fritsch warnten mit aller Eindringlichkeit vor dem Risiko eines Krieges mit England und Frankreich; Hitler unterschätze deren militärische Mittel vollkommen.74 Neurath, der nach dieser Besprechung tief erschüttert war und 70

Zit. nach: U. D. Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, S. 113. Anwesend waren: Adolf Hitler (Reichskanzler), General Feldmarschall von Blomberg (Reichskriegsminister), Generaloberst Freiherr von Fritsch (Oberbefehlshaber des Heeres), Generaladmiral Raeder (Oberbefehlshaber der Kriegsmarine), Generaloberst Göring (Oberbefehlshaber der Luftwaffe), Freiherr von Neurath (Reichsminister des Auswärtigen), Oberst Hoßbach (Hitlers Wehrmacht-Adjutant). Oberst Friedrich Hoßbach hatte eine Niederschrift der Besprechung angefertigt. 72 Hoßbach-Niederschrift, zit. nach: Weltgeschichte im Aufriss, S. 419. 73 Ebd., S. 420. 74 Vgl. Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933 – 45. Bd. 3 der 4-bändigen Sonderausgabe „Siedler Deutsche Geschichte“, München 2004, S. 563 f. 71

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vergebens versucht hatte, Hitler von seinem Angriffsprogramm abzubringen, bat um seine Entlassung.75 Für solch eine Politik wolle er nicht die Verantwortung mittragen. Auch die Tage von Blomberg und Fritsch waren gezählt. Mithilfe infamer Intrigen wurden beide ihrer Posten enthoben, Fritsch in den Selbstmord getrieben. Der Weg war nun frei für eine weitere Radikalisierung der deutschen Außenpolitik. Im März 1938 erfolgte der Einmarsch in Österreich. Kaum war der Anschluss Österreichs vollzogen, da bereitete Hitler auch schon den nächsten Schlag vor. Sein Ziel war es nun, die Tschechoslowakei unter deutsche Kontrolle zu bringen. Dabei nutzte er die Nationalitätenkonflikte innerhalb der Tschechoslowakei für seine Pläne aus. Rund drei Millionen Sudetendeutsche lebten in dem am 28. Oktober 1918 neu gegründeten Staat. Hitler forderte die Abtrennung des Sudetengebiets an das Deutsche Reich unter dem ständigen Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Zugleich wurde betont, dies sei die letzte deutsche territoriale Forderung. In seiner Sportpalastrede vom 26. September 1938 erkärte Hitler: „Und nun steht vor uns das letzte Problem, das gelöst werden muß und gelöst werden wird! Es ist die letzte territoriale Forderung, die ich Europa zu stellen habe, aber es ist die Forderung, von der ich nicht abgehe, und die ich so Gott will, erfüllen werde.“ 76 Er versicherte: Wenn dieses Problem gelöst sei, gäbe es für Deutschland in Europa keine territorialen Probleme mehr. Das Sudetengebiet war gerade dem Reich einverleibt, da verschärfte das Regime seinen Kurs. Am 9. November 1938 brannten in der Reichspogromnacht zahlreiche jüdische Synagogen. Einen Tag später hielt Hitler eine Geheimrede vor Vertretern der deutschen Presse. Darin forderte er von den Journalisten und Funktionären des gesamten Propaganda-Apparates, dem deutschen Volk „langsam klar zu machen, daß es Dinge gibt, die, wenn sie nicht mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können, mit den Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen“.77 Die „pazifistische Platte“ habe sich jetzt „bei uns abgespielt“. Ihr glaubt man ohnehin nicht mehr.78 Am 14. März 1939 wurde der tschechoslowakische Staatspräsident Emil Hácha zu Verhandlungen mit Hitler nach Berlin bestellt. Hitler erklärte, seine Geduld sei nun erschöpft. Es gäbe nur zwei Möglichkeiten: Kampf oder gütliche Regelung. 75

Vgl. ebd., S. 564. Zit. nach: H.-U. Thamer, Verführung und Gewalt, S. 591. 77 Weiter führte Hitler in seiner Geheimrede aus: „Die Umstände haben mich gezwungen, jahrzehntelang fast nur vom Frieden zu reden. Nur unter der fortgesetzten Betonung des deutschen Friedenswillens und der Friedensabsichten war es mir möglich, dem deutschen Volk Stück für Stück die Freiheit zu erringen und ihm die Rüstung zu geben, die immer wieder für den nächsten Schritt als Voraussetzung notwendig war. (…) Der Zwang war die Ursache, warum ich jahrelang nur vom Frieden redete. (…) Meine Herren, es war früher mein größter Stolz, eine Partei mir aufgebaut zu haben, die auch in den Zeiten der Rückschläge stur und fanatisch hinter mir stand, gerade dann hinter mir stand. Das war mein größter Stolz und bedeutete für mich eine ungeheure Beruhigung. Dazu müssen wir das ganze deutsche Volk bringen. Es muss lernen, so fanatisch an den Endsieg zu glauben. (…).“ Zit. nach: Hildegard von Kotze, Helmut von Krausnick (Hg.): Es spricht der Führer, Gütersloh 1966, S. 269 f. 78 Zit. nach: H.-U. Thamer, Verführung und Gewalt, S. 600. 76

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Der Staatspräsident erlitt einen Herzanfall; der herbeigerufene Arzt konnte mit Spritzen den Zusammengebrochenen soweit wieder aufrichten, dass er noch die Unterwerfungsurkunde unterzeichnen konnte. In ihr hieß es, der tschechische Staatspräsident lege „das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches“.79 Zwei Stunden später überschritten deutsche Truppen die Grenze. England machte nun deutlich, dass die Grenzen der Zumutung und der Konzessionen erreicht sei und dass man entschlossen war, jedem weiteren Übergriff Hitlers entgegenzutreten, auch wenn dies den großen Krieg bedeuten sollte. Am 31. März 1939 gaben England und Frankreich Polen gegenüber Garantieerklärungen ab. Sie befürchteten, dass Polen das nächste Opfer nationalsozialistischer Aggressionspolitik werden könnte. Die Entwicklung gab ihnen recht. Hitler hatte seine weitgesteckten Lebensraumziele, wie er sie in „Mein Kampf“ entwickelt hatte, nie aufgegeben. Am 1. September 1939 überfiel er Polen, und am 22. Juni 1941 begann der Krieg gegen die Sowjetunion, der als Vernichtungskrieg geplant und als solcher geführt wurde.

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Zit. nach: ebd., S. 603.

VIII. Schlussbetrachtung Die Politik der deutschen Regierung war sicherlich nicht auf einen Weltkrieg ausgerichtet. Dafür war das Handeln der deutschen Politiker in dem entscheidenden Stadium der Julikrise viel zu unentschlossen und widersprüchlich. Die Politik Bethmann Hollwegs war aber andererseits auch nicht darauf ausgerichtet, einen europäischen Krieg zu verhindern. Die deutsche Regierung hätte dazu sehr wohl die Möglichkeit gehabt. Die österreichische Regierung hat eine unverantwortliche Politik betrieben. Sie wollte die „Abrechnung“ mit Serbien, obwohl keineswegs bewiesen war, dass die serbische Regierung unter Nikola Pasˆic´ hinter dem Attentat gestanden hat. Aber ohne Rückendeckung des deutschen Kaiserreiches hätte Österreich-Ungarn diese Politik nicht betreiben können. Die deutsche Regierung hätte Österreich-Ungarn bremsen können, wenn sie unmissverständlich erklärt hätte, dass sie ein militärisches Vorgehen gegen Serbien nicht unterstützen würde. Mit dem „Blankoscheck“ hat aber die deutsche Führung Österreich-Ungarn nicht gebremst, sondern im Gegenteil geradezu ermuntert, gegen Serbien vorzugehen. Auf der Ministerratssitzung am 7. Juli 1914 erklärte der österreichische Außenminister Leopold Graf Berchtold, dass die Besprechungen in Berlin zu einem sehr befriedigenden Resultat geführt hätten, indem sowohl Kaiser Wilhelm wie auch Bethmann Hollweg „uns für den Fall einer kriegerischen Komplikation mit Serbien die unbedingte Unterstützung Deutschlands mit allem Nachdruck zugesichert hat“. Er sei sich darüber im Klaren, so fuhr der Außenminister fort, „daß ein Waffengang mit Serbien den Krieg mit Rußland zur Folge haben könnte“. Den nach wie vor zögernden ungarischen Ministerpräsidenten Tisza suchte er mit dem Argument zu überzeugen, „daß wir durch eine Politik des Zauderns und der Schwäche Gefahr laufen, dieser rückhaltlosen Unterstützung des Deutschen Reiches zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr so sicher zu sein“. Aus „internationalen Gründen“ einigten sich die Anwesenden darauf, Serbien nicht sofort anzugreifen, sondern zunächst ein Ultimatum zu stellen. Es müssten aber solch weitreichenden Forderungen gestellt werden, „die eine Ablehnung voraussehen ließen, damit eine radikale Lösung im Wege militärischen Eingreifens angewandt würde“. Ein rein diplomatischer Erfolg sei wertlos. Zur Überraschung der meisten Zeitzeugen nahm die serbische Regierung jedoch das Ultimatum weitestgehend an. Selbst Kaiser Wilhelm II. war beeindruckt. Er bezeichnete das Dokument als „brillante Leistung“ der serbischen Regierung: „Das ist mehr, als man erwarten konnte! Ein großer moralischer Erfolg für Wien; aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort.“ Trotz des weitgehenden Entgegenkommens der serbischen Regierung lehnte der österreichische Außenminister weitere Verhandlungen ab. Noch während der Vermittlungsbemühungen, den Konflikt mit Serbien

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VIII. Schlussbetrachtung

auf friedliche Weise zu lösen, hat Österreich am 28. Juli Serbien den Krieg erklärt. Außenminister Berchtold hatte seinen Kaiser auf eine baldige Kriegserklärung gedrängt, da es nicht ausgeschlossen sei, „daß die Tripleententemächte noch einen Versuch machen könnten, eine friedliche Beilegung des Konfliktes zu erreichen, wenn nicht durch die Kriegserklärung eine klare Situation geschaffen wird“. Auch jetzt intervenierte Bethmann Hollweg nicht. Er hätte, wie Walther Rathenau es ihm im August 1917 vorgehalten hat, die österreichische Kriegserklärung an Serbien schlicht verbieten können. Ohne die Unterstützung des deutschen Kaiserreiches hätte Österreich-Ungarn keinen Krieg gegen Serbien beginnen können. Dabei war auch Bethmann Hollweg bewusst – wie dies aus den Riezler-Tagebüchern hervorgeht –, dass aus einem Krieg mit Serbien ein Weltbrand sich entwickeln könnte. Er ging das Risiko ein. Erst als sich abzeichnete, dass England nicht neutral bleiben würde, versuchte er, Österreich zu bremsen: „Wir sind zwar bereit, unsere Bündnispflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Wien leichtfertig und ohne Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen.“ Diese Kehrtwendung war aber nicht sehr überzeugend. Bethmann Hollweg hatte es zuvor unterlassen, die Erklärung des Kaisers rechtzeitig und im vollen Wortlaut an die Regierung in Wien weiterzuleiten. Ebenso hat er die britischen Vermittlungsvorschläge zurückgewiesen oder ebenfalls verspätet weitergeleitet. Auch für eine Fristverlängerung des Ultimatums hat er sich nicht eingesetzt. Auf die russische Generalmobilmachung reagierte der Kanzler keineswegs mäßigend, sondern eskalierte die Lage, indem er Russland ein zwölfstündiges Ultimatum stellte und von Frankreich forderte, sich für neutral zu erklären. Clark behauptet dagegen, dass Russland und Frankreich die Lage verschärft hätten. Diese Behauptung stellt aber die Realität geradezu auf den Kopf. Die russische Generalmobilmachung war nicht Ursache, sondern Folge einer bedrohlichen Konfliktverschärfung. Zuvor hatte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt und völkerrechtswidrig Bomben auf Belgrad abgeworfen. Sicherlich wäre es im Sinne der Friedenserhaltung besser gewesen, wenn die russische Seite die Generalmobilmachung zugunsten einer Teilmobilmachung zurückgenommen hätte, wie dies ja der Zar auch ursprünglich erwogen hat. Aber der russische Außenminister hat ausdrücklich erklärt, dass Russland keine Angriffsabsichten gegen Deutschland habe. Selbst wenn diese Erklärung nicht als glaubwürdig angesehen worden wäre, hätte Bethmann Hollweg in jedem Fall nicht mit einem zwölfstündigen Ultimatum reagieren müssen, sondern hätte Vorschläge machen können, wie die strittigen Fragen auf dem Verhandlungsweg gelöst hätten werden können. Mit der russischen Generalmobilmachung war der Krieg keineswegs unausweichlich geworden. Aber für das deutsche Kaiserreich war nun der Zeitpunkt gekommen, wo es zum Krieg bereit war. Die russische Generalmobilmachung war der Anlass, seinerseits die Lage zu eskalieren. Bethmann Hollweg hatte schon vor der russischen Generalmobilmachung zu verstehen gegeben, dass Deutschland unbedingt als der Angegriffene erscheinen müsse, da nur so politisch die Sozialdemokratie für den Krieg zu gewinnen sei und eine eventuelle Neutralität Großbritanniens erzielt werden könne. Auch die weiteren

VIII. Schlussbetrachtung

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Schritte zeigen die Kriegsentschlossenheit der deutschen Führung: die Kriegserklärung an Russland am 1. August und der völkerrechtswidrige Einmarsch deutscher Truppen in Belgien in der Nacht vom 3. zum 4. August. Behauptet wurde, dass „zuverlässige Nachrichten“ über den beabsichtigten Aufmarsch französischer Streitkräfte vorlägen, die keinen Zweifel über die Absicht Frankreichs ließen, „durch belgisches Gebiet gegen Deutschland vorzugehen“. Es sei ein „Gebot der Selbsterhaltung für Deutschland, dem feindlichen Angriff zuvorzukommen“. Dies sind reine Zweckbehauptungen, für die es keine Belege gibt, die die eigenen Angriffsabsichten rechtfertigen sollten. Ist nun das deutsche Kaiserreich in den Krieg hineingeschlittert? Keineswegs! Es gab Unsicherheiten beim Kaiser wie auch bei Bethmann Hollweg, was aber bei der Schwere der zu treffenden Entscheidungen auch nicht so verwunderlich ist. Aber beide haben keine aktive und konsequente Haltung gegen den drohenden Krieg eingenommen. Im Gegenteil! Über weite Strecken der Julikrise haben sie eine kriegsfördernde Politik betrieben, und nachdem Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt hatte, waren auch sie kriegsentschlossen. Zugleich gab es aber auch einflussreiche Gruppen im deutschen Kaiserreich, die sehr zielgerichtet und schon seit Längerem den in ihren Augen unvermeidlichen Krieg angestrebt haben. Sie waren enttäuscht von der zögerlichen und widersprüchlichen Haltung von Kaiser Wilhelm II. und Bethmann Hollweg. Zu ihnen gehörten große Teile des Militärs, die Industrie, und da besonders die Schwerindustrie, sowie nationalistische Verbände wie insbesondere der Alldeutsche Verband mit seinen Gliederungen. Publizistisch ist vor allem der Alldeutsche Verband mit seiner Kriegspropaganda hervorgetreten. Bereits im Frühjahr 1913 hatte der äußerst rührige Alldeutsche Verbandsvorsitzende Claß geäußert: „Unser rasch wachsendes Volk muss sein Daseinsrecht geltend machen. Es muss für Neuland sorgen.“ Im gleichen Sinne erklärte auch General von Wrochem vom Wehrverein: „Ein vorwärtsstrebendes Volk wie wir, das sich so entwickelt, braucht Neuland für seine Kräfte, und wenn der Friede das nicht bringt, so bleibt schließlich nur der Krieg. Dieses Erkennen zu wecken, sei der Wehrverein berufen.“ Die Alldeutschen hatten bereits seit Längerem die Auffassung vertreten, „daß der Widerstreit der deutschen Interessen mit denen der Nachbarstaaten eines Tages durch die Waffe gelöst werden müsse“. 1912 erschien ein Buch des alldeutschen Militärschriftstellers, des ehemaligen Generals Friedrich von Bernhardi. Das Buch hatte den Titel „Deutschland und der nächste Krieg“. Darin betonte der Autor: „Der Krieg ist eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Deutschland müsse auf eine harte Entscheidung vorbereitet werden, und zwar „ob wir uns auch zu einer Weltmacht entwickeln, als solche behaupten und deutschen Geist und deutscher Lebensauffassung die Beachtung auf der weiteren Erde verschaffen wollen, die ihnen heute noch versagt sind“. In den rechts-konservativen Kreisen des Kaiserreiches war die Meinung verbreitet, dass das deutsche Kaiserreich bei der Verteilung der Welt in Einflusssphären zu kurz gekommen sei und nun kraft seiner gewachsenen wirtschaftlichen

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VIII. Schlussbetrachtung

Macht einen entsprechenden Platz in der Welt einnehmen müsse, notfalls auch mit den Mitteln des Krieges. Gleich zu Beginn des Krieges hat die Regierung ein Kriegszielprogramm entwickelt, das die Vorherrschaft Deutschlands in Mitteleuropa auf erdenkliche Zeit sichern sollte. Das „Septemberprogramm“ der Regierung Bethmann Hollwegs war eine Art Minimalprogramm, auf das die verschiedenen Gruppen sich verständigten. Es wurde mit Beginn des Krieges entwickelt, griff aber Bestrebungen und Zielsetzungen auf, die bereits in den Vorkriegsjahren entwickelt wurden. Die „russische Frage“ sowie das Konzept eines mittelafrikanischen Kolonialreiches wurden zunächst ausgeklammert. Das Projekt eines zusammenhängenden mittelafrikanischen Kolonialreiches wurde wenig später konkretisiert; es hätte etwa ein Drittel des afrikanischen Kontinentes umfasst. Parallel, zum Teil als Ergänzung des „Septemberprogramms“ gedacht, wurden in dieser Zeit mehrere Denkschriften erarbeitet, die ebenfalls weitreichende annexionistische Kriegsziele enthielten. Solche Denkschriften entwickelten Matthias Erzberger, der Industrielle August Thyssen, der Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg sowie die großen deutschen Wirtschaftsverbände. Weitreichend war insbesondere auch das Kriegszielprogramm des Alldeutschen Verbandes. In den schließlich am 5. Mai 1915 verabschiedeten Leitsätzen zum Kriegsziel wurden die polnischen Grenzgebiete, die russisch-litauischen Gouvernements und die Ostseeprovinzen als zukünftige Siedlungsgebiete genannt. Im Westen sollte neben Belgien die nordfranzösische Küste am Kanal bis etwa zur Mündung der Somme gewonnen werden. Marokko, Senegambien und der französische Kongo müssten an Deutschland fallen, ebenso der belgische Kongostaat. Speziell alldeutsch war nicht nur die Landnahme an sich, sondern vor allem auch die Art und Weise, wie diese Landnahme erfolgen sollte. Industrielle Unternehmungen sowie größerer und mittlerer Landbesitz sollten an deutsche Staatsbürger übereignet werden. Der nichtdeutschen Bevölkerung sollte kein politischer Einfluss gewährt werden. Im Osten sollte in wichtigen Teilen des Neulandes eine „völkische Feldbereinigung“ vorgenommen werden. Von Regierungsseite wurde aber gewarnt, das Fell des Bären zu verteilen, ehe er erlegt sei. In einem Brief riet Bethmann Hollweg Claß, er möge die Propaganda für die Kriegsziele zu einem Zeitpunkt aufschieben, an dem sich das Erreichbare übersehen lasse. In einem weiteren Brief würdigt der Kanzler die Verdienste, die der Alldeutsche Verband sich „durch die Hebung des nationalen Machtwillens“ erworben habe und stellte in Aussicht, dass „die vom Alldeutschen Verband aufgestellten Forderungen zum Kriegsziel nach der völligen Niederwerfung aller unser Gegner zu würdigen sein“ würden. Das „Septemberprogramm“ sollte geheim bleiben, und eine öffentlich geführte Debatte über die Kriegsziele, wie sie insbesondere der Alldeutsche Verband forderte, wurde von Bethmann Hollweg untersagt. In der offiziellen Propaganda befand sich

VIII. Schlussbetrachtung

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Deutschland in einem Verteidigungskrieg, eine öffentlich geführte Debatte über weitgesteckte Kriegsziele hätte diese Propaganda völlig unglaubwürdig gemacht. Doch die Propaganda hatte Erfolg: Weite Teile der Bevölkerung glaubten tatsächlich, dass Deutschland der Angegriffene sei und lediglich seine Werte verteidige, ungeachtet der Tatsache, dass deutsche Truppen sich in Belgien in einem fremden Land befanden und dort Gräueltaten verübten. Die Bevölkerung wurde gezielt getäuscht. Es gelang, „die offensive Absicht defensiv zu verkleiden“. 1914 hat kein Land das deutsche Kaiserreich bedroht, auch Russland nicht. Aber die Taktik, das Deutsche Reich als argloses Opfer einer russischen Aggression darzustellen, ging auf – erhebliche Teile der Bevölkerung haben den Krieg begeistert aufgenommen. Auch die Taktik Bethmann Hollwegs, die Arbeiterbewegung in den Krieg einzubinden, hatte Erfolg. Die SPD-Führung stellte die so eindrucksvoll begonnenen Antikriegsmanifestationen ein. Dabei waren die Tage vor dem 28. Juli, dem Tag, an dem Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte, von entscheidender Bedeutung. Im Gegensatz zur Parteiführung haben verschiedene sozialdemokratische Zeitungen diesen Zusammenhang klar erkannt. So schrieb die „Volksstimme“ am 24. Juli: „Was da unten in Österreich geschieht, ist nichts anderes als die Vorbereitung zum Krieg (…). Es wird von der deutschen Regierung abhängen, ob der Krieg ausbricht oder nicht“, und die „Volkszeitung“ bekundete am 27. Juli: „Die deutsche Regierung braucht nur zu wollen und sie verhindert den Weltbrand“. Wenn in diesem entscheidenden Moment Druck auf die deutsche Regierung ausgeübt worden wäre, damit diese mäßigend auf den österreichischen Bundesgenossen einwirke, hätte eventuell der Weltkrieg verhindert werden können. Angesichts der Breite der Antikriegsbewegung im Juli 1914 hätte die SPD durchaus die Möglichkeit gehabt, die Reichsleitung von ihrer den Krieg vorbereitenden Politik abzuhalten. Die politische Führung des Kaiserreiches war selber unsicher – wie dies die Verhaltensweisen von Kaiser Wilhelm II. und Bethmann Hollweg gezeigt haben –, große Antikriegsdemonstrationen, partielle Streiks und andere der Situation angepassten Kampfformen hätten sicherlich nicht ihre Wirkung verfehlt. Nach Meinung von Karl Kautsky hätten sich einem entsprechenden Aufruf gegen die drohende Kriegsgefahr nicht nur erhebliche Teile der Arbeiterschaft, sondern auch große Massen der nicht proletarisch arbeitenden Schichten des Volkes angeschlossen. „Bei einer solchen Stimmung hätte die deutsche Regierung unmöglich einen großen Krieg entfesseln können“, so das Urteil von Kautsky. Es war ein verhängnisvoller Fehler der SPD-Führung, die Antikriegsproteste einzustellen. Es gab durchaus eine Chance, den Weltbrand noch zu verhindern. Dazu hätte aber die SPD geschlossen und entschlossen ihre Antikriegspolitik fortsetzen müssen. Eine konsequente Antikriegspolitik hätte auch den Wünschen und Erwartungen eines großen Teils der Arbeiterschaft entsprochen. Der Krieg wurde nur in Teilen des Bürgertums begeistert aufgenommen, in der Arbeiterschaft stieß er vielfach auf Skepsis und Ablehnung. Viele Arbeiter hatten nach wie vor eine kriegsablehnende Grundeinstellung und verstanden nicht die kriegsbejahende Politik ihrer Führung, und je länger der Krieg andauerte, je größer die Opfer wurden und je deutlicher der Krieg einen Eroberungscharakter annahm, desto breiter

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VIII. Schlussbetrachtung

wurde die Antikriegsbewegung. Auch wenn die SPD 1914 einen Krieg nicht hätte verhindern können, ein deutliches Zeichen gegen den Krieg und eine beharrliche Aufklärungsarbeit über den wahren Charakter des Krieges hätten das Anwachsen der Antikriegsbewegung beschleunigt und weitere Möglichkeiten eröffnet, den Krieg vorzeitig zu beenden. Im August 1914 hat niemand vorhergesehen, welche Ausmaße der Krieg annehmen würde. Das Scheitern der Marne-Schlacht machte deutlich, dass die Vorstellung, Frankreich entsprechend dem „Schlieffen-Plan“ in einem Überraschungsschlag vernichtend schlagen zu können, um so die siegreichen Truppen gen Osten zu schicken, eine Illusion war. Nach dem Marne-Debakel entwickelten sich im Westen zermürbende Stellungskriege, die in Verdun und an der Somme Hunderttausenden Menschen das Leben kosteten. Erfolge hatte dagegen die deutsche Kriegsführung im Osten zu verzeichnen. In der Sommeroffensive 1915 war es den Verbänden von Ober Ost gelungen, bedeutende Eroberungen zu machen. In dem unter Verwaltung von Ober Ost verbliebenen Besatzungsgebiet wurde von Ludendorff eine aktive „Germanisierungspolitik“ betrieben: Die arbeitsfähigen Männer zwischen 16 und 60 Jahren wurden zur Zwangsarbeit herangezogen und in Arbeitslagern untergebracht; die allgemeine Schulpflicht wurde abgeschafft, die Nutzung medizinischer Versorgungseinrichtungen war ausschließlich deutschen Staatsbürgern vorbehalten. Das Marne-Debakel, das Scheitern des deutschen Angriffs auf Verdun und die verlustreichen Kämpfe an der Somme machten deutlich, dass das Kaiserreich auf einen längerfristigen Krieg gar nicht vorbereitet war. Es häuften sich die wirtschaftlichen Probleme. Zugleich verschärften sich die innerpolitischen Spannungen. Am 28. August 1916 wurde Falkenhayn entlassen und durch das Gespann Hindenburg-Ludendorff ersetzt. Mit dem „Hindenburg-Programm“ sollte eine außerordentliche Steigerung der Rüstungsproduktion erzielt werden. Eine entscheidende Voraussetzung dafür war die Beseitigung des Arbeitskräftemangels. Nach dem Grundsatz, „Wer nicht arbeitet, soll nicht essen“, sollte die gesamte Volkswirtschaft im Sinne der Kriegsproduktion umstrukturiert werden. Die Pläne aus dem Großen Hauptquartier zur Steigerung der Rüstungsgüterproduktion lösten vielfach Empörung und Entsetzen aus. Auch Bethmann Hollweg wandte sich gegen diese Pläne. Wir würden „die Zuversicht der Bevölkerung, die wir zum Siegen brauchen, einer kaum tragbaren Belastung unterwerfen“. Das „Hindenburg-Programm“ wurde in entscheidenden Punkten entschärft, doch die Lebensbedingungen verschlechterten sich für einen Großteil der Bevölkerung und erreichten im „Kohlrübenwinter“ ihren katastrophalen Höhepunkt. Auch die mit dem „Hindenburg-Programm“ und dem „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst“ gesteckten Ziele einer deutlich gesteigerten Rüstungsgüterproduktion wurden nicht erreicht. Groener zog daraus die Konsequenz, sich unter den gegebenen Umständen „nicht allein auf den Sieg einzustellen, sondern auch damit zu rechnen, daß der Sieg ausbleiben könne. Man müsse daher dem Volk den Gedanken an den Frieden ohne Sieg nahebringen“.

VIII. Schlussbetrachtung

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Solche Überlegungen waren in der von Bethmann Hollweg vom 12. Dezember 1916 unterbreiteten Friedensnote nicht enthalten. Die Friedensnote war in einem anmaßenden Ton verfasst, enthielt aber keinen Hinweis auf ein Entgegenkommen, etwa auf den Rückzug der deutschen Truppen aus dem besetzten Belgien. Die vier verbündeten Mächte – so wurde darin ausgeführt – seien zur Verteidigung ihres Daseins und ihrer nationalen Entwicklungsfreiheit gezwungen gewesen, zu den Waffen zu greifen und hätten dann im Krieg „ihre unüberwindliche Kraft“ bewiesen und „gewaltige Erfolge“ errungen. Auch die Kriegszielliste, die von Generalstab, Admiralstab und Kolonialamt erstellt wurden, war so anmaßend, dass die Chance auf einen Frieden von vornherein auf ein Minimum beschränkt blieb. Die EntenteMächte bezeichneten dann auch das Friedensangebot der Mittelmächte als reine Propaganda und lehnten dieses ab. Die auf den Siegfrieden beharrenden militärischen Spitzen setzten dagegen auf den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, der die Wende im Krieg bringen sollte. In einem Memorandum, das Holtzendorff Kaiser Wilhelm II. noch im Dezember 1916 vorlegte, wurde behauptet, dass mit dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg der Zusammenbruch Großbritanniens herbeigeführt werden könne. Bethmann Hollweg befürchtete dagegen, dass mit dieser Kriegsführung auch amerikanische Schiffe betroffen sein würden und die USA dadurch in den Krieg eintreten könnten. Der Kaiser entschied, dass der Unterwasserkrieg eine rein militärische Sache sei, die den Kanzler gar nichts anginge und befahl am 9. Januar 1917 die Eröffnung des unbeschränkten Unterwasserkrieges „mit voller Energie“. Anfangserfolge des uneingeschränkten U-Boot-Krieges, die veränderte Situation infolge der Februarrevolution in Russland nährten die deutsche Siegeszuversicht. Die OHL ließ erkennen, dass sie unbedingt an ihren weitgesteckten Eroberungszielen im Osten, vor allem im Baltikum, festhalten würde. Der österreichische Außenminister Czernin vertrat dagegen eine völlig andere Position. Er behauptete, dass die militärischen Kräfte der Donaumonarchie ihrem Ende entgegengingen. Er forderte einen Frieden auf den Boden des Status quo ante ohne Kriegsentschädigung. Falls der Krieg jedoch einen weiteren Winter hindurch fortgesetzt werden würde, prophezeite er revolutionäre Umwälzungen in Österreich-Ungarn wie auch in Deutschland. Wie der österreichische Außenminister hat auch die deutsche Sozialdemokratie sich nun für einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen ausgesprochen. Zwischen diesen beiden Polen hat Reichskanzler Bethmann Hollweg versucht, einen „Mittelweg“ zu finden, verhielt sich dabei aber ausgesprochen widerspruchsvoll. Die militärische Lage bewertete er zuversichtlich. Er ging davon aus, dass England und Frankreich in den gegenwärtigen Offensiven ihre militärischen Kräfte erschöpft hätten, dass Russland in einem Zersetzungsprozess begriffen sei und die USA in absehbarer Zeit nicht in der Lage seien, in Europa helfend eingreifen zu können. Die Gefahr eines revolutionären Umsturzes hielt er für ausgeschlossen. Sehr viel verhängnisvoller bewertete er „den Abschluss eines Friedens um jeden Preis, lediglich zum Zwecke der Beendigung des Krieges“. Für ihn kam nur ein Frieden infrage, der Deutschland die Gewinnung einiger seiner Kriegsziele ermöglichte. Zugleich wandte er sich

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gegen die maßlosen Kriegsziele der OHL, konnte sich aber auf der Konferenz in Bad Kreuznach nicht durchsetzen. Auf der Kreuznacher Konferenz wurden weitgehende Annexionen im Osten wie im Westen festgelegt. Im Osten wurde neben Kurland und Litauen auch der Erwerb von Teilen Livlands und Estlands angestrebt. In der polnischen Frage wurde die Absicht bekräftigt, Kongresspolen militärisch, politisch und wirtschaftlich völlig zu beherrschen. Im Westen sollte Belgien als deutscher Vasallenstaat besetzt bleiben und auf unbestimmte Zeit in deutsche militärische Kontrolle genommen werden. Ferner sollten die Erz- und Kohlereviere von LongwyBriey für Deutschland erworben werden, Luxemburg sollte ein deutscher Bundesstaat werden. Bethmann Hollweg hatte dem nichts entgegenzusetzen. Er unterschrieb ebenfalls das Protokoll, obwohl er innerlich gegen so weitreichende Kriegsziele Bedenken hatte. Ähnlich verhielt sich der Reichskanzler auch in der Reichstagssitzung vom 15. Mai 1917. Auch da versuchte er, „sich zwischen den Fronten hindurchzulavieren“. Der Abgeordnete Scheidemann hielt dort eine bemerkenswerte Rede, nachdem er noch in seiner Neujahrsbotschaft im Dezember 1914 „den unerschütterlichen Willen zum Durchhalten bis zum Siege“ bekundet hatte. Er stellte nun die Frage, ob es erträglich wäre, „immer neue Hunderttausende auf die Schlachtbank zu schicken für ein Ziel, ein Eroberungsziel, das die erdrückende Mehrheit des Volkes gar nicht will, das überhaupt gar nicht erreicht werden kann“. Der konservativen Reichstagsfraktion zugewandt, rief er: „Das Ziel der Vergewaltigung anderer Völker (…), das werden sie nie erreichen“. Bethmann Hollweg hatte auf der Reichstagssitzung die Gelegenheit gehabt, sich in eindeutiger Weise für einen Frieden ohne Annexion auszusprechen. Das tat er nicht. Er hat sich zwar in allgemeiner Weise gegen ein Eroberungsprogramm ausgesprochen, dann aber die Konservativen und Alldeutschen geradezu ermuntert und den deutschen Macht- und Siegeswillen unmissverständlich bekundet: „Meine Herren, die Zeit läuft für uns. Wir können die volle Zuversicht haben, daß wir uns dem guten Ende nähern. Dann wird die Zeit kommen, wo wir über unsere Kriegsziele, bezüglich deren ich mich in voller Übereinstimmung mit der Obersten Heeresleitung befinde, mit unseren Gegnern verhandeln können.“ Die verbalen Zugeständnisse an die OHL konnten aber nicht überdecken, dass Bethmann Hollweg auf der Kreuznacher Konferenz und in der U-Boot-Frage Niederlagen gegenüber der OHL hatte hinnehmen müssen. Seine Entlassung war dann nur noch die Konsequenz einer bereits schon vollzogenen Machtverschiebung zugunsten der OHL. Bethmann Hollweg war realistischer und gemäßigter als Ludendorff und die anderen Militärs, aber auch er hat annexionistische Kriegsziele verfolgt. Während des Krieges hat er immer wieder den Siegeswillen bekräftigt und die Kriegspolitik aktiv mitgetragen. Von dem Völkermord an den Armeniern hat er erfahren und wurde von Metternich aufgefordert, ernsthaft etwas dagegen zu tun. Bethmann Hollweg wollte davon nichts wissen: „Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.“ Auch gegen die Völkerrechtsverletzung der brutalen Zwangs-

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deportationen belgischer Arbeiter schritt Bethmann Hollweg nicht ein, er machte nur den Einwand, dass er „einer verstärkten Anwerbung auf freiwilliger Grundlage den Vorzug gab“. Mit dem Rücktritt von Bethmann Hollweg war nun aber der Weg geebnet für die Vertreter extremer Kriegsziele. So waren Ludendorffs territoriale Vorstellungen im Spätsommer 1917 keineswegs auf Europa beschränkt. Das angestrebte mittelafrikanische Kolonialreich sollte durch zusätzliche Flottenstützpunkte gesichert werden: im Atlantischen Ozean die Azoren und Dakar, im Indischen Ozean Timor und Réuniun, im Stillen Ozean Yap und Haiti und in China Tsingtau und Wuhu. Außerdem forderte Ludendorff weitere Kolonien für die Rohstoffversorgung. Er dachte da an Gebiete in Südamerika und Asien, wo die Deutschen „das Erbe“ der Belgier und Holländer antreten sollten: neben Niederländisch-Guayana insbesondere das rohstoffreiche Niederländisch-Indien, also die Inseln Sumatra, Borneo, Java und Neu-Guinea. Es hatte sich aber auch Widerstand gegen die Politik der OHL entwickelt. Sie kam aus dem Parlament. Der Zentrumsabgeordnete Erzberger bezeichnete den U-BootKrieg als gescheitert. Das deutsche Volk sei über die wahre Lage, in der es sich befinde, gröblich getäuscht worden. Er regte an, den unbeschränkten U-Boot-Krieg einzustellen und als Einleitung zu einem Verständigungsfrieden eine Resolution gegen Annexion anzunehmen. Vizekanzler Helfferich und Reichskanzler Bethmann Hollweg hatten sich dagegen ausgesprochen, ein solcher Schritt würde im Ausland nur als Zeichen der Schwäche ausgelegt werden können. Die schließlich vorgelegte Resolution war substanzieller als die Friedensresolution von Bethmann Hollweg im Dezember 1916, enthielt aber auch keine klare und eindeutige Absage an Annexionen. Sie hat aber eines ihrer selbstgesteckten Ziele erfüllt: Die Sozialdemokratie bewilligte abermals Kriegskredite. Für die Führung der Mehrheits-SPD war es immer schwieriger geworden, ihre Unterstützung des Krieges vor ihren Anhängern zu rechtfertigen. Die Behauptung, Deutschland führe einen reinen Verteidigungskrieg, wurde von weiten Teilen der SPD-Basis nicht geglaubt. In dem Protestschreiben vom 9. Juli 1915 an den Vorstand der SPD und den Vorstand der SPD-Reichstagsfraktion erklärten tausend Funktionäre der SPD: „Immer klarer war zutage getreten, daß der Krieg nicht der Verteidigung der nationalen Unversehrtheit dient (…).“ Das Deutsche Kaiserreich führe vielmehr einen Eroberungskrieg, zu dem „die offene Annexion russischer und französischer Gebietsanteile und unter dem Etikett der zwangsweisen wirtschaftlichen Angliederung die versteckte Annexion Belgiens gehört“. Auch in der Erklärung „Das Gebot der Stunde“, die innerhalb der Arbeiterschaft eine große Resonanz fand, wurde unter Hinweis auf die Eingabe der sechs großen Wirtschaftsvereinigungen vom 20. Mai 1915 hervorgehoben, dass der Eroberungscharakter des Krieges immer deutlicher zutage trete. Die innerparteilichen Auseinandersetzungen nahmen zu. Ganze SPD-Organisationen wurden ausgeschlossen und zahlreiche SPD-Mitglieder traten aus der Partei aus, weil sie die Kriegspolitik der SPD-Führung nicht mehr unterstützen wollten. Im April 1917 wurde schließlich die USPD als kriegsgegnerische Partei gegründet. Das heißt aber nicht, dass alle in der SPD verbliebenen

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Mitglieder den Krieg unterstützten. Viele blieben aus Loyalitätsgründen in der Partei oder hatten die Absicht, die SPD insgesamt auf einen kriegsgegnerischen Kurs zu bringen. Aber auch die „nationale Opposition“ organisierte sich. Am 2. September 1917 wurde die Deutsche Vaterlandspartei gegründet, gedacht als nationalistische Sammlungsbewegung aller Annexionisten, die eine siegreiche Beendigung des Krieges und die Sicherstellung eines „deutschen Friedens“ zum Ziel hatten. Neben der Annexion Belgiens, des Erzbeckens von Briey und Longwy und der französischen Kanalküste unter Einfluss der Normandie und Luxemburg war das Kriegsziel der Deutschen Vaterlandspartei ein geschlossenes Kolonialreich Afrikas unter Einschluss Belgisch-Kongos sowie die Schaffung eines von Deutschland abhängigen polnischen Staates und die Annexion der russischen Ostseegouvernements, Litauens und Teilen des westlichen Westrusslands und der westlichen Ukraine. Die deutsche Gesellschaft war im Jahr 1917 tief gespalten: in Kriegsbefürworter und Kriegsgegner. Zugleich spitzten sich die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu. Im April begann eine größere Streikwelle. Sie war vor allem ein Protest gegen die unzureichende Lebensmittelversorgung. Aufrufe zum Streik wurden als Landesverrat bezeichnet und mit drakonischen Strafmaßnahmen bedroht. Im Januar 1918 legten dann über eine Million Rüstungsarbeiter und -innen die Arbeit nieder. Die Ziele des Streiks waren politisch: Beendigung des Krieges und Sturz der herrschenden mit dem Krieg verbundenen Ordnung. Die Streiks waren vor allem auch ein Protest gegen die deutsche Verhandlungsführung in Brest-Litowsk und gegen die dort vertretenden maßlosen deutschen Eroberungsziele. Zahlreiche Demonstranten wurden verhaftet und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. 50 000 Streikende wurden an die Front abgezogen. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk war dann tatsächlich ein Diktatfrieden, in dem Polen, Litauen und Kurland aus dem russischen Staatsverband herausgelöst wurden. Die russischen „Randvölker“ von den baltischen Ländern bis zum Schwarzen Meer wurden unter deutsche Hegemonie gestellt. Kaiser Wilhelm II. bezeichnete den Friedensvertrag von Brest-Litowsk als einen der größten „Erfolge der Weltgeschichte“. Innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung wurde dagegen dieser Friedensvertrag als Bestätigung dafür gewertet, dass das deutsche Kaiserreich keinen Verteidigungskrieg, sondern einen Eroberungskrieg führen würde. Mit dem Friedensvertrag von Best-Litowsk schied Sowjetrussland als Kriegsteilnehmer aus, für das Deutsche Reich war damit der Zweifrontenkrieg beendet. Die Spitzen des deutschen Kaiserreiches waren voller Siegeszuversicht. Auch der Kaiser war voller Euphorie. Der Sieg im Osten sollte maßgebend auch für den Westen sein. „Erst Sieg im Westen mit Zusammenbruch der Entente, dann machen wir die Bedingungen, die sie annehmen muß! Und die werden rein nach unserem Interesse zugeschnitten.“ Die euphorischen Siegeshoffnungen erwiesen sich aber wieder als Illusion. Die Operationen „Michael“ und „Georgette“ haben nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt. Die Rückschläge in der Frühjahrsoffensive 1918 führten auch

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bei Ludendorff zu einem gewissen Umdenken. Er schloss einen Frieden auf der Basis des Status quo nun nicht mehr aus. Der Kampf um die Vormachtstellung in der Welt müsse dann in einem künftigen Krieg ausgetragen werden. In der Kampfpause müsse die deutsche Position gestärkt werden. Neue Rohstoffvorkommen und Absatzmärkte müssten vor allem im russischen Raum gesichert werden. Dabei entwickelte Ludendorff Forderungen, die weit über den Brester Friedensvertrag hinausgingen. Im Süden Russlands wollte er eine deutsche Kolonie schaffen. Von besonderem Interesse war dabei für ihn die Krim und die Ukraine. Ferner fiel sein Augenmerk besonders auf den Kaukasus wegen des in dieser Region vorhandenen Rohstoffreichtums. Mit der Ausbeutung der dortigen Ölvorkommen sollte die Position Deutschlands gestärkt werden. Außerdem erhob der General Anspruch auf die Ausbeutung der Erdölfelder der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Bei den Gebietseroberungen ging es Ludendorff um die Bestimmung der künftigen Stellung in der Welt. Nach seiner Überzeugung würde nach Kriegsende ein von Deutschland geführter euro-asiatischer Block sich dem britischen Weltreich und einem panamerikanischen Block gegenüberstehen. Um den beiden westlichen Megastaaten Paroli bieten zu können, müsste das Deutsche Reich im Osten in Russland einen zuverlässigen Verbündeten finden. Konkret stellte sich Ludendorff das folgendermaßen vor: Finnland, das Baltikum, Litauen und Polen, Georgien sollten endgültig aus dem russischen Staatsverband ausscheiden, während Deutschland der Schaffung eines föderativen Staatenbundes der übrigen Teile Russlands wohlwollend gegenüberstehe, unter der Voraussetzung der festen wirtschaftlichen Anbindung Russlands an Deutschland. Aber noch glaubte Ludendorff an einen siegreichen Ausgang in dem gegenwärtigen Krieg. Die Operation „Hagen“ sollte die entscheidende Wende herbeiführen. Doch die deutschen Angreifer wurden bei Reims am 14. Juli von den Franzosen abgewehrt, die nun ihrerseits zum Angriff übergingen. Mittlerweile waren auch 400 000 amerikanische Soldaten in Europa stationiert. Die Großoffensive der Alliierten leitete die Kriegswende ein. Französische und amerikanische Infanterie traten zum Sturm auf die deutschen Stellungen an. Unter den deutschen Soldaten breitete sich Panik aus. Vielfach kam es zu überstürzter Flucht. Zahlreiche deutsche Soldaten desertierten. In der Gegend von Amiens und Montdidier erlitten deutsche Divisionen mit fast 30 000 Toten und Gefangenen die größte Niederlage im Ersten Weltkrieg. Ludendorff sprach von einem „schwarzen Tag“ in der deutschen Geschichte. Zugleich forderte er „keinen Fußbreit ohne zähen Kampf aufzugeben“. Um dem Gegner das Nachsetzen zu erschweren, befahl er die vollständige Zerstörung sämtlicher Brücken und Straßen in den geräumten Gebieten. Nach dem Scheitern der Frühjahrsoffensive sprach sich Ludendorff am 29. September 1918 für ein sofortiges Waffenstillstandsangebot an US-Präsident Wilson und für eine Parlamentarisierung der Regierung aus. Die Lage sei furchtbar ernst, ließ Ludendorff verlauten. Täglich könne die Westfront durchbrochen und somit unsere Armee vernichtend geschlagen werden. Im Einvernehmen mit Hindenburg erklärte er: „Die O.H. L. und das deutsche Heer seien am Ende; der Krieg sei

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nicht mehr zu gewinnen, vielmehr stehe die endgültige Niederlage wohl unvermeidbar bevor.“ Graf Hertling legte sein Amt als Reichskanzler nieder, und Ludendorff forderte nun vom Kaiser „jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, daß wir so weit gekommen sind. (…) Die sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben“. Die zivile Politik sollte die Verantwortung für die Beendigung des Krieges übernehmen. Prinz Max von Baden hat sich zunächst der Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstandsersuchen widersetzt, weil nach all den von der OHL verkündeten Siegesmeldungen ein plötzliches Waffenstillstandsersuchen einen „Schock“ in der Bevölkerung auslösen würde. Erst als die OHL auf sein ausdrückliches Befragen hin erklärte, dass „nach menschlichem Ermessen“ keine Aussicht mehr bestehe, dem Feind den Frieden aufzuzwingen, entschloss er sich zu diesem Schritt. Die zivile Politik war damit in eine missliche Lage geraten. Sie hatte nun die Konsequenzen einer Politik zu tragen, die nicht sie, sondern die OHL zu verantworten hatte. Die OHL, politisch dem Alldeutschen Verband nahestehend, hat während des Krieges stets extreme Kriegsziele verfolgt und alle Bestrebungen, den Krieg vorzeitig zu beenden, rigoros bekämpft. Nach dem Willen Ludendorffs sollten andere Völker unterdrückt, entrechtet und wirtschaftlich ausgebeutet werden. Ludendorff hat auch einen künftigen Krieg um die Vorherrschaft in der Welt in Erwägung gezogen. Die weitgesteckten Eroberungsziele der OHL waren aber realitätsfern, standen in keiner Übereinstimmung mit dem konkreten Kriegsverlauf. Sie waren Ausdruck einer maßlosen Selbstüberschätzung. Die Eröffnung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges sollte den „Siegfrieden“ bringen, war aber ein Fiasko. Die Vorstellung, damit den Zusammenbruch Großbritanniens herbeiführen zu können, erwies sich als Illusion. Stattdessen wurden die USA in den Krieg hineingezogen, und spätestens zu diesem Zeitpunkt war der Krieg für die Mittelmächte nicht mehr zu gewinnen. Die OHL und die ihr nahestehenden politischen Kräfte verbreiteten aber nach wie vor Siegesmeldungen. Die Bevölkerung wurde so über die wahre politisch-militärische Lage getäuscht. Auch die Seekriegsleitung hielt es nun für „unerlässlich“, die Flotte zum „Endkampf“ einzusetzen, um „möglicherweise noch einen Umschwung der Kriegslage herbeiführen“ zu können. Die völlig unvorbereitete Umstellung von der Siegespropaganda hin zu der Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand erschütterte das Vertrauen der Bevölkerung in die militärische Führung schwer. Als aber der amerikanische Präsident ein Ende der willkürlichen, den Frieden in der Welt bedrohenden „militärischen Macht“ in Deutschland forderte, weil es keinen Frieden mit den „militärischen Beherrschern und monarchistischen Autokraten“ geben könne, fanden Ludendorff und Hindenburg solch eine Forderung als unerträglich und unterzeichneten noch am Abend des 24. Oktober einen Aufruf an die Truppen, den „Kampf bis aufs Messer“ aufzunehmen. Der Kaiser hatte nun auch das Vertrauen in die militärische Führung verloren. Erst habe sie vehement den sofortigen Waffenstillstand gefordert, knapp vier Wochen später dann aber doch weiterkämpfen wollen. Ludendorff behauptete, er habe sich Ende September in der Einschätzung der militärischen Lage „getäuscht“.

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Ursache für diesen Sinneswandel Ende Oktober war aber nicht eine Neubewertung der militärischen Lage, sondern die Benennung der Kriegsschuldigen durch den amerikanischen Präsidenten. Es spricht vieles dafür, dass die Einschätzungen hinsichtlich der militärischen Lage, wie sie Ludendorff und Hindenburg Ende September 1918 abgegeben haben, den Realitäten entsprachen. Die Weiterführung der Kämpfe hätte nur zu weiteren Zerstörungen und Toten geführt, die Bedingungen für die Mittelmächte aber keineswegs verbessert. Es war eine Illusion, dass mit Weiterführung des Krieges Deutschland den Sieg oder auch nur bessere Friedensbedingungen hätte erhalten können. Auch Reichskanzler Max von Baden sah keine Alternative zu den Friedensverhandlungen, nachdem die OHL ihn wiederholt eindringlich zu einem Waffenstillstandsersuchen gedrängt hatte. In den rechts-konservativen Kreisen wurde aber die zivile Politik für das wenig ruhmvolle Ende des Krieges verantwortlich gemacht. Sie hatte nun die Suppe zu essen, die ihr die OHL eingebrockt hatte. Der OHL nahestehende politische Kreise behaupteten, dass der „Sieg zum Greifen nahe“ gewesen sei, die Antikriegsbewegung habe jedoch den sicheren Sieg verhindert. In Wirklichkeit war nicht die Antikriegsbewegung schuld an dem verlorenen Krieg, sondern einzig und allein die politische und militärische Führung des deutschen Kaiserreiches. Sie hatte den Krieg gewollt und war nicht in der Lage, die eigenen Kräfte realistisch einzuschätzen. Der amerikanische Präsident hat treffend die militärischen Beherrscher und monarchistischen Autokraten in Deutschland für den verheerenden Krieg verantwortlich gemacht. Das deutsche Volk hat zu einem großen Teil den Krieg nicht gewollt, sondern ist von den Machthabern in den Krieg hineingezogen worden. In dem Maße, in dem der vermeintliche Verteidigungskrieg immer deutlicher den Charakter eines imperialen Eroberungskrieges annahm, wuchs auch die Ablehnung der deutschen Bevölkerung zu diesem Krieg. Die Antikriegsbewegung war nicht Ursache für den katastrophalen Kriegsverlauf, sondern deren Folge. Die Fortsetzung des Krieges, die Beibehaltung der weitreichenden Annexionsziele trotz immer höherer Kriegsopfer und deutlich geringer werdenden Siegeschancen erzeugten erst eine breite innerdeutsche Opposition gegen den Krieg. Die Novemberrevolution war kein „Unglück“, wie Ritter meint, sondern war der Versuch, sich von jenen Kräften zu befreien, die die Verantwortung für diesen Krieg trugen. Sehr zu Recht hat der österreichische Außenminister Czernin Ludendorffs „verbrecherischen Größenwahn“ für das Unglück Deutschlands verantwortlich gemacht. Mit der Dolchstoßlegende wurde der Versuch unternommen, die Schuld für den verlorenen und von der OHL verloren gegebenen Krieg der zivilen Politik zuzuschieben. Als Paul von Hindenburg vor dem Untersuchungsausschuss im November 1919 davon sprach, dass die deutsche Armee von hinten heimtückisch erdolcht wurde, fand diese Aussage in den rechts-konservativen Kreisen große Resonanz. Die Worte Hindenburgs hatten Gewicht; in diesen Kreisen war er nach wie vor „der Held von Tannenberg“. Die Aussagen Hindenburgs waren aber unverantwortlich; mit ihnen wurden nur Hass geschürt und die Spaltung der Gesellschaft weiter vertieft. Er hatte die Unwahrheit gesagt oder hätte es zumindest besser wissen können. Noch

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Anfang Oktober 1918 hatte er gegenüber Max von Baden erklärt: „Unter diesen Umständen ist es geboten, den Kampf abzubrechen, um dem deutschen Volke und seinen Verbündeten nutzlose Opfer zu ersparen. Jeder versäumte Tag kostet Tausenden von Soldaten das Leben.“ Mit der Schuldzuweisung für den verlorenen Krieg an „die Juden“ erreichte schließlich der Antisemitismus in Deutschland eine neue Dimension. Der Antisemitismus wurde zu einer Massenerscheinung und zu einem zentralen Bestandteil der NSDAP-Programmatik. Hitler erklärte, die „Beseitigung der Ursachen unseres Zusammenbruchs sowie die Vernichtung der Nutznießer“ seien die Voraussetzung für den kommenden Krieg. – Der Holocaust hat seine Wurzeln im Ersten Weltkrieg. Der Erste Weltkrieg wurde nicht zur Sicherung des deutschen Daseins geführt. Er war kein Verteidigungskrieg. Der Krieg wurde geführt, weil einflussreiche Kräfte im Kaiserreich mit dem Krieg annexionistische Kriegsziele verfolgten. Hitler war ein Kind des Ersten Weltkrieges. Nichts hat sein Denken und Handeln mehr beeinflusst als eben dieser Krieg. In seinem Buch „Mein Kampf“ hat Hitler sich ausführlich mit den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges auseinandergesetzt und daraus die Lehren für den zukünftigen Krieg gezogen. Eine zentrale „Erkenntnis“ aus dem Ersten Weltkrieg war, dass Neuland nur mit Gewalt, nur mit den Mitteln des Krieges erworben werden kann. Den kommenden Krieg hielt Hitler für unvermeidlich, wobei der künftige Krieg nicht nur die „unerledigten“ Ziele des Ersten Weltkrieges im Nachhinein verwirklichen sollte, sondern sehr viel weitergehende Zielvorstellungen beinhaltete. Inspiriert von den Eroberungszielen des Alldeutschen Verbandes und der Politik Erich Ludendorffs entwickelte Hitler seine „Bodenpolitik“ – die gewaltsame Eroberung von neuem Siedlungsland im Osten. Das war für Hitler Zeit seines Lebens das unverrückbare strategische Ziel. Ohne den Ersten Weltkrieg und dessen Hinterlassenschaft ist der Zweite Weltkrieg nicht denkbar. Der Nationalsozialismus war vor allem ein Ergebnis des Ersten Weltkrieges. Aus dem Ersten Weltkrieg ergaben sich alle folgenden Katastrophen.

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Zeitungen und Zeitschriften

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Zeitungen und Zeitschriften Der Spiegel, Nr. 43, 41. Jahrgang vom 18. 10. 1987: „Ein Menschenleben gilt für nix“, S. 112 ff. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 08. 2019, Nr. 197, Michael Wildt: „… in vier Jahren kriegsfähig“, S. 6.

Personenregister Adler, Viktor (österreichisch-ungarischer Begründer der SPD) 72, 96, 98 Albrecht, Johann (Herzog von Mecklenburg) 39, 166 André, M. (sozialdemokratischer Soldat) 113 Artelt, Karl (Matrose) 137 Asquith, Herbert Henry (britischer Premierminister) 28, 33 Baden, Prinz Max von (Reichskanzler) 128, 129, 130, 131, 132, 134, 135, 137, 174, 175 Bassermann, Ernst (Vorsitzende der Nationalliberalen) 95 Bauer, Max (Oberstleutnant, später Oberst) 58, 65, 66, 80, 139 Bebel, August (Parteivorsitzender der SPD) 92, 96 Below 34 Berchtold, Graf Leopold (österreichisch-ungarischer Außenminister) 12, 15, 16, 17, 18, 23, 26, 163, 164 Bernhardi, Friedrich von (General i. R., Militärschriftsteller) 40, 165 Bernstein, Eduard (sozialistischer Theoretiker) 115, 117 Bethmann Hollweg, Theobald von (Reichskanzler) 16, 17, 21, 24, 25, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 35, 36, 37, 38, 39, 42, 45, 47, 48, 55, 56, 59, 60, 62, 63, 67, 68, 69, 70, 72, 73, 74, 77, 78, 80, 81, 82, 84, 85, 95, 100, 101, 102, 106, 131, 152, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 180, 181 Beuckenberg, Wilhelm 42 Bienvenu-Martin, Jean Baptiste (stellvertretender französischer Premierminister) 30 Bilin´ski, Leon (österreichisch-ungarischer Finanzminister) 14 Bismarck, Otto von 134 Bissing, Moritz Ferdinand von (Generalgouverneur in Belgien) 60 Block, Hans (Journalist) 105

Blomberg, Werner von (Reichswehrminister und Generalfeldmarschall der Wehrmacht) 160, 161 Boll, Friedhelm (Historiker) 108 Borsig, Ernst von 42, 87 Bracher, Karl-Dietrich (Historiker) 146 Braun, Otto (sozialdemokratischer Politiker) 110, 119 Bülow, Fürst von (ehemaliger Reichskanzler) 100 Cavell, Edith (britische Krankenschwester) 60 Ciganovic´ (serbischer Staatsbahnbeamter) 12 Claß, Heinrich (Vorsitzender des Alldeutschen Verbands) 40, 42, 43, 45, 81, 95, 143, 158, 165, 166, 177 Clark, Christopher (Historiker) 13, 14, 19, 20, 22, 27, 29, 31, 33, 164 Crowe, Eyre (britischer Diplomat) 28, 33 Czernin, Graf Ottokar (österreichischer Außenminister) 71, 72, 79, 84, 138, 169, 175 David, Eduard (Sozialdemokrat) 84, 105, 106 Deist, Wilhelm (Historiker) 141 Delbrück, Clemens (Staatssekretär des Reichsamts des Innern und Vizekanzler des Deutschen Kaiserreiches) 100, 106 Delbrück, Hans (Militärhistoriker) 140 Dimitrijevic´, Dragutin (genannt: Apis, Militärgeheimdienstchef) 11, 15 Dittmann, Wilhelm (SPD-Abgeordneter) 120 Duisberg, Carl (Generaldirektor der BayerWerke) 56, 58, 59, 60, 65, 66, 80, 87 Eberle, Johann Christian 87 Ebert, Friedrich (Sozialdemokrat) 84, 105, 119, 120, 138 Eisner, Kurt (Führer der Münchener USPD) 115, 120 Ellendt, Andrea 144

Personenregister Erdmann, August 108 Erzberger, Matthias (Zentrumsabgeordneter) 39, 83, 84, 85, 86, 87, 122, 128, 140, 144, 166, 171, 178 Etzel, (Hunnen-König) 89 Falkenhayn, Erich von (Kriegsminister) 26, 27, 47, 48, 49, 50, 52, 56, 57, 168, 177, 178 Fehrenbach, Constantin (katholisch-konservatives Zentrum) 84 Ferdinand, Franz (Erzherzog) 10, 11, 13, 15 Fischer, Edmund 115 Fischer-Baling, Eugen (Generalsekretär des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses) 141 Frank, Ludwig (Sozialdemokrat) 111 Fritsch, Werner Freiherr von (Generaloberst) 160, 161 Gebsattel, Ludwig General von (stellvertretender Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes) 41 Geyer, Ferdinand 115 Göring, Hermann (Generaloberst, Oberbefehlshaber der Luftwaffe) 160 Goschen, Edward (britischer Botschafter) 28 Graefe-Goldebee, Albrecht von (Reichstagmitglied) 43 Grey, Edward (britischer Außenminister) 18, 22, 23, 24, 26, 27, 28, 31, 33 Groener, Wilhelm (Generalmajor, Kriegsamtsleiter) 62, 64, 65, 66, 119, 131, 168 Haase, Hugo (SPD-Vorsitzender und Vorsitzender der USPD) 84, 102, 103, 106, 117, 118, 119, 120 Haber, Fritz (Chemiker) 58 Hácha, Emil (tschechoslowakischer Staatspräsident) 162 Haenisch, Konrad (SPD-Reichstagsfraktion) 102, 104 Haig, Douglas (britischer General) 52 Hardie, Keir (britischer Labour-Führer) 98 Heine, Wolfgang (Sozialdemokrat) 113, 114 Helfferich, Karl Theodor (Vizekanzler) 84, 129, 171, 177, 172 Helldorf, Wolf-Heinrich von (NSDAP, Polizeipräsident) 133

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Hertling, Georg Graf von (Zentrumspolitiker, Reichskanzler) 82, 95, 128, 174 Heydebrand, Ernst von (Vorsitzender der Deutschkonservativen) 95 Hill, Leonidas E. (Historiker) 135, 136 Himmler, Heinrich 152, 158 Hindenburg, Paul von (General, Oberste Heeresleitung) 47, 48, 49, 55, 56, 57, 58, 59, 62, 63, 64, 65, 66, 70, 71, 73, 80, 81, 82, 118, 120, 124, 125, 127, 130, 131, 135, 142, 168, 173, 174, 175, 179 Hipper, Franz Ritter von (Admiral, Flottenchef) 134 Hirschfeld, Gerhard (Historiker) 104 Hitler, Adolf 34, 54, 133, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 176, 177, 180, 181 Hoffmann, Max (Ludendorffs rechte Hand) 49 Hohenborn, Adolf Wild von (Kriegsminister) 58, 60, 62 Holtzendorff, Henning von 68, 69, 73, 169 Hoßbach, Friedrich (Oberst, Hitlers Reichswehr-Adjutant) 160 Hötzendorf, Franz Conrad von (Armeechef) 15 Hoyos, Alexander (Legationsrat, österreichischer Kabinettschef) 16, 17 Hugenberg, Alfred (Vorsitzender des Direktoriums der Firma Krupp) 40, 65, 66, 87, 124, 184 Humann, Hans (Marineattaché) 55 Jagow, Gottlieb von (Staatssekretär) 19, 25, 26, 29, 34 Jaurès, Jean (sozialistischer Politiker) 92, 98 Javanovic´, Ljuba (serbischer Bildungsminister) 13, 14 Joseph I., Franz (ehemaliger Kaiser von Österreich) 15, 16, 27 Jovanovic´, Jovan (serbischer Gesandter in Wien) 14 Jünger, Ernst (nationalistische Schriftsteller) 52 Kapp, Wolfgang (Generallandschaftsdirektor von Ostpreußen) 54, 80, 87, 133, 139, 177 Karadjevic´, Aleksander (Prinzregent) 15

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Personenregister

Karl I. (Kaiser von Österreich, König von Ungarn) 71 Kautsky, Karl (sozialistischer Theoretiker) 104, 107, 117, 118, 167 Keil, Wilhelm (Sozialdemokrat) 105, 108 Kessel, Gustav von (Militärgouverneur von Berlin, Generaloberst) 119, 120 Kiderlen-Wächter, Alfred von (Staatssekretär im Auswärtigen Amt) 94 Kirdorf, Emil (Gelsenkirchener Bergwerks AG und Mitbegründer des Alldeutschen Verbands) 40, 42, 56, 65, 80, 87 Klöckner, Peter (Industrieller) 66 Kriwoschein, Alexander (russischer Landwirtschaftsminister) 19 Krumeich, Gerd (Historiker) 104, 141 Krupp von Bohlen und Halbach, Gustav 27, 42, 58 Kruse, Wolfgang (Historiker) 108 Kuhl, Hermann von (General a. D. und Sachverständiger) 140 Kühlmann, Richard von (Staatssekretär im Auswärtigen Amt) 122, 123, 124 Kunert, Fritz (Abgeordneter der Sozialdemokratie) 103 Kuttner, Erich (SPD-Abgeordneter im Preußischen Landtag) 142, 143

Ledebour, Georg (SPD-Reichstagsfraktion und Vorsitzender der USPD) 102, 115, 116, 118 Lederer, Emil (Nationalökonom) 112 Lenin, Wladimir Iljitsch 93 Levetzow, Magnus von (Konteradmiral, Stabschef, NSDAP) 132, 133, 135, 138 Lichnowsky, Karl Max von (deutscher Botschafter in London) 18, 22, 23, 24, 27, 28, 182 Liebknecht, Karl (SPD-Reichstagsfraktion) 102, 115, 117, 118 Loewenfeld, Wilfried von (erster Adjutant von Reinhard Scheer) 139 Ludendorff, Erich (Oberste Heeresleitung) 47, 48, 49, 54, 55, 56, 57, 58, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 69, 70, 73, 74, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 86, 87, 119, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 135, 138,

139, 159, 168, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 180 Luxemburg, Rosa 93 Martow, Julius (russischer Politiker und Sprecher der Menschewiki in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands) 93 Maurice, Frederick (britischer General) 142 Mecklenburg, Herzog Johann Albrecht zu 166 Metternich, Paul Graf Wolff 55, 170 Meyer, Ernst 104 Michaelis, Georg (Reichskanzler) 65, 82, 85, 86, 177 Moellendorff, Wichard von (Wirtschaftspolitiker) 57 Molkenbuhr, Hermann (Sozialdemokrat) 105, 106 Moltke, Helmuth von (Generaloberst) 27, 46, 47, 56 Mombauer, Annika (Historikerin) 15, 29 Mühsam, Erich (Schriftsteller und Kriegsgegner) 50 Müller, Georg Alexander von (Admiral, Chef des Marinekabinetts) 74, 101, 139 Müller, Sven Oliver (Historiker) 109 Neurath, Konstantin Freiherr von (Reichsminister des Auswärtigen) 160, 161 Nicolle, Henri (französischer Soldat) 51 Nikolaus II. (russischer Zar) 32, 91 Noske, Gustav 101, 137, 139 Obrenovic´, Aleksandar (serbischer König) 15 Pacelli, (päpstlicher Nuntius in München) 86 Pasˇic´, Nikola (serbischer Ministerpräsident) 13, 14, 15, 21, 163 Pascha, Enver (osmanischer Oberbefehlshaber und Kriegsminister) 53 Peters, Carl (Mitbegründer des Alldeutschen Verbands) 40 Petits, Gabrielle 61 Pfeffer, Leo 11, 12 Poensgen, Ernst 56

Personenregister Poincaré, Raymond (Frankreichs Staatspräsident) 18 Popp, Lothar (Werftarbeiter) 137 Possehl, Emil (Mitbegründer des Alldeutschen Verbands) 40 Pourtalés, Graf Friedrich (deutscher Botschafter in Petersburg) 24, 25 Prager, Eugen (Sozialdemokrat, USPD) 104, 105 Princip, Gavrilo 9, 11, 12, 13, 14, 15, 183 Raeder, (Generaladmiral, Oberbefehlshaber der Kriegsmarine) 160 Ramm, (Kapitänleutnant, Kommandant des U-Boots UB 123) 129 Rathenau, Walther (Vorstandsvorsitzender der AEG) 30, 56, 57, 65, 144, 164 Ratzel, Friedrich (Mitbegründer des Alldeutschen Verbands) 40 Reichert, Jakob Wilhelm 87 Reusch 42 Riezler, Kurt (Dichter) 30, 35, 102, 164 Riezler, Walter (Bruder von Kurt) 35 Ritter, Gerhard (Historiker) 175 Röchling, Hermann (Saar-Industrieller) 37, 87 Roetger, Max 87 Rohrbach, Paul 56 Roth, Alfred (Oberleutnant a. D., Hauptgeschäftsführer des deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes) 144 Salomon, Franz Pfeffer von (Hauptmann, Oberster SA-Führer) 34 Sasonow, Sergei (russischer Außenminister) 19, 20, 21, 23, 24, 25, 32, 36 Schebeko, Nikolai 21 Scheer, Reinhard (Chef der Seekriegsleitung) 130, 132, 133, 134, 135, 138 Scheidemann, Philipp (SPD-Abgeordneter) 73, 75, 76, 78, 84, 102, 105, 106, 115, 119, 120, 144, 170, 181, 183 Schellendorf, Fritz Bronsart von (Generalstabschef) 55 Scheubner-Richter, Max Erwin von 54 Scheüch, Heinrich (Generalleutnant) 66 Schlieffen, Alfred von 46, 168

187

Schmidt-Pauli, Edgar von (Freikorpschronist) 143 Schwarz, Paul (Kommandeur) 54 Schwenkendick, Ernst 87 Schwerin, Friedrich von (Regierungspräsident von Frankfurt/Oder) 38 Siemens, Wilhelm von 87 Solf, Wilhelm (Staatssekretär des Kolonialamtes) 38, 68, 69 Souchon, Wilhelm (Admiral) 55, 137 Stefanovic´, Dusˇan (serbischer Kriegsminister) 14, 22 Steinhäuser (Reserveleutnant) 137 Stinnes, Hugo (Industrieller) 42, 65, 66, 87 Stresemann, Gustav 58 Ströbel, Heinrich (SPD-Politiker, USPD) 114, 116 Stubbe, Heinrich 109 Stürgkh, Karl (österreichischer Ministerpräsident) 15 Südekum, Albert (SPD-Reichstagsabgeordneter) 106 Szögyény-Marich, Graf Ladislaus (österreichisch-ungarischer Botschafter in Berlin) 16, 25, 26, 29 Tankosic´, Vojislav (Major) 11, 12, 14, 15, 22, 183 Thaer, Albrecht von (Oberst) 123 Thyssen, August (Industrieller) 54, 166 Tirpitz, Alfred von (Admiral) 31, 87, 133, 136, 138 Tisza, Graf István (ungarischer Ministerpräsident) 15, 17, 163 Trotha, Adolf von (Admiral, Stabschef der Hochseeflotte, NSDAP) 132, 133 Tschirschky, Heinrich von (deutscher Botschafter in Österreich) 17, 25, 27, 29 Tschischwitz, von (Oberst) 126 Vaillant, Edouard 92 Valentini, Rudolf von (Kabinettschef) 73 Vesnic´, Milenko (serbischer Gesandter in Paris) 14 Viviani, René (Ministerpräsident) 18, 30

188

Personenregister

Wangenheim, Conrad Freiherr von (Bund der Landwirte) 42, 87, 142 Wangenheim, Hans Freiherr von (Botschafter) 55 Wiesner, Friedrich von 12, 180, 183 Wildt, Michael (Historiker) 158 Wilhelm II. (deutscher Kaiser) 16, 17, 26, 27, 28, 30, 32, 35, 37, 38, 42, 49, 56, 60, 62, 69, 70, 71, 72, 76, 81, 89, 90, 91, 95, 100, 101,

104, 123, 131, 133, 138, 152, 153, 163, 165, 167, 169, 172 Wilson, Woodrow (US-Präsident) 127, 130, 131, 134 Wrochem, General Hans von (Vertreter des Deutschen Wehrvereins) 40, 165 Ziese, Carl 87 Zimmermann, Arthur (Staatssekretär im Auswärtigen Amt) 73, 76